Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989 9783847098881, 9783899719529, 9783862349524

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Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989
 9783847098881, 9783899719529, 9783862349524

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Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien

Band 10

Herausgegeben von Carsten Gansel und Hermann Korte

Carsten Gansel / Elisabeth Herrmann (Hg.)

Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-952-9 ISBN 978-3-86234-952-4 (E-Book) Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: »Woher-Wohin I & II« (2011), Holzschnitte, colloriert mit Linoldruckfarbe, 80x30, von Matthias Jaeger, geb. 1945, 1965 – 1970 Studium der Malerei und Graphik an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden, seit 1970 freischaffend. (in Privatbesitz) Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation« – Anmerkungen zum Versuch, Gegenwartsliteratur zu bestimmen

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Stefan Neuhaus »Die Fremdheit ist ungeheuer« Zur Rekonzeptualisierung historischen Erzählens in der Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Irina Gradinari Vom Körper zum Textcorpus: Körperimaginationen und -transformationen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

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Juliana V. Kaminskaja Traditionelle Modernität oder Das Leben nach dem Tod. Zur Rolle der historischen Avantgarden im poetischen Experimentieren nach 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Florentine Strzelczyk Zur De-Realisierung des Dritten Reichs im Postwendefilm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Markus Joch Geschmacksterrorismen. Eine Möglichkeit, deutsche Pop-Literatur zu beschreiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Petra Žagar-Šoštarić Begegnungsraum Pop – Rujana Jegers Roman »Darkroom« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Werner Nell Die Heimaten der Vertriebenen – Zu Konstruktionen und Obsessionen von Heimatkonzepten in der deutschsprachigen Literatur nach 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

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Inhalt

Joanna Flinik »Sind sie zu fremd, bist du zu deutsch«. Zur gegenwärtigen deutschsprachigen Migrantenliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Matthias Braun Das Stasi-Thema im neuen deutschen Roman nach 1990 am Beispiel von Günter Grass’ »Ein weites Feld« und Uwe Tellkamps »Der Turm« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Henk Harbers Rückkehr der Sinnfrage? Nihilistische Thematik im Werk von Andreas Maier, Markus Werner und Juli Zeh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Sonja E. Klocke Familienroman vis-à-vis (neue) Väterliteratur: Kontinuität und Distanz in der deutschen Erinnerungsliteratur um die Jahrtausendwende am Beispiel Kathrin Schmidts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Christoph Zeller Hypermedium Literatur. Georg Kleins Poetologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Marina Potyomina Wolfgang Hilbigs »Das Provisorium« und Thomas Hettches »Nox«. Zu östlichen und westlichen Denkfiguren in der Nachwendeliteratur . . . . . 249 Oliver Ruf Transzendenz-›Kanäle‹: Medienphilosophie und Memoria bei Daniel Kehlmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Gespräch Brauchen wir noch Verlage? Vom Schreiben und Publizieren im Zeitalter des Internet – Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann im Gespräch mit Andreas Barth, Markus Frank, Wolfgang Farkas, Sabrina Janesch und René Strien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

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Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation« – Anmerkungen zum Versuch, Gegenwartsliteratur zu bestimmen

In der Buchmessebeilage der FAZ vom Oktober 1989 lieferte Frank Schirrmacher einen Negativbefund der jungen (west)deutschen Literatur am Ende der 1980er Jahre. 1 Dabei richtete sich seine Kritik vor allem auf Veränderungen des Literatursystems in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren, mit denen in den vergangenen 20 Jahren über die Vergabe von Stipendien, die Verleihung von Preisen und die Einrichtung von Stadtschreiberposten eine »weitgestreute Literaturförderung« für junge Autoren eingesetzt habe. Schreiben, so Schirrmacher, sei nunmehr zu einem subventionierten Akt geworden, der zwar einer Reihe von Debütanten die Möglichkeit böte zu publizieren, dennoch zeichne sich in der deutschen Literatur ein Stillstand ab – von einer »neuen deutschen Literatur« ließe sich nicht reden. 2 Schirrmachers Fazit lautete vielmehr: »Die letzten Werke von weltliterarischem Rang stammen von der Generation der heute Sechzigjährigen. Manche ihrer großen Vertreter, Heinrich Böll, Thomas Bernhard, Peter Weiss, Uwe Johnson sind schon tot.« Die Texte, die inzwischen die deutsche Literatur ausmachten, würden sich »gleichen, wie ein Ei dem anderen« 3. Unterschiede der jungen Autoren zu vorangegangenen Generationen beständen zwar darin, dass sie welterfahrener und informierter wirkten, mehr von der Welt gesehen hätten und sich – anders als jene Autoren, die die klassische Moderne repräsen1 Schirrmacher, Frank: Idyllen in der Wüste oder Das Versagen der Literatur vor der Metropole. Überlebenstechniken der jungen deutschen Literatur am Ende der achtziger Jahre. In: FAZ, 10.10.1989. Die hier skizzierten Überlegungen zur Gegenwartsliteratur am Ende der 1980er Jahre schließen an eine von Carsten Gansel im Wintersemester 1999/2000 an der Justus-Liebig-Universität unter dem Titel »Pop – Literatur – Kultur« gehaltene Vorlesung an. Siehe hierzu auch ausführlich Gansel, Carsten: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Popliteratur. In: Text + Kritik. Sonderband: Popliteratur. Hrsg. v. Arnold, Heinz-Ludwig/Schäfer, Jörgen. Mün­chen: edition text + kritik 2003, S. 234 – 257. 2 Schirrmacher, Idyllen in der Wüste. 1989. 3 Ebd., S. 18.

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Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann

tierten – in der Literaturgeschichte sowie in den modernen Literaturtheorien auskennen. Doch gereiche dieser Wissensvorsprung den Werken trotzdem nicht zum Vorteil, es fehle ihnen vielmehr an Tiefe. So müssten »zwei Wochen New York« genügen, »um New York zu verstehen«, und einige Minuten Fernsehnachrichten reichten aus, um ein Bild vom Zustand der Welt zu bekommen. 4 Hinter der vermeintlichen Weltläufigkeit stecke im Kern eine »Erfahrungsleere« 5. Konkret würde sich diese »Erfahrungsleere« auf die Texte insofern auswirken, als es seit Jahrzehnten »keine Literatur der Metropolen, des städtischen Lebens, der Weltstadt, des Weltlebens« 6 mehr gäbe. Es fänden sich »New Yorker Geschichten« im Kino, aber keine Berlin-Romane in der Literatur der Nachkriegszeit. 7 Schirrmachers Negativbefund wurde im »Spiegel« einen Monat später mit einem Beitrag von Volker Hage gekontert, der den Zustand der deutschen Literatur im Gegensatz zu Schirrmacher lobte und sich dabei auf eine Vielzahl von Autorennamen und Texten bezog. Trotz der insgesamt ausgesprochen positiven Sicht auf die Gegenwartsliteratur machte Hage auf eine Veränderung im Hinblick auf die »öffentliche Rolle« von Autoren aufmerksam. Diese hätten nämlich den »Anspruch auf Repräsentanz« verloren; der engagierte Autor der 1960er Jahre sei am Ende der 1980er Jahre überholt, ja ein Anachronismus. Als jüngster Beleg für diese These könne die Entwicklung in der DDR seit dem Herbst 1989 herangezogen werden, die zeige, wie schnell Autoren bei veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und einer funktionierenden Öffentlichkeit ihr »Behelfsamt als Verkünder unterdrückter Wahrheiten« verlieren würden. 8 So unterschiedlich die Überlegungen von Schirrmacher und Hage auch waren, sie markierten jeweils Aspekte der Entwicklung der deutschen Literatur am Ende der 1980er Jahre. Schirrmachers Kritik an einer sich abzeichnenden postmodernen Oberflächlichkeit war ebenso nachvollziehbar wie Hages Hinweis auf die abnehmende gesellschaftliche Rolle von Literatur. In der Tat hatte die Bedeutung des Autors als »moralische Anstalt« in der »alten« Bundesrepublik in dem Maße abgenommen, wie es seit den 1950er Jahren zu einer Demokratisierung der Gesellschaft gekommen war. In den auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Jahrzehnten hatte sich ein zunehmendes Vertrauen in die politischen und gesellschaftlichen Institutionen ausgebildet. 9 Dazu gehörte ein Mindestmaß von funktionierender Machtkontrolle durch die Öffentlichkeit. Anfang der 4 Ebd., S. 19. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Hage, Volker: Zeitalter der Bruchstücke. In: Die Zeit, 10.11.1989, Nr. 46/1989. 9 Siehe dazu bereits Gansel, Carsten: Der Ikaruseffekt oder vom freien Fall der Literatur in (post)modernen Gesellschaften. In: Emile. Zeitschrift für Erziehungskultur, 19/1994, S.  35 – 65.

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Gegenwartsliteratur bestimmen

1990er Jahre sprach Jochen Vogt in einer profunden Studie von einer »demokratischen Normalisierung im westeuropäisch-atlantischen Sinn«. 10 Eine Folge bestand darin, dass die Rolle der Dichter als Moralisten, als Mahner und als gesellschaftliches Gewissen zurück ging und Literatur diese Aufgaben zunehmend an die politische Öffentlichkeit, die Medien oder die Alternativkulturen abgab. Auf markante Weise zeigte sich diese Veränderung während der poltischen Umbruchszeit nach 1989 an der reservierten Haltung, mit der – mit wenigen Ausnahmen – vor allem westdeutsche Autorinnen und Autoren auf eine literari­sche Reflexion des Mauerfalls sowie des sich in Folge der deutschen Wiedervereinigung abzeichnenden politischen Transformationsprozesses und des sich nur langsam vollziehenden kulturellen Zusammenwachsens der beiden deutschen Staaten verzichteten. Mit dem zunächst vergeblichen Warten auf »den großen Wenderoman« 11 wurde zugleich klar, dass die Aufarbeitung der aktuellsten politischen Ereignisse der Gegenwart auch von Seiten ostdeutscher Autoren Zeit brauchen würde. 12 Zehn Jahre später hatte sich der Befund, mit dem die Literatur der End­ achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts als individualistisch selbstbzogen und unpolitisch bezeichnet worden war, dann gewandelt. 13 Teile der Literaturkritik machten nun eine neue Erzählergeneration im vereinigten Deutschland aus, die »literarische Theorien und Dogmen« missachte und »so saftig, unterhaltsam und unbekümmert« erzählen würde, »wie einst der junge Grass«. 14 Gefeiert wurde die »neue Lust am Erzählen« ebenso wie das »vitale Interesse am

10 Vogt, Jochen: Langer Abschied von der Nachkriegsliteratur? In: Ders.: »Erinnerung ist unsere Aufgabe«. Über Literatur, Moral und Politik 1945 – 1990. Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 183. 11 Ebbinghaus, Uwe: »Alle warten – vergeblich«. In: Börsenblatt. Wochenblatt für den deutschen Buchhandel, Nr. 47, 2004, S. 21. 12 Mit Blick auf die unterschiedlichen Reaktionsweisen ost- und westdeutscher Autorinnen und Autoren auf den Mauerfall sowie die sich während der »Wendezeit« innerhalb der deutschen Literatur vollziehenden Umbrüche siehe den im Erscheinen begriffenen Beitrag von Elisabeth Herrmann: Turnarounds, Ruptures, and Continuity: How Unified is Germany and its Literature More than Twenty Years after the »Wende?«. In: Virtual Walls. Balancing Political Unity and Cultural Differences in Contemporary Germany. Hrsg. v. Dreyer, Michael/Lys, Franyiska. Evanston: North­ western University Press, 2013, S. 165 – 191. 13 Siehe dazu Gansel, Carsten: Demokratisierung der Genies oder Von der moralischen Instanz zum Popstar – Zu Fragen von Autorschaft zwischen Vormoderne und Mediengesellschaft. In: Gansel, Carsten/Enslin, Anna-Pia (Hgg.): Literatur – Kultur – Medien. Facetten der Informationsgesellschaft. Festschrift für Wolfgang Gast. Berlin: Weidler Buch Verlag 2002, S. 243 – 271, hier: S. 255. 14 Hage, Volker: Die Enkel kommen. In: Der Spiegel, Nr. 41, 11.10.1999, S. 244 – 254, hier: S. 244.

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Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann

Erzählen, an guten Geschichten und wacher Weltwahrnehmung« 15. Ja, überhaupt wurde eine »Rückkehr des Epischen« 16 diagnostiziert. Die neue Wertschätzung insbesondere junger deutscher Autoren am Ende der 1990er Jahre war letztlich Ausdruck von Veränderungen im Handlungsund Symbolsystem Literatur. So war die zu beobachtende Rehabilitierung – nicht Wiederkehr – des Erzählens Ausdruck einer Verschiebung von Dominanzen innerhalb des Literaturbegriffs, die sich im Sinne der Birmingham School von der Wertschätzung einer über den Literaturkanon definierten »Hochkultur« hin zu der Untersuchung der Breitenwirkung von Subkulturen, Populärkulturen und Massenmedien vollzog. 17 Im Zuge dieser Verschiebungen vom klassischen Literaturbegriff hin zu einer Mehrzahl von Literaturbegriffen wurde eine Reihe junger Autoren unter dem Label »Pop-Literaten« bzw. ihre Werke als »Popliteratur« erfasst. Mit den Hinweisen auf das Alter der Autoren und ihre Art von »wacher Weltwahrnehmung« wurden zudem Bezüge hergestellt zum »Aufbruch« vorangegangener Autorengenerationen und ihren literarischen Debüts. 18 Die Auswirkungen der Veränderungen innerhalb des literarischen Systems schlugen sich zum Ende der 1990er Jahre schießlich auch innerhalb der Literaturwissenschaft nieder, die die aktuellsten Entwicklungen in der Gegenwartsliteratur nicht nur wahrnahm, sondern sie zu ihrem Untersuchungsgegenstand machte und schließlich anfing, sie mit in den Kanon aufzunehmen. Bemerkenswert war hier der Einzug popliterarischer Texte in die germanistischen Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten ebenso wie die Tatsache, dass die sogenannte »Popliteratur« sogar – und das will viel heißen – zum Thema von Berufungsvorträgen wurde. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends wurde der Ruf nach einer sich mit der Gegenwart ernsthaft auseinandersetzenden erzählenden Literatur laut. Dieser Anspruch kam nicht zuletzt aus den eigenen Reihen der Autoren, und zwar der mittleren Autorengeneration. Diese richtete sich einerseits gegen die Grass-und-Walser-Generation der Älteren. Den Arrivierten wurde vorgeworfen, sie würden sich aus ihrer elfenbeinturmartigen Isolation nur heraus­ begeben, um der Welt ins Gewissen zu reden. Andererseits sahen sich die Newcomer der 1980er und 1990er Jahre kritisiert, deren Problemdarstellungen

15 Ebd. 16 Hielscher, Martin: Aus dem Regen zurück. Die neue Lebendigkeit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. In: Kunst & Literatur, 8/1999, S. 31 – 33. 17 Vgl. Gansel, Carsten: Von Kindheit, Pop und Faserland – Junge deutsche Autoren und Uwe Johnson zwischen Nähe und Distanz. In: Internationales Uwe-Johnson-Forum, Bd. 9. Frankfurt/M., Berlin, New York: Lang 2004, S. 132 – 157. 18 Siehe ausführlich Gansel, Adoleszenz, Ritual und Inszenierung. 2003 sowie Ders.: Demokratisierung der Genies. 2002, S. 262 ff.

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Gegenwartsliteratur bestimmen

der Gegenwart sich solipsistisch wie infantilisierend ausnehmen würden. 19 In dem unter dem Titel »Was soll der Roman?« im Juni 2005 in der Zeit veröffentlichten literarischen Manifest formulierten die Autoren Martin R. Dean, Thomas Hettche, Matthias Politycki und Michael Schindhelm gemeinsam ihre Forderung nach einem »Relevanten Realismus«, der »die zwar unbequeme, aber aufregende Gegenwart zum zentralen Ort des Erzählens und des Erzählten werden« lassen sollte. 20 In ihrer Forderung nach einem »emphatischen Begriff des Romans« 21, der der deutschen Gegenwartsliteratur angeblich abhanden gekommen sei, artikulierte sich ein Realitätsbezug, der sich auf ein Erzählen »aus der Mitte erlebten Lebens heraus« bezog und die beständige Sichtung unserer untergehenden Welt und das Ringen um »neue Utopien« mit einschloss. 22 Ob sich mit der Forderung nach einem »relevanten Realismus« auch ein neuer Avantgardismus verbinden würde und sollte, der nicht nur thematisch einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart herstellte, sondern diesen auch über neue Darstellungsformen zu vermitteln bestrebt war, blieb von Seiten der Verfasser des Manifests unangesprochen. Eine positive Antwort auf die Frage, ob es den Autorinnen und Autoren in der Zwischenzeit gelungen ist, diese an sich selbst und die gegenwärtige deutsche Literatur gestellte Forderung in die Tat umzusetzen, scheint sich zu relativieren, wenn man die nunmehr aktuellsten Einschätzungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur verfolgt. Hier zeigt sich erneut eine gewisse Unzufriedenheit, und die von Dean, Hettche, Politycki und Schindhelm im Manifest formulierte Kritik scheint sich weiter zu bestätigen: »Gewiss: Es gibt Familien-Historien, NS-Aufarbeitungs-, Berlin-, Pop- und Enkelromane aller Couleur, doch bereits die um sich greifende Rubrizierung zeigt, wie sehr der Roman die Mitte des Diskurses meidet.« 23 Beim Vergleich von deutschen Gegenwartsautoren etwa mit Vertretern der amerikanischen Literatur – in diesem Fall mit dem amerikanischen Autor Dave Eggers und seinem Roman »A Hologram for the King« (2012) – bemängelt Hilmar Klute eine fehlende Welthaltigkeit wie auch den Verzicht auf eine kritische Reflexion von gegenwärtigem Dasein in einer globalen Weltgesellschaft: »Und dann fragt man sich: Warum haben wir in Deutschland keinen Schriftsteller wie Dave Eggers? Warum erzählt hier niemand, wie wir unseren Stolz an die IT verlieren, unsere Fähigkeiten an die Chinesen und unser Gewissen an die Schwellenländer? Warum setzt uns kaum mal ein 19 Vgl. Relevanter Realismus. Matthias Politycki über die Aufgaben der Literatur, Deutschlandradio, 24.06.2005. 20 Dean, Martin R./Hettche, Thomas/Politycki, Matthias/Schindhelm, Michael: »Was soll der Roman?« In: Die Zeit, Literatur, Nr. 26, 23.06.2005. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Ebd.

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Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann deutscher Dichter ins Verhältnis zur Welt? Warum erzählen selbst junge Romanschreiber oft so öde von ihrem Körper oder ihrer kleinen Schwes­ ter in Berlin oder ihrem Dorf in der Vulkaneifel? [...] Warum latschen deutsche Dichter zum Willy-Brandt-Haus, statt in die Wüste zu gehen und aufzuschreiben, wie unproduktiver Turbokapitalismus abgeht? Warum fieseln Grass und all die alten Wappentiere der deutschen Literatur starre Gedichte über Griechenland zusammen, statt selbst nach Griechenland zu fahren und dort eine Hilfseinrichtung für Obdachlose zu gründen?« 24

Man muss den kritischen Befund zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht teilen, aber die Fragen, die Hilmar Klute hier aufwirft, sind in der Tat hilfreich, wenn es darum geht, neue deutsche Texte als »Gegenwartsliteratur« zu definieren. In Verbindung mit Überlegungen zum Phänomen Gegenwartsliteratur sollte zunächst geklärt werden, was eigentlich Gegenwartsliteratur ist und wie und wo man sie auf einer vorgestellten Zeitachse verortet. Eben dieses Problem haben jüngst Norbert Otto Eke und Stefan Elit in einer anregenden Einführung zu dem von ihnen herausgegebenen Sonderheft »Deutschsprachige Gegenwartsliteratur(en) seit 1989« der Zeitschrift für Deutsche Philologie diskutiert. 25 Zweifellos ist mit dem Terminus Gegenwartsliteratur das Problem der Zeit sowie eines chronologischen Denkens angesprochen. Eke und Elit verweisen daher nicht ohne Grund auf Hans Ulrich Gumbrechts Überlegungen, der von einer sich »zunehmend verbreiternde[n] Gegenwart der Simultaneitäten« ausgeht und notiert, dass wir »nicht mehr in der historischen Zeit« leben und Zukunft »für uns kein offener Horizont von Möglichkeiten« mehr ist, »sondern eine Dimension, die sich zunehmend allen Prognosen verschließt und die zugleich als Bedrohung auf uns zuzukommen scheint.« 26 Nun ist der Hinweis auf die vermeintlich nicht mehr »offene Zukunft« kein Befund, der unbedingt neu erscheint. So merken Eke und Elit zutreffend an, dass sich bereits in der Literatur um 1800 eine Reihe von Beispielen finden lassen, »die eine dem genau entgegengesetzte Erfahrung dokumentieren und es damit plausibel erscheinen lassen, dass bereits in dieser Zeit nicht nur die eine Zeitkonfiguration, sondern vielmehr konkurrierende Zeitkonfigura­tio­ nen nebeneinander gestanden haben.« 27 Zunehmend ist im 19. Jahrhundert die Identität von Zeit und Subjekt und die »in der Aufklärung entstandene 24 Klute, Hilmar: California Dream Boy. Dave Eggers ist einer der brillantesten Schriftsteller unserer Zeit – und ein guter Mensch. Geht’s noch? Eine Untersuchung, anläss­lich seines ersten Deutschlandbesuchs. In: Süddeutsche Zeitung, 16./17. März 2013, S. 3. 25 Eke, Norbert Otto/Elit, Stefan: Zur Einführung. Deutschsprachige Literatur(en) seit 1989. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie. 131. Band 2012. Sonderheft. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2012, S. 1 – 11. 26 Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, S. 15. Zitiert nach Eke/Elit, Zur Einführung. 2012, S. 2. 27 Ebd., S. 3.

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Gegenwartsliteratur bestimmen

Leitvorstellung von der Zukunftsdimension des Fortschritts« 28 zerfallen. Dass dies in Verbindung mit einem Prozess von gesellschaftlicher Modernisierung steht, muss nicht eigens betont werden. In Verbindung mit den technischen, ökonomischen, politischen, kulturellen, sozialen und wissenschaftlichen Veränderungen und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Transformationen scheint sich Zeit einerseits zu beschleunigen und andererseits von der »subjektiv-dimensionierten Individualzeit« 29 abzukoppeln. Die Frage nach der Zeit-Beschleunigung hat der Soziologe Hartmut Rosa zum Gegenstand einer Untersuchung über die Veränderung von Zeitstrukturen in der Moderne gemacht. Dabei geht er von dem massenmedial immer wieder kolportierten Eindruck aus, dass das »Tempo des Lebens« zugenommen hat und mit ihm Stress, Hektik und Zeitnot. »Wir haben keine Zeit«, so Rosa, »obwohl wir sie im Überfluss gewinnen.« 30 Unbestritten dürfte sein, dass die Zeit-Strukturen einer Gesellschaft sowie die Wahrnehmung derselben die Art und Weise des Daseins in eben dieser Gesellschaft bestimmen. Dies ist ein Grund dafür, warum es uns zunehmend schwer fällt, Gegenwärtiges und Vergangenes in ein Verhältnis zu setzen, zumal das Empfinden vorherrscht, dass angesichts der zunehmenden Beschleunigung der Zeit und Performativität unseres Daseins Gegenwart immer schneller zur Vergangenheit wird. Konsequent weitergedacht hieße dies, dass unsere Gegenwart eine immer kürzere Zeitspanne umfasst und das, was wir aktuell als Ist-Zustand erleben, morgen schon Vergangenheit sein könnte. Gleichzeitig erleben wir zunehmend eine Simultanität von Zeiten, die sich als eine Mehrzahl von ›Wirklichkeiten‹ – sei es in Form von gelebten oder virtuellen Erfahrungswelten – überlagern. Was aber bedeutet dies konkret für die Bestimmung der Gegenwartsliteratur? Welche Zeitspanne umfasst sie, und wird diese Zeitspanne immer kürzer, weil wir immer stärkeren Veränderungen und schnelleren Wechseln ausgesetzt sind? Zwei Überlegungen erscheinen in diesem Zusammenhang wichtig. Zum einen, dass Literatur ein historisches und kulturelles Produkt ist, dessen Entstehung stets in einen spezifischen zeitlichen sowie gesellschaftlichen Kontext eingebunden ist. Zum anderen, dass, wie Wilhelm Voßkamp herausgestellt hat, Literatur eine Form der »kulturellen Selbstwahrnehmung und Selbstthematisierung« von Gesellschaft ist. »In Texten beobachten sich Kulturen selbst«, so Vosskamp. 31 Da literarische Texte »spezifische Formen des individuellen und kollektiven Wahrnehmens von Welt und Reflexion dieser Wahrnehmung« sind, 28 Ebd. 29 Vgl. Ebd. 30 Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 11. 31 Vosskamp, Wilhelm: Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42/1998, S. 503 – 507, hier: 505.

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Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann

sind sie »durch ein hohes Maß an Selbstreflexion« 32 gekennzeichnet. Tatsächlich werden in der Literatur gesellschaftliche Zustände sowie gültige Normen und Werte nicht nur dargestellt und reflektiert, sondern sie können darin auch (neu) verhandelt werden, ebenso wie aktuelle politische oder historische Ereignisse über die Literatur aufgearbeitet werden können, wenn auch – und dies hat sich im Falle der »Wende-« und Wiedervereinigungsliteratur besonders deutlich gezeigt – eine solche Zuwendung zum Vergangenen oft mit einer zeitlichen Verzögerung erfolgt. Auch Hartmut Böhme sieht in der Literatur eine »ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften«. 33 Wenn Literatur als Produkt einer spezifischen Zeit und Kultur und als Reflexionsorgan derselben fungiert, dann hat auch die Literaturwissenschaft die Signaturen derjenigen Wirklichkeit zu beachten, auf die sich die Literatur bezieht. Gilt dies für jede literarische Epoche, so trifft die Notwendigkeit einer Berücksichtigung der spezifischen Zeitstrukturen und der jeweils gültigen Werte und Normen umso mehr für Gegenwartsliteratur zu: Die begriffliche Zuschreibung »Gegenwartsliteratur« mit Blick auf eine spezifische Zeitspanne einer Literatur macht nur dann Sinn, wenn sie sich auf einen gemeinsamen zeitgeschichtlichen sowie kulturellen Nenner bezieht. Wurde die deutsche Gegenwartsliteratur bis in die 1990er Jahre noch mit der Bezeichnung »Literatur nach 1945« gekennzeichnet, so herrscht heute in der Literaturwissenschaft und Literaturgeschichtsschreibung weitgehend Konsensus darüber, dass mit der politischen »Wende« und dem Fall der Mauer im Jahr 1989 eine Zäsur anzusetzen ist und auch in der Literatur ein Epochenwechsel abzeichnet. 34 Die politischen Veränderungen haben nicht nur den gesellschaftlichen und kulturellen Horizont in Deutschland verändert, sondern auch zu thematischen und stilistischen Umbrüchen innerhalb der Literatur geführt und – wichtiger noch – die Zusammenführung der beiden deutschen Literaturen eingeleitet. 35 Mit dem Jahr 1989 eine Zäsur innerhalb der Literaturgeschichtsschreibung anzusetzen, erscheint deshalb nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig. Ähnlich wie die Datierung »Literatur nach 1945« bezieht sich diese Markierung auf ein (welt-)politisches Ereignis sowie einen historischen und kulturellen Umbruch. Allerdings – und dies sollte betont 32 Vosskamp, Die Gegenstände der Literaturwissenschaft. 1998, S. 505. 33 Böhme, Hartmut: Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und Kulturwissenschaft. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42/1998, S. 476 – 485, hier: S. 482. 34 Deutlich macht dies der Titel des Bandes von Eke und Elit: Deutschsprachige Literatur(en) seit 1989. 2012. Siehe auch Heukenkamp, Ursula: Eine Geschichte oder viele Geschichten der deutschen Literatur seit 1945? Gründe und Gegengründe. In: Zeitschrift für Germanistik, 1/1995, S. 22 – 37. 35 Zur Frage, inwiefern die deutsche Literatur heute, mehr als zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung, als eine vereinigte Literatur betrachtet werden kann, siehe den Beitrag von Elisabeth Herrmann: Turnarounds, Ruptures, and Continuity. 2013.

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Gegenwartsliteratur bestimmen

werden – ist auch das Jahr 1989 mit Blick auf die Begriffsbestimmung »Gegenwartsliteratur« kein unverrückbarer (literaturgeschichtlicher) Markstein. Vielmehr lässt sich das auf Paul Michael Lützeler zurückgehende Moment der »gleitenden Zeit« als zentrales Paradigma der Bestimmung von Gegenwartsliteratur ansetzen. Im Rahmen seiner umfassenden Studie zur »Gegenwartsliteratur« hat auch Michael Braun betont, dass Gegenwartsliteratur per definitionem »einen wandelbaren Anfang und ein unabsehbares Ende« 36 hat. Auch Carsten Gansel und Hermann Korte gehen in der von ihnen herausgegebenen Reihe »Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien« – der erste Band erschien 2009 – von einem politischen wie kulturellen Wandel nach 1989 aus. In Verbindung damit nehmen sie ein gewachsenes wissenschaftliches Interesse an Entwicklungen in der Gegenwartsliteratur wahr, was sich wiederum in der universitären Ausbildung niederschlage. Zunehmend finden sich – so die Einschätzung – Lehrangebote, die Fragen der Gegenwartsliteratur betreffen. Auch in modularisierten Studiengängen gehören Segmente, die der Literatur nach 1945 und der aktuellen Literatur vorbehalten sind, zum Pflichtprogramm. Die Herausgeber verzichten zwar auf eine explizite Bestimmung des Begriffs ›Gegenwartsliteratur‹, aber offensichtlich wird, dass sie ihn in Verbindung mit den genannten Entwicklungen nach 1945 sowie ab 1989 sehen. Entsprechend heißt es: »Die Reihe ›Deutschsprachige Gegenwartsliteratur‹ ist nicht auf einen zementierten Literaturbegriff fixiert, sondern will den veränderten Stellenwert der Literatur ab der Mitte des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts dokumentieren. Ihre Bände erschließen u. a. neue Felder der Gegenwartsliteratur, untersuchen einzelne historische Phasen der Literatur nach der klassischen Moderne und stellen das literarische Werk von Autorinnen und Autoren bzw. Autorengruppen der Gegenwartsliteratur dar. Auch soll die hybride Struktur der Gegenwartskultur erforscht und dabei der Konnex von Literatur und Medien thematisiert werden. An paradigmatischen Beispielen soll der dynamische Literaturkanon der Gegenwart untersucht werden, ebenso der Stellenwert von ›Event‹-Literatur.« 37

Gleichermaßen pragmatisch wie nachvollziehbar hat Paul Michael Lützeler beim Start des von ihm im Jahr 2002 gegründeten Jahrbuchs zur Gegenwartsliteratur die Literatur der letzten dreißig Jahre programmatisch in den Fokus gerückt: »Das neue Jahrbuch ›Gegenwartsliteratur‹ beschäftigt sich mit der Literatur der drei letzten Jahrzehnte der Bundesrepublik Deutschland, Öster­ reichs und der deutschsprachigen Schweiz. Damit sind die räumlichen und

36 Braun, Michael: Die Deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Stuttgart: UTB 2010, S. 21. 37 Gansel, Carsten/Korte, Hermann: Vandenhoeck & Ruprecht: Deutschsprachige Ge­gen­ wartsliteratur und Medien (http://www.v-r.de/de/seriesdetail-0-0/deutschsprachige_ gegenwartsliteratur_und_medien-3053/, Zugriff: 30. Mai 2013).

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Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann zeitlichen Parameter bezeichnet. ›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation, hier also (in etwa) die letzten dreißig Jahre. Es geht um die neue Dichtung, deren historische Dimension – mit ihren Traditionen und Brüchen – allerdings nicht aus dem Auge verloren werden soll.« 38

Kürzlich nach der im Jahr 2013 anzusetzenden Zeitschiene befragt, notierte Paul Michael Lützeler: »Als wir vor elf Jahren den ersten Band publizierten begann Gegenwartsliteratur für uns um 1970, jetzt beginnt sie ein Jahrzehnt später, um 1980.« 39 Vergleichbares wird für die Gegenwartsliteratur der kommenden Jahrzehnte zutreffen: Sie wird sich parallel zur Fortschreibung der Zeitgeschichte nach vorne verschieben. »Aufgrund der Mobilität der Eckdaten ist Gegenwartsliteratur auf der Zeitachse keine in sich abgeschlossene Epoche.« 40, schreibt Michael Braun. Hier stellt sich nun jedoch die Frage, inwiefern der Begriff »Gegenwartsliteratur« überhaupt zweckdienlich ist, wenn er ständig in Bewegung ist und sozusagen auf der Zeitschiene weitergleitet. Betrachtet man die Parameter, die als Argument ins Feld geführt werden um Gegenwartsliteratur zu bestimmen, dann findet sich in dem oben genannten Zitat von Lützeler ein Hinweis, der vertieft werden sollte, nämlich der Generationsaspekt. »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation, hier also (in etwa) die letzten dreißig Jahre«. Damit wird der Terminus »Gegenwartsliteratur« in einem erinnerungstheoretischen Kontext verortet, ebenso wie er sich auf das Generationenmodell von Karl Mannheim zurückführen lässt. 41 Für die Bestimmung von »Gegenwartsliteratur« können in der Tat verschiedene Formen des Gedächtnisses herangezogen werden, weil Fragen der Erinnerung gleichermaßen das Individuum selbst wie auch Gesellschaften betreffen. Aleida Assmann hat in ihrem Beitrag »Vier Formen des Gedächtnisses« betont, dass Individuen in »unterschiedliche Gedächtnishorizonte eingespannt sind, die immer weitere Kreise ziehen: das Gedächtnis der Familie, der Nachbarschaft, der Generation, der Gesellschaft, der Nation, der Kultur«. 42 38 Lützeler, Paul Michael. Vorwort. In: Gegenwartsliteratur. Ein Germanistisches Jahrbuch 2002/A German Studies Yearbook. Hrsg. von Lützeler, Paul Michael/Schindler, Stephan K.: Tübingen: Stauffenburg Verlag 2002, S. XVII. 39 Lützeler, Paul Michael: Gegenwartsliteratur. Mail an Carsten Gansel (04.02.2013). 40 Braun, Deutsche Gegenwartsliteratur. 2010, S. 21. 41 Siehe Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. In: Vierteljahresheft für Soziologie, 7/1928/29. In: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hrsg. v. Wolff, Kurt H. Neuwied/Berlin: Luchterhand 1964, S. 509 – 565. 42 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13 (2002), 2, S. 183 – 190, hier: S. 184. Siehe dazu die von Carsten Gansel verantworteten Bände zum Verhältnis von Literatur und Gedächtnis in der deutschen Literatur nach 1945 wie: Ders. (Hg.): Rhetorik der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009.

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Gegenwartsliteratur bestimmen

In Abhängigkeit vom Raum- und Zeitradius, der damit in Verbindung stehenden Gruppengröße sowie der jeweiligen Flüchtigkeit oder Stabilität der verschiedenen Formen von Gedächtnis, unterscheidet Aleida Assmann daher zwischen dem Gedächtnis des Individuums, der Generation, des Kollektivs und der Kultur, wobei die Übergänge zwischen den Gedächtnisformationen fließend sind. Das »individuelle Gedächtnis«, das für jeden Akt der literarischen Produktion zentrale Bedeutung besitzt, ist entscheidend für den Aufbau eines Selbst; es ist grundsätzlich an ein spezifisches Individuum gebunden und daher nicht austauschbar. Gleichzeitig sind die Erinnerungen fragmentarisch und dadurch, dass sie an die Entwicklung des Individuums gebunden sind, veränderlich. Das »Generationengedächtnis« dagegen ist durch historische Schlüsselerfahrungen geprägt. Die Angehörigen einer Alterskohorte verbindet eine »bestimmte Atmosphäre von Erfahrungen und Werten, Hoffnungen und Obsessionen« 43, es geht mithin um »gewisse Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder, gesellschaftliche Wertmaßstäbe und kulturelle Deutungsmuster«. 44 Mit diesen Markierungen bezieht sich das Generationengedächtnis auf eben jene »räumlichen und zeitlichen Parameter«, von denen Paul Michael Lützeler spricht. Über den gemeinsamen Erfahrungshorizont ist eine Generation als kulturelle Gruppe gekennzeichnet. Genau diese Generationenschwelle kann und sollte auch für Gegenwartsliteratur angesetzt werden. In seinen Aphorismen »Morgenröthe: Gedanken über die moralischen Vorurtheile« hat Friedrich Nietzsche im Jahr 1881 den Generationswechsel zutreffend als Schnittstelle des Übergangs der Gegenwart in die Vergangenheit markiert: »Warum verträgt man jetzt die Wahrheit schon über die jüngste Vergangenheit? Weil immer schon eine neue Generation da ist, die sich im Gegensatz zu dieser Vergangenheit fühlt und die Erstlinge des Gefühls der Macht in dieser Kritik geniesst.« 45

Deutlich wird mit diesem Hinweis, dass es keine innerliterarischen Aspekte sind, die zur systemprägenden Dominante für die Bestimmung dessen werden, was man als Gegenwartsliteratur bezeichnet, sondern die sogenannte erfahrbare und von einer spezifischen Gruppe erlebte Wirklichkeit selbst. Literatur als eine »Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften« 46 gewinnt demnach eine besondere Bedeutung als »Medium der ›Zeit-Beobachtung‹ einerseits und der narrativen Inszenierung von Gegenwart(en) andererseits«. 47 Eke und Elit bringen diese Überlegung, wie folgt, weiter auf den Punkt: 43 Assmann, Vier Formen. 2002, S. 185. 44 Ebd., S. 184 45 Nietzsche, Friedrich: Morgenröthe: Gedanken über die moralischen Vorurtheile, 1881. In: Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Band 1. Hrsg. v. Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino. Berlin: DeGruyter. 1971, S. 3 – 338, hier: S. 156. 46 Böhme, Zur Gegenstandsfrage. 1998, S. 482. 47 Eke/Elit, Zur Einführung. 2012, S. 6.

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Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann »In der Fluchtlinie beider medialer Parameter bestimmt sich die jeweilige Gegenwärtigkeit von Literatur als erstens Spiegelfläche der Sinnund Deutungsmuster, in denen eine Gesellschaft ihr Selbstverständnis ausbildet und zum Ausdruck bringt, und zweitens als Feld subjektiver Verschiebungen und Verformungen von (vergangener und gegenwärtiger) Wirklichkeit und damit eines Prozesses in dem Zeit (Vergangenheit und Gegenwart) einer Identitäten setzenden Umschrift unterliegt.« 48

Die unmittelbare Koppelung von Gegenwartsliteratur an die Beobachtung von gegenwärtiger Gesellschaft und ihrer daraus abgeleiteten literarischen Inszenierung im Gewand des Gegenwärtigen und/oder Vergangenen muss jedoch nicht zwangsläufig bedeuten, dass es ausschließlich darum geht, Primärerfahrungen, also Selbsterlebtes, zu gestalten. Würde man diesem Ansatz folgen, dann wäre in der Tat um den Gehalt der Gegenwartsliteratur zu fürchten. Burkhard Müller hat in diesem Sinne kritisch angemerkt: »Bei vielen jüngeren Autoren der Gegenwart fragt man sich bang, nachdem sie ihr auf Selbsterlebtem fußendes Erstlingswerk vorgelegt haben, was um Himmelswillen sie in ihrem zweiten Buch zu tun gedenken, da sie ihr Pulver doch offenbar verschossen haben.« 49

Wenngleich also bei Betrachtung des ›Was‹ und ›Wie‹ des Erzählens der Gegenwartsbezug mit dahinter stehenden Primärerfahrungen nicht als notwendige Bedingung für Gegenwartsliteratur gelten kann – es also nicht darum geht, auf der Ebene der »story« aktuelle Zeit-Erfahrung dominant zu setzen – spielt das Verhältnis zwischen der kulturellen Präfiguration eines literarischen Textes (bei Ricœur als »Mimesis I« bezeichnet) und der spezifischen Konfiguration (bei Ricœur als »Mimesis II« bezeichnet) dennoch eine besondere Rolle. Mit Präfiguration ist im Sinne Paul Ricœurs der Bezug auf die außertextuelle Welt bzw. die außerliterarische Wirklichkeit gemeint, nämlich das, was man gemeinhin als »Stoff« bezeichnet. 50 Konfiguration dagegen meint den Prozess der Produktion eines fiktionalen Gebildes. Für die Gegenwartsliteratur wird man nun annehmen können, dass vor allem jene Signaturen von Wirklichkeit in das Blickfeld der Autorinnen und Autoren geraten, die generationsspezifisch an bestimmte Schlüsselerfahrungen gebunden und in jeweils individueller Weise auf die vom Einzelnen gegenwärtig wahrnehmbaren Werte, Normen, Hoffnungen, Vergangenheits- sowie Zukunftsreferenzen bezogen sind. Insofern kann man diesbezüglich von der in der kulturwissenschaftlichen Forschung formulierten Position ausgehen, dass Gegenwartsliteratur zum einen ein Medium ist, über das in Form von narrativen 48 Ebd. 49 Müller, Burkhard: Automarken, die es nicht gibt, muss man nicht erfinden – die Fahrer aber schon. In: Süddeutsche Zeitung, 12.03.2012. 50 Vgl. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung. Band 1: Zeit und historische Erzählung. München: Wilhelm Fink 2007 (2. Aufl.), S. 90.

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Gegenwartsliteratur bestimmen

Inszenierungen individuelle und generationenspezifische Erinnerungen für das kollektive Gedächtnis bereitgestellt werden. Die Art und Weise der narrativen Inszenierung in literarischen Texten sagt damit immer etwas über die in einer Gesellschaft funktionierenden Prozesse der Gedächtnisbildung aus, aber eben auch über ihre gegenwärtige Verfasstheit. Zum anderen werden in literarischen Texten individuelle, generationenspezifische sowie kollektive Formen von Erinnerung, gegenwärtiger Erfahrung sowie Antizipationen des Zukünftigen gewissermaßen ›abgebildet‹ und damit wiederum beobachtbar. 51 Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass Literatur ihrerseits einen alteritären Erfahrungshorizont bietet, über den Welterfahrung und »Lebenswissen« vermittelt werden können. Der Begriff »Lebenswissen« geht auf den Romanisten Ottmar Ette zurück, mit dem dieser der Literatur das Vermögen zuspricht, normative Formen von Lebenspraxis nicht nur zu simulieren, sondern auch performativ zur Disposition zu stellen, insofern nämlich als Literatur stets ein Wissen um die Grenzen der Gültigkeit von Wissensbeständen innerhalb einer gegebenen Kultur oder Gesellschaft enthält, diese jedoch zugleich erweitert, indem sie Wissen – und das heißt Welterfahrung – zur Verfügung stellt. 52 Es ist kein anderer gewesen als Uwe Johnson, für den der »Vorgang des Erfindens eigentlich ein Erinnerungsvorgang« ist. 53 Johnson betont hier die Rolle der Erfahrung, die für die Konfiguration von Geschichten grundlegend ist. Freilich muss man diese Erfahrung, die – wie bereits betont wurde – eben nicht einzig auf Gegenwärtiges konzentriert sein muss, keineswegs nur in umfangreicheren epischen Texten suchen. Wenig nachvollziehbar ist es deshalb, wenn innerhalb der Literaturwissenschaft eine Tendenz existiert, ganze Textgruppen aus der Gegenwartsliteratur auszuschließen und dies, obwohl sie der innerhalb einer Generation markierten 51 Vgl. Gansel, Carsten: Rhetorik der Erinnerung – Zu Literatur und Gedächtnis in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. In: Ders. (Hg.): Rhetorik der Erinnerung. Literatur und Gedächtnis in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 9 – 16, hier: S. 10. Eke und Elit verweisen unter Bezug auf den genannten Beitrag ebenfalls auf diesen – für die Bestimmung von Gegenwartsliteratur anzusetzenden – Aspekt (Eke/Elit, Zur Einführung. 2012, S. 7.). 52 Ette, Ottmar: ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2004. Auf die kollektive Identität fördernde Funktion der Literatur, die über die Erstellung eines gemeinsamen Erinnerungsraumes erreicht wird, den sie jenen Rezipienten zur Verfügung stellt, die die in der Literatur thematisierten Erfahrungen teilen, aber auch denen als substitutive Erfahrung(swelt) zugänglich macht, die die beschriebene Erfahrungen nicht teilen, geht Elisabeth Herrmann in dem genannten Beitrag zur gesamtdeutschen Literatur nach der »Wende« und deutschen Wiedervereinigung ein. Herrmann, Turnarounds, Ruptures, and Continuty. 2013, S. 183. 53 Johnson, Uwe. In: Simmerding, G./Schmid, O. (Hgg.): Literarische Werkstatt. München, 1972, S. 65.

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Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann

Zeitschiene entsprechen. Zu denken ist neben der traditionellen Lyrik z. B. an Song- und Rap-Texte. Es handelt sind hier um ›Textsorten‹, die nach wie vor in bestimmten Bereichen von Kritik und Wissenschaft minder bewertet und dort nicht in Betracht gezogen werden, wo es um Gegenwartsliteratur geht. Auf eben dieses Problem im Jahr 2003 angesprochen, hat Andreas Neumeister – ein Autor, der zu dem gehört, was man »Suhrkamp-Pop« nennen kann – sehr zutreffend die damalige Situation auf den Punkt gebracht: »Wer bewertet was? Schon seit Jahren wird in den erwähnten Kontexten viel produziert, womit ich nicht das geringste Problem hätte, es als Literatur oder als Lyrik zu bezeichnen, aber darum geht es nicht, Puristen mögen das nicht als wahre Lyrik akzeptieren, ängstliche Veranstalter höchstens hier und da mal einen Alibi-Rapper vom Slam rekrutieren, egal. Der Vorbehalt beruht natürlich und nachvollziehbar auf Gegenseitigkeit. Viele produzieren Texte, haben aber nicht die geringste Lust sich aus der Präsenz in irgendwelchen Lyrikblättchen (das Zentralorgan der Branche heißt ›Das Gedicht‹) bis zu irgendwelchen Lektoraten vorzuarbeiten, um dann doch nur zu erfahren, daß heute außer Suhrkamp kaum mehr ein größerer Verlag regelmäßig zeitgenössische Lyrik druckt. Also gründet man eine Band, ein Soundsystem, schreibt Songtexte für andere oder geht auf Slams. Manche Autoren streben als bevorzugten Auftrittsort eben nicht die gepflegte Stadtteilbibliothek an. Ist schlicht nicht ihre Welt. Die Endprodukte müssen deshalb nicht schlechter sein, als die von Kandidaten, die von Vornherein auf den Leonce-und-Lena-Preis schielen. Womöglich ganz im Gegenteil.« 54

In den vergangenen zehn Jahren sind zwar entsprechend der zuvor skizzierten Öffnung und Dominanzverschiebung innerhalb des Literaturbegriffs hin zu einer Mehrzahl von Literaturbegriffen diesbezüglich Veränderungen eingetreten, aber ein Blick auf einschlägige Publikationen zeigt, dass nach dem Hype am Ende der 1990er Jahre – bis auf wenige Ausnahmen – Rap-Texte zwar hier und da zum Gegenstand des Deutschunterrichts geworden sind, aber bei Untersuchungen zur Gegenwartsliteratur eher selten in den Fokus der literaturkritischen und literaturwissenschaftllichen Aufmerksamkeit geraten. Dabei würde sich zeigen, dass die in den Songs ›erzählten Geschichten‹ gegenwärtiges Lebens- und Zeitgefühl oft pointierter vermitteln, als umfangreiche epische Texte. Prinz Pi, einer der profilierten deutschen Rapper, hat dies mit einer Reihe von Tracks auf seinem neuen Album »Kompass ohne Norden« unter Beweis gestellt. So heißt es in »Moderne Zeiten«: »Meine Mutter sagt, ich soll erwachsen werden/und ich sage Mama: ›Diese Welt von heute/ist doch designed für ewig junge Leute‹/die neuen Jeans sehen schon getragen aus/wenn wir mal Hemden tragen dann bleibt der 54 Gansel, Carsten/Neumeister, Andreas: Pop bleibt subversiv. In: Arnold, Heinz Ludwig/Schäfer, Jörgen (Hgg.): Pop-Literatur. Sonderband. Text + Kritik. München: edition text + kritik 2003, S. 183 – 196, hier: S. 190.

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Gegenwartsliteratur bestimmen Kragen auf/Sneaker aus den 80ern/Musik wie in den 70ern/unsre neusten Fotos sehen wieder aus wie Polaroids/wir wünschen uns sehr, dass wir im Gestern wären/leben nach der Formel ›je retro desto neu‹/Alles ist ironisch, vintage und second hand/ist das ein Obdachloser oder doch der letzte Trend/Das war ein Redakteur der VICE voll auf Klonopin/guten Meth, schlechtem Speed/Er tut als wär es Krokodil [Hook] Wo das alles hinführt weiß ich nicht/doch wenn das der Geist unserer Zeit hier ist/dann wird morgen sein wie vorgestern/Alles wird anders bleiben/Willkommen in den modernen Zeiten Die ganze Welt wird schneller, jeder schreibt seinen eigenen Blog/im Apple Store da zahlen wir Raten ab beim weißen Gott/unsere smarten Handys machten aus Beziehungen/Chats, Text-Messages und Touchscreenberührungen/wir haben verlernt zu warten, wir wollen Erlebnisse/ schnelle Ergebnisse, easyjet-Wochenenden/es geht ›Profilbild geil‹, Status Liken/dann in Chat/alles klären/treffen, trinken/kurz ins Bett, wieder weg/immer fertig sein/Man war das gestern heftig/Szene Make Up: Augenringe/jeden Morgen übernächtigt/Depressionen haben jetzt alle/Akku auf dem letzten bisschen/Hipster nennt man nie sich selbst/Gästelisten, Resteficken [...]«. 55

Der Rap mag andeuten, warum es – von der Gattungszuschreibung einmal abgesehen – nur schwer vorstellbar ist, die hier markierten Erfahrungen, Werte, Überzeugungen, Erinnerungen, Hoffnungen mit jenen zusammenzufassen, die etwa aus den 1980er Jahren stammen – von den 1960ern und 1970ern ganz zu schweigen. Wer hätte damals von »smarten Handys«, »Chats« und »TextMessages« sprechen bzw. erzählen können oder vom »eigenen Blog« und den Raten im »Apple Store«? Der Rap von Prinz Pi macht anschaulich, was für die Begriffsbestimmung sowie das Verständnis von »Gegenwartsliteratur« im Zeitalter der Beschleunigung Voraussetzung ist: Dass das Heute immer schon als Gestern von morgen gedacht werden muss. Insofern ist der Vorschlag, »›Gegenwart‹ bedeutet die Zeitspanne einer Generation« 56 so etwas wie das kleinste gemeinsame Vielfache und eine Art pragmatische Lösung, wenn es darum geht, über Literatur der Gegenwart zu verhandeln – vorläufig jedenfalls. Der vorliegende Band, der Beiträge vom IVG-Kongress 2010 in Warschau aufnimmt, zielt darauf, das Phänomen »Gegenwartsliteratur« an konkreten Fallbeispielen näher zu beleuchten und aktuelle Strömungen der neuesten deutschen Literatur, die sich seit der Epochenzäsur 1989 abzeichnen, herauszuarbeiten. Dabei stehen nicht die begriffliche Bestimmung und theoretische Überlegungen zur »Gegenwartsliteratur« im Vordergrund, sondern das Phänomen soll in seiner praktischen Umsetzung erfasst werden. Konkret bedeutet dies, dass die Beiträge des Bandes sich mit unterschiedlichen Gattungen, 55 Prinz Pi: Moderne Zeiten (Musik: Matthias Millhoff; Text: Friedrich Kautz). In: Kompass ohne Norden. CD Edition. Keine Liebe Records & 50/50 Kreativbureau. 56 Lützeler, Gegenwartsliteratur. 2002, S. XVII.

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Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann

Schreibweisen, Themenschwerpunkten und stilistischen Tendenzen auseinandersetzen, die in der deutschen Literatur innerhalb der eineinhalb Jahrzehnte vor und nach dem Millenniumswechsel zu beobachten sind. Miteingeschlossen sind dabei die Aufarbeitung der Vergangenheit vor und nach 1945 sowie die sich sowohl in der Literatur als auch im kollektiven Gedächntnis als Folge der »Wende« und deutschen Wiedervereinigung abzeichnenden Umbrüche, neue Formen historischen Erzählens und die Rückwendung zu philosophischen Fragestellungen sowie neue Überlegungen zur Medienästhetik und Narrativität, aber auch Untersuchungen zur Migrationsliteratur, Popliteratur und der Literatur als Hypermedium.

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Stefan Neuhaus »Die Fremdheit ist ungeheuer« 1 Zur Rekonzeptualisierung historischen Erzählens in der Gegenwartsliteratur

Rahmenbedingungen I: Die neue Lesbarkeit Für Kunst wie Literatur ist, mit Niklas Luhmann gesprochen, Selbstreferenz wichtiger als Fremdreferenz. 2 Die Eigengesetzlichkeit der Literatur spielt seit der sogenannten Genieästhetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die entscheidende Rolle bei der Bewertung von Literatur; 3 das Nach­ahmen und Variieren von Vorbildern und deren Bezug auf die gesellschaftliche Realität, etwa durch das pädagogische Programm der Frühaufklärung, ist seither geringer zu bewerten. Spätestens mit Beginn der literarischen Moderne ist zudem ein Literaturkonzept obsolet geworden, das auf ein durch einen auktorialen Erzähler vermitteltes, geschlossenes Weltbild setzte.

1 Für das titelgebende Zitat vgl. Kehlmann, Daniel/Lentz, Michael: »Die Fremdheit ist ungeheuer«. Gespräch über historische Stoffe in der Gegenwartsliteratur. In: Neue Rundschau. Heft 1/2007 (Historische Stoffe). Frankfurt/M.: S. Fischer 2007, S.  33 – 48. 2 Der Autor als Marke. Strategien der Personalisierung im Literaturbetrieb. In: Wirkendes Wort 61, H. 2 (2011), S. 313 – 328. Vgl. außerdem Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997 (stw 1303), z. B. S. 56, und zusammenfassend Neuhaus, Stefan: Literaturvermittlung. Konstanz: UVK 2009 (UTB 3285), S. 66 f. 3 Zu Fragen der Entwicklung der literarischen Wertung und der daraus folgenden Kanonisierung von Literatur, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann, vgl. u. a.: Heydebrand, Renate von (Hg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. Stuttgart/Weimar: Metzler 1998 (Germanistische Symposien-Berichtsbände 19); Heydebrand, Renate von/Winko, Simone: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn u. a.: Schöningh 1996 (UTB 1953); Gelfert, Hans-Dieter: Was ist gute Literatur? Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet. 2., überarb. Aufl. München: C. H. Beck 2006 (beck’sche reihe 1591).

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Stefan Neuhaus

Der Ruf nach einer »neuen Lesbarkeit« ist nicht zufällig in den 1990er Jahren laut geworden, 4 also nach dem Fall der Berliner Mauer. Auf den historischen Kontext werde ich im nächsten Punkt eingehen. Uwe Wittstock war einer der ersten, der über die Veränderungen im Literaturbetrieb reflektierte, und er hat sich auf die Seite der »Leselust« gestellt, wie er 1995 einen groß angelegten Essay betitelte. Deutschsprachige Autoren und Autorinnen sollten versuchen, ein ähnlich großes »Interesse für ihre Arbeit zu wecken« wie die häufiger gelesenen ausländischen, meinte Wittstock damals. 5 Ein von Andrea Köhler und Rainer Moritz 1998 herausgegebener Band setzte diese Argumentationslinie fort; neben Wittstock waren es beispielsweise Martin Hielscher, damals Lektor für deutsche Literatur bei dem für die Gegenwartsliteratur zentralen Verlag Kiepenheuer & Witsch, und der Schriftsteller Maxim Biller, die sich für einen Abschied von den überkommenen Mustern der Avantgarde einsetzten. Hielscher fasst bündig zusammen: »Die Ästhetik der Moderne hat insofern die pädagogische Tradition fortgesetzt, als sie im Choc, im Verfremden mit Montage, Polyperspektivität, Identifikationsverbot etc. eine identifikatorisch-einfühlende Kunsterfahrung zerstören und die Leser, Hörer oder Betrachter aus der Unmittelbarkeit »heraussprengen« wollte. […] Inzwischen haben viele Autoren die Kommunikation mit dem Leser eingestellt, und es gilt als Gütesiegel avancierter deutscher Literatur, wenn sie sich gleichsam als Strafarbeit darbietet.« 6

Maxim Biller wird noch deutlicher. Die deutschsprachige Literatur hat für ihn, das sagt bereits der Titel seines Beitrags, »soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel«. Es habe »einen Sinn, so zu schreiben, daß der Leser einen begreift«. 7 Der »Agonie unserer Akademikerprosa« setzt Biller die Forderung nach »Romane[n], die man in einem Ruck durchliest«, entgegen. 8

4 Bilanzierend für die Entwicklung der vorhergehenden Jahre findet sich das Schlagwort bei Hielscher, Martin: Geschichte und Kritik. Die neue Lesbarkeit und ihre Notwendigkeit. In: Denmann, Mariatte/McIsaak, Peter/Jung, Werner (Hgg.): Was bleibt – von der deutschen Gegenwartsliteratur? Stuttgart/Weimar: Metzler 2001 (Lili – Zeitschrift für Literatur und Linguistik, Bd. 31, H. 124), S. 65 – 71. 5 Wittstock, Uwe: Leselust. Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur? Ein Essay. München: Luchterhand 1995, S. 8 f. 6 Hielscher, Martin: Literatur in Deutschland – Avantgarde und pädagogischer Purismus. Abschied von einem Zwang. In: Köhler, Andrea/Moritz, Rainer (Hgg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig: Reclam 1998 (Reclam-Bibliothek 1620), S. 151 – 167, hier S. 152 f. 7 Biller, Maxim: Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel. Warum die neue deutsche Literatur nichts so nötig hat wie den Realismus. Ein Grundsatzprogramm. In: ebd., S. 62 – 71, hier S. 68. 8 Vgl. ebd., S. 70 f.

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Historisches Erzählen in der Gegenwartsliteratur

Seither hat die identifikatorische Lektüre massiv an Bedeutung gewonnen. Dies zeigt beispielsweise der Streit um das 2006 erschienene Buch von Volker Weidermann, Leiter des Feuilletons der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«, mit dem Titel: »Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute«. Der Literaturkritiker Hubert Winkels befand, das Buch sei einseitig, und er unterschied grundsätzlich zwischen Emphatikern und Gnostikern als die zwei Positionen oder Pole im Literaturbetrieb: »Die Emphatiker des Literaturbetriebs, die Leidenschaftssimulanten und Lebensbeschwörer ertragen es nicht länger, dass immer noch einige darauf bestehen, dass Literatur zuallererst das sprachliche Kunstwerk meint, ein klug gedachtes, bewusst gemachtes, ein formal hoch organisiertes Gebilde, dessen Wirkung, und sei sie rauschhaft, von sprachökonomischen und dramaturgischen Prinzipien abhängt. Und dass sich der Lustgewinn in spätmodern abgeklärten Zeiten der Erkenntnis dieser Prinzipien verdankt.« 9

Obwohl Winkels beide Positionen als einseitig kennzeichnete, wurde ihm in der Folge vorgeworfen, die der Emphatiker unangemessen zu kritisieren. 10 Zwar wird die – etwa durch Brüche im Erzählverhalten und in der Chronologie gekennzeichnete – experimentelle Literatur immer noch von einem kleinen Kreis von Literaturexperten sehr geschätzt, doch konnten sich in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr Autoren und Autorinnen profilieren, die an eher traditionelle Erzählkonzepte anschließen und damit auch einen Erfolg bei einem breiteren Lesepublikum verbuchen konnten, man denke an Christian Krachts »Faserland« (1995), Judith Hermanns »Sommerhaus, später« (1998), Benjamin Leberts »Crazy« (1999) oder Charlotte Roches »Feuchtgebiete« (2008), um nur einige Beispiele zu nennen. Auch der weltweite Erfolg von Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt« (2005) zeigt, dass ein auktorialer Erzähler, verbunden mit einer einfachen Sprache und einem chronologischen Fortgang der Handlung, nicht länger ein Problem für die Rezeption im Feuilleton darstellt. Auf Kehlmann und ein weiteres Beispiel soll im Folgenden näher eingegangen werden.

9 Vgl. Winkels, Hubert: Emphatiker und Gnostiker. Über eine Spaltung im deutschen Literaturbetrieb – und wozu sie gut ist. In: Die Zeit, Nr. 14, vom 30.03.2006, S. 59. 10 Vgl. Neuhaus, Stefan: Von Emphatikern, Gnostikern, Zombies und Rettern: Zur aktuellen Situation der Literaturkritik in den Printmedien. In: Giacomuzzi, Renate/ Neuhaus, Stefan/Zintzen, Christiane (Hgg.): Digitale Literaturvermittlung. Praxis – Forschung – Archivierung. Innsbruck: StudienVerlag 2010 (Angewandte Literaturwissenschaft 10), S. 36 – 47.

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Rahmenbedingungen II: Die veränderte Gegenwart bedingt eine veränderte Vergangenheit Die sogenannte Postmoderne ist durch »das Ende der großen Erzählungen« (Lyotard) gekennzeichnet 11, das mit «riskanten Freiheiten« (Ulrich Beck) einhergeht und zur Orientierungslosigkeit und Einsamkeit geführt hat. 12 In solchen Zeiten sind Orientierungsangebote gefragt, die Wirklichkeitsmodelle bereitstellen – auch und gerade in der Literatur. Zwar sind die bekannten Entwicklungen der Postmoderne schon älter als der Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs, doch haben die politischen Veränderungen in den sogenannten Ostblockstaaten weiterhin das Ende der letzten großen Erzählung befördert, die weltweite gesellschaftspolitische Veränderungen zum Ziel hatte – nämlich die ideologischen Grundpositionen des Kommunismus oder Sozialismus als Alternative zur Produktions- und Warenästhetik der westlichen Marktwirtschaften anbieten zu können. Auch wenn dieses Welterklärungsmodell bereits durch die Praxis in den sozialistischen Staaten über Jahrzehnte nachhaltig diskreditiert worden war, so blieb als einzige politische Option der sogenannten westlichen Welt nun die neoliberale Demokratie übrig. Die Probleme des Neoliberalismus wurden und werden auch in der Literatur verhandelt. Das nun auch von den sogenannten früheren Ostblockstaaten übernommene System der Marktwirtschaft sorgt für eine immer schnellere Zirkulation von Gütern und propagiert, Menschen primär daran zu messen, welche Leistungen sie als Produzenten und Konsumenten dieser Güter erbringen. Neben Ulrich Beck haben Soziologen wie Zygmunt Bauman oder Richard Sennett gezeigt, dass die daraus resultierende radikale Individualisierung (Mobilität und berufliche Flexibilität passen nicht zu dauerhaften Sozialbeziehungen in Familie und Beruf) Wurzel- und Orientierungslosigkeit zur Folge haben. 13 Dies bedeutet eine Gefahr für die Identität, für die wiederum Erinnerung einen zentralen Bestandteil darstellt. Auch Erinnerung gerät in einer gegenwarts- und zukunftsfixierten, individualisierten Gesellschaft unter Druck, an11 »Die große Erzählung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren […].« Lyotard, JeanFranςois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hrsg. von Peter Engelmann. 5. Aufl. Wien: Passagen 2005 (edition passagen 7), S. 112. 12 Vgl. Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003 (edition suhrkamp 2432), z. B. S. 370 und 188. Zum prägnanten Begriff vgl. Beck, Ulrich/Beck-Gersheim, Elisabeth (Hgg.): Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994 (Edition Suhrkamp 1816). 13 Vgl. Bauman, Zymunt: Flüchtige Moderne. Übers. v. Reinhard Kreissl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003 (edition suhrkamp); Sennett, Richard: Der flexible Mensch: Die Kultur des neuen Kapitalismus. Aus dem Amerikan. von Martin Richter. Berlin: Berliner Taschenbuch-Verlag 2006.

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Historisches Erzählen in der Gegenwartsliteratur

dererseits kann sie ein Stabilitätsanker sein. Der Funktion von Erinnerung ist bekanntlich Jan Assmann nachgegangen, der festgestellt hat: »Nur bedeutsame Vergangenheit wird erinnert, nur erinnerte Vergangenheit wird bedeutsam. Erinnerung ist ein Akt der Semiotisierung.« 14 Geschichte wird also nicht nur aus bestimmten Gründen erinnert und vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis transferiert (nämlich durch Aufzeichnung), sondern ebenso zu bestimmten, nämlich aus den Bedürfnissen der Gegenwart resultierenden Zwecken konstruiert. Das zunehmende Bedürfnis nach Orientierung hat zwangsläufig zu einem steigenden Interesse an der Geschichte geführt, man denke an die zahlreichen historischen wie belletristischen Texte über die DDR-Geschichte, aber auch ganz allgemein an literarische Texte und Filme über die deutsche Geschichte in den 1990er-Jahren. Günter Grass knüpft in seinem skandalisierten Roman »Ein weites Feld« von 1995 einen historischen Spannungsbogen von dem Aufstieg Preußens zur Großmacht über die Gründung des Zweiten Deutschen Kaiserreichs bis zur sogenannten Wiedervereinigung. Mit solchen historischen Breitenund Tiefenperspektivierungen steht er nicht allein; interessanterweise gibt es schon – seinerzeit weniger stark beachtete – Beispiele in den 1980er-Jahren. 15 In der jüngeren Vergangenheit finden sich zahlreiche Beispiele, die sich dem wieder wachsenden Interesse an der Geschichte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdanken; man denke etwa an die von der Literaturkritik und Literaturwissenschaft viel beachteten Romane und Erzählungen Marcel Beyers, »Flughunde« 1995 und »Kaltenburg« 2008, W. G. Sebalds, »Die Ausgewanderten« 1992 und »Austerlitz« 2001, oder Raoul Schrotts, »Finis Terrae« 1995 sowie »Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde« 2003. Der Diskurs über die jüngere deutsche und europäische Geschichte ist von den Herausgebern dieses Bandes bereits in mehreren Tagungen und Konferenzbänden perspektiviert und dokumentiert worden. 16

14 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 4. Aufl. München: C. H. Beck 2002, S. 77. 15 Vgl. z. B. Erich Loests Roman »Völkerschlachtdenkmal« von 1984 oder Hans Joa­ Roman der chim Schädlichs Roman »Tallhover« von 1986, auf den Grass in »Ein weites Feld« mit der Figur Hoftaller direkt Bezug nimmt. 16 Vgl. z. B. Gansel, Carsten (Hg.): Rhetorik der Erinnerung – Literatur und Gedächtnis in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009 (Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 1).

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Rahmenbedingungen III: Historisches Erzählen heute Die bekannteste Variante historischen Erzählens ist die Gattung des Historischen Romans, der durch Sir Walter Scott (1771 – 1832) maßgeblich geprägt wurde. Wegweisend war diesbezüglich sein Roman »Waverley or ’Tis Sixty Years Since« von 1814. Ältere Interpretationsversuche haben aufgrund des Untertitels eine zeitliche Distanz von mindestens sechzig Jahren angenommen, eine weder von Scott beabsichtigte noch dauerhaft haltbare Normierung. Die Forschungen zum Historischen Roman sind umfangreich und können hier nicht ausführlich rekapituliert werden. 17 Hugo Aust, der eine bekannte Einführung verfasst hat, stellt verallgemeinernd fest: »›Historisches Erzählen‹ bedeutet, Geschichten zu erzählen, die wiedererkennbare Geschichte voraussetzen. Es stellt dar, was bereits geschehen ist (genauer: was bereits als geschehen mitgeteilt wurde), es berichtet, was trotz Geschichtswissens unbekannt geblieben [ist – der Verf.] oder sich nur verderbt erhalten hat, erinnert einerseits an Bedeutendes, andererseits an Vergessenes oder Verdrängtes und vergegenwärtigt, was grundsätzlich abwesend bleibt, weil es bereits ›gewesen‹ ist. Hinter diesen erzählerischen Aufgaben stehen verschiedene Interessen und Absichten, und demnach unterscheiden sich auch die angewandten Mittel.« 18

Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Fiktion werden miteinander in Beziehung gesetzt. Für Hans Vilmar Geppert ist es denn auch vor allem das »Hybride«, die »produktive Differenz von historischem und fiktionalem Diskurs«, 19 was den Reiz, die Kontinuität und Wandelbarkeit der Gattung ausmacht. 20 Abgesehen vom trivialen historischen Roman, der quantitativ den größten Teil der Produktion ausmacht und der mit allen Mitteln auf die Erzeugung von Handlungsspannung setzt (Dan Brown, Tanja Kinkel u. v. m.), 21 hat sich in den letzten Jahrzehnten ein postmodernes historisches Erzählen entwickelt, für das exemplarisch meist Umberto Ecos Roman »Der Name der Rose« von 17 Für neuere Ansätze vgl. z. B. den Sammelband von Durrani, Osman/Preece, Julian (Hgg.): Travellers in Time and Space/Reisende durch Zeit und Raum. The German Historical Novel/Der deutschsprachige historische Roman. Amsterdam/New York: Rodopi 2001 (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 51). 18 Aust, Hugo: Der historische Roman. Stuttgart/Weimar: Metzler 1994 (Sammlung Metzler 278), S. 17. 19 Geppert, Hans Vilmar: Der Historische Roman. Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart. Tübingen/Basel: Francke 2009, S. 3. 20 Einen Einblick in die literaturgeschichtliche Bedeutung und Vielfalt der Gattung vermittelt die Datenbank »Projekt Historischer Roman« der Universität Innsbruck von Johann Holzner, Wolfgang Wiesmüller, Kurt Habitzel und Günter Mühlberger unter http://www.uibk.ac.at/germa­nistik/hist­rom/da­ten­bank.html (Zugriff am 17.06.2010). 21 Vgl. hierzu auch Geppert, Der Historische Roman. 2009, S. 389 – 394.

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1980 herangezogen wird. 22 Die wichtigsten Merkmale des Romans seien hier kurzskizziert: – Stil- und Genremix: Zitiert und variiert werden lateinische Texte, die Bibel, Kirchentexte (angelegt als eine Art Beichtschrift) und historische Quellen. Der Roman stellt sich in die Tradition des historischen Romans (als Panorama des 14. Jahrhunderts, das den Konflikt zwischen Kaiser und Papst, in dem William von Baskerville vermitteln soll, darstellt), der Gothic Novel (düstere Klosteratmosphäre), des Detektivromans (der Name Baskerville verweist auf Sherlock Holmes) und des für die Postmoderne besonders charakteristischen metafiktionalen Romans. – Metafiktionalität bzw. Unsicheres Erzählen wird bereits durch die Herausgeberfiktion (das Jahr 1968 als historische Umbruchszeit korreliert mit der geschilderten Umbruchszeit des Mittelalters) inszeniert; es gibt ein verlorenes Manuskript in der Rahmenhandlung (Versuch einer Rekonstruktion und zugleich freie Bearbeitung des – erfundenen – Stoffes) sowie in der Binnenhandlung (Verlust des – verschollenen – Zweiten Buches der »Poetik« des Aristoteles und des Buches »Über die Komödie«). Originell ist die Anlage: Rahmenhandlungen, Personenverzeichnis (sonst nur im Drama üblich), Anmerkungen, Abbildungen. – Konstruktivistische Weltsicht: Eco, Professor für Semiotik, führt literarisch die Relativierung von Wahrheit und Erkenntnis vor und betont den Zeichencharakter von Wirklichkeit. 23 Die durchgängige Verwendung von Ironie im Handlungsaufbau (das Detektivpaar kommt immer zu spät) und bei der Figurencharakterisierung unterstützt dieses Erzählkonzept. Ecos Roman behauptet also kein geschlossenes Weltbild, stattdessen spielt er mit Vorstellungen vergangener/anderer Weltbilder und entlarvt sie als anfällig für Fanatismus. Insofern ist Eco kein Vertreter der Postmoderne im Sinne eines ›anything goes‹, also einer Position, der eine solche kritische Intention widersprechen würde. An zwei Beispielen soll nun gezeigt werden, wie sich historisches Erzählen in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart gestaltet. 24

22 Vgl. Umberto Eco: Der Name der Rose. Roman. Aus dem Ital. von Burkhard Kroeber. 31. Aufl. München: dtv 2008; ders.: Nachschrift zum »Namen der Rose«. Aus dem Ital. von Burkhard Kroeber. 10. Aufl. München: dtv 2007. 23 Vgl. Eco, Der Name der Rose. 2008, z. B. S. 23 und 420 ff. 24 Diese beiden Beispiele wählt auch, stärker die Veränderungen der Gattung in den Blick nehmend (und als weiterführende Lektüre sehr zu empfehlen): Scholz, Gerhard: Zeitgemäße Betrachtungen? Zur Wahrnehmung von Gegenwart und Geschichte in Felicitas Hoppes »Johanna« und Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt«. Innsbruck: StudienVerlag 2012 (Angewandte Literaturwissenschaft 15).

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Daniel Kehlmann: »Die Vermessung der Welt« (2005) Das literarische Werk des 1975 in München geborenen Autors Daniel Kehlmann wird gern in die literarische Traditionslinie großer Romanciers wie Vargas Llosa, García Marquez und Vladimir Nabokov eingereiht. 25 Auch das Etikett des Magischen Realismus wird häufig verwendet. Kehlmann hat selbst immer wieder auf diese Tradition hingewiesen: »Als wären es erzählte Träume. Ein erweiterter Realismus, ein Spiel mit der Wirklichkeit, das sei ›die große Revolution, die in Anlehnung an Kafka die lateinamerikanischen Autoren eingeleitet haben‹, betont Daniel Kehlmann.« 26

Der Welterfolg »Die Vermessung der Welt« 27 lässt sich als Historischer Roman etikettieren. Sein Inhalt kann, wie folgt, kurz zusammengefasst werden: Abwechselnd werden Erlebnisse des Göttinger Mathematikers Carl Friedrich Gauß und des Berliner Naturforschers Alexander von Humboldt (der jüngere Bruder des Universalgelehrten Wilhelm von Humboldt) geschildert, nach weitläufiger Parallelerzählung der beiden Lebensläufe kommt es schließlich zu einem Treffen der beiden. Gauß’ Sohn Eugen wird, als er an einer verbotenen Versammlung teilnimmt, von der Polizei verhaftet und des Landes verwiesen. Er wandert nach Amerika aus. Kehlmann setzt einen auktorialen Erzähler ein, verwendet einen einfachen Satzbau und favorisiert eine einfache Wortwahl. Es handelt sich um eine chronologische Erzählung, die durch die wechselnde Fokussierung zwischen den beiden Figuren und relativ große Zeitsprünge zwischen den geschilderten Erlebnissen aufgelockert wird. Die lakonische, ironische Sprache des Romans steht im Kontrast zu den eher einschneidenden Ereignissen der Handlung. Besondere Kennzeichen sind die häufig verwendete indirekte Rede und der Inneren Monolog; beide dienen, ähnlich wie auch die Ironie und Lakonie des Erzählens, der Erzeugung von Distanz. Kehlmann aktualisiert die Tradition des Historischen Romans, indem er mit ihr spielt. Es handelt sich zwar um historische Figuren, um historisch beglaubigte Abschnitte der Handlung und ein historisches Setting im 19. Jahrhundert, gleichzeitig werden die Geistesgrößen als Menschen mit menschlichen Fehlern dargestellt, 28 Sprache und Bewusstseinsstrom der Figuren sind gegenwartsbezo25 Vgl. z. B. Gasser, Markus: Das Königreich im Meer. Daniel Kehlmanns Geheimnis. Göttingen: Wallstein 2010, S. 100. 26 Zeyringer, Klaus: Gewinnen wird die Erzählkunst. Ansätze und Anfänge von Daniel Kehlmanns »Gebrochenem Realismus«. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Daniel Kehlmann. München: edition text + kritik 2008 (Sonderheft 1/08), S. 36 – 44, hier S. 36. 27 Kehlmann, Daniel: Die Vermessung der Welt. Roman. 19. Aufl. Reinbek: Rowohlt 2006. 28 Vgl. z. B. die Szene mit Gauß’ Zahnschmerzen und dem vollen Nachttopf in ebd., S. 81. Der Roman wird im Folgenden abgekürzt zitiert mit der Sigle K und der betreffenden Seitenzahl.

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gen. Kehlmann baut fiktive Handlungselemente ein, vor allem das Treffen von Gauß und Humboldt in Berlin – hier ist wahrscheinlich das ebenfalls fiktive Treffen der Königinnen in Schillers »Maria Stuart« ein Vorbild gewesen. Der Roman eröffnet immer wieder Möglichkeiten, Vergleiche zwischen den (mehr oder weniger) historischen Ereignissen und der Gegenwart der Rezipientinnen und Rezipienten zu ziehen, wobei Gauß in die Zukunft zu sehen weiß und Humboldt durch seine Ignoranz gegenüber künftigen Entwicklungen gekennzeichnet ist: »Bald, erklärte er [Gauß – der Verf.], würden Maschinen die Menschen mit der Geschwindigkeit eines abgeschossenen Projektils von Stadt zu Stadt tragen. Dann komme man von Göttingen in einer halben Stunde nach Berlin. Eugen wiegte zweifelnd den Kopf (K, 9). ›Gauß will klären, was eine Zahl ist, und damit die ›Grundlage der Arithmetik‹ bereitstellen. Ein Lebenswerk, sagte Bartels. Gauß nickte. Mit etwas Glück werde er in fünf Jahren fertig sein. Doch bald wurde ihm klar, daß es schneller gehen würde‹ (K, 86). Menschen flögen nicht, sagte Humboldt. Selbst wenn er es sähe, würde er es nicht glauben. [Bonpland – der Verf.] Und das sei dann Wissenschaft? Ja, sagte Humboldt, genau das sei Wissenschaft. (K, 138) So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit, sagte Humboldt. Was für eine Paarung! Gleichsam der Gegensatz zu dem, wofür Deutschland stehe.« (K, 208)

Der Roman gewinnt einen Großteil seiner hintergründigen Komik durch Kontraste, auch solche zwischen kulturellen Traditionen: »Am frühen Morgen rissen Schmerzensschreie sie aus dem Schlaf. Einer der im Hof angeketteten Männer wurde von zwei Priestern mit Lederriemen gepeitscht. Humboldt lief hinzu und fragte, was hier vorgehe. Nichts, sagte der eine Priester. Wieso? (K, 118)

Schon der Titel des Romans ist ironisch zu verstehen, er bezieht sich auf eine Textstelle, an der der alternde Humboldt eine Rede hält und meint (die Ironie wird schon durch die indirekte Rede deutlich): »Das Ende des Wegs sei in Sicht, die Vermessung der Welt fast abgeschlossen, Angst, Krieg und Ausbeutung würden in die Vergangenheit sinken.« (K, 238) Der heutige Leser weiß, dass seither eher das Gegenteil der Fall gewesen ist. Intertextuelle Verweise finden sich ebenso und werden in die ironische Grundstruktur eingebaut – sicher das schönste Beispiel dafür ist die freie Übersetzung eines berühmten Goethe-Gedichts: »Geschichten wisse er keine, sagte Humboldt und schob seinen Hut zurecht, den der Affe umgedreht hatte. Auch möge er das Erzählen nicht. Aber er könne das schönste deutsche Gedicht vortragen, frei ins Spanische übersetzt. Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein. Alle sahen ihn an. Fertig, sagte Humboldt. Ja wie, fragte Bonpland. Humboldt griff nach dem Sextanten.« (K, 128)

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Das Spiel mit Genres und Traditionen wird ergänzt durch metafiktionale Stellen, etwa die folgende, die sich außerdem durch Selbstironie auszeichnet: »Sogar ein Verstand wie der seine, bemerkte Gauß, hätte in früheren Menschheitsaltern oder an den Ufern des Orinoko nichts zu leisten vermocht, wohingegen jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne.« (K, 9)

Wie schon Ecos »Der Name der Rose« liegen auch Kehlmanns »Die Vermessung der Welt« konstruktivistische Überzeugungen zugrunde, das zeigen Stellen wie diese: »… Zu viele Leute hielten ihre Gewohnheiten für Grundregeln der Welt.« (K, 247) Dagegen steht allerdings das zentrale Symbol des Drachenbaums auf Teneriffa für das Leben, das den Menschen überdauert (K, 47 und 301), wohl die bedeutendste Spur des erwähnten Magischen Realismus im Roman. In der Rezeption ist gerade die Eingängigkeit der Erzählweise als besonders positiv hervorgehoben worden, Markus Gasser bilanziert: »Ist der Wunsch, mit Humor, Handlung und den großen Geschichten unterhalten zu werden, nicht ein so schlichtes wie legitimes Bedürfnis? – Die Vermessung der Welt genügt diesem Bedürfnis und dem Wunsch, nicht immer so ›deutsch‹ sein zu müssen, so humboldtnüchtern und hegelernst.« 29

Weniger positiv urteilt Heinz-Peter Preußer, er sieht in dem Roman eher alten Wein in neuen Schläuchen: »Kehlmann präsentiert uns einen vertrauten Diskurs in gewandeltem Modus. […] Ich meine den Diskurs der Zivilisationskritik […]. Kehlmann wechselt die Gattung, schlicht gesagt, und transformiert den Stoff der Tragödie in die Komödie.« 30

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Kehlmanns Roman das Muster eines postmodernen historischen Romans, wie es durch Ecos »Der Name der Rose« geprägt worden ist, variiert und ihm einige neue Seiten abgewinnen kann, etwa das Erzählen in indirekter Rede. Wie schon Eco setzt Kehlmann auf Kontraste zwischen der (fiktionalisierten) historischen Realität und der Gegenwart, in der der Roman veröffentlicht und aktuell rezipiert wird. So weit, so gut: Ein anderer Text der jüngeren Gegenwartsliteratur setzt aber nicht mehr auf Variation und moderate Veränderung der Muster, er wendet das Muster sogar gegen sich selbst.

29 Vgl. Gasser, Das Königreich im Meer. 2010, S. 104. 30 Preußer, Heinz-Peter: Zur Typologie der Zivilisationskritik. Was aus Daniel Kehlmanns Roman »Die Vermessung der Welt« einen Bestseller werden ließ. In: Arnold, Daniel Kehlmann. 2008, S. 73 – 85, hier S. 74.

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Felicitas Hoppe: »Johanna« (2006) Felicitas Hoppe wurde 1960 in Hameln geboren, 1996 erhielt sie den »Aspekte«Literaturpreis für den Erzählband »Picknick der Friseure« als das beste Debüt des Jahres. Ihr 2006 erschienener Roman »Johanna« kam auf die Auswahlliste des Deutschen Buchpreises. 31 Wie in ihrem ersten Roman »Pigafetta«, 32 der die Weltumrundung einer Ich-Erzählerin auf einem Containerschiff schildert, werden auch in »Johanna« vergangene und gegenwärtige Ereignisse im Erleben und Erinnern von Figuren überblendet, nur dass in »Johanna« die historischen Voraussetzungen eine bedeutendere Rolle spielen. Da Hoppe die Lebensgeschichte der Johanna von Orleans (Jeanne d’Arc) zugrunde legt, kann man von einem historischen Roman sprechen, auch wenn die Autorin selbst es ablehnt, den Begriff zu verwenden. Für sie ist es, schon weil sie einen »grundlegenden Unterschied zwischen Literatur und [Geschichts-]Wissenschaft« sieht, ein »[…] Buch der Dialoge, ein Buch der Argumentation und in diesem Sinn aller Wahrscheinlichkeit nach kein Roman, ein historischer Roman schon gar nicht«. 33 Gleich im Anschluss daran stellt sie jedoch fest: »Jeder ernsthafte Text ist historisch.« 34 Die dem Roman zugrundeliegenden historischen Ereignisse werden in einem Prolog von knapp zwei Seiten zusammengefasst; die Geschichte des in der »Dreikönigsnacht« geborenen lothringischen Mädchens (ca. 1412 – 1431), das im Alter von 19 Jahren am 30. Mai 1431 auf dem Alten Markt im nordfranzösischen Rouen auf dem Scheiterhaufen stirbt, nachdem sie der französischen Armee im Kampf gegen die englische entscheidend geholfen hat. Im Prolog werden bereits wichtige Motive des Romans angesprochen, etwa die Schandmütze aus Papier, die Johanna aufgesetzt wird, die Asche und das Herz Johannas, die in die Seine geworfen werden. Dass bereits der Prolog auf eine für die Autorin typische Weise bewußt mit der Fiktionalisierung der Fakten spielt, indiziert die vage Angabe, »achtzig oder achthundert englische Soldaten« seien bei der Hinrichtung zugegen gewesen. 35 Der Roman ist in sieben Kapitel unterteilt, deren Überschriften die darin verwendeten Motive schlagwortartig auf den Punkt bringen: »Mützen«, »Stimmen«, 31 Zur Autorin und ihrem Werk vgl. Neuhaus, Stefan: Felicitas Hoppe. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. 87. Nlg. 10/2007; Neuhaus, Stefan/ Hellström, Martin (Hgg.): Felicitas Hoppe im Kontext der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Innsbruck: Studienverlag 2008 (Angewandte Literaturwissenschaft 1). 32 Hoppe, Felicitas: Paradiese, Übersee. Roman. Reinbek: Rowohlt 2003. 33 Hoppe, Felicitas: Auge in Auge. Über den Umgang mit historischen Stoffen. In: Neue Rundschau. Heft 1/2007 (Historische Stoffe). Frankfurt/M.: S. Fischer 2007, S. 56 – 69, hier S. 61. 34 Ebd., S. 62. 35 Vgl. Hoppe, Felicitas: Johanna. Roman. Frankfurt/M.: S. Fischer 2006, S. 8 f.

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»Wunder«, »Prüfungen«, »Zeugen«, »Leitern« und »Himmel«. Der Roman spielt im Monat Mai in der nicht näher bezeichneten Gegenwart und er schildert, wie sich die unbenannte Erzählerin auf ihre Doktoratsprüfung vorbereitet. Ein bereits promovierter Kollege, »Peitsche« genannt, hilft ihr und die beiden verlieben sich offenbar ineinander, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt wird. Die Prüfung in der Mitte des Romans wird unterbrochen, der Professor vorzeitig aus dem Raum gerufen. Anschließend fährt die Erzählerin und Protagonistin mit dem Zug nach Rouen, dort trifft sie nicht nur den Professor, sondern auch die historischen Gestalten aus Johannas Vergangenheit. Nicht zufällig ist der Monat Mai als Zeitpunkt der Handlung gewählt, denn Johannas letzter Lebens­ monat, ihr Scheitern und das Scheitern der Protagonistin werden auf diese Weise ineinandergeblendet. Die Erzählerin verbringt Johan­nas Todestag am Ort der Hinrichtung. Nach einem Bad in der Seine versöhnt sie sich mit ihrem Kollegen Peitsche und es wird angedeutet, dass für eine Beziehung der beiden Hoffnung besteht. Der Schluss fügt sich zum Namen Johannas, der aus dem Hebräischen stammt und zu Deutsch »Gott ist gnädig« bedeutet. Die Ich-Erzählerin spricht die Leser im ersten Kapitel direkt an, das mit der Anrede beginnt: »Damen und Herren, was bleibt, ist ein Rätsel.« 36 So wird schon einleitend auf die Rätsel­struktur des Romans hingewiesen. Auf die historischen Ereignisse wird immer wieder angespielt, aber der Roman lässt von vorn­herein keinen Zweifel daran, dass ein Versuch der Rekonstruktion zum Scheitern verurteilt ist. Schon die Umwelt, in der die Figuren agieren, ist für die Figuren selbst kaum zu durchschauen. Davon lassen sie sich allerdings nicht beirren. Auf diese Weise führt der Roman mit den Mitteln der Fiktion vor, dass auch die Gegenwart nur eine Konstruktion ist, die sich angesichts der unterschiedlichen subjektiven Perspektiven nur punktuell und vorläufig erschließt. Einen übergeordneten Sinn gibt es nicht. Obwohl sich der Roman durch eine außerordentliche Symboldichte auszeichnet, trägt keines der Symbole dazu bei, irgendeine Form von Transzendenz zu etablieren, wie dies Kehlmann etwa mit dem Drachenbaummotiv versucht. Die Rezeption zeigt: Das Experimentieren mit Wahrnehmungs- und Erzählmustern ist zumindest dem quantitativen Erfolg nicht zuträglich. Hoppes Roman hat zustimmende Beachtung gefunden, aber die Zahl der Besprechungen ist deutlich kleiner als bei Kehlmann. 37 Auch die Verkaufszahlen beweisen, sofern man den Artikeln über Kehlmann folgt, 38 dass der Anschluss an eher traditionel36 Ebd., S. 11. 37 Im Innsbrucker Zeitungsarchiv/IZA finden sich zur »Vermessung der Welt« 304 Rezensionen und Artikel, zu »Johanna« nur 26 Rezensionen und Artikel. 38 »Mit ›Die Vermessung der Welt‹ durchbricht Daniel Kehlmann nun die Schallmauer von einer Million verkauften Exemplaren – in gebundener Ausgabe. Seit Erscheinen im September 2005 steht der Titel auf der Bestsellerliste des ›Spiegel‹, wo er 35 Wochen lang Platz 1 belegte. Außerdem wurde der mit zahlreichen Preisen ausge-

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le Erzählkonzepte ungleich mehr Erfolg verspricht als das Experimentieren mit neuen Formen. Dies haben vor Kehlmann bereits zwei andere Autoren gezeigt, deren Romane ebenfalls Merkmale postmodernen Erzählens aufweisen und dennoch eher traditionell erzählt sind – Patrick Süskind mit »Das Parfum« von 1985 und Robert Schneider mit »Schlafes Bruder« von 1992. Auch hier steht zu vermuten, dass lineares Erzählen ohne größere inhaltliche Brüche und das Forcieren der Handlungsspannung erheblich zum Welterfolg beitrugen. Fazit Meine Ausführungen konnten nur sehr knapp und beispielhaft andeuten, dass sich interessante neue Möglichkeiten historischen Erzählens in der Gegenwartsliteratur finden lassen. Die Postmoderne hat dazu geführt, dass frühere Muster aufgenommen, variiert, reflektiert und kommentiert worden sind. Betroffen sind davon nicht nur überkommene Paradigmen historischen Erzählens, sondern auch die durch sie vertretene Weltsicht, die im 19. Jahrhundert eine weitgehend geschlossene war (und nur noch in trivialen Romanen wie z. B. bei Dan Brown weiterhin eine solche ist). Nicht nur Ecos »Der Name der Rose«, auch Kehlmanns »Die Vermessung der Welt« und Hoppes »Johanna« zeichnen sich durch einen Stil- und Genremix, Metafiktionalität und unsicheres Erzählen sowie durch eine konstruktivistische Weltsicht aus. Die beiden ausgewählten Beispieltexte zeigen zudem, dass das Fehlen früherer Orientierungsmuster keineswegs Anlass zu Klage und Pessimismus geben sollte. Weder findet sich eine pessimistische Aussage in den Texten, noch zeugen sie von der Endlichkeit der Möglichkeiten, sich mit historischen Stoffen in der Gegenwart auseinanderzusetzen. Während sich Eco für eine reflektierte Aufklärung eingesetzt hat, die sich wachsam und kritisch gegenüber allen Ideologemen verhält, also die Tradition ›linker‹ Autoren und Autorinnen fortsetzt, öffnet Kehlmann ein Fenster für Erfahrungen von Transzendenz, ohne dass genauer gesagt werden kann, welche Möglichkeiten es jenseits der beobachtbaren Realität gibt. Hoppe geht am weitesten, indem sie nicht nur historische Ereignisse als unrekonstruierbar vorführt, sondern auch den Figuren den Blick auf ihre eigene Gegenwart und auf sich selbst verstellt. Hoppe führt vor, dass eine solche Beschränkung zugleich Gewinn bedeuten kann. Ich möchte die aus dem Roman zu gewinnende Erkenntnis mit einer paradoxen Feststellung fixieren, auch wenn eine solche

zeichnete Roman bisher in 35 Sprachen übersetzt.« F.A.Z.: Eine Million Auflage. Kehlmanns »Vermessung der Welt«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 134, vom 13.06.2007, S. 35. Auf der Liste »Bestseller des Jahrzehnts« (Der Spiegel, Nr. 53, vom 28.12.2009, S. 136) kommt Kehlmanns Roman auf Platz 7 (Dan Browns »Sakrileg« belegt Platz 5).

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Fixierung sich selbst ad ab­surdum führt, weil es keine Fixierungen (mehr) geben kann. Deshalb formuliere ich sie als Vorschlag: Erst wenn man akzeptiert, dass die eigene Wahrnehmung durch die unhintergehbare Subjektivität eingeschränkt ist, dann ergeben sich unendlich viele neue, von der Last der Festlegung befreite Wahrnehmungs­möglich­keiten. Literatur ist hier ganz bei sich, denn sie führt exemplarisch vor, wie auf­regend das Spiel mit Deutungen und Bedeutungen sein kann, ohne deshalb beliebig zu werden.

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Irina Gradinari Vom Körper zum Textcorpus: Körperimaginationen und -transformationen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

In der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur hat sich in den beiden Jahrzehnten um die Jahrtausendwende eine neue Ästhetik entwickelt: Die sogenannte »Körperliteratur« nach Jörg Magenau, der darunter Werke von Reto Hänny, Michael Kleeberg, Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Marcel Beyer, Thomas Hettche und Ulrike Korb subsumiert. Weiterhin können dazu noch zumindest einige Werke von Hans Thill, Juli Zeh, John von Düffel und Thomas Jonigk gezählt werden. Die neue Ästhetik schreibt die Tradition des Expressionismus fort (Georg Trakl, Gottfried Benn) und scheint ein Teil des gegenwärtigen, nicht zuletzt durch die visuellen Medien bedingten Körperkultes zu sein. Magenau betont, Körperliteratur sei »[…] ein berechtigter Einspruch gegen die Missachtung des Körpers in der Epoche der Aufklärung, gegen die Unterdrückung der Sinnlichkeit durch das Primat der Vernunft, gegen die Unterwerfung von Individuen unter das Diktat von Ideen. Sie ist reaktionär, wo sie masochistische Selbstunterwerfung predigt und den Körper zum Rückzugsraum des machtlosen Subjekts verklärt.« 1

Diese anthropologische Wende entwickelt eine »neueste neue Innerlichkeit« 2, die nach Franziska Schößler mit der Auflösung der notorischen Geist-KörperDifferenz und der Absage an die bürgerliche Romantradition mit ihrer Introspektion einhergeht: »Aus Innerlichkeit wird körperliches Inneres.« 3 Mit dem Körper werden dabei aufs Neue Identitäts- und Gesellschaftsdiskurse verhandelt, die ihn entgrenzen und zu einem phantasmatischen Ort umdeuten: die Geschichte Deutschlands bei Grünbein und Hettche, der Angestelltenalltag bei Korb, die Staatsstrukturen bei Zeh oder die Männer bei Jonigk. Hettche imaginiert in seinem Wende-Roman »Nox« (1995) die deutsche Wiedervereinigung 1 Magenau, Jörg: Der Körper als Schnittfläche. Bemerkungen zur Literatur der neuesten »Neuen Innerlichkeit«. In: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder 102, 1996, S. 12 – 20, hier S. 20. 2 Ebd., S. 12. 3 Schößler, Franziska: Mythos als Kritik – zu Thomas Hettches Wenderoman Nox. In: Literatur für Leser 3, 1999, S. 171 – 182, hier S. 171.

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paradoxerweise als einen Körperzerfall, dessen Ursachen und Folgen auf Begehren und Mythen zurückgeführt werden. John von Düffel versinnbildlicht in der masochistischen Körperdisziplinierung seines Romans »Ego« (2001) die als narzisstisch dargestellte Managementkultur. Thomas Jonigk demontiert in »Jupiter« (1999) durch Homosexualität und allumfassende Kapitalisierung der Lebensbereiche die männliche Machtposition. Dieser Beitrag fokussiert auf die Selbstreflexivität der Körperliteratur – ein literarisches Nachdenken über die eigenen Repräsentationsgrenzen und die Materialität der Sprache mithilfe von Körperimagines. Hierzu werden exemplarisch zwei Werke betrachtet, die für die Reflexion der eigenen Kunstproduktion die Körpertransformation zu einem Textcorpus in Szene setzen. Der Körper wird dabei zum Rohstoff der Kunst, zum tradierten Sinnbild der ›Natur‹, die gemäß den poststrukturalistischen Ideen in die künstlerischen Abstraktion hinein destruiert wird. Und umgekehrt: Der Körper als Signifikant des Lacan’schen Realen entzieht sich jeglichem Signifizierungsprozess und wird daher in der symbolischen Ordnung nicht erfassbar. Der Vergleichswert beider Werke liegt in ihrer Gemeinsamkeit hinsichtlich der darin vollzogenen Selbstreflexion schöpferischer Prozesse über Körperlichkeit, die aber durch verschiedene Geschlechterperspektiven unterschiedliche Paradigmen aufrufen und mithin die Gender-Differenz als eine ästhetische Kategorie sichtbar machen. Männlichkeit und Weiblichkeit begründen sich allein in den tradierten künstlerischen Topoi über den Mann als Schöpfer und die Frau als Muse oder Geschöpf männlicher Fantasien, ohne jedoch hinterfragt zu werden. Trotz ihrer Selbstreflexivität schreiben die Werke die in der Kunst imaginierte GenderAsymmetrie der Schöpfung fort. Michael Kleebergs Novelle »Barfuß« (1997) erzählt von einem erfolgreichen Werbetexter, Arthur K., der auf der Flucht vor einer sicheren, bürgerlichen Existenz eine paradoxe Erfüllung in masochistischen Praktiken bis hin zu seinem Selbstmord findet. Er verlässt seine schwangere Ehefrau und wird zum Sklaven eines Universitätsprofessors für Philosophie, des Sadisten Daniel, der K. am Ende der Novelle auf seinen eigenen Wunsch hin kreuzigt. Der Moment des Todes fällt mit der Geburt von K.s Tochter zusammen. Kleebergs Novelle, so meine These, setzt den Tod des Autors in Handlung um und reflektiert mit der Zerstörung des Körpers des Autors sowohl die künstlerischen Symbolisierungsprozesse als Mord an der Materie im Sinne von Jacques Lacan als auch die Auslöschung des Ursprungs in der Schrift im Sinne von Roland Barthes. Im Kriminalroman »Der Fall Arbogast« (2001) von Thomas Hettche stößt der Tod einer Frau hingegen zur Reflexion ästhetischer Repräsentation an. Am Anfang des Romans, im Jahr 1953, stirbt Marie Gurth, ein Flüchtling aus Ostberlin, plötzlich während des Geschlechtsverkehrs mit Hans Arbogast, der daraufhin wegen Mordes angeklagt und dem der Prozess gemacht wird, obwohl eine Obduktion Herzversagen als Ursache für Maries Tod diagnostiziert worden war. Die Pathologin Dr. Katja Lavans aus Ostberlin beweist in einem zweiten Prozess die Unschuld des Angeklagten, identifiziert sich aber zugleich mit Marie und

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kommt beim Geschlechtsverkehr mit Arbogast beinahe ums Leben. Der Roman Hettches setzt also den weiblichen Körper buchstäblich in Narration um und lässt ihn wiederauferstehen. In dieser zirkulären Erzählweise problematisiert der Roman die Sinngenese und macht über eine Bedeutungsverschiebung die Signifikation sichtbar. Im Gegensatz zu Kleebergs unwiderruflicher Auflösung der Materie in der Schrift thematisiert Hettche die ›Verewigung‹ der Materie durch die Kunst als Konservierung des Lebens mittels ästhetischer Repräsentationen und schreibt somit trotz seines dekonstruktivistischen Erzählens das westliche Paradigma über die ›ewige‹ Kunst fort. 4 Körper der Jouissance Die Körperliteraten untersuchen mit einem postrukturalistischen Gestus, inwiefern Körper, Körperlichkeit, Physiologie, ja Materialität ästhetisch erfassbar sind, wenn die Sprache per se ein abstraktes Symbolsystem darstellt. Mithin werden Fragen nach der Materialität der Sprache selbst aufgeworfen. In den beiden vorgestellten Werken werden Versuche unternommen, mit dem Körper das Unsignifizierbare und Nicht-Repräsentierbare darzustellen, das jenseits der Sprache und d. h. außerhalb jeglicher Diskursivierungsprozesse bleibt, zugleich aber als die ›eigentliche‹ Ätiologie der am Rande erwähnten und auf ein Minimum reduzierten historischen, politischen oder indentitätsstiftenden Phänomene begründet wird. Die Nicht-Intelligibilität des Körpers signalisiert die Anti-Ästhetik, die ihn zum Ort entfesselnder Sexualpraktiken und ›Perversionen‹, von Gewaltexzessen und Ekel, Tod und Verwesung macht. Es geht um den Körper der Jouissance im Sinne Lacans – ein obszönes, transgressives, sexuelles, stupides, ja sinnloses Genießen über alle symbolischen Verbote hinweg: »Der Genuß, das ist das, was zu nichts dient.« 5 Diese Transgressionen der Gesetze sind nach Lacan Merkmale des Realen, da die Inkonsistenz der symbolischen Ordnung nur als Traumatisches und Obszönes erfahren werden kann: »Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß das Reale am Ursprung der analytischen Erfahrung sich als ein nicht Assimilierbares zeigt – in Form des Traumas […].« 6 Nach Slavoj Žižiek zeichnet sich die Jouissance gerade durch die paradoxe Ambivalenz von Lesbarkeit und Unzugänglichkeit aus, mit denen 4 Viele Aspekte dieses komplexen Romans Hettches müssen hier unberücksichtigt bleiben. Eine ausführliche Analyse findet sich in: Gradinari, Irina: Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Bielefeld: Transcript 2011. 5 Lacan, Jacques: Encore: Das Seminar XX (1972–1973). Übersetzt aus dem Französischen von Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger. Weinheim/Berlin: Quadriga 1986, S. 9. 6 Lacan, Jacques: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse: Das Seminar XI (1964). Übersetzt aus dem Französischen von Norbert Haas. Olten/Freiburg/Breisgau: WalterVerlag 1978, S. 61.

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sich die Körperdarstellungen bei Kleeberg und Hettche charakterisieren lassen. Sie verweist auf einen Signifikanten, der das Genießen des Subjektes organisiert. 7 Dieses trägt aber in der Regel keine Bedeutung und repräsentiert zugleich den ›Rest des Realen‹ – einen Ort, für den die Sprache nicht ausreicht und der sich jeglicher Symbolisierungsversuche entzieht. So nutzen die literarischen Texte Exzesse, um die symbolische Ordnung als inkonsistent zu enthüllen und damit eine Grundlage zur Reflexion der Schöpfungsprozesse und der Grenzen der Sprache zu schaffen. Wie entsteht die künstlerische Abstraktion und was geschieht mit dem Referenten? Gemäß der poststrukturalistischen Ideen zerstören Kleebergs und Hettches Werke den Körper: Das Symbol »manifestiert sich zuerst als Mord an der Sache«. 8 Diese Vernichtung der Substanz als Grundlage jeglicher Repräsentation bei Kleeberg und Hettche bereitet Jouissance sowohl den Figuren, die sich der Zerstörung mit Ekstase hingeben, als auch den Leser/innen. Denn die Werke ästhetisieren die Destruktion und das verbotene Begehren, kurz: sie evozieren eine neue Entschleierung- und Transparenzästhetik, die einer diskursiven ›Wut‹ ähnelt, endlich all das, was bislang in der Literatur ausblieb, zu verbuchstäblichen und zu Papier zu bringen. Hettche glänzt in diesem Kontext mit seinen Anatomiekenntnissen: »Nach der Entnahme des Brustbeins sinken beide Lungen gut zurück. Das Herz hat etwa die Größe der Leichenfaust. Im Herzbeutel findet sich etwas gelbliche Flüssigkeit. Die Muskulatur der Herzkammern ist gehörig entwickelt. Die Kranzschlagadern des Herzens zeigen eine glatte Innenwand. In den Ästen der Luftröhre findet sich gelblicher zäher Schleim, in den Ästen der Lungenschlagader flüssiges Blut. Am Schnitt sieht man im Bereich des Lungenunterlappens eine wesentliche Verdichtung des Gewebes, keine besonderen Herdbildungen.« (S. 21)

Und so geht es in dieser Autopsieszene weiter, bis vom Körper nichts mehr übrig bleibt. Die Wörter kolonialisieren in Analogie zu Nanotechnologien das Körperinnere. Verweist die Jouissance auf die Organisation des Begehrens, so wird der Exzesskörper zur Sprache selbst, weil die sinnentleerte Körperlichkeit auf die Sprache als eigentliche Quelle des Genießens der Figuren und der Leser/innen aufmerksam macht: »Der Signifikant, das ist die Ursache des Genießens.« 9 Die ›reine‹ Körperlichkeit fällt zwanglos mit dem ›reinen‹, noch 7 Vgl. Žižek, Slavoj: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin: Merve 1991, S. 20: »Das Symptom ist nicht nur ein signifikantes Gebilde, es ist gleichzeitig auch die Weise, in der sich das Subjekt sein Genießen organisiert.« 8 Lacan, Jacques: Die Ethik der Psychoanalyse: Das Seminar VII (1959 – 1960). Übersetzt aus dem Französischen von Norbert Haas. Weinheim/Berlin: Quadriga 1986, S. 84. 9 Lacan, Encore. 1986, S. 28.

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nicht mit Bedeutungen aufgeladenen Signifikanten zusammen und wird mithin zum Sinnbild der sprachlichen Materialität. Genrespezifisch sind die Werke auf Tod oder Mord aufgebaut; ihre Handlung durch sukzessive (Selbst-)Zerstörungen durch Folter, SM-Praktiken und diverse Körpertransformationen begleitet. In »Barfuß« von Michael Kleeberg gibt sich der Protagonist bis zu seiner völligen Selbstauflösung den SM-Praktiken hin. In »Der Fall Arbogast« ist Marie bereits auf Seite 15 von insgesamt 350 Seiten tot. Die Werke unterscheiden sich jedoch vom traditionellen Kriminalgenre 10, obwohl Hettche den Roman »Der Fall Arbogast« selbst als Krimi bezeichnet. Tatsächlich geht es um den Destruktionsprozess an sich, der weder Geheimnisse schafft noch eine Ermittlung erfordert. Die Spannung macht entweder eine sukzessive Steigerung des Exzesses (»Barfuß«) oder eine Rücknahme der Zerstörung (»Der Fall Arbogast«) aus. 11 Die Transformation der Genres ist konsequent: Die Novelle Kleebergs sichert den Figuren keine Identität, stellt keine Normalität her, verliert also ihre identitätsstiftende Funktion 12 – der Sinn ist Zerstörung, deren Steigerung Spannung generiert. Hettche zeigt eindrucksvoll, wie die Spannung allein aus der Differenz von Körperinnerem und dessen bildhafter Repräsentation entstehen kann. Gegen alle Regeln des Kriminalromans entwickelt »Der Fall Arbogast« das Geheimnis des Verbrechens erst am Ende. Mit dieser Verbuchstäblichung/Neuentdeckung der Physiologie laufen gegenseitige Prozesse der Ent- und Remythologisierung ineinander. Es entsteht ein ›Exzessrealismus‹, der die darstellungstreuen anatomischen Transformationen mit dem rational erklärten und in den Alltag überführten Mythischen/Mythologischen vermengt, was gerade die realistische Erzählweise verdächtig macht: Körper, Sprache und Realismus gelangen an ihren Grenzen. Die Repräsentation wird in die Enge getrieben, sie erschöpft sich in der Autopsieszene. Der Roman resignifiziert danach den Körper zu einer mythischen/mythologischen Substanz, ohne jedoch die Handlung phantastisch zu machen. Die Physiologie wird in einem Diskursivierungsprozess enteignet, um den ausgeleerten, sinnentzogenen Körper mit den literarischen und bildkünstlerischen Mythen aufzufüllen, die mittels literarischer Dramaturgie die Körper- und Sprachgrenzen überwinden. Das Mythische hilft den Tod zu transzendieren und die Physiologie nicht mehr als Ende der Schöpfung zu denken, sondern gerade als Anfang des Textes, der die Unvergänglichkeit bzw. Verewigung der Körpers durch die Kunst im Gegensatz zur vergänglichen Materialität sichert.

10 Vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003. 11 Zur Genrediskussion um den Roman Hettches vgl. Schmidt, Karl-Wilhelm: Lustmord oder Liebestod? Im Anatomiesaal der Postmoderne. Der Fall Arbogast von Thomas Hettche. In: Information zur Deutschdidaktik 2, 2004, S. 100 – 112. 12 Rath, Wolfgang: Die Novelle. Konzept und Geschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008.

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Mit der Implikation des Mythischen verdichten sich zugleich die künstlerischen Traditionen in Analogie zu Kafkas Texten zu einem repressiven, unvergänglichen Gesetz, dem die Texte vergeblich zu entfliehen versuchen. So kann die Mythologisierung des erzählerischen Stoffes auch als ein Versuch gelesen werden, die Kunsttradition umzuschreiben, wenn nicht gar zu suspendieren. Dafür weiten die Werke den Körper auf andere Diskurse aus – ein Prozess, der die Literatur selbst mit für sie unbekannten Diskursen über Medizin und Pathologie anfüllt. Die Übertragung des physiologischen Vokabulars auf literarische Praktiken konkretisiert, ja ›verkörpert‹ buchstäblich die unsichtbare Psyche sowie abstrakte Machtprozesse, wodurch eine physiologische Totalität in der Narration generiert wird und durch die eine Unterscheidung zwischen dem Inneren und Äußeren der Protagonisten, zwischen Globalem und Lokalem, Staatlichem oder Individuellem außer Kraft gesetzt wird. Diese apsychologische Vorgehensweise produziert daher weder eine Fallhöhe der Figuren noch Mitleid mit ihnen. Denn aufgrund der prinzipiell ausbleibenden Identifikations- und Einfühlungsstrukturen hält die Körperästhetik die Leser/innen auf Distanz. Die Dramaturgie dieser Werke ist allein auf der durch die vollzogenen Tabubrüche evozierten Neugier aufgebaut. So arrangiert Kleeberg sein modernes Ödipus-Drama des Kleinbürgers in Analogie zur Selbstverbannung Ödipus’ bei Sophokles als Absage an den bürgerlichen Wohlstand, ohne jedoch das Dramatische zu erzeugen. Ödipusmythos und -komplex werden zum formalen Handlungsrahmen der Kunstschöpfung, die das Mythische aushöhlt und dadurch der männlichen Identitätsvorlage eine Absage erteilt. Bei Hettche wird der Körper zur Offenbarung des Verdrängten einer Gesellschaft, also des kollektiven Unbewussten. Die Figuren stellen unter anderem Allegorien von Westdeutschland (Arbogast) und von Ostdeutschland (Marie) dar, mit deren Trennung durch den Tod Maries und Arbogasts Verhaftung die Teilung Deutschlands als Spaltung der Kugelmenschen in Analogie zum Mythos des Aristophanes aus Platons »Symposion« inszeniert wird, 13 ohne die Realien der Nachkriegszeit zu überschreiten. Die Mythosreferenzen finden sich in banalen Dingen wieder, wie etwa den Billardkugeln, die Arbogast immer bei sich hat, weil sie ihn an Marie, Schönheit, Tod und Harmonie erinnern (S. 92). Die verdrängte Trennung Deutschlands lädt den Körper und somit die kulturellen Kontexte mit neuen Bedeutungen auf, wobei die letzteren unintelligibel bleiben und sich (lediglich) als Symptome, Erinnerungen oder Narben dem Körper einschreiben. Die Umkehrung der Kolonialisierungspolitik wird beispielsweise zum Signifikanten der (Ohn-)Macht, an dem der Zustand Deutschlands in der Nachkriegszeit gemessen wird. So finden sich die in der Öffentlichkeit verdrängten Erinnerungen an die Kolonialisierung Afrikas durch Deutschland als Kartierungsspuren auf dem Körper Arbogasts (S. 68). Der männliche Körper 13 Bereits in »Nox« assoziiert Hettche die Ost-West-Teilung mit dem AristophanesMythos. Vgl. Schößler, Mythos als Kritik. 1999, S. 171 – 182.

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wird der Tradition folgend mit den Machtdiskursen in Verbindung gesetzt, ohne jedoch diese Figur tatsächlich am Ort der Macht zu situieren. Die Niederlage im Krieg deutet Hettche als Verlust der Macht der Männer in der Nachkriegszeit. Arbogast befindet sich zu dieser Zeit schon einige Jahre in Einzelhaft. Mit der Verknüpfung der toten Marie mit einer schwarzen Sängerin in einer Bar (ihr Hals erinnert an den von Marie) markiert Hettche die Besatzung Deutschlands durch die Alliierten in der Nachkriegszeit als Kolonialisierung, was er mittels dieser Körpermetonymie als einen symbolischen Tod Deutschlands kommentiert, den aber keiner wahrnimmt (S. 134). Das Geschlecht bleibt also offensichtlich trotz der dekonstruktivistischen Vorgehensweise und poststrukturalistischer Paradigmen die konservativste Kategorie in der deutschsprachigen Literatur im Gegensatz beispielweise zu den Gender-Experimenten des russischen, avantgardistischen Autors Vladimir Sorokin, des polnischen Queer-Autors Michal Witkowski oder der englischen Queer-Autorin Jeanette Winterson. In ihrem Roman »Auf den Körper geschrieben« (»Written on the body«, 1992) wird die Spannung gerade mittels des Entzugs der Geschlechtseindeutigkeit aufgebaut. Transzendiert wird bei Kleeberg und in Hettches Roman »Nox« nur der Körper und das Geschlecht des Autors, dessen Androgynie jedoch auf die idealistisch-bürgerliche Tradition zurückgeht, die Walter Benjamin in seinem Denkbild »Nach der Vollendung« zusammengefasst hat: 14 Das Weibliche im männlichen Künstler empfängt, um danach abzusterben, weil allein das Männliche imstande ist, die Idee zu einem Kunstwerk zu vollenden. Solche Imagination von Kunstschöpfung bezeugt nach Lina Lindhoff eine männliche Schöp­fungs- und Machtfantasie, weil die Kunstproduktion als »Vereinigung und Eliminierung von Gegensätzen wie weiblich und männlich, Subjekt und Objekt, Empfangen und (Sich-)Schöpfen 14 Benjamin, Walter: Nach der Vollendung. In: ders.: Gesammelte Schriften. Denkbilder. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, Bd. 10, S. 438. »Oft hat man sich die Entstehung der großen Werke im Bild der Geburt gedacht. Dieses Bild ist ein dialektisches; es umfaßt den Vorgang nach zwei Seiten. Die eine hat es mit der schöpferischen Empfängnis zu tun und betrifft im Genius das Weibliche. Dieses Weibliche erschöpft sich mit der Vollendung. Es setzt das Werk ins Leben, dann stirbt es ab. Was im Meister mit der vollendeten Schöpfung stirbt, ist dasjenige Teil an ihm, in dem sie empfangen wurde. Nun aber ist diese Vollendung des Werkes – und das führt auf die andere Seite des Vorgangs – nichts Totes. Sie ist nicht von außen erreichbar; Feilen und Bessern erzwingt sie nicht. Sie vollzieht sich im Innern des Werkes selbst. Und auch hier ist von einer Geburt die Rede. Die Schöpfung nämlich gebiert in ihrer Vollendung den Schöpfer neu. Nicht seiner Weiblichkeit nach, in der sie empfangen wurde, sondern an seinem männlichen Element. Beseligt überholt er die Natur: denn dieses Dasein, das er zum ersten Mal aus der dunklen Tiefe des Mutterschoßes empfing, wird er nun einem helleren Reiche zu danken haben. Nicht wo er geboren wurde, ist seine Heimat, sondern er kommt zur Welt, wo seine Heimat ist. Er ist der männliche Erstgeborene des Werkes, das er einstmals empfangen hatte.«.

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in einem männlichen Subjekt gedacht ist.« 15 Das Weibliche erscheint daher, mit Bovenschen 16 gesprochen, als Rohstoff männlicher Fantasien, als Imagination der unberührten ›Natur‹. So stellt die Novelle Kleebergs einen männlichen Künstler dar, der sich im Laufe der Kunstschöpfung zu einem androgynen Wesen entwickelt, während das Weibliche zum Medium seiner künstlerischen Tätigkeit und zur Markierung seiner Ohnmacht in der Sprache wird. »Der Fall Arbogast« setzt eine Reihe von künstlerischen Weiblichkeitstopoi wie das Motiv der schönen Leiche, in Anlehnung an den Pygmalion-Mythos von der Frau als Geschöpf des männlichen Künstlers, und Weiblichkeit als Maskerade in Szene. Verschiedene Gender-Perspektiven evozieren in den beiden Werken auch verschiedene erzählerische Haltungen. Die Novelle »Barfuß« beschränkt ihre Erzählperspektive auf ihren männlichen Protagonisten. Auf diese Weise vollziehen die Leser/innen die Zerstörung des Körpers mit. Kurz nach dem Selbstmord K.s endet auch die Handlung. »Der Fall Arbogast« versetzt die Leser/innen in eine distanzierte, voyeuristische Beobachterhaltung, die auch nicht mit dem Wechsel der Erzählperspektive vom männlichen (Arbogast) zur weiblichen Protagonistin (Pathologin Lavans) aufgebrochen wird. Der Körper wird auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, getötet und belebt. Mittels der Kombination von detaillierter Betrachtung des Körpers und seiner Unerreichbarkeit produziert Hettches Roman eine voyeuristische Erotik. Der Körper des Autors: »Barfuß« (1997) von Michael Kleeberg In Referenz auf Kafkas »Der Prozess« stellt die Novelle »Barfuß« über Körperbilder und die Mythisierung des Geschehens die Entstehung eines literarischen Textes als Auflösung eines Autorenkörpers dar. Dafür entwirft Kleeberg eine Gegenüberstellung von Sprache und Körper, der keinen Eingang in die symbolische Ordnung findet. So muss die Kör­per­lich­keit im Text erst für eine kurze Zeit entworfen werden, um sich auf paradoxe Weise wieder in der Sprache aufzulösen. Genauer gesagt, steht am Anfang der Novelle ein mit den sozialen Symbolen/Signifikaten aufgeladenes Sprachsubjekt, dem am Ende der von jeglichem Sinn entleerte Körper als Signifikant ohne Bedeutung gegenübergestellt wird. Der Name des Protagonisten referiert auf den Körper als ›reines‹ Zeichen, für das ein Überschuss an Bedeutungen charakteristisch ist: Arthur K. kann als Anspielung auf die Begriffe ›Künstler‹, ›Körper‹, auf Kafka, auf Josef K. aus Kafkas »Der Prozess« oder auf den Namen des Autors Kleeberg gelesen werden. 15 Lindhof, Lena: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 21. 16 Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979.

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Arthur K. als sprachliches Subjekt zeichnet sich am Anfang der Novelle durch die Paradoxie der Subjektwerdung ganz im Sinne von Judith Butler 17 aus – nämlich als ein Subjekt der Unterwerfung. K. ist ein »word-addict« (S. 103), arbeitete in der Jugend als Journalist und Theaterkritiker und ist ein erfolgreicher, gut verdienender Werbetexter: »Und in den Wörtern hatte K. sich stets zu Hause gefühlt« (S. 19). Zugleich fühlt er sich in der Sprache ohnmächtig, denn er erkennt die Substanzlosigkeit der Sprache, ihre Abstraktheit und Selbstreferentialität, die das ›reale‹ Leben nicht nur nicht erfassen kann, sondern auch ihre Subjekte verhaftet und konserviert. So erscheint sein Dasein in der Sprache als »tote, stille, unbewegliche Konservenzeit in Gesellschaft der Wörter. […] Ein Wort war ein Zeichen, man reagierte darauf mit anderen Zeichen, und je ziviler die Konversation, desto weniger bedeuteten diese Zeichen außer sich selbst.« (S. 19 – 20)

Sprache ist bei Kleeberg nicht imstande, Gefühle und Emotionen auszudrücken, Schmerz und Tod zu erfassen. Sein Bitten um Hilfe in den Briefen an seine Ehefrau oder seine Ex-Geliebte Ophelia werden daher missverstanden: »Was immer er tat oder ihm zustieß, kam aus Worten und endete in Worten, Angst, Lust, Trauer, Leidenschaft.« (S. 103) Somit erschafft Kleeberg eine Paradoxie: Einerseits ist Arthur K. wie alle anderen Figuren im Text dank der Sprache gesellschaftlich erfolgreich. Er hat seine eigene Werbeagentur, ist verheiratet und erwartet Familienzuwachs. Der Sadist Daniel ist Professor für Philosophie und die Domina Madeleine arbeitet als Chefredakteurin einer Modezeitschrift. Andererseits kann Arthur K. sich nicht als Schöpfer behaupten. Als Werbetexter verschiebt er die vorhandenen Bedeutungen im Dienste der kapitalistischen Ökonomie. Seine Kreativität trägt somit einen parasitären Charakter, die die Sprache zugunsten eines ökonomischen Profits ›korrumpiert‹. Diese Prozedur wird als ein »Entwurzeln«, »Umpflanzen« und »Begießen« der Bedeutungen auf ökonomischem Boden bezeichnet (S. 62). Die Begriffe beziehen sich zwar auf die biblische Schöpfungsgeschichte mit dem Garten Eden als Ursprung der Menschheit und Gott als Gärtner, jedoch ist K. selbst kein Schöpfer. So kann sein Name auch als Kapitalist dechiffriert werden, denn Geld und Sprache als abstrakte Systeme verschmelzen in der Novelle: »[…] sie [die Wörter – die Verf.] waren Scheinwährung, Papiergeld; es war elegant, in Wörtern zu leben, praktisch und ungefährlich« (S. 20). Die Wörter »Papiergeld« und »Scheinwährung« zirkulieren analog zum Geld und fungieren als ein Substitut der ›realen‹ Ware bzw. der ›realen‹ Arbeit und Taten. Und umgekehrt: Alles, was K. mit der Sprache macht, wird zu einer Ware. Sprache und Ökonomie andererseits sichern eine bequeme Existenz, sie sind sein Kapital; insofern stellt sich K. seine Zukunft als »Erfolgsmensch, Ehemann, Vater, Großvater, Hausbesitzer, Kapitalist, im Maßanzug, mit Chauffeur, mit 17  Butler, Judith: Psyche der Macht. Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001.

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Landhaus, mit Reden […]« (S. 99) vor. Diese Serie von bürgerlichen Männlichkeitsentwürfen sieht kein Künstlertum vor, das die symbolische Ordnung modifiziert oder gar etwas Neues erschafft. Um die künstlerische Textproduktion zu initiieren, muss das schöpferische Subjekt also aus der abstrakten, ökonomischen Sprachwelt ausbrechen und somit zur Materie/zur Körperlichkeit durchdringen, die wiederum in die symbolische Sprache überführt wird. K.s Ehefrau fungiert als Sinnbild für unsignifizierbare ›Natur‹, die der männliche Künstler zu einem Kunstwerk formt. Sie trägt keinen Namen, befindet sich auf dem Lande und hat keinen Bezug zur Sprache. Die Novelle nennt sie auch »wertvolles Gefäß« (S. 84) und deutet auf ihre Klarheit und Reinheit hin, die auf eine Tabula rasa referiert (S. 85). Am Ende der Novelle, im Augenblick von K.s Tod, gebiert seine Frau eine Tochter. So werden das Gebären durch eine Frau und die Selbstzerstörung eines Mannes parallel gesetzt – ein Zeichen für den männlichen Gebärneid. Als Verausgabung werden sie jenseits der ökonomischen, auf den Profit orientierten Werbesprache verortet. Mithin bezieht sich Kleeberg auf eine reichlich bekannte westliche Tradition, die Kunstschöpfung als Geburt imaginiert: »Das Gehirn des Mannes funktioniert wie das Geschlecht der Frau: das Denken ist eine Art Gebären.« 18 Kafka beschreibt z. B. in seinem Tagebuch das Ergebnis des Schreibprozesses ebenfalls als Geburt. 19 Die Geburt ist zugleich die Zerstörung des Körpers, die sowohl für das nichtsymbolisierbare Reale als Jounissance steht als auch für das ›reine‹ Symbolische selbst. Denn der Körper fungiert als Signifikant, das der Regel der Sprache folgt. Die Kunstproduktion bedeutet, das Spiel der Signifikanten zu erkennen und darauf einzugehen, so wird das Nicht-Signifizierbare letztendlich zu dem von 18  Kamper, Dieter: Die Usurpation der Fruchtbarkeit. Anmerkung zu einer männlichen Universalstrategie. In: Mythos Frau: Projektionen und Inszenierungen im Patriarchat. Hrsg. von Barbara Schaeffer-Hegel und Brigitte Wartmann. Berlin: Publica-Verlagsgesellschaft 1984, S. 100 – 103, hier S. 100. Dieter Kamper zeigt, inwiefern die Idee vom Mann als Schöpfer die Denkweise und die philosophischen Traditionen durch die Epochen hindurch beeinflusst: »Indikatoren wären unter anderen der Mythos von Zeus-Athene, das Dogma von der Himmelfahrt Mariens, die philosophischen Topoi einer Schwangerschaft des Geistes (Kant, Hegel), die Kopfgeburten der Dichter, also Verweise aus der Geistesgeschichte, von den ›Logoi spermatikoi‹ der Gnostiker bis zur akademischen Gewohnheit, die Pflanzstätten für den Nachwuchs ›Seminare‹ zu nennen.« 19 Kafka, Franz: Tagebücher. Hrsg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: S. Fischer 1990. Siebentes Heft, S. 491. In der Tagebuchnotiz vom 11.11.1913 steht folgendes: »Anläßlich der Korrektur des ›Urteils‹ schreibe ich alle Beziehungen auf, die mir in der Geschichte klar geworden sind, soweit ich sie gegenwärtig habe. Es ist dies notwendig, denn die Geschichte ist wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir herausgekommen und nur ich habe die Hand, die bis zum Körper dringen kann und Lust dazu: […].«

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seinen Bedeutungen entleerten Signifikanten. K. verzichtet auf seine scheinbare Subjektautonomie, lernt im Chat den Sadisten Daniel kennen und wird zu seinem Sklaven. Der Chat erscheint als Ort des ›rein‹ Symbolischen/Virtuellen, der das Spiel mit den Signifikanten/Identitäten ermöglicht, ohne sie auf feste Bedeutungen zu fixieren. Genau mit der Forcierung seiner Unterwerfung wird K. zu einem schöpferischen Subjekt, das sich den Regeln der Sprache, ihrem Signifikantenfluss nicht widersetzt und somit einen Schöpfungsakt ermöglicht. Dass es um eine Kunstproduktion geht, deutet der Wunsch K.s an, einen Roman zu schreiben, ebenso wie die Schwangerschaft seiner Ehefrau, innerhalb derer sich die Handlung der Novelle erstreckt. Die Textproduktion setzt an der Stelle der Diskontinuität der symbolischen Ordnung, also an der unerfassbaren Leerstelle an, die traditionell mit dem Tod repräsentiert wird. Der Tod seines Lieblingskaters, den K. als eine »Wunde« (S. 13) empfindet, eröffnet die Novelle. Die Wunde wird mit der Narration jedoch nicht ›geheilt‹. Die Leerstelle treibt traditionell die Handlung voran, ohne sie auszufüllen, vielmehr weitet sie sie aus. Den Tod des Katers ersetzt erst die Ex-Geliebte Ophelia, mit der sich K. identifiziert, um letztendlich selbst zu sterben. Ophelia ist das literarische Motiv der schönen Leiche, denn seine Ex-Geliebte ist keine ›Ophelia‹, sondern eine Schauspielerin, die im Theater barfuß Ophelia spielte, um ihren Opferstatus zu signalisieren und sich ihrer Opferrolle hinzugeben. K. nimmt nach dem Tod seines Katers das Pseudonym »Barfuß« an und geht immer barfuß zu Daniel zur Flagellation. In dieser explizit theatralisierten Inszenierung, die die Novelle durch ihre Nähe zum Drama strukturell unterstützt, demonstriert K. das Ende der Bedeutungen, der ›nackten‹ Signifikanten, denn mit den nackten Füßen dementiert er seine symbolische Identität als wohlhabender Bürger und eine sich in der Macht positionierende Männlichkeit. Kleeberg nutzt darüber hinaus eine Raummetapher, um die Fülle der symbolischen Identität als Signifikat zur ›nackten‹ Körperlichkeit als Signifikant zu reduzieren. Kurz bevor Arthur K. seine bürgerliche Existenz verlässt, wird seine Identität über Wohnungsschlüssel, Ausweis, Kreditkarten und Schuhe definiert (S. 130). Ohne diese ›kleinen‹, ja symbolischen Sachen, die Daniel ihm grundlos wegnimmt, kann er seine Mietwohnung nicht verlassen, um Essen zu kaufen. Diese symbolischen Zeichen besitzen in der bestehenden, gesellschaftlichen Ordnung eine immense Macht und sind für das Subjekt K. existentiell. Jedoch kann K. sie nicht vereinnahmen und keine Macht über sie in Analogie zu Signifikaten beanspruchen, deren Bedeutungstransformationen und -kraft das Sprachsubjekt nicht festhalten kann. K. wohnt zur Miete – ein Sinnbild für seinen sprachlichen Subjektstatus. Er ›entleiht‹ der Sprache die ihm nie gehörenden Strukturen für seine Identität, die er dann freiwillig aufgibt. Am Ende der Novelle, bevor Artur K. umgebracht wird, ist er nackt in einer verlassenen Fabrikhalle, die mit ihrem Gerüst an ein »Stahlskelett« (S. 144) erinnert. Die Körperlichkeit wird zum Sinnbild für die Entleerung der Signifikanten von ihren symbolischen Bedeutungen, für die nackte Materialität der Sprache selbst.

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Nach der Empfängnis der Schöpfungsidee durch seine Ehefrau entfernt sich Arthur K. von ihr zugunsten der Abstraktion, deren Entstehung an der Zerstörung seines Körpers als Auslöschen von Materie vorgeführt wird. Zugleich trägt die Körperdestruktion buchstäblich zur Textentstehung bei: Je weiter die Zerstörung fortschreitet, desto mehr Narration entsteht. Branka Schaller-Fornoff liest K.s Flagellation ebenfalls als Allegorie des Schreibaktes, da der Schreibprozess im Gegensatz zum Denkakt ohne eine Form der materiellen Übertragung nicht möglich ist. Die Flagellation ermöglicht dies daher als materielles Verfahren, »Zeichen in die Haut einzuschreiben« 20 und den ästhetischen Produktionsprozess in Körperbildern darzustellen: »Die Rute als Stift, die Haut als Papier, das Blut als Tinte – sie funktionieren als Sinnbilder […].« 21 Dieses Verfahren, das Schreiben unmittelbar mit Strafe verschränkt, nimmt Bezug auf Kafkas Erzählung »In der Strafkolonie«. Die Sprache gibt auch bei Kleeberg ihre Regeln vor und kanalisiert damit das Begehren des Schriftstellers. In beiden Texten verkörpern die Sadisten die Strukturen der Sprache, die sich auf das tradierte Repertoire von Gender-Zuschreibungen stützen: Daniel als Professor für Philosophie steht für sprachliche Tra­di­tio­nen, die in der Novelle die Vaterfigur repräsentiert. Daniel verdichtet Gott, das Gesetz, die Macht, das Über-Ich, also alle Repräsentationsaspekte der symbolischen, patriarchalischen Ordnung, die in Analogie zu Lacans Überlegungen im Namen des Vaters zu Trägern der Sprach- und Diskurstraditionen werden. Sein Name bedeutet im Hebräischen »Der Richter ist Gott«. Zugleich stellt sich Daniel mangels eingehender Schilderungen als etwas Mechanisches und Entindividualisiertes dar. Arthur K. »dachte nicht: Jemand tut etwas mit mir, sondern: Es geschieht mir etwas. Er lebte im ausschließlichen selbstbezogenen Passiv. Daß ein zusätzliches Element, Mensch oder Vehikel, vonnöten war für den mechanischen Ablauf dieser Erfahrung, war Nebensache.« (S. 58)

Daniel verkörpert die Forderung der Unterwerfung oder gar die strukturelle Gewalt der symbolischen Ordnung. Madeleine als Chefredakteurin der Modezeitschrift ver­sinn­bild­licht das Theatralische, Maskenhafte, Substanzlose und Wandelbare der Sprache. Bei ihr lernt K. zwischen seinem Ich und seinem

20 Schaller-Fornoff, Branka: Novelle und Erregung. Zur Neuperspektivierung der Gattung am Beispiel von Michael Kleebergs »Barfuß«. Hildesheim/Zürich/New York: Olms 2008 S. 100. »Die Flagellation als Allegorie des Schreibakts zu sehen, findet sich als Denkfigur und als produktionsästhetisches Prinzip daher bei vielen Autoren der letzten beiden Jahrhunderte wieder. Kleebergs Text gehört somit in eine Filiationslinie, die gebildet wird von den von Rousseau, Flaubert, Baudelaire und Proust, von Wilde und Joyce entworfenen einschlägigen und in den literarischen Kanon transferierten Bildern der Geißelung.« 21 Ebd., S. 100.

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Körper zu unterscheiden (S. 141) – ein Prozess, der die Symbolisierung als Abtrennung von Materialität bzw. dem Körper voraussetzt. Trotz dieser physiologisch realistischen Erzählung begleiten die ›Geburt‹ des Textes Mythen, die der Zerstörung von Artur K. erst in der Referenz zu Traditionen Sinn verleihen und den Übergang vom toten Körper zum ›lebendigen‹ Kunstwerk schaffen. An dieser Stelle wird die ausgeweitete Leere aufgefüllt, indem die toten, ›nackten‹ Signifikanten mit neuen Bedeutungen als Inversion der Traditionen aufgeladen werden. Kleeberg schreibt den Ödipusmythos um, indem Daniel erst Arthur K. die Füße durchsticht (Ödipus bedeutet unter anderem »Schwelfuß«), um ihn unmittelbar danach wie Jesus zu kreuzigen und ihn in Analogie zum Mord an Josef K. in »Der Prozess« umzubringen. Eine solche Darstellung des Produktionsprozesses kehrt die Geschlechterkonstruktionen der Benjamin’schen Kunstauffassung um und erlaubt es, die Kunstproduktion über den Tod des Autors durchzuführen. Roland Barthes führt in seiner Studie »Der Tod des Autors« (1968) über die Auflösung jeglichen Ursprungs in der Schrift aus: »[…] stirbt der Autor, beginnt die Schrift.« 22 Der Autor stirbt bei Kleeberg in sein Kunstwerk hinein, löst sich in den Signifikantenfluss auf; gleichzeitig lebt er in seinem ›leiblichen‹ Kind weiter. »Der Autor ernährt vermeintlich das Buch, das heißt, er existiert vorher, denkt, leidet, lebt für sein Buch. Er geht seinem Werk zeitlich voraus wie ein Vater seinem Kind.« 23

Die Novelle setzt Barthes’ Ideen in ihrer Narration um, indem der Autorenkörper als unsignifizierbare Materie und zugleich als Material der Sprache (Signifikant) fungiert. Trotz dieser Inversion der literarischen Traditionen schreibt Kleeberg die Kunst- bzw. Literaturproduktion als einen nicht-ökonomischen, verausgabenden Prozess und als explizit männliche Tätigkeit fort, die die Frau als Medium männlicher Fantasien nutzt. Der Körper der Muse: »Der Fall Arbogast« (2001) von Thomas Hettche Hettche setzt das tradierte Motiv der schönen Leiche um und reflektiert damit die Grenzen der ästhetischen Repräsentationen, die als eine Konkurrenz mit dem Bild, aber auch als Rache am Bild gestaltet werden, das die Literatur als Leitmedium verdrängt hat. Denn der Roman evoziert mit seiner detailreichen Darstellungsweise ein fotografisches Erzählen, eine Imitation der Visualität: Im Protokollgestus wird alles registriert, ohne eine kohärente Erzählung herzustellen. In Analogie zu einem Fotoalbum bleiben die Szenen Fragmente des Geschehens, die durch Maries Bild zusammengehalten werden. Die Fotografie

22 Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von Fotis Jannidis et al. Stuttgart: Reclam 2000. S. 183 – 193, S. 183. 23 Ebd., S. 189.

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lässt sich deswegen in die Narration integrieren, weil der Kriminalroman 24 die Tradition besitzt, das Bild als Beweis einer unwiderlegbaren ›Wahrheit‹, ja als Abbild der ›Wirklichkeit‹ zu verwenden. Genau in dieser Funktion setzt Hettche das Bild ein, um nach Möglichkeit die ästhetische Repräsentation zu hinterfragen und das Lacan’sche Reale zu erfassen. Der Tod einer schönen Frau initiiert in Hettches Roman gemäß der bildkünstlerischen und literarischen Tradition des 19. Jahrhunderts die Handlung und reproduziert die für die abendländische Kunst paradigmatische Verbindung von Weiblichkeit, Ästhetik und Tod, wie Elisabeth Bronfen in ihrer Studie aufschlussreich zeigt. 25 Die Namensreferenz des Opfers Marie 26 zur heiligen Gottesmutter, ein gemeinsames Essen von Arbogast und Marie im Lokal »Zum Engel« und Maries unbeendeter Satz »Wenn Engel reisen …« (S. 7) nehmen ihre Körperlosigkeit bereits zu Beginn des Romans vorweg, denn sie erstarrt zu einem Bild. Auf Seite 15 beginnt bereits ihre detailreiche, ausführliche Autopsie, die ihren Körper in »einen Corpus von Indizien« verwandelt (S. 19). Die weibliche Leiche wird mithin bei Hettche zum Paradigma der Schrift und des Schreibens. Je weiter die Obduktion fortschreitet und je weiter der Körper Maries dabei auseinandergenommen wird und damit Stück für Stück verschwindet, desto umfangreicher wird das Protokoll und desto weiter entwickelt sich die Handlung. Unmittelbar nach der Autopsie ersteht Marie als Bild bzw. als Repräsentation auf und wird die Handlung bis zu ihrem Ende beherrschen und organisieren. Ein Journalist und eine Fotografin beobachten fasziniert, wie »das Fixierbad die chemische Reaktion stoppte und den Entwicklungsprozess der Schatten beendete, aus denen sich der Körper Maries Gurths zusammensetzte« (S. 39). Ab diesem Moment taucht dieses Bild in jeder abgesondert wirkenden Szene auf, sorgt für die gesamte Erzählkohärenz und treibt die Handlung voran, weil Arbogast aufgrund Maries Fotografie angeklagt wird. Ihr Bild überbrückt Zeit und Raum und führt die Figuren zusammen, selbst wenn deren Zusammentreffen weder möglich noch von Bedeutung für die Geschichte sind:

24 Nusser, Peter: Der Kriminalroman. Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, S. 144 – 145. Peter Nusser weist auf den wichtigen Einfluss der Fotografie auf den Kriminalroman hin. Er spricht über den »detektivischen Blick« in Analogie zum »Kamerablick«, der den Leser/innen die »sichtbare Wirklichkeit mit unbestechlicher Genauigkeit« suggeriert, und über die Fotografie als »kriminologische Errungenschaft«, die neben anderen Techniken (wie z. B. Daktyloskopie) das Verbrechen zu demaskieren ermöglicht. 25 Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche: Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München: Königshausen & Neumann 1994. 26 Ebd., S. 103. Die Jungfrau Maria fungiert nach Bronfen als Zeichen »zeitloser, undifferenzierter, unsterblicher Schönheit und Seligkeit, als Allegorie für den Sieg über den Tod, und als Verheißung ewigen Lebens«.

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Körperimaginationen in der Gegenwartsliteratur »Es war, als schlafe Marie Gurth in ihrem Kissen aus Brombeer, dachte Paul Mohr [Journalist – die Verf.]. Und zur selben Zeit betrachtete Ansgar Klein [der Anwalt Arbogasts – die Verf.] dasselbe Photo, wenn auch in einer anderen Zeitung […].« (S. 168)

Dadurch wird die narrative Funktion des toten weiblichen Körpers Maries bzw. ihrer bildlichen Repräsentation deutlich, die allein dem Zusammenhalten der Handlung sowie ihrer Entwicklung dient. Der Übergang vom Körper zur Schrift wird zwar ohne mythologische Paradigmen vollzogen, jedoch unter Zuhilfenahme literarischer Topoi, die die Funktion des Körpers als den ersten Signifikanten im Sinne Lacans ausweisen. Der erste Signifikant ist eine Erfahrung der Differenz am Anfang der Sprache, die als Mangel den Signifikationsprozess in Gang setzt. 27 So stellt Marie als Tote eine Leere dar, die zwar alle Bedeutungen suspendiert, jedoch am Anfang der Narration steht und deren Entfaltung ermöglicht. Sie erscheint als ›reines‹ Funktionszeichen im Text. Daher kann sie zugleich in Analogie zu Kleebergs Novelle als Körper der Jouissance in ihrer Ambivalenz gefasst werden, wobei sich »Barfuß« durch die Bewegung von der Fülle von Bedeutungen zur Entleerung der Signifikanten charakterisiert, während sich »Der Fall Arbogast« aus der Leere zur Entfaltung symbolischer Bedeutungen entwickelt. Als ›nackter‹ Signifikant trägt Marie keinen Sinn zum Inhalt bei, organisiert aber die Handlung und initiiert ihre Sinnstiftung. In ihrer Sinnlosigkeit repräsentiert sie den ›Rest des Realen‹ – das Unsignifizierbare. Denn mit dem Tod Maries sind Diskontinuitäten in der symbolischen Ordnung aufgerissen, die komplexe politischhistorische Phänomene, Staatsstrukturen und Machtprozesse verdichtet. Das inadäquate Urteil Arbogasts deckt gesetzliche Defizite in der Legislative und Judikative auf. Aufgrund der Prüderie der Gesellschaft macht der Geschlechtsverkehr das verbannte Begehren sichtbar, wenn Marie und Arbogast Ehebruch 27 Vgl. Lindhoff, Einführung in die feministische Literaturtheorie. 2003, S. 75. So fasst Lindhoff die Überlegungen Lacans zur Sprache zusammen: »Der – fehlende – Phallus gewinnt die Bedeutung eines Fetischobjektes, er ist das erste imaginäre Objekt des Kindes (von Lacan Objekt a genannt), das dazu dient, eine Erfahrung der Differenz hinter einer behaupteten Identität zu verbergen. Genau dies ist die Funktion der Sprache. Der Phallus steht mithin am Beginn der Sprache, er ist der ›erste Signifikant‹, denn die Sprache ist nichts anderes als ein unendlicher Prozeß der Konstitution imaginärer Objekte, die den grundsätzlichen Mangel an Identität füllen sollen, von dem die menschliche Existenz gezeichnet ist. Alle sprachlichen Begriffe sind immer neue Substitute des Phallus.« Marie als Phallus zu denken, ist weiterhin mit der Theorie Lacans kompatibel, denn es ist die Frau, die die paradoxe Position des »Phallus sein« in der symbolischen Ordnungen einnimmt, wie Judith Butler zusammenfasst: »Der ›Phallus sein‹ heißt: das Objekt, der/die Andere eines (heterosexualisierten) männlichen Begehrens zu sein und zugleich dieses Begehren zu repräsentieren und zu reflektieren.« Vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 75.

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begehen und ihre Sexualität jenseits der herrschenden Normen ausleben. Mit der Verurteilung Arbogasts wird das verbotene Begehren wieder gebändigt. Arbogast ist zudem Kriegsveteran und Marie ein Flüchtling aus Ostberlin. Die auf dem Weg zum Wohlstand befindliche Nachkriegsgesellschaft der 1950er Jahre blendet die traumatische Kriegsniederlage und die daraus resultierende Ost-West-Teilung aus. Die Isolierung Arbogasts kommentiert die Unmöglichkeit der Nachkriegsgeneration, den Krieg symbolisch zu verarbeiten. Unrepräsentierbar sind letztendlich auch die Transformation der Machtstrukturen sowie der Verlust der Kolonien Deutschlands oder die Besatzung Deutschlands durch die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Prozesse sind nur als Spuren und Symptome auf den Körpern allgegenwärtig, die von jenen geprägt und geformt werden. Ihre Wirkung ist konstitutiv für die Sinnstiftungsprozesse und die Bedeutungsgenese in der Handlung, d. h. der symbolischen Ordnung, die sie zugleich als unsignifizierbar ausklammert und durch entstellte Substitute/ Körper präsentiert. Das Nicht-Repräsentierbare drückt das tradierte literarische Motiv der schönen Leiche aus; im Autopsieraum stehen »Zinkeimer mit unzähligen Sträußen, Lilien und Gladiolen« (S. 16). Die Blumen sind auch in dem großen Waschbecken, auf dem kleinen Schreibtisch und dem steinernen Tisch zu sehen – eine Referenz auf Ophelia. Der scheinbare Schlaf Maries im Brombeergestrüpp ruft dazu das Schneewittchen- und Dornröschen-Motiv auf. Die Repräsentation konserviert das Leben, bei Hettche den Tod, indem das Bild die Rückkehr eines intakten Körpers nach der Obduktion, sein Bewahren vor Verwesung, sprich die Konservierung des Todes ermöglicht. Genutzt wird die Funktion des ästhetischen Imagos, die traditionell mit Weiblichkeit inszeniert wird, den Tod zu bändigen und zur voyeuristischen Betrachtung anzubieten. Die Repräsentation ermöglicht es auch, den Tod zu transgredieren. Definiert Barthes die Fotografie als eine »Wiederkehr des Toten« 28, so inszeniert »Der Fall Arbogast« die Rückkehr Maries aus dem Bild, indem eine andere Frau, Maries Doppelgängerin Katja Lavans, vierzehn Jahre später durch eine Maskerade die tote Marie reinkarniert. Sie ist im gleichen Alter wie Marie, wenn diese am Leben geblieben wäre, und kommt ebenfalls aus Ostberlin. Als Pathologin hat sie den Tod zu ihrem Beruf gemacht. In Anlehnung an Ovid belebt der Autor die tote Frau, indem ungefähr ab der Mitte des Romans das Verschwinden des Körpers über Geschlechtsverkehr, Tod, Obduktion und Konservierung in der Fotografie in einer scheinbar rückwärtslaufenden Handlung zurückgenommen wird. Zum ersten Mal in der Handlung taucht Katja in einem Fernsehbild auf, trifft sich danach mit dem Anwalt Arbogasts in einem ehemaligen Leichenschauhaus und identifiziert sich mit Marie, indem sie sich unmittelbar vor dem zweiten Prozess eine rote Perücke kauft, die den gefärbten Haaren Maries (Weiblichkeit 28 Barthes, Roland: Die helle Kammer: Bemerkung zur Photographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 17.

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ist bei Hettche prinzipiell substanz- und identitätslos) ähnelt. Das Unsignifizierbare/die Leere füllt der Roman mit der Wiederholung der Urtat auf, die die Ergebnisse des am Anfang dargestellten Todes als Mord umschreibt. Denn Arbogast würgt Katja während des Geschlechtsverkehrs, und nur das Abstreifen der Perücke rettet ihr das Leben, weil dadurch ihre Identifikation mit Marie unterbrochen wird. Ist der Körper ein Signifikant, so kann die Urtat beliebige Male wiederholt werden. Die Repetition verschiebt allerdings die Bedeutungen in Analogie zum Gleiten der Signifikate durch die Signifikantenkette. Denn die Sinngenese entsteht ganz im Sinne Foucaults aus Diskursverhandlungen von Judikativen, Legislativen, sozialem Klima, politischer Konjunktur und traumatischer Vergangenheit. Am Ende des Romans heißt es, dass Arbogasts Mord, »heutzutage keiner mehr sein darf« (S. 340). Die ›Wahrheit‹ erscheint als prinzipiell unmöglich, weil keine andere ›Realität‹ jenseits der diskursiven Sinnstiftung besteht, die die ›Wahrheit‹ erst produziert und legitimiert. Die Fotografie der toten Marie initiiert die selbstreflexive Bedeutungsgenese. Wird Marie zur Fotografie, so werden Weiblichkeitszuschreibungen auf das Bild übertragen. In Analogie zur Weiblichkeit als Maskerade verschleiert das Bild die ›Wahrheit‹ und mithin das unsignifizierbare ›Reale‹. Die auf der Fotografie angeblich ersichtlichen Strangulationsspuren, aufgrund derer Arbogast verurteilt wird, entpuppen sich nach vierzehn Jahren als postmortal entstandener Abdruck eines Astes. Nur die Obduktion kann die ›Wahrheit‹ ans Licht bringen. Die Fotografie als Repräsentation schafft eine Distanz zur Materialität und daher zum Realen des Körperinneren, das sich dem Signifizierungs- und Diskursivierungsprozess entzieht und mithin die Grenze jeglicher Repräsentation illustriert: Hettches Roman produziert anhand der Fotografie eine Differenz zwischen den im Körper gefundenen ›Fakten‹ und dem Gerichtsurteil, zwischen der Obduktionsszene und dem intakten Körper auf dem Bild danach sowie zwischen dem Körper und der kulturellen ›Realität‹, die durch verschiedene staatliche Institutionen, in diesem Fall durch die Strafjustiz, erst geschaffen werden muss. Dürrenmatts Detektivfigur Bärlach wird bei Hettche zu einem wissenschaftlichen Assistenten, der am pathologischen Institut tätig ist und die Obduktion der Leiche von Marie Gurth durchführt (S. 15). Die ›Wahrheit‹ liegt nur noch im Inneren des Körpers. Mit der Übersetzung der Frau in die Fotografie, die sich als eine Art ›Verhüllung‹ des Körperinneren darstellt, wird auch das ›Reale‹ buchstäblich zugedeckt. Marie wird auf der Fotografie zur ›nackten Wahrheit‹, die als Beweismaterial einerseits die ›Wahrheit‹ zeigt, andererseits die ›Wahrheit‹ als nicht intelligibel ausweist. Nach Hans Blumenberg gehört die »Nacktheit der Wahrheit« zu den sogenannten absoluten Metaphern, die besonders in der Rhetorik der Aufklärung als Wahrheitsbegriff Tradition hatten. 29 Bei Hettche 29 Vgl.: Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 61 – 76.

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kann die ›nackte Wahrheit‹ jedoch den Zugang zum ›Realen‹ nie einholen. An dieser Stelle reflektiert der Roman nicht nur die symbolische Ordnung und ihre Unfähigkeit, das ›Reale‹ zu erfassen, sondern auch die fotografische Unfassbarkeit des Geschehens. In seiner Konkurrenz mit der Fotografie rächt sich der Roman am visuellen Medium, indem der Unfähigkeit des Bildes, die ›Wirklichkeit‹ darzustellen, die literarischen Finessen gegenüberstehen, die imstande sind, die Grenzen jeglicher Repräsentation aufzuzeigen und zu reflektieren.

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Juliana V. Kaminskaja Traditionelle Modernität oder Das Leben nach dem Tod. Zur Rolle der historischen Avantgarden im poetischen Experimentieren nach 1989

Die historischen Avantgarden als Ausprägungen der Literaturrevolution 1 im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die in verschiedenen Kulturen etwa futuristische, dadaistische oder expressionistische Formen annahm, verstummten in den 1930er Jahren. Später schienen die einst so wichtigen künstlerischen Umwälzungen ihre Aktualität für immer verloren zu haben, ob im Russland, Italien oder Deutschland der Nachkriegszeit. Bekanntlich wurden den historischen Avantgarden ihr Universalismus, ihr linearer Zukunftsglaube und das damit verbundene Verständnis des Neuen sowie ihre »Selbstpositionierung als Spitze der Moderne und des Modernierens« 2 vorgeworfen. Schließlich wurde auch der »Tod der Avantgarde« mehrfach konstatiert. 3 Die Zeichen, welche den Fortbestand des avantgardistischen Erbes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hätten bestätigen können, riefen stets scharfe Kritik hervor. Noch Peter Bürger disqualifizierte in den 1970er Jahren die damalige ästhetische Situation als »eine Situation der unschöpferischen Wiederholung« 4, in der die Kunst das von der historischen Avantgarde Vorgegebene immer wieder reproduziere 5. Bald wurde dieses Vorurteil, die experimentelle Literatur drehe sich im Kreis dieser ewigen Wiederholung, zum Allgemeingut. Dazu kamen noch die nicht selten artikulierten Vorstellungen von den drei »Sünden«, die – hauptsächlich aber im Bereich der bildenden Kunst – den heutigen Nachfolgern der historischen Avantgarden nachgesagt werden, und zwar die Kommerzialisierung, die Musealisierung und die Akademisierung 1 Sammelbezeichnung für literarische Umwälzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 2 Vgl. Van den Berg, Hubert/Fähnders, Walter: Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung. In: Metzler Lexikon Avantgarde. Hrsg. von Hubert van den Berg und Walter Fähnders. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2009. S. 1 – 19, hier S. 9. 3 Vgl. Mann, Paul: The Theory-Death of the Avant-Garde. Bloomington/Indianapolis: Indiana UP 1991. 4 Klotz, Heinrich: Kunst im 20. Jahrhundert: Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne. München: Beck 1999, S. 161. 5 Siehe: Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1981 (1974).

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der einst oppositionellen Kunst. 6 Thomas Kling, der sich als »kein AvantgardeFetischist« 7 bezeichnet, reagierte auf diese stetig an Deutlichkeit gewinnenden Tendenzen dahingehend, indem er seinen 2001 erschienenen Essay »Zu den deutschsprachigen Avantgarden« mit folgenden Worten einleitet: »Im Rahmen des allgemeinen Kassensturzes am Ende des 20. Jahrhunderts ist nichts so billig geworden, wie das Abqualifizieren der ästhetischen Avantgarden«. 8 Im beginnenden 21. Jahrhundert ist der seit langem beschworene Tod der historischen Avantgarden jedoch nicht mehr ohne weiteres festzustellen, blickt man auf das längst Vergangene. Ihre Wirkung auf die kulturelle Situation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist aus der heutigen Sicht leichter bemerkbar und erscheint auch im Rahmen der zeitgenössischen Kunst keinesfalls obsolet. Das ursprüngliche Ziel der historischen Avantgarden, dem etablierten Kunstbetrieb zum Trotz eine Kunst zu schaffen, die sich nicht kommerzialisieren lässt, hat seine Attraktivität nicht verloren. Hingegen haben sich die Vorstellungen von der Erreichbarkeit dieses Zieles sowie der Grad der Selbstironie in dieser Hinsicht gewandelt. Entsprechend ist es nur scheinbar paradox, dass die radikal experimentierende Poesie, die ihrem Wesen nach immer einen Bruch mit der Tradition markiert, heute selbst als eine solche auftritt. Nun stellen sich dazu folgende Fragen: Welche Transformationen erlebt das Erbe der historischen Avantgarden in der zeitgenössischen Literatur und warum ist es so langlebig? Im Folgenden werden einige Annäherungen an mögliche Antworten darauf unternommen. Trotz der inzwischen auch zur Tradition gewordenen Kritik bleibt das heterogene Netz der avangardistischen Schriftsteller, bildenden Künstler, Komponisten, Architekten, Designer und vieler anderen Vertreter unterschiedlichster Kunstbereiche bestehen. Nach wie vor versucht man, eine Alternative zur hegemonialen Kunst der jeweiligen Zeit zu entwickeln, indem man die zu Anfang des 20. Jahrhunderts sichtbar gewordenen Tendenzen fortsetzt. Bereits bei einem flüchtigen Überblick zeigen sich viele Spuren der historischen Avantgarden in der zeitgenössischen experimentellen Poesie. So sind etwa in zeitgenössischen Gedichten ›klassische‹ avantgardistische Künstler sowie deren Werke als Grundelemente präsent, z. B. bei Oskar Pastior, Friederike Mayröcker, Klaus Peter Dencker, Volker Demuth u. a. Die meisten der Verfahren und Praktiken der historischen Avantgarden leben und entwickeln sich in der heutigen Kunst weiter. So sind das Künstler­buch, die Performance und Installation zu unabdinglichen Elementen des inter­nationalen literarischen Lebens geworden. Überraschend aktuell könnten heutzutage auch 6 Siehe diese Art der Kritik u. a. bei Bollenbeck, Georg: Avantgarde. In: Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945. Hrsg. von Ralf Schnell. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2000. S. 56 – 58, hier S. 57 – 58. 7 Kling, Thomas: Zu den deutschsprachigen Avantgarden. In: ders.: Botenstoffe. Köln: DuMont Buchverlag 2001. S. 9 – 31, hier S. 9. 8 Ebd.

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lange zurückliegende künstlerische Ereignisse wie die berühmte Aktion des Futuristen Velimir Chlebnikov wirken, der vor den Augen des Publikums 1918 Gustave Flauberts »Die Versuchung des heiligen An­to­nius« (La Tentation de saint Antoine, 1874) 9 in Flammen aufgehen ließ, um beim Licht einer brennenden Seite die nächste zu lesen, auch wenn der heu­ti­ge Zuschauer dabei wohl weniger den Tod der Götter als Götterdämmerung – im wahrsten Sinne buchstäblich – assoziierte 10, sondern ganz andere Über­legungen entwickeln würde. An den eigentlich längst überholten Aufbruchsoptimismus der historischen Avantgarden erinnert auch das Streben der heutigen experimentellen KünstlerInnen nach technischen Neuheiten, das in der Entfaltung der Video-Poesie sowie allerlei Spielarten digitaler Poesie zum Ausdruck kommt. Bewegte Wort-Bilder und Bild-Wörter, die in den letzten Jahren die weltweit entstandene kinetische Spielart der Literatur 11 kennzeichnen 12, positionieren sich als das Neue im Verhältnis zum Herkömmlichen. Auf solche Weise wird, wie schon in der Tätigkeit der frühen Avantgardisten, versucht, der Erstarrung und Konventionalisierung entgegenzuwirken. Abgesehen davon äußern sich durch die kinetische Poesie der betont fiktionale Charakter der verbalen Kunst, ihr Verzicht auf die Simulation der Wirklichkeit sowie ihr eigenes Leben als Leben der Sprache, was mit den Bemühungen der historischen Avantgarden und der späteren konkreten Poesie eine Verbindung offenbart. 13 Beim genaueren Hinschauen lassen sich mit den historischen Avantgarden auch substanziellere Besonderheiten der zeitgenössischen literarischen Prozesse verbinden. Dazu gehören konsequente Angriffe gegen die Vorstellungen von festen Grenzen zwischen den Realitätsbereichen, Kunstbereichen, Sprachen, Gattungen, Werken u. a., aber auch das radikale Einbeziehen des Publikums ins literarische Geschehen und die extreme Ambiguität der Werke. Diese Züge sind für die experimentelle Poesie charakteristisch und finden darin eine außerordentlich deutliche Ausprägung. 9 Siehe z. Werk: Foucault, Michel: Nachwort. In: Die Versuchung des heiligen Antonius. Aus d. Französischen v. Barbara/Robert Picht. Frankfurt/M.: Insel Verlag 1996, S. 223. 10 Siehe dazu: Гаспаров М. Л.: Считалка богов (о пьесе В. Хлебникова «Боги»). В: Мир Велимира Хлебникова. Статьи и исследования 1911 – 1998. М.: Языки русской культуры 2000. Стр. 279 – 293, hier S. 293. Auf Grund der Lektüre von Chlebnikovs Erinnerungen zeigt Gasparov: »Das Buch verbrennend realisierte Chlebnikov das, das darin beschrieben worden ist – denTod der Götter« (S. 293). 11 Siehe ausführlich zur Geschichte der kinetischen Poesie: Dencker, Klaus Peter: Optische Poesie. Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart. Berlin/New York: De Gruyter 2011, S. 104 – 311. 12 Im deutschsprachigen Raum zeugen davon zum Beispiel die Berliner ZEBRA Poetry Film Festivals, in deren Rahmen Video-Poesie aus aller Welt zum Vorschein kommt. 13 Andererseits empfängt die zeitgenössische kinematische Poesie durchaus wichtige Impulse von heute. So ist ihr betont fiktionaler Charakter unter anderem auch als Pro­test gegen die pseudo-echte Fernseh-Realität zu verstehen.

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Die Basis für die besondere Aktivität des Publikums und die extreme Mehrdeutigkeit der heutigen experimentellen Werke bildet die Abstraktion. Als »Quintessenz der Kunst des 20. Jahrhunderts« 14 wird sie zum zentralen Verfahren nicht nur in der Malerei der letzten einhundert Jahre, sondern auch in der experimentellen Poesie, die bemüht ist, durch das freie Zusammenspiel der Wörter neue, sonst unerreichbare Wirkungen zu erzeugen. Die radikal abstrakte Dichtung als ein Versuch, nicht-mimetische Ausdrucksmöglichkeiten zu akkumulieren, wurzelt offensichtlich in den historischen Avantgarden. 15 Doch im Unterschied dazu werden die heutigen poetischen Versuche nicht im Bestreben unternommen, zukunftsbezogen das Leben in seiner Ganzheit zu umfassen, sondern einzig, um die Vielfalt des Möglichen vorzuführen. So wird das stets Notwendige erreicht: Die fiktionale Distanz zum Leben 16 und die Möglichkeit eines höchst subjektiven Gestus 17, der wie jede Abstraktion der Erkenntnis dient, in diesem Fall vor allem der Selbsterkenntnis des Subjekts. Durch das lange Leben der Abstraktion, die in ihren radikalen Ausprägungen von den historischen Avantgarden erschaffen worden ist, erfuhr die Kunst eine Art Befreiung von allerlei Normen und Dogmen. Aufgrund dessen ist sie im Unterschied zum ersten Jahrhundertdrittel nicht mehr verpflichtet, durch irgendwelche theoretischen Aussagen gerechtfertigt und erklärt zu werden. In der bildenden Kunst bezeichnet Klotz diese Art der Abstraktion als »selbstverständlich«. 18 Eine ähnliche Selbstverständlichkeit gewinnt auch die zeitgenössische experimentelle Poesie, indem sie sich von dem Diskurs der programmatischen »Erklärungsbedürftigkeit« loslöst. Durch die Freiheit der selbstverständlichen Abstraktion wächst die Mannigfaltigkeit der zeitgenössischen experimentellen Poesie, die mittels ihrer suggestiven Kraft die Aktivität des mitschöpfenden Publikums steigert. Die erhöhte Suggestivität der experimentellen Poesie, die zum Großteil wie schon bei frühen Avantgardisten durch einen besonderen optischen und/oder akustischen Rhythmus gewährleistet ist, bildet einen Gegensatz zu der Machtausübung, wie sie etwa propagandistische Werke ausstrahlen. Die ausschlaggebende 14 Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. 1999, S. 153. Vgl. dazu Kazimir Malevics »Schwarzes Quadrat« (1915) (Abb. 1) und das sich darauf stützende Werk Gerhard Rühms (1993) (Abb. 2). 15 Die VertreterInnen des italienischen und russischen Futurismus, des Dadaismus und des Expressionismus (Sturmkreis) als Verfechter der Literaturrevolution wandten sich gegen Bildlichkeit und Symbolismus, um ein auf das Erleben und Sich-Einfühlen orientiertes Literaturverständnis zu bekämpfen. 16 Siehe dazu am Material der Malerei: Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. 1999, S. 153 ff. 17 Zur Abstraktion als Ausdruck maximal möglicher Subjektivität in der bildenden Kunst siehe: Ebd., S. 162. Vgl. dazu Angelika Kaufmanns »Grenzen des Alphabets« (2006) (Abb. 3) und ein Fragment aus Oswald Eggers »Diskrete Stetigkeit. Poesie und Mathematik« (2008) (Abb. 4). 18 Ebd., S. 156 ff.

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Differenz besteht darin, dass es sich beim heutigen Experimentieren um eine Wirkungsästhetik handelt, die darauf abzielt, eine kreative Einstellung der Lesenden gegenüber dem Werk gegenüber zu initiieren und sie zur höchsten individuellen Aktivität anzuregen. Im Mittelpunkt steht dabei eine Form von Suggestivität, die – scheinbar paradox – die Unterschiede bei der Wahrnehmung des jeweiligen Werkes nicht einebnet und das Publikum somit nicht vereinheitlicht. Dass der Bedarf nach so einer Art von Wirkung in den Gesellschaften von heute unübersehbar ist, steht außer Zweifel. Dies führt dazu, dass die seit den historischen Avantgarden bekannte außerordentliche Suggestivität eine eigenwillige Fortsetzung in zeitgenössischen Werken findet, und zwar als Mittel für die Befreiung des Individuellen von gesellschaftlichen Zwängen im Rahmen einer nach möglichst unbeschränkter Freiheit strebenden Kunst. In diesem Sinne frei und suggestiv entfalten sich etwa Volker Demuths »Flimmernde Kammern« (2010) 19. Seine Verse ziehen uns ins Innere des Textes hinein, das als ein dreidimensional gewordenes »Schwarzes Quadrat« nach Kazimir Malevics Gemälde (1915/23) aus der »Proletarierära« (35) aufgebaut ist. Es handelt sich um ein geheimnisvolles »Quadratum sacrum« (35), in dem man die verborgene Formel nicht erspähen kann, um einen dunklen Raum von einer nicht mehr überschaubaren Form, in dem jedoch beim AufnahmenEntwickeln immer wieder Licht aufflackert, so dass aus dem »Filmmaterial« (39) flimmernde Bilder des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses für flüchtige Augenblicke aufscheinen, um gleich darauf in der Schwärze des Unverständlichen wieder zu verschwinden. Die Lesenden verbleiben »in den Unruhen der Geometrie geruchloser Hitze« (41) und verwandeln rätselnd: von Wind in Toast Stimmen in Gras Körper in Fahnen (36)

Es ist keine geschlossene Form, kein Kubus, der aus dem Quadrat gewachsen ist, sondern es sind pluralisierte »Kammern«. Nicht einen bestimmten Sinn, sondern beinahe unzählig verschiedene Möglichkeiten des Verstehens bietet der Text an: da hatte die Stadt sich erhoben und Hügel aus sich selbst gebaut ein Hoch-Tief-Unternehmen künstliches Rom aus Vestibülen und eingefaltetem Raum dessen metallische Kuppeln und Säulen in einem bestimmten Licht Statistiken glichen

19 Demuth, Volker: Flimmernde Kammern. In: ders.: Lapidarium. Gedichte. Weilerswist: Verlag Ralf Liebe 2010, S. 35 – 43. Siehe die erste Seite des Gedichtes (Abb. 5), das durch konsequentes Sprengen der regelmäßigen viereckigen Form in seiner optischen Erscheinung nicht nur an das berühmte Quadrat Malevics sondern auch an die uralte Tradition der magischen Quadrate erinnert. Vgl. dazu Albrecht Dürers Darstellung des magischen Quadrats (Ca. 1514) (Abb. 6).

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Juliana V. Kaminskaja die aber legen sich jetzt wie Wohnungen Kante auf Kante mit dem insektenäugigen Mittsommertag um mich (37)

Auch auf der graphischen Ebene erweist sich das Werk nicht als ein einheitliches Gedicht, vielmehr ist es in der Form zahlreicher Vierecke gestaltet, deren genaue Umrisse sich nie wiederholen. Neun Seiten flimmernder Kammern – eine »Schachtel Luft« (35) nach der anderen, die sich an einem »insektenäugigen Mittsommertag« im »Facettenauge« der Poesie spiegeln: im Facettenauge der Blöcke das deine Rückkehr in Waben verschiebt (43)

Dieses »Facettenauge« ist der Versuch, durch poetische Metamorphosen einer erschreckenden Transformation wenn schon nicht vorzubeugen, sie doch zumindest auf später zu verschieben – die Verwandlung der Individualitäten in eine Menschenmasse, eine Verwandlung, mit der die historischen Avantgarden aufs engste zu tun hatten. Eine bestimmte Deutungsmöglichkeit der Werke ist von den heutigen experimentellen Dichtern im Unterschied zu vielen Vertreterinnen und Vertretern der historischen Avantgarden sicher nicht vorgesehen. Ganz im Gegenteil, denn es ist offensichtlich unmöglich, den Text mit genügender Plausibilität auf eine einzige Weise zu verstehen. Bei solchen Überlegungen aktualisiert sich auch schließlich die längst vergessene Bedeutung des Wortes »verstehen« – »stellvertretend stehen, vertreten«: Die Konstruktion aus der Erfahrung des Verstehenden als Produkt seiner Kreativität vertritt das Werk des Künstlers. Der gleiche Prozess verläuft unabhängig von den Absichten der frühen Avantgardisten auch bei der heutigen Wahrnehmung ihrer Werke, was ihre Aktualität jenseits des historischen und ideologischen Kontextes sichert und ihre Wirkung auf die zeitgenössische Kultur verstärkt. Demuths Gedicht beginnt und endet mit verständlich wirkenden Zeilen, die an ein lyrisches Werk im traditionellen Sinne erinnern. Doch handelt es sich dabei nur um den Rahmen wie beim magischen Quadrat – das einzig Verständliche, innerhalb dessen Konturen sich der eigentliche Zauber vollzieht. Die Umrahmung weist eine fließende Grenze auf und umgibt scheinbar wirr zusammengewürfelte Sprachfragmente, aus denen der Hauptteil des Textes besteht. Anhand eines solchen Gedichtes lässt sich leicht beobachten, wie innerhalb eines literarischen Werkes die Abstraktion als Prozess und als Resultat ver-

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schmelzen können. Das sukzessive Übersteigen gegenständlich vorstellbarer Bilder wird vorgeführt, bis die allgemeinsten Begriffe und Gesetzmäßigkeiten in herausgesonderter Form zum Vorschein kommen, und zwar nicht um – den Absichten vieler historischen Avantgardisten entsprechend – den höchsten Grad an Objektivität bei der Darstellung zu erreichen, sondern um die größtmögliche Subjektivität bei der Wahrnehmung zu erlauben. So entsteht ein extrem ambiguitäres und ambivalentes Werk, das zum Resultat der Abstraktion als Erkenntnismethode wird. Wenn man den Text außerhalb des scheinbar verständlichen Rahmens liest, meint man einen darin verborgenen Sinn greifen zu können. Schon in den ersten »Vierecken« wird der Leser auf die Suche nach Unsichtbarem und wahrscheinlich Abwesendem geschickt: Spuren für wenn es spät geworden sein wird in dieser Wohnung einer Fremden ihre abwesende Gestalt um mich und der Kühlschrank der mit schmalen Lippen einatmet nach jedem Schließen (35)

Doch wird diese Ahnung eines einzigen, bestimmten Sinns nicht eingelöst. »Abstraktio«, die vorgeführte Wegnahme eines Teils, scheint sich nicht rückgängig machen zu lassen. Sie bricht das Ganze und verhindert ein schlüssiges Erleben des Werkes. Je weiter vom Anfang entfernt, desto abstrakter wird der Text, so dass der Leser erst am Schluss aus einer vom Gegenständlichen befreiten Dunkelheit wieder auftauchen kann, um sich sodann in einem anderen Quadrat als »Quadratum sacrum« vorzufinden, und zwar in einem Stadtviertel, wo man sich vor lauter Hitze nicht bewegen kann (43). Auch für den Leser wird es dann kaum: möglich sein wird mit einer frischen Zeitung in der Hand in den aufgeklappten Tumult zu schreiten einfach mit ein paar automatischen Bewegungen in Richtung des Blicks (43)

Es ist seit langem bekannt, dass das Verstehen als »wissen, was gemeint ist« nicht die sinnvollste Kategorie für jede Art von Poesie sein kann, und schon gar nicht für die abstrakte. Darauf angewendet würde die rhetorische Frage von Friedrich Schlegel: »Aber ist denn die Unverständlichkeit etwas so durchaus

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Verwerfliches, und Schlechtes?…« 20 die implizierte, eindeutige Antwort mit besonderer Leichtigkeit offenbaren. Ein Werk der heutigen experimentellen Poesie wird zu einer extremen Ballung ahnbarer und doch zum Großteil verschlossener Sinngehalte. In theoretischer Hinsicht kann man diese im Wesentlichen von den historischen Avantgarden geerbte Besonderheit auf verschiedene Weisen reflektieren. Einen Zugang erreicht man durch den einflussreichen Formalisten und Strukturalisten Roman Jakobson, der seinen Weg am Anfang des 20. Jahrhunderts als avantgardistischer Dichter und begeisterter Leser Velimir Chlebnikovs angetreten hat. 21 Jakobson geht von zwei grundlegenden Ordnungsweisen aus, »die in sprachlichem Verhalten Verwendung finden: die Selektion und die Kombination. Wenn das Thema der Botschaft `Kind´ lautet, selektiert der Sprecher eines der vorhandenen, mehr oder weniger ähnlichen, Nomina wie Kind, Knirps, Jugendlicher, Wanst, die alle in einer bestimmten Hinsicht äquivalent sind; und dann wird er, um etwas über dieses Thema zu sagen, eines von mehreren semantisch verwandten Verben selektieren – schläft, döst, schlummert, ruht. Die beiden ausgewählten Wörter werden in der Sprechkette kombiniert. Die Selektion findet auf der Grundlage von Äquivalenz, von Similarität und Dissimilarität, Synonymie und Antonymie statt, während die Kombination, die Zusammenfügung zur Sequenz, auf Kontiguität basiert. Die poetische Funktion bildet das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination ab. Die Äquivalenz wird dabei zum konstitutiven Verfahren für die Sequenz erhoben«. 22

Der Autor/die Autorin trifft beim Schreiben ununterbrochen eine Entscheidung, etwa bei der Wahl eines passenden Wortes, wie im übrigen bei allen Sprechenden. Die Besonderheit der poetischen Rede verbirgt sich jedoch auf einer anderen Ebene. Nach Jakobson wird bei der Entstehung eines Gedichts als eines 20 Schlegel, Friedrich: Über die Unverständlichkeit. In: ders.: Kritische Schriften. München/Wien: Hanser 1971. S. 530 – 542, hier S. 538. 21 Wie H. Birus argumentiert gezeigt hat, passt das Erbe Roman Jakobson nicht ohne wesentliche Verluste in die üblichen Klassifikationen wissenschaftlicher Leistungen. So »stehen auf Jakobsons Grabstein, außer Namen und Daten, zu Recht nur zwei Worte: Russkij filolog«. Siehe dazu: Birus, Hendrik: Der Leser Roman Jakobson im Spannungsfeld von Formalismus, Hermeneutik und Poststrukturalismus. In: Jakobson, Roman: Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. Sämtliche Gedichtanalysen. Kommentierte deutsche Ausgabe. In 2 Bänden. Hrsg. von Hendrik Birus gemeinsam mit Sebastian Donat. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2007. Bd. 1. S. XIII – XLVIII. Zit. von der Seite XLVIII. 22 Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik. Übersetzung aus dem Englischen von Stephan Packard. In: Ders.: Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. Sämtliche Gedichtanalysen. Kommentierte deutsche Ausgabe. In 2 Bänden. Hrsg. von Hendrik Birus gemeinsam mit Sebastian Donat. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2007. Bd. 1., S. 155 – 216, hier S. 170.

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Akts sprachlicher Weltkonstitution das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination projiziert. Die Wörter erscheinen im Gedicht wie »flimmernde Kammern«: Darin »flimmern« verschiedene Bedeutungen, wie wiederum um das Wort herum andere Wörter »flimmern«, die sich im Text nicht finden, aber bei der Wahrnehmung mitberücksichtigt werden. Dies können stammverwandte Wörter, semantische Ausdrücke oder allerlei Vokabeln sein, die aus irgendwelchen Gründen mit dem Wort assoziiert werden. Im Gedicht finden sich auch dazu gehörende andere Wörter, die – wie übereinanderliegende »flimmernde Kammern« in einem Hochhaus – vertikale Reihen bilden. Sie benutzt der Leser dann als Jakobsonsche Paradigmen 23, die ihm die Konstruktion von Bedeutung ermöglichen. Da die Auswahl der Stütz­ elemente unterschiedlich sein kann, bietet ein poetischer Text immer neuen Lesern unterschiedliche Vorgehensweisen an. Auch ein experimentelles verbales Werk ist auf diese Art und Weise er- und beschaffen: Bei der Lektüre konstruiert man die Jakobsonschen Paradigmen und versucht sich auf solche Weise den Text anzueignen. Doch weist er dabei eine bemerkbare Besonderheit auf: Die Wahl des Wortes, die der Autor/ die Autorin bei der Entstehung des Gedichtes trifft, ist eine sehr vorläufige Festlegung, so dass der Text einen außerordentlich hohen Assoziationsgrad aufweist. Es ist unmöglich, das Werk auch nur annähernd in der ihm eigenen Komplexität wahrzunehmen. Entsprechend dependiert die Lektüre als Konstruktion von Bedeutung in besonderem Maße von den Akten der Auswahl einzelner Stützelemente. Also ist die Wahrnehmung des Werkes extrem durch die (individuelle) Selektion beeinflusst, welche das Ganze wesentlich reduziert. Dieser Zugang, auch wenn es dabei nur gelingt, »über die Schwanzspitze der Geschichte zu streichen« (41), wird von immer neuen Generationen unterschiedlichster Individualitäten als eine Berührung mit dem künstlerischen Schaffen sowie als eine Art bereicherndes Verstehen empfunden und sichert die Langlebigkeit des Werkes. Dabei ist die vorgeführte Differenz nicht qualitativer Natur. Die Feststellung, dass die Auswahl der für das individuelle Verständnis relevanten Elemente und damit die Selektion bei der Wahrnehmung eine bedeutende Rolle spielt, trifft mehr oder weniger für den Kontakt mit jeglichem poetischen Werk zu. Ob der Assoziationsgrad und dementsprechend die Freiheit des Lesers bei der Bedeutungskonstruktion größer oder geringer sind, bleibt eine Frage der Gradualität. Die Folgen des höheren Wertes sind mannigfaltig. Neben der Attraktivität für unterschiedlichste kreative Leserschaften gehört dazu die Tatsache, dass bei der Lektüre der radikal auf die selektive Wahrnehmung ausgerichteten experimentellen Poesie die Akte der Auswahl im Gegensatz zum alltäglichen Sprechen und 23 Dabei meint Jakobson eine Paradigmatisierung des Syntagmas: Einzelne von den syntagmatisch aneinandergereihten Zeichen können ein Paradigma bilden. Vgl. Jakobson, Linguistik und Poetik. 2007, S. 155 – 216.

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zum Lesen konventionell wirkender Gedichte auf keinen Fall unterschwellig verlaufen können. Also wird das gewohnte sprachliche Verhalten mit besonderer Deutlichkeit beobachtbar und reflektierbar, so dass dem Leser eine besonders ergiebige Gelegenheit zur Verfügung steht, sich selber und der individuellen Wahlstrategien im Umgang mit Sprache bewusst zu werden. Dieser äußerst hohe Anteil an Selbstreflexivität ist als eine zusätzliche Erklärung für das lange (Über)Leben der avantgardistischen Tradition in der zeitgenössischen Kultur anzusehen. Der andere Annäherungsversuch an die Ursachen, die den Tendenzen der historischen Avantgarden ihr heutiges Dasein ermöglichen, wäre von der Seite der Systemtheorie vorzunehmen. An Husserls Sinnbegriff 24 anknüpfend beschreibt Niklas Luhmann den Sinn als ein laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten. 25 Mit besonderer Signifikanz trifft dies für die Lektüre experimenteller Werke zu – unabhängig davon, ob sie nun zum avantgardistischen Erbe oder zu der heutigen Literatur gehören. Beim Verstehen der Werke erzeugt man an Stelle der vorhandenen Komplexität des Textes eine innere Ordnung. Demnach beschäftigt man sich mit einer Sinnbildung, die auf die gleiche Art verläuft wie bei der Erkenntnis der nicht-künstlerischen Realität: Man reduziert die Komplexität des Vorhandenen auf das uns zugängliche Maß. Das heißt, anhand der experimentellen Poesie besitzt man die Möglichkeit, das eigene sinnbildende Verhalten zu entfalten, diese Tätigkeit sich selbst vorzuführen, zu beobachten und zu reflektieren. Nach Luhmann ist und bleibt die Welt nicht »als Ganzheit, als Totalität« 26 zugänglich, »sondern nur als Bedingung und Bereich des zeitlichen Prozessierens von Sinn«. 27 Zur Vermeidung einer »totalitären« Wahrnehmung von Literatur kann die heutige experimentelle Literatur dienen, aber auch die mehrdeutigen Werke der historischen Avantgarden, wenn man sie in einem neuen Kontext wahrnimmt, ohne die umgebende Realität zu re-konstruieren. Experimentelle Arbeiten von vor einhundert Jahren wie diejenigen von heute kennzeichnet ein bedeutender Verweisungsüberschuss »als Übermaß an Anschlussmöglichkeiten, die nicht alle zugleich aktualisiert werden können«. 28 Darum handelt es sich bei ihrer Wahrnehmung – wie auch prinzipiell bei der Sinnbildung in Bezug auf die Welt – um »selektives Prozessieren«: 24 Bekanntlich bildet Husserls Phänomenologie den Ansatzpunkt einer neuen Beschreibung des Bewusstseins, die Erfahrung und Sinn verknüpft. 25 Siehe u. a. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 92 – 147; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 44 – 59. 26 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1995, S. 173. 27 Ebd. 28 Ebd., S.  173 – 174.

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Historische Avantgarden nach 1989 »Aktualisierter Sinn ist ausnahmslos selektiv zustandegekommen […]. Man kann deshalb sagen, dass Sinn durch die Unterscheidung von Aktualität und Potentialität (oder von Wirklichkeit in momentaner Gegebenheit und Möglichkeit) konstituiert wird.« 29

Im Rahmen der von Luhmann reflektierten Sinnbildung als eines selektiven Prozes­sie­rens, das bei der Wahrnehmung eines experimentellen Werkes mit besonderer Intensität und auch Beobachtbarkeit zustande kommt, verweist jede Bestimmung von etwas als et­was auf einen Beobachter, der seine Bestimmungen in einem prinzipiell unendlichen Ho­rizont fortsetzen kann. Auch diese Seite der Sinnbildung lässt sich durch den Um­gang mit der avantgardistischen Tradition feststellen, so dass eine Art Selbstgespräch des Le­sers bei der Lektüre zu einer quantitativ besonders gewichtigen Komponente wird. Dies ver­längert das Leben des Erbes des frühen 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart und führt zur Fortsetzung der avantgardistischen Tradition ungeachtet aller sonstigen Veränderungen in der Literaturgeschichte. Das Gleiche lässt sich auch durch einen prinzipiell anderen, hermeneutischen Zugang reflektieren, und zwar mit Hilfe Hans-Georg Gadamers. Bei der Erfahrung übernehmen wir nach Gadamers »Wahrheit und Methode« verstehend einen Sinn, dessen Fülle uns übersteigt: »Das Verstehen ist nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenes und Gegenwart beständig vermitteln«. 30 So rücken auch wir in ein solches Überlieferungsgeschehen ein, das in diesem Fall die Werke der historischen Avantgarden mit den heutigen experimentellen Werken verbindet. Dieses Überlieferungsgeschehen bestimmt sich aus dem wandernden Horizont der Gegenwart heraus immer neu, so dass man auch immer neue Zugänge zu den inzwischen zu Ikonen gewordenen Werken der historischen Avantgarden finden kann. Diese Zugänge können sich im Wesentlichen von den Deutungen unterscheiden, welche die Autoren der Werke intendierten. Gerade darin besteht wohl die Daueraktualität der historischen Avantgarden sowie ihre Aktualität für die zeitgenössische Kunst. Sie beruht auf dem einfachen Grund, den Gadamer in Bezug auf Jakobson lapidar bezeichnet hat: »des Lesers Interesse […], teilzunehmen an dem, was das Gedicht sagt«. 31 Es ist überraschend, dass jene drei methodischen Zugänge, deren Verfahrensweisen an sich einander ausschließen, doch zu ein und demselben Ergebnis 29 Ebd., S. 174. Vgl. auch: »Modaltheoretisch gesprochen besteht die Einheit des Mediums Sinn also in einer Differenz – in der Differenz von Aktualität und Potentialität«. Ebd., S. 225. 30 Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: Mohr 1990, S. 295. 31 Gadamer, Hans-Georg: Hegel und der Sprachforscher Roman Jakobson. In: Jakobson, Roman/Gadamer, Hans-Georg/Holenstein, Elmar: Das Erbe Hegels II. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1984, S. 13 – 20, hier S. 20.

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führen. Denn man gelangt über sie zum Verständnis des großen Potentials, das die Werke der frühen Avantgarden mit der heutigen experimentellen Poesie gemeinsam haben. Ende Mai 2010 wurde in einem Interview von Christina Weiss mit dem experimentellen Dichter Oswald Egger die poetische Eigenschaft bezeichnet, die Egger von Oskar Pastior »lernäisch« gelernt hätte, und zwar die Sprache nicht auf eine bestimmte Funktion festzulegen: »Die Bedeutung der Wörter ist ihr Gebrauch«. 32 Ob man dadurch allerdings irgendwann behaupten könne, ein Werk wirklich verstanden zu haben, ist indes fraglich: »Ich denke, Wissen allein führt oft zu nichts. Es geht mir um eine semantische Wolke, die um die Silbe herum erzeugt wird im Vertrauen darauf, dass das Gemeinsame darin auszumachen sein würde.« 33 Egger erzählte dabei von einem Soldaten, der im Dreißigjährigen Krieg jeden Morgen das ganze Alphabet aufsagte, »weil da alle Gebete drin sind und auch das richtige also dabei sein wird«. 34 In der gegenwärtigen Situation erbt die experimentelle Poesie von den historischen Avantgarden eben diese Rolle eines Alphabet aufsagenden Soldaten. Vielleicht gerade deshalb sind für die Experimente im ersten Drittel des 20. und am Anfang des 21. Jahrhunderts die sogenannten Alphabet-Gedichte in einem ähnlichen Maße wichtig. Doch wird die alte Rolle neu weiter gespielt – nicht als Bruch mit der Tradition sondern als Tradition der Brüche. Diese eigenartige Tradition erscheint als eine der äußersten Ausprägungen jener Tendenzen, die das vergangene Jahrhundert grundsätzlich kennzeichnen. Ebenso ist darin auch eine ausgeprägte Form der ständigen kulturellen Erneuerungsprozesse zu sehen, deren Spuren bereits in den berühmten Worten des Horaz durchklingen: »nullus addictus iurare in verba magistri«. 35 Warum sich diese Prozesse sowohl in den Zeiten der historischen Avantgarden als auch in der zeitgenössischen Kunst radikalisierte Erscheinungsweisen suchen, ist eine Frage, die vieler Antworten bedarf.

32 Vgl. Egger, Oswald/Weiss, Christina: »Ich will semantische Wolken erzeugen«. Der Dichter Oswald Egger bekommt morgen den Oskar Pastior Preis. Ein Gespräch über die Ösen der Sprache. In: Die Welt. 27.05.2010, S. 2. 33 Ebd. Vgl. z.B. »semantische Wolken«, die das mehrdeutige Werk Fritz Widhalms (2010) (Abb. 7) bei intensiver Wahrnehmung hervorruft. 34 Ebd. 35 Dt.: »ich bin dessen nicht verpflichtet, den Worten eines Lehrers blindlings zu folgen« (Epistularum liber I, I.I).

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Abb. 1: Malevic, Kazimir: Schwarzes Quadrat. 1915.

Abb. 2: Rühm, Gerhard: Ohne Titlel. In: KRITZI KRATZI. Anthologie gegenwärtiger visueller Poesie. Hrsg. von Franzobel. Wien: edition ch 1993, S. 58.

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Abb. 3: Kaufmann, Angelika: Grenzen des Alphabets. In: Grenzüberschneidungen. Poesie Visuell Interkulturell. Hrsg. von Günter Vallaster. Wien: edition ch 2006 (Unpag.).

Abb. 4: Egger, Oswald: Diskrete Stetigkeit. Poesie und Mathematik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 52.

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Abb. 5: Demuth, Volker: FLIMMERNDE KAMMERN. In: ders.: Lapidarium. Gedichte. Weilerswist: Verlag Ralf Liebe 2010, S. 35 – 43, hier S. 35.

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Abb. 6: Dürer, Albrecht: Melencolia I. Fragment. Ca. 1514.

Abb. 7: Widhalm, Fritz: Ohne Titel. In: Ein Polylog der Visuellen Poesie. Hrsg. von Juliana V. Kaminskaja und Günter Vallaster. Wien: edition ch 2010, S. 46.

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I.

Alles Adolf »Gibt man bei google.de »Hitler« als Suchbegriff ein, bekommt man 584.000 deutschsprachige Einträge angezeigt. Das ist viel weniger als im Falle Konrad Adenauers (3.090.000 Seiten), aber fünfmal mehr als bei Erich von Däniken (117.000 Seiten). Stalin kommt auf 1.270.000 Seiten. Auch Hitlers Beitrag zur Geschichte ist, sachlich betrachtet, eher bescheiden: ein Buch und zwölf Jahre Kanzlerschaft. Däniken hat mehr geschrieben, Adenauer hat länger regiert, und Stalin hat mehr Menschen umbringen lassen. Dennoch hat der Mann aus Braunau in einer wichtigen Kategorie die Nase vorn: Nachhaltigkeit. Tausende Bücher, Filme, Dokumentationen, Doktorarbeiten und Melodramen versuchen, das Phänomen Hitler zu beschreiben, aus dem Kontext der Geschichte zu erklären und analytisch zu durchdringen.« 1

So summiert Deutschlands zynischster Kritiker, Henryk M. Broder, die NaziGedenkindustrie. In der Tat liegen zwischen Hans Jürgen Syberbergs SiebenStunden-Opus »Hitler – ein Film aus Deutschland« (1977), dem die Ästhetisierung und Mystifizierung des Grauens angelastet wurde, und Bruno Ganz in Oliver Hirschbiegels »Der Untergang« (2004), dem der Vorwurf der Vermenschlichung Hitlers gemacht wurde, fast 30 Jahre und damit zahllose Debatten über Schuld und Sühne. Laut Broder speist sich die mediale Omnipräsenz des Dritten Reichs in Deutschland aus den Untergangsfantasien und Endzeit-Ängsten einer Nation, die immer noch unter einer Bestrafungserwartung lebt. Diese Bestrafungserwartung für die angestifteten und ausgeführten Verbrechen und Gräuel, kann jedoch nur dann gemildert werden kann, wenn die Nation selbst als ein Opfer der Geschichte anerkannt wird. 2 Auch wer Broders zynischen, psychologisierenden Kulturpessimismus nicht teilt, kann, zumindest aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, konfliktgeladene Diskursverschiebungen wahrnehmen – sowohl was den Diskurs der Vergangenheitsbewältigung anbelangt, als auch was Form und Inhalt des deutschsprachigen Films betrifft. 1 Broder, Henryk M: Alles Adolf. In: Spiegel Online 12, 17. März 2008. http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,542149,00.html (Zugriff am 26.03.2011). 2 Ebd.

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Aleida Assmann spricht in diesem Zusammenhang von der Unvereinbarkeit von Schuld und Leiden in der deutschen Gedächtniskultur 3, die in der Nachwendegesellschaft »memory contests« 4, d. h. konkurrierende Gedächtnisstränge ausgebildet hätten. Der Grundkonsens, der sich in den historischen Debatten der vergangenen dreißig Jahre formuliert hat und fast alle politischen Lager umfasst, besagt, dass während des Dritten Reiches Verbrechen extremen Ausmaßes in staatlichem Auftrag und im Namen des deutschen Volkes begangen worden sind, für die sich das gegenwärtige Deutschland historisch verantwortlich sieht. In Anbetracht dessen sind besonders nach 1989 neue Diskussionen darüber entstanden, was, wen und welchen Zeitraum diese Erinnerung und Verantwortlichkeit ein- bzw. ausschließen sollen. Unter dem Begriff der sogenannten »Opferdebatte« sind in dieser Zeit neue Erinnerungsstränge hinzugekommen, die Deutsche nicht nur als Täter, sondern eben auch als Opfer wahrnehmen; eine Debatte, die über paradigmatische kulturelle und literarische Texte wie Jörg Friedrichs »Der Brand« (2002), Günter Grass‹ »Im Krebsgang« (2002) oder W. H. Sebalds Aufsatzsammlung »Luftkrieg und Literatur« (2001) 5 maßgeblich in Gang gesetzt wurde. Zu den diskutierten Themen gehören nicht nur der Luftkrieg der Alliierten, sondern auch Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa, die Massenvergewaltigung deutscher Frauen sowie Nachkriegsverfolgung und Internierung. Eine erstaunliche Vielzahl literarischer Texte hat sich seitdem diesen Themen gewidmet, von denen die überwiegende Mehrzahl die Fragen nach der deutschen Täterschaft und dem Opferstatus ausgewogen miteinander verhandelt. 6 Während diese konkurrierenden Diskurse generell als produktiv gewertet werden, weil sie sich letztendlich in ein Meisternarrativ 7 einfügen – nämlich das der Übernahme der historischen Verantwortung für das Dritte Reich, auf der die gesamtdeutsche Identität beruhe, 8 ist zugleich auf die nostalgische, melancholische und 3 Assmann, Aleida: On the Incompatibility of Guilt and Suffering in German Memory. In: German Life and Letters 50, 2006, H. 2, S. 187 – 200. 4 Ebd., S. 193. 5 Friedrich, Jörg: Der Brand. München; Propyläen 2002; Grass, Günter: Im Krebsgang. Göttingen: Steidl 2002; Sebald, Winfried G.: Luftkrieg und Literatur (1999). Frankfurt/M.: Fischer 2001. 6 Taberner, Stuart/Berger, Karina (Hgg.): Germans as Victims in the Literary Fiction of the Berlin Republic. Rochester, NY: Camden House 2009. 7 Der Begriff des Meisternarrativs oder der «großen Erzählung« geht auf den französischen Philosophen Jean-François Lyotard zurück, der das Ende der Moderne und den Beginn der Postmoderne darin begründet sah, dass die Wissen legitimierenden Meisternarrative durch eine Vielzahl konkurrierender Diskurse abgelöst werden. Der Begriff wird seitdem verwendet, um kulturelle Diskurse zu charakterisieren, die den Anspruch erheben, über allgemeingültige Aussagen zu zentralen Themen gesellschaftlichen Konsens zu stiften. Lyotard, Jean-Francois: La condition postmoderne. Paris: éditions Minuit 1979. 8 Assmann, On the Incompatilibity. 2006, S. 198.

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narzisstische Funktion der meisten dieser Erzählmuster hingewiesen worden, die zugunsten des Wunsches nach nationaler Normalität die Gefahr bergen, die belastenden Elemente deutscher Vergangenheit auszublenden. 9 Wie der Nationalsozialismus erinnert werden soll, bewegt nicht nur Intellektuelle, Historiker, Politiker, Schriftsteller und Publizisten, sondern ebenso weite Teile der gesamtdeutschen Bevölkerung, die sich immer dann explizit zu Wort melden, wenn staatliche Institutionen bestimmte Erinnerungskonzepte sanktionieren: z. B. die Gestaltung der Berliner Neuen Wache 1993 oder auch der Standort und die Konzeption des vom Deutschen Bundestag beschlossenen Zentrums gegen Vertreibung, die zu teilweise heftigen Kontroversen in großen Teilen der deutschen Bevölkerung führten. Die Frage, wie der Nationalsozialismus im Nachwendedeutschland auf breiter Basis erinnert werden kann und soll, ist darüber hinaus Gegenstand populärer Massenmedien sowie des Films geworden. Das erste Jahrzehnt nach der Jahrtausendwende verzeichnete einen Großteil von erfolgreichen Filmen zu diesem Thema: Max Färberböcks »Aimee und Jaguar« (1999), Margarethe von Trottas »Rosenstraße« (2003), Sönke Wortmanns »Das Wunder von Bern« (2003), Dennis Gansels »Napola« (2004) oder Victor Schlöndorffs »Der Neunte Tag« (2004). Die Filme »Nirgendwo in Afrika« (2003), »Der Untergang« (2004), »Sophie Scholl« (2005) oder »Die Fälscher« (2007) haben den deutschsprachigen Gegenwartsfilm zudem international bekannt gemacht, indem sie renommierte Auszeichnungen erhielten wie den Academy Award of Merit (»Oscar«). Andere Filme, wie etwa Dani Levys »Mein Führer« (2007), Urs Odermatts »Mein Kampf« (2009) nach George Taboris gleichnamigem Drama oder Oskar Roehlers »Jud Süß – Film ohne Gewissen« (2010), waren umstritten, oft noch bevor die Filme überhaupt veröffentlicht worden sind. In einem 2007 erschienenen Artikel der britischen Zeitung »The Independent« mit dem Titel »The Germans Are Coming« lobte Nick James, der Chefredakteur von »Sight & Sound«, die jüngsten Erfolge des deutschen Films auf der internationalen Bühne. 10 Der deutsche Gegenwartsfilm habe seinen derzeitigen Erfolg einer neuen Fusion von deutschem Autorenfilm und einem »Hollywood-Appeal« zu verdanken, insofern diese Kombination den deutschen Film mit einem »Funken« einer »magischen Zutat« 11 ausstatte, erklärt James. Auch von Seiten der Film- und Kulturwissenschaften ist der neue Status des deutschsprachigen 9 Umfassend zu diesem Thema: Assmann, Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1999; ebenso Schmitz, Helmut (Hg.): A Nation of Victims? Representations of German Wartime Suffering from 1945 to the Present. Amsterdam/New York: Rodopi 2007. 10 Caesar, Ed: The Germans Are Coming. In: The Independent, 28. April 2007. http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/films/features/the-germans-arecoming-446519.html (Zugriff am 15.03.2011). 11 Ebd.: »But when you get that combination, you have a spark, a magical ingredient.«

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Kinos auf internationaler Ebene diskutiert worden. Stellvertretend für solche Diskussionen kann Paul Cookes 2006 publizierter Aufsatz »Abnormal Consensus? The New Internationalism of German Cinema« herangezogen werden, in dem Cooke der von dem amerikanischen Filmwissenschaftler Eric Rentschler vertretenen These nachgeht, dass das Nachwendekino von einer kontextuellen Einheitlichkeit bestimmt sei, die aus dem Wunsch nach nationaler Normalität und Normalisierung deutscher Geschichte gespeist würde und der deshalb die oppositionellen Energien und kritischen Stimmen fehlten. 12 Cooke arbeitet in seinem Beitrag zum Postwendefilm einen Zusammenhang heraus zwischen dem internationalen Erfolg dieser Filme und deren diskursiver Verankerung in den oben erwähnten alternativen Erinnerungssträngen. 13 Nach Cooke verantwortet der neue deutsche Nachwendefilm eine ästhetische Normalisierung in Form einer »Hollywoodization« 14, die häufig eine Abkehr vom kritischen Umgang mit der deutschen Vergangenheit beinhaltet. Dieser von Cooke angedeutete Nexus provoziert sowohl weitergehende Fragen, wie sich eine solche »Hollywoodization« im konkreten Fall ausnimmt, als auch Überlegungen, wie diese Ästhetisierungsprozesse den Umgang mit der Vergangenheit modifizieren. II. Untergangsgeschichten – Hochspannung vor dem Kurzschluss Im Folgenden werde ich mich mit diesem neuen – und erfolgreichen – Hollywoodmodus des deutschen Postwendefilms, das Dritte Reich visuell und narrativ im Medium Film zu repräsentieren, auseinandersetzen und dabei den Schwerpunkt auf Oliver Hirschbiegels »Der Untergang« (2004) legen, der von Bernd Eichinger produziert wurde. Wie seine filmischen Vorgänger, »Hitler: Der Letzte Akt« (1955), »The Last Ten Days« (1973) oder »The Bunker« (1981), ist »Der Untergang« in Berlin situiert und thematisiert die Geschehnisse während der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. Ein Großteil der Handlung findet im Führer­ bunker statt und wird aus der Perspektive der jungen Traudl Junge, Hitlers letzter Sekretärin, erzählt, während parallel dazu in integrierten Episoden die Ereignisse der Schlacht um Berlin bis zur russischen Eroberung gezeigt werden. »Der Untergang« war sowohl im In- wie auch im Ausland sehr erfolgreich; die Einnahmen unmittelbar nach dem Kinostart beliefen sich auf 92 Millionen US-Dollar und machten dieses Opus damit bis heute zum finanziell erfolgreichsten deutschen

12 Cooke, Paul: Abnormal Consensus? The New Internationalism of German Cinema. In: German Culture, Politics, and Literature into the Twenty-First Century: Beyond Normalization. Hrsg. von Stuart Taberner und Paul Cooke. Rochester, NY: Camden House 2006. S. 223 – 236; Siehe auch Rentschler, Eric: From New German Cinema to the Post-Wall Cinema of Consensus. In: Cinema and Nation. Hrsg. von Mette Hjort und Scott Mackenzie. London: Routledge 2000, S. 260 – 277. 13 Cooke, Abnormal ConsensuS. 2006, S. 234. 14 Ebd.

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Nachwendefilm. 15 Nicht zuletzt die Starbesetzung des Films mit Bruno Ganz als Hitler, dessen schauspielerische Leistung hoch gelobt wurde, Alexandra Maria Lara als Traudl Junge, Ulrich Matthes als Joseph Goebbels, Juliane Köhler als Eva Braun und Corinna Harfouch als Magda Goebbels brachte ihm 2005 eine Oscar-Nominierung in der Kategorie »Bester fremdsprachiger Film« ein. Der Box-Office-Erfolg von »Der Untergang« in Europa und Nordamerika kann als ein Hinweis auf den Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs insbesondere in Deutschland und Nordamerika interpretiert werden. In Nordamerika wurde der Film zumeist als Kriegsfilm diskutiert und dafür anerkannt, dass er »neue Maßstäbe setze, wie Geschichte auf Zelluloid übertragen werden kann«. 16 Gelobt wurden besonders seine Detailtreue und sein realistischer Stil. 17 Der Grund seines Erfolges ist deshalb in seiner Auffassung und Verarbeitung von und mit Geschichte und deren Bildern zu suchen. Die englischsprachige Webseite zu »Der Untergang« reduzierte diejenigen Elemente und Referenzen, die den Film als einen »deutschen« Film hätten erkennbar werden lassen, und vermarktete ihn als »one of the best war movies ever made.« Die Explosionsszenen und die epische Tragweite, auf die der Trailer zum Film fokussiert, knüpfen denn auch visuell an Steven Spielbergs »Saving Private Ryan« (»Der Soldat James Ryan«) von 1998 an. 18»Der Untergang« lässt sich aber ebenso einer neuen Facette des Erinnerungsdiskurses zuordnen, derzufolge das deutsche Volk mehr als Opfer und weniger als Täter begriffen wird. Aufgrund dessen wurde dem Film vorgeworfen, die deutsche Geschichte unzulässig zu verzerren. Unter den Kritikern sprach sich besonders Wim Wenders gegen »Der Untergang« aus. In seinem Artikel »Tja, dann wollen wir mal« in »Die Zeit« beschuldigte er den Film der »Haltungslosigkeit« und kritisierte den Mangel an filmischer Erzählperspektive, die dem Zuschauer keine kritische Haltung erlaube, sich mit der Anziehungskraft des NS-Regimes und der Unterstützung der Deutschen für Hitler auseinanderzusetzen. 19 Gleichzeitig wurde der Film als ein »künstlerisches 15 Cooke, Paul: Der Untergang (2004). Victims, Perpetrators and the Continuing Fascination of Fascism. In: A Nation of Victims? Representations of German Wartime Suffering from 1945 to the Present. Hrsg. von Helmut Schmitz. Amsterdam/New York: Rodopi 2007, S. 248. 16 Hansen, Eric T: Downfall. In: The Hollywood Reporter. 16. September 2004. http://www.ethansen.de/Pro/THRReviews.html (Zugriff am 29.03.2011: »One of the best war movies ever made, ›Downfall‹ is a powerful and artistically masterful re-creation of the last days of the Third Reich. A film that will set new standards in the art of committing history to celluloid, it is sure to spark strong word-of-mouth and generate ticket sales on the art house circuit – and could pick up major awards.«) 17 Bathrick, David: Whose Hi/Story is it? The U.S. Reception of Downfall. In: New German Critique 34, 2007, H. 3, S. 1 – 18. 18 Cooke, Abnormal ConsensuS. 2006, S. 234. 19 Wenders, Wim: »Tja, dann wollen wir mal«. In: Die Zeit 44, 21.10.2004. http://www.zeit.de/2004/44/Der Untergang. Zugriff am 26. März 2011.

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Meisterwerk« gefeiert, dessen »penible Historizität« 20 und »Eins-zu-Eins Umsetzung der Quellen« 21 es erlaube, Hitler neutraler, objektiver und distanzierter betrachten zu können als dies in der Vergangenheit geschehen war: 22 »Die Deutschen haben ihre Geschichte, aber sie haben sie nicht mehr am Hals.« 23 Regisseur Oliver Hirschbiegel und Drehbuchautor und Produzent Bernd Eichinger rühmten in ausführlichen Kommentaren und Interviews das ihrer Ansicht nach bahnbrechend neue Geschichtskonzept des Films, dessen entscheidende Eckpfeiler Detailgenauigkeit, Authentizität und historische Wahrheit bildeten: »Wir folgen im Prinzip den Ereignissen, wie sie sich zugetragen haben. Von Interpretation kann man wirklich nicht sprechen«. 24 Tatsächlich basiert das Drehbuch auf der gleichnamigen »historischen Skizze« des konservativen His­to­rikers Joachim Fest von 2002 25, der als Berater an der Umsetzung des Films mitwirkte, auf den »Erinnerungen« von Albert Speer (1969), dem Fest persönlich geholfen hatte, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben, sowie auf Gesprächen mit Traudl Junge, deren Erinnerungen 26 in André Hellers und Othmar Schmiderers Dokumentarfilm »Im toten Winkel – Hitlers Sekretärin« (2002) verarbeitet sind. Mit »Der Untergang« suchte Hirschbiegel »als Deutscher« sich der »historischen Aufgabe« zu stellen, »deutsche Geschichte« »mit unseren Mitteln« »selbst zu erzählen« 27 und somit ein Gegengewicht zu der großen Anzahl ausländischer Produktionen über die NS-Zeit zu schaffen. Doch der als neues Geschichtskonzept selbst gerühmte objektive Dokumentarcharakter des Spielfilms steht im Widerspruch zu der gleichzeitig immer wieder von Eichinger betonten Dramaturgie der Intensität: »Wir machen einen großen epischen Film fürs Kino. Allerdings halten wir uns streng an die Dokumente«, so Eichinger in einem Interview 2003. 28 »Der 20 Schmölders, Claudia: Zum Tee beim Monster – ›Der Untergang‹ als Zerreißprobe in den Erinnerungskulturen. In: Frankfurter Rundschau, 25. Oktober 2004. 21 Seeßlen, Georg: Das faschistische Subjekt – Welle deutscher Filme zur NS-Zeit. In: Die Zeit, 16. September 2004. 22 Schirrmacher, Frank: Die zweite Erfindung des Adolf Hitler. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 15. September 2004. Diese »zweite Erfindung« Hitlers bedeutet für Schirmmacher, dass Hitler gleichsam vom Ballast vorgegebener Zusammenhänge befreit und deshalb »kontrollierbar gemacht« werden kann. 23 Fuhr, Eckhard: Auf Augenhöhe. In: Die Welt, 25.08. 2004, S. 3. 24 Hirschbiegel im Interview mit Jose Garcia. http://www.textezumfilm.de/sub_detail.php?id=226. Zugriff 30. März 2011. 25 Fest, Joachim: Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reiches. Berlin: Alexander-Fest Verlag 2002. 26 Junge, Traudl: Bis zur letzten Stunde. Hitlers Sekretärin erzählt ihr Leben. Berlin: Ullstein 2002. 27 Hirschbiegel in einem Interview von 2004. www.wissen.de/wde/generator/wissen/ressorts/geschichte/index,page=1305588.html 28 Siehe auch Spiegel-Interview mit Bernd Eichinger: Ich halte mich an die Geschichte. In: Der Spiegel, 19.04.2003.

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Untergang« als ein großes Filmepos sollte Heldentaten und Verbrechen in pathetischer Verve und stilisierter Überhöhung darstellen. Eichinger wies passend dazu auf den »dramaturgischen Schlüssel« des Films hin, den er, basierend auf Fests Buch, in den letzten Tagen Hitlers finden wollte, deren »Mikrokosmos« wie »in einem Zeitraffer« »Massenwahn« und »Massenverrücktheit« als die intensiv komprimierten Gefühle der Zeit ausdrücken sollte. 29 Die dramaturgische Intensität hing, so Eichinger, von der Erwartung ab, »dass jemand den Schalter endgültig ausknipst«, »irgendjemand den Stecker zieht – aber den hat keiner gezogen« 30. Auf diese Weise wird der Nationalsozialismus zu einem inszenatorischen Steigbügelhalter für eine hollywoodartige (»knisternde«) Hochspannung. Diese Hochspannung bestehend aus Pathos, dramaturgischer Intensität und Emotionen bedient erfolgreich die Erwartungen, die für Spielfilme gelten. Allerdings können spannungsgeladene Überhöhungen Reibungsflächen bilden mit Ansprüchen von Objektivität, Authentizität und Realismus. Die meisten wissenschaftlichen Arbeiten, die bislang zu »Der Untergang« vorliegen 31, beziehen sich auf die Behandlung deutscher Schuld und Verantwortung im Kontext seines behaupteten »Realismus«, der häufig als Geschichtsmanipulation gewertet wurde. Doch die Schwierigkeiten, Geschichte und Spielfilm miteinander produktiv zu verbinden, sind bekanntermaßen ein den Medien inhärentes Problem im Zusammenwirken ihrer grundlegenden Elemente: Im Angesicht des linguistic and postmodern turn hat sich die Geschichtswissenschaft schon lange von dem Rankeschen Anspruch, zu zeigen, »wie es wirklich gewesen« ist, zugunsten einer selbstreflexiven, multi-perspektivischen Betrachtung verabschiedet. 32 Der Spielfilm unterliegt dagegen anderen Gesetzen: Er schafft überlebensgroße Persönlichkeiten, übersetzt multivalente, historische Schnipsel und Fetzen in eine stromlinienförmige, zielgerichtete und auflösbare Handlung, deren Markenzeichen überwiegend »Liebe, Tod und Teufel« sind, 29 Eichinger in einem Interview von 2004: http://www.wissen.de/wde/generator/wissen/ressorts/geschichte/index,page=1305588.html. Siehe auch Presseunterlagen der Constantin Film Ag zum Kinostart des Films, S. 6 – 11. http://anon.amazon-de.speedera.net/anon.amazon-de/all-media/video/untergang.pdf. 30 Ebd. 31 Haase, Christine: Ready for His Close-Up? Representing Hitler in Der Untergang (Downfall, 2004). In: Studies in European Cinema 3, 2006, S. 189 – 199; Hake, Sabine: Historisierung der NS-Vergangenheit: Der Untergang (2004) zwischen Historien­ film und Eventkino. In: Nachbilder des Holocaust. Hrsg. von Inge Stephan und Alexandra Tacke. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007, S. 188 – 218; Cooke, Victims and Perpetrators. 2007, S. 247 – 261. 32 Ranke, Leopold: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535. Leipzig/Berlin: G. Reimer 1824, S. V–VI (Vorwort): »Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beygemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen«.

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er soll unterhalten, indem er den Zuschauer nahtlos in die fiktionale Welt einbindet, – und schließlich soll er vor allem Geld einspielen. Neologismen wie Histotainment (Geschichte und Unterhaltung) oder Faction (Fact und Fiction) wurden bereits auf Steven Spielbergs »Schindlers Liste« (1993) angewendet, um den Reibungsflächen filmischer und historischer Ansprüche zu begegnen. Auch in »Der Untergang« werden Authentizität und Realismus vor allem durch filmische Mittel erzeugt: Das Drehen mit handgeführten Kameras, die Entscheidung, Sankt Petersburg als Filmset zu verwenden, oder die Rahmung der Filmhandlung mit Ausschnitten aus den Interviews mit Traudl Junge sind nur einige der film- und produktionstechnischen Dispositionen, durch die die Authentizität und Dokumentarqualität des Films gewährleistet werden sollten. Der Erzählmodus des Films, der zwischen den verschiedenen Erzählsträngen oszilliert, suggeriert den Gestus einer allwissenden Bewusstseinsinstanz, die »sich als historische Quelle [etabliere]«. 33 Ob nun aber Detailtreue und (konstruierte) Authentizität im Geschichtsfilm es erreichen, Geschichtszusammenhängen und deren Bedeutung näherzukommen, ist oft angezweifelt worden, vielleicht am überzeugendsten von dem postmodernen Denker Jean Baudrillard, der in seinem Buch »Simulacra and Simulation« (1994) Geschichte als »unseren verlorenen Referenzbezug« bezeichnet, den der Geschichtsfilm durch perfekte Remakes, durch Detailtreue, minutiöse Rekonstruktionen und Montagen wieder herzustellen versuche, dabei sich jedoch immer mehr von der Vergangenheit entferne. 34 Was bliebe, sei Nostalgie für eine Ära, die zunehmend außerhalb unseres Verständnishorizontes gerät. 35 In Bezug auf »Der Untergang« hat Michael Wildt dieses Bemühen um eine sorgfältig konstruierte, authentische und realistische Aura als eine »Geschichtsfalle« bezeichnet. 36 Aufgrund eines solchen Anspruchs wurden dem Film offensichtliche Verzerrungen stärker zur Last gelegt als anderen Filmen: Dass Albert Speers und Traudl Junges Erinnerungen nicht distanzierter verarbeitet wurden, haben viele Kritiker angemerkt, aber dass General Mohnke oder der SS-Arzt Ernst-Günther Schenck im Film als Fürsprecher von Menschlichkeit auftreten, hat besonders Historiker verstört. Mohnke wird ein Massaker an britischen Truppen nachgesagt und Schenck war wegen medizinischer Versuche an KZ-Häftlingen in Mauthausen angeklagt. Das sei »Geschichtsmassage«, empörten sich die britischen Historiker Caesarini und Longerich. 37 Im Kontext einer auktorialen Erzählperspektive, die aufgrund ihrer 33 Wildt, Michael: Der Untergang: Ein Film inszeniert sich als Quelle. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History. Online Ausgabe 2, 2005, H. 1. 34 Baudrillard, Jean: Simulacra and Simulation. Übersetzung aus dem Französischen von Sheila Faria Glaser. Ann Arbour: University of Michigan Press 1994. 35 Ebd., S.  44 – 45. 36 Wildt, Der Untergang. 2005, S. 32. 37 Caesarini, David and Peter Longerich. The Massaging of History. In The Guardian, 7. April 2005. – http://www.guardian.co.uk/film/2005/apr/07/germany.secondworldwar

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›Mitsicht‹ zu keinem Zeitpunkt eine distanzierte Sichtweise auf die in Berlin und im Führerbunker eingeschlossenen Deutschen gewährt, lässt sich der Wandel von deutscher Selbstidentifikation als Täternation zu Opfern des Nationalsozialismus nachvollziehen. 38 Eine ergänzende Lektüre des Filmbuchs zu »Der Untergang« von 2004 vermag diejenige Verbindung von historischem Material und filmsprachlichen Formen näher zu beleuchten, in denen Geschichte dargeboten und vermittelt wird. Denn wie funktioniert dieser angebliche magische Bestandteil, der Nick James zufolge ermöglicht, dass deutsche Geschichte sich so erfolgreich mitteilen und mediatisieren lässt? Ich werde diesen Zusammenhang über einen ungewöhnlichen, aber produktiven Umweg zu verfolgen versuchen: Um das Dritte Reich medial fruchtbringend an diejenigen zu vermitteln, die inzwischen zwei oder drei Generationen von dieser Periode entfernt sind, entfaltet »Der Untergang« – so meine These – Elemente des Horrorfilms. Die narrative Ökonomie des Films sowie seine gender-spezifische Darstellung monströser Weiblichkeit gliedern nicht nur die dem Film zugrundeliegende visuelle Struktur, sondern erschließen darüber hinaus neue historische Bedeutungsfelder. Die Herausarbeitung der Affinität dieses Film zur narrativen Ökonomie des Horrorfilmgenres kann dazu beitragen, die Zusammenhänge zwischen dem sich verändernden Vergangenheitsdiskurs, der Konsumierbarkeit von nationalsozialistischer Vergangenheit in Kinogeschichten und der erfolgreichen globalen Vermarktung von Postwendefilmen über die NS-Vergangenheit aufzuzeigen. Die diskursiven Elemente des Horrorfilms, so meine ich, gleichen einerseits die Geschichte des Dritten Reiches seinem genrespezifischen Erzählrhythmus und visuellen Spannungsbogen an und sorgen für eine Wiederbelebung des in Hollywood beliebten Sujets vom Nazi-Antagonisten; andererseits de-realisieren sie das Dritte Reich als (faktizitäre) Geschichte und verflachen die vielschichtige Dimension Vergangenheit zugunsten des effektvollen Thrillers. III. Big-Bunker-Story: »halb (selbst-)mörderisches Schlachtfest, halb Walpurgisnacht, halb Familienidyll« 39 »Der Untergang« besteht aus einer verzweigten und zugleich klaustrophobischen Erzählstruktur, die sich auf die letzten Wochen, von Hitlers sechsundfünfzigstem und letztem Geburtstag am 20. April 1945 bis zur Einnahme Berlins durch die Russen Anfang Mai 1945, konzentriert. Hitler und seine engsten Mitarbeiter haben sich in den Führerbunker zurückgezogen und erwarten die Einkesselung Berlins durch die Rote Armee. Parallele Erzählstränge führen jedoch immer 38 Hake, Historisierung. 2007, S. 190 – 191. 39 Reichel, Peter: Onkel Hitler und Familie Speer – Die NS-Führung privat. In: Dossier Geschichte und Erinnerung. Hrsg von Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn: bpb 2008. – http://www.bpb.de/themen/DU8MZJ,0,0,Geschichte_und_Erinnerung.html (Zugriff am 30.03.2011).

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wieder episodisch aus der beklemmenden Bunkeratmosphäre in die Stadt hinaus, gleichwohl, um auch dort auf klaustrophobisches Eingeschlossensein zu stoßen. Während Hitler drinnen im Bunker darüber wütet, dass das deutsche Volk ihn enttäuscht habe und es deshalb verdiene unterzugehen, kapitulieren draußen die deutschen Truppen sukzessive einem weitgehend unsichtbaren Feind gegenüber, der ihnen nicht allein körperliche Wunden zufügt, sondern eine psychologische Hysterie verbreitet, die zu Lynch- und Selbstmorden führt. Die Handlung verfolgt das Schicksal verschiedener Charaktere und Handlungsfäden, deren zeitliche Überlagerung sowie inhaltliche Ambivalenz und Gegensätzlichkeit dem Zuschauer eine Identifikation erschweren: So richtet sich der Blick beispielsweise auf den Hitlerjungen Peter Kranz, der zu Beginn des Films von Hitler geehrt wird und am Ende nur knapp mit Traudl Junge aus Berlin entkommt, ferner auf das Schicksal der Familie Goebbels und deren sechs Kinder, die von der Mutter umgebracht werden, auf General Mohnke, der versucht, bis zur letzten Stunde Zivilisten zu evakuieren, oder auf SS-Arzt Dr. Schenck, der unideologisch und menschlich ergreifend medizinische Hilfe leistet, und schließlich auf Hitler selbst, dessen Charakter zwischen väterlicher Fürsorge und Nachsichtigkeit einerseits und antisemitischen wie weltfremd-destruktiven Ausbrüchen andererseits schwankt. Hauptsächlich ist es die Perspektive der Protagonistin Traudl Junge, Hitlers letzter Sekretärin, durch die die Handlung und die Ereignisse mitverfolgt werden. Ihr gelingt es, ganz am Ende des Films den Bunker vor den vorrückenden russischen Truppen zu verlassen und unversehrt zu entfliehen. Die Rahmenhandlung stellt eine gebrechliche Traudl Junge im ungefähr achtzigsten Lebensjahr vor, deren sorgfältig formulierte, selbstkritische Bemerkungen aus der Dokumentation »Im toten Winkel« von 2002 den Film auch beschließen. »Der Untergang« beginnt mit Junges Worten: »Ich hab das Gefühl, dass ich diesem Kind, diesem kindischen jungen Ding bös sein muss, oder dass ich ihm nicht verzeihen kann, dass es diese Schrecken, dieses Monster nicht rechtzeitig erkannt hat, dass es nicht durchschaut hat, in was es da hineingeraten ist… und vor allem, dass ich so unüberlegt ja gesagt habe. Ich war, ich war ja keine begeisterte Nationalsozialistin. Ich hätte ja, als ich dann nach Berlin kam, sagen können, nein, ich will da nicht mitmachen, und ich will auch nicht ins Führerhauptquartier, ich hab’s aber nicht gemacht, aber da war die Neugier zu groß. Irgendwie hab ich das auch nicht so… ich hab ja nicht gedacht, dass mich das Schicksal so vorantreibt an eine Stelle, die ich überhaupt nicht angestrebt habe. Und trotzdem, es fällt mir schwer, mir das zu verzeihen.« 40

Hellers Dokumentarfilm ist weitgehend positiv rezipiert worden, dies aber offensichtlich nicht so sehr, weil sein Junge-Interview neue und bisher unbekannte Einsichten liefert (tatsächlich ist vieles, was Junge berichtet, durch andere Au40 Fest, Joachim/Bernd Eichinger: Der Untergang. Das Filmbuch. Hamburg: Rowohlt 2004, S.  236 – 237.

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genzeugen und Berichte verifiziert worden), sondern weil Hellers Interviews mit Junge ein Leben vorführt, das von der selbstquälerischen Erkenntnis eigener Selbsttäuschungen überschattet worden ist. Die dokumentarische Rahmenstruktur von »Der Untergang« ist zumeist im Zusammenhang mit dem Anspruch des Films, realistisch, authentisch und reflexiv zu sein, diskutiert worden. Die spezifische Selektion von Segmenten aus »Im toten Winkel« als Rahmenstruktur von »Der Untergang« eliminiert jedoch die kritische Doppelperspektive von Hellers Film und Junges Buch »Bis zur letzten Stunde«, in denen Junges »tote Winkel« durchaus zur Sprache kommen: ihre Mitgliedschaft im BDM und später in der elitären Organisation »Glaube und Schönheit« sowie ihre kurze Ehe mit dem SS-Offizier Hans Hermann Junge von 1943 bis 1944. Tatsächlich bewirkt Junges Epilog in »Der Untergang« vielmehr, dass die Binnenhandlung in eine surreale Doppelbödigkeit des Märchens und des Horrorfilms verwiesen wird: In der ausgewählten Eingangsszene spricht Junge über sich selbst nicht nur im Modus der dritten Person (»dass es nicht durchschaut hat…«), sie verwendet darüber hinaus zur Selbstreferenz ein geschlechtsneutrales Substantiv (Ding) und nutzt zur Beschreibung und Beurteilung ihrer Handlungen Euphemismen wie »kindisch«, »jung« oder »bös«, mit denen sie ihre Taten und Entscheidungen als die eines noch nicht zur Verantwortung zu ziehenden »kindischen jungen Dings« abtut. Auf diese Weise suggeriert Junge die Vorstellung, sie wäre 1945 ein unwissendes Kind gewesen und nicht die erwachsene und verheiratete Frau von fünfundzwanzig Jahren, die sie war. Die aus dem Dokumentarfilm übernommene (und oben zitierte) Sequenz prägt die Rezeptionserwartung und -perspektive der Haupthandlung, indem sie diese in einen surrealen, märchenhaften Raum verweist, in dem »Monster« und »Schrecken« regieren. In dieser Eingangssequenz spricht Junge von sich in der dritten Person Singular. Indem Junge ihr fünfundzwanzigjähriges, erwachsenes Ich rückblickend auf ein »kindisches junges Ding« reduziert, das geschichtliche Ereignisse als emotional überwältigende Monster und Schrecken und damit unabwendbares Schicksal wahrnimmt, enthebt sie sich de facto der Verantwortung für ihre Entscheidungen und Handlungsweise. Die Eingangspassage entwirft so eine Vorstellung von historisch handelnden Akteuren als machtlos und Geschichte als einer Falle, die durch die Haupthandlung verstärkt und bestätigt wird. Mit der Auswahl dieses Interviewsegments aus »Im toten Winkel« als Rahmenstruktur für die Haupthandlung in »Der Untergang« wird weder eine selbstreflexive Haltung zu(r) Geschichte vermittelt noch Authentizität verbürgt, vielmehr tritt die achtzigjährige Traudl Junge als eine Geschichten- oder gar Märchenerzählerin auf. 41 Und es ist diese Perspektive, die die Haupthandlung 41 Dass Märchen vornehmlich von alten Frauen erzählt wurden, lässt sich historisch nicht belegen; es handelt sich bei diesem Klischee um ein kulturelles Konstrukt, das zu dem Zeitpunkt produktiv wurde, als sich Religionsgemeinschaften, Institutionen und Schulen darum bemühten, die Relevanz dieser beliebten mündlichen Erzähl-

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des Films aufnimmt, indem sie die verschiedenen Stationen der Flucht Junges nachzeichnet, auf der die junge, mädchenhafte Traudl versucht, den Schrecken des Krieges zu entkommen, die als Monster inner- und außerhalb von Hitlers Bunker (auf sie) lauern. Im Märchen dringen gattungstypisch übernatürliche Mächte, Ereignisse oder Charaktere in die Alltagswelt ein, häufig in der Gestalt eines zentralen Antagonisten, der die gewohnte Lebensumwelt des Protago­ nisten ins Wanken bringt oder aus den Angeln hebt. Auch der Horrorfilm nimmt seinen Ausgangspunkt in der Konstruktion einer scheinbar normalen Wirklichkeit, in die übernatürliche Ereignisse, Mächte oder Charaktere umso gewaltsamer einbrechen und oft eine ebenso lebensbedrohliche, traumatische Wirkung wie auch ambivalente Anziehungskraft auf die Protagonisten ausüben. 42 Wenn die Vorführung und Erzeugung von Angst, Schrecken und Verstörung zum eigentlichen Ziel des Films werden, handelt es sich um einen Horrorfilm. 43 In ihrem ritualisierten, performativen Ablauf und Stil scheinen Horror und Märchen uns unmittelbar mit unbewussten Impulsen zu konfrontieren und erlauben uns, diese auf unsere eigenen Wünsche und Phantasien zu projizieren. Gerade aufgrund ihrer ritualisierten Performanz stehen beide Genres nicht etwa außerhalb der Geschichte, sondern wirken als Vehikel einer Ideologie, über die theoretisch ganz unterschiedliche historische und politische Positionen artikuliert werden können. 44 »Der Untergang« setzt das Märchen und den Horrormodus/-stil ein, um spannungstechnisch die Atmosphäre einer unabwendbaren, drohenden Gefahr zu konstruieren, die noch verschärft wird durch die Tatsache, dass der Protagonist, also die Identifikationsfigur, weiblich ist, ein Aspekt, der weiter unten diskutiert werden wird. »Der Untergang« basiert also auf den emotionalen Strukturen (a) des rätselhaften Geheimnisses, (b) des klaustrophobischen Eingeschlossenseins und (c) des so genannten »Kassandra-Effekts«, die gemeinsam die elementaren Bausteine des Horrorfilms bilden. 45 Im Einzelnen lassen sich diese Bausteine im Film folgender Maßen aufzeigen: a) Hitler hat sich selbst und seine Anhänger im Bunker verbarrikadiert bzw. eingeschlossen; gleichzeitig schließt die vorrückende Rote Armee Berlin und die in der Stadt verbleibenden Deutschen ein. Als isolierte Gruppe finden sich die Deutschen in einem Kampf um Leben und Tod gegen einen konturlosen, formen zu minimieren und durch eigene Erzählformen sowie die Etablierung so genannter »großer Erzählungen« zu ersetzen. Siehe Zipes, Jack: Why Fairy Tales Stick. The Evolution and Relevance of a Genre. New York/London: Routledge 2006, S.  52 – 55. 42 Gelder, Ken: Introduction. In: The Horror Reader. Hrsg. von Ken Gelder. New York: Routledge 2000, S. 2 – 3. 43 Hills, Matt: The Pleasures of Horror. London/New York: Continuum 2005, S. X-XI. 44 Hills, S. IX; Zipes, S. 52. 45 Fowler, Douglas: Alien, The Thing and the Principle of Terror. In: Studies in Popular Culture 4, 1981, S. 16 – 19.

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aber allgegenwärtigen Feind, dessen einzige Absicht ihre Vernichtung ist. Bis zum Ende des Films sieht der Zuschauer die vorstoßenden Russen nicht, aber er bekommt in intensiven Nahaufnahmen immer wieder die physischen Auswirkungen ihrer gesichtslosen Gegenwart auf die Deutschen vergegenwärtigt: Soldaten werden erschossen, verwundet, sterben, spucken Blut, verlieren Gliedmaßen, geraten in Panik und attackieren sich untereinander. Diese visuelle Nullposition konstituiert eine mysteriöse An- und gleichzeitige Abwesenheit des Anderen, d. h. der Russen. Ein sich unbarmherzig zuspitzender Spannungsbogen des ununterbrochen näher rückenden, unsichtbaren Feindes, der allein durch das bevorstehende, historisch bereits bekannte Ende Kontur erhält, verursacht in der Filmgegenwart eine wahre Massenhysterie: Selbstmorde, SS-Todesschwadrone, blutverschmierte Chirurgen, wachsende Leichenberge, deren viszerale Eindringlichkeit den Zuschauer in einen visuellen »Schockzustand« katapultieren sollen. 46 Die dramaturgische Strategie des Horrorfilms, die physischen Konturen des Feindes so lange wie möglich im Ungewissen zu lassen und sich auf die sichtbaren Auswirkungen seiner Gegenwart zu konzentrieren, wird in »Der Untergang« zur Hauptquelle von Angst und Schrecken. Erst am Ende des Films löst sich die (An)Spannung und materialisiert sich in der verzweifelten Flucht von Traudls Gruppe. b) Klaustrophobie im Horrorfilm verweist oftmals schon im Titel auf den Verlust der Außenwelt als Referenzpunkt für topographische Gewissheiten. Auch ästhetisch ist der Horrorfilm durch filmtechnische Muster der Destabilisierung der dargestellten Räume gekennzeichnet: Extreme Kamerawinkel, aber auch Close-Ups und halbnahe Einstellungen konstruieren eine geschlossene und extreme räumliche Enge. Der klaustrophobische Modus des Horrorfilms wird in »Der Untergang« auf verschiedenen Ebenen wirksam. Die im Laufe des Films eingeführten Personen, die junge Traudl, der kleine Peter Kranz, General Mohnke oder Dr. Schenck sind allesamt in Berlin eingeschlossen, um das die Russen außerdem einen sich rapide zuziehenden Kordon bilden, aus dem, wie schon angesprochen, auszubrechen, physisch immer unmöglicher, psychisch aber immer dringender wird. Innerhalb Berlins symbolisiert der Führerbunker eine gesteigerte Form des allseitigen Eingeschlossenseins: Zunehmende Luftangriffe schränken das Leben darin extrem ein; die immer kürzer werdenden Phasen, während denen die Bunkerbewohner ans Tageslicht treten können, um eine Zigarette zu rauchen oder sehnsüchtig den nahenden Frühling wahrzunehmen, werden als intensive Erlebnisperioden inszeniert, die die unmittelbar darauf folgende, erneut über sie einbrechende klaustrophobische Falle nur noch deutlicher hervortreten lassen. Während über der Erde ein gesichtsloser Feind stetig näher rückt, sehen sich in dem 46 Anspach, Julia: Der Untergang – ein Trauerspiel. In: Kritische Ausgabe 2, 2004, S. 56 – 9, hier S. 57.

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unterirdischen Bunkerlabyrinth dessen Bewohner von Hitlers ungeheuerlicher, unberechenbarer und unheimlicher Persönlichkeit bedroht. Aus der Perspektive Traudl Junges werden wir Zeuge von Hitlers fortgeschrittener Parkinsonschen Krankheit, seinen Tiraden über und gegen die Juden und seinen Klagen über die undankbaren, gar verräterischen Deutschen, die es verdienten, (»in ihrem eigenen Blut«) unterzugehen, womit er gleichzeitig als Führer das Schicksal der oberirdisch um ihr Überleben kämpfenden Deutschen besiegelt. In Hirschbiegels Film ist die Kamera eingebunden in die Bunkerräume und -gänge, deren fenster- und schmucklose Austauschbarkeit den Realitätsverlust der Bunkerbewohner ästhetisch ins Bild setzt. Die Atmosphäre, die sich aus der ausweglosen Einkesselung und der politischen Niederlage zusammensetzt, steigert sich schließlich zu der wohl grausamsten Szene des Films, in der Magda Goebbels in einem der Bunkerräume ihre sechs Kinder dazu zwingt, ein Schlafmittel einzunehmen, um ihnen anschließend Zyankalikapseln zu verabreichen. In »Der Untergang« lauern – um in der horror- oder schauermärchenspezifischen Terminologie zu sprechen – furchteinflößende Monster bzw. monströses Grauen innerhalb und außerhalb des Bunkers; damit erweisen sich so gut wie alle Fluchtwege als abgeschnitten, was die Forcierung der räumlichen Kompression, die dem Horrorfilm eigen ist, ins schier Unerträgliche steigert. c) In vergleichbarer Weise nutzt »Der Untergang« den so genannten »Kassandra-Effekt«, d. h., das Grauen wird nicht nur durch den Einbruch unerklärlicher, übernatürlicher Kräfte in die normale Welt erzeugt, sondern mithilfe der Identifikation mit einer oftmals weiblichen Figur, deren Versuche, diese Kräfte zu überwinden, wir voyeuristisch mitverfolgen. In der griechischen Mythologie wird Kassandra, die Tochter des trojanischen Königs Priamos, von Apollo mit der Gabe des zweiten Gesichts beschenkt und daraufhin mit dem Fluch belegt, dass niemand ihren Prophezeiungen Glauben schenken wird. Die Kassandra-Figur gehört sowohl zur epischen Tradition als auch zum dramatischen Genre der Tragödie; diese Kombination aus Wissen und Machtlosigkeit kann bis heute als eine Chiffre der tragischen Bedingung der Menschheit überhaupt gelten. Denn in Bezug auf »Der Untergang« ist bereits ein rudimentäres Geschichtswissen des Publikums ausreichend, um zu erkennen, dass das drohende Verhängnis der eingekesselten Deutschen in Berlin unabwendbar ist. Aus der Perspektive Traudl Junges wird der Zuschauer Zeuge von Speers Abschied, der Entscheidung des Ehepaars Goebbels, sechsfachen Kindermord zu begehen, und schließlich von Hitlers Selbstmord, bis letztendlich keine Autorität mehr existiert, an die man appellieren könnte, den Ereignissen noch eine andere Wendung zu geben oder – um mit Bernd Eichinger zu sprechen – »den Stecker zu ziehen« bzw. »den Schalter auszuknipsen«. Ungeachtet besseren Wissens hegt der Zuschauer die absurde, aberwitzige Hoffnung, dass zumindest die unschuldigen Goebbels-Kinder letztlich doch noch überleben. Am Ende sind alle Akteure

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jedoch ausnahmslos gefangen in der Unabwendbarkeit der Geschichte, die ihr Schicksal bereits besiegelt hat. Auch der Abspann verweist darauf: Die im Film dargestellten historischen Personen aus Hitlers persönlicher Umgebung und seinem militärischen Stab werden mit einer biographischen Notiz versehen, die ihre tatsächlichen Nachkriegsschicksale anführt. Abgesehen davon, dass auch hier der Spielfilm als historische Quelle etabliert wird, indem der Unterschied zwischen historischen Ereignissen/Personen und deren Repräsentation im Spielfilm verwischt wird, macht der Abspann den Zuschauer noch einmal mehr glauben, dass die epischen Dimensionen in der Unabänderlichkeit der Geschichte begründet lägen. Die Horrorfilmstrategien der klaustrophobischen Falle, des unerklärlichen Mysteriums und des Kassandra-Effekts, die bereits mithilfe der Rahmenhandlung etabliert wurden, strukturieren auch die Binnenerzählung, d. h. die filmische Fiktion der letzten Tage des Dritten Reichs. Geschichte entfaltet sich in »Der Untergang« als ein Prozess, der Täterschaft und Verantwortlichkeit als Kategorien auslöscht, indem die emotionalen Zustände intensiviert werden und die Akteure passiv unter der grauenhaften Monstrosität leiden, die die deutsche Geschichte ausmacht, tatsächlich aber von eben diesen Akteuren und anderen erzeugt und mitgetragen worden ist. Als aufschlussreich erweist sich hierbei, einen genaueren Blick auf die Gen­derDimension des Grauens zu werfen. Die Konzepte, die mich besonders interessieren, sind die der monströsen Weiblichkeit und die Subgattung des HorrorSlasherfilms. In dieser speziellen Ausprägung des Horrorfilmgenres ermordet ein meist psychosexuell gestörter Serienkiller im Verlauf der Handlung seine häufig auf engem Raum zusammengepferchten Opfer, bis nur noch eine jungfräuliche und unschuldige, weibliche Person zurückbleibt, der es nicht nur gelingt, sich des Mörders zu entledigen oder zu entkommen, sondern die darüber hinaus als eine Identifikationsfigur für den Zuschauer fungiert, indem dieser deren Perspektive, Gedanken und Gefühle teilt. 47 In der achtzigjährigen Traudl Junge begegnet der Zuschauer der Altersversion des so genannten »Final Girls« des Horror-Slasherfilms, insofern als diese die letzte, zugleich mädchenhaftunschuldige, weibliche Person ist (der Film führt sie als Fräulein Humps ein; ihre Heirat wird nicht erwähnt), der es obliegt, sich dem Grauen entgegenzusetzen und es zu überwinden, um ihre Geschichte über den Mörder der Nachwelt vermitteln zu können. In der Rahmenhandlung von »Der Untergang« mutiert die Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu einer genderspezifischen Fantasie des Grauens. Während Traudl Junges Funktion die des Final Girls darstellt, verkörpert Magda Goebbels monströse Weiblich- und Mütterlichkeit. Wie die australische Filmwissenschaftlerin Barbara Creed in ihrer Untersuchung »The 47 Clover, Carol J.: Her Body, Himself: Gender in the Slasher Film. In: Misogyny, Misan­­dry, and Misanthropy. Hrsg. von Howard R. Bloch und Frances Ferguson. Berke­ley: University of California Press c1989/1989, S. 188 – 222.

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Monstruous Feminine« 48 argumentiert, fungieren besonders im Horrorfilm sowie auch in Science-Fiction-Filmen Konstruktionen von monströser Weiblichkeit als Prototypen einer gefährlichen Täterschaft, die als archaische Hexe, Vampir, monströse Mutter, überdimensionierte/personifizierte Gebärmutter, besessener Körper oder als eine femme castratrice auftreten können. In der Figur der Magda Goebbels verbinden sich archetypische Elemente des Märchens mit den filmischen Konventionen des Mutter-Monsters und des weiblichen Vampirs. 49 In »Der Untergang« sieht der Zuschauer Magda Goebbels beim Verfassen eines Briefes an ihren erwachsenen Sohn aus ihrer ersten Ehe, in dem sie die bevorstehende Ermordung ihrer Kinder rechtfertigt. Aber wie schreibt »Deutschlands tapferste Mutter«, wie Hitler sie nennt, über den Tod? Sie ist der einzige Filmcharakter, dem Gelegenheit und Raum zur Verfügung gestellt wird, in derjenigen pathetischen Rhetorik des Nationalsozialismus zu schwelgen, die Victor Klemperer so eindringlich dokumentiert und entlarvt hat. 50 Mit glühender, quasi-religiöser Verve rechtfertigt Magda Goebbels die geplante Ermordung ihrer Kinder als eine Erlösung von der ideologischen Weltanschauung des NS-Regimes. Ihre beinahe lyrisch anmutenden Kontemplationen im Paratext werden dabei kritisch entwertet durch visuelle Einschübe und tonlose Szenen, in denen deutsche Soldaten und Männer sich gegen einen (wiederum) unsichtbaren Feind vergeblich verteidigen. Bei Kerzenschein schreibt Magda Goebbels aus dem abgedunkelten Abgrund des labyrinthischen Bunkers; in doppeltem Sinne ist sie blind gegenüber den oberirdischen Realitäten und wird somit zu einem Symbol des Scheuklappen- und Tunnelblicks, den Hitler in vielen seiner Anhänger zu erwecken vermochte. Doch die kritische Funktion, die sich daraus 48 Creed, Barbara: The Monstrous-Feminine: Film, Feminism, Psychoanalysis. London/ New York: Routledge 1993. 49 Sowohl Clovers als auch Creeds Thesen sind viel beachtet, aber inzwischen auch kritisiert und modifiziert worden. Creeds Argumente gelten als zu stereotypisch; ihrem Katalog monströser Weiblichkeiten fehle die Fundierung, d. h. die sorgfältige Interpretation der Filme. Siehe zum Beispiel: Gary Peters Besprechung von Creeds Buch in: Canadian Journal of Film Studies 3, Heft 2, 1994, S. 108 – 113. Clovers Thesen hingegen wurden dafür kritisiert, dass ihr Entwurf von typisch maskulinen und femininen Handlungs- und Identifikationsmustern, die auf den männlichen Killer, das Final Girl und auf die Zuschauer angewendet werden, zu rigide seien. Vgl. Schneider, Steven Jay/Williams, Tony (Hgg.): Horror International. Detroit, MI: Wayne State University Press 2005. Ich verwende Clovers und Creeds Beobachtungen und Interpretationen, um zu zeigen, dass die Verwendung der von den beiden Wissenschaftlerinnen identifizierten Elemente des Horrorfilms in »Der Untergang« eine ideologische Position beziehen, die Geschichte als eine monströse Falle auffasst, die ihre Akteure verschlingt und diese somit als Opfer und nicht als Täter begreift. 50 Klemperer, Victor: LTI (Lingua Tertii Imperii). Notizbuch eines Philologen. 1947. Reclam: Leipzig 2007.

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ergeben könnte, dass NS-Pathos und »banales« Massensterben visuell gegeneinander ausgespielt werden, wird dadurch neutralisiert, dass Magda Goebbels zum Symbol einer feminisierten, mörderischen Geschichtsvorstellung wird, die ihre eigenen Kinder verschlingt. Die Mehrzahl der Kritiker, die sich zu »Der Untergang« geäußert haben, betrachten die Sequenz, in der Magda Goebbels ihre sechs Kinder ermordet, als den Höhepunkt des Films. Doch warum gilt diese Szene in Anbetracht all der dargestellten Grausamkeiten als die grauenerregendste? Die ausgedehnten Sequenzen, in denen Magda Goebbels die Kinder ins Bett bringt, evozieren zunächst eine sentimentale, häusliche Szene, in der eine aufmerksame, liebevolle Mutter ihren Stolz auf die Lesefertigkeit ihrer Kinder demonstriert. Bereits zu einem früheren Zeitpunkt, und zwar zu Hitlers Geburtstag singen die GoebbelsKinder »Kein schöner Land in dieser Zeit« für »Onkel Hitler«, während die Kamera immer wieder Magda Goebbels Gesicht scannt, die selbstzufrieden ihre Kinder vorführt. Der Kindermord wird vorbereitet, indem Magda Goebbels den Leibarzt Hitlers dabei beobachtet, wie er in einem provisorischen Labor unter Lampenlicht silbrige Flüssigkeiten mischt. Als sie den Raum betritt, um den Kindern das Schlafmittel einzuflößen, erscheint sie in einem blutroten Kostüm, schwarzer Bluse und metallisch glänzender Kette, mit blassem, unbewegtem Gesicht und leuchtend rotem Lippenstift, während die weißen Nachthemden der Kinder deren Wehrlosigkeit, Opferstatus und ihre Unschuld markieren. In schockie­rend wirkenden Nahaufnahmen dokumentiert die Kamera die unheimliche Verwandlung der Mutter zum Vampir, von mütterlicher Fürsorge zu unbarmherziger Gewalt, als Magda Goebbels ihre älteste Tochter zwingt, das Schlafmittel einzunehmen. Als sie dann jeweils nacheinander die Zyankalikapseln zwischen den Zähnen der einzelnen betäubten Kinder zerdrückt, erzeugen die wenigen und weichen Filmschnitte einen gedehnten Handlungsverlauf. Der Vorgang wiederholt sich bei jedem Kind, dann zieht Magda Goebbels die weißen Bettlaken über ihre Gesichter, worauf die Kamera auf den nackten Kinderfüßen verharrt, die wie auf einer Leichenbahre die Kinder als tot ausweisen. Diese besonders lang gestaltete Szene mit dem Schwerpunkt auf der sechsfachen Wiederholung des grauenerregenden Kindermords greift erneut Märchenelemente auf: Die Zahl Sechs gilt als eine unvollendete Sieben und symbolisiert zumeist eine Rebellion des Menschen gegen Gott und Natur. 51 »An Farben nennt das Märchen gerne rot, weiß und schwarz, daneben golden und silbern. Letzteres ist schon ein Hinweis auf seine Freude am Metallischen«, resümiert Max Lüthi 51 Heinlein, Stefan: Christliche Zahlensymbolik und ihre Chiffrierung in der alten Kunst. In: Magie der Zahl. Ausstellungskatalog. Staatsgalerie Stuttgart 1997, S. 291 – 303. Die Zahl Sechs deutet auf Unvollkommenheit hin und steht für die »gefallene« Welt und die Zeit (2. Mose 21,2; 4. Mose 35,15). Die Sechs besitzt jedoch auch die Bedeutung des gegen Gott und sein Volk rebellierenden – die Sieben nicht erfüllen wollenden – Menschen (2. Samuel 21 und 22).

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in seinem 1962 erschienenen Klassiker »Märchen«, als ob es sich dabei um eine Rezension von »Der Untergang« handele. 52 Diese visuellen Anspielungen auf das Märchen und auf den Horrorfilm konstruieren in »Der Untergang« Geschichte als einen nach festem Muster ablaufenden rituellen Zyklus. Während die Klaustrophobie im Bunker durch oberirdische Kampfszenen unterbrochen wird, erlaubt an dieser Stelle die Kamera dem Zuschauer keinerlei Ausflucht aus dem Raum, in dem die hilflosen Kinder auf Gedeih und Verderb einer entmenschlichten Mutter ausgeliefert sind. In ihrer vampiristischen Erscheinung wird Magda Goebbels zur Horrorfigur stilisiert, die gerade in der Umkehrung des Prozesses der Sentimentalisierung der monströsen Vaterfigur Hitler derselben gegenüber bzw. an die Seite gestellt wird. Die ihre Kinder verschlingende bzw. tötende Mutter besitzt als Archetypus in den westlichen Kulturen eine lange Tradition, die auch im Horrorfilmgenre fest etabliert ist. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang darauf, dass der Produzent und Drehbuchautor Bernd Eichinger nicht nur den Horrorfilm »Resident Evil« (2002), sondern auch Wolfgang Petersens »Das Boot« (1981) mitproduzierte: zwei Filme, deren klaustrophobische Enge als Markenzeichen gilt. In seiner genderspezifischen Projektion der sich zur Personifikation des Bösen wandelnden Mutter in Parallelsetzung zu dem sich in seinen Schwächen, aber auch Freundlichkeiten von einer menschlichen Seite zeigenden Hitler gewährt »Der Untergang« eine Humanisierung und Normalisierung der Monstrosität Hitlers sowie des durch ihn und seine Schergen verursachten Horrors. Zu gleichen Teilen wie die dramatisch-emotionale Überhöhung, die an den Charakter von Magda Goebbels geknüpft ist, eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Verantwortung für das Dritte Reich verhindert und Distanz erzeugt, entlastet die zur Identifikation einladende Perspektive der jungen Traudl Junge von Schuld und Verantwortung, indem sie die Naivität der Protagonistin betont und deshalb auf deren Schuldlosigkeit pocht. Die unterstützende Wirkung der Rahmenhandlung, in der die reale Traudl Junge dazu beiträgt, Hitlers letzte Tage im Bunker und damit das Ende des Zweiten Weltkriegs in das Reich der Märchen zu verweisen, wird besonders signifikant am Ende der Binnenhandlung des Films. Die fiktive junge Traudl versucht nicht nur, aus Hitlers Bunker zu fliehen, sondern auch vor den Russen, die Berlin umzingeln. »Nicht in die Augen schauen«, lautet daher General Mohnkes Rat. Zu diesem Zeitpunkt im Film sind die Goebbels-Kinder bereits ermordet, Magda Goebbels erschossen, Eva Braun vergiftet, die Köchin Constanze Manziarly unauffindbar und die Sekretärin Gerda Christian zu schwach, um zu fliehen. Damit ist Traudl Junge das Final Girl des Horror-Slasher-Films, deren symbolische Reinheit laut Clover die Voraussetzung für ihr Überleben innerhalb der narrativen Ökonomie des genderspezifischen Horror-Slasher-Films darstellt. Indessen die »unschuldigjungfräuliche« Traudl, deren Ehe mit dem SS-Offizier Hans Hermann Junge 52 Lüthi, Max: Das Märchen. 11. Auflage. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2004.

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der Film vollkommen ausspart, auf ihrer anschließenden Flucht zu vermeiden versucht, den Russen »in die Augen zu schauen«, werden auch dem Zuschauer nur verschwommene, kurze Blicke auf Körper in Bewegung und junge Gesichter zugestanden. Obgleich Eichinger vor allem die handgeführte Kamera dafür verantwortlich macht, dass der Film »Authentizität atme«, dient sie im Kontext der hier besprochenen Szene der Etablierung des Subjektiven – eines der Markenzeichen des Horror-Slasher-Films, der dem Final Girl als einem der wenigen Charaktere die Gelegenheit einräumt, Grauen, Angst, Gefühle und Gedanken aus dessen subjektiver Sicht darzustellen. Das bedrohliche und lüsterne Starren der handgeführten Kamera erinnert an die sogenannte »asiatische Bedrohung«, die während des Historikerstreits im Jahr 1986, von konservativen Historikern wie Ernst Nolte initiiert und von Joachim Fest verteidigt, als Mechanismus etabliert worden war, um von deutscher Verantwortung abzulenken. 53 Die unstete Kameraführung sowie die schnellen und harten Schnitte intensivieren exponentiell die Gefahr und den Schrecken, die der Film mit den russischen Soldaten assoziiert. Als Traudl dann aber doch einem betrunkenen, jungen Russen in die Augen schaut, nimmt der verwaiste Hitlerjunge Peter Kranz sie schnell und entschlossen bei der Hand, zieht sie durch die Truppen, und verleiht ihr damit diejenige mütterliche Aura, die ihr dazu verhilft eine etwaige Vergewaltigung abzuwehren. Der Film evoziert auf diese Art und Weise nationale Ängste, die über eine genderspezifische Metaphorik ausgedrückt werden: Die drohende Vergewaltigung symbolisiert die Niederlage einer Nation als eine Realität des Krieges, indem über die Körper der Frauen der besiegten Nation willkürlich verfügt wird. 54 In der deutschen Kultur kreisen solche Ängste um den Begriff von der »deutschen Heimat«, die besonders in Kriegszeiten als eine weibliche vorgestellt wird. 55 Die letzten Szenen in »Der Untergang« bedienen diese nationale Fantasie von der Heimat als sentimentalen und libidinösen Kern dessen, was während des Krieges um jeden Preis bewahrt werden musste. 56 Traudls Transformation von der jungfräulichen zur mütterlichen Präsenz entfaltet die »deutsche Heimat« 53 Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Hrsg. von Rudolf Augstein, Karl Dietrich Bracher und Martin Broszat. München/Zürich: Piper 1987, S. 43 – 45. 54 Kosta, Barbara: Rape, Nation, and Remembering History. In: Gender and Germanness. Hrsg. von Patricia Herminghouse und Magda Mueller. Oxford/New York: Berghahn Books 1998, S. 217 – 234. Ebenso McComrick, Richard: Rape and War, Gender and Nation, Victims and Victimizers: Helke Sander’s BeFreier und Befreite. In: Camera Obscura 46, Nr. 16, H. 1, 2001, S. 98 – 141. 55 Ecker, Gisela (Hrsg): Kein Land in Sicht – Heimat weiblich? München: Fink 1997. 56 Rancod-Nilsson, Sita/Tétrea, Mary Ann (Hgg.): Women, States, and Nationalism: at Home in the Nation? London: Routledge 2000, S.68. Ebenso: Sielke, Sabine: Reading Rape: The Rhetoric of Sexual Violence in American Literature and Culture, 1790 – 1990. Princeton: Princeton University Press 2002, 2 – 12.

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als eine gänzlich unversehrte Vorstellung von einer allenthalben gefährdeten Nation. Als Traudl und Peter an einem sonnigen Maimorgen mit dem Fahrrad durch einen frühlingshaften Wald radeln, mobilisiert der Film noch einmal die nationale (Wunsch-) Vorstellung, die die kritische Analyse zugunsten von emotionalem Mehrwert und epischer Größe abgewehrt hat. Wenn, als Abschluss der Rahmenhandlung, die achtzigjährige Traudl Junge in einem prätentiös wirkenden, unpersönlichen und doppelten Konditionalsatz schließlich zugesteht, »dass man vielleicht hätte auch Dinge erfahren können«, besitzt diese mehrfach gebrochene und mildernd distanzierte Selbstkritik nicht das notwendige Gegengewicht zur de-realisierten und spannungsgeladenen, komprimierten Haupthandlung, in der das Schicksal und die Schicksalsschläge die Akteure vorantreiben und schließlich zu Fall bringen. IV. Zusammenfassung »Der Untergang« lenkt die deutsche Verantwortung für das Dritte Reich in eine genderspezifische Fantasie von Geschichte als eine horrible Falle um, die ein Heldentum ohne Helden produziert. Der Film bedient sich dabei eines reichen, kulturellen Repertoires an weiblichen Archetypen, die den Nationalsozialismus als rätselhafte Monstrosität und das im Untergang begriffene Deutschland als Wunschvorstellung eines Final Girl typisieren: Nachdem Magda Goebbels als mörderische »Mutter Deutschland« ihre eigenen Kinder »gefressen hat«, läutet die sich selbst von Schuld freisprechende Traudl Junge als »jungfräuliche Heimat« die »Stunde Null« ein. Warum aber sollten wir uns einen solchen Film wie »Der Untergang« anschauen? Seine Strategien genderspezifischen Horrors geben darüber Auskunft, auf welche Weise die deutsche Kultur nach der Wiedervereinigung ihre Vergangenheit erinnert. Doch die Parameter für ein solches Erinnern sind im Umbruch begriffen. »Deutsche Untergänge« der Vergangenheit können den heutigen Zuschauer in Deutschland und anderswo nur noch dann für Geschichte begeistern, wenn sie Elemente des Horrors, der Hochspannung und des Histotainment beinhalten und ihnen damit ein Flair des Unwahren verliehen wird. Über diese De-Realisierungs- und Ästhetisierungsprozesse wird ein Diskurs der Macht der Geschichte etabliert, die Täterschaft reduziert und Opferrollen und Geschlecht definiert und auf diese Weise neue problematische Modi historischer Bedeutungszuschreibung produziert und vermittelt.

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Im Dezember 2009 feierte Ulf Poschardt in der »Welt« zwei zur Millenniumswende erschienene Bücher als das »Ende der linksintellektuellen Definitionsmacht«. Mit dem von Joachim Bessing herausgegebenen »Tristesse Royale«Band und Florian Illies’ »Generation Golf« sei »die Auflehnung bürgerlich« und »eine Wende [eingeläutet]« worden, »deren gesellschaftliche Früchte heute auf der Kabinettsbank sitzen«, in Gestalt der Familienministerin Kristina Köhler und des Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg. Die (seinerzeit) jüngsten Regierungsmitglieder dürfen demnach als geistige Erben einer Literatur gelten, die die »denkbar schärfste Opposition zum politischen, gesellschaftlichen und ästhetischen Mainstream« formuliert habe, das heißt zum – man kann’s nicht oft genug betonen – »linksliberalen Kulturestablishment« respektive zur »links­intellektuellen Hegemonialmacht«. 1 Symptomatisch an solchen Phantasien ist zum einen die fixe Idee, die Berliner Republik habe unter der Knute der Political Correctness gelitten (als sei linksliberale Meinungshegemonie hierzulande je mehr gewesen als ein Zwischenspiel Anfang bis Mitte der siebziger Jahre). Eine im neoliberalen Diskurs beliebte Grille, die es ermöglicht, genehme Positionen als Provokation zu verkaufen, und die sich, was ihren Gratismut betrifft, als selbsterkenntnisimmun erweist. So schreibt der Laudator dem gerühmten Literaturtyp eine »Denkauflehnung« zu, um im gleichen Atemzug festzustellen, dass er aus der politischen »Mitte kam« 2 – um die besagter Mainstream offenbar einen großen Bogen macht. Noch interessanter aber als die eigenwillige Logik ist die von Poschardt für die Achse Bessing-Illies-Schröder-Guttenberg gewählte Bezeichnung: »die Popliteratur«. 3 Niemand wird eine Affinität zwischen den genannten Autoren und Jungpolitikern bezweifeln, zumal ein Kommentar von Frau Schröder sie rührend bestätigt (»Auch in meiner Kindheit waren Nutella, ›Wetten, dass?‹ 1 Poschardt, Ulf: Popliteratur. Die Generation Golf macht jetzt Politik. In: Welt Online, 14.12.2009. — www.welt.de/kultur/article5524297/Die-Generation-Golf-macht-jetztPolitik.html [Zugriff: 25.09.2011] 2 Ebd. 3 Ebd.

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und Pelikan-Füller bestimmende Themen – mit entsprechender Genau-so-wares-Begeisterung habe ich ›Generation Golf‹ gelesen«). 4 Umso zweifelhafter ist die feuilletonistische Neigung, Bessing und Illies als Repräsentanten der PopLiteratur schlechthin zu erinnern, nicht etwa einer bestimmten Spielart, also den Begriff für jungkonservative Banalitäten in Beschlag zu nehmen. Mit der beiläufigen Vereinnahmung spitzt sich ein der Forschung vertrautes Problem zu. In den neunziger Jahren, stellte Thomas Ernst schon vor längerem fest, begann der Begriff Pop-Literatur zu kippen. »War er bislang das Programm einer Außenseiterszene, […] so ging nun der rebellische Gestus verloren.« 5 Und weiter: »Die neue Popliteratur ist nicht mehr wütender Protest gegen die Verhältnisse, sondern angenehmer Begleitsound der Berliner Republik.« 6 Seither, so eine spartenübergreifende, übers literarische Feld hinausreichende Beobachtung von Diedrich Diederichsen, »ist Pop als – von verschiedenen Seiten unterschiedlich besetzter – zeitdiagnostischer Dummy-Term im Einsatz«. 7 Neu an Reminiszenzen à la Poschardt scheint nun lediglich, den Begriff noch eine Idee weiter zu biegen: die Sekundärtugend des Rebellischen durchaus, aber eben für die konformsten Autoren reklamieren, nebenbei alte Rechnungen begleichen (»Nicht die Punks, sondern die Popper waren die Provokation der späten 70er Jahre«) 8 und dem Regierungspersonal Kühnheit andichten. Wobei die Biegung in einer Hinsicht vertretbar ist – Guttenberg, wissen wir heute, kann als Pop-Literat gelten, da die Copy-and-paste-Technik seiner Dissertation von Ferne an das Cut-up-Verfahren William S. Burroughs’ gemahnt. Aber im Ernst, das semantische Hauptproblem besteht nicht im ›Verpoppen‹ alerter CSU-Politiker, der Dienstleistung des journalistischen für das politische Feld. Es besteht nicht einmal darin, dass neoliberal geeichte Feuilletonisten Pop-Literatur für sich entdeckt haben. Ist Pop »als labile kulturelle Formation« verstehbar, »die sich als ein variierender Verbund aus jeweils ganz spezifischen Pop-Songs, Kleidungsmoden, Filmen, (Selbst-)Inszenierungspraktiken und bisweilen auch subkulturellen Ideologien in wechselnden Filiationen immer wieder von neuem konstituiert«, 9 so bringt sie naturgemäß auch Varianten ohne subkulturellen Einschlag hervor sowie Beobachter zweiter oder dritter Ordnung, die diese favorisieren. Kritikwürdiger als die Extension des Begriffs, so bizarre Züge sie auch annimmt, ist mittlerweile eine faktische Verengung. Die Gleichsetzung 4 5 6 7

Zit. n. ebd. Ernst, Thomas: Popliteratur [2001]. Hamburg 2005, S. 8. Ebd., S. 75. Diederichsen, Diedrich: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln 1999, S. 274. 8 Poschardt, Popliteratur, 2009. 9 Schäfer, Jörgen: Pop und Literatur in Deutschland seit 1968. In: Arnold, Heinz Ludwig/Schäfer, Jörgen (Hgg.): Pop-Literatur. Sonderband Text + Kritik. München 2003, S. 14.

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von »Generation Golf« und Pop-Literatur läuft darauf hinaus, die Erinnerung an tatsächliche subkulturelle Traditionen Letzterer verblassen zu lassen. Verstärkt wird dieser Effekt durch ein unbewusstes Zusammenspiel konfligierender Gruppen im journalistischen Feld. Die Fraktion, der an der jüngeren PopLiteraten vor allem die Ablehnung politischen Moralisierens gefällt, überschätzt in ihrer Begeisterung für die literarischen Mitstreiter deren Innovationswert, wie Poschardts Rekonstruktion der literarischen Situation von 1999 verrät: »Vier Jahre nach Christian Krachts Roman ›Faserland‹, in dem ein Wort wie SPD-Nazi in die Gegenwartsliteratur eingeführt wurde, und ein Jahr nach Benjamin von Stuckrad-Barres Debüt ›Soloalbum‹ wurde dem Kulturestablishment klar, dass diese neue, ziemlich angelsächsische Denk- und Lebensart bleiben und eine Leserschaft finden würde, die nicht länger Walser, Grass und Böll lesen wollte.« 10 Natürlich war weder die Aneignung angelsächsischer Impulse originell 11 noch gar der Aufstand gegen den Geist der Gruppe 47. 12 Am wirkungsvollsten marginalisiert man die Pop-Literatur 13 der sechziger und achtziger Jahre, indem man, und sei es nur aus Ahnungslosigkeit, zwei ihrer wesentlichen Merkmale kurzerhand den neunziger Jahren zuschlägt. Doch auch die Verächter der neueren Autoren machen es sich mitunter zu einfach. So etwa, wenn sie ein berüchtigtes Zitat von Stuckrad-Barre: »Die Besonderheit am Adlontoilettenpapier ist der Winkel, in dem das abgeknickte Ende der Toilettenpapierrolle mit der Adlon-Vignette fixiert ist. Der entspricht nämlich haargenau dem des aufgedeckten Plumeaus«, 14 zum Anlass nehmen, ein generelles Sündenregister der Pop-Literatur zu erstellen: vernarrt in die Sensationen der Oberfläche, blasiert, antimoralisch, kritisch nur gegenüber den Kritikern, markthörig. Kurz, »Pop ist natürlicher Bestandteil des neoliberalen Weltbildes«. 15 Solch allgemeine bzw. Kurzschlüsse zu ziehen heißt, die inkriminierten Eigenschaften zumindest implizit auf die Texte vor 1989 10 Poschardt, Popliteratur. 2009. 11 Vgl. Brinkmann, Rolf Dieter: Die Piloten. Köln 1968. 12 Vgl. ders.: Angriff aufs Monopol [1968]. In: Wittstock, Uwe (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig 1994, S. 65 – 77; zuvorderst aber: Goetz, Rainald: Subito [1983]. In: Ders.: Hirn. Frankfurt/M. 1986, S. 9 – 21, bes. S. 19 (vgl. den Schlussteil meines Textes). 13 Weit und doch prägnant genug definiert von Schäfer: Pop und Literatur. 2003, S. 15: »[…] sie befasst sich mit den von Pop-Musikern, Filmemachern, Werbegrafikern, Produktdesignern oder Comiczeichnern gestalteten ›Prätexten‹. […] Sie erhebt keine kulturkritische Anklage gegen die ausufernde Zeichenproduktion der populären Kultur – die ja doch wieder nur die inkriminierte Realität der Massenmedien bestätigen würde –, sondern nutzt sie als Ausgangsmaterial des literarischen Schreibens.« 14 Zit. n. Bessing, Joachim et al.: Tristesse Royale. Das Pop-Kulturelle Quintett. Berlin 1999, S. 17. 15 Assheuer, Thomas: Im Reich des Scheins. Zehn Thesen zur Krise des Pop. In: Die Zeit, 11.4.2001.

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rückzuprojizieren, ohne dass die Konstanten belegt würden. Ob sie tatsächlich bestehen, wäre schon deshalb interessant zu erfahren, weil sie, wenn ja, den Distinktionswert der neueren Varianten schmälerten. Die Tatsache, dass Verehrer und Verächter politisch gegenläufig werten, verdeckt ihre Gemeinsamkeit, Pop-Literatur auf die neunziger Jahre zu zentrieren und daher im Zeichen des Neoliberalismus zu homogenisieren. In beiden Fällen – so mein Argument – wird zu stark vereinheitlicht. Grund genug, im Folgenden eine Kategorie stark zu machen, mit der sich neben Kontinuitäten auch Binnendifferenzen deutscher 16 Pop-Literatur erhellen lassen: den Geschmacks­ terrorismus. Darunter verstanden werden sollen in erster Linie apodiktische Bewertungen pop-kultureller Erzeugnisse, ferner ein tatsächlich oder auch nur prima vista geschmäcklerischer Umgang mit buchstäblichem Terror. Verfolgen wir, wie sich unter diesem Gesichtspunkt literarische Auftritte der neunziger zu denen der achtziger Jahre verhalten und wie die westdeutschen sich in Kontrast zu einem ostdeutschen darstellen. 1. Was man noch hören kann In der 1999 erschienenen Erzählung »Am kürzeren Ende der Sonnenallee« des Ostberliners Thomas Brussig geht es um eine Clique von DDR-Jugendlichen, die sich Mitte der achtziger Jahre für die SED-Propaganda nicht im geringsten interessiert, dafür umso mehr für Mädchen und Pop-Musik. Für die Protagonisten um Micha und Wuschel ist Pop das Medium einer antistaatlichen, wenn auch nur im Verborgenen blühenden Renitenz. Besonders schätzen sie einen Song dann, wenn es heißt, er sei verboten; hoch im Kurs stehen folglich die Rolling Stones, denn die »[waren] von vorn bis hinten verboten«. 17 Entsprechend gewinnt Brussig dem Motiv der Stones-Verehrung am Ende der Erzählung einen der Handlungshöhepunkte ab: Als Micha und Wuschel versuchen, einen Liebesbrief von Michas Schwarm Miriam aus dem Todesstreifen zu ziehen, werden sie von den Grenzsoldaten entdeckt, und diese eröffnen das Feuer. Wuschel wird getroffen, bleibt regungslos liegen. »Wo sein Herz war, hatte der Einschuss die Jacke zerrissen.« Plötzlich aber rappelt sich der vermeintlich Tote wieder auf. Erklärung: Unter der Jacke 16 Streng genommen müsste es heißen »der deutschsprachigen Pop-Literatur«. Peter Glaser, um den es hier auch geht, stammt aus Graz. Ihn trotz der spezifisch österreichischen Anteile (Sprachartistik) der deutschen Pop-Literatur zuzurechnen, ist knapp zulässig, da er sich Anfang der Achtziger in der Düsseldorfer Postpunk/NDW-Szene bewegte (Literat unter Musikern) und sich sein Aufstieg als Autor der Verlagshäuser Rowohlt und Kiepenheuer & Witsch im deutschen literarischen Feld vollzog. Aus letzterem Grund wird auch der im schweizerischen Gstaad geborene Christian Kracht der dtvAutor ›eingmeindet‹. 17 Brussig, Thomas: Am kürzeren Ende der Sonnenallee [1999]. Frankfurt/M. 2001, S. 11.

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trug Wuschel das Doppelalbum »Exile on Main Street«, »die Platte war zerschossen, aber sie hatte ihm das Leben gerettet.« Die herbeigeeilten Freunde und Bekannten reagieren auf die wundersame Auferstehung ungläubig erleichtert, nur einer ist untröstlich, Wuschel selbst: »›Die echte englische Pressung!‹ schluchzte er, als er die Bruchstücke der ›Exile‹ aus dem zerfetzten Cover zog. ›Die war neu! Und verschweißt! Und jetzt sind sie beide kaputt! Es war doch ein Doppelalbum!‹« Nun wagt einer der Umstehenden zu bemerken, Wuschel verdanke doch eben diesem Umstand sein Leben, eine Scheibe allein hätte die Kugel nicht abfangen können. »›Ja doch‹, sagte Wuschel, von Weinkrämpfen geschüttelt. ›Trotzdem!‹« 18 – Die allegorische Bedeutung der Szene liegt auf der Hand. So wie die Musik der Stones dem Protagonisten buchstäblich das Leben rettete, half sie in der ›wirklichen Wirklichkeit‹ jüngeren DDR-Bürgern, ihren »Scheißstaat«, mit Leander Haußmann zu sprechen, im übertragenen Sinn zu überleben, d. h. politische Drangsalierungen durchzustehen. So jedenfalls lautet eine häufig zu hörende Sage. Indem Brussig die Motive Stonesverehrung und Mauerschüsse miteinander verschmilzt, dramatisiert er die Ausstrahlung westeuropäischer Pop-Kultur auf die Jugendlichen in der ostdeutschen Diktatur. Im Gesamtgefüge der Erzählung gibt das Stones-Motiv jedoch nicht nur zu verstehen, dass die Teilhabe von DDR-Jugendlichen an der Pop-Kultur emotio­ naler ausfiel als die ihrer westlichen Kolleginnen und Kollegen. In Brussigs Augen zeichnete sich die ostdeutschen Rezeptionsweise auch durch das weitgehende Fehlen von geschmäcklerischem Snobismus aus. Das erhellt an einer Ausnahme, die die Regel bestätigt, an der Nebenfigur des Plattendealers Kante: Der Mann mit der vielbewunderten Sonnenbrille gibt Wuschel bereits in einem der ersten Kapitel zu verstehen, warum von »Exile on Main Street«, der Stones-Produktion von 1972, wenig zu halten sei. Der Dealer schleppt mit den Westplatten, die er über geheime Kanäle bezieht und überteuert verkauft, auch die Westhaltung ein, mit der er die Ostkundschaft rituell demütigt. »Ein Interessent musste erstmal seine Bestellung abgeben, die Kante nur mit unglaublich hochnäsigen Kommentaren entgegennahm. ›Was willste denn mit Dylan? Das ist doch drüben so was von vorbei! Bee Gees? Eunuchengequake, verschwuchtelte Discoscheiße! Stones kannste vergessen, seitdem der Brian Jones tot ist.‹ […] Als Wuschel bei ihm die ›Exile on Main Street‹ bestellte, die englische Pressung, verschweißtes Cover, meinte Kante: ›Na klar, verschweißt! Denkste, ick will den Scheiß noch hören?‹« 19

Zu beobachten ist zum einen die narrative Ironie, dass Kante genau die Platte, die Wuschel so viel wert ist wie sein Leben, als wertlose Verfallserscheinung ächtet; zum anderen, dass Kante mit der Kategorie »vorbei« die »drüben« übliche, d. h. westliche Unterscheidung von hip und unhip einführt, die mit der ostdeutschen Leitdifferenz »verboten/erlaubt« inkompatible. Vor allem aber 18 Ebd., S. 143. 19 Ebd., S. 56.

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zeigt sich im weiteren Verlauf der Erzählung, dass Wuschel sowohl die merkwürdige Westunterscheidung als auch die Unterstellung von Rückständigkeit kalt lassen: Er lässt sich sein Faible für die »Exile« nicht nehmen. Aufschlussreich ist zudem, wer für Kante typologisch Pate stand. Hier hilft Haußmanns »Sonnenallee«-Verfilmung von 1997, für die Brussig das Drehbuch verfasste, insofern weiter, als sie Kante neben einem ultracoolen Habitus und der 70er-Sonnenbrille glattes, halblanges Haar mit Seitenscheitel verleiht [Abb. 1].

Durch diese Kombination ist der Plattenhändler für alle Zuschauer, die um 1990 die in den Zeitschriften »Spex« oder »Konkret« veröffentlichten Autorenfotos registrierten, als eine blondierte und ins Berlinische transponierte Parodie auf Diederichsen zu erkennen, Deutschlands einflussreichsten Pop-Journalisten. Der Film vereindeutigt visuell, worauf die spätere Romanfassung Brussigs allein durch die Art der Geschmacksurteile Kantes anspielt. Dessen Position, mit den Stones sei es nach dem Tod von Brian Jones, also bereits 1969, künstlerisch bergab gegangen, wurde von Diederichsen 1982 in dem spektakulären »Spiegel«-Artikel »Zwanzig Jahre derselbe Beat« popularisiert. Der damals 24-jährige Shootingstar aus der »Sounds«-Redaktion brachte seine Verfallsthese forciert schnöselig vor und brüskierte die Stones-Gemeinde, indem er mit den verbliebenen Stones-Chefs auch deren treues Publikum verhöhnte, ganz ähnlich wie Kante, wenn auch wesentlich elaborierter: »Jedenfalls wurden Jagger/Richards nach seinem [Jones’] Tod zu den redundanten Langweilern, die sie bis heute geblieben sind. Von vier, fünf Songs abgesehen, blieb ihre einzige Fähigkeit die Beherrschung eines kleinen Arsenals von Rolling-Stones-Erkennungszeichen, an denen der kadavergehorsame Stones-Fan (Stones-Fans sind eine noch schlimmere Spezies als die vielgescholtenen Dylanologen) merkt, dass die Stones immer noch die Stones sind.« 20,  21 20 Diederichsen, Diedrich: Zwanzig Jahre derselbe Beat. In: Der Spiegel, 1982, H. 22, S. 203. 21 »Ganz ähnlich wie Kante«, nicht »genau wie«: Angesichts der Wertungen, die Kante ausgerechnet zur Konstellation Stones-Jones-Dylan von sich gibt, ist die Anspielung auf Diederichsen zwar evident. »[V]verschwuchtelte Discoscheiße« allerdings wäre

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Nun könnte man pointieren, dass Wuschels Weinkrampf im Todesstreifen die Rede vom kadavergehorsamen Stones-Fan buchstäblich bestätigt. Halten wir uns aber vom Zynismus fern und etwas anderes fest: Die Kante-Figur samt ihrer Anspielung steht für eine symbolische Position, für die vom frühen Diederichsen emblematisch verkörperte Rigorosität in Fragen des Musikgeschmacks. Der ultimative Ton erscheint in der Perspektive Brussigs offenkundig als penetrant (»unglaublich hochnäsig«), doch kommt es weniger auf die Verteilung der Sympathiewerte an als auf die Sichtverhältnisse. Brussig registriert – und gerade seine westdeutschen Leser registrieren mit ihm – einen Riss. Während im Westen spezifische Geschmacksträger, die entscheiden, was man noch hören kann und was definitiv nicht mehr, Mitte der Achtziger den Ton angeben, kommen sie zur gleichen Zeit im Osten, innerhalb der Nischenkultur Pop, über eine Nebenrolle nicht hinaus. Das heißt, die Besonderheit des Verhaltens von Micha, Mario und Wuschel besteht auch in einer Unbekümmertheit. In ihrer Begeisterung für die Stones, Zappa und Led Zeppelin verschwenden sie keinen Gedanken daran, ihre Idole könnten nach Punk und New Wave schon out sein. In und out, angesagt und vorbei sind für sie keine falschen, es sind überhaupt keine Kategorien. Aus westdeutscher Sicht noch erstaunlicher ist, dass es Mitte der Achtziger immer noch darum gehen soll, »das ultimative Bluesfeeling zu ergründen«. 22 Andererseits: Verströmt derlei Ignoranz 23 nicht den besonderen Charme der Ungleichzeitigkeit und entspannter Entschleunigung? Erklärbar jedenfalls ist sie, und nicht nur mit Informationsdefiziten. Wem Pop-Musik ein Zeichen der Abgrenzung nach außen ist – vom Staat und seinem FDJ-Gesang wie auch von Ostsongs, die einem als Surrogat angedreht werden – 24 – der kommt gar nicht erst auf die Idee, ausführlich über interne Qualitätsunterschiede zu räsonieren oder gar zu streiten. Im Gegenteil, der Erzähler berichtet ausschließlich vom Glück Gleichaltriger, dieselbe Musik zu hören, dieselbe Musik gut zu finden, 25 selbst wenn man einander wildfremd ist. Anders im Westen. Wo seit den späten sechziger Jahren kein nennenswerter Repressionsdruck mehr besteht, bauen Diederichsen und »Sounds«-Kombattanten 26 am Ende der sozialeinem Autor, der Homophobie stets als trübe im Allgemeinen, »Rockismus« im Besonderen ablehnte und große Discoplatten wie die von Chic (»Le Freak«) gerade Anfang der Achtziger würdigte, wohl kaum über die Lippen gekommen. 22 Brussig, Sonnenallee. 2001, S. 47. 23 Nicht nur Diederichsen, auch »Benjamin v. Stuckrad-Barres Protagonist [in »Soloalbum« – M. J.] nähme derartige Musikpräferenzen möglicherweise fassungslos zur Kenntnis«: Gansel, Carsten: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur. In: Arnold/Schäfer, Pop-Literatur. 2003, S. 250. 24 Vgl. Brussig, Sonnenallee. 2001, S. 24: Als in der Schuldisco ein Ostsong ertönt, leert sich die Tanzfläche »schlagartig« – ein Zeichen stillen Einverständnisses aller Anwesenden. 25 Vgl. ebd., S. 10, 58. 26 Wie Olaph-Dante Marx, (der schon etwas ältere) Alfred Hilsberg, Peter Glaser und Peter Hein.

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demokratischen Ära aus Unlust an grenzenloser Toleranz eine Position auf, die interne Qualitätsunterschiede scharf markiert. Das ist eine Haltung, die Pop weniger als kohäsive, gemeinschaftsbildende Kraft versteht denn als Entzweiungsmechanismus, als Terrain permanenter Distinktion, auf dem man sich mit dem Benennen der eigenen Präferenzen, etwa der Angabe seiner fünf Lieblingsbands, stets noch und mit Genuss über (vermeintlich) schlechten und/oder rückständigen Geschmack lustig macht: Wenn Kohäsion, dann nur in einer kleinen In-Group. Die Freude an ästhetischer Diskriminierung, von »Sonnenallee« als Zeugnis ostdeutscher Pop-Literatur mit einem quasi ethnologischen Seitenblick erfasst, zählt in Westdeutschland seither zu den charakteristischen Merkmalen des öffentlichen Sprechens über pop-kulturelle Zeichen. Sie verbindet Autoren wie Diederichsen, Peter Glaser und Rainald Goetz, die Newcomer der achtziger Jahre, mit den wichtigsten der neunziger, Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht. Diese einfachste aller Gemeinsamkeiten – auf die Unterschiede kommen wir noch – sei hervorgehoben, da eine der maßgeblichen Studien zur deutschen PopLiteratur die programmatische Intoleranz in Geschmacksfragen unterbelichtet. Moritz Baßler bietet mit »Der deutsche Pop-Roman« (2002) einen überaus kundigen und furios geschriebenen Überblick zur Pop-Literatur der Neunziger. Anfechtbar aber ist seine Prämisse, die primäre Funktion der Pop-Literatur bestehe im Dokumentieren, Katalogisieren und Archivieren der Massen- und Medienkultur. Fraglos wird mit enzyklopädischem Eifer gesammelt in den Texten der Neunziger: Listen von Lieblingssongs und Redensarten, von Markennamen und Filmtiteln, ja von »Bild«-Zeitungs-Sprüchen sind verbreitet. Ebenso einleuchtend ist, die kulturökonomische Argumentation von Boris Groys fruchtbar zu machen, d. h. zu unterstreichen, dass das Auflisten von scheinbar Banalem die Grenze zwischen den im kulturellen Archiv gespeicherten Gütern und dem profanen Raum destabilisiert. »Der profane Raum dient als Reservoir für potentiell neue kulturelle Werte, da er in Bezug auf die valorisierten Archivalien der Kultur das Andere ist«. Kulturelle Archive »[nehmen] das Neue notwendigerweise in sich auf und [ignorieren] das Nachahmende«, 27 nur so können sie fortbestehen. So erklärt sich auch, warum eine Spezialistin fürs Archiv, die Germanistik, sich mit Pop-Literatur befasst. Was die These von den »neuen Archivaren« indes bagatellisiert, ist der Kampf um die Definition des für wertvoll erachteten Neuen. So kommt in den Geschmacksäußerungen des oben genannten Autorenquintetts auf jede Aufwertung einer Erscheinung des profanen Raums eine Abwertung. Pop-Literatur funktioniert »zuallererst« als »Re-Kanonisierungsmaschine«, 28 als Inklusion des vorübergehend Profanen? Mir scheint, sie funktioniert gleichermaßen als Motor der Nicht- oder De-Kanonisierung, der Exklusion weiterhin diskriminierter oder 27 Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München, Wien 1992, S. 56, 55. 28 Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman, Die neuen Archivisten. München 2002, S. 46.

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vormals valorisierter Güter. Wenn die Abwertungen hier als Geschmacksterror bezeichnet werden, dann nicht im verschnupften Tonfall des »Spiegel«, der Stuckrad-Barre den »Amoklauf eines Geschmacksterroristen« 29 bescheinigte, da dieser Unmensch in »Soloalbum« (1998) ja nichts und niemanden gelte lasse, außer Oasis. Es geht um eine rein deskriptive Begriffsverwendung. Bourdieu bemerkte einmal, das Beharren von Künstlern auf der Reinheit ihrer künstlerischen Intention, der inneren Notwendigkeit, verkehre sich bisweilen in eine Art Geschmacksterror, wenn sie bedingungslose Anerkennung für ihr Werk fordern. 30 Dieser Befund lässt sich variieren und auf ambitionierte Kulturjournalisten übertragen: Geschmacksdiktate kommen in der Pop-Literatur besonders häufig vor, da sie zumeist von Twens stammt, für die die Durchsetzung der eigenen Präferenzen gleichbedeutend ist mit der Durchsetzung ihrer Person im literarischen und/oder journalistischen Feld. Zudem finden entschiedene Geschmacksbekundungen Anklang bei bestimmten Konsumentengruppen, die sich im Distinktionsbedürfnis des Autors wiedererkennen und die Anerkennung des geschätzten Autors faktisch durchsetzen, ohne dass dieser auf Einverständnis hätte spekulieren müssen. Hinzu kommt autorseitig eine entwicklungspsychologische, für die postadoleszente Phase zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr typische Größe: ein »euphorische(s), mitunter zur Selbstüberschätzung neigende(s) Lebensgefühl«, das einen zur Herausforderung etablierter Instanzen treibt. 31 Alles der löblichen Tugend Toleranz wenig förderliche Faktoren, die in Deutschland bereits geraume Zeit vor »Soloalbum« für eine gewisse Aufregung sorgten. Eben 1982. Dass und wie sich Diederichsen zu einem ›Zugeständnis‹ an die Stones herabließ, brachte den betroffenen Teil der »Spiegel«-Klientel, den Leserbriefen nach zu urteilen, besonders in Rage: »Aber zwischen 1965 und 1969 waren sie gut. Als Kind mochte ich sie weniger, weil sie so offensichtlich alle Ideen der Beatles, der wahren ersten Pop-Band, klauten. Aber später legte ich so langweilige Ideen wie die vom geistigen Eigentum ab. Gerade wenn sie die Beatles beklauten, waren sie am besten.« 32 Provokant neben der Plagiatsthese – der nicht einmal neuen – 33 und der vergiftet gönnerhaften Konzession war das mitgelieferte Selbstbild, nach dem man sich schon den achtjährigen Diedrich als überlegenen Connaisseur vorstellen darf, dessen Reflexionsvorsprung sich durch eine wenig später folgende Brecht-Schulung (Idee vom geistigen Eigentum ablegen) noch vergrößerte. – Die Selbstinszenierung bestand nicht allein im 29 [anonym]: Amoklauf eines Geschmacksterroristen. In: Der Spiegel. 1998. H. 37, S. 209. 30 Vgl. Bourdieu, Pierre: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt/M. 1974, S. 84. 31 Gansel, Adoleszenz. 2003, S. 38. 32 Diederichsen, Zwanzig Jahre. 1982, S. 203. 33 Nach meiner Erinnerung schon vom Blues-Musiker Muddy Waters in den Raum gestellt, von ihm in eigener Sache und abwägend (»Sie nahmen mir meine Musik und gaben mir meinen Namen«).

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betont altklugen Auftreten; verfeinert wurde sie durch den Dreh, Vorhaltungen von Altklugheit und Größenwahn, d. h. die zu erwartenden Reaktionen eines Publikums von über 35-Jährigen, zu antizipieren und zu überbieten. Vollenden lässt sich beides, indem man dem impliziten Leser seine Berechenbarkeit vorführt und dabei als Twen eine Selbstironie an den Tag legt, die für gewöhnlich Forty-somethings als ihr Vorrecht betrachten: »Ein Wort noch an die, die in diesem Text das Produkt eines Generationskonflikts vermuten. Es gibt keine Prä-Stones, Stones- und Post-Stones-Generation. Es gibt nur und wird immer geben: Beatles-Fans, die die Weisheit mit Löffeln gefressen haben, und StonesFans, denen eh nicht mehr zu helfen ist.« 34 Halb tongue-in-cheek gesprochen war, nicht ganz für bare Münze zu nehmen ist das Dementi zum Generationskonflikt, auch wenn Diederichsen eine Reihe von Hausgöttern mit deutlich oder wenig älteren Lesern teilte (Beatles/ Lou Reed, David Bowie) und, umgekehrt, Stones-Fans sich selbstverständlich auch in seinen eigenen Jahrgängen fanden. Im vorliegenden Fall mokierte sich der Jungkritiker über die Naivität der Altvorderen – die angebliche »politische Glaubwürdigkeit« der Stones sei »jedem 68er ans Herz gewachsen«. 35 Einem Generationsinteresse geschuldet zeigte sich überdies die in der Aufstiegsphase (1982 – 1985) verfolgte, zweigleisige Strategie, in den Besprechungen für »Sounds« und »Spex« den (vornehmlich New-Wave- und anderen Independent-)Bands der eigenen Alterskohorte ein Hochamt nach dem anderen auszurichten, 36 in den Gast-Artikeln für den »Spiegel« dagegen die Prophetenposition einzunehmen, mithin die kulturelle Orthodoxie zu attackieren. 37 Gleich zweimal ging der Wortführer der – von ihm selbst später so bezeichneten – Gegengegenkultur 38 daran, Jugendidole von gestern lächerlich zu machen, genauer: durchs Ridikülisieren jugendkulturell kanonisierter Größen ihre anhängliche Fangemeinde in die Vergangenheit zurückzuverweisen. Ärger 34 Diederichsen, Zwanzig Jahre. 1982, S. 203. 35 Ebd. 36 Vgl. ders.: 1.500 Schallplatten. 1979 – 1989. Köln 1989, S. 61 – 113. 37 Vgl. Bourdieu, Zur Soziologie. 1974, S. 110 – 112. Die an Max Webers Religionssoziologie angelehnte Typologie von Propheten, d. h. Herausforderern und Priestern, sprich Fürsprechern etablierter Lehren, passt grosso modo, dem Zungenschlag nach aber nicht ganz: Bourdieu neigte stets dazu, den außerhalb der Akademie auftretenden Provokateuren eine heimliche Sehnsucht nach Anerkennung durch etablierte Institutionen im Allgemeinen, der Universität im Besonderen, nachzusagen, gegen die sie vor allem deshalb rebellierten, weil sie sich von ihnen nicht ernst genommen fühlten. Nun sollte es Diederichsen in seinen Dreißigern noch zum Professor bringen. Kann man deshalb dem Zwanziger ex post Ressentiment unterstellen? Das hieße, Bourdieus standortgebundener, (allzu) professoraler Sichtweise aufzusitzen. Den Texten des jungen Diederichsen, eines entlaufenen Germanisten und Hispanisten, ist statt Ressentiment Lust am Freigesetzt-Sein anzumerken. Überraschung. 38 Diederichsen, Diedrich: Die Gegengegenkultur. In Süddeutsche Zeitung, 24.2.2001.

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noch als Stones-Anhänger traf es Verehrer(innen) eines früh verstorbenen US-Schauspielers: sie hatten 1985 boshafte Suggestivfragen zu verkraften. »Wissen Sie, wie von Haus aus dumme Menschen aussehen, die auf einer Beerdigung, auf einer wichtigen Konferenz oder anlässlich einer weltpolitischen Tragödie sich gezwungen sehen, ihre nichtssagenden Gesichter in erschütterte, nachdenkliche Trümmerfelder zu verwandeln? Ist nicht James Dean ein Typ, der mit seinem Gesicht immer hinter dem Ernst einer Lage herhechelt, die er offensichtlich gar nicht versteht? 39

Famos formuliert. Dessen ungeachtet fände der eingangs erwähnte ZynismusVorwurf gegen die Pop-Literatur in der Dean-Verhöhnung einen Anhaltspunkt. Ungewohnte Kältegrade erreichte sie, da sie nicht nur gegen das im Kulturbetrieb seit je verletzungsanfällige Postulat des De mortuis nihil nisi bene verstieß, sondern auch noch Deans legendäres Ende im Porsche benotete. »Unnötig wie die Konflikte, denen er in seinen verquälten Epen Ausdruck verlieh, war James Deans berühmter Heldentod. Unnötig und dumm. Man fährt nicht so blöd und schnell, auch dann nicht, wenn man […] früher oder später sowieso an Drogen und Alkohol und Disziplinlosigkeit zugrunde gegangen wäre.« 40 Erwähnenswert ist die Unnachsichtigkeit unter einem relationalen Aspekt. Vergleichbare Härte (aber Unwahrheit?) findet sich bei Stuckrad-Barre nicht, insofern indiziert die tantenhafte Empörung über »Soloalbum« ein kurzes Gedächtnis der Feuilletonisten. 41Gleichwohl lassen sich zwischen Diederichsen und dem achtzehn Jahre jüngeren Stuckrad-Barre, den beiden deutschen Pop-Autoren mit den größten musikjournalistischen Anteilen, relative Nähen in den jeweiligen Durchsetzungsphasen ausmachen. Sie beginnen mit stabilen Oppositionsbildungen. Der Ich-Erzähler in »Soloalbum« feiert seine Lieblingsgruppe mit der gleichen Beharrlichkeit (»›Stand by me‹ ist eher eine schlechte Oasis-Single, aber natürlich eine gute Single, weil ja von Oasis«), 42 mit der er die Toten Hosen herabwürdigt. Zu deren Konzerten, »wo gewölbte Witzshirts über Jeans quellen und der Wurmfortsatz der Bundeswehr uns das Fürchten lehrt«, 43 sollten schlechte Kabarettisten zwangsverschickt werden; 44 außerdem seien Campino und die Seinen etwas für »Verbindungswichser«, die sich ansonsten für die Zeitschrift P.M. und Stephen King-Bücher erwärmten. 45 Den Hosen kommt auf dieser Geschmacksskala jener unterste Rang zu, den 39 Ders.: Das erste sexy Knuddeltier? In: Der Spiegel. 1985, H. 40, S. 305. 40 Ebd., S. 306. 41 Selbst gehobene Printmedien teilen mit den eigentlichen Massenmedien die Einstellung aufs schnelle Vergessen. Was ein Befund Niklas Luhmanns zu den letzteren nur un­ter­streicht: Die Realität der Massenmedien. 3. Aufl. Wiesbaden 2004, S. 35. 42 Stuckrad-Barre, Benjamin von: Soloalbum. Köln 1998, S. 231. 43 Ebd., S. 243. 44 Vgl. S. 143. 45 Ebd. S. 222.

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bei Diederichsen regelmäßig U2 (einfältige Lyrics, Stadionrock) 46 und Sting (»Schleim-Pop-Melodien«, »widerlich«) 47 einnahmen. Und hier wie dort gibt der tatsächliche oder behauptete Konsumententypus ein – beim Älteren noch drastischer gehandhabtes – Argument gegen die befehdeten Künstler ab (»Heute fickt Piwitt zu Sting-Solo-Platten«). 48 Damit soll das Geläufige nicht geleugnet werden. Natürlich ist StuckradBarres Ich-Erzähler primär an Nick Hornbys Held in »High Fidelity« (1995) angelehnt, gleichen sich die Ausgangssituationen (Schreibanlass: PlattenAficionado kommt die Freundin abhanden) und pflegten schon Rob Fleming und seine Kumpane den musikalischen Selbstabgrenzungskult. Die Position der Plattenhändler, Männer sollten sich davor hüten, »mit einer ins Bett zu springen, die sich später als jemand entpuppt, der sämtliche Platten von Julio Iglesias besitzt«, 49 könnte auch der deutsche Ich-Erzähler unterschreiben. Achten wir aber auf einen Unterschied des Zungenschlags. Das Ich in »Soloalbum« reflektiert zwar das Kardinalproblem aller, die sich qua Musikgeschmack abheben wollen. Die rasche ›Mainstreamisierung‹ hochwertiger, zunächst nur wenigen Insidern bekannter Werke bringt es mit sich, dass schließlich auch Unsympathen Gutes hören und man deshalb respektable Künstler nicht für trübe Kundschaft haftbar machen darf: »Dann ist ja vielleicht doch die Musik doof? Ist sie natürlich nicht.« 50 Diese Einsicht 51 tangiert jedoch nicht die Grundüberzeugungen, wonach schlechte und gute Pop-Musik klar unterscheidbar sind, schlechte ihre Konsumenten disqualifiziert und entschiedene Diskriminierung der als schlecht erachteten geboten ist. Das Aburteilen reißt nicht ab (»Abiturienten« hören naturgemäß »saudoofe ›Crossovermusik‹«), 52 und es existiert keine Erzählinstanz, die es problematisierte. Der implizite Autor in »High Fidelity« dagegen lädt dazu ein, Geschmacksdiktate zu belächeln. Eine seine Figuren führt er regelrecht vor: Barry, der eigentliche Hardliner in Robs Plattenladen, der einen zahlungswilligen Stevie-Wonder-Interessenten demütigt und vergrault, 53 die Kompromisslosigkeit bis zur Geschäftsschädigung treibt, erweist sich, als ein Kollege seine eigene Kennerschaft in Zwei46 Vgl. Diederichsen, 1.500 Schallplatten. 1989, S. 142, 167, 172. 47 Ebd., S. 86, 234. 48 Ebd., S. 86. Zum Erzähler Hermann Peter Piwitt, Jahrgang 1935, pflegte auch der zweite Sprecher der Gegengegenkultur, Rainald Goetz, ein aversives Verhältnis, das nicht nur vom Ekel vor einem misogynen Ausrutscher Piwitts (vgl. Goetz, Hirn. 1986, S. 91 f.) herrührte. Der ganze Habitus des Alt-Linken missfiel der Pop-Linken, besonders wohl der als bräsig empfundene, kulturelle Anti-Amerikanismus. Gegen den politischen hatte man zu Zeiten Ronald Reagans nichts einzuwenden. 49 Hornby, Nick: High Fidelity [engl. 1995]. Köln 1996, S. 120. 50 Stuckrad-Barre, Soloalbum. 1998, S. 211. 51 Dazu allein Gansel, Adoleszenz. 2003, S. 250. 52 Stuckrad-Barre, Soloalbum. 1998, S. 93. 53 Vgl. Hornby, High Fidelity. 1996, S. 59.

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fel zieht, als Mimose: »Seit wann herrscht in diesem Laden faschistische Terrorherrschaft?« 54 Bezeichnender noch die Entwicklung des Protagonisten: Die nachlassende Geschmackstrenge, vom Mittdreißiger Rob zunächst selbstkritisch als Altersschwäche wahrgenommen, 55 wird durch die Handlungsführung zur Altersweisheit erhoben. Am Ende schafft es die wieder gewonnene Partnerin, Laura, ihren Rob mit einem ausgesprochen sympathischen Ehepaar bekannt zu machen, das sich im Lauf eines netten Abends als Tina-Turner-affin outet. Worauf Lauras List abzielte, tritt ein; Rob muss ein Feindbild aufgeben und widerwillig einräumen, dass »nicht was du magst, sondern wie du bist entscheidend sein könnte.« 56 Der Abschied vom Rigorismus als Reifezeugnis: 57 Solche Wertungssteuerung käme Stuckrad-Barres Ich wie auch Diederichsen allzu süßlich vor. In der Unnachgiebigkeit ein Zeichen von Idiosynkrasie oder Borniertheit zu sehen hieße, ihre soziale Logik zu verkennen. Anders als der ehemalige Lehrer Hornby, der die Haltung seiner späten Jugend – an Rob delegiert –als Marotte einstuft, auf die man als Enddreißiger nachsichtig zurückblicken sollte, haben Pop-Journalisten ein nachvollziehbares Interesse, die Maxime ›Jeder nach seiner Fasson‹ auf ihrem Terrain abzulehnen, den Streitwert in Ehren zu halten. Wie für das literarische gilt auch für das pop-journalistische Feld, dass die »Kämpfe um das Monopol der Definition der legitimen kulturellen Produktionsweise dazu bei[tragen], den Glauben an das Spiel, das Interesse an ihm und an dem, was dabei auf dem Spiel steht, fortwährend zu reproduzieren. Jedes Feld erzeugt seine eigene Form von illusio im Sinne eines Sich-Investierens, Sich-Einbringens in das Spiel, das die Akteure der Gleichgültigkeit entreißt und sie dazu bewegt und disponiert, die von der Logik des Feldes aus gesehen relevanten Unterscheidungen zu treffen (das, was für mich von Gewicht ist, von dem, was mir egal, gleich-gültig ist, zu unterscheiden).« 58

Aus Sicht der ins Spiel Investierenden erweist sich ›Toleranz‹ stets noch als Code­wort für Gleich-Gültigkeit. Auf der Unterscheidung von gutem und schlech­tem Pop-Produkt zu bestehen, stärkt, bei allem Vergnügen am Polemi­ sie­ren, sich und andere im Glauben, dass der Streit lohnt. Unabdingbar ist die illusio (nicht: Illusion, versteht sich), wenn die Anerkennung der Sphäre, deren Produkte man verhandelt, gegen approbierte Konkurrenz noch durchzusetzen 54 Ebd., S. 51. 55 Vgl. ebd. S. 61. 56 Ebd., S. 276. 57 Baßler, Der deutsche Pop-Roman. 2002, S. 108, stellt bereits summarisch fest, dass Hornby das Verhältnis zur Musik in diesem Buch »als Idiosynkrasie der Helden« darstellt. Nachzutragen war das Wie. 58 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/M. 1999, S. 360.

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ist – etwa gegen die ›Edelfedern‹ der Literaturkritik, für die das Markieren von Qualitätsunterschieden schließlich auch zum Selbstverständlichen gehört. Die Aufwertung seiner selbst und seines Gebiets gelang Diederichsen mit Texten, die zuvorderst durch Apodiktik, Denkmalsstürze und Publikumsbeschimpfung Aufmerksamkeit attrahierten. Zeitlich nachfolgende Kollegen gleich welcher Couleur sollten davon profitieren. Selbst im überregionalen oder ›bürgerlichen‹ Feuilleton räumt man Pop-Journalisten heute einen Platz ein, der vor den Einsätzen des Pioniers der Literatur, dem Theater oder der klassischen Musik vorbehalten war. 59 Nun verweist die Vorreiterrolle auf einen heuristisch heiklen Punkt: die Größenverhältnisse. Stuckrad-Barres 60 Hang zu Schmähung und Oppositionsbildung reproduziert einen Glauben an den Streitwert, den Diederichsen allererst produzierte. Während der Wegbereiter sich sein Publikum gewissermaßen erzeugte, eine allenfalls erahnbare, sich abzeichnende Nachfrage anregte statt eine bestehende zu bedienen, fand der Newcomer der mittleren Neunziger ein auf den ›DD-Ton‹ gestimmtes Publikum bereits vor. Schon der situativen Verdienstarithmetik nach besteht ein beträchtlicher Unterschied, so dass man sich fragen mag, ob die Unduldsamkeit in Geschmacksfragen als gemeinsames Drittes trägt. In puncto Stil ließe sich einwenden, dass die Klangfarbe beim frühen Stuckrad-Barre einen Stich ins Pennälerhafte aufweist (»doof«, »saudoof«), der beim Ahnherrn nie anzutreffen war – von dessen Kenntnisvorsprüngen, die die Geschmacksurteile decken, 61 ganz zu schweigen. Neben Koryphäenwissen und adornitischem Reflexionsniveau 62 zu schrumpfen ist aber keine Schande, und stilistisch teilt man zumindest den Vorzug, sich auf Polemik allein nicht zu verlassen.

59 Mit Bourdieu, Zur Soziologie. 1974, S. 109, zu sprechen: Diederichsen erhob Expertenwissen zu Pop-Produkten aus der »Sphäre potentieller Legitimation« in die »Legitimationsphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung« – wovon auch das akademische Reüssieren in den Neunzigern zeugt. 60 »Soloalbum« kennt keine nennenswerte Differenz zwischen Autor und Erzähler. Ein stilisiertes Ich schon, doch keine Rollenprosa. 61 Was genau ging den Stones mit der Alleinherrschaft von Jaggers/Richards verloren? Jones hatte z. B. »die Soundideen, die für den Unterschied sorgten, auf den es ankommt. Sein auf der Marimba getupftes Intro zu ›Out Of Time‹ ist eine glitzernde Perle auf dem ohnehin sehr gelungenen ›Aftermath‹-Album«. Diederichsen, 20 Jahre. 1982, S. 203. Bei Stuckrad-Barre fehlen nähere Begründungen von Abwertungen meistens; im Fall der Toten Hosen freilich erübrigen sie sich. 62 Vgl. etwa Diederichsen, Diedrich: Zappa allein zu Hause. In: Die Tageszeitung, 04.11.1994, eine denkbar komplexe, dem Gegenstand, Zappas erstem posthum erschienenen Werk, gewachsene und bei aller Strenge des (unterm Strich) NegativUrteils von Häme freie Besprechung, zu der sich selbst der Stones-Text wie eine gehobene Fingerübung verhält.

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Das Gegengewicht ist der Witz, der, was Stuckrad-Barre betrifft, vor allem »Remix« anreichert, die Sammlung der frühen Artikel. So steigt ein Text von 1996 zum seinerzeit erfolgreichsten deutschen Stadionrocker mit dessen nur minimal veränderten Bühnenphrasen ein: »O Mann, ihr seid die Größten, ich habe echt schon einige Texte geschrieben, aber ihr, Leser, gerade jetzt, heute, hier, ihr seid echt die Allergrößten. Ihr seid wahnsinnig, waaahnsinnig, unglaublich, diesen Text werde ich wirklich nie vergessen, danke schön, o Mann.« 63 Vielleicht nicht gerade unvergesslich, aber doch sehr gelungen ist dieser Opener, da er a) das Leitmotiv des Artikels – Westernhagens Abgleiten in klebrige Plattheiten – überfallartig anschlägt, b) die Phrasenhaftigkeit der Bühnenrede durchs Deplatzieren zur Kenntlichkeit entstellt, c) mit der Geringfügigkeit der Ersetzungen (»Texte geschrieben« statt »Konzerte gegeben«, »Leser« statt »Leute«) die Vergleichbarkeit von publizistischer und Rockperformanz vorführt, 64 d) von einem 21-jährigen Debütanten stammt, der wie ein Bühnenroutinier auftritt (»schon einige Texte geschrieben«, e) den aufdringlichen Gebrauch von Wörtern zeigenden Sprechens (»jetzt, heute, hier«) subvertiert, da ihre Deixis hier auf ein »damals« und »dort« mitverweist (zurückliegendes Westernhagen-Konzert), f) der Opener eine Schlussansprache zitiert, die Reihenfolge des Prätextes also genau umkehrt. Indem er vorgefundene Pop-Signifikanten neu rahmt und umfunktioniert, gewinnt der journalistische Text literarische Qualität, 65 zumal er entsprechend fortsetzt: »Mit 18 rannte Marius-Müller Westernhagen in Düsseldorf rum, war Sänger in ’ner Rock-’n-Roll-Band. Seine Eltern nahmen ihm das immer krumm, er sollte was Seriöses lernen, ja, ja, ja; jetzt will er zurück auf die Straße, will wieder singen – nicht schön, sondern geil und laut.« Stuckrad-Barre tauscht die erste Person Singular des Prätextes »Mit 18« durch die dritte aus, um desto effektvoller verstehen geben zu können, dass der Sänger dem lyrischen Ich des Songs von 1978 – ein sich nach street credibility zurücksehnender Rockstar – mittlerweile aufs Peinlichste gleiche: »Mit 47 nun rennt Westernhagen gar nicht mehr, er stolziert, gewandet in Armani-Anzüge.« 66 Das Spiel mit Prätexten folgt ebenfalls einem von Diederichsen gesetzten Standard. »Zwanzig Jahre derselbe Beat« begann mit einer Collage aus Songtiteln/-zeilen, die eine eher 63 Stuckrad-Barre, Benjamin von: Remix. Köln 1999, S. 292. 64 Bekanntlich sind Stuckrad-Barres Lesungen konzertähnliche Performances. Wenn vorgetragen, thematisiert der Text auch seine Rezeptionssituation, hierin »Subito« ähnelnd, Rainald Goetz’ Klagenfurt-Text von 1983. Vgl. Wegmann, Thomas: Stigma und Skandal oder ›The making of‹ Rainald Goetz. In: Joch, Markus u. a. (Hgg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen 2009, S. 210, 213. 65 Ein überzeugendes, weil nicht auf Fiktionalität fixiertes Literarizitätskriterium von Schäfers Pop und Literatur. 2003, S. 15. 66 Stuckrad-Barre, Remix. 1999, S. 292.

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schlichte R&B-Philosophie amüsant zusammenfasste. Die Stones hätten »ihren treu zu ihren Füßen gealterten Fans bestätigt, dass die Welt immer noch so ist, wie sie sich das vorstellen: Everybody needs somebody to love, aber you can’t always get what you want, daher fehlt es dir an satisfaction, doch schließlich you get what you need.« 67 Wobei die Materialparodien des Vorgängers außer dem durch Neuanordnung ridikülisierenden Zitieren auch die erlebte Rede kannten, gern einmal Figuren- und Autorenstimme zusammenklingen ließen – die eleganteste Art der Distanzierung, etwa vom Macho-Jargon jener Rockkonsumenten, die sich beim Genuss von Jaggers und Richards versicherten, »dass die Burschen da vorne es wirklich fühlen, wirklich den Blues hätten und wirklich die Weiber vernaschen, wie ihnen der Schwanz gewachsen ist«. 68 Nicht zuletzt ähnelt sich die Richtung der Geschmacksurteile. Wenn Stuckrad-Barre Westernhagen bescheinigt, auch musikalisch nur noch Phrasen anzubieten, »schnöd-regressive[n] Normalrock eines sich jaggersch Gerierenden«; 69 und, bezogen auf eine Hannoveraner Band, Attribute wie »intensiv«, »Ehrlichkeit« oder »echtes Songwriting« zu den ekelhaftesten der Musikindustrie erklärt, 70 schließt er an Diederichsens Anti-Rockismus an, eine Abneigung gegen »dumpfe Gitarrenriffs oder quengelnde Soli« wie auch, allgemeiner, verlogene Authentizitätsposen, die »reaktionär« genannte Ideen von »›echten Menschen‹, ›wahren Bedürfnissen‹ und ›ehrlicher Empörung‹« bedienten. 71 Der strenge Touch des Anti-Rockismus resultiert aus einer ex negativo (»regressiv«, »reaktionär«) angerufenen Fortschrittsvorstellung, die wertungsfreien Modellen musikalischer Evolution, nach denen sich alles nur hübsch ausdifferenziert, absagt und damit, wenn auch nur indirekt, die betreffenden Konsumenten als kulturelle Nachhut behandelt. Zugleich ermöglicht der Anti-Rockismus eine der für den Pop-Diskurs typischen Grenzüberschreitungen, hier: die Kopplung von Literatur- und Musikkritik. So wie Diederichsen 1983 den hoch ambitionierten Lyriker Wolf Wondratschek kränkte, als er ihm nachsagte, mit den »zäh wiederholten Schlüsselworten Weib, Weiberfleisch, Elend, Blut, Tod, Kälte, Verachtung« im Grunde Rolling-Stones-Texte einzudeutschen, »die

67 Diederichsen, Zwanzig Jahre. 1982, S. 203. 68 Ebd. 69 Stuckrad-Barre, Remix. 1999, S. 295. 70 Ders., Soloalbum. 1998, S. 220. 71 Diederichsen, Zwanzig Jahre. 1982, S. 203. Dem Begriff »Rockism« verhalf Diederichsen erst etwas später, im »Spex«-Umfeld, zur subkulturellen Prominenz, aufgekommen ist er ihm zufolge in England und Deutschland seit 1981 (vgl. ders.: 1.500 Schallplatten. Köln 1989, S. 12). Wie nahe Stuckrad-Barre dem Älteren terminologisch kommt, zeigt sich nicht nur am Rushdie-Verriss (s. u.). Herbert Grönemeyer lobt er 1998 (immerhin) für den Mut, »die Rockisten aus dem Studio zu werfen und den Programmierer allein schalten zu lassen« (Stuckrad-Barre, Remix. 1999, S. 138).

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ja auch entweder ›Baby, She Was Hot‹ oder ›You’re Cold As Ice‹ heißen«, 72 verreißt Stuckrad sechzehn Jahre später einen Roman Salman Rushdies: Das »rockistische Vokabular gereichte einem Jon Bon Jovi zur Ehre, und so lesen wir von ›Monster-Riffs‹, ›wahnsinnigen Schlagzeugern‹ und ›konkurrierenden Gitarren‹, Stimmen sind ›Tequila-geölt‹, die Sängerin trägt ›Lederhose und goldbesticktes Oberteil‹, sie ist – man ahnt es – eine ›Sexmaschine‹.« 73 Attraktiv sind die Kopplungen, da sie den Sinn der Leser für spartenübergreifende Abgeschmacktheit schärfen bzw. spartenübergreifendem Überdruss bei Autoren und Rezipienten zu öffentlicher Sichtbarkeit verhelfen. Allein, beim Nachfahren verselbständigen sich Anti-Rockismus und Apodiktik, sie sind aus dem politischen Kontext gelöst, dem sie bei Diederichsen angehörten. »Ich bin Kommunist«, ließ der 1985 verlauten, »weil Kommunismus, speziell der Leninismus, die einzige Weltanschauung ist, die die Macht in die Hände der Intellektuellen legt.« 74 Ein Moment der Auskunft weist zwar auf den jüngeren Kollegen voraus: das stilisierte Selbstbewusstsein. 75 Die Selbstverortung links von der Sozialdemokratie aber ist um Welten von der Einstellung Stuckrad-Barres getrennt, der, äußert er sich ausnahmsweise politisch, sozialdemokratische Gemüter von der anderen Seite aus attackiert (etwa Günter Grass noch in den späten Nuller-Jahren die Bedenken gegen die Wiedervereinigung übel nimmt, um die konservative Standfestigkeit Walter Kempowskis zu preisen). 76 Welche Folgen hat Diederichsens K-Gruppen-Sozialisation für seinen Umgang mit Pop-Kultur? Um 1980 beobachtet er, wie pluralistische Gesellschaften kraft repressiver Toleranz jeden noch so subversiv gemeinten Gedanken

72 Diederichsen, Diedrich: Ach, ist das alles verdammt männlich. In: Der Spiegel. 1983, H. 47, S. 237. 73 Stuckrad Barre, Benjamin von: Der Zettelkasten des Rock’n’Roll. In: Der Spiegel. 1999, H. 16, S. 252 f. 74 Diederichsen, Diedrich: Sexbeat. 1972 bis heute. Köln 1985, S. 38. 75 Bei Diederichsen bezog es seinen Reizwert aus dem geringen Alter des Sprechenden wie auch aus einem antizyklischen Zug. Mitte der achtziger Jahre gehörte außerhalb des Popsegments das genaue Gegenteil, der Zweifel an intellektueller Wirkungsmacht, zum guten Ton (angesagt von Hans Magnus Enzensberger: Politische Brosamen. Frankfurt/M. 1982). – Stuckrad-Barre steht Diederichsen in nichts nach, wenn er bereits mit 24 zum, wenn auch fingierten, Selbstzitat greift: »Dann geht er [Rushdie – M. J.] nach Hause und schreibt ein paar hundert Seiten, und die schickt er dann an Bono [U2], und der schickt ein Lied zurück. Das Ergebnis sind ein ›DinosaurierRockmusik-Roman‹ (Rushdie) und ein ›sicherlich außerordentlich schlechtes Lied‹ (Stuckrad-Barre) von Bono […]. (Stuckrad-Barre, Der Zettelkasten. 1999, S. 250.) 76 Vgl. Stuckrad-Barre, Benjamin von: Auch Deutsche unter den Opfern. Köln 2010, S. 31 ff.

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schwächen, da zu einer unter vielen Meinungen relativieren, 77 und wie leicht Jugendprotest absorbiert werden kann: »›Musik gegen den Wahnsinn dieser Welt‹ (CBS-Anzeige) – wenn der Slang der Alternativen mit den Slogans der Medienindustrie zusammenfällt, ist eigentlich alles gesagt.« 78 Die Antwort darauf soll nun nicht mehr die phlegmatisch defensive, die hippieske Nörgelei am »zu Kommerziellen« sein, sondern eine Umcodierung von Dissidenz. Seine Aufgabe sieht der Pop-Intellektuelle darin, einen als bolschewistische Sekundärtugend verstandenen Ton der Verbindlichkeit und des Maßregelns anzuschlagen, neben dem Rockismus sämtliche Spielarten larmoyanter und/ oder gemeinplatzhaltiger Protestfolklore harsch zu verabschieden. Dafür wertet er, mit gleicher Entschiedenheit, besonders jene New-Wave-Gruppen auf, die linksradikale Botschaften unter der Maske des Angepassten (kurze Haare, gepflegte Kleidung) und mit Lust an der von den Alternativen verschmähten Tanzbarkeit in Umlauf bringen. Von der Vereinbarung des vermeintlich Unvereinbaren konnte man sich semantische Verwirrung versprechen: das Verunsichern, wenn nicht Unterwandern von Kulturindustrie. Ironische Affirmation lautete die Parole, anti-kapitalistischer Dandy-Pop war die Idealvorstellung, erfüllt etwa von Heaven 17, deren Nummer »We don’t need that fascist groove thang« (1981) dem zerstörerischen Groove der Reagan-Regierung einen lebensbejahenden entgegengesetzt und den Konservativen den Groove entwendet habe (das Zauberwort seinerzeit). 79Es ist also ein Unterschied in der Ähnlichkeit hervorzuheben. So sehr sich die Propheten der Jahrgänge 1957 und 1975 im apodiktischen Urteil und in der Verachtung für eine abgestandene Alternativkultur gleichen – denken wir an den ewig zigarettendrehenden, in Wackersdorf-Erinnerungen schwelgenden »Hippie-Klaus« aus »Solo-Album«, dessen Schielen »vielleicht […] auch vom Zigarettendrehen [kommt]«, 80 den Widerwillen gegen etablierte Rockisten artikuliert der frühe Diederichsen unter anderen Voraussetzungen. Nicht allein, dass er das »Künstliche, Übertriebene, Spielerische, Hyperaktuelle, verwirrend Schnelle – also alles, was durch Pop-Musik herrschende Übereinkünfte erschüttert –«, gegen die »langsam[e], flau[e] und verschlafen[e]« Rockkultur schlechthin wendet, 81 während in Stu77 Vgl. Diederichsen, Sexbeat. 1985, S. 123: »Denn über uns allen thront der große Moderator, der jedem, aber auch jedem Satz entgegnet: ›Sehr schön, daß Sie ihre Meinung so deutlich formuliert haben, wir wollen jetzt einmal den Gegenstandpunkt hören.‹« Derlei Verdruss gehörte zum Wenigen, was die K-Gruppen mit den Dissenter-Marxisten der Frankfurter Schule teilten, aus deren Reihen der Begriffschöpfer der repressiven Toleranz kam (Herbert Marcuse, »Der eindimensionale Mensch«). 78 Die Coda einer Besprechung von 1981 zu »Sandinista!« von The Clash. Ders., 1.500 Schallplatten. 1989, S. 40. 79 Vgl. ebd., S. 12, 58. 80 Vgl. Stuckrad-Barre, Soloalbum. 1998, S. 26 f. Dazu auch Abschnitt 2. 81 Diederichsen, Zwanzig Jahre. 1982, S. 203.

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ckrad-Barres Vorliebe für den vergleichsweise konventionellen Oasis-Sound 82 allemal Rest-Rockismus steckt. Der Anti-Rockismus der Achtziger ist in Ton wie Zielvorstellung noch links codiert. Der ältere Geschmacksterrorist hält der Gegenkultur von 1968 ein subkulturelles Programm neuen Typs entgegen, der jüngere gar keines. (Die New-Labour-kompatiblen Oasis zählen Ende der Neunziger zum Mainstream, nicht weniger als die Toten Hosen.) In der Nach-Wende-Zeit verliert der Anti-Rockismus die subversiven Implikationen 83 – schon deshalb »Geschmacksterrorismen«, Plural. Dennoch lohnt es sich, beides zu sehen, den Unterschied in der Ähnlichkeit und die Ähnlichkeit im Unterschied. Die strikte Ablehnung alternativer Authentizitätssucht und rockischer -pose übernimmt Stuckrad-Barre von einem Autor, der sie eineinhalb Jahrzehnte früher ins Visier nahm. Das droht den Distinktionswert der eigenen Positionsnahme zu verringern; nicht von ungefähr hütet sich der Jüngere, eine seiner Inspirationsquellen offenzulegen. Die Ähnlichkeiten hier einmal anzusprechen, bedeutet nun nicht, die langweilige Idee vom geistigen Eigentum wiederzubeleben. Als Newcomer an bestimmten Haltungselementen und der Textorganisation eines Leitautors Maß zu nehmen, 84 ist völlig legitim; zumal dann, wenn sich die Barschaft eigenen Geistes sehen lassen kann – die Art der Westernhagen-Parodie ist hinreichend distinkt – und man als Titel »Remix« wählt. Nein, erinnernswert sind die verschwiegenen Nähen als Beispiel für Einflussangst (ausgerechnet ein linker Lehrmeister), zudem verweisen sie auf eine veränderte Kampfform im pop-journalistischen Feld. Als der Chefredakteur der Zeitschrift »Tempo« 1986 beabsichtigte, Diederichsen aus der dominanten Stellung zu verdrängen, verlegte er sich noch darauf, die Verbindung von Pop und Linksradikalismus als weltfremd, veraltet

82 »Definetely Maybe« (1994) ist hörenswert – aber umwerfend? Gemessen an den Soundwänden auf Sonic Youth’ »Daydream Nation« (1988)? 83 Mit der Verlaufsfigur selbst sagt man Thomas Ernst nichts Neues (vgl. Anm. 5), nur konzentriert er sich auf die Mentalitätsdifferenz zu den sechziger Jahren. 84 Kehrte nur die Ablehnung der Alternativkultur wieder, könnte man noch annehmen, dass sie, weil in den Neunzigern pop-journalistisches Gemeingut, von Stuckrad-Barre ohne Kenntnis des Vorgängers adaptiert wurde. Warum nicht von intertextueller Wanderung bestimmter Haltungselemente ausgehen, verstaubte Einflussfragen ganz beiseite lassen? Weil bereits die Übernahme der wenig verbreiteten Vokabel Rockismus für Diederichsen-Lektüre spricht (»1.500 Schallplatten«), der apodiktische Ton im Longseller »Sexbeat« gespeichert war und ein bewusster Anschluss spätestens beim Ein- und Umbau pop-kultureller Prätexte augenfällig wird. »Zwanzig Jahre derselbe Beat« mag in Stuckrad-Barres Blickfeld noch nicht aufgetaucht sein, »Frankfurt, Frankfurt, Frank Sinatra« aber, eine 1991 erstveröffentlichte, von Sinatra-Zitaten durchstrukturierte Reportage (vgl. Diederichsen, Der lange Weg. 1999, S. 197 ff.), stand für »Westernhagen« überdeutlich Pate.

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und unerträglich rechthaberisch abzustempeln. 85 Das Entthronungsunternehmen blieb erfolglos, da a) der »Oberlehrer« 86 das Scheitern der ironischen Affirmation, ihr Ende in der Beliebigkeit der Yuppies, freimütig eingeräumt und plausibel erklärt hatte (»Eine schöne Idee. Nur etwas zu kompliziert«), 87 b) politische Reinfälle ein primär auf Expertenwissen in aestheticis gegründetes Prestige unbeschädigt lassen, c) besagte Verbindung ein bis heute stabiles Interesse vor allem beim Publikum des Verlags Kiepenheuer & Witsch findet. Grundverschieden hierzu ist das Konkurrenzverhalten Stuckrad-Barres. Statt zu attackieren beerbt der jüngere KiWi-Autor die Tonlage des älteren, nur eben um den Bolshevique Chic bereinigt. Unverschämte Selbstgewissheit und Alternativenschelte haben sich schließlich schon einmal als Aufmerksamkeitsattraktoren bewährt, das Spiel mit Prätexten für ästhetischen Mehrwert gesorgt. Dass die Momente verdeckter Aneignung und die Verspätung thematisiert oder einem gar vorgehalten werden, war Ende der Neunziger und ist noch heute unwahrscheinlich. 88 Abgesehen davon, dass die interessierte Öffentlichkeit Diederichen heute einem anderen, wenn auch benachbarten Subfeld zuordnet, ihn weniger als Pop-Journalisten denn als -Professor bzw. führenden -Theoretiker wahrnimmt, tendieren die meisten Träger des deutschen Pop-Diskurses seit gut einer Dekade dazu, die Beziehungen der jüngeren Autoren zu den Vorläufern der achtziger Jahre zu invisibilisieren. Beteiligt am Vergessenmachen sind Schriftsteller, Journalisten, in einem Fall auch die Literaturwissenschaft, und es betrifft nicht nur die Beziehungen in Fragen des Musikgeschmacks. 2. Habitus und Marke Immerhin, wenn Stuckrad-Barre seiner »Tristesse-Royale«-Runde zu bedenken gibt, es sei »kein neuer Gedanke, daß die Hausbesetzer, Friedenbewegten und so weiter eher Menschen sind, die es nicht verstehen, sich so herzurichten, dass es einem gefällt«, 89 scheint das Bewusstsein eines Diskursrecyclings kurz auf. Dies hat er neben der restlichen Adlon-Truppe vor allem Illies voraus, der Krachts Erzählung von 1995, »Faserland«, zum ersten Anti-68er-Manifest 85 Peichl, Markus: Im Führerbunker der Subkultur. In: Der Spiegel. 1986, H. 21, S.  157 – 159. 86 Ebd., S. 157. 87 Diederichsen, Sexbeat. 1985, S. 128. 88 Die Gefahr, als Epigone abgetan zu werden, war am größten noch bei der Veröffentlichung des Rushdie-Verrisses im »Spiegel«, der sechzehn Jahre zuvor mit der Wondratschek-Schelte die Blaupause anti-rockistischer Literaturkritik abgedruckt hatte. Doch war das Risiko kalkulierbar – sechzehn Jahre sind eine journalistische Ewigkeit – und es überwog wohl der Reiz, sich genau in dem Magazin, das einen kurz zuvor als Geschmacksterroristen gelabelt hatte, als solcher in Szene zu setzen. 89 Zit. n. Bessing, Tristesse. 1999, S. 95.

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überhaupt erklärte: »Es wirkte befreiend, dass man endlich den gesamten Bestand an Werten und Worten der 68er-Generation, den man immer als albern empfand, auch öffentlich albern nennen konnte.« 90 »Endlich«? Illies entging, dass die Absage an »Gemeinschaftskundelehrer« und »Zigarettenselbstdreher« – so das synekdochisch gefasste Feindbild – schon die Linie von Diederichsen, Glaser und Goetz war, 91 die Grundlage ihrer temporären Allianz. Dass ein Journalist die Formation der achtziger Jahre übersieht, beim Erfinder der Generation Golf der Rückspiegel abgebrochen ist, mag man noch achselzuckend zur Kenntnis nehmen. Schwerer wiegt die Ausblendung der Gegengegenkultur in »Der deutsche Pop-Roman«, 92 der verdientermaßen auch von Literaturwissenschaftlern viel gelesenen Studie. Mit dem Übergehen der künstlerischen Generation zwischen den 68ern und den Post-89ern vergröbert Baßler die literaturgeschichtliche Periodenbildung und nimmt sich so die Möglichkeit eines heuristischen Zweischritts: den Geschmacksterror als literarische Konstan­te zu beschreiben, die die politische Zäsur von 1989 überdauert, dann die ästhetischen wie politischen Mentalitätsunterschiede zwischen den achtziger und neunziger Jahren zu benennen. Auch in der Pop-Literatur gestalten sich so genannte Einschnitte als »Parallellauf von Diskontinuität und Kontinuität«. 93,  94

90 Illies, Florian: Generation Golf. 3. Aufl. 2000, S. 155. 91 Zu den »hedonistische(n) Partisanen«, denen es darum ging, »die herrschende Innerlichkeit der sozialdemokratisch verdorbenen Siebziger in die Flucht zu schlagen«, zählt auch Thomas Meinecke (Mode und Verzweiflung. Frankfurt/M. 1998, S. 8). Als Bandleader von FSK, Journalist und, später, Erzähler: ein besonders spannender Akteur, dessen Wirken ich aus Platzgründen leider beiseite lassen muss. 92 Vgl. Baßler, Der deutsche Pop-Roman. 2002, S. 110: »Hier und heute ist StuckradBarre der Meister des Literatur-Pop, aber Christian Kracht war sein Gründungsphänomen [Hervorh. – M. J.].« 93 Ein Einwand Luhmanns gegen zäsurfixierte Kunstgeschichtsschreibung generell: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie. In: Gumbrecht, Hans Ulrich/ Link-Heer, Ursula (Hgg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt/M. 1985, S. 20. 94 Die Figur des Parallellaufs auf die Pop-Literatur zu beziehen heißt, die gegenläufigen Perspektiven zweier lesenswerter Aufsätze einmal zusammenzuführen. Frank, Dirk: Die Nachfahren der ›Gegengegenkultur‹. Die Geburt der ›Tristesse Royale‹ aus dem Geist der achtziger Jahre. In: Arnold/Schäfer, Pop-Literatur. 2003, S. 218 – 233, hebt ganz auf Kontinuität ab, den Anti-68er-Affekt; Büsser, Martin: »Ich steh auf Zerfall«. Die Punk- und New-Wave-Rezeption in der deutschen Literatur (ebd., S. 149 – 157), auf Diskontinuität, wenn auch nur in einer Nebenbemerkung: Der Hohn der »Tristesse-Royale«-Fraktion für alles Stilunsichere und Peinliche lasse »jenseits von Style- und Coolness-Regeln keinen weltanschaulichen Überbau mehr erkennen, was bei der sich als Scheinaffirmation bezeichneten Haltung von Punk und Wave durchaus möglich ist«. (S. 153) Die Beziehungen von Stuckrad-Barre und Kracht zu Diederichsen und Glaser klammern beide Aufsätze aus.

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1983: Der 26-jährige Österreicher Peter Glaser lässt in »Der große Hirnriß« sein Alter ego Heiza ein Hippielokal betreten. »Er bestellte eine Kanne Jasmintee, den er verabscheute, löffelte braunen Zucker zu, den er verabscheute, und machte ein saumselig treuherziges Gesicht, das zum Mobiliar passte und das er ebenfalls verabscheute, ein freundliches Weichholzbrett vor dem Kopf. Aus der Anlage schleppte sich Musik, die sich anhörte, als wäre sie seit drei Wochen nicht mehr gefüttert worden. Nordischer Schleichjazz, dann irgendwelcher Breirock aus der Kreidezeit. Drummer und Gitarrist mühten sich redlich um den Sound einer amoklaufenden Wurstmaschine […]. Heiza registrierte mitleidslos, wie seine Stimmung fiel. Mit Todesverachtung bestellte er ein Früchtemüsli. Er saß da in einem korrekten Flanellanzug […] und sah die anderen Gäste an. […] Am Nebentisch saß ein graublaues naturwollenes Mädchen mit einem zauberhaft arroganten Mund. Heiza, der jetzt böswillig war vor Mißlaune, machte mit den Fingern das Friedenszeichen und lächelte das Mädchen falsch und schnittig an: »Friede, Bruder«, sagte er und kniff die Augen ein wenig zusammen, ›Gibt’s hier auch Tee vom Faß?‹« 95

1998: Stuckrad-Barres Ich kommt auf einer Party mit einer »ziemlich schrecklichen Frau […] ins Gespräch. […] Ich schätze mal, über ihrem Bett hängt in DIN-A-0 der sterbende Soldat, auf dem Boden steht eine Javalampe. Sie hört gern Reggae. Scheiß Pearl Jam findet sie ›superintensiv‹, auf ihre CDs von Tori Amos und PJ Harvey hat sie mit Edding geschrieben: Women-Power rules, selbst einem Comeback von Ina Deter stünde sie aufgeschlossen gegenüber. […] allergisch reagiert sie auf die Spice Girls, die findet sie völlig scheiße. Harald Schmidt ist ein Nazi, Pippi Langstrumpf und Che kleben an ihrer Zimmertür […]. Im Sommer ist sie mehrere Wochen in Griechenland, und Herbert Grönemeyer mag sie nicht mehr so wie aber früher mal. Sie trinkt Apfelsaftschorle.« 96

In beiden Fällen machen die Autoren alternativen Geschmack – die 68er Spätlese – lächerlich, indem sie den Sinn für habituelle Korrespondenzen ansprechen. Er sagt uns, dass Vorlieben und Abneigungen in unterschiedlichsten Bereichen wie Musik, Mobiliar, Essen, Trinken und Reisen zusammengehören, ein identisches Grundmuster bilden, abgerundet durch einen bestimmten Jargon. Gerade das Systematische und dabei wohlig Geschlossene, die habitustypischen Schranken im Allumfassenden, 97 empfinden beide Autoren als Zumutung, so dass ihre Protagonisten sich eines vorgängigen Geschmacksterrors nur zu 95 Glaser, Peter/Stiller, Niklas: Der große Hirnriß. Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit. Hamburg 1983, S. 40 f. (sämtliche Heiza-Kapitel von Glaser). 96 Stuckrad-Barre, Soloalbum. 1998, S. 32. 97 Vgl. Bourdieu, Pierre: Satz und Gegensatz. Über die Verantwortung des Intellek­ tuellen, Frankfurt/M.: Fischer TB 1993, S. 26 f.: »Der Begriff Habitus bezeichnet im Grunde eine recht simple Sache; wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß instinktiv, welches Verhalten dieser Person versperrt ist.«

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erwehren glauben. Damit allerdings enden die Gemeinsamkeiten – und nicht nur, weil Heiza einen verhassten Duktus ad absurdum führt (das »Friede, Bruder« an ein Mädchen richtet), während Stuckrad-Barre, vielleicht nicht einmal bewusst, mit dem Objekt seines Missfallens zumindest die Skatologie teilt (»Scheiße«/»völlig scheiße«). Letzterer treibt die habituelle Verurteilung in den Selbstlauf, wenn er die schreckliche Frau mit dem »Ich schätze mal« vorverurteilt, ihr eine Kette von Präferenzen rein auf Verdacht zuschreibt. Und er ersetzt die nähere Beschreibung von Geschmack, indem er ihn tendenziell durch ein Namensverzeichnis abkürzt, von Pearl Jam bis Pippi Langstrumpf, im Vertrauen darauf, dass Namen signifikant genug sind und der Unterhaltungswert sich bereits durch ihre Ballung auf engstem Raum einstellt. Virtuoser ist das Verfahren Glasers, eine Mischung aus schrägen Vergleichen und Personifikationen (»Sound einer amoklaufenden Wurstmaschine«, »seit drei Wochen nicht mehr gefütterte Musik«), Hyperbeln (»Breirock aus der Kreidezeit«, »Todesverachtung«), metonymischem Attributieren (»naturwollenes Mädchen«), Verschmelzung von Interieurbeschreibung und Dummheitsmetapher (»Weichholzbrett vorm Kopf«) sowie Kombination des Unkombinierbaren (»Tee vom Faß«). Auf Namensnennungen waren seine Texte nicht angewiesen; ihre Besonderheit machte aus, visuelle und auditive Informationen eines bestimmten Milieus und ihr Miss- oder Gefallen den Leser sinnlich nachempfinden zu lassen. Aisthesis-Effekte, die sich zuvorderst der Übertragung einer an Raymond Chandler geschulten Technik, die des ausgefallenen Vergleichs, 98 auf die Jugendkultur verdankten. Was spöttisch geschehen konnte: »Die Musik hing wie ein Seekranker aus den Lautsprechern«, oder genießerisch, etwa wenn es um adrenalintreibende NDW-Klänge ging: »Rücksichtlos und sicher tanzte er sich einen Platz frei. Eine Pianomusik hörte sich an, als hetze eine mit Aufputschmitteln gefütterte Ratte über die Tastatur. Ein Gitarrenton startete weg wie eine Rakete, und er kniff die Augen zusammen und grinste. Es war ein Liebeslied.« 99 Differenzbestimmend ist der Einsatz oder Nicht-Einsatz von Namen noch in anderer Hinsicht. Heiza trägt in einem Akt ostentativen Konsums, um sich von hippiesker Umgebung abzuheben, einen »korrekten Flanellanzug«; ein anderer Protagonist versteht unter korrekter Kleidung die italienische Seidenkrawatte; 100 in einem von Glaser besorgten Manifest der Neuen Deutschen Literaten von 1984 bringt es der Binder gar zum Symbol eines schnei98 Vgl. Chandler, Raymond: Lebwohl, mein Liebling [amer. 1940]. Zürich 1976, S. 5 f.: »Er war ein großer Mann, nur knapp zwei Meter groß und nicht ganz so breit wie ein Bierwagen. […] Selbst auf der Central Avenue, wo man nun wirklich nicht die dezentest gekleideten Leute der Welt sehen kann, sah er etwa so unauffällig aus wie eine Tarantel auf einem Quarkkuchen.« 99 Glaser, Peter: Schönheit in Waffen. Stories. Köln 1985, S. 127, 117 (»Feuerland«). 100 Ebd., S. 19 (»Ein Mann bei sich«).

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dig dynamischen Lebensgefühls: »und die Krawatte fliegt im Wind«. 101 Auf adrettes Äußeres legt ein Jahrzehnt später auch Krachts Rollen-Ich in »Faserland« Wert; mit Befriedigung registriert es, auf einem Rave schon wegen der »ordentliche(n) Kleidung« aufzufallen, »pausenlos gemustert und prüfend von der Seite angesehen« zu werden. Es sei »aber eigentlich ganz lustig, daß man so durch Erscheinen provozieren kann […]« 102 Das ist natürlich Wunschdenken, schließlich gilt für die neunziger Jahre »eine Pluralisierung der Lebensstile, die es schwer macht, innerhalb (!) der Jugendkultur zu provozieren«. 103 Ein Problem, das sich in den Selbstpräsentationen des Protagonisten bemerkbar macht. In aller Regel ist für ihn, anders als bei Glaser, die Absetzung von der 68er-Spätlese erst durch die Marke geglückt. »[…] ich bezahle den Taxifahrer, der zum Glück während der Fahrt kein einziges Wort gesagt hat, weil er sauer war, dass wir beide gleich alt sind und ich ein Jackett von Davis & sons trage und er auf Demos geht.« 104 Mitte der Neunziger, als die Jeans-und-Parka-Uniformität der Alternativkultur ihre Dominanz längst eingebüßt hat, nur noch in mediokrem Kabarett simuliert wird, sich die Kontrastfolie auflöst, auf der ein korrekter Aufzug distinguiert genug wirkt, er selbst unter jüngeren Erwachsenen zu verbreitet ist, um als verlässliches Unterscheidungsmerkmal zu taugen, muss im Kampf ums Anderssein aufgerüstet, die Marke mitgenannt werden. Eine Sache ist es, wie Glaser den One-liner von der fliegenden Krawatte erklärtermaßen einer italienischen Modezeitschrift zu entnehmen, 105 um so Leser in Batikhemden ein wenig zu irritieren, eine andere, wenn es gleich im ersten Kapitel von »Faserland« ein Dutzend Markennamen hagelt, der Initiator und Bearbeiter des »Tristesse-Royale«-Bandes, Bessing, keinen Handgriff seiner Kollegen schildern kann, ohne ein Label zu erwähnen (»Eckhart Nickel krempelt sich den Ärmel seines Hemdes von Ermenigildo Zegna hoch [….]. Christi­ an Kracht entnimmt seinem Anzug von Ozwald Boteng eine Klarsichttüte« 106 u. s. w.), wenn die Adlon-Gespräche mit einem Product Placement für einen Schweizer Uhrenhersteller abschließen, der zu den Sponsoren zählte (StuckradBarre: »[…] Gibt es denn gar keine bleibenden Werte mehr?« Bessing: »Doch, eine Uhr von IWC«); 107 überdies Stuckrad-Barre und Kracht als Rad fahrende 101 Glaser, Peter: Zur Lage der Detonation – Ein Explosé. In: Ders. (Hg.): Rawums. Texte zum Thema. Köln 1984, S. 18. 102 Kracht, Christian: Faserland. Köln 1995, S. 108. 103 Gansel, Adoleszenz. 2003, S. 257. 104 Kracht, Faserland. 1995, S. 29 f. 105 Glaser, Zur Lage. 1984, S. 21. 106 Bessing, Tristesse Royale. 1999, S. 18. 107 Ebd., S. 164. Den Hinweis auf den Sponsorenhintergrund verdanke ich Döring, Jörg: Paratext »Tristesse Royale«. In: Tacke, Alexandra/Weyand, Björn (Hgg.): Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Köln et al. 2009, S. 194.

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Anzugmodels für ein Modehaus posieren [Abb. 2]. Dass Glasers posture modischer Selbstsicherheit mehr als nur gesteigert wird, eine neue Qualität vorliegt, zeigt schon die Werbung für Peek & Cloppenburg. Der Medienwechsel (Anzeige, Plakat) markiert den konsequentesten Verstoß gegen eine altehrwürdige Norm des literarischen Feldes, die Geringschätzung des Kommerziellen, und eine neuartige Symbiose. Nachwuchsautoren als Werbeträger verleihen der Modemarke das benötigte jugendliche Air (verstärkt durch die unorthodoxe Kombination von Rad und Anzug), umgekehrt trägt die Reklame zur Kreation literarischer Marken bei. Die Grenze zwischen Literatur und Ökonomie durchbricht man von beiden Seiten. Markenfetischismus wäre für die neuere Haltung kein falscher, doch etwas ungenauer Begriff; als Alternative sei exzessive Distinktion vorgeschlagen und begründet. In einem Interview mit der »Zeit« vom Herbst 1999, geführt anlässlich der Werbekampagne und unmittelbar vor Erscheinen von »Tristesse Royale«, insofern dessen Epitext, 108 bekennt sich Stuckrad-Barre noch offensiver als Kracht zur Werbung als Mittel literarischer Selbstvermarktung. »So viele Menschen wie möglich sollen unsere Bücher kaufen und lesen – darum geht es.« Der traditionellen Logik des literarischen Feldes, nach der symbolisches Kapital und kommerzieller Erfolg in inverser Relation zu stehen haben, 109 hält er den Preis entgegen, die Inkaufnahme von Randständigkeit: »Beschlusslage in Deutschland ist aber ja: Literatur ist nichts für die so genannte Masse. Literatur hat in kleinen miefigen Literaturhäusern stattzufinden, wird subventioniert, geduldet, ertragen.« 110 Das erklärte Streben nach Massenresonanz klingt pop-affin im 108 Vgl. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch zum Beiwerk des Buchs. Frankfurt/M. 2001, S. 12. 109 Vgl. Bourdieu, Die Regeln. 1999, S. 134 ff. 110 »Wir tragen Größe 46.« Interview mit Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht. In: Die Zeit, 9.9.1999.

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Sinne bejahter Popularität, als Geste der Inklusion, des Anti-Elitären. Dadurch aber gerät der Epitext in Spannung zum Gehalt von »Tristesse Royale«, einem einzigen Lamento über Massenkultur. Was ist nicht alles in die Hände »des kleinen Mannes« gefallen und einem deshalb verleidet: Golf, Mallorca, Flugreisen, Segeln, Mobiltelefone, Ralph Lauren, Satellitenfernsehen, Hugo Boss, Calvin Klein, Donna Karan und BMW. 111 »Jeder golft«, 112 eine unschöne Entwicklung. Wenn Gustav Seibt befindet, der »Modedarwinismus« der Runde bezeuge den zwanghaften Wunsch von Mittelstandskindern, sich nach unten abzugrenzen, liegt er richtig. 113 Die vertikale Stoßrichtung, kann man ergänzen, macht einen Unterschied aus zur horizontalen in den Achtzigern (soziologisch betrachtet war Postpunk vs. Alternativkultur ein Kampf innerhalb der Mittelschichten, deshalb die Schichtenfrage seinerzeit kein Thema). Nur die Rede vom »Ästhetizismus der Popliteraten« 114 trifft die Sache nicht ganz. Exzessiv ist das neuere Distinktionsbedürfnis nicht nur, weil es sich, anders als die bestimmten Negationen der Achtziger, potentiell auf alles richtet (kaum ein Konsumgut entgeht der Entwertung durch Inflationierung). Exzessiv ist es zuvorderst, weil man ein konstitutives Merkmal von Pop-Kultur – dass sozusagen kulturelles Material neben ethnischen auch Klassengrenzen überschreitet – 115 auf der Ebene der Konsumgüter beklagt. 116 Der Untertitel des Bandes, »Das popkulturelle Quintett«, hat Seibt und andere an der Pointe vorbeigelenkt; es hätte »anti-popkulturell« heißen müssen. 117 Dass sich Stuckrad-Barre an der Vermassungsklage beteiligt, ist kein wirklicher Widerspruch. Er schätzt die Massen als Abnehmer

111 Um nur Beispiele einer einzigen Passage zu nennen: Bessing, Tristesse Royale. 1999, S. 26. 112 Ebd. 113 Seibt, Gustav: Aussortieren, was falsch ist. In: Die Zeit, 2.3.2000. 114 Ebd. 115 Vgl. Diederichsen, Diedrich: Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Marcel Hartges u. a. (Hgg.): Pop, Technik, Poesie. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 38 f. – Die Überschreitungen sind der Grund dafür, dass sich Bourdieu in den »Feinen Unterschieden« (1982) so schwer tat, das Gefallen an Pop-Produktionen einer bestimmten Klassenfraktion zuzuordnen. Sie sperren sich der Zuordnung, zeigen dem ganzen Modell der Korrespondenzanalyse die Grenzen auf. 116 Wie erinnerlich, nahmen Rock’n’Roll, Blues und zuletzt Hip Hop den Weg aus den afro-amerikanischen Ghettos und/oder Arbeiterkulturen nach oben, in die middle class. Die Tristesse-Royale-Fraktion bedauert mit der Vermassung nur temporär exklusiver Konsumgüter eine Überschreitung von Klassengrenzen in der Gegenrichtung. 117 Gar nicht glücklich mit dem gewählten Paratext wäre Rolf Dieter Brinkmann, der Vater deutscher Pop-Literatur, der sich 1968 bekanntlich mit einer emphatischen Be­ja­hung der Massenkultur vom Bildungsbürgertum absetzte (Anm. 12).

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seiner Bücher, weniger als Co-Konsumenten, und schon gar nicht kommen sie als Träger von Kultur (das meint das englische »popular« 118) in Betracht. Eine Sonderrolle im Quintett spielte von Anfang an Kracht. »Faserland« trieb den Distinktionstaumel früh auf die Spitze und führte ihn zugleich vor. Das ist eine Doppelcodierung, die die Erzählung bei sehr unterschiedlichen Publika hat Anklang finden lassen. Zum Bestseller und zu Anhängern wie Illies und Poschardt brachte sie es dank der vorherrschenden Lesart, die das erzählende Ich mit dem Autor gleichsetzt und sich mit inszeniertem Geschmacksterror identifiziert. Einverständig verfolgte das Großpublikum, wie entschieden ein Triumpf-Fahrer und Roederer-Trinker Unterschiede setzt: »Meine grüne Barbour gefällt mir besser. Abgewetzte Barbourjacken, das führt zu nichts.« Wie genau er seine Zeitgenossen zu taxieren weiß: »Sergio, das ist so einer, der immer rosa Ralph-Lauren-Hemden tragen muß […].« Wie er einen »chablistrinkende(n) Proleten« aufs Korn nimmt sowie einen jener Parvenüs, die einem die schönsten Dinge des Lebens vergällen: »Jeder Betriebsratsvorsitzende einer Kugellagerfabrik fliegt heutzutage […]«, noch dazu in senffarbenem Sakko mit bunter Krawatte. Die berüchtigten Verstöße gegen die Political Correctness (der Betriebsrat als »SPD-Schwein« und »SPDNazi«) krönten den Genuss. 119 Ganz anders die literaturwissenschaftlichen Rezipienten. Sie betrachten die identifikatorische Lesart als naiv, valorisieren den Text als versierte Rollenprosa, die Distanz zum Protagonisten deutlich genug signalisiert. 120 In der Tat, die sprachlichen Stereotype (»blöde[r] Geländewagen«, »blöde Rentner«, »blöde bunte Speisekarte« etc.), grammatikalischen Böcke (»Der Kaffee und der Bourbon kommt«, »wegen dem Streit damals«) 121 wie auch so mancher Bildungsschnitzer wirken wenig vorteilhaft und dürften kaum dem Autor unterlaufen sein. Der hat sich denn auch 2009 in einem Gespräch mit Poschardt über einen naiven Lektüremodus lustig gemacht: »Ist es Christian Kracht? Kann er nicht richtig schreiben? […] Weiß denn Christian Kracht nicht, dass Bernhard von Clairvaux und Walter von der Vogelweide keine mittelalterlichen Maler sind, wie im Roman behauptet wird?« Und wie zur Bestätigung der professionellen Exegesen stellt er klar, den Markenkult 118 Vgl. Diederichsen, Pop. 1996, S. 36 f. 119 Kracht, Faserland. 1995, S. 13 f., 18, 14, 52 f. 120 So neben Baßler, Der deutsche Pop-Roman. 2002, S. 114 f., und Gansel, Adoleszenz. 2003, S. 238, auch Borgstedt, Thomas: Pop-Männer. Provokation und Pose bei Christian Kracht und Michel Houellebecq. In: Benthien, Claudia/Stephan, Inge: Männlichkeit als Maskera­de. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln et al. 2003, S. 225, 228, 245, sowie zuletzt Drügh, Heinz: Konsumknechte oder Pop-Artisten? Zur Warenästhetik der jüngeren deutschen Literatur. In: Geier, Andrea/Süselbeck, Jan (Hgg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuitäten. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen 2009, S. 162. 121 Kracht, Faserland. 1995, S. 15 f., 25, 58, 62.

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alles andere als affirmiert, »Faserland« »nicht als Distinktionsfibel geschrieben« zu haben, »sondern als Roman. […] Ich gehöre absolut zur middle class und ›Faserland‹ ist auch die Auslotung, die Denunziation dieser middle class. Sich gegen unten abgrenzen wollen, wie meine Figuren es durch eher tragikomische Distinktionsversuche unternehmen, ist immer das wesentliche Attribut der middle class gewesen.« 122 Dennoch, so eindeutig »Denunziation« und »tragikomisch« klingen, die naive ist nicht einfach eine Fehllektüre. Poschardt etwa, dessen Frage »Tragen Sie immer noch Barbourjacken?« an der Verwechslung von Protagonist und Autor förmlich klebt, und den die Antwort Krachts düpiert: »Nun sind sie ja endlich wieder en vogue, jetzt [Hervorh. – M.J.] werde ich mir mal eine kaufen gehen«, 123 zeigt sich zwar harthörig. Doch eine gewisse Haltungsnähe von Protagonist und Autor könnte er mit der Werbung fürs Modehaus begründen wie auch mit einer markenbewussten Stellungnahme Krachts in »Tristesse Royale«: »Ich werde von der Privatbank Conrad Hinrich Donner betreut und ich möchte niemals in meinem Leben wählen müssen zwischen Deutscher Bank, Dresdner Bank, Hamburger Sparkasse und wie sie alle heißen, weil ich finde, dass die alle schlimm aussehen. Die Logos sind schlecht, die verwendeten Schriften ein Grauen, die Gebäude furchtbar.« 124 Selbst noch die geschmäcklerischen Äußerungen nicht-fiktionaler Art als pure »Distinktionspose« einzustufen, die man keinesfalls für voll nehmen dürfe, weil man sonst hinter dem »Komplexitätsniveau der Inszenierung« zurückbleibe, 125 erweist sich seinerseits als unterkomplex. Versimpelnd ist die Rede von »Pose«, die eine doppelbödige Selbstdarstellung auf Unernst, Verstellung reduziert. Beschreiben wir die Einsätze eines Tricksters lieber als posture, als Auftrittsform, mit der man eine Position im literarischen Feld auf singuläre Weise besetzt. 126 Einzigartig in diesem Fall ist eine auf verschiedene Märkte abgestimmte Kombination von postures. Lässt Kracht einen Ich-Erzähler den Markenkult treiben, kalkuliert

122 Popliteratur. Kracht – »Wer sonst soll die Welt verbessern?«. In: Welt Online, 17.07.2009. – www.welt.de/kultur/literarischewelt/article4139780/Kracht-Wersonst-soll-die-Welt-verändern?html [Zugriff: 25.09.2011] 123 Ebd. 124 Zit. n. Bessing, Tristesse Royale. 1999, S. 23. 125 Baßler, Der deutsche Pop-Roman. 2002, S. 124, bezieht sich auf die Verlautbarungen in »Tristesse Royale« generell. 126 Da der im Französischen Denotate wie Haltung, Rolle oder Selbstdarstellung um­fas­sende Begriff die Haltungselemente bezeichnet, die einen Sinn für Auftrittseffekte erkennen lassen, ist er abzugrenzen von Bourdieus Habitusbegriff, der die in­kor­porierten, nicht einfach wählbaren Denk-, Handlungs- und Geschmacksmuster meint. Vgl. Meizoz, Jérôme: Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq. In: Joch, Markus/Wolf, Norbert Christian (Hgg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005, S. 177 – 188.

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er eine identifikatorische Lektüre, Effekte freudigen Wiedererkennens ein 127 – zumal sich mittelständische Markenfreunde in Deutschland und andernorts (zig Übersetzungen) durch die Werbung, die non-verbale Dimension des Auftritts, in ihrer Lesart bestätigt sehen dürfen. Damit ist die Nachfrage im Subfeld der Massenproduktion befriedigt; besonders im deutschen literarischen Feld bedeutet ›Masse‹ ja nichts anderes als: lesefreudige Mittelschichten. Die Literaturwissenschaftler wiederum, Geschmacksträger des begrenzten Feldes (für Insider), werden durch die Distanzierungssignale eingenommen. Die doppelt gelagerte posture sorgt für ökonomischen wie für symbolischen Gewinn, 128 nur haben wir uns Kracht weniger als berechnenden denn als instinktiv handelnden Autor vorzustellen. Beiden der gewählten Auftrittsformen entsprechen eingefleischte Einstellungen; erstere forcieren, wozu man ohnehin neigt. Dem Salem-Absolventen ist der Markenkult wohlvertraut – wie sonst könnte man ihn so kenntnisreich inszenieren? –, und er zeigt sich durchaus affiziert von ihm. 150 Seiten reine Verstellung fielen auch schwer. Auf Halbdistanz zum Distinktionsexzess geht dagegen der großbürgerlich sozialisierte Romancier. Den Anforderungen des begrenzten Feldes, das ironische Brechungen höher prämiert als einsinnige Bekenntnisse, genügt er umso leichter, als einem distanzierten Umgang mit dem Markenkult die herkunftsbedingte Disposition entgegenkommt. Dass der Sohn eines Industriellen und, zuvor, Generalbevollmächtigten des Axel Springer Verlags »absolut zur middle class« gehöre, ist natürlich Understatement. Er stammt aus der upper middle class, mindestens, so dass ihm das Abgrenzungsbedürfnis der Mittelschicht arg angestrengt vorkommt. Kurz, Barbourjacken don’t make it. (Privatbanken schon.) Die krampfhaften Distinktionsversuche des Mittelstands sind ist es freilich auch, die das kollektive, das ironiearme Projekt, »Tristesse Royale«, schnell haben altern lassen. 129 Dass Bessing den Kopf schüttelt über Leute, die glauben, »ihr Anzug von Peek & Cloppenburg oder H&M sitze genauso gut wie meiner von Richard James, Saville Row«, 130 wirkt allenfalls unfreiwillig komisch – Kollege Kracht hat also die falsche, eine Massenmarke beworben –, der indignierte Ton unsouverän. Er lässt sich die Urangst anmerken, dass die Distinktionsleistung von den Leuten einfach nicht gewürdigt wird. Gegen solche Peinlichkeiten hat sich »Faserland« durch ironische Anteile imprägniert.

127 So schon Borgstedt, Pop-Männer. 2003, S. 228. 128 Dem großen wie dem kleinem Markt eine Rezeptionsvorlage zu bieten, ist einzigartig nur in synchroner Sicht, in diachroner drängen sich Ähnlichkeiten mit der »doppelten Optik« Thomas Manns auf. 129 Ein Indiz: Die Studierenden eines Seminars zur deutschen Pop-Literatur (Winter­se­ mes­ter 2009/10, Goethe-Universität Frankfurt/M.) zeigten an »Faserland« großes Interesse, an »Tristesse Royale« nicht das geringste. 130 Bessing, Tristesse Royale. 1999, S. 64.

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Im diachronen Vergleich wäre der Akzent gegenläufig zu setzen. Zwar knüpft die Erzählung von 1995 an eine Haltung der Achtziger an, sie lässt die ironische Affirmation wiederkehren, nun als eine sozialer Distinktion, 131 doch ist die neuere Ironie instabil, und nichts liegt ihr ferner als ein subkultureller Impuls. Sie dient nicht mehr, wie ehedem, dazu, der Linken eine neue Strategie der Gesellschaftskritik zu injizieren. Im Gegenteil, mit den Vorbehalten gegen Mittelständler wie Proleten affirmiert die gehobene Yuppie-Variante den gesellschaftlichen Status Quo, weil die großbürgerliche Selbstgewissheit. 3. Pop I und II – einige Differenzen Bereits die bisherigen Beispiele lassen erkennen, dass die prominente Unterscheidung von Pop I (sechziger bis achtziger Jahre, spezifischer Pop als Gegenbegriff zu einem etablierten Kunstbegriff) und Pop II (neunziger Jahre, allgemeiner Pop als Gegensatz zu Politik) 132 auf die deutsche Pop-Literatur übertragbar ist, wenn auch auf ganz unterschiedlichen Ebenen. 1. So entschieden sich die Achtziger-Strategie ironischer Affirmation vom Kollektivhabitus der Sechziger-Gegenkultur absetzte und so wirkmächtig sie sich zeigt, wenn sie sogar noch auf einen politisch indifferenten Autor wie Kracht abfärbt: dem politisch subversiven Impetus nach stand sie den Sechzigern 133 näher als den Neunzigern. 2. Selbst Glasers poetisches Programm, das keinerlei linksradikale Ambitionen kannte, unterschied sich von dem der TristesseRoyale-Fraktion erheblich, da es zwar die Ablehnung des alternativen Habitus vorwegnahm, doch im Namen von »Spannung, Verständlich­keit, Unterhaltungswert, Esprit, Thrills« 134 noch die tatsächlich etablierten Größen im literarischen Feld aufs Altenteil schickte – sei es die Mitte der siebziger Jahre heraufgezogene, von Peter Handke personifizierte ›Neue Innerlichkeit‹, 135 sei es die ewig ›engagierte‹, die Mahner-und-Warner-Ästhetik eines Grass. 136 Zumal 131 Vgl. Borgstedt, Pop-Männer. 2003, S 244 f. 132 Vgl. Diederichsen, Der lange Weg. 1999, S. 275. 133 Vgl. zu linken Anteilen selbst beim Gruppe-47-Verächter Brinkmann, und zwar selbst noch in dessen Lyrik von 1968, Schäfer, Jörgen: Rolf Dieter Brinkmann und das Verhältnis zur Populärkultur in der Literatur der sechziger Jahre. Stuttgart 1998, S. 203 f. 134 Glaser, Zur Lage. 1984, S. 20. 135 Vgl. ebd., S. 10: »[…] der Autor implodiert ganz zu einem hochlichtempfindlichen und melancholischen ›Ich‹, das verzagt durch die Grotten und Dome seines Innenlebens flaniert. […] Mitte der 70er Jahre ortet Peter Handke in Paris eine der letzten wahren Empfindungen Europas.« 136 Vgl. Glasers Rezension der Rättin in: Konkret. 1986. H. 3, S. 7: »Auch ich hatte […] einen Traum: ich sah Günter Grass in Schutz genommen von Greenpeace, wegen seiner vom Aussterben bedrohten Inspiration und wegen der Umweltfreundlichkeit seines neuen Buchs, zu dem sich der schwerkranke Wald bedanken möchte, weil

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auch Goetz (in »Subito«, 1983) sowohl die »blääde Sensibilität« als auch das »Weltverantwortungsdenken« 137 der Böll und Grass verabschiedete (die eine als schlaff hippiesk, das andere als penetrante Sinnstiftung), liegt auf der Hand, warum die Pop-Literatur der Neunziger als Gegenbegriff zu einem etablierten Kunstverständnis kaum mehr gelten kann. Zu diesem Zeitpunkt sind die vermeintlich dominanten Positionen im Feld wie auch die entsprechenden Konsumentenmentalitäten längst abgewertet, ›abzuräumen‹ gibt es nichts mehr. 3. Ein gegen die kulturelle Orthodoxie verwendbarer Kampfbegriff ist Pop nunmehr umso weniger, als die damit bezeichnete Tristesse-Royale-Gruppe eine neue, zuvorderst durch das Privatfernsehen gewandelte Semantik der Massenmedien im Rücken hat, die praktisch alles, was frisch, jung und unterhaltsam wirkt, Pop nennt und gegen jegliche Form politischen Nicht-Einverstandenseins, das so genannte Gutmenschentum, ausspielt. Mit einer schwer tabubrecherischen Vokabel wie »SPD-Nazi« rennt Kracht nur offene Türen ein. Am deutlichsten unterscheidet sich die Pop-Literatur vor 1989 von der nachfolgenden, augenfällig wird die Differenz von Pop I und entpolitisiertem Pop II beim Umgang mit buchstäblichem Terror. Zu den in »Terrordrom« von Tim Staffel (1998) und »Wir Maschine« von Bessing (2001) geschilderten Gewaltakten wird zutreffend bemerkt, dass sich die Anschlagsziele in beiden Erzählungen durch Wahllosigkeit auszeichnen, auch den Bekennerschreiben der Protagonisten konkrete politische Bezüge fehlen, dass es um wenig zielgerichtete, ganze Städte in Trümmer legende Zerstörungswerke geht, um Terror als Selbstzweck oder – wenn in »Wir Maschine« Bomben in Kleidersäcken zu Fotoshootings verschickt werden – es sich um einen ästhetischen Gag handelt. Kein Zweifel, dazu passt das in den Adlon-Gesprächen bekundete, rein geschmäcklerische Gefallen an der Roten Armee Fraktion, ihre historische Entkontextualisierung, ein auf den inhaltsleeren Gestus von Umsturz und Radikalität beschränktes Interesse. 138 Ebenso plausibel ist, in der ›Prada-Meinhof‹Mentalität ein Zeichen von Utopieverlust und Ennui zu sehen; der Wunsch nach »Unterbrechung der Langeweile« 139 bildet schließlich ein Leitmotiv des AdlonGeplauders. Fragwürdig hingegen ist der Glaube, die Reduktion der RAF auf politisch entleerte Posen und Zeichen sei typisch pop-kulturell, insofern sie es so langweilig ist und mangelnden Umsatzes wegen möglicherweise weniger Bäume zu Papier zermahlen werden: und wegen seiner, Grass, in manchen Zügen so freundlich walroßhaften Physiognomie.« 137 Goetz, Subito. 1983, S. 15, 19. 138 Vgl. Mösken, Anne Lena: »Wir waren die, die erkannten, was schieflief.« Joachim Bessings und Tim Staffels Terrorvisionen. In: Stephan, Inge/Tacke, Alexandra (Hgg.): NachBilder der RAF. Köln et al. 2008, S. 299 – 312; Dawin, Helena: Terror als Ausweg aus der Tristesse? (Pop-)Kulturelle Erinnerungen an die RAF. In: ebd., S.  312 – 323. 139 Bessing, Tristesse Royale. 1999, S. 33 (Zitat von Alexander von Schönburg).

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die Abgrenzung der Gegengegenkultur von den geschichtsgläubigen 68ern fortschreibe, sich von den Auftritten eines Rainald Goetz nur durch eine noch etwas konsequentere Selbstvermarktung unterscheide. 140 »Kontrolliert« (1988) ist nicht geeignet, die Kontinuitätsannahme zu belegen. Zugrunde liegen ihr flinke Gleichsetzungen (Goetz = Gewaltverherrlichung/ RAF-Bezug als Pose = Selbstvermarktung um jeden Preis = Pop-Literatur), die der non-verbalen posture des Autors zuzuschreiben sind: Seit dem Klagenfurter Rasierklingenschnitt gilt Goetz seinen Nicht-Lesern als der Effekthascher schlechthin; und fünf Jahre später für das Umschlagfoto von »Kontrolliert« unterm RAF-Emblem zu posieren [Abb. 3], festigte das unseriöse Image. Aber ist vom Talent zur Selbstvermarktung auf eine apolitische Verhandlung von Terrorismus zu schließen?

Beim vermeintlichen Vorläufer besteht schon mal kein Mangel an konkreten politischen Bezügen, sprich: zielgerichteter Aggression. Das zentrale Hassobjekt in »Kontrolliert« gibt Hanns-Martin Schleyer ab. Vergleichsweise harmlos wirkt noch seine Umbenennung in »Schiller«, des seinerseits als »Schwabenlachfigur« 141 Vorgestellten, weniger harmlos schon die Erinnerung an die Nazi-Karriere des von der RAF Entführten: »Früher hat Schiller die Universität Innsbruck als Untersturmführer der Schutzstaffel von Judenstämmlingen und Miesmachern gereinigt, dann war er Präsident der Arbeiterausbeuter dieses Staates […].« 142 Die Abrechnung kulminiert darin, einen im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik gespeicherten Prätext, die Video-Aufnahme vom 13. Oktober 1977, in der Schleyer dem Staat vorwirft, ihn zu opfern, an sensiblen Stellen umzuschreiben – in einem prinzipiell pop-literarischen, hier aber agitatorisch eingesetzten Verfahren. »Ich frage mich in meiner jetzigen Situation wirklich, muß denn nun etwas geschehen, damit Bonn endlich zu einer Entscheidung kommt. Schließlich bin ich nun fünfeinhalb Wochen in der Haft der Revolutionäre [Herv. – M. J., Orig.: Terroristen], und das alles nur, weil ich mich jahrelang 140 Vgl. Mösken, »Wir waren …«. 2008, S. 299: (die Goetz-Assoziation bei) Dawin, Terror als Ausweg. 2008, S. 314. 141 Goetz, Rainald: Kontrolliert. Frankfurt/M. 1988, S. 40. 142 Ebd., S. 36.

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Deutsche Pop-Literatur für diesen Staat und seine freiheitlich demokratischen Lügen [Ordnung] eingesetzt und exponiert habe. Manchmal kommt mir ein Anspruch, auch von politischen Stellen, wie eine Verhöhnung dieser meiner Tätigkeit bei der Schutzstaffel der Industrie staatlicherseits schon vor.« 143

Die Nähe der beiden letzten Zitate zur Selbstlegitimation der RAF ist unabweisbar. Mit dem Hinweis, man dürfe den fiktiven Erzähler eines Romans nicht mit der Autor-Person gleichsetzen, lassen sich die Verächtlichmachungen schwerlich neutralisieren. Wenn die Gattungsangabe überhaupt relevant ist, dann in einer lizenzierenden Funktion: Der Autor nutzt die Geltung einer beschwichtigenden Proseminarweisheit, um (Christian-)›Klartext‹ reden zu können; den Glauben, die Gattungsangabe »Roman« entschärfe jeden Inhalt, gibt er der Lächerlichkeit preis. Die kaum kaschierten Momente linksterroristischer Identifikation 144 werden allerdings konterkariert. Wie Goetz zwei Szenen des Entführungsgeschehens vom 5. September erinnert, scheint das Gefallen am Attentätertum zunächst nur zu unterstreichen. Aus der Sperrung der Kölner Vincenc-Statz-Straße durch das Kommando »Siegfried Hausner« macht er eine Art Slapstick: »Deshalb muß Herr Heinz den Wagen bremsen, Herr Schleier [sic] will sich schon beschweren, doch da kracht von hinten der Mercedes mit den Polizisten auf den ersten dickeren Mercedes drauf, und jetzt hat man den Salat. Der Luftkompressor, der im südfranzösischen Gebirge noch so gemütlich brummelig den Bauarbeitern hilfreich zugetuckert hatte, hält jetzt die Luft an, bis die Schießerei vorbei ist.« Auch der Wechsel der Fluchtfahrzeuge interessiert nur als schwarze Komödie: »Herr Schleier darf im Laderaum des Kombi Ford Granada liegen und den Karton ins Fenster halten, der die Aufschrift trägt Elektroschnelldienst Schmitz.« 145 Mit dem zynisch spaßzentrierten Ton kontrastiert jedoch umso schärfer die direkt anschließende Passage. Sie blendet mit der Perspektive eines Opfers, der Witwe des erschossenen Fahrers, das Leid ein: »Es war am dritten Tag, als Frau Heinz am frühen Morgen in der Küche aus dem Schrank zwei Kaffeetassen nehmen wollte, inne hielt und die beiden Tassen anschaute, während ihr die Arme schwer zu Boden fielen. Dann setzte 143 Ebd., S. 74. 144 Bedürfte es eines weiteren Belegs, wäre eine publizistische Tirade gegen Ronald Reagan anführbar, die in Wortwahl und gleißendem Hass den linksterroristischen Duktus verdoppelt, auf die Provokation von Gewaltverherrlichungs-Vorwürfen angelegt: »Ich sehe das Gesicht von so einem Präsidentenschwein, von so einer imperialistischen Politikercharaktermaske, von so einem Staatstrottel, und es ist mir automatisch das Gesicht des Volksfeindes schlechthin, in das sich hineinschießen muß, mit einer möglichst großkalibrigen Waffe, mit einem möglichst breitenwirksam zerstörerischen Dumdumgeschoß, dass es das Gesicht ordentlich und total zerfetzt […].« Ders.: Der Attentäter [1985]. In: Hirn. 1986, S. 156. 145 Ders., Kontrolliert. 1988, Ebd., S. 188 f.

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sie sich auf den Hocker und mußte bitter Salz und nasses Wasser weinen.« 146 Gegen Ende folgt die Verurteilung so genannter Volksfreunde, die sich mit der Tötung von Schleyers Begleitern moralisch wie politisch erledigt hätten. Den Chauffeur und die Personenschützer, die im Kugelhagel umgekommenen, adelt der Erzähler zu »vier Männern des Volkes«. 147 Ihre Ermordung setzt für ihn auch die des Arbeitgeber-Präsidenten ins Unrecht: »Was vier mal ein Fehler war am fünften September, bleibt auch beim fünften Mord, auch wenn das Opfer selbst Täter und Mörder war, und macht die Mörder zu Mördern.« 148 Beide der widerstreitenden Impulse, sowohl die partielle ideologische Nähe zur als auch die abschließenden Verurteilungen der RAF, trennen Goetz von den angeblichen Nachfahren in der Pop-Literatur. Beide zusammen machen die historische Zwischenposition eines Autors kenntlich, der sich, anders als die Generation Golf, zur linken Militanz der Siebziger erst in Halbdistanz befand,sie bereits als schickes Zitat verhandelte (das Umschlagfoto), doch zugleich noch als Gegenstand moralischer Ambivalenz. 149 4. Radical Chic – Diskontinuitäten und Kontinuitäten Wägen wir ab, was dafür spricht, auf literarische Geschmacksbekundungen die politische Unterscheidung linksradikal/nicht-linkradikal zu applizieren, und welche Aspekte dadurch zu kurz kommen. Nach der vorderhand gebietsfremden Differenz zu ordnen ist zunächst einmal nötig, weil es sich bei Goetz’ Invektive gegen die »präsenilen Chefpeinsäcke Böll und Grass«, die von »Friedenskongreß zu Friedenskongreß« ziehen, 150 wie auch bei Krachts »SPD-Nazi« um Zitat-Klassiker handelt. Dekontextualisiert können sie zum Missverständnis führen, ihre Urheber hätten von der gleichen, mehr oder weniger linkenfresserischen Position aus gesprochen. Der frühe Goetz aber kam aus einem Kracht 146 Ebd., S. 190. 147 Ebd., S. 273. 148 Ebd., S. 208 f. 149 Einen Unterschied macht sie nicht nur in der Pop-Literatur. Wie Enno Stahl eher am Rande, aber in dankenswerter Deutlichkeit zeigt, hebt sich die präzise Kritik der RAF auch von der idolisierenden Tendenz eines 68ers ab. Christian Geisslers »kamalatta« (1997) geht jede Distanz zum Gegenstand ab (Schleyer – Terror und Literatur. Ein Gewaltakt und seine literarisch-kritischen Repräsentationen bei Friedrich Christian Delius, Peter Jürgen Boock und Rainald Goetz. In: Ächtler, Norman/ Gansel, Carsten (Hgg.): Ikonographie des Terrors? Formen ästhetischer Erinnerung an den Terrorismus in der Bundesrepublik 1978 – 2008. Heidelberg 2010, S. 82 f., 95). Die»Zwischenposition« von »Kontrolliert« ist nach zwei Seiten abgrenzbar: sowohl von Geissler, der sich affektiv noch zu nah am Material befindet, wie auch von Staffel und Bessing, die sich auf politische Verhandlungen schon nicht mehr einlassen. 150 Goetz, Subito. 1983, S. 19.

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denkbar fernen Umfeld, aus der Marxistischen Gruppe (München) – einer der Gründe, warum er mit dem Linksterrorismus zumindest flirtete und sich Anfang der Achtziger mit seinem »Ultraheroe[n]« Diederichsen, folgt man der Darstellung in »Subito«, bestens verstand: »[…] so stand die Gruppe der jungen Bolschewiken im Gespräch.« 151 Obgleich in der Selbstbezeichnung die Ironie von West-Autoren mitschwang, die wussten, dass ihr Eigensinn den sofortigen Rausschmiss aus der FDJ zur Folge gehabt hätte (›klein­bür­gerlicher Individualismus‹), war der »Bolschewismus« ein Schlüsselbegriff. Bei allem Spaß am Posieren codierte er eine nach Härte und Entschiedenheit dürstende Haltung links von den als allzu zahm empfundenen neuen sozialen Bewegungen (Ökos, Friedens­be­weg­te) und ihren literarischen Idolen. Eine Positionierung, von der sich die Werbeträger von Peek und Cloppenburg komplett abgekoppelt haben, begünstigt durch die Kräfteverschie­bung im politischen Feld nach 1989 den Zusammenbruch des Realsozialismus. An Boden verlor der »Radical Chic« (Tom Wolfe) bundesrepublikanischen Typs in den Neunzigern auch, da er jenen ostdeutschen Pop-Literaten befremden musste, der mit Kracht und Stuckrad-Barre zeitgleich reüssierte. Brussig dürfte eine Begriffsschöpfung wie Bolshevique Chic 152 nur als geschmacklos empfunden haben, hatte er doch die wenig erbauliche Umsetzung des BWortes erlebt. Pop verstand er als dessen genauen Gegenbegriff, sozusagen als Freiheitsversprechen. Entgegen anders lautenden Gerüchten 153 war die »Sonnenallee«-Erzählung ja keineswegs auf eine Verharmlosung des Realsozialismus aus; es ging lediglich um den Nachweis, dass man sich als Jugendlicher auch in einer Parteidiktatur Freiräume schaffen konnte, darum, sich den mitleidigen Blick westdeutscher Altersgenossen zu verbitten. Dass diese Intention eine vorsätzlich selektive Retrospektive auf die DDR erforderte, ein Anspruch auf realistische ›Gesamtschau‹ aber auch gar nicht erhoben wurde, machte der Schlusssatz »Glückliche Menschen haben ein schlechtes Gedächtnis und reiche Erinnerungen« 154 transparent genug. Die Reminiszenzen an kleine Fluchten wie die Pop-Musik minderten die Verachtung für den Sozialismus um kein Iota (warum sollten sie auch?). Ermessen lässt sich Brussigs Abstand zu den Westbolschewiken an einer Kontrasttechnik, die der Frau-Heinz-Passage in »Kontrolliert« dem Verfahren, wenn auch nicht der Wertungsteuerung nach ähnelt. Mitten in eine putzige Geschichte über DDR-Bürger, die Fremdsprachen lernen, die in Ländern gesprochen werden, in die man doch gar nicht fahren durfte, lässt dieser Autor 151 Ebd., S. 14, 17. 152 Wie der Anti-Rockismus von Diederichsen (Sexbeat. 1985, S. 122 f.) in Umlauf gebracht. 153 Vgl. die bei Baßler, Der deutsche Pop-Roman. 2002, S. 50, referierten OstalgieUnterstellungen des »Spiegel« und der »Neuen Zürcher Zeitung«. 154 Brussig, Sonnenallee. 1999, S. 157.

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eine ›Anekdote‹ zum Stasi-Terror einschlagen – von einem Modelleisenbahnliebhaber, dem die Kontakte zu westdeutschen Hobby-Freunden eine Verhaftung wegen Agententätigkeit einbringen. »Als Günter nach einem Jahr und acht Monaten zurückkam, benötigte er zum Atmen eine Apparatur, die er auf einem Wägelchen hinter sich herziehen musste.« 155 In »Kontrolliert« signalisiert der abrupte Umschlag von Heiterkeit in Ernst linksradikale Skrupel, in »Sonnenallee« die Totalablehnung des Sozialismus. 156 Das ist nicht ganz das Gleiche. Zu einer Grobbestimmung von Goetz’ früher Position im literarischen Feld taugt die Klassifikation linksradikal also durchaus. Sie markiert die Kluft zur nachrückenden Autorengeneration. Nur bedeutet die Klassifikation im literarischen Feld etwas anderes als im politischen. Goetz’ Verhältnis zur RAF veranschaulicht die Affinitäten zwischen literarischer und selbst ernannter politischer Avantgarde, mehr noch aber den Graben zwischen beiden Gruppen. 157 Der gleiche Autor, der mit der RAF den Hass auf Schleyer aus Provokationslust wie aus Überzeugung teilt, ihren Duktus wie auch ihre Bildsprache gern zitiert, in gleich drei Texten (»Irre«, »Subito«, »Kontrolliert«) als Alter ego den Namen des Mannes hinter Baader wählt (Raspe), wie kein anderer die RAF als Schreckenszeichen nutzt, um auf sie und sich aufmerksam zu machen, verhält sich zu zwei Ikonen der militanten Linken, Baader und Ensslin, im Kern ikonoklastisch. In »Subito« firmiert Baader als »saudumme[r] Prolet«, 158 und auch in »Kontrolliert« kommt er nicht wirklich besser weg, trotz eines nuancierenden Oxymorons. »Baader ist natürlich eine faszinierende Abscheulichkeit, als herrschsüchtiger Angeber und Schwinger harter Schlägerworte, mir nur zu gut verständlich, wie vielen kunstsinnigen Nichtproleten, schönheitssüchtig, denen Baaders Fleisch als Twen in München und Berlin der Kopf verdrehte. Aber um eine Moral der Erniedrigten und Beleidigten in so einem vorbildlich verkörpert zu sehen, dazu muß man, den Germanistikbrei im leeren Nichtkopf, rigid frigide Gudrun heißen.« 159

155 Ebd., S. 125. 156 Ein deutlicher Seitenhieb auf die Restsympathien westdeutscher Literaten fürs realsozialistische Projekt findet sich in Brussigs Wenderoman: Wie es leuchtet. Frankfurt/M. 2004, S. 455 f. 157 In der trügerischen Affinität zu politisch radikalen Bewegungen sieht Bourdieu: Die Regeln. 1999, S. 398 f., eine Invariante künstlerischer Avantgarden. Die Beobachtung auf die künstlerischen Auseinandersetzungen mit der RAF in Deutschland zu übertragen, schlagen Norman Ächtler und Carsten Gansel vor: Ikonographie des Terrors? Vom Erinnern über Bilder zum Erinnern der Bilder im künstlerischen Umgang mit dem Terrorismus der 1970er Jahre. In: Dies. (Hgg.), Ikonographie des Terrors? 2010, S. 17. Die Anregung sei hier aufgegriffen. 158 Goetz, Subito. 1983, S. 12. 159 Ders., Kontrolliert. 1988, S. 125.

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Ensslins Idol gibt hier den Testfall für die Zurechnungsfähigkeit seiner Beobachter ab. Der eine, Goetz, reflektiert die eigene Anfälligkeit für Primitivität, lässt sich von ihr kontrolliert anziehen, findet Geschmack am Schwingen harter Schlägerworte. Was bereits an »Subito« ablesbar ist, wo er sie gegen Autoren wendet, die einen mit Selbstironie oder Engagement enervieren – »Dafür werden sie erschossen, Blaff, Blaff, Blaff« –, wie auch gegen die Klagenfurter Juroren –»Schnauze Kritiker, sage ich zum Kritiker« 160 –, gegen die Größen des literarischen Feldes, mithin zu eigenen Zwecken. Im Mund eines Schriftstellers wird der rüde, beim Original noch der Einschüchterung von anderen Gruppenmitgliedern und der Justiz dienende Ton zum Mittel eines symbolischen Attentats und stilistischer Distinktion. Auch aus dem Anpöbeln von Ensslin ganz im Baader-Ton (»frigide«) spricht weniger Begeisterung für den Proleten als die Absicht, sich bei ihm rhetorisch zu bedienen. Distanz in der Aneignung signalisiert schon, wenn auch wohl unbewusst, die (unrein) gereimte Verbindung »rigid frigide«, ein Wortspiel, für das der reale Baader wenig Sinn gehabt hätte, 161 zuvorderst aber die merklich kokette, von Selbstironie gar nicht mal freie Übernahme einer Auftrittsform (»herrschsüchtiger Angeber und Schwinger harter Schlägerworte, mir nur zu gut verständlich«). Baader lediglich einen ästhetischen Wert abzuziehen und ihn obendrein im eigenen Duktus zu beschimpfen (»saudumm«) heißt, sich seiner als Autor zu bemächtigen – statt sich von ihm den Kopf verdrehen zu lassen. Dafür ist Ensslin zuständig, die es fertig bringt, auf den Ausbund an Selbstverliebtheit und politischer Unbedarftheit die »Moral der Erniedrigten und Beleidigten« zu projizieren (Prätext: ihre Stammheim-Kassiber). 162 Die groteske Idealisierung rundet für Goetz einen im Ganzen degoutanten Habitus ab, den einer übergeschnappten Pfarrerstochter, deren an Meinhof gerichtetes »du mußt töten« die christliche Moral nur umkehre. 163 Ihr »Pastorenstuß« reize einen, »all diese Pastorenverbrecher« zu verfluchen, »die ihre grauenhafte Christen­ finsternis terroristisch über normal vernünftige kleine echte Menschen ausgießen, um die zu teeren«. Besonders penetrant am »Ensslinschwachsinn«: »ihre Volksschullehrerinnenkleinschrift, die sprachlich eine Lächerlichkeit ist, keine Revolution.« 164 Befasst Goetz sich mit den treibenden Kräften der RAF, zieht er moralischen Gesichtspunkten (Frau Heinz’ Leben zerstört) oder politischen 160 Ders., Subito. 1983, S. 15. 161 Vgl. zu einem lediglich zwischen schlicht und derb wechselnden Duktus den Instruktionsbrief an Ello Michel vom Oktober 1968, abgedruckt bei: Stern, Klaus/ Herrmann, Jürgen: Andreas Baader. Das Leben eines Staatsfeindes. München 2007, Abb. 41., sowie den Umgang mit einem Stammheimer Pflichtverteidiger (»Halt die Schnauze, Linke!«, ebd., S. 217). 162 Vgl. ebd., S. 243. 163 Vgl. Goetz, Kontrolliert. 1988, S. 60, 93. 164 Ebd., S. 93.

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(sich mit dem Mord an »vier Männern des Volkes« um die Glaubwürdigkeit gebracht) die des Geschmacks vor. Von den geschmäcklerischen der jüngeren Pop-Literaten unterscheidet sie zwar, die moralische und politische Verhandlung der RAF nicht zu ersetzen, nur einen Überhang zu bilden. Der aber genügt, um Konsumenten aus der radikalen Linken stutzen zu lassen. Die moralischen und politischen Einwände wurden von den meisten geteilt, das Misstrauen gegen das evangelische Pfarrhaus dürfte zumindest dem einen oder anderen Marxisten eingeleuchtet haben. Aber der Degout an der Kleinschrift? Nichts verdeutlicht das spezifische Interesse des pop-linken Literaten markanter als die Neigung, Ensslin mangelnde Hipness vorzuhalten, eine Volte, die zu erfassen die Kategorie linksradikal zu geräumig ist. Tatsächlich kann die Kleinschrift, eine Endmoräne der Fünfziger-JahreModerne, in den frühen Siebzigern schwerlich als Revolution gelten; allein, Goetz’ Hohn ebnet den Unterschied zwischen sprachlichem und politischem Umsturz ein. Der Kurzschluss von Grundverschiedenem verdankt sich der instinktiven Strategie 165 eines literarischen Avantgardisten, der selbst ernannten politischen Avantgarde neben der moralischen und politischen Legitimität auch den Radical Chic abzusprechen. Da Goetz sich auf gleich drei Ebenen von der RAF absetzt, lässt sich auch hier von einem symbolischen Attentat sprechen, halb der historischen Wahrheit, halb einem Konkurrenzverhältnis geschuldet. Die Affinität zur RAF gründet auf dem gemeinsamen Hassobjekt sowie auf der Positionshomologie zwischen Herausforderern im literarischen und im politischen Feld, der Anreiz, die RAF zu attackieren, auf ihrem Status als Säulenheilige der militanten Linken. Das Ergebnis ist eine Kette symbolischer Attentate – erst auf Böll und Grass, dann, obwohl nicht ernstlich von Äquidistanz die Rede sein kann, auf Staat/Arbeitgeberseite und RAF. Goetz’ Dreierschlag berührt freilich auch schon die Aspekte, die zur Unterscheidung von Pop I und entpolitisiertem Pop II quer stehen. In deren Bahn bewegt man sich noch, wenn man Geschmackskriterien, die politische ergänzen, klar abhebt von den geschmäcklerischen um 2000, die politische ersetzen. Eine notwendige Übung, weil zu den größten Imageproblemen von Pop-Literatur heute zählt, dass sie besonders von jenen, die auf eine Repolitisierung des literarischen Feldes dringen, für die Mentalität der Generation Golf haftbar gemacht, als politisches Analphabetentum wahrgenommen wird. 166 165 Ein auf den Beifall der pop-linken Klientel spekulierendes Autorensubjekt brauchen wir nicht vorauszusetzen. Die wirksamsten Strategien im literarischen Feld sind die spontanen, unbewusst aufs Eigeninteresse abgestimmten, wie Bourdieu so treffend bemerkt: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt/M. 2001, S. 178. 166 Zuletzt zu beobachten bei Dath, Dietmar: Ein schöner Albtraum ist sich selbst genug. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.10.2008: »Wenn ich das Wort Pop höre, entsichere ich den Revolver.« Geteilt wird Daths Sicht von Sundermeier, Jörg: Bürgerliche Provokateure. Über die Pop-Literatur der Gegenwart und was von ihr zu

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Die Binnendifferenz von Pop-Literatur entgeht allmählich selbst den Klügsten, deshalb darf an sie erinnert werden. Dessen ungeachtet zeigen Goetz’ Beispiele, dass sich bereits zwischen Geschmacks- und politischen Urteilen nicht immer säuberlich trennen lässt. Abgesehen davon, dass Geschmack, wenn als das Erzeugungsprinzip der »Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte« 167 definiert, streng genommen auch politische Bewertungen umfasst, hat Ensslins herkunftsbedingtes Erzeugungsprinzip politische Folgen. Zwar determiniert es politischen Wahnsinn nicht. 99 Prozent der Protestantenkinder lehnten den bewaffneten Kampf ab, das wollen wir mal nicht vergessen – in dem Punkt opfert der Übertreibungskünstler Goetz einer stilisierten Phobie (»terroristisch«) die Ernsthaftigkeit. Aber natürlich kann eine Überdosis Moral in Irrsinn umschlagen; ohne die spezifische Sozialisation lässt sich Ensslins Abdriften nicht hinreichend erklären. Und wenn Goetz Baader von vornherein nur nach Geschmackskriterien beurteilt, steckt darin eine politische Einsicht, nämlich die, dass es sich um einen apolitischen Akteur handelte. Gerade der ›oberflächliche‹ Zugang des Pop-Literaten erweist sich als vornehmster Weg der Wahrheitsfindung. Die gleiche Qualität eignet Christopher Roths »Baader«Film von 2002, an dem der an die Literaturvarianten von Pop II adressierbare Entpolitisierungs-Vorhalt vorbeigeht. Roth wird Baader nur gerecht, wenn er ihn als Liebhaber von Drogen, Western, Kinski-Ledermänteln, schnellen Autos und generell Selbstinszenierung darstellt, dem ›Politik‹ lediglich Vorwand für Action war. Die Verrisse der Filmkritik, die unisono eine pop-typische Überbetonung von Chic beanstandeten, hätten nur bei primär politischen Motiven der historischen Realperson verfangen. Sie aber sind in Baaders Fall ein Mythos, den mit Goetz und Roth Pop I und II zerlegt haben. 168 Der Film hieß nun mal nicht »RAF«. halten ist. In: Geier, Andrea/Süselbeck, Jan (Hgg.): Konkurrenzen, Konflikte, Kontinuität. Generationenfragen in der Literatur seit 1990. Göttingen 2009, S. 177 – 186. 167 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. 1982, S. 278. 168 Auch wenn Roth das Überfällige unter teils mythologisierenden Voraussetzungen tut. Vgl. Gansel, Carsten/Ächtler, Norman: »Was kann man als Regisseur mehr erreichen als Debatten anzuregen?« Ein Gespräch mit Christopher Roth über seinen Film »Baader«. In: Dies. (Hgg.), Ikonographie des Terrors? 2010, S. 425 – 427: Überzeugend erklärt er, als Regisseur nur die von der RAF selbst gelieferten Outlaw-Bilder aufzugreifen (S. 423). Dubios dagegen wird es, wenn er den ästhetisierenden Zugang damit rechtfertigt, dass der Film-Plot 1972 endet und Baader sich erst in Stammheim politisiert, dort auch als Theoretiker geglänzt und sich »keineswegs als dumm« erwiesen habe (S. 416). Sich »erst im Gefängnis alles angelesen« zu haben (ebd.), war schon mal kein Zeichen von Klugheit, und sollte Roth ernstlich an Theorieglanz glauben, mache er sich mit der Biographie von Stern/Herrmann vertraut (Andreas Baader. 2007, S. 174 ff.). Etwas schief ist auch die Bemerkung »Was war denn so politisch an der RAF? Welche Äußerung

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Die Literatur von Pop I und II wiederum eint, ganz ähnliche Ablehnungsmuster hervorzurufen. So deutlich sich »Kontrolliert« von »Terrordrom« und »Wir Maschine« im politischen Zungenschlag unterscheidet, alle drei Texte ernteten durchgehend negative Kritiken, 169 die in einem doppelten Widerwillen kongruierten: dem moralischen, wie man überhaupt darauf verfallen kann, Terrorismus in Geschmackskategorien zu verhandeln, und dem sozialen, dass gerade Bürgerkinder es offenbar hip finden, sich mit folgenloser Militanz zu schmücken. Die Abneigung gegen das ›Getue‹ von Salon-Radikalen verweist zurück auf Tom Wolfe, der den Radical Chic 1970 als pejorativen Begriff einführte, gemünzt auf Park-Avenue-Künstler wie Leonard Bernstein, die, so die Insinuation, ihre Partys mit Black-Panther-Aktivisten dekorierten, um den anderen Gästen etwas Thrill zu bieten. Der Vorbehalt gegen moralische Frivolität lässt sich weiter verfolgen bis 2006, als Kracht zum Befremden der »FAZ« den Sektenstaat Nordkorea zum größten Kunstwerk der Menschheit erklärte. Gleichwohl liegt es nicht allein, vielleicht nicht einmal primär, an wie auch immer gearteten Inhalten, dass Pop-Literatur in weiten Teilen des Großfeuilletons (»Zeit«, »FAZ«, »Spiegel«) seit Jahrzehnten einen schweren Stand hat. Der Widerwille gilt auch einer stilistischen, den Achtziger-Neunziger-Einschnitt überdauernden Eigenart, dem Verbalradikalismus. Schon die Pop I und II gemeinsame Neigung zu Superlativen und anderen Übertreibungen (herrlichstes Kunstwerk, beste Band, Ultraheroe, Schriften des Grauens u. s. w.) wie auch zu jeder Abstufung entratenden Oppositionen (Ultraheroe/Chefpeinsack), die Lust am Grellen, verwandt dem Kernmedium von Pop, den Lyrics der PopMusik, die sich um Dezenz und betuliches Nuancieren ebenso wenig scheren, verstößt gegen elementare Geschmacksnormen des Bildungsbürgertums, die ungeschriebenen Gesetze des Manierlichen, Abwägenden, Zurückhaltenden, der Untertreibung (litotes) 170 – gegen Gebote, die selbst dann fortbestehen, z. B. von Ulrike Meinhof ist Ihnen denn bekannt, die wirklich als politisch wertvoll gelten kann?« (S. 424). Meinhofs Äußerungen aus dem Untergrund waren zwar politisch wertlos, weil menschenverachtend (»Der Typ in der Uniform, das ist kein Mensch, das ist ein Schwein«) und realitätsfremd (Schüsse auf Familienväter bewegen das deutsche »Metropolen-Proletariat« zur Rettung der Kinder in Vietnam?). Aber unpolitisch waren sie nicht, der Widerstand gegen den Vietnam-Krieg ist ein glaubhaftes Motiv. Roth verschleift den Unterschied zwischen politischem Irrsinn (der Methoden) und der Einstellung Baaders, lässt sich im Ganzen eine leichte Überschätzung seines Protagonisten anmerken, die ans Licht zu bringen das Gespräch schon gelohnt hat. 169 Vgl. zu den Verrissen von Bessing und Staffel: Mösken, »Wir waren …«. 2008, S. 311 f.; zu »Kontrolliert« Kiesel, Helmuth: In der Zelle des Hasses. Zwischen Opfergefühl und Täterdrang. Rainald Götz’ [sic] Roman über die RAF. In: Rheinischer Merkur, 02.12.1988; Santak, Michael: Hirnrissig. Rainald Goetz’ Windungen in »Kontrolliert«. In: Frankfurter Rundschau, 03.12.1988. 170 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. 1982, S. 288, 757 f.

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wenn der moderne Bildungsbürger sich nicht mehr so nennen mag. Vollends vulgär müssen Hütern der Hochkultur Drastik und Verunglimpfungen erscheinen. Die Rede vom »Amoklauf gegen den guten Geschmack« 171 kann kaum ausbleiben, wenn Stuckrad-Barre einen ZDF-Moderator, bekannt als Christ und Menschenfreund, mit folgenden Worten bedenkt: »Als Peter Hahne im Eiscafé soviel Gutes an der Seite der Behinderten widerfuhr, da hat er wie immer gegrient, als habe er just in einen lauwarmen Badeschwamm gewichst […].« 172 Anderthalb Jahrzehnte zuvor – Diederichsen hatte Wondratschek soeben als Möchtegern-Macho hingestellt, dessen Unglück es sei, »daß er ein Bubi geblieben ist, ein ganz normaler, altgewordener Bubi mit ekligem Lichtbild« 173 – monierte Fritz J. Raddatz, seinerzeit Feuilletonchef der »Zeit«, eine Verrohung der journalistischen Sitten. Angesichts der Wiederholungen will es scheinen, als könne das Bildungsbürgertum nach 68 sich seiner Normen am ehesten noch dann vergewissern, wenn Pop-Literaten sie verletzen.Die Diskontinuität in der Kontinuität besteht darin, dass den Übeltätern der Achtziger das Übertreten von Geschmacksgrenzen noch Gegenstand von Meta-Beobachtungen war, kein Selbstzweck. Diederichsen und ihm nachfolgend Goetz verstanden ihre Beschimpfungen erklärtermaßen als Adaption von »Kraft, Schlag, Härte« 174 des Punk, als Mittel gegen die Unverbindlichkeit der bürgerlichen Meinung 175 oder als das erwähnte sprachliche Analogon zum Terrorismus, auch wenn die Selbstbeobachtungen letztlich nur die Differenz von figürlichen und buchstäblichen Exekutionen unterstrichen. 176 Ihr Ton sollte sich als stilprägend erweisen, dessen selbstreflexives Moment aber hat sich mit »Remix« und »Soloalbum« verflüchtigt. Ein nicht nur die Beschimpfungen betreffender Verlauf: Generell hat sich das von der Gegengegenkultur etablierte Vergnügen an »respektlosen, naseweisen, plumpen und grellen« 177 Sprechakten in den Neunzigern von den ursprünglichen Antriebskräften gelöst, zu einem Selbstläufer ohne Bewusstsein der ursprünglichen Entstehungsbedingungen entwickelt. *

171 [anonym], Amoklauf eines Geschmacksterroristen. 1998, S. 209. 172 Stuckrad-Barre, Soloalbum. 1998, S. 141. 173 Diederichsen, Ach, ist das alles verdammt männlich. 1983, S. 238. 174 Goetz: Fleisch [1984]. In: Ders., Hirn. 1986, S. 81; gleichsinnig Diederichsen, Sexbeat. 1985, S. 84. 175 Vgl. Diederichsen, Sexbeat. 1985, S. 153 f., Goetz: Kerker [1984]. In: Ders., Hirn. 1986, S. 111. 176 Vgl. als Parallelstelle zu Goetz’ Gefallen an harten Schlägerworten Diederichsen, Sexbeat. 1985, S. 148 ff. (»Warum es nicht mehr nötig ist, Hans Neuenfels erschießen zu lassen«). 177 Diederichsen, Diedrich: Nette Aussichten in den Schützengräben der Nebenkriegsschauplätze. In: Ders. (Hg.), Staccato. Musik und Leben. Heidelberg 1982, S. 93.

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Welchen Nutzen wirft die Kategorie Geschmacksterror unterm Strich ab? Auf der Hand liegt, erstens, dass das Archivieren von Alltags- oder Massenkultur allein kaum als ein distinktes Merkmal von Pop-Literatur gelten kann. Schlagerzeilen finden wir schon bei Benn. Da die Aufnahme profaner Gegenstände ins kulturelle Gedächtnis bereits ein Zug der Moderne ist (nicht nur der literarischen), 178 benötigen wir, soll Pop-Literatur denn als halbwegs trennscharfer Begriff gelten, einige Zusatzkriterien. Zu ihnen zählt neben der Verhandlung von Pop-Musik – einfachste, triviale Definition –, dem Spiel mit »von Pop-Musikern, Filmemachern, Werbegrafikern, Produktdesignern oder Comiczeichnern gestalteten ›Prätexten‹« 179 und dem Auflisten des Profanen dessen rigide Bewertung. Um als Pop-Literatur klassifiziert werden zu können, sollte ein Text mindestens eines der vier Merkmale aufweisen sonst wird es schwierig. Beachtenswert als ergänzendes Kriterium ist Geschmacksterror, da, zweitens, selbst eine Negativbewertung den profanen Gegenstand immerhin zum Thema erhebt. Keine Selbstverständlichkeit, wie ein reservierter Kommentar des Satirikers Max Goldt zu verstehen gibt:»Ich wüsste z. B. nicht, warum man zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer hasserfüllte Rezensionen über ein Album von Marius Müller-Westernhagen schreiben muss. Es ist allgemein bekannt, wie sich solche Hervorbringungen anhören, und es ist ja schließlich möglich, sein Leben durch eine geschickte Vermeidung bestimmter Wege und Orte so zu gestalten, daß das Wissen um die gewiß bedauerliche Existenz von Musikvortäuschungen der im Beispiel genannten Art nicht ständig aktualisiert wird. Man sollte einfach akzeptieren, dass alle sozialen Schichten kulturelle Bedürfnisse haben, auch wenn es um jeden einzelnen schade ist, der unter seinen menschlichen Möglichkeiten bleibt.« 180 Zur Haltung von Stuckrad-Barre, der Westernhagen nicht nur Rezensionen, sondern längere, gemeinhin als Literatur eingestufte Artikel widmet, sich also besonders angesprochen fühlen darf, steht diese Kritik der Kritik orthogonal. Sie teilt die Verachtung für den Gegenstand, treibt sie mit der Stigmatisierung der unter ihren menschlichen Möglichkeiten (!) bleibenden Konsumenten beiläufig auf die Spitze, bezweifelt aber zugleich Westernhagens Sujetfähigkeit. Wenn überhaupt, solle man sich nur im Vorbeigehen mit ihm befassen – wie der eigene Text, dem er nur eine kurze Abschweifung wert ist, in actu vorführt. 178 Woran Diederichsen, Pop. 1996, S. 38, am Rande erinnert: »Die Grenze zwischen ›high‹ und ›low‹ wollten immer schon welche durchbrechen. Profane Gegenstände und Formen tummelten sich in den unterschiedlichsten Bedeutungen in der High Art, seit bei Manet Eisenbahnzüge durch Bilder fahren und Getränke verkauft werden, Picasso und Braque Tageszeitungslayout inkorporierten und Duchamp sich von Werbung inspirieren ließ.« 179 Vgl. FN 13. 180 Goldt, Max: Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens. Reinbek bei Hamburg, 2005, S. 110 (»Die Verachtung«).

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Das Unbehagen an einer Sujetwahl, die unwürdigen Gegenständen allzu viel Aufmerksamkeit schenke, verweist auf die unscheinbare Eigenschaft extensiver Geschmacksschelten, den profanen Raum indirekt aufzuwerten. In der für den Kampf um literarische Definitionsmacht wesentlichen Frage, »was würdig ist, repräsentiert, dargestellt zu werden, und was nicht«, 181 weichen sievom Gros der Gegenwartsliteratur bereits ab. Womit wir fast schon beim dritten Aspekt sind: Explizit unduldsame Bewertungen pop-kultureller Erzeugnisse bilden die manifeste Form von Auseinandersetzungen um den legitimen Geschmack, dessen weniger sichtbare die Objektwahl bzw. -vermeidung ist. Hier lassen sich drei Positionen unterscheiden. Im Urteil von Goldt mischt sich das Naserümpfen des ehemaligen Sängers und Texters von Foyer des Arts (1981 – 95), der Besseres als Westernhagen gewohnt ist, mit dem eines Autors, der mittlerweile, seit den Nuller-Jahren, Distanz zur Pop-Kultur überhaupt zu suchen scheint. 182 Letztere Exklusionsgeste käme Diederichsen und Stuckrad-Barre nicht in den Sinn. Uneins sind sie in der Frage, welcher Ausschnitt von Pop-Musik es verdient, durch eingehende Verhandlung ins kulturelle Archiv gehievt zu werden. Relevanter als der und der Hieb gegen Westernhagen ist dann, dass Stuckrad-Barre wiederholt über den Armani-Rocker schreiben zu müssen glaubt, zuletzt in einiger Ausführlichkeit das Qualitätsgefälle des Œuvres (›Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz‹ brachte ihm 1978 völlig zurecht des großen Ruhm« ) 183 wie auch das Verhältnis zum Kollegen Grönemeyer erörterte. 20 Seiten für Deutschrock – das wäre undenkbar bei Diederichsen, dem er ein Gräuel und folglich kein Thema ist, der sein Publikum stattdessen mit den avanciertesten, gern auch wenig oder ganz unbekannten, mehrheitlich nicht-deutschen Künstlern vertraut macht, die Leserschaft seit Jahr und Tag entprovinzialisiert. Eine Meditation zum Juwel auf einem Frühwerk der New Yorker Avantgarde-Formation Material (»One down«, 1982) – gutes Beispiel für Musik-Kritik als Kunstform, übrigens 184 – wäre umgekehrt unvorstellbar bei Stuckrad-Barre. Dessen Fern181 Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort. Frankfurt/M. 1992, S. 165 f. 182 Wofür neben der äußerst seltenen Thematisierung von Pop-Musik folgender Schlenker spricht: »Man muß ja heutzutage fast trotzig hoffen als Autor, dass man auch außerhalb von Kreisen wahrgenommen wird, die eine ausschließlich popkulturelle Sozialisation durchlaufen haben und sich darauf auch noch was einbilden.« Goldt, Max: Der Krapfen auf dem Sims. Reinbek bei Hamburg. Berlin 2001, S. 12 (»Mein Nachbar und der Zynismus«). 183 Stuckrad-Barre, Benjamin von: Grönemeyer vs. Westernhagen. In: Ders., Auch Deutsche. 2010, S. 290. 184 Vgl. Diederichsen, Diedrich: Musikzimmer. Avantgarde und Alltag. Köln 2005, S. 178 ff.: Die »Tagesspiegel«-Kolumne vom Spätsommer 2003, gewidmet dem 1981 entstandenen Stück »Memories«, nach ihm auch betitelt, verschränkt Beschreibung und Erzählung. Detailliert beschrieben wird in der Hauptsache, wie die junge, noch unbekannte Sängerin Whitney Houston und der Saxophonist Archie

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sicht endet bei Oasis, hinterm Horizont geht’s nicht weiter. Er, der über PopMusik nur unter anderem, daher weniger informiert schreibt, wiegt sich und die Leser in der Sicherheit, Qualitätsunterschiede innerhalb des Rock-Idioms zu setzen sei der kulturellen Innovation genug. Beide Objektwahlen aber, die avantgardistische wie die letztlich Mainstream-orientierte, veranschaulichen, warum auf jede In- eine Exklusion kommt. Jede Aufwertung des profanen Raums betrifft nur ein beschränktes Fragment, verschiebt die Wertgrenze zwischen Geweihtem und Profanem, ohne die Grenze selbst aufzuheben, annulliert die Werthierarchie nicht, sondern erneuert sie durch Veränderung. Keine ganz taufrische Erkenntnis, 185 und doch erinnernswert in Hinblick auf Pop-Literatur, die häufig als egalisierend missverstandene.Viertens kennt Geschmacksterror meist ein Verfallsdatum, was literaturwissenschaftliche Wertzuschreibungen ex post erlaubt. Einer Reminiszenz von Goldt zufolge begann Anfang der Achtziger ein Zynismus um sich zu greifen, der »bestimmte äußerliche Überbleibsel des vorangegangenen Jahrzehnts, ›Jutekutten‹, lange Haare bei Männern«, vor allem aber die ›Betroffenheit‹ »mit antipodischer Shepp in »einer der zehn schönsten Aufnahmen der gesamten Popgeschichte« brillieren (Timing, Phrasierung, Art des Chorus etc.), vor allem aber, wie das ungleiche Paar – sie kommt vom Gospel, er vom Free Jazz – harmoniert. Erzählt wird das Aufeinandertreffen als Kairos, als der glückliche Augenblick, in dem mit Bill Laswell schon ein Produzent wirkt, der heterogenste Musiker und Musikkonzepte zusammenbringt, und Houston noch nicht der »unbeschränkt schönsängerischen Knödelei« ihrer späteren Jahre verfallen ist. Im Licht des Kairos lassen sich die Lyrics auf die Interpretin beziehen, pro- wie analeptisch: »I have to choose between yesterday and tomorrow, singt Whitney Houston. Tomorrow war keine gute Wahl, Yesterday wäre es aber auch nicht gewesen.« Wenn der Autor nun beschreibt, wovon der Song im Kern handelt: von Erinnerungen, bei denen man nicht bleiben, die man aber auch nicht loswerden kann, beschreibt er die Kolumne selbst. Zu Anfang beteuert er noch, nicht den Fehler machen zu wollen, anlässlich ihres fünfzigsten Erscheinens (»würdiges Alter«) nur noch vom »Wesentlichen« zu sprechen. Im Folgenden tut er genau dies, wird er die Erinnerung an eine Sternstunde nicht los. Selbstreferenz und Melancholie, beide nur durchscheinend, verdichten sich im Schlusssatz, »Das war vor 22 Jahren«. Intertextuell spielt er auf eine Nummer der Fehlfarben von 1980 an (»Das war vor Jahren«), intratextuell auf eine frühere der in »Musikzimmer« versammelten Kolumnen (»Vor Jahren«), die feststellte, aus der Fehlfarben-Zeile spreche die »präpotente Sicherheit«, »dass man das Beste allemal hinter sich hat« (S. 141). Ein Befund, den die »Memories« mit der Schlusszeile auf sich selbst zurückfallen lassen. Doch markieren sie auch eine Differenz: Präpotent an der Sicherheit der Fehlfarben war, dass sie sich einer erst zwei, drei Jahre zurückliegenden Zeit erinnerten (1977/78 kommt Punk nach Deutschland). Weniger anmaßend schon ist die Sicherheit nach 22 Jahren, sie verhelfen der Melancholie zu mildernden Umständen. – Nach einem Gegenstück bei Stuckrad-Barre zu fragen, wäre unfair. 185 Vgl. Groys, Über das Neue. 1993, S. 58 – 65.

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Verbissenheit« bekämpft habe: »kurze Haare, Plastikkleidung, und vor allen Dingen mußte möglichst kalt und scharf geredet werden gegen alles, was nach Fürsorge und Nachsicht, nach ›Toleranz‹ zu rufen schien.« Daraus sei im Lauf von zwei Dekaden eine regelrechte »Zynismusindustrie […] mit stinkenden Schornsteinen in allen Medien« entstanden. »Die Form von Betulichkeit jedoch, gegen die die Vertreter des gewerbsmäßigen Zynismus aufbegehren zu müssen glauben, die ist so gut wie ausgestorben, und längst sind sie es selber, die den Massengeschmack verkörpern, gegen den zu opponieren wäre.« 186 Wenn auch wohl auf Harald Schmidt bezogen, erfasst der letzte Satz treffend das größte Manko der jüngeren Pop-Literaten, das oben nur angedeutete: Wer, wie Stuckrad-Barre (zeitweilig Schmidts Gag-Schreiber), noch Ende der Neunziger Figuren wie »Hippie-Klaus« oder die »schreckliche Frau« aufs Korn nimmt, besiegt einen Popanz. Zu dieser Zeit hat die Alternativkultur ihre Hegemonie längst hinter sich, jegliche Form von ›Gutmenschen‹-Schelte ist wohlfeil geworden. Verhält es sich aber so, fällt auf die Gegengegenkultur ein vorteilhafteres Licht. Sie setzte sich noch von einem sehr realen, nicht einem simulierten Massengeschmack ab, vom Biedersinn jener mehreren hunderttausend Demonstranten etwa, die sich um der guten, friedensbewegten Sache willen Bots bieten ließen. Auch wäre die Rede von Zynismus und antipodischer Verbissenheit zu präzisieren. Man mag es im Nachhinein bedenklich finden, dass, z. B., den frühen Glaser die »röhrende Sinnfälligkeit und die routinierte Beschämung von einem Satz wie ›In Indien sterben die Leute‹« »von gewaltigen Nahrungsmittelvernichtungen« träumen ließ, »Fahrten mit einem geländegängigen Rasenmäher durch weite Gemüsebeete und Lohen von grünen Fetzen, die links und rechts wegfauchen«. 187 Aber das war eher unterhaltsamer als verbissener Zynismus – und noch kein standardisierter. Auf die Phasenverschiebung kommt es an; ob man das Alternativen-Bashing Anfang der Achtziger oder Ende der Neunziger betreibt, ist ein Unterschied ums Ganze, der zwischen Eigensinn und Yuppie-Folklore, Avant- und Arrière­garde. 188Fünftens 186 Goldt, Der Krapfen. 2001, S. 8, 13 (»Mein Nachbar«). 187 Glaser/Stiller, Der große Hirnriß. 1983, S. 105 f. 188 Nicht jeder Anschluss an bereits etablierte Geschmacksschelte lässt sich umstandslos der Arrièregarde zurechnen. Wenn Stuckrad-Barre gegen den Rockismus zu Felde zieht, steckt darin zwar eine Mitgift von Diederichsen, doch auch wenn es an Originalität (und Konsequenz) ein wenig hapert, Restsubversivität kann man dem Erben bescheinigen. Der Rockis­mus hat sich als zählebiger als die Alternativkultur erwiesen, daher gibt er nach wie vor ein plausibles Aggressionsobjekt ab. Überhaupt nachvollziehbar, dass bestimmte kulturelle Größen auf gleich zwei nachwachsende Generationen wie Aggressionsmagneten wirken können. Im literarischen Feld ist es Grass, für Stuckrad-Barre zu links, für den frühen Goetz nicht links genug, beiden zu selbstgefällig – woran eine Unschärfe der Theorie des literarischen Feldes kenntlich wird: Einleuchtend, als Avantgardisten Akteure zu bezeichnen, die »nur Epoche machen können, wenn sie diejenigen aufs Altenteil schicken, die Interesse daran

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können wir mit dem Geschmacksterror Reibungsflächen innerhalb und zwischen den künstlerischen Generationen erkunden. Der Markenkult, sei er noch so ironisch gebrochen, bildete den Kitt der Tristesse-Royale-Gruppe und ihr wichtigstes Abgrenzungsmerkmal zur Gegengegenkultur. Zugleich verdeckte er dem Feuilleton, wenn nicht den Beteiligten selbst, dass Stuckrad-Barre mit dem Anti-Rockismus a) allein in der Gruppe stand und b) eine verkappte Beziehung zum frühen Diederichsen unterhielt, dem marxistischen Schreckensmann. Hinzu kommt, dass seit Mitte der Neunziger im deutschen literarischen Feld zwei künstlerische Generationen synchron agieren: die neueren Betreiber des Geschmacksterrors und die arrivierte Avantgarde der Achtziger, die ihn bereits durchlaufen, das Alternativen-Bashing etwa längst eingestellt hatte. Seitdem lässt sich beobachten, wann sich die Koexistenz friedlich gestaltet und wann agonal. Keine Schwierigkeiten hatten die nachrückenden Autoren mit Glaser, der sich nun ganz den digitalen Landschaften widmete, die ihn seit je faszinierten. Ebenso wenig mit Goetz, der von ironischer Affirmation (»Wir brauchen […] Pop und nochmals Pop. Mehr vom Blauen Bock, mehr vom Hardcoreschwachsinn der Titel Thesen Und Akzente Sendungen«) 189 auf unironische umschaltete – etwa mit der Verneigung vor der »Augenblicklichkeits­ kunst« 190 der DJs. Umso größer wird die Spannung zwischen den Jüngeren und dem Kopf der Gegengegenkultur. Just in der Phase, da Alternativen-Schelte zum Volkssport wurde und »Faserland« griffige Anti-PC-Vokabeln lieferte, Kracht sich zumindest damit im besten Einvernehmen mit dem deutschen Feuilleton befand, verteidigte Diederichsen die Political Correctness 191 – mit der Begründung, unter neokonservativen Vorzeichen sei auf der Politizität von Sprachregelungen zu bestehen, eine weitere Ridikülisierung von Ey-Du-Linken dagegen obsolet, gratismutig, ja schädlich. Eine scharf antizyklische Bewegung, mit der er sich vom Gros des Feuilletons wie auch von den neueren Pop-Literaten abhob, nur zu seinem Vorteil. Durch die Wahrung subkulturellen Kapitals (politische Unnachgiebigkeit / Kenntnis der US-Debatten) erhöhte er noch das Ansehen in der auf Dissidenz gestimmten Konsumentengruppe. Eine andere Konfliktquelle: Wenn Diederichsen heute mit zunehmender Strenge haben, die Zeit anzuhalten, den gegenwärtigen Zustand zu erhalten« (Bourdieu: Die Regeln. 1999, S. 253). Eins aber wäre hinzuzufügen. Da der HerausfordererPart von zwei aufeinander folgenden Generationen übernommen werden kann, ist, anders als von den »Regeln« vorausgesetzt, der Widerstand gegen kulturelle Orthodoxie nicht unbedingt an Originalität gekoppelt. Der Anti-Rockismus des Erben zeigt, wie die zweite Generation stillschweigend an die erste anschließen und die Propheten-Position kapern kann, während sie realiter die Arrière- in der Avantgarde bildet. 189 Goetz, Subito. 1983, S. 21. 190 Ders., Rave. 1998, S. 84 f. 191 Diederichsen, Diedrich: Politische Korrekturen. Köln 1996.

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die »voraussetzungsreich[e], komplex[e] und, ja, geradezu verbissen ernst[e]« Verhandlung von Pop-Musik gegen eine zwanghaft lockere von Hinz und Kunz verf icht (»keine Standards außer persönlichem Geschmack und Erinnerungen«), 192 dürfte darin ein Seitenhieb auch auf Stuckrad-Barre stecken, was partiell nachvollziehbar wäre: Kommt des Nachfahren Bewertungsfreude ohne Begründungen aus, wie in »Soloalbum«, wirkt sie wie Geschmacksterror auf Schwundstufe. Für die Autoren selbst ergibt sich die Notwendigkeit, generationelle Differenzen zu betonen, dann, wenn sie aufgrund entfernter Ähnlichkeiten Gefahr laufen, verwechselt zu werden und den Eindruck gewinnen, durch den Erfolg ihres frühen Tuns unwillentlich die Schleusen für dessen Billigvarianten geöffnet zu haben. Sechstens lässt sich einwenden, die hier vorgestellte Kategorie spanne grundverschiedene Dinge zusammen. Ein rein metaphorischer Begriff ist Geschmacksterror, wenn er apodiktische Wertungen meint. Mögen sie auch Kränkungen hinterlassen, gestorben ist noch keiner daran. Dramatisierend erscheint auch die Metapher von ›Geschmacksdiktaten‹ – niemand muss sich ihnen beugen. Der geschmäcklerische Umgang mit buchstäblichem Terror dagegen tangiert das reale Morden, Sterben, Leiden. Obgleich auch hier kein Identitätsverhältnis besteht, bewegt er sich auf moralisch heiklerem Gebiet, sorgt er für ein höheres Affektniveau. Wenn ich vom Unterschied der Redeformen dennoch absehe, dann wegen ihres Tertium comperationis. Beide sind vom Glauben ans Subversive beseelt, insofern ersetzen sie eine Pop-Strategie von 1968, deren Provokationswert sich spätestens in der permissiven Gesellschaft der frühen Achtziger erledigt hatte: die Pornographisierungen bei Rolf Dieter Brinkmann. 193Aber steht es ums subversive Potential des Geschmacksterrors besser? Da sieht die Bilanz, siebtens, eher ernüchternd aus. Glücklich ein Brussig, der im Es-war-einmal von einer hysterischen, Pop-Kultur noch fürchtenden Staatsmacht erzählen konnte. In der DDR war auf das Einschreiten des »Abschnittsbevollmächtigten« Verlass, es stärkte den Glauben der Untertanen an »gefäääährlich[e]« 194 Produkte. In pluralistischen Gesellschaften tun sich Pop-Musik wie -Literatur traditionell schwerer, Anstoß zu erregen. (Unterbeschäftigte Po­li­ti­ker-Gattinnen wie Tipper Gore, die auf jugendgefährdenden Tonträgern den Parental-AdvisoryAufkleber sehen wollen, beiseite gelassen.) Für das Luxusproblem – wer sehnte sich nach vormodernen Zuständen? – liefert der Geschmacksterror das jüngste Beispiel. So ungeschickt, empört auf ihn zu reagieren, sich Verärgerung anmerken zu lassen, sind zumindest die professionellen Rezipienten nur in Ausnahmefällen. Meistens achten sie auf einen herablassenden, demonstrativ

192 Ders., Musikzimmer. 2005, S. 12. 193 Denken wir an die Sexualisierung von Batman und Robin, der im Original noch aseptischen Comic-Figuren, im »Piloten«-Band. 194 Brussig, Sonnenallee. 2001, S. 54.

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unbeeindruckten Ton. 195 Von einem Störfaktor ohnehin keine Rede sein kann im Fall der Tristesse-Royale-Gruppe; ihr Allerweltskonsumismus verhält sich zur Subversion wie Peter Hahne zur Weltrevolution. Doch gibt es noch ein tiefer liegendes Problem. Wer in diesem Text eine hundertprozentig einseitige, nämlich eine Niedergangsgeschichte sieht, von den heroischen Dissidenten der Achtziger zu den Scheindissidenten der Neunziger übertreibt: nur eine neunzigprozentige. So vorteilhaft sich die Gegengegenkultur im Vergleich ausnimmt, so wahr ist auch, dass ihr die Grenzen der Subversion früh aufgezeigt wurden. Der 25. Juni 1983 in Klagenfurt sieht eine Schlüsselszene. »Subito« bietet alle Elemente auf, die wir hier terminologisch überdacht haben: von den Beschimpfungen (des literarischen Establishments, der neuen sozialen Bewegungen) bis zu den Huldigungen (an »Neger Negersen«, an die Maler und PopMusiker), von der Exekutionsphantasie bis zum gesuchten Zynismus (»So ein Krüppel wird einem mit seinem spastischen Gefummel lästig«). 196 Und das Ergebnis? Marcel Reich-Ranicki lobt überschwänglich: »[…] selten habe ich einen Text gehört, in dem so viel Leben wäre […].« 197 Ein Akt der Vereinnahmung, für den eine Erklärung ist, dass der Kritiker auf den Überraschungseffekt von Tirade und Rasierklinge mit der Überraschung affirmativer Reaktion antwortete, also seinerseits mediengerecht. 198 Kein Einwand, doch rühmte Reich-Ranicki noch aus einem anderen, feldbezogenen Grund. Goetz’ spektakulärste Attacke, die gegen Böll und Grass, war Musik in den Ohren des Ex-Kommunisten, der die Veteranen des Engagements schon lange zurechtgestutzt sehen wollte. Mit der Aufwertung des Jungautors nutzte er die Gelegenheit, die Abwertung der beiden etablierten zu verstärken. Dass Goetz sie genau genommen von der anderen, linksradikalen Seite aus angegriffen hatte, fiel nicht ins Gewicht, war in diesem Moment eine unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegende Petitesse. Die Instrumentalisierbarkeit von »Subito« zeigt, dass der Einsatz eines literarischen Propheten, mag er noch so kulturrevolutionär intendiert sein, im Geltungskampf der Priesterschaft (hier: konservativer Star-Kritiker vs. führende ›Gesinnungsästheten‹) fungibel werden kann. Nun gibt es für das Lob auch die näher liegende Erklärung, dass Goetz Reich-Ranicki von der Masse der anwesenden Kritiker, den »Nullen«, als den »Titan« abgehoben hatte. Und war er nicht auch von ihm eingeladen worden? Ja, aber wer aufs Schmeicheln und Geschmeicheltsein hinaus wollte, machte es 195 In diesem Sinn zur Rezeption von »Soloalbum« Baßler: Der deutsche Pop-Roman. 2002, S. 109, 210. Um einen paternalistischen Ton bemühte sich schon Peichls »Sex­beat«-Verriss (FN 85). 196 Goetz, Subito. 1983, S. 12. 197 Zit. n. Doktor, Thomas/Spies, Carla: Gottfried Benn – Rainald Goetz. Medium zwischen Pathologie und Poetologie. Opladen 1997, S. 93. 198 So Doktor/Spies, ebd., S. 94.

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Deutsche Pop-Literatur

sich zu einfach. Als leicht beeinflussbar galt Reich-Ranicki nie, auch unterliegt eine Jury-Situation wie die von Klagenfurt einer bestimmten sozialen Logik. Verbeugungen eines Beurteilten vor einem der Urteilenden werden von diesem in der Regel als Anbiederung abgelehnt, schon weil er sich von den anderen Juroren beobachtet weiß. Zu fragen wäre eher, warum dieser Juror sich trotz der Titanen-Rede für den Text aussprach. Die Ausnahme verdankte sich nicht allein Mediengeschick und Feldstrategie, mithin dem Eigeninteresse; im positiven Votum sprach auch ein viszerales Gefallen mit, jenseits allen Kalküls. Dass »Subito« die soziale Welt in Nichtswürdiges und Großartiges einteilte, Schwarz-Weiß-Apodiktik pur zelebrierte, war ganz nach dem Geschmack eines Kritikers, der selbst strikt binär zu urteilen pflegte, nur gute und schlechte Texte, Verriss und Eloge kannte, im kompletten Desinteresse an Dezenz und Ausgewogenheit ein Exot unter den Bildungsbürgern. In Goetz erkannte Reich-Ranicki einen Teil seiner selbst, den Willen zur ›Deutlichkeit‹. Das heißt, achtens und letztens: Geschmacksterror kann Allianzen zwischen der PopLiteratur und ihrem Außen stiften. Goetz selbst nahm den Kongruenzpunkt sehr genau wahr. Vor der Lesung befand er sich in der delikaten Lage, auf dem Ticket eines Mannes anzureisen, den im Kreis der jungen Bolschewiken zu begrüßen sich eher nicht empfahl. Es war eine vor-politische Form des Brückenschlags gefragt und zugleich eine über jeglichen Anbiederungsverdacht erhabene – zumal angesichts des Risikos, subkulturellen Kapitals verlustig zu gehen. Gelingen kann so eine Gratwanderung, wenn man den Angesprochenen nicht namentlich nennt, auf seine Urteilspraxis nur anspielt und sie in einer Weise auszeichnet, die sich zur Ästhetik des eigenen Textes allemal stimmig verhält: »[…] vier Tage lang sabbeln die Nullenkritiker ihr gut abgewogenes gut abgehangenes Nullengesabbele daher und der Titan wischt es gelangweilt oder angeätzt oder emphatisch, in jedem Fall mit grandios apodiktischer Gebärde, einfach und sauber, wie sich das gehört, vom Tisch.« 199

199 Goetz, Subito. 1983, S. 17.

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Petra Žagar-Šoštarić Begegnungsraum Pop – Rujana Jegers Roman »Darkroom«

I. Die kroatische Schriftellerin Rujana Jeger, 1968 in Zagreb geboren und 1991 zur Zeit des Krieges in Kroatien nach Wien emigriert, schrieb 2001 auf Kroatisch ihren Erstlingsroman »Darkroom«, der gleich darauf von Brigitte Döbert ins Deutsche übersetzt wurde. Jeger arbeitet, wie einige bekannte deutsche Popautoren (z. B. Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre), auch als Journalistin. Sie schrieb für die Frauenzeitschriften »Cosmopolitan«, »Elle«, die schwedische Zeitschrift »Amelie« und die österreichische »Die bunte Zeitung«. 1 In Kroatien wurde sie vor allem durch »Darkroom« bekannt. Der Roman steht im Zentrum des vorliegenden Beitrags. Obwohl Jeger, ebenso wie viele andere kroatische Autoren, mit den dramatischen und grauenhaften Auswirkungen des Krieges in Kroatien Anfang der 1990er Jahre aufgrund des Umzugs nach Wien nur indirekt konfrontiert wurde, antwortet sie mit ihrem Roman auf die ›herausfordernde Wirklichkeit‹ nicht mit dem Einsatz einer »dokumentarischen Methode im Kriegsroman«, sondern mit der Integration popkultureller Phänomene – und dies zu einer Zeit, in der der Krieg »als der entscheidende außerliterarische Faktor […] die ausgeprägte Neigung zu dokumentarischen Mischformen begünstigte.« 2 Romane, die in der Zeit zwischen 1990 und 2000 in Kroatien erschienen sind, werden in der kroatischen Literaturwissenschaft oftmals als »Kriegsromane« bezeichnet. 3 Diese Einordnung ist für Jegers Erstlingsroman jedoch wenig überzeugend. Ebenso fraglich erscheint die Bestimmung des Textes als ›urbane Literatur‹ (urbana knjževnost) 4 und nicht – wie es produktiver erscheint – als Va1 Gedacht ist hier an die kroatische Ausgabe der genannten Frauenzeitschriften. 2 Car, Milka: Von der testimonialen Prosa bis zum Postmodernismus. Kroatischer Dokumentarroman in den 1990er Jahren. http://kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/MCar3.pdf (Zugriff am 15.10.2010). 3 Vgl. dazu weiter die Behandlung zur Thematik »Kriegsliteratur« in: Kolo 3, 1998, S. 514 – 555 und Car, Prosa. 2010. 4 Neben der Bezeichnung ›urbane Literatur‹ ist noch die Bezeichnung ›Wirk­lich­keits­ pro­sa‹ (stvarnosna književnost) geläufig, diese wird aber in dieser Arbeit nicht weiter analysiert.

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Petra Žagar-Šoštarić

riante von Popliteratur. Die eigentümliche Rubrizierung hängt vor allem damit zusammen, dass in Kroatien das Phänomen ›Popliteratur‹ bislang nicht hinreichend diskutiert wurde. Dabei finden sich nach 1990 Texte, die durchaus unter diesem Genre-Begriff zu subsumieren wären. 5 Dies betrifft z.B. die Texte der sogenannten ›FAK-Autoren‹ 6, die offensichtlich über vergleichbare Merkmale verfügen wie die deutschsprachigen Romane von Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre oder Alexa Hennig von Lange. Nachfolgend ist deshalb zu fragen, ob und inwieweit für Romane wie »Darkroom« – und auch Texte von Nenad Rizvanović, Edo Popović, Simo Mraović, Borivoj Radaković, Roman Simić oder Dermano Senjanović – eine solche Einordnung im kroatischen bzw. im ex-jugoslawischen Raum überhaupt möglich ist. Ausgegangen wird dabei von einer spezifischen Auffassung dessen, was man ›Pop‹ nennt. Für Jörgen Schäfer gilt ›Pop‹ als ein »variierender Verbund aus jeweils ganz spezifischen Popsongs, Kleidungsmoden, Filmen, (Selbst-) Inszenierungspraktiken und bisweilen auch subkulturellen Ideologien, die in wechselnden Filiationen immer wieder von neuem konstruiert« werden 5 Bis ins Jahr 2008 wurde in Kroatien der Begriff ›Popliteratur‹ nicht verwendet. Zum ersten Mal sprach man explizit über Popliteratur beim »Festival der Popliteratur«, das im Jahre 2008 in Zagreb stattfand. Eine Stellungnahme zum Festival durch Literaturkritik und Literaturwissenschaft gab es nicht. Es finden sich auf zahlreichen Internetseiten und Zeitungsbeiträgen lediglich Hinweise auf das Programm. Der Grund liegt wahrscheinlich einerseits darin, dass das Festival (dem Programm zufolge) keine bekannten Schriftsteller präsentierte bzw. aufnahm wie etwa Edo Popović, Nenad Rizvanović oder Miljenko Jergović. Andererseits ist zu vermuten, dass das Projekt wegen seiner losen Rahmenorganisation fehlgeschlagen ist. Das Festival subsumierte unter dem Begriff ›Popliteratur‹ zudem alternative Filme, Slam-Poetry und nicht etablierte Musiker. Der Begriff ›Popliteratur‹ wurde allerdings nach meiner Übersicht nicht definiert, sondern lediglich als Etikett eingesetzt. 6 FAK ist die Abkürzung für »Festival alternativne književnosti« (Festival der alternativen Literatur). Im Zeitraum zwischen 2000 – 2002 fanden sieben FAK-Festivals in unterschiedlichen Städten Kroatiens und außerhalb des Landes statt (Osijek, Zagreb, Pula, Novi Sad, Motovun und Belgrad). An diesen Veranstaltungen nahmen mehr als zwanzig Autor/Innen teil (z.B. Stanko Andrić, Zoran Ferić, Tatjana Gromača, Miljenko Jergović, Simo Mraović, Jurica Pavičić, Robert Perišić, Krešimir Pintarić Edo Popović, Borivoj Radaković, Zorica Radaković, Nenad Rizvanović, Roman Simić, Đermano Senjanović, Ante Tomić, Neven Ušumović u. a.), von denen die meisten nach 1990 zu veröffentlichen begannen. Es hat sich gezeigt, dass die Literatur des FAK in Kroatien von einem sehr heterogenen Publikum rezipiert wird, wobei die Gruppe der jüngeren Leser deutlich hervorsticht. Gemeinsam ist den meisten Texten de FAK, dass sie ihren Ausgangspunkt im Kriegserlebnis nehmen vom Leben der Menschen nach dem Krieg handeln. Insofern erlauben die Texte einen hohen Grad an Identifikation der betroffenen und nachfolgenden Generationen. Vgl. dazu: Žagar, Petra: Neuere kroatische Literatur in deutschen und slowenischen Übersetzungen. In: Informatologia 38, 2005, S. 107 – 113.

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Pop und Rujana Jegers Roman »Darkroom«

kann. 7 Vergleichbar hat Carsten Gansel ›Pop‹ definiert und dies an der Untersuchung unterschiedlicher deutschsprachiger Pop-Romane gezeigt.  8 Die genannten Merkmale von ›Pop‹ lassen sich – so die Position – auch am Roman »Darkroom« nachweisen. II. Betrachtet man die Ebene des ›Histoire‹, also das ›Was‹ des Erzählens, dann ist in der Kritik herausgestellt worden, dass die Autorin »leichterdings über Situationen und Figuren« berichtet, ähnlich wie in deutschsprachigen Popromanen. Zusammenfassend heißt es in diesem Sinne: »Darkroom zeichnet das Bild eines Zustandes, wie ihn eine junge Generation überall auf der Welt heute vorfindet, allerdings verschärft durch Erfahrungen und Umbrüche, die anderen erspart geblieben sind.« 9

In Jegers »Darkroom« scheint in der Tat »die Post auf westeuropäisch-amerikanische Weise abzugehen« 10, wie Jörg Plath notiert. Allerdings – und dies gilt es zu betonen – spielt für die literarische Konfiguration die erfahrene Wirklichkeit eine zentrale Rolle und diese ist im Ex-Jugoslawien letztlich durch Vertreibung, Belagerung, Vergewaltigung, Flucht und Verwüstung gekennzeichnet. Insofern werden amerikanisch-westeuropäische Liebesgeschichten mit existentiellen Fragestellungen gemischt und das Ganze mündet in einer inneren Leere der Protagonisten. Durchweg sind im Text die Folgen der Zerstörung spürbar: Auch der Sex ist hart und schmutzig wie der Krieg. Der auf den ersten Blick banale Alltag wird immer wieder durch geschichtliche Parabeln konterkariert, die letztlich über das ›Prinzip Erinnerung‹ funktionieren: »Tommy ist Rockstar. Das Fernsehen ist mein zweites Zuhause sagt er. Wir kennen uns fast fünfzehn Jahre. Mit fünfzehn war ich in ihn verknallt. Warum hast du dich mir niemals hingegeben, schmeichelt er mir. Hast du je danach gefragt? Ich sehe ihm in die Augen. Nein, antwortet er verwirrt. Er hat eine Frau und ein kleines Kind. Nach einem Konzert kommt er morgens als letzter aus dem Hotelzimmer.« 11 7 Schäfer, Jörgen: Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968. In Text+Kritik. Sonderband. Popliteratur. X/2003, S. 7 – 26. Siehe auch Gansel, Carsten: POP bleibt subversiv. Gespräch mit Andreas Neumeister. In: ebd., S. 183 – 196. 8 Vgl. Gansel, Carsten: Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Popliteratur. In: ebd., S. 234 – 257. 9 http://www.lsw.beck.de/productview.aspx?product=12614&toc=4073 (Zugriff am 13.11.2008). 10 Jörg, Plath: Drastischer Realismus aus Kroatien. »Kein Gott in Susedgrad. Neue Literatur aus Kroatien«. Unter: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik (Zugriff am 18.5.2010). 11 Jeger, Rujana: Darkroom. München: C.H. Beck 2001, S. 30.

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Petra Žagar-Šoštarić

Wer hier erinnert, das ist die noch unter Tito geborene Protagonistin Morana, die wie die Autorin selbst mit Iggy Pop und Lou Reed aufwächst, »um mit 21 Milosevics Zug aufs Amselfeld und die nachfolgenden Jahre des Krieges, der Zerstörung und der Auswanderungswellen zu erleben«. 12 Inzwischen hat Morana ihre Geburtsstadt Zagreb verlassen und lebt in München, während ihr Vater und dessen immer jünger werdende Frauen nach Amerika ausgewandert sind. Moranas Mutter ist allein und krank. Als ihre Eltern noch jung waren, waren sie Balkan-Hippies. Die Kindheit und Jugend Moranas stellt sich als eine Art Patchwork aus Tradition (Balkan-Sozialismus, der blockfrei war) und westlich beeinflusstem Hedonismus dar. Und dennoch empfindet die Ich-Erzählerin, dass ihr Leben vor 1990 chaotisch-orientierungslos, aber gleichwohl interessant war. Einmal mehr wird diese Einschätzung über eine Analepse aktualisiert: »In der Grundschule habe ich Slađana Milošević imitiert. Wenn wir Besuch hatten, schminkte ich mich und zog das Kleid meiner Schwester an. Ich sang, während sich meine Alten und die Gäste vor Lachen bogen. Ich konnte kaum neuen Besuch erwarten. […] Nach fast zwanzig Jahren traf ich Tanja in einem Club. Wir tranken ein Bier und erinnerten uns an die Zeiten in der Grundschule. Alle dachten, ihr sammelt Gras für den Eigenbedarf. Wir lachten, bis wir Seitenstechen bekamen.« 13

Vor dem Hintergrund der Entwicklung nach 1990 erscheinen Kindheit und Jugend in einem geradezu nostalgischen Licht. Denn nach 1990 zerfiel alles und die gesellschaftlichen wie persönlichen Beziehungen wurden zerstört. Auf der privaten Ebene zeigt sich dies in der schmerzlich empfundenen Trennung der Eltern. Von daher gerieten die Protagonisten in eine Art ›Nirgendwo-Land‹, das Jeger mit dem Begriff »Darkroom« belegt. Die Folgen für das Sein der Protagonisten konnten dramatischer nicht sein, entstanden ist eine ›lost generation‹ jenseits von Familie, Tradition, Staat, Beruf, aber inmitten von Konsum, Liebe, Krieg und Alkoholexzessen. Geblieben ist neben Flucht, Tod, und Orientierungslosigkeit aber etwas Entscheidendes, die Erinnerung! Vor dem Hintergrund des Erinnerten diskutieren die Protagonisten permanent den Sinn des Daseins und die Frage, ob es möglich ist, einen neuen Weg im fremden Land zu finden: »Wo siehst du dich selbst? fragte Lidija. Du mußt dich irgendwo sehen. Wir standen in einem Schuhgeschäft und besprachen, während unsere Blicke abwesend über das Angebot schweiften, eine wichtige Entscheidung, die 12 Leipziger Buchmesseprogramm »Leipzig liest Kroatisch«. http://www.leipziger-buchmesse.de/letter/200706/letter.html (Zugriff am 14.06.2010). 13 Jeger, Darkroom. 2001, S. 29f. – Slađana Milošević ist eine serbische Sängerin, die sich selbst als Ikone der 1980er Jahre bezeichnet, als die Bewegung »Novi val« (in Kroatien)/»Novi talas« (in Serbien) oder im Deutschen die »Neue Welle« (im Engl. »New Wave«) aktuell war (»Au, Au«, »Baby«, »Amsterdam« und »Neutral Design« sind einige ihrer bekanntesten Musikstücke).

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Pop und Rujana Jegers Roman »Darkroom« ich nicht treffen konnte. Bleiben oder gehen. Das Problem ist, daß ich mich in einer Stadt wohlfühle, in der mich niemand kennt, weil sie mir die vollkommene Anonymität bietet. Andererseits ist mir nicht klar, warum man nur dann zu leben meint, wenn es vor den Augen der Öffentlichkeit geschieht. Wahrscheinlich werden manche Leute deswegen berühmt.« 14

Das Leben Moranas wie das der gesamten 90er-Generation, die im Krieg ›groß geworden‹ ist, spielt sich zwischen Boutiquen, Coffee-Shops und Clubs ab, durchaus Vergleichbar jenen Texten, die die deutsche Popliteratur ausmachen. Martin Halter hat von daher zutreffend notiert, dass sich das Leben der Protagonisten um Drogen, Sex und Rock’n’Roll dreht, während sich die Zerrissenheit des Landes in den verworrenen Familienverhältnissen widerspiegelt. 15 Über Erinnerungssequenzen und kurze Momentaufnahmen wird offenbar, wie stark die Protagonistin unter dem Verlust der Normalität leidet und wie schwer es ihr fällt, das Geschehene zu verarbeiten: »Warum haben Sie Ihre Nationalität nicht angegeben? fragt der Konsul. Davon hängt Ihr Visum ab. Ich habe keine, antworte ich und lache. Wenn ich eine hätte, würde ich jetzt nicht in München leben. Was sind Ihre Eltern? fragte er. Papa ist Serbe und Mama Staatsfeind, antworte ich. Er lacht, ich weiß, daß ihm das gefällt. Großmutter fragt mich, wie ich nach Jugoslawien fahre. Mit dem Zug antworte ich. Der Zug ist voller Serben, sagt sie.« 16

Beständig findet sich im Roman ein Wechsel zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitsebene, weil auf diese Weise ein Bild der verlorenen Kindheit gegeben werden kann: »Einmal hat es geregnet, während du [Morana – die Verf.] in der Schule warst, sagte Großvater. Ich habe den Regenschirm genommen und dich abgeholt. Die Stunde war noch nicht um, also habe ich beim Hausmeister bescheid gesagt, damit ich dich nicht verpasse. Er verstand mich falsch und sagte dir, dein Vater warte auf dich. Freudestrahlend kamst du angelaufen. Es hat weh getan, die Enttäuschung auf deinem Gesicht zu sehen.« 17

Fast übergangslos stehen neben Erinnerungen komisch anmutende Bemerkungen des homosexuellen Freundes oder offene Gespräche über Drogenkonsum: »Kristijan und ich brachten meine alte Hündin zum Einschläfern; sie konnte nicht mehr laufen. Kristijan nahm Schokolade mit. Als der Tierarzt ihr die Spritze gab, fütterten wir sie mit Schokolade. Sie fraß, bis sie einschlief. Kristijan sagte, ich solle ihm auch Schokolade geben, wenn er an Aids 14 Ebd., S. 37. 15 Vgl. Halter, Martin: Bürgerkrieg mit Iggy Pop. In: FAZ (21.09.2004). http:// www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/buergerkriegmit-iggy-pop-1179741.html (Zugriff am 21.03.2013). 16 Jeger, Darkroom. 2001, S. 12. 17 Ebd., S. 23.

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Petra Žagar-Šoštarić sterben würde. Dann ist es egal, dann werde ich ohnehin nicht mehr dick, sagte er. Ich will mit dem Geschmack von Schokolade auf den Lippen sterben, sagte Kristijan und führte mich aus der Praxis. Kristijan hatte Hepatitis. Die Leber tut weh, sagt er. Er hört nicht auf zu saufen. Kiff lieber, sage ich, das ist gesünder.« 18

Aus den erinnerten wie aktuellen Realitätspartikeln wird gewissermaßen ein ›Balkanbild‹ zusammengebastelt. Von »selbstgedrehten Zigaretten« 19 über die Partnersuche per ›Kleinanzeigen‹, über Produkte ausländischer Firmen wie »L’Oréal« bis hin zur Musik der »Simple Minds« und ihrem Song »Don’t you forget about me« 20 entsteht das Bild einer entwurzelten Welt: »Ist ja alles gut und schön. Davidoff-Zigaretten schmecken gut, zugegeben. Aber mir wären Bansko Pivo lieber. Aha, da haben wir die Nostalgie. […] Da geht’s schon los. Mein Leben ist eine traurige Geschichte. Bedauert mich. Über mein Leben wisst ihr allerdings mehr als ich, denn ich werde senil und vergesse sogar meine größte Liebe, wegen der ich mir die Pulsadern hatte aufschneiden wollen.« 21

Geradezu liebevoll hängt die Protagonistin an Relikten der Vergangenheit und weiß doch genau, dass eben dies nostalgisch genannt werden kann. Die omnipräsenten ›Mythen des Alltags‹ (Roland Barthes), Markennamen, Lebensmittelbezeichnungen oder Musik markieren – wiederum ähnlich wie in der deutschsprachigen Popliteratur – die Wirklichkeitswahrnehmung der Protagonistin. Diese popkulturellen Kennzeichen werden allerdings mit Kindheits- und Jugenderinnerungen an Familienmitglieder (Großeltern, Eltern), an das Land und die Popkultur des damaligen Staates – die YU-Popkultur – kombiniert oder mit dem gegenwärtig etwas komisch-fremden (fast sinnlosen) Alltag im fremden Land vermischt. In der Fremde geht es der Protagonistin darum, ihre Identität überhaupt erst wiederherzustellen und die Orientierungslosigkeit zu überwinden. Auskunft über diese Suche geben die in den Text eingebauten Briefe: »(Berlin, 23.09.1991) Arme Flüchtlinge! Nach einigen Tagen Aufenthalt im einstmals?! nazistischen Deutschland, mehr noch, im arischen Herz desselben, kratze ich ein paar Atome Kraft zusammen, um Euch zu schreiben. […] Und du, meine Liebe, laß dir geraten sein, falls Du die Ehre der verkauften slawischen Seele damit vereinbaren kannst, dann komm hübsch hierher, und ich verheirate Dich an einen netten Jürgen mit blondem Schnurrbart und hellen Schamhaaren und vor allem einem deutschen Paß.« 22

18 Ebd., S. 18f. 19 Ebd., S. 26. 20 Ebd., S. 21. 21 Ebd., S. 26f. 22 Ebd.

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Pop und Rujana Jegers Roman »Darkroom«

Durch das Zusammensetzen unterschiedlicher, nicht zusammenpassender Räume werden unterschiedliche Wirklichkeitserfahrungen vernetzt, wobei der Erzählton gleichzeitig glücklich, traurig und komisch wirkt. Die Stimme der Ich-Erzählerin ist – wie auch in der Kritik herausgestellt wurde – schnoddrig und erinnert durchweg tagebuchartige Einträge. Dabei bestimmt der allgegenwärtige Krieg die Situation der Ich-Erzählerin. In der Sicherheit des Exils in München bleibt die Protagonistin dennoch über die Medien mit der Situation in ihrem Heimatland konfrontiert und ist schockiert: »Ich sitze in einem Café und heule. Es ist Krieg, 1992. Kristijan hat eine Zeitungsnotiz ausgeschnitten, die Leute sollen Plastiktüten mit in den Schutzkeller nehmen für ihre Notdurft. Wir sind in München. Ich heule weiter.« 23

Es ist ein Gefühl der Hilflosigkeit, dass die Ich-Erzählerin beschleicht und das den gesamten Text durchzieht. III. Es ist bekannt, dass die sogenannte Popliteratur auf inhaltlicher, thematischer, formaler und stilistischer Ebene bestimmt werden kann. Popliteratur ist zudem und vor allem gegenwartsbezogen, wobei ein spezifisches Lebensgefühl dominiert, das durch die Inszenierung von Momentaufnahmen jugendlichen Alltags vermittelt wird. Carsten Gansel hat daher mit Recht herausgestellt: »Die neue deutsche Pop-Literatur ist in ihrem Kern Adoleszenzliteratur, ja eine Reihe von Texten stehen geradezu exemplarisch für den (post)modernen Adoleszenzroman.« 24 Da es zumeist (post)adoleszente Ich-Erzähler sind, die ihre Geschichten erzählen, dominiert der Stilzug der Mündlichkeit und spielen jugendsprachliche Elemente eine entscheidende Rolle. 25 Genau dies ist auch in »Darkroom« der Fall. Einmal mehr erinnert sich die Ich-Erzählerin an ihre Jugend: »Ich habe Kristijan kennengelernt, als ich in die elfte Klasse kam. Schon nach zehn Tagen schwänzten wir die Schule. Barbara gehörte auch dazu. Eines morgen tranken wir während der ersten Stunde Kaffe im blauen Keller und rauchten ›Filter 160 Menthol‹. […] Ernst schlürften wir unseren Kaffee und starrten nachdenklich auf den Boden. Ernst und depressiv sein war modern, nach dem Vorbild der Existentialisten. Man trug Schwarz. Auch ich habe ein schreckliches Geheimnis, sagte Christian unvermittelt. Jetzt beugten wir zwei Frauen uns vor, was denn, sag schon! Ich glaube, ich mag Jungs, sagte Kristijan leise. […] Inzwischen begann die zweite Stunde. Ich hatte als einzige kein schreckliches Geheimnis. Ich war als einzige nicht cool.« 26 23 Jeger, Darkroom. 2001, S. 14. 24 Gansel, Adoleszenz. 2003, S. 236. 25 Vgl. zu diesen Aspekten ausführlich Gansel, ebd. 26 Jeger, Darkroom. 2001, S. 34.

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Derartige »Kommunikationssituationen« sind in Jegers Roman wiederholt gestaltet und finden sich vergleichbar in der deutschen Popliteratur. 27 Die Sprache ist – wie in deutschen Popromanen – durchweg alters- und milieutypisch. Liebeskummer, Alkoholexzesse, Drogenkonsum und oberflächliche Freundschaften werden entsprechend verhandelt. So verbringt Morana die Feier zu ihrem dreißigsten Geburtstag »mehr oder weniger mit dem Kopf in der Spüle«. 28 Es ist die Rede von »versoffenen Schwuchteln«, vom »kotzen« und »Heia machen«. 29 Die Jugendsprache ist kombiniert mit der Betonung von Elementen, die auf Äußerlichkeiten verweisen; es sind dies bestimmte Kleidungsstücke, Lebensmittel, Markennamen, die für die Protagonisten wichtig sind – wiederum vergleichbar mit der deutschen Popliteratur. Und natürlich spielt für die jugendlichen Protagonisten das Prinzip der ›Störung‹ ein wichtige Rolle. Durchweg versuchen sie, sich durch ihr Äußeres vom Mainstream abzusetzen: »In dem Park, in dem ich meine Hunde ausführe, treffe ich oft zwei Fünfzehnjährige, übersät mit Piercings, wie das heute halt so ist. Sie führen einen Pitbull-Staffordshire-Born-to-Kill-Search-and-Destroy-Tyrannosaurus-Rex-Mega-godzilla-Killdozer-Terrier aus. Der Hund heißt Manson. Er ist zum Glück noch ein Baby. Heißt er nach Charles Manson oder nach Marilyn Manson? Frage ich und finde mich witzig.« 30

Die Ich-Erzählerin trinkt gerne, und zwar am liebsten kroatisches Bier (»Bansko pivo«), und sie bevorzugt die populären ex-jugoslawischen Zigaretten »Filter 160«. Mit ihren bewusst herausgestellten Gewohnheiten markiert die Protagonistin, dass sie zu einer Gruppe gehört, der die Erinnerung an die Vergangenheit wichtig ist. Gleichzeitig geht es immer wieder – und hier nähert sich der Text erneut dem, was man Adoleszenzroman nennen kann – um die Suche nach dem Sinn des Daseins und einen damit in Verbindung stehenden extensiven Hedonismus: »Ja, so ist es, viele junge Leute aus der Stadt wissen mit Ende zwanzig nicht, wo ihre Position in der Welt ist und ob es die überhaupt gibt. Nicht die Welt, die Position«, notiert die Ich-Erzählerin, um sodann fast einen soziologischen Bezug zur hinreichend bekannten ›Generation X‹ herzustellen: »Die sogenannte Generation X. Es fing kurz vor dem Zerfall Jugoslawiens an. Wann immer sich die Gelegenheit ergab, im Sommer, auf kurzen Reisen ins Ausland, spürte ich in mir eine wachsende Unruhe, die erst verschwand, wenn alles Geld ausgegeben war, das Geld in meiner Tasche, auf meiner Karte, auf meinem Konto, in Deiner Tasche oder in den Taschen naher

27 Vgl. Möckel, Margret: Erläuterungen zu Christian Kracht »Faserland«. Hollfeld: Bange Verlag 2007, S. 48. 28 Jeger, Darkroom. 2001, S. 75. 29 Ebd. 30 Ebd., S. 76f.

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Pop und Rujana Jegers Roman »Darkroom« Freunde, die sich dieser von Wünschen zerrissenen Gestalt – also meiner selbst – erbarmten.« 31

Eine weitere Analogie zu deutschen Texten der Popliteratur ist noch zu nennen: Die Bedeutung von Musik für Stimmungen, Gefühle und Erinnerungen der Protagonistin. Jeger greift auf Formulierungen und Slogans, ja auf die konkreten Titel von westeuropäischen und ex-jugoslawischen Popsongs zurück und montiert sie als Indikatoren für äußere Wahrnehmungen und psychischemotionale Vorgänge. Es geht also ganz im Sinne der Archivierungs- und Samplingmethode des Pop darum, Unterschiedliches zu kombinieren, zu vertauschen oder in ein neues Verhältnis zu bringen. 32 Dass fast verschüttete Erinnerungen wieder lebendig werden, daran hat die Musik der Jugendzeit ihren entscheidenden Anteil: »Zum ersten Mal nach zehn Jahren habe ich das untrügliche Gefühl, daß ich … se više neću vratit u svoj rodni grad … ganz wie in dem Popsong nie mehr in meine Geburtsstadt zurückkommen werde … Meine Knie sind aus Gummi, und mein Kopf ist aus Blei.« 33

Was hier auf den Punkt gebracht wird, nämlich die ständige Suche nach dem Ich, findet sich auch in anderen Texten der kroatischen Literatur nach 1990. Die Schrillheit der westeuropäischen Popkultur, die sukzessive in der kroatischen Kultur vor allem nach 1990 aufgenommen wird, geht eine gewisse Symbiose mit der noch existierenden ehemaligen gedämpft-sozialistischen und im Rückblick als ›glücklich/ideal‹ empfundenen Popkultur ein: »Als ich zum ersten Mal ›Lust for Life‹ gehört habe, war ich zwölf Jahre alt. Mein Onkel hat mir die Platte geschenkt. Tito war gerade gestorben. Jetzt drehen sie schon Filme über die achtziger Jahre. Mein Vater muß es ähnlich ergangen sein, als er Jahre später Woodstock und so schaute. Es ist scheußlich, wenn die eigene Jugend zur historischen Epoche wird.« 34

Abschließend lässt sich sagen: Rujana Jegers Roman »Darkroom« kann durchaus im Kontext der deutschsprachigen Popliteratur gelesen werden, insofern die Autorin genretypische Themen und Schreibweisen aufgreift, um die Situation ihrer jungen Protagonistin lebendig zu machen. Zugleich unterscheidet sich Jegers Roman in einem wesentlichen Punkt von Texten deutscher Autoren. Es ist das Trauma des Kriegserlebnisses und der Emigration, die die Identitätssuche von Morana entscheidend bestimmen. Die Vergangenheit und Gegenwart im kriegsgeplagten Ex-Jugoslawien bleibt als traumatisches Korrektiv der gegenwärtigen Konsumkultur, auf die sich Morana und ihre Freunde stürzen, stets präsent. 31 Ebd., S. 47. 32 Siehe dazu die Hinweise bei Carsten Gansel (Adoleszenz 2003) auf Leslie Fiedler oder Rolf Dieter Brinkmann. 33 Ebd., S. 49. 34 Ebd., S. 77.

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Werner Nell Die Heimaten der Vertriebenen – Zu Konstruktionen und Obsessionen von Heimatkonzepten in der deutschsprachigen Literatur nach 1989

»Wieder Wurzeln schlagen« 1, diese mehrfach im Roman angeführte Bemerkung 2 von Max Schulz, einem der Erzähler und der Protagonist in Edgar Hilsenraths 1977 erstmals erschienenem und ebenso viel beachtetem wie diskutiertem Roman »Der Nazi & der Friseur«, prononciert programmatisch den Tonfall, der nach den diversen Erfahrungen erzwungener räumlicher Mobilität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade auch den politischen und literarischen, nicht zuletzt biographisch orientierten Vorstellungen und Ausarbeitungen zum Thema »Heimat« nach 1945 zugrunde liegt. 3 Dass sich dabei in der Metapher des »Wurzeln Schlagens« ältere biologistisch getönte Vorstellungen von Identität und Zugehörigkeit mit programmatischen Ansprüchen verknüpfen lassen, wie sie im Rahmen der afro-amerikanischen Emanzipations- und Anerkennungsbestrebungen seit den 1960er Jahren in der Formulierung »back to the roots« in Erscheinung traten 4, hat nicht nur die Attraktivität und Außenwirkung des damit angesprochenen Programms erhöht. Vielmehr ist vor diesem Hintergrund zum Ende des Jahrhunderts auch eine neue Konvergenz älterer kulturkritisch gefärbter Ansätze hinsichtlich der »Entwurzelung« des Menschen unter den 1 Hilsenrath, Edgar: Der Nazi & der Friseur. Köln: Literarischer Verlag Braun 1977, S. 111. 2 Ebd., S. 181 f. 3 Vgl. dazu die umfangreiche, von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene Text- und Materialiensammlung: Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven. 2 Bde. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1990. Im Vorwort des Deutschen Heimatbundes schreibt dessen Präsident: »Heimat möge das sein und bleiben […]: eine menschlich gestaltete Umwelt mit überschaubarer räumlicher Verankerung sozialer Lebenswelten und das sowohl in historischer Einbindung als auch gestaltend mit dem Blick nach vorn, damit Heimat für den Menschen ein lebenswertes Umfeld bleibt, in dem man seine Existenz findet, das man gern hat und vielleicht sogar liebt.« Ebd., Bd. 1, S. 13. 4 So der programmatische und viel beachtete Roman von Alex Haley; vgl. Haley, Alex: Roots. The Saga of an American Family. Garden City N.Y.: Doubleday 1976.

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Bedingungen der Moderne mit spätmarxistisch orientierter Entfremdungskritik und mit Ansatzpunkten einer postkolonialen Revision der politischen und sozialen »Welt-Unordnung« und der von ihr ausgehenden Impulse zur erzwungenen räumlichen Veränderung von Individuen und sozialen Gruppen im Weltmaßstab zu beobachten. 5 Exil und Vertreibung, die Suche nach Ankunft, nach Existenzmöglichkeiten und Anerkennung gehören gerade am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht nur zu den Grunderfahrungen von Millionen von Menschen auf allen Kontinenten, sondern haben damit auch Fragen nach der Zugehörigkeit, des Rechts auf Dasein und Verortetsein sowie die Fragwürdigkeit und Attraktivität des Heimat-Konzepts erneut auf die Tagesordnung gesetzt. 6 »Entgegen der Ideologiekritik, die Heimat mit Zwang und Unterdrückung verbindet« – so der in New York lehrende Germanist Bernd Hüppauf in einem neueren Beitrag zur Diskussion »eines umstrittenen Konzepts« 7 – »hat sie [die Heimat – W. N.] das Potential, als Raum von Selbstbestimmung und Eigen­sinn in einer aus Notwendigkeiten und Zwängen gemachten Umgebung zu wirken.« 8 In welchem Maße sich Selbstbestimmung und Eigensinn in diesem Zusammenhang ergänzen bzw. auch wechselseitig im Wege stehen und unter Umständen blockieren können, ist allerdings nicht nur eine philosophische Frage. 9 Vielmehr spricht sie eine ganze Bandbreite von Reaktionsformen an, in denen sich die Erinnerung an historische Erfahrungen, ebenso aber auch die darauf bezogenen und daran ausgebildeten kulturellen, nicht zuletzt die Imagination ansprechenden Muster der Erinnerung in ihrer ganzen Zwiespältigkeit zeigen. 10 5 Auf die Aktualisierung des Themas durch die ethnisch motivierten Bürgerkriege Exjugoslawiens in den 1990er Jahren verweist u. a. Stefan Troebst in seinem Geleitwort zur deutschen Ausgabe des »Atlas Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung: Ostmitteleuropa 1939 – 1959«. Einleitung und Geleitwort zur dt. Ausg.: Stefan Troebst. Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung. Warszawa: Demart 2009, S. 10; darüber hinaus ist grundlegend: Naimark, Norman M.: Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. München: Beck 2004. 6 Vgl. Opitz, Peter J.: Welten im Umbruch, Menschen im Aufbruch. Das Weltflüchtlingsproblem. In: ders. (Hg.): Weltprobleme. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1995, S. 135 – 158; Nuscheler, Franz: Internationale Migration. Flucht und Asyl. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 7 So aus dem Untertitel des Sammelbandes: Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts. Hrsg. von Gunther Gebhard u. a. Bielefeld: Transcript 2007. 8 Hüppauf, Bernd: Heimat – Die Wiederkehr eines verpönten Wortes. Ein Populärmythos im Zeitalter der Globalisierung, In: Gebhard, Heimat. 2007, S. 109 – 140, hier S. 114. 9 »Eigensinn« wird in Hegels »Phänomenologie des Geistes« immerhin als »eine Freiheit« bestimmt, »welche noch innerhalb der Knechtschaft stehenbleibt.« Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 155 (= Theorie Werkausgabe 3). 10 Vgl. dazu Schwan, Gesine: Die Idee des Schlussstrichs – oder: Welches Erinnern und welches Vergessen tun der Demokratie gut? In: Amnestie oder Die Politik der Erinne-

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Eine ganze Skala von Themen, Formen und Zielen der Erinnerung ist hier zu nennen. Dazu gehören zunächst die politisch kodierten, auf Emanzipation und Wiedergutmachung setzenden Reaktionsformen gegenüber historisch erfahrenem Unrecht und Leid, wie sie von den Emanzipationsimpulsen der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre vor dem Hintergrund der Sklaverei ausgegangen sind. Hinzu kommen massenmedial oder folkloristisch aufbereitete Erinnerungsanlässe, auch gruppenspezifisch ausgerichtete Zugehörigkeitsangebote 11 unterschiedlichster Zielsetzungen und Verbindlichkeiten, die von Freizeitunternehmungen und Vereinswesen bis hin zu Familienerinnerungen, lokalen Geschichtswerkstätten und Vorhaben politischer Bildung reichen. Nicht zuletzt sind eigensinnige bzw. auch reaktionäre Versuche zu benennen, mit Hilfe selektiver und auf Ausschließung anderer Erinnerungsgemeinschaften ausgehender Geschichtskonstruktion und -rekonstruktion die Besonderheit, ja Einzigartigkeit der jeweils eigenen (»Opfer-«)Gruppe in Konkurrenz zu anderen zu etablieren, zu verfestigen oder eben auch öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. 12 Dass dabei vor dem Hintergrund eines wachsenden zeitlichen Abstandes und angesichts neuer Erfahrungen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Desintegration auch die Einzigartigkeit der von den Deutschen in Europa vollzogenen Vernichtung der Juden immer wieder zum Gegenstand erinnerungspolitischer Debatten und Kritik wird, beleuchtet überdies nicht nur die politisch aktuellen Bezugs- und Instrumentalisierungsmöglichkeiten jedweder Erinnerungsbemühungen, sondern weist auch noch einmal deutlich auf das Menetekel hin, dass selbst der »Humanismus« offensichtlich »vor gar nichts schützt« 13, von böswilligen, gar kriminellen Versuchen, die Shoah zu leugnen, in ihrem Ausmaß zu relativieren oder in Frage zu stellen, einmal ganz abgesehen. 14 rung in der Demokratie. Hrsg. von Gary Smith und Avishai Margalit. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 90 – 99; Margalit, Avishai: Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen. Frankfurt/M.: Fischer 2000, bes. S. 52 – 58. 11 »Ein Gedächtnis braucht der Mensch, um dazuzugehören«, zitiert nach Assmann, Jan: Erinnern, um dazuzugehören, Kulturelles Gedächtnis, Zugehörigkeitsstruktur und normative Vergangenheit. In: Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten. Hrsg. von Kristin Platt und Mihran Dabag. Opladen: Leske + Budrich 1995, S. 51 – 75, hier S. 51. 12 So etwa der seit den 1990er Jahren intensivierte, alljährliche Versuch der NeonaziSzene die Erinnerung an die Bombardierung Dresdens am 13./14. Februar 1945 als Erinnerungsort einer spezifisch »deutschen« Opfergemeinschaft zu etablieren. 13 Vgl. Andersch, Alfred: Nachwort für Leser. In: ders.: Der Vater eines Mörders. Bamberg: Buchners Schulbibliothek der Moderne 1995, S. 50: »Schützt Humanismus denn vor gar nichts? Die Frage ist geeignet, einen in Verzweiflung zu stürzen.« 14 Vgl. dazu Lipstadt, Deborah E.: Betrifft: Leugnung des Holocaust. Zürich: Rio 1994, bes. S. 221 – 284; für zahlreiche einzelne Aktionen, historische Ereignisse und ideologische Besetzungen in der bundesrepublikanischen Geschichte seit 1945 vgl. Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte

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Bereits vor dem Hintergrund der im Zusammenhang des Zweiten Weltkriegs erfolgten, aus deutscher Sicht mit rassistisch grundierter Großmachtpolitik verbundenen Zwangsumsiedlungen 15, die etwa 30 Millionen Menschen in Europa betrafen – Polen, Deutsche, Juden, Ukrainer und eine Reihe weiterer sozialer Gruppen 16 –, hatte das Recht auf Heimat »als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit« – nahezu von historischer Reflexion unbeschadet – nicht nur in die am 5. August 1950 in Stuttgart verabschiedete »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« 17 Eingang gefunden, sondern auch in die UN-Deklaration der Menschenrechte von 1948. 18 Heimat-Vertreibung und die Suche nach Heimat gehören damit sicherlich zu den wichtigsten politischen und auch völkerrechtlich immer wieder in Anschlag gebrachten Themen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die damit verbundene historische Dimension von Erfahrungen und Prozessen gerade angesichts einer zunehmend ins Bewusstsein getretenen neueren Deterritorialisierung von Menschen (Migration, Flüchtlinge, Globalisierung) 19 prägt allerdings auch die aktuellen Debatten, wie dies die jüngsten Entscheidungen und Kontroversen etwa hinsichtlich des jungtürkischen Massenmordes an den Armeniern im Umfeld des Ersten Weltkriegs 20 oder die immer wieder gerade auch in Europa aufflammende Debatte um das Heimatrecht bzw. den Rechtsstatus der palästinensischen Bevölkerung zeigen. 21 des Nationalsozialismus nach 1945. Hrsg. von Torben Fischer, Matthias N. Lorenz. Bielefeld: transcript 2007. 15 Zum Betrag der Wissenschaften an diesen ebenso politisch wie ideologisch motivierten Verbrechen vgl. Aly, Götz: Macht. Geist. Wahn. Kontinuitäten deutschen Denkens. Berlin: Argon 1997, S. 153 – 183. 16 Vgl. Atlas Zwangsumsiedlung. 2009, S. 23. 17 Zitiert nach Kossert, Andreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München: Siedler 2008, S. 151. 18 Vgl. dort die Artikel 7 (Rechtsschutz), Artikel 9 (Niemand darf willkürlich des Landes verwiesen werden), 13 (Freizügigkeit auch über Landesgrenzen hinweg); siehe auch die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (1948/1951); – www.amnesty.de/alle-30-artikel-der-allgemeinen-erklaerung-dermenschenrechte (Zugriff am 08.09.2011). 19 Vgl. dazu Mamduch, Alia: Die ferne Stimme meiner Tante. Über Exil, Heimat und Sprache. In: Le Monde diplomatique Dezember 2011, S. 21. 20 Dazu aktuell die Debatten um ein Gesetz in Frankreich, das die Leugnung des Völkermords an den Armeniern unter Strafe stellt; vgl. Streit mit der Türkei. Frankreich verbietet Leugnung des Völkermords an den Armeniern. In: Der Spiegel vom 22.12. 2011. – www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,805311,00.html (Zugriff am 25.01.2012). 21 Zur historischen Dimension vgl. Naimark, Flammender Hass. 2004, S. 14 – 22; zur Vor- und Erfahrungsgeschichte der deutschen Diskurse Brumlik, Micha: Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin: Aufbau 2005; als Studie immer noch grundlegend und lesenswert Arendt, Hannah: Wir Flüchtlinge [1943]. In: dies.: Zur Zeit. Politische Essays. Berlin: Wagenbach 1986, S. 7 – 21; zur Weiterführung der Diskussion mit Arendt vgl. Agamben, Giorgio: We Refugees. In: Symposium 49/2

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Dass diese Themen überdies auch den Gefühlshaushalt der Sesshaften bzw. der nach den Umbrüchen zur Industriegesellschaft erneut sesshaft gewordenen Menschen beschäftigen und auch diejenigen Mobilen und Migranten interessieren, die in »Konsequenz« der Moderne 22 inzwischen die »Nicht-Orte« 23 der Flughäfen, Hotels und sonstigen Verkehrsknotenpunkte, allerdings auch jene »Aufnahme- und Abschiebelager« von der Art Lampedusas bewohnen, mit denen sich die Europäische Union inzwischen umgrenzt 24, wird durch die anhaltende Konjunktur einer mit den Erfahrungen des Heimatverlustes und der Suche nach Heimat verbundenen Erinnerungsliteratur sowie mit populär gehaltenen Sachbüchern und deren Aufbereitung als Stoffvorlage für Film und Fernsehen evident. Nicht zuletzt wird dies eben auch in der Wiederaufnahme dieser Thematik in den anspruchsvolleren Bereichen der »schönen Literatur« seit den 1990er Jahren deutlich, wobei entgegen aktuellen Legenden und Lesarten daran zu erinnern ist – dies zeigen genauere Bestandsaufnahmen 25 – dass sie auch aus der deutschsprachigen Literatur in den vorangegangenen Jahrzehnten ebenso wenig verschwunden war wie das Thema der Heimat-»Kunde« selbst. 26 Freilich haben sich Rahmenbedingungen und Vorzeichen dieser Bezugnahme und damit verbundene aktuelle Akzentsetzungen und Wertungen im Laufe der Jahre und im Zuge unterschiedlicher politischer Diskurse mehrfach geändert. 27 (1995), S. 114 – 119 – www.egs.edu/faculty/giorgio-agamben/articles/we-refugees (Zugriff am 08.09.2011). 22 Vgl. Giddens, Anthony: Konsequenzen der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. 23 Vgl. Augé, Marc: Orte und Nicht-Orte. Frankfurt/M.: Fischer 1994. 24 Zu dieser Seite des »europäischen Flüchtlingsregimes« vgl. TRANSIT MIGRATION Forschergruppe: Turbulente Ränder: Konturen eines neuen Migrationsregimes im Südosten Europas. In: Projekt Migration. Köln: DuMont 2005, S. 678 – 691; Holert, Tom: Grüne Karte Qualifikation? Migrationssteuerung und Ökonomie des Wissens. In: ebd., S. 424 – 427. 25 Brumlik, Sturm. 2005, S. 137 ff. 26 Wie überhaupt die aktuell seit 1990 immer wieder geäußerte Meinung, es habe in den ersten Jahrzehnten in den beiden deutschen Staaten keine Gelegenheit gegeben, an die Leiden und Opfer der deutschen Bevölkerung zu erinnern, offensichtlich in das Reich einer durchaus bewusst gepflegten Legendenbildung gehört: Vgl. dazu etwa eine diesbezügliche kritische Durchsicht der damals zeitgenössisch im Gebrauch befindlichen Geschichtsbücher bei Dietrich Strothmann: Adolf Hitler und die Autobahn. Noch sind nicht alle Geschichtsbücher so, wie sie sein sollten. In: Die Zeit Nr. 10 vom 9. März 1962, S. 4: »[…] über den Besatzungsterror der Heydrich, Koch und Frank […] hören sie [die Oberschüler – W. N.] kaum etwas. Von den ›feindlichen Terrorangriffen‹ ist häufig die Rede – nicht aber von den Zerstörungen Warschaus, Rotterdams und Coventrys, mit denen die systematische Bombardierung der Städte begann« (ebd.). 27 Zu den Konjunkturen der Heimat-, Migrations- und Verlust-Thematik in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts vgl. Hecht, Martin: Das Verschwinden der Heimat. Zur Gefühlslage der Nation. Leipzig: Reclam

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Max Schulz’ oben bereits angesprochener, mehrfach geäußerter Wunsch nach einer Verwurzelung, die der Protagonist innerhalb seines Lebens freilich nie hatte, wird in Hilsenraths Roman von Itzig Finkelstein anlässlich der Überfahrt nach Palästina in einer Art universal gewendeter wie universal verwendbaren Formel wieder aufgenommen: »Itzig Finkelstein will ein Mensch sein. Nichts weiter. Ein gewöhnlicher Mensch unter gewöhnlichen Menschen. […] Heute bin ich mir darüber im klaren, dass ich, Itzig Finkelstein, unter Juden leben möchte, unter meinesgleichen, in meinem eigenen Land […]«. 28

Dieser so offensichtlich an den egalitären Gemeinschaftskonzeptionen des 19. Jahrhunderts orientierte Heimat-Begriff, der dementsprechend auch mit den im 19. Jahrhundert sich formierenden modernen Nationalstaatskonzeptionen 29 korreliert, birgt nun freilich einen Giftstachel, der im Falle von Hilsenraths Roman dadurch zustande kommt, dass es sich bei dem SS-Mann und Massenmörder Max Schulz und dem angeblichen Auschwitz-Überlebenden und späteren israelischen Staatsbürger Itzig Finkelstein um ein und dieselbe Person handelt. Es gelingt dem Massenmörder, sich seiner Verfolgung einzig dadurch zu entziehen, dass er in die Rolle des von ihm ermordeten früheren Schulkameraden und Freundes schlüpft und sukzessive damit auch dessen Identität und Erinnerungsbzw. Zugehörigkeitsbestrebungen übernimmt. Konstitutiv für seine Legitimation als Mensch wird – und zwar ganz ungeachtet, ob es sich dabei um Opfer oder Täter handelt – ein Begehren nach Heimat, das seinerseits nicht nur als persönliche Orientierung, sondern eben gerade auch als Maßstab politischer und rechtlicher Legitimität gelten kann. Dieses vollzieht sich innerhalb eines Rahmens, der seiner Programmatik nach universale Menschen- und Bürgerrechte als Basis einer global ausgerichteten »Weltinnenpolitik« und Weltgesell­schaft postuliert und so jeweils auch darauf zielt, weltweit akzeptierte Maßstäbe und Leit­vorstellungen für ein universales Recht auf Heimat und für den Umgang mit Erinnerungen an ihren möglichen Verlust zu entwickeln bzw. zu vertreten. So 2000; Schmidt, Thomas E.: Heimat. Leichtigkeit und Last des Herkommens. Berlin: Aufbau 1999; Türcke, Christoph: Heimat. Eine Rehabilitierung. Springe: zu Klampen 2006; zu den Diskurs-Konjunkturen vgl. auch Nell, Werner/Jouteux, StéphanieAline: Gesellschaftliche Konfliktlagen – aktuelle Debatten. Der Migrationsdiskurs in Deutschland in den 90er Jahren. Ergänzungslieferung zum Multiplikatorenpaket Migration. Mainz: Landeszentrale für politische Bildung 2002; Nell, Werner/Yeshurun, Stéphanie-Aline: Arbeitsmarkt, Migration, Integration in Europa. Ein Vergleich. Schwalbach/Ts.: Wochenschau 2008. 28 Hilsenrath, Der Nazi. 1976, S. 228. 29 Vgl. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Frankfurt/M.: Campus 1993; Kohn, Hans: Prelude to Nation-States. The French and German experience. Princeton: van Nostrand 1967; ders.: Die Idee des Nationalismus. Ursprung und Geschichte bis zur Französischen Revolution [1944]. Frankfurt/M.: Fischer 1962, bes. S. 17 – 20.

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lässt es sich im Übrigen auch an den unterschiedlichen Bemühungen beobachten, die sich um die Aufarbeitung und ggf. Erinnerung an jene Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts in Europa kümmern, die Timothy Snyder jüngst – nicht unumstritten – unter dem Stichwort der »Bloodlands, 30 dargestellt hat. Entsprechendes gilt für erinnerungspolitisch ausgerichtete Projekte wie das durchaus und zu Recht umstrittene »Zentrum« gegen Vertreibungen in Berlin oder auch das »Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität«. 31 Stand gerade für den im frühen und sich bis in die 1960er Jahre erstreckenden Heimat-Diskurs in der alten Bundesrepublik die identitätsstiftende Funktion tatsächlich räumlich abgrenzbarer Territorialität im Vordergrund 32 – wobei freilich eine ganze sozial-anthropologische Diskussionslinie, die von Nietzsches »nichtfestgestelltem Tier« bis zu Helmuth Plessners »exzentrischer Positionalität« reichte, ausgeschlossen werden musste 33 –, so wird die seit den 1970er Jahren zunehmend wahrgenommene Fragwürdigkeit einer mit der Heimat-Konzeption verbundenen identitätsstiftenden Erwartung bereits an Hilsenraths ins Groteske gewendeter Fiktion erkennbar. Wenn der Mörder in der Maske der erschlichenen Identität seines Opfers »Wurzeln« sucht und auf der Basis de facto unhaltbarer äußerer Zuschreibungen sogar die Aufnahme in die Gemeinschaft der Opfer erlangen kann: »Und ich sagte: ›Und wie haben Sie mich erkannt? An meinem Seelengeruch?‹ Max Rosenfeld schüttelte den Kopf. ›Nicht am Seelengeruch, Herr Finkelstein. Bloß an Ihrer Fresse‹« 34,

so wird damit die Fragwürdigkeit von Zuschreibungen und Selbstsetzungen im Blick auf die identitätsbezogenen Dimensionen des Heimatbegriffs ebenso offenbar wie im Hinblick auf andere Kategorien identitätsgetragener sozialer

30 Snyder, Timothy: Bloodlands, Europe between Hitler and Stalin. London: Vintage 2011; zur Rezeption im deutschsprachigen Raum vgl. die Rezensionen prominenter Zeithistoriker wie Jörg Barberowski, Norbert Frei, Sönke Neitzel oder Ahlrich Meyer: http://www.perlentaucher.de/buch/timothy-snyder/bloodlands.html [14.3.2013]. 31 Vgl. Vertreibungsdiskurs und europäische Erinnerungskultur. Deutsch-polnische Initiativen zur Institutionalisierung. Eine Dokumentation. Hrsg. von Stefan Troebst. Osnabrück: fibre 2006. 32 Vgl. Bausinger, Hermann: Identität. In: Grundzüge der Volkskunde. Hrsg. von Hermann Bausinger u. a. Darmstadt: WBG 1978, S. 204 – 263, hier bes. S. 210 f., S.  218 – 220. 33 Vgl. Stavenhagen, Kurt: Heimat als Lebenssinn. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1948; erste Auflage: Heimat als Grundlage menschlicher Existenz. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1939; Lorenz, Konrad/Leyhausen, Paul: Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens. Gesammelte Abhandlungen. München: Piper 1968; Eibl-Eibesfeld, Irinäus: Conditio humana. Vorträge und Materialien zur Biologie des Menschen. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1976. 34 Hilsenrath, Der Nazi. 1976, S. 204.

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Ordnung. 35 Offensichtlich wird aber auch, dass sich diese Fragwürdigkeit des Heimatbezuges weder durch dessen diskursive Erzeugung oder Legitimierung noch allein durch eine Reflexion auf diese aufheben lässt, sondern in der Unbestimmtheit und zugleich Vielschichtigkeit der darauf gerichteten Bezüge, Sinndimensionen und Gefühlsbegehren begründet ist. 36 Jene Fragwürdigkeit des Heimat-Begriffes wird aber gerade auch innerhalb der Konjunktur des Themas »Heimat und Vertreibung« in der deutschsprachigen Literatur der letzten beiden Jahrzehnte erkennbar und ist so auch für die Erarbeitung eines Maßstabs ihrer Bewertung in Rechnung zu stellen. Dabei geht es auch um die Frage, in welchem Sinne die Wiederaufnahme von HeimatVorstellungen vor dem Hintergrund der Erfahrungen »lozierender Gewalt« 37 in den historischen Prozessen des 20. Jahrhunderts im Rahmen fiktionaler Ausarbeitungen zu interpretieren bzw. zu beurteilen ist. Freilich kann dies hier nur in aller Kürze und mit einigen wenigen Verweisen auf die dazu herangezogenen literarischen Texte geschehen. Neben der bereits zum Ersten angesprochenen grundsätzlichen Fragwürdigkeit identitärer Stabilität durch Heimat-Verortung geht es dabei zum Zweiten um den prinzipiellen und vielfach in der entsprechenden Literatur im Anschluss an Ernst Blochs berühmte Wen­dung »Heimat – das allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war« 38 dis­kutierten Wunsch- bzw. Projektionscharakter der Heimat-Vorstellung im Ganzen und deren Forcierung gerade unter den Bedingungen erweiterter Mobilitätschancen und -zwänge in der Moderne. Zum Dritten geht es in Hilsenraths grotesker und durchaus anstößiger Demolie­rung separater und gut unterscheidbarer Opfer- und Täter-Identitäten auch um die politische Aufladung der bereits seit der Wende zum 20. Jahrhundert immer wieder in Anschlag gebrachten Spezifik eines vermeintlich nur den »Deutschen« zugänglichen Heimatverständnisses. 39 Immerhin stammen beide Protagonisten 35 Vgl. dazu Beck-Gernsheim, Elisabeth: Wir und die anderen. Vom Blick der Deutschen auf Migranten und Minderheiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 168 ff. 36 Vgl. Améry, Jean: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: ders.: Jenseits von Schuld und Sühne, Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart: Klett-Cotta 1977, S. 74 – 101, hier bes. S. 78 f., S. 97 ff. 37 In Anlehnung an Reemtsma, Jan-Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburg: Hamburger Edition 2008, S. 108 – 113. 38 Vgl. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977 3. Bd., S. 1628. 39 Noch immer lesenswert und in seinen Sorgen weitaus reflektierter als die entsprechenden »neueren« Ausführungen bei Dorn, Thea/Wagner, Richard: Die deutsche Seele. München: Knauss 2011, S. 233 – 237 ist Krockow, Christian Graf von: Heimat. Erfahrungen mit einem deutschen Thema. Stuttgart: DVA 21989, dort zur Problematik der Vertriebenen, S. 45 – 50. »Wir haben, mit anderen Worten, eine ausschweifende Zerstörung des einstmals Vertrauten nicht bloß in Kauf genommen; wir haben eine gnadenlose Selbstvertreibung aus den Häusern der Kindheit, aus der Natur, aus den

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aus zwei benachbarten Häusern an der Ecke Goethe-Schiller-Straße in der fiktiven schlesischen Stadt Wieshall, eine Konstellation, die in der Anlage und im Verlauf des Romans noch dahingehend gesteigert wird, dass beide Figuren zu einer einzigen verschmelzen, so dass sich Täter und Opfer nicht mehr unterscheiden lassen. 40 Zum Vierten geht es schließlich um die fiktionale Ladung und um grundlegende Ambivalenzen jedweder Art künstlich-künstlerischer, also auch literarischer Gestaltung von erinnerten oder kommunikativ evozierten Heimatbezügen. Literarisch oder mit Hilfe anderer Künste und Techniken vermittelte Verluste stehen hier ebenso im Blickpunkt wie entsprechend inszenierte Bemühungen um Rückkehr, Wiederaneignung oder auch Erinnerung, die teils als Kitsch und Ideologie erscheinen, aber auch von Reflexionsansätzen und experimentellem Sich-Aussetzen (auch der Erzählung/des Erzählers/der Erzählerin) Zeugnis ablegen, teils zwischen inszenierter Fragwürdigkeit und Brüchigkeit oszillieren und dem entsprechend auch nur ansatzweise zu interpretieren sind. Nicht alle vier Punkte können hier auf knappem Raum gleichermaßen gearbeitet werden. Mit dem Hinweis auf die seit den 1970er Jahren dazu vorhandene Forschungslage 41 und die daran anschließende populärwissenschaftliche, auch das Alltagsverständnis verändernde Verbreitung eines solchen Wissens um den Projektionscharakter einer Vorstellung von Heimat, die sich vor dem Hintergrund einer seit dem 19. Jahrhundert fortlaufend beschleunigten Modernisierung und damit auch Mobilisierung von Menschen im Raum jeweils immer nur tentativ, projektiv füllen lässt, soll dem zweiten Punkt zunächst Genüge getan sein. Dagegen ließe sich zum erstgenannten Punkt, nicht zuletzt mit Blick auf die aus Edgar Hilsenraths Roman zusammengestellten Befunde, noch darauf hinweisen, dass das Thema der Identität als Setzung, Postulat und Fiktion (»le je est un autre«) über den damit in Rede stehenden historisch konkreten Zusammenhang hinaus spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert Philosophie, Literatur und andere Künste 42 beschäftigt. Aktuelle Forschungsansätze, zumal in den

Nachbarschaften, die Heimat bedeuteten, in Szene gesetzt und gefeiert, so als bringe das Glück.« Ebd., S. 48. 40 Für eine vergleichbare, auch vergleichbar verwirrende und verstörende Ausarbeitung vgl. die auch thematisch verbundenen Romane von Modiano, Patrick: La Place de l’Étoile (1968), Rabinovici, Doron: Suche nach M. Roman in zwölf Episoden (1997) und Biller, Maxim: Harlem Holocaust. Köln: Kiepenheuer & Witsch (1998). 41 Vgl. dazu Greverus, Ina-Maria: Auf der Suche nach Heimat. München: Beck 1979; Bausinger, Hermann u. a.: Heimat heute. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 1984; Schlink, Bernhard: Heimat als Utopie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000; Joisten, Karen: Philosophie der Heimat – Heimat der Philosophie. Berlin: Akademie Verlag 2003; Türcke, Heimat, 2006; Gebhard u. a. 2007. 42 Vgl. Ebeling, Hans: Das Subjekt in der Moderne. Rekonstruktion der Philosophie im Zeitalter der Zerstörung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993.

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Sozialwissenschaften, 43 bauen hierzu auf einer langen, mit den Entwicklungslinien der Moderne verbundenen Vorgeschichte auf. 44 Hilsenraths Kunstgriff der Auslöschung einer Täter-Identität durch die vollständige Identifizierung des Täters mit seinem Opfer, ja einem Aufgehen des Täters in seinem Opfer unter Beibehaltung einer sich gleichbleibend verändernden und sich zugleich selbst reflektierenden Identität wird als Rätsel des Bewusstseins von Hilsenraths Erzähler bis zur Grenzlinie der Schizophrenie hin ausgeführt. Dass es sich hierbei allerdings nicht nur um eine erzählerische Strukturentscheidung handelt, sondern dass diese in ihrer verstörenden, bizarren Unglaubhaftigkeit tatsächlich doch auch auf historische Vorgänge und Beispiele rekurrieren kann, lässt sich mit Verweisen auf die Texte Hanna Kralls und die dort porträtierten Lebensläufe ebenso stützen 45 wie mit dem Hinweis auf die von Helga Hirsch im Jahr 2002 unter dem Titel »Ich habe keine Schuhe nicht« veröffentlichten »Geschichten von Menschen zwischen Oder und Weichsel«. Menschen »mit Wurzeln und Flügeln« 46 werden hier vorgestellt, die nicht nur Grenzgänger zwischen Kollektiven, religiösen, ethnischen, sprachlichen und nationalen Identitäten und Räumen sind, sondern auch von Identitätsverlusten, Identitätswechseln und neu gefundenen, nicht unbedingt freiwillig aufgenommenen Identitätsmischungen, auch –auslöschungen berichten und gerade darin die Unhintergehbarkeit ihrer konkreten Existenz belegen bzw. ausmachen können. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftswunderwelt der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre erzählt Hans Ulrich Treichels 1998 erschienener Roman »Der Verlorene« von der durchaus auch grotesken, mitunter humoristisch gemilderten, ins Komische gedrehten Suche einer Familie nach dem im Zusammenhang der Flucht der deutschen Bevölkerung aus »dem Osten« am Ende des Zweiten Weltkriegs verlorengegangenen älteren Sohn. Dies wird zunächst aus der zwiegespaltenen, verstörten Perspektive des durch einen möglichen Erfolg dieser Suche in seiner Einzigartigkeit bedrohten jüngeren Sohnes geschildert. Schließlich werden die Unfassbarkeit einer kollektiv erwarteten, individuell dann verlustig gegangenen, projektierten Identität ebenso wie der Verlust und 43 Vgl. Keupp, Heiner: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 22002; ders./Hohl, Rainer (Hgg.): Subjektdiskurse im gesellschaftlichen Wandel. Zur Theorie des Subjekts in der Spätmoderne. Bielefeld: transcript 2006. 44 Vgl. Straub, Jürgen: Identität. In: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Hrsg. von Friedrich Jaeger und Burkhard Liebsch. Stuttgart Weimar: Metzler 2004, S. 277 – 303; Käte Meyer-Drawe: Subjektivität – Individuelle und kollektive Formen kultureller Selbstverhältnisse und Selbstdeutungen, ebd., S.  304 – 315. 45 Vgl. bspw. Krall, Hanna: Existenzbeweise. Frankfurt/M.: Neue Kritik 1995; dies.: The Woman from Hamburg and Other True Stories. New York: Other Press 2006. 46 Hirsch, Helga: Ich habe keine Schuhe nicht. Geschichten von Menschen zwischen Oder und Weichsel. Hamburg: Hoffmann & Campe 2002.

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die Spiegelung des mit dieser Familiengeschichte verbundenen Heimat-Raumes in den darauf bezogenen Erinnerungen und Erwartungen anhand einer Schaufensterspiegelung des möglicherweise endlich gefundenen verlorenen Sohnes vor Augen gestellt: »Als ich durch die Schaufensterscheibe das Findelkind 2307 sah, erschrak ich und bemerkte sofort, dass Heinrich so aussah wie ich. Ich sah in dem Laden mein eigenes, nur um einige Jahre älteres Spiegelbild … Ich war verwirrt. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Und ich wartete darauf, was Herr Rudolph [nach dem vorzeitigen Tod des Vaters, nunmehr der Begleiter der Mutter – W. N.] und die Mutter sagen würden. Doch Herr Rudolph sagte nichts. […] Es war, als blickte er in einen leeren Raum. Und auch die Mutter schwieg. Sah sie nicht, was ich sah?« 47

Die Doppelung und dadurch zugleich gefährdete Einzigartigkeit der jeweils eigenen Existenz 48 spielt allerdings nicht nur in Treichels Roman eine maßgebliche Rolle, auch andere nach 1990 erschienene Texte der deutschsprachigen Literatur nehmen die mit der Suche bzw. dem Verlust territorialer Zugehörigkeit verbundene Frage der Identität, der Verletzlichkeit bzw. Verletztheit der Person und des Identitätsverlustes wieder auf und beschreiben sie in binär perspektivierten Erinnerungen oder in sich rekursiv überlagernden Suchbewegungen. So wird Freia, neben ihrem Zwillingsbruder Paul die Protagonistin und Erzählerin in Tanja Dückers’ Roman »Himmelskörper«, bereits gleich zu Anfang des Romans durch die Konfrontation mit ihrem eigenen Spiegelbild erschüttert: »Ich sah mein Spiegelbild in der Zugscheibe zittern und zerrinnen. Zwischen den platzenden Regentropfen suchte ich meine Augen« 49

und sie wird mit dieser Unsicherheit und Unruhe auf den Weg einer Suche nach der eigenen Person und Familiengeschichte geführt, bei der sie auf die historischen Erfahrungen des Heimatverlustes ihrer aus den östlichen Provinzen des damaligen deutschen Reiches vertriebenen Großeltern, die damit verbundene Traumatisierung ihrer Mutter, aber auch auf die bis dahin verschleierte NSTradition innerhalb ihrer Familie stößt. In Sabrina Janeschs 2010 erschienenem Roman »Katzenberge« sind es gleich zwei Reisen, die nicht nur in die Welt ihres Großvaters, dessen Tod zunächst den Impuls für die Reise der in Berlin lebenden Erzählerin in das heute zu Polen gehörende Schlesien gibt, zurückführen, sondern damit verbunden ihr auch zwei 47 Treichel, Hans-Ulrich: Der Verlorene. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 174. 48 In dieser Hinsicht stellt das literarische Motiv des Doppelgängers in der Literatur immer wieder auch einen Verweis auf Tod, Identitätsgefährdung und eben Auslöschung des Subjekts dar; vgl. Doppelgänger in: Daemmrich, Horst S./Daemmrich, Ingrid: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Tübingen: Francke 1987, S. 97 – 99, hier S. 99. 49 Dückers, Tanja: Himmelskörper. Roman. Berlin: Aufbau 2003, S. 11.

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Heimaten-Erfahrungen und -Erinnerungen vermitteln. Deren jeweiliger Verlust und ihre individuell biographische und damit auch nur zeitweise und situationsbezogen mögliche Wiederaneignung machen dann das Thema des Romans aus. Dabei kommt dei Geschichte einer doppelten Vertreibung bzw. einer infolge weiterer Umstände erzwungenen Mobilität über mehrere Grenzen hinweg sowohl historische Signifikanz als auch für den Umgang mit rekonstruierten Heimatvorstellungen eine analytisch-reflexive Bedeutung zu. Immerhin gehörte der Großvater zu einer Gruppe von Bauern, die am Ende des Zweiten Weltkriegs aus den vormals zu Polen und heute zur Ukraine gehörigen Gebieten des alten Galizien in das inzwischen Polen zugewiesene Schlesien flüchteten, aus dem dann die nächste Generation in den 1960er Jahren die Ausreise in den Westen, in die Bundesrepublik oder in die DDR, suchte. 50 »Ganz klarer Fall von Schlafwandlerei, sage ich« 51, womit die Erzählerin nicht allein eine Entschuldigung für einen weiteren Besuch am Grab des Großvaters vorbringt, sondern auch die den Roman im Ganzen ausmachende Reise in eine doppelte Vergangenheit, d. h. in zwei verlorene und dann durch Erfahrung und Imagination erneut ggf. anzueignende (und auch wieder zu verlierende) Heimaten, beschreibt. Im Roman bleibt die entworfene Perspektive bewusst individuell und insofern ist die Übernahme des Traditionsbezugs: »du bist genauso stur wie dein Großvater« 52 eine Zuschreibung »von außen«, die gleichsam zur Übernahme in das eigene Selbstverständnis ansteht, dieses aber in keinem Fall bis zur Ausschließlichkeit in Besitz nehmen bzw. prägen muss. Beide Vorstellungsräume, das Geschehen der Flucht, der Vertreibung und Zwangsaussiedlung, gerade auch in den mit dieser Differenzierung verbundenen Überlagerungs- und Unschärfe-Bereichen, zum einen, die Suche nach Heimat, sei es der »alten« im »Osten«, sei es der »neuen« im Westen wie im Falle der von Treichel geschilderten Fleischhändler-Familie im Münsterland zum anderen, bieten offensichtlich genug Leer- und Bildflächen für eine weitergehende erinnernd-reflexive und zugleich poetisch-imaginative Gestaltung. Für die Konjunktur, die das Thema des Heimatverlustes vertriebener Familien und Bevölkerungsgruppen in der neueren deutschen Literatur nach 1990 erfahren hat, spielt sicherlich eine Rolle, dass Geschichte und Geschichten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts nunmehr mit dem Älterwerden und dem Aussterben von Zeitzeugen aus dem kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis übertreten. Auch sollen innerhalb dieses Übergangs angeblich lange verdrängte, ja 50 Zu den historischen Hintergründen vgl. Loew, Peter Oliver: Nationale und ethnische Minderheiten. In: Bingen, Dieter/Ruchniewicz, Krzysztof (Hgg.): Länderbericht Polen. Geschichte. Politik. Wirtschaft. Gesellschaft. Kultur. Frankfurt/M./New York: Campus 2009, S. 360 – 372, hier S. 364 – 367; Atlas Zwangsumsiedlung. 2009, S.  84 – 98. 51 Janesch, Sabrina: Katzenberge. Roman. Berlin: Aufbau 2010, S. 271. 52 Ebd.

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vermeintlich tabuisierte Erfahrungen der Älteren durch das Auftreten einer jüngeren, »dritten« Generation oder aber durch ein inzwischen im Positiven gestärktes und in einem reflexiven Sinne aufgeklärtes Selbstbewusstsein der deutschen Öffentlichkeit 53 nun endlich thematisiert werden können. Hinzu kommt ein übergrei­fendes, im Zuge der Postmoderne-Impulse ebenso wie im Rahmen von Migrations- und Integrationsdebatten noch einmal verstärkt vor Augen gestelltes Interesse an den Themen der Identität, der Zugehörigkeit, der Selbstbestimmung und der Sinnorientierung/Sinnsuche in den Mustern individueller und gruppenbezogener Biographien, das nunmehr in künstlerischliterarischen Formen erneut aufgenommen und – auf Probe und Reflexivität, auch auf Spannung und Experiment hin – ausgestaltet werden kann. Bevor dieser Aspekt im Hinblick auf den oben genannten vierten Punkt abschließend noch einmal anhand von vier Kriterien angesprochen werden soll, die dazu geeignet erscheinen, die Zwischenstellung einer Heimat-VertriebenenLiteratur zwischen Ideologie und Kritik, Affirmation bzw. Negation und Reflexion, aber auch zwischen Spannung und Unterhaltung im Hinblick auf einzelne Werke und zugleich unter der Perspektive einer generalisierenden Betrachtung zu diskutieren, sollen noch einige kurze Bemerkungen zu dem oben genannten dritten Punkt, der historisch-politischen Aufladung des Heimat-Begriffes als einer vermeintlich besonderen »deutschen« Thematik (vgl. Krockow 1992) oder Problemstellung angeführt werden. Damit lässt sich dann wiederum eines der im Anschluss anzusprechenden vier Kriterien verbinden. Robert Traba hat in seiner 2007 in polnischer Sprache, 2010 auf Deutsch erschienenen großen Studie »Ostpreußen – die Konstruktion einer deutschen Provinz« auf die spezifisch ideologische Belastung der Heimat- und damit auch Vertreibungsvorstellungen im deutschen Kollektivbewusstsein insbesondere in der »Kampfzeit« der deutschnationalen kulturellen Selbstaufladung zwischen 1871 und 1933 aufmerksam gemacht: »›Heimat‹ war nach dem Ersten Weltkrieg keine neue Kategorie in den Diskussionen über die deutschen Versuche, sich selbst und die eigene Nation zu definieren. Mindestens die zweite Generation war schon mit der Überzeugung von der deutschen Sendung und vom außergewöhnlichen deutschen Verständnis des Begriffes ›Heimat‹ aufgewachsen. Im Oktober 1909 hatte in Paris die erste internationale ›Heimatschutztagung‹ stattgefunden, die nach Auffassung des preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Bildung, R. Jahnke, belegte, dass es im Grunde weder im Französischen noch im Englischen und auch in keiner anderen Sprache eine Entspre­chung für das deutsche Wort ›Heimat‹ gab.« 54 53 So der Historiker Hans Ulrich Wehler in der Einleitung des 2005 erschienenen Spiegel-Buches »Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus Osteuropa«. Hrsg. von Stefan Aust und Stephan Burgdorf. Hamburg: Spiegel Verlag 2005, S. 10 f. 54 Traba, Robert: Ostpreußen – die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität 1914 – 1933. Osnabrück: fibre 2010, S. 144 f.

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Schnell wurde vom Fehlen des Wortes auf das Fehlen entsprechender Vorstellungen und Gefühle bei »allen anderen« geschlossen, ja es blieb den darüber besorgten deutschen Beobachtern grundsätzlich fraglich, ob überhaupt jemand »außer ihnen« solche spezifischen Heimatgefühle ausbilden konnte bzw. an Bedrohung und Verlust der Heimat in diesem Grade zu leiden, aber auch zu wachsen vermöge wie es die Deutschen sich selbst zeitweise zuzuschreiben versuchten. 55 Das so geschaffene Stigma begleitete bzw. konturierte die deutsche Heimatliteratur auch nach 1945 noch über weite Strecken des langen, je nach Betrachtung doch auch wiederum recht kurzen 20. Jahrhunderts. 56 Bis in die 1950er Jahre, so auch im deutschen Heimatfilm, in dessen erfolgreichsten Exemplaren, »Die Glocken der Heimat« (1956), »Grün ist die Heide« (1951/1972) oder der »Immenhof«-Trilogie (1955 – 57), die Thematik der Heimatvertriebenen stets präsent war und mitunter sogar im Vordergrund stand, 57 wurde diese vermeintliche deutsche Besonderheit als Auszeichnung begriffen, seit den 1960er Jahren dann eher als bedenkliches Faktum eingestuft. 58 Heute wäre wohl erst einmal zu fragen, ob der Befund eines besonders »innigen« Verhältnisses »der« Deutschen zur Heimat und die daran gekoppelten Schlussfolgerungen überhaupt zutreffend sind oder ob die wirkliche BesonderBezeichnenderweise zitiert Traba dies aus einer Instruktion für die Schule von 1922; vgl. Conwentz, Hugo: Heimatkunde und Heimatschutz in der Schule. Berlin 1922; Traba, Ostpreußen, S. 145 FN 3. 55 Historisch und politisch sind die Deportation und Aussiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen, die dann in der Praxis vielfach in Vertreibung und Gewalttaten, Mord, Vergewaltigung, Totschlag und Tod durch Verelendung endeten, in die im Rahmen der Völkerbundpolitik der Zwischenkriegszeit fallenden Vorstellungen und Programme einzureihen, mit denen nach dem Ersten Weltkrieg versucht wurde, der Norm ethnisch homogener Nationalstaaten Rechnung zu tragen. Im Klappentext der 1962 von Johannes Kaps herausgegebenen Dokumentation: »Die Tragödie Schlesiens 1945/46«. München: dtv werden die historischen Ereignisse mit einem metaphysischen Unterton skandalisiert, der die politische Verantwortung zugleich relativiert: » Zu den teuflischen Mitteln unseres Jahrhunderts, deren Anwendung eine seltsame Zweckmäßigkeit, nicht immer die Staatsraison diktierte, gehörten die Vertreibungen oder Aussiedlungen ganzer Volksteile aus ihrer Heimat.« Zur historischen Rahmung vgl. Brumlik, Wer Sturm sät, S. 29 – 55; Naimark, Flammender Hass, S. 19 f. 56 Vgl. dazu Hobsbawm, Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München Wien: Hanser 1995, S. 17. 57 Im Übrigen auch ein Hinweis darauf, dass es mit der These von der Tabuisierung und Privatisierung der Vertriebenen-Erfahrungen in den ersten Jahrzehnten der »alten« Bundesrepublik nicht allzu weit her ist. 58 Vgl. dazu die Diskussionsbeiträge in Mitscherlich, Alexander/Kalow, Gert (Hgg.): Hauptworte – Hauptsachen. Zwei Gespräche: Heimat Nation. München: Piper 1971, hier S. 16 – 21; Strzelczyk, Florentine: Un-heimliche Heimat. Reibungsflächen zwischen Kultur und Nation. München: Iudicium 1999.

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heit des deutschen »Heimat«-Diskurses nicht einfach darin besteht, sich selbst in einem besonderen Licht sehen zu wollen und von da aus die Möglichkeiten, dass auch andere Menschen, Völker, Kulturen eine eigene Heimat besitzen, die ihnen nicht weniger wichtig sein könnte als den Deutschen, auszuschließen. So ist Alexander Kluge in seinen Überlegungen zu »Gefühlslagen« und historischen Erfahrungen in Deutschland mehrfach darauf eingegangen, in welcher Weise die ahnungsvolle und zugleich gefährdete Heimeligkeit des »deutschen Weihnachtsfests« mit der Erinnerung an die tödlichen Gefahren ausgesetzte Kriegsweihnacht, namentlich des Zweiten Weltkriegs, gekoppelt ist. 59 Entsprechend blieb ja auch die Heimat-Thematik in der deutschen Literatur und im entsprechenden Kollektiv-Bewusstsein 60 über weite Strecken an »HeimatSchutz« und damit an den Hintergrund der Gefährdung, des Kampfes und der Abwehr dieser Bedrohungen gekoppelt. Offensichtlich bedarf es solch grotesker, ja obszöner Konstruktionen wie der von Edgar Hilsenrath, um den Stachel, die mit dem Heimat-Bewusstseins verbundenen Konstruktionen von Zugehörigkeit durch Ausschließung und deren ggf. zerstörerischen Folgen bis hin zu Vertreibung und Massenmord zum Vorschein zu bringen. Immerhin hat Heinrich Böll bereits in den 1950er Jahren einen anderen Weg eröffnet, in dem er den Alltag und die Trivialmythen des Zusammenlebens von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten (zufälligen) Ort als Ausgangspunkte von Zugehörigkeit und Heimat-Erfahrungen 61 in den Blickpunkt zu rücken suchte: »Meine Verwandten und Bekannten sind für mich nicht so sehr Köln wie diese alten Gesichter, die keinen Namen haben. Verwandte, Freunde und Bekannte haben Namen, man weiß wohin sie in Urlaub fahren, […], und doch machen sie nicht das ›zu Hause‹ aus.[…] ›zu Hause‹, da sind die Namenlosen, die man oft jahrzehntelang nicht sieht und doch immer wiedererkennt. An ihren Gesichtern lese ich den Ablauf der Zeit deutlicher ab als vom Kalender und von den Gesichtern derer, die mit mir älter werden.« 62 59 Vgl. dazu die Dokumentation zu Weihnachten in Stalingrad bei Kluge, Alexander: Schlachtbeschreibung [1964]. Frankfurt/M.: Fischer 1968, S. 147 – 150; ders.: 100 heilige Abende. In: Die Welt vom 24.12. 2010; www.welt.de/print/die_welt/vermischtes/article11810988/100-Heilige-Abende.html (Zugriff am 02.02.2012). Auch ist in diesem Rahmen daran zu erinnern, dass sich der »Siegeszug« des Christbaums, einer zunächst nur im Elsaß gebräuchlichen Tradition, seinem massenhaften »Einsatz« in den Feldlazaretten des Krieges 1870/71 gegen Frankreich verdankt; vgl. Weber-Kellermann, Ingeborg: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 226. 60 Auf die Bedeutung literarischer Ausgestaltung dieses Zusammenhangs kann ich hier im Einzelnen nicht eingehen, vgl. aber Traba, Ostpreußen. 2010, S. 163 ff. 61 Vgl. die Essays »Hierzulande«, »Stadt der alten Gesichter«, »Was ist kölnisch?« oder auch »Der Rhein« in: Böll, Heinrich: Hierzulande. Aufsätze (1963). München: dtv 1973, S.  10 – 22, 77 – 83, 92 – 97, 84 – 91. 62 Böll, Heinrich: Stadt der alten Gesichter. In: Hierzulande, 1973, S. 77 – 83, hier S. 78.

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Vor diesem Hintergrund lassen sich dann vielleicht auch die folgenden vier Kriterien hervorheben, die dazu genutzt werden können, den Umgang mit Heimat und mit der Suche nach Heimat vor dem Hintergrund ihres Verlustes durch Zwangsmigration in literarischen Texten seit den 1990er Jahren zu untersuchen. Es geht dabei auch um Mythen-Dekonstruktion durch Rückbesinnung und Reflexion 63 und nicht zuletzt um die Erkennbarkeit der »Heimat« als eines wie bei Böll angesprochenen Chronotopos. 64 Ich beziehe mich dabei auf eine Auswahl von zumindest auf dem Buchmarkt und in der Kritik außerordentlich erfolgreichen bzw. viel beachteten Texten. Neben dem bereits angesprochenen Roman Ulrich Treichels sind dies die Romane »Die Unvollendeten« von Reinhard Jirgl 65, »Ein unsichtbares Land« von Stephan Wackwitz 66, Tanja Dückers »Himmelkörper« (alle 2003) sowie die beiden Texte »Mein Jahrhundert« (1999) und »Im Krebsgang« (2002) von Günter Grass. 67 Auch wenn es in den neueren Romanen zum Thema Heimatverlust und Vertreibung um Stellvertretung und exemplarische Ausarbeitung geht, stehen doch die subjektive Konstitution und damit die Relativität und Rahmenabhängigkeit der jeweiligen Setzungen, auch der überlieferten Erfahrungen und Geschichten, von individuellen Lebensverläufen und Erfahrungen im Vordergrund. Statt um »deutsche« Erfahrungen handelt es sich um Familienromane 68, wobei der Rückbezug auf Freuds Wortprägung unterschiedlich stark hervorgehoben wird. 69 63 Ein Modell hierfür lieferte Krockow, Christian Graf von: Von deutschen Mythen. Rückblick und Ausblick. Stuttgart DVA 1995, der hier im Unterschied zu Herfried Münkler auf reflektierte individuelle Erfahrungen und die Vernünftigkeit einer offenen Republik setzt, wenn es darum geht, die freiwillige Zugehörigkeit zu einer modernen, demokratischen Gesellschaft zu motivieren; Münkler dagegen geht davon aus, dass es mythischer, zumindest Mythen getragener Bilder und Erzählungen bedarf, um die Menschen gerade unter den Bedingungen der Moderne auch in einem staatsbürgerlichen Sinn bei der Stange zu halten. Vgl. Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin: Rowohlt 2009, S. 20 – 28. 64 Vgl. Bachtin, Michail M.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edward Kowalski und Michael Wegner. Frankfurt/M.: Fischer 1989, S. 7 – 9. 65 Jirgl, Reinhard: Die Unvollendeten. Roman. München: Hanser 2003. 66 Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Familienroman. Frankfurt/M.: S. Fischer 2003. 67 Grass, Günter: Mein Jahrhundert. Göttingen: Steidl 1999; ders.: Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen: Steidl 2002. 68 Vgl. dazu Welzer, Harald: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane. In: Literaturbeilage zu Mittelweg 36/1 (2004), S. 53 – 64; Galli, Matteo/Costagli, Simone: Chronotopoi. Vom Familienroman zum Generationenroman. In: Costagli, Simone/Galli, Matteo (Hgg.): Deutsche Familienromane. München: Fink 2010, S. 7 – 20. 69 Vgl. dazu Wackwitz, der streng entlang einer Familienbiographie orientiert bleibt, während Dückers auch die Ebenen des psychisch Unbewussten in den Obsessionen

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Anders als die Vorstellung einer auf Homogenität hin angelegten »Volksgemeinschaft« bieten Familien, realitätshaltig betrachtet, die Möglichkeit, die unterschiedlichen Ausrichtungen und Konstellationen sowie die damit verbundenen, ihnen zugrunde liegenden historischen Erfahrungen, auch Verwerfungen in den Blick zu rücken. Entsprechend deutlich etwa fällt in Tanja Dückers Roman der Konflikt zwischen den an NS-Idealen orientierten Großeltern und einer Enkelgeneration aus, die gelernt hat, deren verbrecherische Grundlagen und Auswirkungen anzuerkennen, und die sich selbst gerade aus der Absage an diese Tradition bestimmt. Dass es sich bei den hier vorliegenden literarischen Heimat-Bearbeitungen nicht um einen gleichsam naiven Bericht oder um die mythische Konstruktion einer objektiv und für alle gleichermaßen vorliegenden bzw. bestimmenden Geschichte als Kollektiverfahrung handelt – wie dies beispielsweise im Zusammenhang der großen Fernseh-Geschichten (»Danzig«, »Dresden«, »Die Flucht«) zu Recht kritisiert wurde 70 – sondern um erzählerisch reflektierte Suchbewegungen in unterschiedlichen Zeitstufen und aus unterschiedlichen, auch unterschiedlich gebrochenen Perspektiven, eine Mischung also, um Foucault zu zitieren, aus Rauschen und Stimmen, 71 und um Stimmengewirre, d. h. verstellte, verfälschte und bewusst inszenierte Stimmlagen, kann bereits anhand der sprachlichen Gestaltung erkundet werden. Diese fungiert damit zugleich auch als eine Art Maßstab für die Gestaltung von Reflexivität und Verobjektivierungsbemühungen aus unterschiedlichen Standpunkten auf der Ebene ihrer sprachlichen und erzählerischen Repräsentation. Erzählerreflexionen, Rahmenerzählungen, wechselnde Sprecher und sprachlich-begriffliche wie auch graphische Experimente bieten auf diese Weise, etwa in Reinhard Jirgls »Die Unvollendeten«, die Möglichkeit, die Unabgeschlossenheit, die Subjektivität und vor allem auch die Unzugänglichkeit von historischen Erfahrungen vorzustellen und – nicht zuletzt durch Dialekt und Sprachvarietäten – auch die Unaufschließbarkeit sowie die Unverständlichkeit von Menschen und Motiven in ihren Zeitbezügen und gegenüber den Rezeptionsanstrengungen der späteren Generationen anzusprechen. Blindheit, Blauäugigkeit, Einäugigkeit, Dummheit und Bosheit stellen auf der Ebene der Erinnerung wie auf derjenigen der Narration, wenn es darum geht, der porträtierten Großeltern ausarbeitet. Zu Freuds Bestimmung vgl. Freud, Sigmund: Der Familienroman der Neurotiker. In: Sigmund Freud Gesammelte Werke 1893 – 1939. www.textlog.de/freud-psychoanalyse-familienroman-neurotiker.html (Zugriff am 02.02.2012). 70 Vgl. dazu Köppen, Manuel: Die wiedergefundene Vergangenheit, Der neue deutsche Bewältigungsfilm. In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989. Hrsg. von Carsten Gansel und Heinrich Kaulen. Göttingen 2011, S. 13 – 29. 71 Vgl. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969, S. 13 f.

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Verhaltensweisen, Motive und Reflexionsfähigkeit von Menschen in historischkonkreten Situationen darzustellen, zunächst legitime, ja durchaus auch »realistische« Einstellungen dar. Ihnen kann historische Signifikanz ebenso zugesprochen werden wie sie – auf der Ebene von Texten und Diskursen – Anstöße zur Reflexion und damit auch zur Erzählung und Auseinandersetzung geben. Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler und Holocaust-Forscher Micha Brumlik hat in seiner Studie zum Umgang mit der Erinnerung an die Vertreibung der Deutschen in der Geschichte der beiden deutschen Staaten auf die weitgehende Unangemessenheit und Ungleichgewichtigkeit der Repräsentation und Rückbesinnung auf die Leidens- und Schreckenserfahrungen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in den Jahren 1933 – 1945 hingewiesen. 72 Diese würden sich einseitig auf Opfer- bzw. Täter-Geschichten beschränken und die historische, auch kausale Eingebundenheit der Flucht, Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen in die verbrecherische NS-Bevölkerungspolitik ebenso ignorieren wie deren Abhängigkeit von den Geschehnissen des Krieges. Brumlik weist demgegenüber auf den bislang noch immer, zumal im Alltagsbewusstsein und in entsprechenden Diskussionen weitgehend vernachlässigten Anteil der für einen Großteil des Leides verantwortlichen NS-Behörden und sonstigen Funktionsträger hin, denen sowohl der Terror gegenüber den Zivilbevölkerungen der besetzten Gebiete, gegenüber Soldaten und Kriegsgefangenen, als auch das Desaster und Unglück der Flüchtlinge zuzurechnen sei, da diese entweder falsch informiert, an frühzeitigeren Fluchtbewegungen gehindert oder sogar zu (aussichtslosem) Widerstand und Durchhalten ermuntert worden waren. 73 Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ergibt sich die Notwendigkeit, literarische Texte, die sich auf das historische Geschehen der Vertreibung, der Zwangsaussiedlung und der Fluchtbewegungen und die damit in den Blick tretenden Leiden und Verbrechen beziehen, unter dem Aspekt zu betrachten, ob und in welchem Maße sie solchen Differenzierungen und historischen Umständen Rechnung tragen und in welchem Maße dies in den künstlich-künstlerischen Verfahren heutiger medialer Rekonstruktionen überhaupt möglich ist. Verstocktheit, Empathie und Ignoranz finden sich auf der Ebene der Texte ebenso wie auf der Ebene der beteiligten Generation. 74 Ideologische Aufladung und 72 Brumlik, Wer Sturm sät. 2005, S. 137 – 166. Das Kapitel trägt die bezeichnende Überschrift »Sieh hin, zum Donnerwetter noch einmal«, ebd., S. 137. 73 Vgl. Atlas Zwangsumsiedlung. 2009, S. 168 – 177. Die Widersprüchlichkeit, ideologische Besessenheit und wohl auch Unfähigkeit der deutschen Behörden, Wehrmacht, Partei und Sondereinheiten werden in entsprechenden Berichten zur Lage an der Jahreswende 1944/45 zwar erwähnt, aber nicht reflektiert; vielmehr steht das Ganze dann unter der Überschrift »… Ereignisse seit dem Russeneinfall im Jahre 1945«; vgl. Kaps, Die Tragödie Schlesiens, S. 21 f. 74 Vgl. dazu den Beitrag: Vertriebenenproblematik. In: Fischer, Lorenz (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung«, S. 79 f.

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Besserwisserei stehen neben individuellen Erfahrungsberichten etwa von der Art des »ostpreußischen Tagebuchs« des Grafen Lehndorff. 75 Bis heute zeigen sich reaktionäre Besessenheit bis hin zur Realitätsverleugnung auch noch in den nachfolgenden Generationen 76 neben reservierter, auch reflektierter Neugier; Günter Grass hat in der komplizierten erzählerischen Anlage seiner Novelle »Im Krebsgang« an einem Modell gearbeitet, das den damit gegebenen unterschiedlichen Aspekten, Perspektiven und Erkenntnisinteressen in einer nachvollziehbaren und zugleich doch auch Bewertungen und Stellungnahme ermöglichenden Form Raum bieten soll; ob es sich dabei um einen gelungenen literarischen Text handelt, mag dahin gestellt sein. Elie Wiesel, Bertolt Brecht und Theodor W. Adorno haben in unterschiedlicher Akzentuierung die prinzipielle Undarstellbarkeit der Shoah in literarischen, künstlerischen Formen reflektiert 77 und damit eine Grenze für künstlerische Bearbeitungen historischer Gewalt-Erfahrungen angesprochen, die in gewisser Modifikation auch für die Heimatliteratur der Vertriebenen nach 1990 eine Rolle spielt. Wie zu Beginn bereits angesprochen, handelt es sich auch bei Heimat und Identität um Konzepte, die sich im Positiven wie auch in ihrer Gefährdung, Verletzung oder auch Zerstörung nur in Annäherung fassen, bestimmen oder 75 Lehndorff, Hans Graf von: Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945 – 1947. München: Biederstein 1961. 76 Vgl. dazu den im Internet kursierenden Film »Die Wahrheit über Deutschland«, dessen revisionistische und revanchistische Intentionen hinter diesem Begleittext auf Youtube versteckt werden: »Die deutsche Wahrheit 1.0 ist ein Aufklärungsfilm rund um da Thema Bundesrepublik Deutschland, die Zukunft und Vergangenheit. Das Informationsmaterial das auch als DVD verteilt wird, zeigt spielerisch die Wahrheit zur Situation in Deutschland und baldig auch ganz Europa. Das Volk muss und wird aufgeklärt um sich gegen diese kommende Diktatur zu wehren.« [http://www.youtube.com/watch?v=jZC1sr3kayA (15.3.2013)] 77 Vgl. dazu die folgenden Zitate bei Saalmann, Dieter: Betrachtungen zur Holocaustliteratur. In: Orbis Litterarum 36/3 (1981), S. 243 – 259, hier S. 258 f. »Well, at the risk of shocking you, that as far as I am concerned, there is no such thing as Holocaust literature – there cannot be. Auschwitz negates all literature as it negates all theories and doctrine… « (Wiesel: A Plea for the Survivors. In: A Jew Today, New York: Random House 1978, S. 197); siehe auch Wyschogrod, Michael: Some Theological Reflections on the Holocaust. In: Response XXV (Spring 1975), S. 68: »I firmly believe that art is not appropriate to the holocaust. Art takes the sting out of suffering …«; Brecht: »Die Vorgänge in Auschwitz, im Warschauer Ghetto, in Buchenwald vertrügen zweifellos keine Beschreibung in literarischer Form. Die Literatur war nicht vorbereitet auf und hat keine Mittel entwickelt für solche Vorgänge« (Schriften zu Politik und Gesellschaft. GS 20, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1967, S. 313); Saalmann spricht im Hinblick auf diese Aussagen von »Fehlurteilen« und »unhaltbaren Thesen«; ebd., S. 258. Vgl. auch die Debatte um Theodor W. Adornos Nachdenken über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit eines Schreibens »nach Auschwitz«: Lyrik nach Auschwitz. Adorno und die Dichter. Hrsg. von Petra Kiedaisch. Stuttgart: Reclam 1995.

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darstellen lassen. Offenheit der Form und eine durchaus auch brüchig zusammengesetzte Bauform der Narration in erzählerischen Texten mögen in diesem Sinne zugleich einen Raum konstituieren, der die Leere möglicher Sinnkonstitution in mehrfacher Hinsicht vor Augen stellt und damit auch Irritation, Befremdung und Erschütterung der Sinn-Gewissheit von Erfahrungen, Erinnerungen und Symbolbildungen vermittelt. In der Offenheit des Anfangs der Erzählung bei Dückers: »Ich hatte das Foto nicht dabei. Unruhig durchwühlte ich meine Handtasche […] Ich biss mir vor Wut auf die Lippen.« 78 oder ihres Schlusses, in der Brüchigkeit von Charakteren und Deutungen, auch in der bei Treichel inszenierten wechselseitigen Brechung von Groteske, Sentimentalität und Humor, wird die Uneinholbarkeit der Erfahrung für die nachfolgenden Generationen ebenso angesprochen und gegebenenfalls vermittelt wie die Unabgegoltenheit historischer Leiden und Verbrechen. Freilich ist hier auch ein prinzipieller Unterschied zwischen beiden in Rede stehenden Phänomenen anzusprechen, der entsprechend auch zwischen literarisch-künstlerischen Ausarbeitungen, die sich der im Begriff der Shoah angesprochenen technisch-organisatorisch geplanten und weitgehend historisch auch durchgeführten Auslöschung der europäischen Juden durch Massenmord widmen, und solchen Gewalt- und Leidenserfahrungen besteht, die sich auf die mehr oder weniger geplante, aber zugleich doch auch gewaltbelastete Umsiedlung von größeren oder kleineren Bevölkerungsgruppen im Rahmen von Kriegen und Kriegsfolgen beziehen. Während sich das factum brutum einer mit den zeitgemäß modernsten technischen Mitteln und im Bewusstsein einer entsprechenden ideologischen Sendung durchgeführten Auslöschung einer ganzen Bevölkerungsgruppe Europas bis heute jeder Form angemessener Darstellung entzieht, 79 haben sich – zumal eben im Blick auf die literarischen und sonstigen künstlerischen Versuche der letzten beiden Jahrzehnte – für die Aufarbeitung von Flucht- und Vertreibungserfahrungen offensichtlich inzwischen (reflektierte) Formen und Foren ausarbeiten lassen. Sie zielen in einer bewusst mit Bruchstücken der Fakten, Erlebnisse und Erfahrungen und mit reflexiven Brechungen von Erinnerungen und Perspektiven arbeitenden Textur darauf ab, die mit Heimatverlust und Vertreibung verbundenen Gewalt- und Verlusterfahrungen der Kriege, auch im Zusammenhang der ideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts 80 zumindest so zur Sprache zu bringen, dass sie das Leid der Opfer vermitteln und die Frage 78 Dückers, Himmelskörper. 2003, S. 7. 79 Vgl. dazu noch immer Adorno Theodor W.: Meditationen zur Metaphysik. In. ders.: Negative Dialektik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 354 – 366; Steiner, George: das lange Leben der Metaphorik. Ein Versuch über die »Shoah«. In: Akzente 34/3 (1987), S.  194 – 212. 80 Vgl. Snyder, Bloodlands, S. 313 – 337; Hahn, Hans Henning/Hahn, Eva: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn: Schöningh 2010.

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nach Schuld und Verantwortung offen zu halten vermögen. War die Erinnerung an die Vertreibungen und den Heimatverlust der deutschen Flüchtlinge in den 1950er und 1960er Jahren nicht so sehr tabuisiert 81 als vielmehr zunächst zum Handlungsfeld revanchistischer oder anderer politischer Interessen geworden, was deren Anschlussfähigkeit für die seit den 1950er Jahren einsetzenden, seit den 1970er Jahren sich dann durchsetzenden Annäherungs- und Verständigungsversuche mit den ehemaligen Kriegsgegnern und -opfern in Mittelosteuropa entsprechend beeinträchtigte, so vermochte wohl erst die völkerrechtliche Anerkennung der Westgrenze Polens durch die neu gegründete Bundesrepublik im Jahr 1990 die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass nun bspw. auf deutscher und polnischer Seite, auch in Form von Gemeinschaftswerken, eine freiere und den Opfern auf beiden Seiten zugewandte Beschäftigung mit den Erfahrungen des Heimatverlustes und der Vertreibung einsetzen konnte. 82 Freilich stellt das Leiden an Heimatverlust und Vertreibung trotz der angesprochenen historischen Belastungen, auch in aktuellen Zuspitzungen, nur die eine Seite der Vertreibung und der Suche nach Heimat dar. Vilém Flusser (1920 – 1991), aus dem jüdischen Prag nach Brasilien und dann weiter in die Welt vertrieben, hat auch die andere Seite eines »verantwortlichen« Umgangs mit Heimat und Heimatverlust betont: 81 Diese These lässt sich zumindest im Blick auf die Öffentlichkeit, die publizistische und politische Tätigkeit etwa des von 1949 bis 1969 bestehenden Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, die Rolle und die Macht der Vertriebenenverbände in der alten Bundesrepublik, die als Wählerpotential auch noch bis in die 1990er Jahre besondere Aufmerksamkeit erfuhren, oder auch entsprechend weit verbreitete Publikationen zur Vertreibungsthematik gerade in den ersten Jahrzehnten der alten Bundesrepublik nicht halten, sondern hebt allenfalls auf eine Facette im Umgang mit diesem Thema in der DDR ab. Vgl. die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. 10 Bände. Bonn 1954 – 1963; Beer, Mathias: Politik und Zeitgeschichte in den Anfängen der Bundesrepublik. Das Großforschungsprojekt »Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa«. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 46/3 (1998), S. 345–389. 82 Vgl. für viele Vertreibung aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern sich. Hrsg. von Hans Jürgen Bömelburg, Renate Stössinger und Robert Traba. Osnabrück: fibre 2 2006; Borodziej, Wlodzimierz/Endres, Gerald/Lachauer, Ulla: Als der Osten noch Heimat war. Was vor der Vertreibung geschah. Pommern, Schlesien, Westpreußen. Reinbek: Rowohlt 2011. Für Beispiele aus der polnischen Literatur sei auf den in Polen und Deutschland viel beachteten Roman »Hanemann« (1995; dt. Tod in Danzig) Stefan Chwins oder »Dom dzienny dom nocny« (1998; dt. Taghaus Nachthaus) von Olga Tokarczuk verwiesen. Vgl. dazu auch Emmerich, Wolfgang: Dürfen die Deutschen ihre eigenen Opfer beklagen? Schiffsuntergänge 1945 bei Uwe Johnson Walter Kempowski, Günter Grass, Tanja Dückers und Stefan Chwin. In: Danzig und der Ostseeraum. Sprache, Literatur, Publizistik. Hrsg. von Holger Böning. Bremen Edition Lumière 2005, S. 293–323.

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Werner Nell »Das Geheimnis der Heimat ist ›infernal‹, es ankert im Unbewussten. Wird dieses Geheimnis als Banalität durch Vertriebenwerden gelüftet, dann öffnet sich ein anderes ›sublimeres‹ nämlich das des freien, verantwortungsvollen Daseins mit anderen. Sollte die Epoche der Heimaten vorüber sein, dann ist ein bewussteres, vorurteilsloseres, offeneres Leben zu erwarten.« 83

Dass dies die Perspektive von Individuen und ihren jeweils konkreten »Nächs­ ten« und Nahwelten betrifft und keinesfalls auf Großgruppen bezogen werden kann, muss angesichts dessen, dass es gerade die Literatur der Moderne ist, die die Stimmen der einzelnen – in ihren Besonderheiten, in ihren Obsessionen und Verwerfungen – zum Ausdruck zu bringen sucht, nicht eigens betont werden.

83 Flusser, Vilém: Heimat und Heimatlosigkeit. Das brasilianische Beispiel. In: Heimat und Heimatlosigkeit. Hrsg. von Christa Dericum und Philipp Wamboldt. Berlin: Karin Kramer 1987, S. 49.

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Joanna Flinik »Sind sie zu fremd, bist du zu deutsch«. Zur gegenwärtigen deutschsprachigen Migrantenliteratur

Dieser von Ilija Trojanow vorgeschlagene Slogan bildete zugleich das Motto eines von der Hörspielabteilung des WDR und der Türkischen Redaktion von »Funkhaus Europa« im WDR Radio ausgeschriebenen Hörerwettbewerbs. Deutsch-Türken sollten ihre Lebenserfahrungen in der deutschen Gesellschaft und Kultur in Form von Hörspielen erzählen. In deutscher Sprache schreibende Schriftsteller anderer Kulturen und Sprachen sind seit langem in der deutschen literarischen Landschaft präsent, aber ihre andersartige Erzähl- und Schreibweise wird eher als etwas Exotisches angesehen denn als etwas Bereicherndes. Bei der literaturwissenschaftlichen Analyse dieser Literatur und bei der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Rezeptionsformen im öffentlichen Diskurs sieht man sich zunächst mit einer Begriffsdiskussion konfrontiert. Obwohl dieses literarische Phänomen als solches wahrgenommen, untersucht und kommentiert wird, besteht doch eine große Schwierigkeit in der präzisen Bezeichnung der dazugehörigen Texte: Gastarbeiterliteratur 1, Gastliteratur 2, Migrantenliteratur, Emigrantenliteratur 3, Literatur der Betroffenheit 4, Ausländerliteratur oder authentische Literatur 5. Viele Autoren verwahren sich gegen solche abgrenzenden Bezeichnungen und betrachten die literarische Tätigkeit 1 Ackermann, Irmgard: »Gastarbeiter«literatur als Herausforderung. In: Frankfurter Hefte, Januar 1983, H. 38/1, S. 58. 2 Nach Harald Weinrich sind der emigrierte, ungarische Schriftsteller, der chinesische Germanist, der indische Deutschlehrer oder der französische Übersetzer mit ihren Texten unter dem Begriff »Gastliteratur« subsumierbar. Vgl. Seibert, Peter: Zu den Entwürfen von »Gastarbeiter-« und Ausländerliteratur. In: Land der begrenzten Möglichkeiten. Frankfurt/M.: Büchergilde Gutenberg 1987. 3 Biondi, Franco: Von den Tränen zu den Bürgerrechten. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Göttingen 1984, Jahrgang 14, Heft 56, S. 84. 4 Eingeführt von Franco Biondi und Rafik Schami. Vgl. Bondi, Franco/Schami, Rafik: Literatur der Betroffenheit. In: Zuhause in der Fremde. Hrsg. von Christian Schaffernicht. Fischerhude: Atelier im Bauernhaus 1981. 5 Vgl. Frederking, Monika: Literatur türkischer Migranten in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: Express Edition 1985; dies.: Schreiben gegen Vorurteile. Berlin: Express Edition 1985.

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der Emigranten als Teil der deutschen/österreichischen/schweizerischen Literatur, indem sie auf die Tatsache hinweisen, dass es sich hier nicht um ein neues Phänomen handelt. Zur Begründung einer solchen Position werden nicht selten Beispiele deutscher Schriftsteller angeführt, die nicht aus Deutschland stammen, z. B. Paul Celan, Franz Kafka, Günter Grass, Ingeborg Bachmann oder der französische Schriftsteller Adalbert von Chamisso, der im 19. Jahrhundert nach Deutschland einwanderte und auf deutsch schrieb. Die Schweiz wird bereits im 19. Jahrhundert zu einem Migrantenland für ausländische Arbeitskräfte infolge der Industrialisierungsprozesse. Der wirtschaftliche Aufschwung brachte in den 1950er und 1960er Jahren eine wachsende Nachfrage nach Gastarbeitern aus dem Ausland. In der Bundesrepublik beginnt die Gastarbeiterpolitik in den 1950er Jahren. 6 Österreich nimmt eine Sonderstellung in Bezug auf die Migrationsgeschichte ein, weil »Österreich nahezu ebenso viele Gastarbeiter entsandte wie aufnahm«. 7 Ausländer kamen nach Österreich bereits in den Gründungsjahren der Zweiten Republik (nach 1945). Es sollte also nicht verwundern, wenn ein Türke, der infolge der Arbeitsmigration nach Deutschland gekommen oder hier geboren und aufgewachsen ist, die deutsche Sprache als Literatursprache wählt.Während es sich in den 1960er Jahren um die Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte handelte, wurde im Laufe der Zeit der Begriff »Gastarbeiter« durch die Bezeichnung »Migrant« ersetzt. In der Mitte der 1980er Jahre begann sich die Auffassung von der Literatur der schreibenden Gastarbeiter lediglich als literarische Artikulation der Arbeiter für Arbeiter aufzulösen. Die in den darauf folgenden Jahren vorgeschlagene Bezeichnung »Migrantenliteratur« berücksichtigte jedoch fast ausschließlich die Biographie der Autoren und fokussierte das literaturwissenschaftliche Interesse auf das Migrantendasein, zugleich wurde jedoch auch der Sprache bzw. Mehrsprachigkeit der Autoren große Bedeutung beigemessen. Seit Anfang der 1980er Jahre werden literarische Werke ausgezeichnet, die von Autoren nichtdeutscher Muttersprache geschriebenen wurden und die aufgrund direkter Erfahrungen mit der deutschen Lebenswirklichkeit entstanden sind. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Deutsch als Fremdsprache an der Universität München wird alljährlich seit 1985 der Adalbert-von-ChamissoPreis verliehen. In Österreich wird seit 1995 die Literatur von Migrantenautoren auf Initiative von Christa Stippinger und deren »edition exil« im Amerlinghaus in Wien gefördert. Inzwischen gibt es eine große Zahl von Schriftstellern aus 6 Vgl. Niehr, Thomas: Der Streit um Migration in der Bundesrepublik Deutschland, der Schweiz und Österreich. Eine vergleichende diskursgeschichtliche Untersuchung. Heidelberg: Winter-Universitätsverlag 2004, S. 154: »Bereits im Jahre 1955 erfolgte mit Italien die erste Anwerbevereinbarung. Ihr folgten weiter mit Griechenland und Spanien (1960), mit der Türkei (1961), mit Marokko (1963), mit Portugal (1964), mit Tunesien (1965) und mit Jugoslawien (1968).« 7 Ebd., S. 162.

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verschiedensten europäischen und außereuropäischen Ländern und Kulturen, die Einzug gehalten haben in die deutsche Literatur. Die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen zur so genannten »Ausländerliteratur« wurden von Irmgard Ackermann und Harald Weinrich verfasst. Zahlreiche weitere Untersuchungen und kleinere Publikationen markieren, dass die Literatur von Deutsch schreibenden Ausländern zu einem unumstrittenen Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Forschung geworden ist. Wie schon angedeutet, betrachten alle oben erwähnten Bezeichnungen der deutschsprachigen Werke von Autoren nichtdeutscher Herkunft das Problem nur pauschal, insofern dadurch zwischen Studenten, Intellektuellen, Arbeitsmigranten oder politisch Verfolgten nicht differenziert und ihre Gründe für die Emigration und die damit zusammenhängende Schreibmotivation nicht (oder kaum) berücksichtigt werden. Wie unterschiedlich diese Literaturproduktion jedoch ist, zeigt der Vergleich der Werke der so genannten »Arbeitsmigration« (wir wollen bei diesem Begriff vorerst bleiben) mit den Werken der in deutschsprachigen Ländern exilierten Autoren, wie etwa Antonio Skarmeta, der nach dem Militär­putsch im September 1973 aus Chile flüchtete, Ota Filip, der 1974 aus der ehemaligen Tschechoslowakei emigrierte und seitdem als freier Schriftsteller in München lebt, Raissa OrolwaKopelew, die 1980 aus dem sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen und 1981 während eines Besuches in der Bundesrepublik zusammen mit ihrem Mann ausgebürgert wurde, oder die türkische Autorin Oya Baydar, die nach dem Militärputsch von 1980 ins Exil gehen musste. Auch Sanja Abramovic, 1982 in Kroatien geboren, verließ ihre Heimat 1991 in Folge des Balkankrieges. Die unterschiedlichen Bezeichnungen verweisen auf unterschiedliche Betrachtungsweisen in der Forschung, und zwar auf die der Migration und auf die der Trans- bzw. Interkulturalität oder Hybridität der Kulturen. Vor allem Homi K. Bhabhas Ansätze zur Erforschung des cultural crash lassen die Migrantenliteratur nicht mehr als eine zweitrangige Literatur verstehen, sondern sprechen ihr kulturvermittelnde Qualitäten in den modernen Gesellschaften im Prozess der Globalisierung des Lebens zu, »denn die Demographie des neuen Internationalismus besteht aus der Geschichte post-kolonialer Migration, den Erzählungen der kulturellen und politischen Diaspora, den großen sozialen Veränderungen von Bauern- und Ureinwohnergemeinden, der Exil-Poetik, der düsteren Prosa von Flüchtlingen aus politischen und wirtschaftlichen Gründen.« 8

Indem Homi K. Bhabha von der »Möglichkeit einer kulturellen Hybridität« 9 spricht, betont er zugleich die Dynamik und Vielfältigkeit der sozialen Prozesse, die traditionelle Lebensformen ändern und wesentlich unsere Identität prägen:

8 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000, S.  6 – 7. 9 Ebd., S. 5.

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Joanna Flinik »Die Gegenwart kann nicht mehr einfach als Bruch oder Verbindung mit der Vergangenheit und der Zukunft gesehen werden, nicht mehr als synchrone Präsenz: unsere unmittelbare Selbstpräsenz, unser öffentliches Bild, wird durch die darin enthaltenen Diskontinuitäten, Ungleichheiten, Minderheiten sichtbar.« 10

Vor diesem Hintergrund erscheint der im Jahre 1999 von Wolfgang Welsch geprägte Begriff der Transkulturalität für das Verständnis der Migrantenliteratur wichtig. Der Begriff impliziert die Bedeutung, welche das Durchdringen, das Überqueren verschiedener Kulturen für diese Autoren besitzt, denn diese werden nicht mehr nur von einer Heimat beeinflusst, sondern fühlen sich von mehreren angesprochen. Welsch bevorzugt den Begriff der Transkulturalität in Abgrenzung von Multi- oder Interkulturalität, weil er überzeugt ist, dass in den heutigen Gesellschaften eine Identitätspluralisierung dominiert und es daher falsch wäre, einzelne Kulturen voneinander zu trennen. Welsch vertritt die Meinung, dass transkulturelle Begegnungen, welche das Fremde miteinbeziehen, die Identität nicht gefährden, sondern im Gegenteil Identität erst möglich machen: »Work on one’s identity is becoming more and more work on the integration of componetns of differing cultural origin. And only the ability to cross over transculturaly will guarantee us identity and competence in the long run.« 11

Die Literatur nach 1989 will den sich verändernden Lebensumständen und der kulturellen Vielfalt gerecht werden. Sucht man nach einem gemeinsamen Nenner für die Texte ausländischer Autoren als einer literarischen Strömung, so würden der Heimatverlust, das Schreiben in zwei Sprachen, das Leben in der Fremde sowie die Identitätssuche zu den thematischen Schwerpunkten zählen. Die ersten solcher Werke handeln denn auch infolge eines Kulturschocks und -konflikts in der Retrospektive vor allem von den verlorenen Bindungen sowie der Trennung von Verwandten, Freunden und der vertrauten Umgebung. Allerdings lassen sich diese einengenden Charakteristika keinesfalls auf alle Werke dieser ausländischen deutschsprachigen Literatur erweitern. Manche Schriftsteller entziehen sich bereits in ihren literarischen Anfangsjahren einem solchen »literarischen Ghetto« 12 er sogenannten Migrantenliteratur: Zafer Se­no­cak mit seiner expressionistischen Lyrik zum Großstadtthema, Akif Pirincci mit seinen zu Beststellern gewordenen Krimis oder die Lyrikerin 10 Bhabha, Verortung. 2000, S. 6. 11 Welsch, Wolfgang: Transculturality: the Puzzling Form of Cultures Today. In: Spaces of Culture. City – Nation – World. Hrsg. von Mike Featherstone und Scott Las. London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage Publications 1999, S. 194 – 213, hier S. 199. 12 Naoum, Jusuf: Aus dem Getto heraus. In: Eine nicht nur deutsche Literatur. Zur Standortbestimmung der »Ausländerliteratur«. Hrsg. von Irmgard Ackermann und Harald Weinrich. München/Zürich: Pipe, 1986, S. 79 – 81.

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Zehra Cirak. Viele Literaturwissenschaftler verweisen darauf, dass sich vor allem jüngere Migrantenautoren eher dem ›ewigen‹ Stoff der Literatur – Liebe und Tod – widmen, als dass sie sich lediglich durch das Prisma ihrer Herkunft definieren lassen (wollen). Erfahrungen der Migration sind jedoch unzertrennlich mit der Wirklichkeitswahrnehmung der Dichter verbunden, die sie auch literarisch verarbeiten. Die Texte schildern z. B. die Situation der angeworbenen Arbeitskräfte, ihre Erfahrungen im Betrieb und im Umgang mit einheimischen Arbeitskollegen sowie im sozialen Raum: soziale Abgrenzung, die Chancenungleichheit und Perspektivlosigkeit. Die unsichere rechtliche Lage der Emigranten, die Angst vor der Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis oder Ausweisung werden ebenfalls zum literarischen Thema der Autoren der zweiten Migrantengeneration, die in deutschsprachigen Ländern geboren und aufgewachsen sind (Franco Supino aus einer italienischen Familie in Solothurn, May Ayim 1960 in Hamburg Raul Zelik 1968 in München und Selim Özdogan 1971 in Köln geboren), sowie derjenigen, die zu der zweiten Einwanderergeneration gehören, d. h. entweder als Kinder (1963 kam Zehra Cirak als dreijähriges Kind mit den Eltern nach Deutschland, Maxim Biller mit zehn Jahren, im Jahre 1962 emigrierte die Familie von Renan Demirkan, als siebenjähriges Mädchen kam Julya Rabinowich 1977 aus Sankt Petersburg nach Wien, Radek Knapp aus Warschau folgte 1976 mit zwölf Jahren seiner Mutter nach Wien, im Alter von 14 Jahren kam Gülbahar Kültür nach Deutschland, Zvoran Drvenkar kam 1970, als er drei Jahre alt war, oder Aglaja Vetranyi, die 1962 in Bukarest geboren und als Zirkuskind mit der Familie in die Schweiz geflohen war) oder als Erwachsene (wie z. B. Yoko Tawada als 19-Jährige im Jahr 1979, Dimitre Dinev, geboren 1968, der 1990 aus Bulgarien nach Österreich flüchtete, Aysel Özakin in 1980er Jahren oder Libuse Monikova 1971) aus unterschiedlichen Gründen nach Deutschland oder in die Schweiz einwanderten. Nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass sich die Schriftsteller literarisch mit den veränderten Lebensbedingungen sowie mit der sozialen Ausgrenzung auseinandersetzen. Es ist die Zeit der Suche nach eigenem Raum. Gravierende Diskriminierungserfahrungen, die Bedrohung ihrer Identität und die ständige Verletzung des Selbstwertgefühls sind oft die Auslöser des Schreibprozesses. Der Impuls zum Schreiben entsteht daher aus Erfahrungen des sozialen Ausgegrenztseins. Die Erfahrung des Heimatverlustes ist der außerhalb der ElternHeimat geborenen Generation oder derjenigen, die in der frühen Kindheit die Eltern-Heimat verlassen hat, nicht eigen. Die Fremde wird zwar vertraut, in der Fremde werden sie auch geboren und sprachlich wie kulturell als Mitglieder der deutschen oder deutschsprachigen Gesellschaft eingegliedert, aber darauf können die Migrantenkinder keine konstante Identität aufbauen. Die Angehörigen der zweiten Generation bezeichnen ihren Wohnort zwar als ihre Heimat, aber zugleich fühlen sie sich beiden Kulturen zugehörig, deswegen kommen ihre Identitätsprobleme deutlicher zum Tragen. Sie bilden infolge-

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dessen eine »Patchwork-Identität« 13 heraus. Franco Supinos Erzähler in seinem Roman »Musica Leggera«, in dem das Leben der italienischen Migranten in der Schweiz dargestellt wird, hat als ein aus Italien stammender Schweizer Bürger mit der Integration in die Schweizer Gesellschaft Probleme und wird auf seine Herkunft reduziert. Ihm wird dadurch bewusst, dass er das Dazwischen, das Leben im »dritten Raum« 14 akzeptieren muss. Im Laufe der Zeit verschwinden die Merkmale der Migrantenliteratur. Die Generation jüngerer Schriftsteller versucht, die »enge« Welt der Elterngeneration zu verlassen und sich von ihrer dichotomisierenden Denkweise (das Fremde vs. das Eigene, West vs. Ost) loszulösen, um sich einen weltoffenen, hybriden, »dritten« Lebensraum zu schaffen. Damit schwingt das einfache Erklärungsmuster für die Ausländer-Literatur als einer sich jeweils nur zwischen zwei Kulturen bewegenden Literatur von Deutsch schreibenden Türken, Italienern, Russen, Rumänen, Kroaten u. s. w. allmählich um. Das Augenmerk wird verstärkt auf die Mehrdimensionalität und das künstlerische Potential der Werke gerichtet. Im Vergleich zu früheren Texten von Migranten erfolgt in der jüngeren Prosa eine Assimilation, Akkulturation und damit eine mehr oder weniger gelungene Integration der Emigranten. Schon bei einigen Autoren der zweiten Generation, wie Akif Pirincci und Zafer Senocak, rückt thematisch die Emigrationsproblematik in den Hintergrund, weil die Autoren nicht von denselben Bedingungen betroffen sind, unter denen die Arbeitsemigranten lebten. An die Stelle der literarischen Verarbeitung des Migrantendaseins tritt die Hinwendung zu anderen Themen wie Krieg, Naturzerstörung, Verbrechen, zwischenmenschliche Beziehungen, Familienverhältnisse, die Auseinandersetzung mit dem bundesdeutschen Alltag, die deutsch-deutsche Wiedervereinigung 15 oder die Brandanschläge von Solingen und Mölln. 16 Junge, selbstbewusste Frauen werden zu Trägerinnen eines neuen Trends: Asli Sevindim (geb. 1973 in Duisburg), Hatice Akyün (geb. 1969, immigrierte im Jahre 1972), Iris Alanyali (geb. 1969 13 Keupp, Heiner: Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spät­ mo­der­ne. Reinbek: Rowohlt 2006. 14 In Anlehnung an Homi K. Bhabhas »Third Space«. Vgl. Bachmann-Medick, Doris: 1+1=3?. Interkulturelle Beziehungen als »dritter Raum«. In: Weimarer Beiträge 45/1999, 4, S. 518 – 531, hier S. 518: Der »dritte Raum« ist nicht zu verstehen als ein Ort zwischen zwei Kulturen, sondern als »eine Strategie der Vervielfältigung nicht homogener Schichtungen innerhalb einer jeweiligen Kultur«. 15 Vgl. Yesilada, Karin E.: Topographien im »tropischen Deutschland« – Türkischdeutsche Literatur nach der Wiedervereinigung. In: Literatur und Identität. Deutschdeutsche Befindlichkeiten und die multikulturelle Gesellschaft. Hrsg. von Ursula E. Beitten. New York/Bern/Berlin/Bruxelles/Frankfurt/M.: Peter Lang 2000, S.  303 – 339. 16 Als Beispiele einer literarischen Reaktion ist die Lyrik von Nevfel Cumart, Hasan Özdemir oder Gülbahar Kültür zu nennen.

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in Sindelfingen), Dilek Güngör (geb. 1972 in Schwäbisch Gmünd) beschreiben in ihren Büchern das Leben einer türkischen Frau in Deutschland, indem sie Themen wie Mode, Liebe oder Sex nicht scheuen. Die Schriftstellerinnen reflektieren durch das Prisma ihrer eigenen Geschichte die gesellschaftlichen Veränderungen, engagieren sich darüber hinaus politisch und registrieren sowie analysieren die Möglichkeiten der Entfaltung in einer Mehrheitsgesellschaft. Die Texte von Dimitre Dinev (geb. 1968, seit 1990 in Wien), Ilja Jovanovic (geb. 1950, seit 1971 in Wien), Terezia Mora (geb. 1970 in Ungarn, seit 1990 in Berlin) beweisen, dass ihre (künstlerische) Heimat zweifellos im deutschsprachigen Raum liegt. Aus einer neuen Perspektive nehmen sie Stellung zu der deutschen/ österreichischen/schweizerischen Vergangenheit, wie z. B. im erzählerischen Werk des österreichisch-iranischen Autors Hamid Sadr. In seinem Roman »Der Gedächtnissekretär« leistet er mit einem nicht-deutschen Blick einen Beitrag zum Erinnerungsdiskurs und zur Vergangenheitsbewältigung in Österreich. Pia Reinacher konstatiert dazu in ihrer Untersuchung »Je suisse«: »Anfang der neunziger Jahre kam es also nicht einfach zu einem Stafettenwechsel zwischen den Schriftstellergenerationen, sondern zu einem tief greifenden Wandel« 17, und nennt als Beispiele in einem Atemzug auch einige Namen von Migrationsschriftstellern: »Zoë Jenny, Peter Weber, Ruth Schweikert, Perikles Monioudis, Aglaya Veteranyi, Peter Stamm, Raphael Urweider oder Silvio Huonder« 18. Das weist darauf hin, dass auch die Literatur der Migrantenkinder in der Schweiz Themen wie den Generationenkonflikt, Tod, Liebe und Sex behandeln und sich durch die von sozialen, kulturellen und historischen Erfahrungen bedingte Sichtweise charakterisieren lassen. Melitta Breznik, 1961 in Kapfenberg/Steiermark geboren, eine Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ist Verfasserin von Romanen und Erzählungen, die von ihren eigenen familiären wie beruflichen Erfahrungen in der Psychiatrie beeinflusst sind und von der Kritik wegen ihres präzisen Stils gelobt wurden: »Auch mit ihrer Stoffwahl – den Recherchen über weibliche Lebensentwürfe und dem Versuch, herauszufinden, was den Menschen in seinem Elend vorantreibt, – reiht sie sich in die jüngere Generation von Autoren, die ihre individuellen Fährten verfolgt und sich keinen überkommenen Vorgaben verpflichtet fühlen.« 19

Ruth Schweikert, 1965 in Lörrach geboren, hat sich ebenfalls einen festen Platz in der Literaturszene der Schweiz mit ihrem ersten Buch »Erdnüsse.

17 Reinacher, Pia: Je suisse. Zur aktuellen Lage der Schweizer Literatur. Zürich: Nagel & Kimche 2003, S. 9. 18 Ebd., S. 9. Bei Monouidi und Huonder handelt es sich um Schriftsteller, die in der Schweiz geboren wurden, aber die Schweiz verlassen haben und sich als Dichter im Ausland etablierten. Beide leben heute in Berlin. 19 Reinacher, Je suisse. 2003, S. 164.

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Totschlagen« 20 verdient, was diverse Preise und Auszeichnungen beweisen. Ihre Schreibweise wurde zu Beginn ihres literarischen Schaffens oft als »Frauenliteratur« deklariert: »Flaschenpost aus dem Frauenleben: so ließe sich die literarische Arbeit von Ruth Schweikert bezeichnen. Die Perspektive der weiblichen Biographie treibt ihre Texte voran, die Erkundung einer Frauenidentität mit literarischen Mitteln ist das bestechende Programm ihrer ersten beiden Bücher« 21.

Sie selber distanziert sich davon.  Die Erfahrungen der Migration werden auch im literarischen Werk Francesco Micielis behandelt, der 1956 in Santa Sofia d’Epiro (Italien) geboren wurde und mit neun Jahren in die Schweiz gekommen war. Francesco Micielis Familie gehörte der albanischsprachigen Minderheit in Italien an. Der Ich-Erzähler in Micielis Trilogie »Ich weiss nur, dass mein Vater große Hände hat« (1986), »Das Lachen der Schafe« (1989) und »Meine italienische Reise« (1996) lebt in einer Welt, die von zwei Kulturen geprägt wird: der albanischen und der italienischen. Als er mit den Eltern in die Schweiz kommt, muss er sich eine neue fremde Kulturwelt aneignen. Erstens macht es ihm seine albanische Herkunft in Italien nicht einfach, denn er muss sich trotz der Staatsbürgerschaft mit dem Anderssein konfrontieren, zweitens erweist sich die Ankunft in der Schweiz als keine leichte Aufgabe für den Ich-Erzähler. Im Gegensatz jedoch zu der Elterngeneration (repräsentiert durch die Mutter Catarina des zweiten Bandes) ist die Generation der Kinder imstande, sich zu integrieren und sich sogar als unentbehrlichen Teil der schweizerischen Gesellschaft zu betrachten und auch so behandelt zu werden: »Ich hatte als erster Italiener die Sekundarschulprüfung bestanden und war zum Vorzeigeobjekt der emigratorischen Intelligenz geworden. Alle wollten mich mit ihren Töchtern verloben. Ich wurde zum Führer der italienischen Jugendbewegung gewählt. 22.

Catalin Dorian Florescu, 1967 in Timișoara (Rumänien) geboren, floh 1982 mit seinen Eltern in den Westen und wohnt seitdem in Zürich. Gezielt konstruiert er in seinen Werken Gestalten von Flüchtlingen und Vagabundierenden. Sie reisen mit einem Auto durch wirkliche und imaginäre Räume. Das Fahrzeug ermöglicht den Romanfiguren Mobilität und bietet ihnen zugleich Schutz vor der Außenwelt. Ali, der Protagonist aus dem Roman »Wunderzeit« 23, will mit seinen Eltern die rumänisch-jugoslawische Grenze passieren. Der in Rumänien 20 Schweikert, Ruth: Erdnüsse. Totschlagen. Zürich: Rotpunktverlag 1994. 21 Reinacher, Je suisse. 2003, S. 169. 22 Micieli, Francesco: Ich weiss nur, dass mein Vater grosse Hände hat. Das Lachen der Schafe. Meine italienische Reise. Trilogie. Bern: Zytglogge 1998. Hier: Meine italienische Reise, S. 241. 23 Florescu, Catalin Dorian: Wunderzeit. Zürich: Pendo Verlag 2001.

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geborene Ovidiu, die Hauptgestalt im Roman »Der kurze Weg nach Hause« 24, unternimmt mit seinem italienischen Freund Luca die Reise in eine umgekehrte Richtung – aus der Schweiz nach Rumänien, da ihn oft die Sehnsucht nach der alten Heimat überfällt: »Während ich am Zürichsee in den Nebel hineinschaute, sah ich Timisoara.« 25 Die nach Rumänien unternommene Reise verursacht jedoch einen deutlichen Bruch mit der Heimatidylle, denn der Held des Romans fühlt sich dort nicht mehr zugehörig. Der Ich-Erzähler Teodor in Florescus Roman »Der blinde Masseur« 26 will sein Glück in der rumänischen Heimat suchen. Diese Rückkehr macht ihm seine Migrantenlage und das Leben im Dazwischen, also das Leben zwischen der bereits fernen und fremd gewordenen Heimat und der nahen, aber noch nicht gewonnenen Fremde bewusst. Immer wieder werden die Protagonisten mit dem Asylantenleben konfrontiert. Die Erinnerungen an die alte Heimat einerseits und die Wahrnehmung der Gegenwart an­der­erseits bilden für den Ich-Erzähler in Yusuf Yesilöz’ Roman »Der Gast aus dem Ofen­rohr« 27 einen Schwebezustand, einen Zwischenraum. Der aus der Türkei stammende Schriftsteller Yusuf Yesilöz (geboren 1964) zeigt das Problem der Ausländerzunahme vor dem Hintergrund ethischer Überlegungen zur Ein- und Abgrenzung der Fremden in der schweizerischen Gesellschaft. Um sich ihrer selbst vergewissern zu können und sich zugleich ihrer Identität zu versichern, errichten sich die Asylanten ein auf ihre Erinnerung an die heimatlichen Dörfer, Lieder und Gewohnheiten basierendes eher instabiles Dasein in der Fremde. Aglaja Veteranyi entstammt einer rumänischen Familie von Zirkusartisten; der Vater trat als Clown auf, die Mutter als Akrobatin. 1967 floh die Familie aus Rumänien. »Literarisch zehrt sie von einem Erfahrungskontinent, der für helvetische Verhältnisse exotisch anmutet und sich genau darum als äußerst fruchtbarer Boden erweist. Insofern ist sie eine klassische Vertreterin der jüngsten Schweizer Nachwuchsautorinnen und -autoren« 28,

obwohl sie sich – wie Reinacher selbst bemerkt – mit »helvetische[n] Themen« 29 in ihren Werken nicht explizit auseinandersetzt. Ihre Texte spiegeln eine selbstaufopfernde Suche nach Selbstbestimmung in der Fremde bzw. im neuen Land wider, nachdem das Leben in der Heimat nicht mehr möglich geworden ist. Die einzige Konstante bildet der Wohnwagen der Zirkusfamilie, der ihr das Gefühl der Geborgenheit spendet, welche sie vor der Außenwelt zu schützen versucht: »Ich öffne die Tür vom Wohnwagen so wenig wie möglich, damit das Zuhause 24 Ders.: Der kurze Weg nach Hause. Zürich: Pendo Verlag 2002. 25 Ebd., S. 48. 26 Ders.: Der blinde Masseur. Zürich: Pendo Verlag 2006. 27 Yesilöz, Yusuf: Der Gast aus dem Ofenrohr. Zürich: Rotpunkt Verlag 2002. 28 Reinacher, Je suisse. 2003, S. 165. 29 Ebd., S. 165.

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nicht verdampft« 30. Die Integration bleibt der Ich-Erzählerin zwar nicht verwehrt, aber die unternommenen Versuche scheitern, was ihre »Desozialisation« 31 und »grundlegende Ortlosigkeit« 32 zur Folge hat. Veteranyis Protagonisten leben permanent in »Zwischenräumen«. Das Gefühl der Fremde, des Andersseins begleitet die Figuren, die versuchen, sich dieses Fremde anzueignen, was sich im Endeffekt für die Ich-Erzählerin im Roman »Warum das Kind in der Polenta kocht« als Illusion erweist, sobald sie erkennt, dass in der neuen Heimat »die Hunde wichtiger als die Menschen« 33 genommen werden und das Leben nach dem Grundsatz »Das Wichtigste ist, arbeitsam und demütig zu sein« 34 eingerichtet werden muss. Der Zwischenraum, in dem die Ich-Erzählerin zu leben beginnt, verspricht für sie keine hoffnungsvolle Zukunft. Zu sehr ist sie den äußeren Zwängen der Gesellschaft ausgeliefert, als dass sie sich frei entwickeln könnte. Auch eine auf dem Dialog zwischen dem Heute und dem Gestern beruhende Existenz scheint nicht möglich zu sein. Die Ich-Erzählerin in Melinda Nadj Abonjis (1968 in Serbien geboren) Roman »Tauben fliegen auf« 35, der 2010 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, erzählt von der Unbarmherzigkeit des Migrantendaseins und von dem Zwang, sich gegenüber der schweizerischen Majorität als brave, ehrliche, freundliche, fleißige Mitbürger bewähren zu müssen. Mit fünf Jahren kommt die Protagonistin in die Schweiz, in der sich ihre Eltern bereits eine Existenz aufgebaut haben. Sie gelten – von außen betrachtet – durchaus als ein politisch korrektes Beispiel für eine gelungene Integration. Die häufig unternommenen Reisen in die alte Heimat mit immer größeren Autos, mit welchen die Familie Kocsis den heimatlichen Verwandten ein erfolgreiches und glückliches Leben in der Fremde vortäuscht, sind tatsächlich Ausdruck mangelnder zwischenmenschlicher Kontakte in der Schweiz, von fehlender familiärer Gemütlichkeit und ehemals zelebrierter Feste. Bei ihrer Schilderung des Lebens zwischen zwei Kulturen vermeidet die Autorin jedoch, die jeweiligen Differenzen und Antagonismen zu dämonisieren oder zu verherrlichen. In ihrer Familiengeschichte spiegelt sich die Geschichte Jugoslawiens wider: die sozialistische Vergangenheit, der Balkankrieg sowie die politische Verfolgung. Alle angeführten Beispiele für die Entwicklung des literarischen Phänomens einer ausländischen Literatur in den deutschsprachigen Ländern mögen die 30 Veteranyi, Aglaya: Warum das Kind in der Polenta kocht. München: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 10. 31 Kunisch, Hans-Peter: Das Meer auf dem Stuhl. Zum Debüt der deutsch schreibenden Rumänin Aglaja Veteranyi. In: Süddeutsche Zeitung, 13. Oktober 1999, S.VI/5. 32 Claudia Kramatschek: Im Überall des Nirgendwo. Aglaja Veterayis Romandebüt. In: Neuer Züricher Zeitung, 15. September 1999, S. 34. 33 Veteranyi, Polenta. 1999, S. 131. 34 Ebd., S. 107. 35 Abonji, Melinda Nadj: Tauben fliegen auf. Salzburg/Wien: Jung & Jung 2010.

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Deutschsprachige Migrantenliteratur

Fülle der Schriftsteller zwar bei Weitem nicht erschöpfen, zeigen aber deutlich, dass es sich um eine sprachlich hybride Literatur handelt, die eine Kombi­na­ tion aus biographischen Erfahrungen und fiktional gestalteten Kontexten bildet und einen Einblick in die oft labile Identität der Migranten ermöglicht. Ganz offensichtlich handelt es sich nicht mehr (»nur«) um Arbeiterliteratur oder um Exil- oder Migrantenliteratur, wenn man den Terminus auf die Biographie der Autoren bezieht. Im Falle jüngerer Autoren in zweiter oder bereits dritter Generation türkischer, ungarischer und italienischer Einwandererfamilien erscheint der Begriff einer »interkulturellen Literatur« 36 bzw. transkulturellen Literatur angebrachter. Die oftmals in den Werken der Autoren nicht-deutscher Herkunft thematisierte Kulturbegegnung spielt sich selten konfliktlos ab. Vielmehr wird die »fremde« Perspektive, mit der die Protagonisten sowohl ihre eigenen Schicksale als auch die Schicksale der Einheimischen in der neuen Heimat reflektieren, akzentuiert. Vor dem Hintergrund eigener Migrations-, Exil- und Fluchterfahrungen betrachten sie die Zeitgeschichte. Somit gewinnt zugleich das Konzept der Heimat bzw. Heimatlosigkeit in der Fremde neue individuelle Züge. Die Wirklichkeit mischt sich in diesen Werken mit der Fiktion, und die biographischen Elemente beeinflussen die fiktiv konstruierte literarische Welt. Die einzelnen Texte der so genannten Migrantenliteratur zielen daher darauf ab, die subjektive Erfahrungswelt des Einzelnen darzustellen, und folgen auf diese Weise dem Konzept der historischen Anthropologie, in der »der je einzelne und besondere Blick auf die Lebenswelt gefragt, wie er auch und gerade in poetischen Texten erprobt, poetisch stilisiert, bestätigt oder – im Gegenteil – in Frage gestellt wird«. 37 Wenn alles, was außerhalb der Heimat geschrieben wurde, einem Begriff zugeordnet oder subsumiert und demzufolge als Exil-, Emigranten-, Arbeiter- oder deutschsprachige Ausländerliteratur bezeichnet wird, so wird damit eine unzulässige Einheitlichkeit oder Gemeinsamkeit der Texte vorgetäuschtkonstruiert. Denn so verschieden die Migrationsgründe sich darstellen, so verschieden sind auch die literarische Wahrnehmung der Fremde und die sozialen Erfahrungen. Erst wenn man diese richtig erkennt und analysiert, können sie entsprechend der Intention des Autors rezipiert und die schablonenhafte Betrachtung ihrer Werke durchbrochen werden.

36 Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch. Stuttgart/Weimar: Metzler 2000. 37 Röcke, Werner: Historische Anthropologie. In: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Hrsg. von Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 35 – 55, hier S. 41.

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Matthias Braun Das Stasi-Thema im neuen deutschen Roman nach 1990 am Beispiel von Günter Grass’ »Ein weites Feld« und Uwe Tellkamps »Der Turm«

In diesem Beitrag geht es um die Behandlung von DDR-Geschichte, präziser: um die Frage, wie das Stasi-Thema im neuen deutschen Roman nach 1990 behandelt wird. War dieses Thema sowohl im Literaturbetrieb als auch innerhalb der Literaturwissenschaft in Ost wie West vor 1990 zumeist einer falsch verstandenen political correctness bzw. einer nicht zu übersehenden politisch-historischen Kurzsichtigkeit zum Opfer gefallen 1, so waren es nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers in Europa häufig die sich rasch entwickelnden gesellschaftlichen Transformationsprozesse mit ihren neuen Fragestellungen, die den Gegenstand aus dem Blickfeld verschwinden ließen. Moralische Verurteilungen, oft präjudiziert, von Schriftstellern mit einer Karriere als Inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR (IM), erlebten in den Medien und in der Fachliteratur eine kurzzeitige Hochkonjunktur. Dieser Umstand führte häufig zu kaum mehr als zur Suche nach Entschlüsselung von Decknamen oder nach grundsätzlicher Systemkritik. Zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution liegen neben Günter Grass’ »Ein weites Feld« 2 und Uwe Tellkamps »Der Turm« 3, die im Zentrum dieser Untersuchung stehen, auch noch einige andere Romane vor, in denen sich Autoren und Autorinnen im Rahmen ihrer literarischen Aufarbeitung von DDRGeschichte auf unterschiedliche Weise mit dem Phänomen Stasi auseinandersetzen. Genannt seien hier zumindest Wolfgang Hilbigs surrealer Roman »Ich« 4, Thomas Brussigs Realsatire »Helden wie wir« 5, Erich Loests Familienroman

1 Eine rühmliche Ausnahme stellt Uwe Johnson mit seinem bereits 1959 erschienenen Roman »Mutmassungen über Jakob« dar. Vgl. hierzu u. a. Müller, Klaus Detlef: Mit Hundefängern Staat machen? In: Huberth, Franz (Hg.): Die Stasi in der deutschen Literatur. Tübingen 2003, S. 69 ff. 2 Grass, Günter: Ein weites Feld. Göttingen 1995. 3 Tellkamp, Uwe: Der Turm. Frankfurt/M. 2008. 4 Hilbig, Wolfgang: Ich. Frankfurt/M. 1993. 5 Brussig, Thomas: Helden wie wir. Berlin 1995.

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»Nikolaikirche« 6 Kathrin Schmidts »Seebachs schwarze Katzen« 7, Antje RavicStrubls »Sturz der Tage in die Nacht« 8 und Christa Wolfs jüngster Selbsterforschungsroman »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud«. 9 Sowohl Günter Grass (Jg. 1927) als auch Uwe Tellkamp (Jg. 1968) entwerfen in ihren genannten Romanen mittels unterschiedlicher Erzählmuster und Schreibstile ein relativ komplexes Bild von der untergegangenen DDR. Dass dabei auch die Stasi als eine tragende Säule der SED-Diktatur zu berücksichtigen ist, stellen weder der in Danzig geborene und im Westen sozialisierte Günter Grass noch der im Osten Deutschlands aufgewachsene Uwe Tellkamp grundsätzlich in Frage. Allerdings tun sich in der Gewichtung und der damit verbundenen Bedeutung des Stasi-Themas in den zur Debatte stehenden Romanen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten auf. Wohl wissend, wie schwer es ist, unter der Schicht des fiktional Erzählten das Korsett des tatsächlich Gelebten und Erfahrenen freizulegen, wird hier der Frage nachgegangen, inwieweit sich die Schriftsteller Günter Grass und Uwe Tellkamp bei der Erarbeitung ihrer Prosa-Literatur von den Erkenntnissen der aktuellen DDR-Forschung, speziell der Stasi-Forschung, bei der realitätsgerechten Beschreibung jüngster deutscher Zeitgeschichte inspirieren ließen. Günter Grass’ 1995 publizierter Roman »Ein weites Feld«, der ursprünglich unter dem Titel »Treuhand« erscheinen sollte, löste ein Medien- und Werbespektakel übler Beschimpfungen und willkürlich subjektiver Verrisse aus. Darüber wurden die Qualitäten des Buches lange Zeit vergessen. Meines Erachtens liegen sie in der intertextuellen Referentialität, der Sprachform, dem strukturellen Aufbau und nicht zuletzt in der Literarisierung von Geschichte, vornehmlich der Stasi-Geschichte. 10 Wenn auch »Ein weites Feld« alles Andere als ein reiner Stasi-Roman ist, so lässt sich trotzdem sagen, dass er aus einer dreifachen Stasi-Perspektive heraus von Günter Grass konzipiert worden ist: Ein gesichtsloses Autorenkollektiv eines Archivs (»Wir vom Fontane-Archiv«) stellt einen inoffiziellen Mitarbeiter (Fonty, alias Theo Wuttke) und den ewigen »Spitzel« Tallhover (Hoftaller) in den Mittelpunkt der Romanerzählung. Genau genommen erzählt Günter Grass aus dem Blickwinkel des FontaneArchivs die Biografie Theo Wuttkes, alias Fonty, der als Widergänger des Romanciers Theodor Fontane gestaltet ist. Der Leser erfährt im Verlauf des Romans, dass Theo Wuttke bereits während des Zweiten Weltkrieges als Informant 6 Loest, Erich: Nikolaikirche. Leipzig 1995. 7 Schmidt, Kathrin: Seebachs schwarze Katzen. Köln 2005. Siehe auch Beitrag von Sonja Klocke in diesem Band. 8 Ravic-Strubl, Antje: Sturz der Tage in die Nacht. Frankfurt/M. 2011. 9 Wolf, Christa: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Frankfurt/M. 2010. 10 Ausführlich zur Stasi-Problematik in Günter Grass’ Roman »Ein weites Feld« siehe Huberth, Franz: Aufklärung zwischen den Zeilen. Köln u. a. 2003, S. 280 ff.

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für Hoftaller und damit für die Gestapo tätig war. In der DDR mutierte Hoftaller zum Stasi-Offizier und Fonty ist erneut sein Informant. In seinem offiziellen Leben arrangierte sich Theo Wuttke als freischaffender Vortragsreisender innerhalb des Kulturbundes der DDR und arbeitete zuletzt als Aktenbote in der Treuhandanstalt. Fontys »Tagundnachtschatten«, der Stasi-Offizier Hoftaller, ist ebenfalls ein Widergänger. Auch er hat ein literarisches Vorbild, den stets wiederkehrenden Spitzel Ludwig Tallhover, eine unter mehreren Systemen des 19. und 20. Jahrhunderts arbeitende Spitzelfigur aus dem gleichnamigen Roman von Hans Joachim Schädlich. 11 Der intertextuelle Bezug auf Tallhover verdeutlicht, dass die Spitzelfigur Hoftaller von Günter Grass primär als Prinzip aufgefasst wird, das die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Systeme überdauert und bestimmt. »Er holte als Tallhover aus, um als Hoftaller draufzupacken«. 12 Sehr dicht am Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und seinen hauptamtlichen Mitarbeitern liegt Günter Grass mit der Figur des Hoftaller, wenn auch einschränkend festgehalten werden muss, dass der Schriftsteller Grass diese Figur mit dem Mythos der Allmacht eines Geheimdienstes ausstattet, über die in der Regel kein Geheimdienst, mit Sicherheit aber die politische Geheimpolizei der SED nicht verfügt hat. So weiß Hoftaller »schon immer im voraus, wie es schiefgehen würde« oder Hoftaller »hat schon wieder überall seine Finger drin«. 13 Auch das Stasi-Archiv wird als eine Art Super-Leistungsnachweis für Spitzeltätigkeit, als eine wahre Büchse der Pandora von Hoftaller beschrieben. »Na die Normannenstraße! Ist doch genügend im Keller, ne Menge Zeug, Kilometer Akten, Operative Vorgänge. Informationsgesabbel, Bettgeflüster, abgeschöpft alles … Und zwar gesamtdeutsch [...] Muss sich auszahlen endlich«. 14

Diese vermeintliche Allmacht und ambivalente Bedeutung der politischen Geheimpolizei der DDR spielt Günter Grass in den Handlungssträngen und Strukturen seines Romans durch. Obwohl die Stasi bei Günter Grass explizit im Romangeschehen verankert ist, entzieht sie sich in der Figurenanalyse einer genau fixierbaren eindeutigen Charakteristik. Die Funktionen des Stasi-Offiziers Hoftaller, einerseits als Beschatter und Spitzel, andererseits als Identitätsfigur und Chronist (als eine Art Speichermedium) zu fungieren, widersprechen einander und entwerfen eine ambivalente Figurenzeichnung. Die Hoftaller-Figur verkörpert ein weitgehend negatives historisches Prinzip, welches sich auf mehrschichtige Funktionsbereiche verteilt. Es beinhaltet

11 Schädlich, Hans Joachim: Tallhover. Reinbek bei Hamburg 1992. 12 Grass, Ein weites Feld. 1995, S. 99. 13 Ebd., S. 330. 14 Ebd., S. 410.

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zum Beispiel das Motiv der Bewahrung und ebenso ein monströs anmutendes Allwissen. »Wird ihnen noch vergehen, das Lachen, wenn wir den Sack aufmachen. Staunen wird das Pack über unseren Fleiß und darüber, wer alles von uns zum Fleiß erzogen worden ist. Ne Menge Namen, einzelne und im Dutzend«. 15

Im Doppelportrait Fonty-Hoftaller stellt letzterer die Kritik und das schlechte Gewissen dar, während Fonty Verdrängung und Schönfärberei praktiziert. Dessen ungeachtet kann Günter Grass’ Theo Wuttke ohne Hoftaller existieren. Schwieriger sieht es für den Stasi-Offizier Hoftaller aus. Er braucht den IM Fonty. Im Text scheint es sogar so, dass er zumindest für eine gewisse Zeit Hoftallers (d. h. des Führungsoffiziers) Existenzgrundlage darstellt. »Er (Hoftaller) litt unter Entzug, denn ohne Fonty fühlte er sich verlassen, wenn nicht verloren«. 16 Mit dieser Aussage trifft Grass den Nagel auf den Kopf. Eine Stasi ohne ihre Inoffiziellen Mitarbeiter ist nicht denkbar. Mit dem anonymen, kollektiven »Wir vom Archiv« führt der Autor nicht nur eine ganz bestimmte literarische Erzählperspektive, sondern auch eine Institution ein, die nicht nur Wissen über Fontane archiviert. Dieses Archiv observiert und sammelt vielmehr Daten und Ereignisse, die Fonty betreffen. Es recherchiert und rekonstruiert. Am Ende wird daraus »Ein weites Feld«. »Und weil er als Fonty zu uns [denen vom Archiv – M. B.] gehörte, mehr noch der lebendigste Beweis unserer papierenen Materie war, fiel dem Archiv die Aufgabe zu, die nicht durch Stubenhockerei bewältigt werden konnte. Wir mussten ins Grüne. Gleich Hoftaller war uns Außendienst vorgeschrieben. Wie Spanner hockten wir im Gebüsch oder hinter glatthäutigen Buchenstämmen versteckt. Man löste sich ab. Man gab das Belauschte weiter. Notate für später«. 17

Das Archiv sammelt und archiviert nicht nur, es stellt vor allem eine große Kohärenz her. Günter Grass beschreibt damit eine zentrale Tätigkeit der Stasi. Aber das Archiv ist nicht identisch mit der Stasi, wie gelegentlich in der Forschungsliteratur behauptet wird. Mit dem Tübinger Literaturwissenschaftler Franz Huberth lässt sich hier nur erwidern, solch eine platte Verkürzung zeugt von einer durch eine bestimmte Erwartungshaltung gelenkten Lektüre und der historischen Übertragbarkeit von Fiktion 18. Das fiktive Fontane-Archiv in Günter Grass’ Text ist weder das reale Fontane-Archiv in Potsdam noch eine Dependance des Ministeriums für Staatsicherheit. Es ist nicht mehr und nicht weniger als das fiktive Fontane-Archiv mit zahlreichen Anschlussstellen für Assoziationen. 15 Ebd., S. 519. 16 Ebd., S. 363. 17 Ebd. S. 414. 18 Siehe Huberth, Aufklärung zwischen den Zeilen. 2003, S. 288.

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Stasi-Thema im neuen deutschen Roman

Die Tatsache, dass die Figur des Geheimpolizisten Hoftaller über die Funktion des Bewahrens eine ausgesprochen positive Funktion im literarischen Text einnimmt, kann wohl nur als ein Versuch des Autors Grass gesehen werden, fünf Jahre nach dem Mauerfall bei der Bewertung der DDR einen Perspektivwechsel anzustreben, indem er über die Instrumentalisierung des Fontanezitats vom »weiten Feld« eine humorvolle, aber auch bewusst indifferente Distanzierungsmöglichkeit anzubieten versucht. Auch an anderen Stellen des Romans wird durch ironische, satirische und komische Elemente die gesellschaftspolitische Dramatik der realen DDR-Geschichte entschärft. Was hier als künstlerische Innovation aufscheint und für den Schriftsteller eine legitime Schreibstrategie darstellt, ist für die Geschichtsschreibung als Fachwissenschaft und die Aufarbeitung von jüngster deutscher Geschichte eher problematisch. Bei der Behandlung der DDR und der Stasi als das zentrale Herrschaftsinstrument der SED geht es schließlich um die Beschreibung eines diktatorischen Gesellschaftssystems. Im Jahre 2008 erscheint Uwe Tellkamps Roman »Der Turm« zu einem Zeitpunkt, zu dem der Wissensstand über die DDR-Geschichte erheblich gewachsen ist. Dieses Werk wurde mit Literaturpreisen überschüttetet und wird nicht ganz zu Unrecht als eine Art »Echolot« der letzten sieben Jahres eines untergehenden Staates gelesen. Uwe Tellkamp entfaltet in seinem Buch ein episches Panorama, welches auf Totalität zielt und wichtige Schichten und Milieus der ostdeutschen Gesellschaft erfasst. Ein Rezensent ist sogar der Ansicht, dass Tellkamp einen Blick »in die sozialistische Vorhölle« 19 getan habe. Die Narration des Autors führt uns in eine unwirkliche, zuweilen surreale Welt. Sie spielt zu großen Teilen in einem Dresdener Villenviertel, beginnt kurz nach dem Tod des sowjetischen Generalsekretärs Breschnew im Herbst 1982, blendet in der Beschreibung der einzelnen Figurenbiografien bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zurück und endet im Herbst 1989 im Zentrum der sächsischen Elbmetropole Dresden. In der erzählerischen Umsetzung dieses Stoffes ergibt sich ein eigenständiger Text. Uwe Tellkamp schildert die DDR als ein Staatsgebilde, das für die Ewigkeit konzipiert war und keine Selbstzweifel kannte. Der Autor erzählt eine DDR, die noch nichts von ihrem Untergang ahnte, einer Stasi, die noch munter im Verborgenen agierte, in der von oben nach unten beliebig geschaltet und gewaltet wurde. Uwe Tellkamp erzählt auch von den Anmaßungen, der Willkür, vom Hochmut der Herrschenden und ihren Machtbeweisen. In diesem Sinne sind Uwe Tellkamps »tiefenscharfe Kamerafahrten ins Innere eines untergegangenen Landes gelungen«. 20 Auf das Phänomen der politischen Geheimpolizei der DDR, die Stasi, als das zentrale Herrschaftsinstrument der SED-Diktatur, wirft der Romanautor eher 19 Krekeler, Elmar: Die süße Krankheit Gestern. In: Süddeutschen Zeitung, Beilage Literarische Welt vom 13.09.2008. 20 Ebd.

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einen beiläufigen Blick, ohne dahinter, wie in anderen Kapiteln geschehen, die Welt neu entstehen zu lassen. Auf gut fünf von fast 1.000 Buchseiten streift der Autor, überdies von Klischees überfrachtet, das überaus kontrovers diskutierte Thema der DDR-Wirklichkeit lediglich. Er verleiht ihm keine nennenswerte Relevanz für den weiteren Gang seines Epos. Erst im zwanzigsten Kapitel, »Dialog über Kinder«, das nur aus monologischen Bruchstücken eines Stasi-Offiziers besteht, liefert Uwe Tellkamp eine Skizze über den Versuch der Stasi, eine Hauptfigur seines Romans, den Dresdener Oberarzt Richard Hoffmann, mit erpresserischen Methoden für eine inoffizielle Zusammenarbeit zu gewinnen. »Nun ja, Herr Doktor, ich sage Ihnen nichts Neues, obwohl es schwierig ist, allen seinen Kindern zugleich ein guter Vater zu sein. – Sie wissen nicht wovon ich spreche. Aber wir wissen, wohin Sie gehen … An Donnerstagen. – Ihre Frau, weiß die es auch? […] Wenn diese Kinder nun bestimmte Talente besitzen, wäre es doch fahrlässig für einen Vater, sie nicht zu fördern, so gut er kann. Stellen sie sich vor, Ihre Söhne hätten musikalische Begabungen, würden Sie dann nicht alle Anstrengungen unternehmen, um ihnen die Klarinette oder das Cello zu besorgen, für die sie so talentiert sind? […] Ihre Akte [Richard Hoffmann ist während seines Medizinstudiums als Zuträger für die Stasi tätig gewesen – M. B.] sollten wir [also – M. B.] nicht so voreilig schließen […] Ihre Frau scheint Sie von unserem Weg abgelenkt zu haben … Überschlafen Sie meinen Vorschlag, denken Sie darüber nach«. 21

Die wörtliche Rede des MfS-Offiziers suggeriert Authentizität. Zweifellos wird damit der Vorgang eines wiederholten Anwerbungsversuches von Richard Hoffmann auf originelle Weise literarisiert. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass Uwe Tellkamp den Anwerbungsversuch an einem Spezialfall abhandelt. Hier geschieht die Zusammenarbeit mit der Stasi auf der Grundlage von Drohungen und mit dem Einsatz kompromittierender Fakten. Angesichts der Tatsache, dass maximal nur zwei Prozent aller Inoffiziellen Mitarbeiter unter Druck für die Stasi tätig geworden sind, handelt es sich hier um alles andere als ein signifikantes Beispiel für die IM-Tätigkeit eines DDR-Bürgers. Des Weiteren billigt der Autor »seinem« Stasi-Offizier eine intellektuelle Fähigkeit und Sprache zu, wie sie im Alltag der politischen Geheimpolizei der DDR nicht an der Tagesordnung war. Die zweite und zugleich letzte Stasi-Episode in Tellkamps Roman beginnt mit dem geheimnisvollen Satz: »Nun hatte es Richard gesagt« 22. Erst aus dem weiteren Text erschließt sich, dass Richard Hoffmann die erwachsenen Mitglieder seiner Familie über den Anwerbungsversuch der Staatssicherheit informiert hat. Nach dem Verständnis der Stasi hatte er sich damit einem größeren Kreis gegenüber dekonspiriert. Das ist als Ausnahme von der Regel zu betrachten. 21 Tellkamp, Der Turm. 2008, S. 255 – 258. 22 Ebd., S. 442.

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Wäre dies massenhaft geschehen, hätte die Stasi ihre auf strengste Konspiration aufgebaute Tätigkeit nicht so erfolgreich durchführen können, denn der Inoffizielle Mitarbeiter, so Stasi-Minister Mielke, »war die wichtigste Waffe im Kampf gegen den Feind«. Im Gegensatz zur ersten Stasi-Episode scheint die folgende Schilderung der unterschiedlichen Positionen der Familienmitglieder zum Für und Wider von Richard Hoffmanns Spitzeltätigkeit dem ganz normalen Alltagsleben abgelauscht zu sein. So offenbart sich der Familienvater Richard Hoffmann dem Familienrat nur zum Teil. Die zweite Androhung des Stasi-Offiziers, bei einer möglichen Verweigerung zur Zusammenarbeit gegebenenfalls auch sein zweites Leben, sprich die Existenz einer Geliebten und eines bisher verschwiegenen Kindes zu enthüllen, erwähnt er dem Familienrat gegenüber mit keiner Silbe. Im Unterschied zur ersten Episode gelingt es Uwe Tellkamp an dieser Stelle, die Ängste, den Opportunismus und das sich entwickelnde Aufbegehren der Menschen gegen die vermeintliche Allmacht der Stasi bzw. des gesamten Repressionsapparates des SED-Regimes auch für den mit der Stasiforschung befassten Literaturhistoriker überzeugend in Szene zu setzen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass beide Schriftsteller, Grass und Tellkamp, mit ihren Werken die Tradition des großen deutschen Gesellschaftsromans fortsetzten. Sie leisten damit einen anregenden Beitrag zur Herausbildung einer neuen deutschen Erinnerungskultur. Bei aller Unterschiedlichkeit der Texte in sprachlicher, politischer und ästhetischer Hinsicht kann aber auch an beide Romane die Frage gestellt werden, inwiefern es ihnen gelingt, jüngste deutsche Zeitgeschichte realitätsgerecht zu beschreiben. In diesem Zusammenhang fällt dem Zeithistoriker auf, dass die Ergebnisse der DDR-Forschung der letzten beiden Jahrzehnte, selbst bei aller Differenziertheit ihrer Befunde, nicht in Einklang mit Günter Grass’ Kernthese von einer »kommoden Diktatur« 23 zu bringen sind, wie er sie seiner Romanfigur Hoftaller in den Mund legt. Die Stasi hat auch nie die Omnipotenz erreicht, wie sie Hoftaller im Grass’schen Roman repräsentiert. Allenfalls entwickelte die Stasi eine zeitweilige Omnipräsenz in der Gesellschaft, von der in Uwe Tellkamps Gesellschaftsroman jedoch wiederum nichts zu spüren ist. In seinem Roman findet die Tätigkeit der politischen Geheimpolizei als elementares Repressions­ instrument einer Diktatur kaum Beachtung. Selbst die Beschreibung ihrer operativen Methoden wird von Uwe Tellkamp auf einen Sonderfall reduziert. Aus der Geheimdienstforschung ist jedoch seit langer Zeit bekannt, dass im »operativen Alltag« eine konspirative, also inoffizielle Zusammenarbeit mit der politischen Geheimpolizei der DDR in den aller meisten Fällen auf der Grundlage der Freiwilligkeit, wenn nicht Überzeugung, und nicht auf erpresserischer Grundlage ablief, wie es in Uwe Tellkamps Roman nachzulesen ist. 23 »Was heißt hier Unrechtsstaat! Innerhalb dieser Welt der Mängel lebten wir in einer kommoden Diktatur« Siehe Grass, Ein weites Feld. 1995, S. 324 f.

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Wer wirklich wissen will, wie das Leben der Menschen in der ostdeutschen Gesellschaft funktioniert hat, dem empfiehlt der Verfasser dieses Beitrags, die fiktionalen Romane über die untergegangene DDR von Grass, Tellkamp und anderen Autoren zu lesen, darüber hinaus aber auch mehr als nur einen Blick in die reichlich vorhandenen wissenschaftlichen Sachbücher zur DDR-Geschichte zu werfen.

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Henk Harbers Rückkehr der Sinnfrage? Nihilistische Thematik im Werk von Andreas Maier, Markus Werner und Juli Zeh

Nihilismus ist ein Problem des modernen, aufgeklärten Denkens. Mit dem Verlust der christlichen Glaubensgewissheiten und der Einsetzung der menschlichen Vernunft als Garant der Wahrheit ist die Tendenz zu einem radikalen Skeptizismus und Relativismus ein konstanter Faktor in der Kultur der Moderne. Wie Hans-Jürgen Gawoll es formuliert, »bricht das Problem des Nihilismus gerade dort auf, wo sich erkenntnistheoretisch die Tendenz abzeichnet, die Objektivität des Inhaltes in eine Funktion der kognitiven Fähigkeiten des Subjektes zu verwandeln.« 1

Es ist, wie Panajotis Kondylis in seiner Studie zur Aufklärung beschreibt, »kein Zufall […], daß der neuzeitliche Nihilismus ausgerechnet im Zeitalter der Aufklärung zum ersten Mal konsequent und umfassend formuliert wurde.« 2 Obwohl, so Kondylis, die meisten Denker der Aufklärung bestrebt waren, die nihilistischen Konsequenzen des rationalistischen Denkens abzuwehren, etwa durch die Annahme, dass die Natur selbst feste Normen produziere, so sei doch eigentlich die andere Position die theoretisch überlegene: ein atheistischer und monistischer Materialismus, mit dem eine Trennung von Natur und Norm vorgenommen und Werte zu einer subjektiven Fiktion erklärt wurden. Wie schon aus der obengenannten Formulierung Gawolls hervorgeht, wohnt aber nicht nur einem materialistischen Denken die Tendenz zum Nihilismus inne. Die Philosophie des deutschen Idealismus kann, wie Jacobi im Jahre 1799 in seinem offenem Brief an Fichte – mit dem die Karriere des Begriffes ›Nihilismus‹ erst richtig anfängt – schon zeigt, in genau dieselbe Richtung führen: Wenn, so Jacobi, erkenntnistheoretisch das Subjekt (das ›Ich‹) die Welt konstruiert, dann ist alles nur ein »Nichts-Außer-Ich« 3, dann gibt es keine 1 Gawoll, Hans-Jürgen: Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger. Stuttgart-Bad Canstatt: frommann-holzboog 1989, S. 23. 2 Kondylis, Panajotis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München: dtv 1986, S. 493. 3 Jacobi, Friedrich Heinrich: Jacobi an Fichte. In: Nihilismus. Die Anfänge von Jacobi bis Nietzsche. Eingeleitet und hrsg. von Dieter Arendt. Köln: Hegner 1970, S. 116.

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Henk Harbers

allgemeingültigen Wahrheiten mehr, dann ist alles nur subjektive Einbildung. Hier wird, in der Terminologie des philosophischen Idealismus, schon zum Ausdruck gebracht, was später von Nietzsche in der klassisch gewordenen Formulierung als die nihilistische Problematik definiert wird: »Was bedeutet Nihilismus? – Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das ›Wozu?‹.« 4 In den heutigen philosophischen Wörterbüchern wird meistens zwischen zwei Arten von Nihilismus unterschieden: einem theoretischen Nihilismus, der die Gültigkeit einer objektiven Wahrheit leugnet, und einem praktischen Nihilismus, der die Existenz allgemeingültiger Normen und Werte leugnet. 5 Hinzu kommt, besonders in literarischen Darstellungen, auch eine emotionale Komponente: ein nihilistisches Lebensgefühl, das sich durch »Langeweile […] Desinteresse, Zynismus, Verzweiflung oder Gewaltbereitschaft« 6 äußern kann. Dieser Problemkomplex ist – manchmal ganz vordergründig, manchmal eher im Hintergrund – eine Konstante in der deutschsprachigen Literatur seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. 7 Die Geschichte der Darstellung von nihilistischer Thematik in der (deutschsprachigen) Literatur ist inzwischen in einer Reihe von Studien beschrieben worden. 8 Sybille Gössl analysiert Romane von Wieland, Wezel und Tieck als Auseinandersetzungen mit dem zeitgenössischen Materialismus. 9 Dieter Arendt betont in seinen Arbeiten zum ›poetischen Nihilismus‹ in der Romantik 10 den Zusammenhang von Glaubensverlust, Schwärmertum und nihilistischer Enttäuschung und Verzweiflung. Zofia Moros untersucht, welche Auffassungen von Welt und Mensch in literarischen Werken mit nihilistischen 4 Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta. München: Hanser 1969. 6. Aufl. Band III, S. 557. 5 Siehe z. B.: Enzyklopädie Philosophie. Hrsg. von Hans Jörg Sandkühler. Hamburg: Meiner 1999, S. 947 ff. 6 Gómez-Montero, Karina: Sinnverlust und Sinnsuche. Literarischer Nihilismus im deutschsprachigen Roman nach 1945. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1998, S. 13. 7 Natürlich gibt es in der Literatur der vorhergehenden Epochen auch schon verzweifelte Auseinandersetzungen mit der Frage nach Sinn und Sinnlosigkeit. Dabei ist vor allem an die Melancholie-Darstellungen im 17. und 18. Jahrhundert zu denken. Aber der Unterschied zum Nihilismus besteht darin, dass der erfahrene Sinnverlust eher individuell ist, nicht absolut; dass der Welt- und Daseinsekel der Melancholiker »nach wie vor in einer Totalität aufgehoben [ist], deren Sinnhaftigkeit selbst kaum bezweifelt wird« (Immelmann, Thomas: Der unheimlichste aller Gäste. Nihilismus und Sinndebatte in der Literatur von der Aufklärung zur Moderne. Bielefeld: Aisthesis 1992, S. 39). 8 Auf Monographien und Aufsätze zu einzelnen Autoren gehe ich hier nicht ein. 9 Gössl, Sybille: Materialismus und Nihilismus: Studien zum deutschen Roman der Spätaufklärung. Würzburg: Königshausen & Neumann 1987. 10 Arendt, Dieter: Der ›poetische Nihilismus‹ in der Romantik. Studien zum Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit in der Frühromantik. Bd. I und II. Tübingen: Niemeyer 1972.

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Elementen von Jean Paul bis Büchner eine Rolle spielen, und folgert, dass man erst bei Büchner im vollen Sinne von Nihilismus sprechen kann. 11 Walter Hof beschreibt den Nihilismus in der deutschen Literatur vom Sturm und Drang bis Ernst Jünger und Gottfried Benn 12 als die Folge des Verlustes des vormodernen, glaubenssicheren, ›kategorialen‹ Weltbildes zugunsten der modernen ›hypothetischen‹ Weltsicht. Hof beschreibt die verschiedenen Versuche in Philosophie und Literatur, einem rein negativen Nihilismus zu entkommen 13: durch die ›unendliche Sehnsucht‹ in der Romantik, durch den Vitalismus bei Nietzsche und in der Literatur der Jahrhundertwende (wo der Begriff des ›Lebens‹ zum neuen Absolutum wird), durch die Kategorie der ›Eigentlichkeit‹ bei Heidegger, durch die Dynamik des Handelns bei Jünger, durch die Metaphysik der Form bei Benn. In den Studien von Hillebrand 14, Immelmann 15 und Duhamel 16 werden auch die Werke der Avantgarde des 20. Jahrhunderts und das Drama des Absurden in die Analyse des literarischen Nihilismus einbezogen. Dabei kommt bei Immelmann und Duhamel, beeinflusst durch den ›linguistic turn‹ des 20. Jahrhunderts, der Sprache diejenige Rolle zu, die das Subjekt im Idealismus spielte: der nihilistische Relativismus sei die Folge des Bewusstseins, dass alle Erkenntnis ›zeichenintern‹ ist. 17 Die nihilistische Thematik in deutschsprachigen Werken von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts untersucht

11 Moros, Zofia: Nihilistische Gedankenexperimente in der deutschen Literatur von Jean Paul bis Georg Büchner. Frankfurt/M.: Peter Lang 2007. 12 Hof, Walter: Pessimistisch-nihilistische Strömungen in der deutschen Literatur vom Sturm und Drang bis zum jungen Deutschland. Tübingen: Niemeyer 1970; ders.: Der Weg zum heroischen Realismus. Pessimismus und Nihilismus in der deutschen Literatur von Hamerling bis Benn. Bebenhausen: Lothar Rotsch 1974. 13 Hier spielt der Unterschied zwischen einem ›passiven‹ und einem ›aktiven‹ Nihilismus bei Nietzsche eine wichtige Rolle. 14 Hillebrand, Bruno: Ästhetik des Nihilismus. Von der Romantik zum Modernismus. Stuttgart: Metzler 1991. 15 Immelmann, Der unheimlichste aller Gäste. 1992. 16 Duhamel, Roland: De rand van gruwen. Over het nihilisme. Leuven/Apeldoorn: Garant 2002 (Deutsch: Die Decke auf den Kopf. Versuch einer Deutung des Nihilismus. Würzburg: Königshausen und Neumann 2006). 17 Thomas Immelmann macht den Versuch, mit Hilfe der poststrukturalistischen Sprachkritik die Geschichte des literarischen Nihilismus aufs Neue aufzurollen. Das Fruchtbare daran ist, dass der sprachliche Aspekt der literarischen Nihilismusdarstellung in den Vordergrund gerückt wird und somit der innere Zusammenhang der literarischen Moderne – bis hin zur Postmoderne –­ deutlich wird. Die Gefahr ist, dass sich der theoretische Blickwinkel allzusehr auf die dekonstruktive Sprachanalyse einengt, so dass Immelmann den ganzen Nihilismus als »die Bewußtwerdung der Hinfälligkeit von Sinn gerade aufgrund der Differenz von Signifikanz« definieren und ihn aus dieser Perspektive etwas vereinfachend zu einer »Vorgeschichte der Dekonstruktion« erklären kann (Immelmann, Der unheimlichste aller Gäste. 1992, S. 238).

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Karina Gómez-Montero, wobei sie die Erfahrung existentieller Sinnlosigkeit in den jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext stellt. Für die Literatur nach etwa 1980 gibt es, soweit mir bekannt, kaum Publikationen, die das Thema des Nihilismus aufgreifen. Das mag mit dem Dominantwerden von postmodernen Denk- und Schreibweisen in den achtziger Jahren zusammenhängen. Wenn Postmoderne, mit einem Wort Albrecht Wellmers, »Moderne ohne Trauer« 18 bedeutet: d. h., dass gerade die Unmöglichkeit allgemeingültiger Wahrheiten und Werte als positive, befreiende, Unterdrückung verhindernde Möglichkeit gesehen wird, dann kann es hier eigentlich nur, um einen Ausdruck Nietzsches abzuwandeln, einen ›fröhlichen Nihilismus‹ geben. Damit fällt aber eine entscheidende Komponente des bisherigen Nihilismus weg: die tragische, leidende Erfahrung von Verlust. 19 Ein gutes Beispiel eines solchen ›fröhlichen Nihilismus‹ sind die Romane von Ingomar von Kieseritzky mit Titeln wie »Das Buch der Desaster« 20 oder »Kleiner Reiseführer ins Nichts«. 21 Im »Buch der Desaster« schreibt der Ich-Erzähler auf der letzten Seite: »Auf der gesunden Basis von Sinn-Defizit läßt sich gut arbeiten.« 22 Zugleich aber gibt es auch eine deutliche Parallele zwischen idealistischer Subjektphilosophie und postmodern/poststrukturalistischem Denken, eine Parallele, die im Rahmen der Nihilismusproblematik bedeutsam sein könnte: Wo im Idealismus nur ein ›Nichts-als-Subjekt‹ blieb, bleibt im Poststrukturalismus nur ein ›Nichts-außer-Text‹. Hier liegt noch ein ganzes Feld für weitere Forschung brach: Die Frage nach dem Zusammenhang von nihilistischer Thematik mit postmodernen Denk- und Schreibweisen ist bisher kaum untersucht worden. 23 18 Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne: Vernunftkritik nach Ador­no. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985, S. 55. 19 Dass das auch einen Verzicht auf utopisches Denken und damit auf die Möglichkeit einer wesentlich kritischen Haltung gegenüber der Gegenwart bedeuten könnte, ist der Kern der Kritik von Karen Carr am postmodernen Denken von Richard Rorty (Carr, Karen L.: The Banalization of Nihilism: Twentieth-Century Responses to Meaninglessness. New York: State University of New York Press 1992). Eine ähnliche Kritik spricht aus den Formulierungen Bruno Hillebrands, wenn es über die Gegenwart heißt: »Heute muß Sisyphos ohne Stein leben, ohne Götter, ohne Auftrag. Er arbeitet nicht mehr. […] Das ist die Endphase des Nihilismus: die eingestellte Revolte, die erstickte Hoffnung, die vergessene Hoffnung« (Hillebrand, Ästhetik des NihilismuS. 1991, S. 54). 20 Kieseritzky, Ingomar von: Das Buch der Desaster. Roman. Stuttgart: Klett-Cotta 1988. 21 Kieseritzky, Ingomar von: Kleiner Reiseführer ins Nichts. Roman. Stuttgart: KlettCotta 1999. 22 Kieseritzky, Das Buch der Desaster. 1988, S. 214. 23 So gibt es auch Autoren – wie etwa Heiner Müller –, die postmoderne Schreibweisen und nihilistische Thematik verbinden, ohne dass von einem untragischen, ›fröhlichen Nihilismus‹ die Rede sein könnte. Und viele Texte von Thomas Bernhard nehmen

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Wie Gómez-Montero schon bemerkte, ist ohnehin in der Literatur nach den fünfziger Jahren von Nihilismus expressis verbis kaum noch die Rede. 24 Nun gibt es aber erste Anzeichen, dass für eine solche explizite Auseinandersetzung – vielleicht auch als Reaktion auf den ›fröhlichen‹ postmodernen Relativismus – in der Literatur des 21. Jahrhunderts wieder Platz ist. So lässt Juli Zeh in ihrem Roman »Spieltrieb« 25 die zwei jugendlichen Protagonisten sich als ›Urenkel der Nihilisten‹ bezeichnen, und Andreas Maier gibt seinem dritten Roman sogar den Namen eines bekannten Nihilisten aus Dostojewskis »Dämonen«, Kirillow, zum Titel. Mich interessiert dabei besonders die Frage, wie solche Werke sich zu der Tradition des literarischen Nihilismus verhalten. Da fällt zunächst einmal auf, in welchem Maß bekannte Themen aufgegriffen werden. Ich nenne hier drei solcher – miteinander verzahnter – Themenkomplexe. Wie viele der anfangs genannten Studien betonen, entsteht Nihilismus, sowohl als Theorie als auch als Lebensgefühl, immer in Verbindung mit etwas Absolutem – als Erfahrung des Verlustes dieses Absoluten. Und umso stärker die Sehnsucht nach dem absoluten Ideal, desto größer ist die Enttäuschung und das Gefühl der Leere, wenn sich dieses Ideal als unerreichbar oder gar nicht existent erweist. Deshalb ist es oft gerade der Typ des Schwärmers (Musterbeispiel: Tiecks Romanfigur William Lovell), der für melancholische und nihilistische Stimmungen anfällig ist. (So ist in letzter Zeit ausdrücklich auf den Zusammenhang von Schwärmertum, Melancholie und Nihilismus in Goethes »Werther« und »Faust« hingewiesen worden. 26) Damit kommt ein weiteres Thema ins Spiel: die Frage der Bindung oder Anpassung an traditionelle Werte und in Verbindung damit an die etablierte (d. h. meistens die bürgerliche) Gesellschaft. In den literarischen Werken zum Nihilismus sind diejenigen, die glauben, dass es noch einfache, absolute, unbezweifelbare Werte gibt, meistens etwas beschränkte, unreflektierte und oft dogmatische Nachbeter der herrschenden Gesellschaftskonventionen. Es waren gerade die melancholischen ›Schwärmer‹ des 18. Jahrhunderts, die kritisch waren und Anpassung verweigerten. 27 Aber zugleich läuft jede schwärmehier mit ihrer tragikomischen Schimpfrhetorik eine nicht so einfach zu verortende Zwischenstellung ein. 24 Gómez-Montero, Sinnverlust und Sinnsuche. 1998, S. 31. 25 Zeh, Juli: Spieltrieb. Roman. Frankfurt/M..: Schöffling & Co 2004. 26 Schmidt, Jochen: Goethes Faust, erster und zweiter Teil. Grundlagen – Werk – Wirkung. München: Beck 1999; Valk, Thorsten: Melancholie im Werk Goethes. Genese – Symptomatik – Therapie. Tübingen: Niemeyer 2002. 27 Siehe auch Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1969; Schings, Hans Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 1977.

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rische Absolutheit Gefahr, in den Sog eines selbstdestruktiven Zynismus und Nihilismus zu geraten. Schon in Tiecks »William Lovell« wird in einem leicht ironischen Tonfall 28 zum Ausdruck gebracht, dass man ohne ein gewisses Maß an bürgerlicher Gesetztheit einer nihilistischen Leere nicht entkommt. Und ein drittes Thema ist – natürlich – die Liebe. Der einzige Begriff, der seit der Romantik die Leerstelle eines Absolutums noch einigermaßen glaubwürdig ausfüllen kann – und damit meistens auch die einzig mögliche Alternative zum Nihilismus –, ist der Begriff der Liebe. Aber wiederum sind hier die Dinge komplex. Die Liebe als neues Sinnzentrum (das körperliche Natur und geistiges Ideal vereinen soll) ist immer problematisch: von E. T. A. Hoffmann bis Helmut Krausser ist die absolute Liebe mit Tod und Teufel verbunden. Liebe als lebbare Alternative zum Nihilismus kann eben nicht ein schwärmerisch-›absolutes‹, buchstäblich von allem abgelöstes Eros-Ideal sein, sondern muss auf irgendeine Weise auch Caritas sein und praktische Verantwortung übernehmen. 29 Solche Themen bilden das Zentrum in den drei Romanen, die hier kurz besprochen werden sollen. 30 Am Explizitesten wird – literarisch vielleicht nicht immer ganz überzeugend – von Nihilismus in Juli Zehs »Spieltrieb« gesprochen. 31 In diesem Roman organisieren Ada und Alev, zwei frühreife, überintelligente Schüler, ein grausames Spiel mit ihrem Lehrer Smutek, den sie zum Sex mit der minderjährigen Ada verführen und danach erpressen. Den beiden Protagonisten ist der traditionelle Nihilismus noch zu positiv: »Die Nihilisten glaubten immerhin, dass es etwas gebe, an das sie NICHT glauben konnten.« 32 Sich selbst bezeichnen sie als die »Urenkel der Nihilisten« 33, denen 28 So lässt Tieck den frisch verheirateten und damit von seinem Nihilismus geheilten Francesco schreiben, dass den Männern nichts anderes übrig bleibt als zu versuchen, »je eher je lieber […] unter den Pantoffel zu kommen« (Tieck, Ludwig: William Lovell. Stuttgart: Reclam 1986, S. 600). 29 Caritas nicht in der theologischen Bedeutung als auf Gott bezogene und Gottes Liebe nachbildende Liebe, sondern in der säkularisierten Bedeutung, wie jüngst Terry Eagleton den verwandten (ebenfalls aus der christlichen Theologie stammenden) Begriff der agapē benutzte für eine Liebe, die – nicht als logische Proposition, sondern als Lebensform – eine Antwort sei auf die Frage nach dem Sinn (›meaning‹) des Lebens (Eagleton, Terry: The Meaning of Life. Oxford: Oxford University Press 2007, S. 165; vgl. auch: Nygren, Anders: Eros und Agape: Gestaltwandlungen der christlichen Liebe. Gütersloh: Bertelsmann, Erster Teil 1930, Zweiter Teil 1937; Scholz, Heinrich: Eros und Caritas: Die platonische Liebe im Sinne des Christentums. Halle (Saale): Max Niemeyer 1929). 30 Ahnliches ließe sich finden in den Romanen Wilhelm Genazinos, in Walter Kappachers »Selina oder das andere Leben« (2005), in Katharina Hackers »Die Habenichtse« (2006) oder in Sibylle Bergs »Der Mann schläft« (2009). 31 Zeh, Spieltrieb. 2004. 32 Ebd., S. 309. 33 Ebd.

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alles »gleich-gültig« 34 ist, die »nichts mehr [haben], an das [sie] nicht glauben können«. 35 In »Spieltrieb« gibt es im Wesentlichen drei mögliche Positionen: die erste (im Roman nicht ernstgenommene) ist die des unreflektierten Verteidigers der traditionellen Werte. Diese Position wird vertreten durch den karikatural gezeichneten, autoritären neuen Schuldirektor Teuter. Wichtig sind vielmehr die beiden anderen Positionen, die im Roman tendenziell mit den Begriffen ›Moderne‹ und ›Postmoderne‹ verbunden werden. Für die Moderne stehen der Geschichtslehrer Höfling, ›Höfi‹ genannt, und der Germanistik- und Sportlehrer Smutek, Ada und Alev vertreten hingegen die Postmoderne. Die Moderne weiß um die Abgründe des Nihilismus, aber sucht noch nach einem Halt. Dafür stehen im Roman etwa Camus’ Sisyphus-Aufsatz, den Ada lächerlich findet 36, oder Musils Roman »Der Mann ohne Eigenschaften«, den Smutek in der Klasse behandelt und in dem es nach Smutek bei aller modernen Skepsis noch um »Wahrheiten« 37, um eine »große […] Idee« 38 gehe. Dabei wird Smutek, der Pole, der Liebesgedichte von Zbigniew Herbert zitiert 39, als der Romantiker dargestellt, der noch nach einem Sinn sucht 40 und sich den Glauben an das Leben zu erhalten versucht. 41 Sein Kollege Höfling gibt sich etwas skeptischer – aber für beide gilt ausdrücklich, dass die Liebe sie vor nihilistischer Verzweiflung bewahrt. 42 Und bei beiden geht es um eine Liebe, die ganz praktisch, d. h. neben Eros auch Caritas ist: Höfling pflegt seine MS-kranke Frau, Smutek fühlt sich verantwortlich für seine schöne, aber depressive Gattin. Das alles gilt – scheinbar – nicht für die »Überlebenden der Postmoderne« 43, die selbsternannten ›Urenkel der Nihilisten‹. Ihnen bleibe nur, sagt Alev, weil alles ›gleich-gültig‹ sei, das Spiel. 44 Aber die Ironie des Romans liegt gerade darin, dass dieses Spiel letzten Endes nur ein Kinderspiel ist, ein Spiel von Kindern, die nicht durchschauen, dass es es vor allem ihr eigenes verletztes Liebesbedürfnis ist, das an der Basis ihres sogenannten »Spieltriebs« 45 liegt. Bei Ada ist das ziemlich deutlich: Eine erste Liebe zu einer Freundin wird ihr

34 Ebd., S. 292. 35 Ebd., S. 492. 36 Ebd., S. 361 f. 37 Ebd., S. 160. 38 Ebd., S. 39. 39 Ebd., S. 165. 40 Ebd., S. 127. 41 Ebd., S. 356. 42 Höfling auf S. 230: »Zwei Menschen, die, jeder auf seiner Linie, Hand in Hand durchs Leben laufen, bilden zusammen einen Vierbeiner und werden nicht stürzen, selbst wenn sie von dem Abgrund unter ihren Füßen wissen.« 43 Ebd., S. 348 f. 44 Ebd., S. 260. 45 Ebd.

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untersagt 46, Olafs Liebesgefühle verrät sie kaltblütig – aber gleichzeitig hat sie Songs der Rockgruppe »Evanescence« wie »Going under« oder »Tourniquet« im Kopf, in denen es um Schreie nach Liebe und Rettung geht. 47 Obwohl sie sich das selbst kaum eingesteht, lässt sie sich auf Alevs Spiel nur deshalb ein, weil und solange sie in ihn verliebt ist. Danach entwickelt sie Liebesgefühle für Smutek, den sie im Gerichtsprozess mit ihrer Aussage unterstützt und mit dem sie am Ende glücklich wegzieht. Wenn gegen Ende des Romans Ada irritiert ausruft: »Das ist […] kein verdammter Liebesroman!« 48, dann trifft das in ironischer Umkehrung genau den Kern. Alev, der nach eigener Aussage impotent ist, scheint von jeglichen Liebesgefühlen frei zu sein, so dass ihm, der Nietzsche als seinen »Urgroßvater« 49 bezeichnet, nur noch das Spiel um die Macht 50 bleibt. Aber wenn Ada ihm von der Liebe zwischen Smutek und dessen Frau erzählt, reagiert er deutlich eifersuchtsverdächtig. 51 So gesehen kann man sich die Frage stellen, ob in diesem Roman wirklich eine sehr ernstzunehmende Auseinandersetzung mit dem Problem des Nihilismus vorliegt. Das Ganze ist eben nur ein Spiel von Kindern, die, wie Smutek in einem Streitgespräch mit Ada sagt, »das allgemeine NICHTS mit [ihrer] persönlichen LEERE verwechsel[n]«. 52 Das braucht man nur zu entdecken und schon hat alles ein Happy End: Ada und Smutek auf ihrer alternativen Hochzeitsreise am Ende des Romans. Aber ganz so einfach macht es sich der Roman doch nicht. Die Liebe ist zwar eine Art Antwort auf Skeptizismus und Nihilismus, aber keine Widerlegung: Sie macht die nihilistische Entwurzeltheit nur ertragbar – für die Dauer der Liebe. Nachdem die Frau des Geschichtslehrers Höfling gestorben ist, sieht dieser keinen anderen Ausweg als den Selbstmord. Smutek, der sich in seiner Ehe gefestigt fühlte, befindet sich am Ende auf einer fluchtartigen Reise »[z]wischen den Instanzen« 53, nur vorläufig freigesprochen, ohne festen Boden, wie die Personen im Roman »Fliegende Bauten« – den er zuerst gar nicht lesen wollte. 54 Und neben ihm im Auto hört Ada wieder einen Song von »Evanescence«, »My Last Breath«, wo tatsächlich von Liebe gesungen wird – aber verbunden mit Tod und Suizid.

46 Ebd., S. 33 ff. 47 Ebd., S. 80 ff. 48 Ebd., S. 473. 49 Ebd., S. 277. 50 Ebd., etwa S. 147, 169, 349. 51 Ebd., S. 404 f. 52 Ebd., S. 430. 53 Ebd., S. 563. 54 Ebd., S. 425 ff, S. 559.

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Anders als »Spieltrieb« greift Markus Werners Roman »Am Hang« 55 nicht expressis verbis das Thema Nihilismus auf; es wird von Liebe und Ehe in der heutigen Gesellschaft gesprochen. Aber der Roman stellt letzten Endes ähnliche Fragen: Was bleibt dem Menschen, außer einem verantwortungslosen und sinnentleerten Hedonismus, falls der Traum von der großen, absoluten Liebe tatsächlich nur ein Traum sein sollte? Auch im Werk von Markus Werner ist die Frage nach einer sinnvollen Existenz immer mit Kritik an der jeweiligen Gesellschaft verbunden. Aber es gibt immer zugleich auch Kritik an dieser Kritik: Im Zentrum vieler seiner Werke steht eine Gratwanderung zwischen der Kritik an der bürgerlichen Leistungsgesellschaft und damit Sympathie für diejenigen, die sich an diese Gesellschaft nicht anpassen wollen oder können, und der Kritik an solchen Personen, die nur ihre eigene individuelle und unverbindliche Freiheit im Auge haben und keine wirkliche Verantwortung übernehmen wollen. Schon in seiner Dissertation über das Werk von Max Frisch kritisiert Werner die Haltung vieler Figuren in den Romanen von Frisch, die sich mit dem anscheinend so sympathischen Gebot, sich selbst und andere nicht in einem Bildnis festzulegen, einem »verbindliche[n] Miteinander« 56 entziehen. In seinem ersten Roman »Zündels Abgang« wird diese Haltung direkt mit nihilistischen Positionen verbunden. Die Hauptperson bildet sich eine Ehekrise ein und verstrickt sich danach immer mehr in eine prinzipielle Ablehnung der bürgerlichen Leistungsgesellschaft. Er hält vor seinen Schülern eine Rede gegen die »Verbrüderung mit der Realität« 57 und liest ihnen aus Barocktexten vor, in denen die Sinnlosigkeit der Welt beklagt wird. 58 Im letzten Eintrag seiner Notizen schreibt er, dass die menschliche Würde nur noch »der verzweifelte Versuch [ist], angesichts unserer Nichtigkeit Haltung zu bewahren«. 59 Im Roman »Am Hang« geht es um die Nach-68er-Gesellschaft, die sich von dem festen, aber auch autoritär einengenden Werte-Konservatismus der fünfziger Jahre befreit hat. »Am Hang« ist die fast kriminalistisch erzählte Geschichte (zugleich ein intertextuelles Spiel mit Conrad Ferdinand Meyers Ballade »Die Füße im Feuer«) von der Begegnung zweier Männer, bei der der ältere entdeckt, dass der jüngere derjenige war, der ein Jahr zuvor eine Affäre mit seiner Frau hatte. Beide sind sich insoweit einig, dass sie die Verabschiedung der Vor-68erJahre als eine wirkliche Befreiung ansehen: Die Teuter-Option in »Spieltrieb«, also die Rückkehr zu einem autoritären System kommt nicht in Frage. Aber in der Beurteilung der gegenwärtigen Gesellschaft stehen die Ansichten der 55 Werner, Markus: Am Hang. Roman. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch Verlag 2006 [urspr. 2004]. 56 Werner, Markus: Bilder des Endgültigen. Entwürfe des Möglichen. Zum Werk Max Frischs. Bern/Frankfurt/M.: Lang 1975, S. 31. 57 Werner, Markus: Zündels Abgang. Roman. München: dtv 1988 [urspr. 1984], S. 104. 58 Ebd., S. 101. 59 Ebd., S. 89.

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beiden sich diametral entgegen. Loos, der Ältere (der in Wirklichkeit Bendel heißt), ist angewidert von der heutigen »wegweiserlosen« 60 Gesellschaft, in der sich »Ratlosigkeit« 61 breitmache und in der es nur noch um einfachste Lustbefriedigung gehe – wovon die millionenfache Verbreitung von Pornofilmen der perverse Ausdruck sei. Clarin, der Jüngere, glaubt nicht an dauerhafte Beziehungen und umarmt gerade die Möglichkeiten unbeschwerter Lustbefriedigung: Man solle »das Leckere nicht […] verschmähen« 62, und an reiferen Frauen schätzt er die »optimale Genußreife«. 63 Er verteidigt seinen Hedonismus mit wissenschaftlichen (statistisch-soziologischen und biologischen) Argumenten, die bezeugen, dass die Lust auf Sex und Abenteuer die natürliche Veranlagung des Menschen sei. Clarin ist der – durchaus gesellschaftskonforme – illusionslose Aufklärer, dessen wissenschaftliche Argumente Loos nicht überzeugend zu widerlegen vermag. Zugleich ist er aber gefühlsarm und deswegen blind »für anderes [als] Gesagtes« 64, blind für die Motive seines Freundes Tasso – einer Spiegelungsfigur von Loos –, der noch an die einzig wahre Liebe glaubt 65, blind für die Gefühle seiner Freundin 66 und blind für die Zusammenhänge in der Begegnung mit Loos. 67 Loos vertritt die Gegenposition: Er ist der Romantiker, der, etwa mit dem Konzept der »natürlichen Treue« 68, an der Idee der wahren, großen, dauerhaften Liebe als Garant für humane Werte festhält. Das kann er aber nur aufrechterhalten, indem er sich selbst etwas vormacht: Er erfindet die Geschichte vom Gehirntumor und dem indirekt dadurch verursachten Tod seiner Frau. Er trägt sogar wie ein Witwer zwei Eheringe. Aber in Wirklichkeit hat seine Frau mit Clarin eine Affäre angefangen und wollte danach, wie sehr sie das auch schmerzte, die Ehe nicht fortsetzen. Loos kann sich das, um sein Ideal aufrechtzuerhalten, nur als Gehirnerkrankung erklären. Aber auch seine Frau versteht ihr eigenes Verhalten nicht: Sie sagt ihrer Freundin, dass sie diesen jungen Mann »rätselhaft hitzig« 69 geliebt hat. Damit behält Clarin wenigstens partiell recht: Die menschliche Natur ist vielleicht doch nicht für das Ideal der großen, absoluten Liebe geeignet. Loos’ romantische Alternative zum leeren Hedonismus ist vielleicht doch nur eine Illusion. Und so lässt dieser Roman von Markus Werner den Leser mit einer unbeantworteten Frage zurück, und 60 Werner, Am Hang. 2006, S. 64. 61 Ebd., S. 65. 62 Ebd., S. 67. 63 Ebd., S. 129. 64 Ebd., S. 176. 65 Ebd., S. 125. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 186. 68 Ebd., S. 86 f. 69 Ebd., S. 176.

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zwar, ob es zwischen illusionsloser, aber zugleich gefühlsarmer und damit auch blinder Aufgeklärtheit und einer sich selbst etwas vormachenden und damit nicht weniger blinden Romantik noch ein Drittes geben könnte? Zum Schluss möchte ich noch einen Autor nennen, der mit seinem bisherigenWerk einen originellen Beitrag zur nihilistischen Thematik geliefert hat: Andreas Maier. Große Teile seiner vier bisher erschienenen Romane 70 bestehen aus der Wiedergabe eines endlosen Geredes von spießigen (Klein)Bürgern, die fortwährend ihre Vorurteile zum Ausdruck bringen, aber auch von durchgedrehten Idealisten und selbsternannten Philosophen, die alles radikal verändern oder wenigstens noch einmal sehr prinzipiell durchdenken möchten. Diese Romane sind im Grunde ein großer Chor von Stimmen, die zusammen einen riesigen (oft sehr komischen) Brei an Worten produzieren, so dass der Leser sich einige Mühe machen muss, herauszufinden, was nun wirklich geschehen ist. Weshalb Maier diese Form wählt, wird deutlich, wenn man einen Blick auf seine Poetikvorlesungen wirft.  71 Diese Vorlesungen umkreisen die großen Fragen nach der Wahrheit: Wahrheit im Sinne eines wahren, richtigen Lebens. Maier verbindet diese Fragen mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, konkretisiert in Problemen der Sprache und der Ökologie. Wahrheit ist, so die Poetikvorlesungen, immer nur im Ich zu finden, das Unwahre ist das Gesellschaftliche. Die anderen Menschen werden vom Ich nur als funktionierende Teile einer geregelten Gesellschaft mit einer geregelten Sprache wahrgenommen; im normalen gesellschaftlichen Verkehr, so Maier, verschwinden die anderen ›Ichs‹, d. h. Personen mit einem wirklich individuellen Seelenleben, im Nichts. Maier ist hier stark von den Theorien Carlo Michelstaedters beeinflusst, die er schon in seiner Mainzer Poetikvorlesung von 2003 ausdrücklich erwähnt hatte. 72 Maier sieht als Michelstaedters Kernthese, dass unsere Sprache, auch die Sprache der Wissenschaft, 70 Maier, Andreas: Wäldchestag. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000; ders.: Klausen. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002; ders.: Kirillow. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005; ders.: Sanssouci. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009. 71 Maier, Andreas: Ich. Frankfurter Poetikvorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006; Maier, Andreas/Weber, Anne: Mainzer Poetik-Dozentur 2003. Stuttgart: Franz Steiner 2004. 72 Ebd., S. 11. Michelstädter, geboren 1887, studierte im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Florenz griechische Literatur und Philosophie (etwa dieselben Fächer wie Maier), schrieb als Abschluss dieses Studiums eine Doktorarbeit, die er 1910 fertigstellte, wonach er am nächsten Tag Selbstmord beging. Diese auf italienisch geschriebene Dissertation liegt inzwischen auch in deutscher Sprache vor: Michelstaedter, Carlo: Überzeugung und Rhetorik. Frankfurt/M.: Neue Kritik 1999. Es ist eine literarisch-philosophische Abhandlung, die – nicht unüblich für das erste Jahrzehnt im 20. Jahrhundert – in kulturkritischer Absetzung gegen traditionelle Philosophie und wissenschaftliche Zivilisation und nah an nihilistischen Positionen von Schopenhauer und Nietzsche nach einer nicht-religiösen, lebensnahen Wahrhaftigkeit und

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nicht als Mittel zur Wahrheit funktioniert, sondern als Rhetorik, in der es nur um das Erreichen und Erhalten von Positionen, also von Macht geht. Dabei würden wir fortwährend unser beruhigendes Weltbild bestätigen: ein Bewusstsein, dass wir »irgendwie schon das Rechte [sehen]«. 73 Gerade dieses beruhigende Bewusstsein will Maier als das Falsche darstellen. Denn der normale gesellschaftliche Verkehr bedeutet nach Maier in unserer Zivilisation nicht nur eine auf die Erhaltung von Macht gerichtete Sprache, sondern verursacht auch ein riesengroßes ökologisches Problem: Unsere ganze Kultur sei auf immer mehr Konsum ausgerichtet, was schließlich die Erde zugrunde richte. 74 Gesellschaftliches Funktionieren bedeutet nach Maier also notwendigerweise ein falsches Leben. Nur ein Ich, das sich einigermaßen dem Treiben der Gesellschaft entziehen kann, sei zu fundamental wahrer Einsicht fähig. Diese Wahrheit, für die Maier auch den Begriff ›Gott‹ benutzt, kenne im Grunde jeder individuelle Mensch und sei jedem in seinem individuellen Gewissen gegeben. 75 Die Begriffe ›Wahrheit‹, ›Gott‹, ›Gewissen‹ werden bei Maier mehr oder weniger gleichbedeutend. Als gesellschaftliches Wesen lebt man, so Maier, in der Unwahrheit und führt man eine nihilistische Existenz. Wie die Buchstaben im Wort ›Nichts‹ werde das Ich vom Nichts, von der Gesellschaft umgeben, und nur außerhalb dieser Gesellschaft gebe es einen direkten Bezug zur Wahrheit, zu ›Gott‹. »Ich bin inmitten des Nichts, und das Nichts drumherum sind unter anderem Sie, meine Damen und Herren, und so versammeln wir hier uns in diesem Saal. Ich möchte ja nicht allein sein. […] wenn ich beispielsweise auf Reisen gehe, lerne ich nur das Nichts kennen und mittendrin immer mich. Aber für viele ist das schon zuviel, sie wollen nicht einmal ein Ich sein, sie wollen gleich aufgehen in der Welt, im großen Nichts. […] Grundvoraussetzung dessen, dass man zum lieben Gott, also zur Welt, also zu sich kommt, ist das Ich.« 76

Wahrheit sei also immer nur individuell und außerhalb der anerkannten gesellschaftlichen Sprache erfahrbar. 77 Und um diese Wahrheit geht es nach Maier Eigentlichkeit sucht. Vorbilder sind ihm dabei die vorsokratischen Philosophen, die Figur Sokrates und die griechischen Tragödiendichter. 73 Ebd. 74 Ebd., S. 96/97. 75 Ebd., S. 95. 76 Ebd., S. 125. 77 Die Verwandschaft der Formulierungen Maiers mit mystischen Positionen ist unüberhörbar. Nicht umsonst fängt seine Mainzer Poetikvorlesung mit einem Hinweis auf Meister Eckhart an: »Für den mitteralterlichen Theologen Meister Eckhart gibt es nur eine Weise, zu Gott zu kommen. Es ist die Weise der Weiselosigkeit« (Maier/ Weber, Mainzer Poetik-Dozentur. 2004, S. 5).

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in der Literatur. Was im gesellschaftlichen Leben meistens nicht gelinge, das vermöge ›gute Literatur‹: Sie zeigt, so Maier, Menschen und nicht Funktionsteile der Gesellschaft: »Die Literatur ist nämlich ein Hilfsmittel, um ein Ich sichtbar zu machen.« 78 Und bei einem wirklichen ›Ich‹, also gerade in der Literatur, gehe es immer um die Fragen nach dem richtigen Leben: um »die einfachsten Fragen« 79, um die Frage »nach wahr und falsch, nach ja oder nein, nach dem lieben Gott«. 80 Damit entsteht dann aber zugleich notwendigerweise ein großes Problem. Denn Literatur bedeutet Sprache, und, so Maier, »Wahrheit hat mit Sprache nichts zu tun«. 81 Also muss eine Form gefunden werden, in der mit Sprache gezeigt wird, wie Sprache eher Wahrheit verhindert, in der in Sprache ein Nichtsprachliches durchscheint. Maier ist sich dieses Problems bewusst und umkreist in seiner zweiten und dritten Vorlesung das Problem der Form – ohne darüber zu sehr klaren Aussagen zu kommen. Eine genaue Lektüre seiner Romane ergibt dagegen mehr: Diese können als ein Versuch gesehen werden, eine solche Form zu finden. Ich nehme hier als Beispiel Maiers ersten Roman, »Wäldchestag«, in dem dieser Formversuch am radikalsten ist. Das Besondere an diesem Roman ist, dass er fast nur aus der Wiedergabe von Gesprächen besteht, aus denen der Leser sich ein Bild des Geschehens konstruieren muss. Das Thema des Verhältnisses von Sprache und Wirklichkeit findet seine formale Entsprechung im durchgehenden Gebrauch des Konjunktivs der indirekten Rede. Der Erzähler gibt nur wieder, was ihm von verschiedenen Personen berichtet wurde. 82 So entsteht, was Maier »erzählte […] Erzählung« 83 nennt. Die Geschehnisse der drei Tage werden zu einem solchen Brei von Stimmen, Meinungen und Gerede, dass dadurch gerade die Nichtigkeit allen Redens deutlich wird. Der Ort der Handlung in »Wäldchestag« ist die (real existierende) Kleinstadt Florstadt im Landkreis Wetterau in Hessen. Die Handlung spielt sich an drei Tagen ab, vom Pfingstsonntag bis zum Pfingstdienstag, an denen man in dieser Gegend im Wald ein Beisammensein mit Essen und Trinken organisiert: den ›Wäldchestag‹. Einige Tage zuvor ist der pensionierte Ornithologe Sebastian 78 Maier, Ich. 2006, S. 27. 79 Ebd., S. 29 und passim. 80 Ebd., S. 70. 81 Ebd., S. 109. 82 Diese Erzähltechnik wird am Anfang sehr streng gehandhabt, später wird etwas locker­er damit umgegangen. Im ersten Teil gibt es nur einen Berichterstatter (Schossau), im zweiten Teil wechseln die Berichterstatter immer häufiger ab, und von etwa Seite 200 an wird es oft undeutlich, wer nun eigentlich der jeweilige Berichterstatter ist. So werden z. B. regelmäßig nicht ausgesprochene Gedanken von mehreren Personen wiedergegeben, ohne dass deutlich ist, von wem der Erzähler diese Gedanken erfahren haben kann. 83 Maier, Ich. 2006, S. 69.

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Adomeit, ein Außenseiter in der Florstädter Gemeinschaft, gestorben. Er hat selbst die Beerdigung auf den Sonntagmorgen und die öffentliche Testamentseröffnung auf den Pfingstdienstag, um sieben Uhr morgens fest­ge­setzt. Zur Beerdigung, aber vor allem wegen des Nachlasses sind einige Verwandte Adomeits angereist, und sie nehmen nun während dieser drei Tage an den Geschehnissen in Flor­stadt teil. Es gibt zwei Hauptstränge der Handlung: einerseits das Gerangel um die Erb­schaft Adomeits, wobei vor allem die Schwester Adomeits, Jeanette, eine üble Rolle spielt, und andererseits die Verliebtheit des Florstädter Jugendlichen Anton Wiesner in Katja Mohr, die mitgereiste Enkelin der Jeanette Adomeit, und alle Probleme, die daraus ent­stehen. Die etwa vierzig redend oder handelnd auftretenden Romanpersonen in »Wäld­­ches­­tag« las­sen sich ohne allzuviele Schwierigkeiten in zwei Hauptgruppen aufteilen: die­jenigen, die die bestehende Ordnung vertreten, und diejenigen, die diese in Zweifel ziehen und damit mehr oder weniger Außenseiter sind. Die bestehende Ordnung bedeutet Konsum- und Besitz­denken sowie die unreflektierte Übernahme von traditionellen und klein­bür­ger­lichen Werten. Der Mangel an Reflexion zeigt sich in der selbstverständlichen Gewissheit, mit der Auffassungen vertreten werden (Leitwort: ›normal‹), und dem absoluten Mangel an Einsicht in die Widersprüche, in die man sich dabei verstrickt. Diese Seite wird von den meisten Bewohnern von Florstadt und weiter von Jeanette Adomeit, ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn, dem Ehepaar Mohr, vertreten. In der Gruppe der Außenseiter herrschen viel größere Unterschiede. Da gibt es etwa den Anwalt Halberstadt, der ein zynisches, stringent logisch-materialistisches Denken predigt, das Moral und Mitleid als weichherzige Illusionen verachtet. Der Nichtigkeit der Bürgerwelt wird hier nur ein anderer Nihilismus gegenübergestellt. Auch der Student Benno Götz, der dem leeren Gerede der Kleinstadtbewohner ein streng rational-logisches Denken entgegensetzen will und sich dabei ins Paradoxe verwickelt, stellt bei aller Sympathie keine reale Alternative dar. All diese Probleme, die Suche nach einer Alternative für das leere Reden und Konsumieren der bestehenden Gesellschaft und die dagegen gehaltenen, aber genauso ins Nichts mündenden logischen Gedankenreihen, finden ihren stärksten – und komischsten – Ausdruck in der Figur Anton Wiesners. Er steht genau zwischen beiden Welten: Er wohnt noch bei seinen Eltern, hat noch eine Freundin aus Florstadt, versucht aber mit allen möglichen Mitteln, dem normierenden Druck der kleinbürgerlichen Welt zu entkommen. Als seine Florstädter Freundin Ute ihm sein unvorhersehbares, teils anhängliches, teils ablehnendes Verhalten ihr gegenüber zum Vorwurf macht und das in ihrer Hilflosigkeit nicht anders formulieren kann als mit dem Satz: »Das sei doch nicht normal, wie er sich verhalte« 84, reagiert er wütend: »Normal, normal! Er lasse sich nicht normieren. Er könne dieses Wort normal nicht hören.« 85 Dabei weiß er, auch im 84 Maier, Wäldchestag. 2000, S. 70. 85 Ebd.

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weiteren Verlauf des Romans, wo sich ähnliche Szenen wiederholen, im Grunde genau, wie sehr Ute recht hat mit ihrem Vorwurf. 86 Aber dieses Gefühl wird sofort wegrationalisiert. Als Ute zu weinen anfängt, entgegnet er, dass sie ihn damit nicht beeindrucken könne, weil er »ein argumentierender Mensch« 87 sei. Genau da aber liegt, wie bei Benno Götz, sein Problem. Auch Anton Wiesner macht am Ende die Erfahrung, dass das Argumentieren eben zum ›Gerede‹ gehört und sein ganzer bisheriger Widerstand gegen die Kleinbürgerwelt genau so hohl und nichtig ist wie diese selbst. Seine Reisepläne und sein Freizeitsport Fliegen verkörpern nur eine Scheinfreiheit, bedeuten nur eine etwas andere Art des Konsumierens, wie seine ›Logik‹ nur eine andere Art des das Wesentliche verdeckenden Redens darstellt. Nach einer durchwachten Nacht taucht er in verwirrtem Geisteszustand (und mit den Zügen einer Christus-Figuration 88) am Krankenhausbett der Haushälterin Adomeits auf, redet von der Jungfrau Maria und rückt nun von der »absolute[n] Wahrheit« 89 der Naturwissenschaft ab. Seine verwirrten Äußerungen sehen den bewusster formulierten Paradoxen von Benno Götz gar nicht so unähnlich: »Ich weiß jetzt, daß gar nichts ist. Nichts. Und daß alles ist, was es ist, und niemand etwas darüber weiß, weil man nämlich nicht darüber nachdenken kann«. 90

Nach diesem Auftritt und in demselben verwirrten Zustand geht Anton Wiesner zum geschlossenen Flughafen, zerschießt mit der nachts im Wald gefundenen Pistole 91 das Schloss in der Tür zum Flugturm, bricht dort einen Schreibtisch auf, findet darin erotische Heftchen, empfindet seinen Jugendtraum vom Fliegen nun als »lächerlich« und sehr »fern« 92 und fliegt illegal eine letzte Runde. Danach geht er zum Hof der Eltern seines Freundes Kurt Bucerius und gerät auf dem Weg zu seinem Freund ins Ehezimmer der Eltern. Und hier erlebt er, wenn auch nur in einem kurzen Augenblick, seine große Erleuchtung: »Er habe für eine Weile in diesem Zimmer herumgestanden, alles das sei ihm natürlich, notwendig und sogar gut und schön erschienen, das unordentliche Bett, der Geruch, die vielen Kissen, […] als müsse alles aus irgendeiner inneren Notwendigkeit heraus genau so sein, wie es sei. 86 Ute durchschaut genau seine im doppelten Sinne ungerechte Eifersucht: Weder ist sie ihm untreu, noch hat er, der sich selbst fortwährend nach anderen Mädchen umschaut, ihr etwas vorzuwerfen (ebd., S. 71 – 77). 87 Ebd., S. 70. 88 Die Christus-Figuration, die hier bei Anton Wiesner angedeutet wird, wird im Fall der Figur Julian Nagel im Roman »Kirillow« explizit thematisiert. 89 Ebd., S. 285. 90 Ebd., S. 287. 91 Dass es die Pistole von Benno Götz sein muss, wird erst auf Seite 309 deutlich, wenn vom weißen Tuch und dem Baum die Rede ist. 92 Ebd., S. 299.

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Henk Harbers Plötzlich seien ihm die erotischen Heftchen aus dem Tower eingefallen. Diese hätten lediglich nach Druckfarbe gerochen. Die erotischen Heftchen hätten eine völlige Gegenwelt zu diesem Zimmer der Buceriuseltern dargestellt, ein Nichts gegen ein Alles, ein Zufall gegen eine Notwendigkeit, genauso überflüssig wie der ganze Tower, wie dieser ganze Flughafen und überhaupt alle diese Leute, die etwas mit dem Flughafen zu tun haben … diese ganze Fliegerei ist wirklich überaus dümmlich … als hätten sie alle etwas vergessen, diese Leute dort … etwas vergessen, und zwar etwas, was genau hier in diesem Zimmer enthalten ist … und weil sie es vergessen haben, machen sie diesen ganzen Aufwand. Überall in der ganzen Welt.« 93

Diese Gedanken erscheinen Anton Wiesner wie »Erleuchtungen« 94, wie ein »Rausch der Erkenntnis und der Wahrheit«. 95 Natürlich sind das alles Spinnereien eines verwirrten und übernächtigten Jugendlichen, der sich in einer Liebes- und Identitätskrise befindet; er hat diese Gedanken »drei Minuten später schon nicht mehr verstanden« 96 und weiß in den Augenblicken danach schon nicht mehr, ob all seine Erlebnisse nicht nur »Zufall« und Einbildung sind. 97 Aber wie sehr Anton Wiesners neue Einsichten auch durch die Tragikomik seiner Figur relativiert und ironisiert werden, ungültig werden sie dadurch nicht. In seinem Entwicklungsgang spiegelt sich die ganze Denkbewegung des Romans: Die gefestigte und genormte Kleinbürgerwelt ist mit ihrem leeren Gerede und ihrem sinnlosen Konsum die Nichtigkeit selbst. Dieser mittels anderer Arten und Formen des Konsums durch Fliegen oder Weltreisen entfliehen zu wollen, bedeutet Scheinfreiheit und ist genauso nichtig. Und das gilt auch für den anderen Versuch, sich der Welt des dummen Geredes zu entziehen: das streng logische Argumentieren. Das führt zu einem Nihilismus, der, wie bei Halberstadt, in kaltem Zynismus endet oder zu Suizid als einzigem Ausweg führt: zu der Pistole. Anton Wiesner überwindet beides, er gibt am Ende seine Chinapläne auf, zerreißt seinen Flugschein, versucht sich nicht mehr in einer krampfhaften Logik und wirft die Pistole weg. 98 Und in der Vision im elterlichen Schlafzimmer auf dem Buceriushof scheint sogar etwas von einer möglichen Alternative auf: Es ist die sprachlose Vision einer einfachen, bodenständigen Welt, in der die gefestigte Liebe den Gegensatz bildet zu der Welt der Erotikheftchen, des Fliegens und des Redens. Die absolute Ablehnung der bürgerlichen 93 Ebd., S. 304. 94 Ebd., S. 305. 95 Ebd. 96 Ebd., S. 304 97 Ebd., S. 309. 98 Ob auch der von den Umstehenden falsch verstandene Auftritt Anton Wiesners auf den Schlussseiten des Romans, als er »beweisen« (Ebd., S. 315) will, dass das Schießbudengewehr nicht echt ist, als eine Art Widerlegung des Kirillowschen IchBeweises durch Selbstmord, von dem Benno Götz spricht (Ebd., S. 184 f.), aufgefasst werden kann, scheint mir nicht so ganz deutlich.

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Welt wird hier zurückgenommen. Aber natürlich äußern sich hier vor allem die Sehnsüchte eines höchst verwirrten Adoleszenten, der sich anschließend auf dem Wäldchesfest möglichst schnell wieder betrinkt und allen Leuten mit dem Schießbudengewehr einen Schrecken einjagt; eine erwachsene, lebbare Alternative bietet Anton Wiesner noch längst nicht. Wenn es überhaupt so etwas wie eine Alternative zu der Leere und Dummheit der herrschenden Ordnung gibt, dann bleibt sie einer anderen Romanfigur vorbehalten, einer Person – und das ist ein wesentliches Element der Form des Romans –, die selbst im Roman nicht mehr reden kann, weil sie schon vor dem Beginn der Handlung gestorben ist: Sebastian Adomeit. Adomeit ist tatsächlich ein Außenseiter: Er nimmt am System der modernen Welt, am System des Konsums und des materiellen ›Fortschritts‹ so wenig wie möglich teil. Er verabscheut den überflüssigen Sportflugplatz, ist gegen die fortwährenden Straßenbauten, geht nicht mehr zur Wahl, baut nicht fortwährend sein Haus um, reist nicht, zahlt in keine Rentenkasse ein, ist nicht in einer Krankenversicherung und weigert sich, eine Lungenentzündung mit ›modernen‹ Mitteln behandeln zu lassen. Er lebt so sparsam, dass er nicht zu arbeiten braucht und von den Einnahmen aus der Vermietung des Untergeschosses seiner Wohnung leben kann. Auch er entlarvt gern das unlogische Gerede der Florstädter 99, aber er hat offenbar nicht den Drang, nun selbst alles in einer streng logischen Sprache durchdenken zu wollen – was Benno Götz und Anton Wiesner in die Verzweiflung zu treiben droht und was Valentin Halberstadt zu seinem zynischen und lieblosen Nihilismus führt. Adomeit verkörpert im Roman so etwas wie eine positive Antwort auf die Frage, die Maier in seinen Poetikvorlesungen fortwährend umkreist: Ob es denn ein gutes – bei Maier: ›wahres‹ – Leben im falschen geben könne? Adomeit, dessen Leben ein Hohn auf die bürgerliche Konsumwelt darstellt, ist das erwachsene Pendant zu den radikalen Jugendlichen; er ist genauso kritisch gegenüber der bestehenden Ordnung und dem Gerede seiner Mitbürger, aber ohne die schwärmerische Absolutheit und ohne den Willen, alles in einer logischen Sprache zu durchdenken. Der Ornithologe Adomeit mit seiner Liebe (als Caritas) zu den Vögeln – die Maier mit Zitaten aus dem Matthäus-Evangelium mit seiner Kritik an der Konsumgesellschaft verbindet 100– repräsentiert so etwas wie die Möglichkeit eines Lebens, das dem Nichts des kopflosen ›Geredes‹ und des falschen Konsums entkommt, das sich aber auch nicht in die Paradoxien von jugendlichen Schwärmern oder in einen zynischen und lieblosen Nihilismus verrent und sich gerade dadurch eine kindliche Unschuld bewahrt, die Maier in seinen Poetikvorlesungen als ›Wahrheit‹ andeutet.

99 Z. B. in Gesprächen mit seiner Schwiegertochter (ebd., S. 10 – 13) oder mit dem Bürgermeister (ebd., S. 50 – 52). 100 Maier, Wäldchestag. 2000, S. 102; Maier, Ich. 2006, S. 88.

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Alle drei hier besprochenen Romane umkreisen die bekannten Probleme: Eine Rückkehr zu einem traditionellen Wertesystem kommt nicht in Frage. Wer so etwas verteidigt, wird als dumm, unkritisch, als hohle Autorität dargestellt. Eben hier ist, wie Adorno schon formulierte 101, der wahre Nihilismus zu finden. Der Gegensatz dazu, die aufgeklärte Kritik an traditionellen Normen und an der herrschenden Ordnung, führt aber leicht zu einem schwärmerischen Idealismus oder zynischen Hedonismus. Ein absoluter Gegensatz zur bestehenden Ordnung bedeutet damit ebenso sehr Nihilismus. Wenn es schon eine Alternative zum Nihilismus gibt, hat sie mit Liebe zutun. Aber auch diese Alternative bleibt immer problematisch und nur in ironischer Gebrochenheit möglich. Bei Juli Zeh steht die Frage zentral, ob eine aufgeklärte und illusionslose, aber zugleich nicht zynisch-gleichgültige Moderne sich gegenüber einem völlig indifferenten Postmodernismus behaupten kann. Bei Markus Werner ist es die Frage, ob es nach der Befreiung durch die sechziger Jahre noch mehr als einen leeren Hedonismus geben kann. Und Andreas Maier stellt die Frage, ob es einen begehbaren Ausweg aus einem zerstörerischen ökonomischen System gibt. Die altbekannten Probleme erhalten in allen drei Beispielen also durchaus einen zeitgenössischen Kontext.

101 »Nihilisten sind die, welche dem Nihilismus ihre immer ausgelaugteren Positivitäten entgegenhalten, durch diese mit aller bestehenden Gemeinheit und schließ­ lich dem zerstörenden Prinzip selber sich verschwören« (Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966, S. 372).

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Sonja E. Klocke Familienroman versus (neue) Väterliteratur: Kontinuität und Distanz in der deutschen Erinnerungsliteratur um die Jahrtausendwende am Beispiel Kathrin Schmidts

Familienroman und (neue) Väterliteratur Im Gegensatz zu ihrem 2009 erschienenen Roman »Du stirbst nicht«, für den sie den Deutschen Buchpreis erhielt und in dem eine individuelle Lebens- und Krankheitsgeschichte im Vordergrund steht, zeichnen sich Kathrin Schmidts frühere Romane durchweg durch das Bedürfnis nach einer Form der Erinnerung aus, welche die Diskrepanz zwischen offizieller und privater Kommemoration einschlägiger historischer Ereignisse thematisiert. Insbesondere »Die GunnarLennefsen-Expedition« (1998), aber zu einem gewissen Grad auch »Koenigs Kinder« (2002) werden von Elementen der Gattung des Familienromans dominiert, worauf die Forschung mehrfach verwiesen hat. 1 Der Roman »Seebachs schwarze Katzen« (2005) hingegen verfügt über strukturelle Merkmale, die mich veranlassen, ihn als Beitrag zu einer neuen Väterliteratur zu lesen. Anders als das westliche Pendant, das in der BRD der 1970er und 1980er Jahre florierte, setzt sich diese neue Väterliteratur nicht länger mit zur Zeit der Nazi-Diktatur aufgeladener väterlicher Schuld auseinander, sondern fokussiert auf das Fehlverhalten des Vaters zu DDR- und Post-Wende-Zeiten. 2 Aleida Assmann hat sich mit dem seit den 1990er Jahren boomenden Familienroman der Gegenwart und der Väterliteratur auseinandergesetzt und verweist auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Gattungen: 1 Siehe insbesondere Eigler, Friederike: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2005. In den letzten Jahren erschienen als Familien- oder Generationenromane kategorisierten Werke u. a. von Marcel Beyer, Tanja Dückers, Dieter Forte, Annett Gröschner, Ulla Hahn, Reinhard Jirgl, Michael Kleeberg, Dagmar Leupold, Monika Maron, Zafer Senocak, Marlene Streeruwitz, Hans-Ulrich Treichel, John von Düffel und Stefan Wackwitz. 2 Zu den wohl berühmtesten Vertretern der Väterliteratur der 1970er und 1980er Jahre zählen Werke von Sigfrid Gauch, Peter Härtling, Hermann Kinder, Christoph Meckel, Elisabeth Plessen, Ruth Rehmann, Peter Schneider, Brigitte Schwaiger, Günter Seuren, Bernward Vesper und Heinrich Wiesner.

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Sonja E. Klocke »Gemeinsames Thema beider Gattungen ist die Fokussierung auf ein fiktives oder autobiographisches Ich, das sich seiner/ihrer Identität gegenüber der eigenen Familie und der deutschen Geschichte vergewissert. Die Formen dieser Selbstvergewisserung gehen in beiden Gattungen jedoch extrem auseinander: Während die Väterliteratur im Zeichen der Individuierung und des Bruchs stand – ihr thematisches Zentrum war die Konfrontation, die Auseinandersetzung, die Abrechnung mit dem Vater –, steht der Familienroman eher im Zeichen der Kontinuität. Hier geht es um die Integration des eigenen Ichs in einen größeren Familien- und Geschichtszusammenhang.« 3

Die hier unterstellte Dichotomie von Familienroman und Väterliteratur mag aus mehreren Gründen zu kurz gegriffen erscheinen. So lässt sich für verschiedene Beispiele der Väterliteratur eher ein Oszillieren zwischen aggressiver Ablehnung des Vaters und dem (unterdrückten) Verlangen nach Tradition und Genealogie feststellen als eine radikale Gegnerschaft zwischen den Vertretern der beiden Generationen. Folgt man einer in diesem Sinne weniger strikten Definition, so lassen sich gleich mehrere von Aleida Assmann als Familien­ romane klassifizierte Bücher durchaus auch dem Genre Väterliteratur zuordnen. 4 Ferner liegt Assmanns rigider Unterscheidung von Väterliteratur und Familienroman eine in meinen Augen problematische temporale Dimension zugrunde. Insinuiert wird nämlich, dass die Väterliteratur, welche die »Abrechnung« mit dem Vater für die vor 1945 begangenen Gräueltaten behandelt, als Genre der Vergangenheit zu betrachten ist. Die problematischen Themen Nazi-Diktatur und Zweiter Weltkrieg werden laut Assmann seit den 1990er-Jahren weniger aggressiv in der »weiterentwickelten« Form des Familienromans bearbeitet. Erklärt wird dies mit dem »zunehmenden zeitlichen Abstand von Weltkrieg und Holocaust«. 5 3 Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München: Beck 2007. S. 73. 4 Siehe dazu: Fuchs, Anne: The Tinderbox of Memory: Generation and Masculinity. Väterliteratur by Christoph Meckel, Uwe Timm, Ulla Hahn, and Dagmar Leupold. In: German Memory Contests. The Quest for Identity in Literature, Film, and Discourse since 1990. Hrsg. von Anne Fuchs, Mary Cosgrove, George Grote. Rochester, NY: Camden House 2006, S. 41 – 65. Fuchs betont, »the dialectic of the desire for a complete break with the family heritage on the one hand and the longing for genealogy and tradition on the other [is] a hallmark of Väterliteratur.« (Ebd., S. 56). 5 Assmann, Geschichte im Gedächtnis. 2007, S. 73. Dass Assmanns holzschnittartige Abgrenzung von Familienroman und Väterliteratur nicht unproblematisch ist, zeigt sich auch darin, dass sie Dagmar Leupolds »Nach den Kriegen« beispielsweise nur unter Vorbehalt als Beispiel für den Familienroman analysiert. Ebd., S. 76 – 81. Anne Fuchs hingegen liest den gleichen Roman als »contemporary example of the genre [Väterliteratur – S. K].« Fuchs, The Tinderbox of Memory. 2006, S. 56 – 62. Friederike Eigler verweist darauf, dass der Boom der Familien- oder Generationenromane seit den 1990er-Jahren kein typisch deutsches Phänomen darstellt, sondern auch in anderen Ländern Europas beobachtet werden kann. Eigler, Gedächtnis und Geschichte in

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Ich schlage deshalb vor, Assmanns Definition produktiv zu erweitern und dem Genre der Väterliteratur damit eine Zukunft zu eröffnen: Während die Väterliteratur sich auf die mehr oder weniger konfrontative Auseinandersetzung zwischen zwei Generationen um die Fragen von Schuld und Verantwortung bezüglich eines Konfliktthemas und das Aufdecken eines Familiengeheimnisses (traditionell die Rolle des Vaters in Nazi-Diktatur, dem Zweitem Weltkrieg und Holocaust) beschränkt, versucht der Familienroman Kontinuität für ein fiktives Individuum zu erzeugen, indem er gleich mehrere Generationen in diversen historischen Situationen beleuchtet. Ziel ist dabei herauszuarbeiten, wie und warum die Taten der Familienmitglieder im Verlauf von Generationen absichtlich oder unabsichtlich vergessen oder für das Familiengedächtnis passend umgeformt wurden. Widmet man sich beispielsweise Kathrin Schmidts »Die Gunnar-Lennefsen-Expedition«, so wird deutlich, dass in diesem Familien­ roman nicht nur die familiären Verstrickungen in Nazi-Diktatur und Holocaust, sondern insbesondere die Teilhabe der verschiedenen Akteure in den politischen Systemen der DDR und (zu einem gewissen Teil) der BRD vor 1990 thematisiert werden. Der letztgenannte Punkt, nämlich die Verstrickungen in der historischen Situation DDR, veranlasst mich ferner, für eine inhaltliche Öffnung des Genres der Väterliteratur zu plädieren. Ersetzt man das Themenfeld »NaziDiktatur und Holocaust« durch »Staatssicherheit und Überwachungssystem in der DDR«, so kann man eine neue Väterliteratur ausmachen. Damit soll keinesfalls behauptet werden, die Unrechtssysteme des Nationalsozialismus und des real existierenden Sozialismus der DDR seien vergleichbar oder könnten gar gleichgesetzt werden. Es geht vielmehr darum, das Genre inhaltlich einem neuen Themenkomplex zu öffnen. Dies erscheint mir insbesondere deshalb gerechtfertigt, da in beiden Fällen die Konstellation »Vater als Täter kontra nachforschendem Sohn« und überdies jeweils eine historische Zäsur (im einen Fall 1945, im anderen 1989) gegeben ist, die jeweils tiefgreifende soziale Veränderungen für die Lebenswelten der beteiligten Akteure mit sich brachte sowie die Errichtung familieninterner Schweigebarrieren zur Folge hatte. Wenngleich Kathrin Schmidts Roman »Seebachs schwarze Katzen« vom Standpunkt eines allwissenden Erzählers vermittelt wird, kann das Buch dennoch dieser neuen Väterliteratur zugerechnet werden, da es sich ausschließlich den Verwicklungen der Elterngeneration im staatlichen Überwachungssystem der DDR und den sich daraus ergebenden Folgen für die nachkommende Generation widmet sowie die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn porträtiert. 6 Die wesentlichen Generationenromanen seit der Wende. 2005, S. 11. Dieser Umstand spricht ebenfalls gegen Assmanns Behauptung, dass die Hochkonjunktur der Familienromane durch die zeitliche Distanz zum zweiten Weltkrieg und zum Holocaust zu begründen ist. 6 Auch die Väterliteratur der 1970er und 1980er Jahre kann nicht als homogene, ausschließlich im Autobiographischen wurzelnde Literatur verstanden werden, die sich durchgängig der Ich-Form bediente. Zur narrativen Konstellation des Genres siehe

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Signifikanten der Väterliteratur, nämlich das duale Generationenmodell und die Beschränkung auf einen Konflikt, sind somit erfüllt. Demzufolge bedarf das angebliche Ende des Genres Väterliteratur einer Neubewertung, wobei die spezifischen Merkmale der auf die DDR fokussierenden neuen Väterliteratur erst noch herausgearbeitet werden müssen. Auf Assmanns Unterscheidung von Bruch kontra Kontinuität aufbauend, diese je­doch zugleich um die von mir angeführte Dimension erweiternd, widmet sich dieser Bei­trag der Frage, wie Vergangenheit und insbesondere DDRDiktatur und Wende in Kath­rin Schmidts Romanen »Die Gunnar-LennefsenExpedition« (als Beispiel für den Fa­milienroman) und »Seebachs schwarze Katzen« (als Beispiel für die neue Väterliteratur) erinnert werden. Dabei geht es auch darum, die Unterschiede zwischen der neuen Väterliteratur und der seit den 1970er Jahren bestehenden westlichen Väterliteratur zu beleuchten. Gleichzeitig soll untersucht werden, in welche Richtung die beiden Gattungen Familien­roman und neue Väterliteratur im Umgang mit dem Spannungs­ verhältnis zwischen offizieller und privater Erinnerung weisen und wie die non-dits aus dem Familien­gedächtnis ins kulturelle Gedächtnis übertragen werden. In beiden Genres ergibt sich dadurch eine Verschränkung von Individuum, Familiengeschichte und nationaler Geschichte. »Die Gunnar-Lennefsen-Expedition« Die Haupthandlung dieses sehr komplexen Romans arrangiert sich um die Protagonistin Josepha Schlupfburg. Die 21-jährige, ledige und schwangere Druckerin lebt in den 1970er Jahren in einer thüringischen Kleinstadt. Wie alle Frauen des Schlupfburg-Clans besitzt die werdende Mutter eines »schwarz­weißen Kindes«, dessen angolanischer Vater Mokwambi Solulere ebenso abwesend ist wie die meisten anderen Männer im Roman, übernatürliche Fähigkeiten, beispielsweise die »ihr innewohnenden magischen und ZeitverschiebungsKräfte«. 7 Auch Mokwambi werden, im Gegensatz zu den weißen Männern im Vogt, Jochen: Er fehlt, er fehlte, er hat gefehlt … Ein Rückblick auf die sogenannten Väterbücher. In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Hrsg. von Stephen Braese et al. Frankfurt/M./New York: Campus Verlag 1998, S. 385 – 400, hier S. 389. 7 Schmidt, Kathrin: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. München: Knaur 2000 (Köln: Kiepenheuer und Witsch 1998), S. 10. Alle mit »GLE« bezeichneten Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. Das »schwarzweiße« Kind soll offenbar an den mittelalterlichen Feirefiz, Halbbruder von Parzival erinnern. In Wolfram von Eschenbachs Versroman aus dem 13. Jahrhundert ist der schwarzweiße Feirefiz am Hofe Arthurs integriert und getauft und betätigt sich als christlicher Missionar in Indien. Feirefiz geht somit im dominanten sozialen System auf – allerdings erst nachdem er sich den hegemonialen sozialen und religiösen Strukturen unterworfen hat. Das »schwarzweiße« Kind bei Kathrin Schmidt erscheint hingegen erheblich subversiver angelegt. Siehe dazu Klocke, Sonja: Die frohe Botschaft der Kathrin Schmidt? Transsexuality,

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Roman, magische Kräfte zugeschrieben: er kann verschiedene Grenzen verändern, »Körpergrenzen« ebenso wie »die Grenzen des Landes, das zu verlassen er im Begriffe war«. 8 So hat Shugderdemydin, wie das »schwarzweiße Kind« genannt wird, von beiden Elternteilen magische Fähigkeiten geerbt. Wie sich hier bereits andeutet, zeichnet sich dieser Familienroman durch die für Schmidt charakteristische, an den magischen Realismus südamerikanischer Tradition ebenso wie an den Stil von Günter Grass und Irmtraud Morgner anknüpfende Schreibweise aus. Gleichzeitig sticht auch das Programm der auf die Überwindung des hegemonialen Geschichtsbilds abzielenden Um- und Neuschreibung der Historie ins Auge, worauf Claudia Breger und Friederike Eigler verwiesen haben. 9 Diese neue Historiographie stützt sich auf Verfahrensweisen, die eine im Sinne Tzvetan Todorovs nicht-realistische, fantastisch-wunderbare Welt zur Verfügung stellen und die es zugleich ermöglichen, über ein simples Zusammenfügen der Überlieferungen des subjektiven Familiengedächtnisses mit einem vermeintlich objektiven historischen Wissen – laut Assmann wesentliches Merkmal des Familienromans – hinauszugehen; 10 denn das im Familiengedächtnis abgespeicherte und sich den individuellen Charakteren im Ver­lauf der im Titel angesprochenen Expedition offenbarende Wissen vermittelt die Macht, die hegemoniale Geschichtsschreibung zumindest teilweise außer Kraft zu setzen. Angesichts des von ihr erwarteten »schwarzweißen Kindes« wird die elternlose Josepha sich eines Vakuums in ihrem Leben bewusst: Ihre Familiengeschichte ist ihr größtenteils unbekannt und ausschließlich durch die Urgroßmutter Therese überliefert. An diesen, nach Assmann für den Familienroman typischen blinden Flecken entzündet sich Josephas Schreib- und Erinnerungsprojekt. 11 Um die Lücke im historischen Bewusstsein zu füllen, beschließt sie gemeinsam mit Therese, die Familiengeschichte für das entstehende Kind zu erforschen, wobei Kontinuität über fünf Generationen hergestellt wird und explizit denjenigen, die aufgrund von »Geschlecht«, »Klasse« oder »Rasse« Racism, and Feminist Historiography in Die Gunnar-Lennefsen-Expedition. In: Germanistik in Ireland. Jahrbuch der/Yearbook of the Association of Third-Level Teachers of German in Ireland, 5. Special Issue: Sexual-Textual Border-Crossings: Lesbian Identity in German-Language Literature, Film, and Culture, 2010, S. 143 – 158. 8 GLE S. 72. 9 Breger, Claudia: Postmoderne Inszenierungen von Gender in der Literatur: Meinecke, Schmidt, Roes. In: Räume der literarischen Postmoderne. Gender, Performativität, Globalisierung. Studien zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur 11. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000, S. 99 – 125. Eigler, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. 2005. 10 Todorov, Tzvetan: The Fantastic. A Structural Approach to a Literary Genre. Übersetzt von Richard Howard. Ithaca: Cornell UP 1975 (1970), S. 44. Assmann. Geschichte im Gedächtnis. 2007, S. 70 ff. 11 Assmann, Aleida: Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. Wiener Vorlesungen. Wien: Picus Verlag 2006, S. 48.

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typischerweise von der hegemonialen Historiographie ausgeschlossen sind, eine Stimme verliehen werden soll. 12 Um so eine »neue Art Wissen« 13 zu erlangen, beschließen die beiden Frauen, zu einer Expedition mit unbekanntem Ziel in Raum und Zeit aufzubrechen. 14 Die praktisch unüberwindbare DDR-Grenze, auf die im Roman wiederholt hingewiesen wird, spielt dabei nur eine unter­ geordnete Rolle, denn Josepha und Therese verbleiben während ihrer Reisen in ihrem Wohnzimmer. Sie bedienen sich eines magischen Transportmittels, der sogenannten »imaginären Leinwand«, 15 die Therese heraufbeschwören kann und die ähnlich wie in einem Kino Zeitreisen ermöglicht. Gleichzeitig macht diese Methode der Wissensgewinnung die konventionelle, von einer vermeintlich »neutralen« Subjektposition generierte Historiographie lächerlich. Die auf diese Weise neu entstehende Version der Geschichte des 20. Jahrhunderts wird in einem so genannten »Expeditionstagebuch« festgehalten und in die Gegenwart transportiert. Diese Textform verknüpft das traditionell persönliche und vertrauliche Tagebuch mit einem weithin akzeptierten Verfahren, wissenschaftliche Kenntnisse zu erlangen: der Expedition. Um mit Marshall McLuhan zu sprechen, lässt sich konstatieren: »the medium is the message«. 16 Denn durch das Medium der Expedition wird das bewusste und für den Familienroman charakteristische Überwinden der künstlichen Trennung von »öffentlich« und »privat« propagiert, das Schmidts gesamten Roman durchzieht. Indem die Frauen sich dieses Mediums bedienen, untergraben sie gleichzeitig die in der binären Konstellation von öffentlich/privat implizierte Hierarchie und die Tradition der von Männern geführten Expeditionstagebücher, wodurch die 12 GLE S. 68. Nach Assmann ist genau diese Verfahrensweise typisch für den Familienroman. Assmann, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. 2006, S. 28. 13 GLE S. 36. 14 Da das neu erworbene Wissen von Josepha und Therese – also aus einer ausschließlich weiblichen Perspektive – überliefert wird, konzentrieren sich sowohl Friederike Eigler als auch Claudia Breger in ihren beiden Analysen des Romans auf die Rolle, welche die fantastischen Körper im Um- und Neuschreiben der (Familien-) Geschichte von dieser spezifischen Perspektive aus spielen. Friederike Eigler liest »Die Gunnar-Lennefsen-Expedition« als »weiblichen Aufbruch in die Vergangenheit« und als Modell weiblicher Genealogie. Eigler, Friederike: (Familien-)Geschichte als subversive Genealogie: Kathrin Schmidts Gunnar-Lennefsen-Expedition. In: Gegenwartsliteratur 2, 2003, S. 262 – 282, hier S. 262 und S. 263. Claudia Breger liest die »Die Gunnar-Lennefsen-Expedition« als Erinnerungsprojekt und Dialog mit der Geschichte, in dem die hegemonialen Konzepte von Raum, Zeit, Natur, Kausalität, Gender und Agency zeitweise eliminiert werden. Breger, Postmoderne Inszenierungen von Gender in der Literatur. 2000, S. 108 – 109. 15 GLE S. 27. 16 McLuhan, Eric/Zingrone, Frank (Hgg.): Essential McLuhan. New York: Basic Books 1995, S. 151.

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vermeintlich wissenschaftlichen, auf das Eliminieren marginalisierter Subjekte abzielenden Verfahrensweisen der Historiographie verhöhnt werden. Die Expedition verdeutlicht somit, dass die hegemoniale Geschichtsschreibung nicht einfach durch Ergänzung alternativer Perspektiven korrigiert werden kann, weil das, was bisher als universelles epistemisches Wissen galt, sich als Teil der kulturell variablen Methoden entpuppt, nach denen Informationen produziert, kategorisiert und hierarchisiert werden. Da das so gewonnene »doxische Wissen«, also der Inhalt von Wissen und Glauben, von der Erkenntnis ablenkt, dass der Denkansatz und die auf Wissensgewinnung abzielende Herangehensweise bereits sozial als konventionelle Norm konstruiert sind, wird eine neue epistemische Methodik, welche die Kategorie persönlicher, weiblicher Erfahrungen und daher neue Subjektpositionen einschließt, als Voraussetzung für das Umschreiben der Geschichte eingefordert. 17 Das aus dieser Methodik resultierende Expeditionstagebuch reflektiert die in den elf Episoden der neunmonatigen Expedition visualisierten Szenen, welche den Zeitraum von 1914 bis in die Gegenwart abdecken. Expedition und Expeditionstagebuch bilden somit den Rahmen für die Rückblicke in die Vergangenheit, die Analepse, welche sich von der Ebene der Basiserzählung insofern abhebt, als diese überwiegend die Situation im geteilten Deutschland des Jahres 1976 widerspiegelt. Die Gleichwertigkeit der beiden Erzählebenen unterstreicht formal die Bedeutung, welche die erinnerte Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft des »schwarzweißen Kindes« besitzt. Während der Expedi­ tion treten Vertreter verschiedener Generationen auf, die laut Assmann typisch für den Familienroman sind: sie sind »gleichzeitig Akteure in der Dimension der Familiengeschichte wie in der Dimension der Geschichte und somit auch Repräsentanten kollektiver Erfahrungen und Werthaltungen, Mentalitäten und Vorurteilsstrukturen«. 18 So agiert beispielsweise Josephas Urgroßmutter Therese 17 Durch diese Verfahrensweise demonstriert Schmidt die inhaltliche und formale Verwurzelung ihres Familienromans in feministischem Gedankengut. Claudia Moscovici beispielsweise fasst zusammen: »Luce Irigaray, Ann Fausto Sterling, Sandra Harding, and Judith Butler (among others) have convincingly argued that what has been formerly considered as ›universal‹ epistemic knowledge is part of the culturally variable modes of producing, categorizing and hierarchizing information that have been associated with ›doxic knowledge‹.« Moscovici, Claudia: From Sex Objects to Sexual Subjects. New York/London: Routledge 1996, S. 42. Bezüglich des Expeditionstagebuchs betont Friederike Eigler, dass »mehrfach angedeutet wird, dass dieses Aufschreiben mehr als ein Dokumentieren beinhaltet. […] Therese und Josepha beund verarbeiten im Schreibprozess die vergegenwärtigten Vergangenheitsepisoden […], wobei dem Medium der Schrift und dem Prozess der Verschriftlichung keine abbildende, sondern eine konstitutive Rolle zukommt.« Eigler, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. 2005, S. 109. 18 Assmann, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. 2006, S. 28.

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sowohl auf der Gegenwartsebene des Romans als auch während der Rückblicke auf die Vergangenheit, die sich auf der »imaginären Leinwand« offenbaren. Ihr Handeln in unterschiedlichen historischen Situationen, beispielsweise auf der Flucht 1945 oder in ihrer Kollaboration mit der Staatssicherheit, unterstreicht die Rolle der Urgroßmutter als exemplarische historische Figur, die geprägt ist von den zu einer spezifischen Zeit gültigen Werthaltungen und pragmatischen Notwendigkeiten. Die durch den multiperspektivischen Blick erreichte Polyphonie trägt zur Glaubwürdigkeit des im Expeditionstagebuch festgehaltenen Erinnerungsmosaiks bei. Darin beginnt jede Episode mit einem Stichwort, das Therese erträumt bzw. erinnert und dann in dem kleinen, schwarzen Buch festhält. 19 Diese Stichwörter ersetzen die sonst in Erinnerungsromanen häufig angeführten Dokumente des Familiengedächtnisses, beispielsweise Fotografien oder Briefe, mit deren Hilfe die Authentizität einer rekonstruierten Vergangenheit demonstriert werden soll. Anders als ihre Urgroßmutter, die sich auf ihre Intuition verlässt, verspürt Josepha zwar anfänglich das Bedürfnis, ihre Methode durch konventionellere Forschungsansätze zu ergänzen, doch das in der DDR gängige Misstrauen gegenüber der Psychoanalyse vereitelt diese Pläne: Nach ihrem »fünfzehnten, vergeblichen Versuch der Beschaffung Freudscher Schriften […] beschließt [sie] in plötzlicher Klarsicht, auf alle wissenschaftlichen Garnknäuel zu verzichten und statt dessen eine Flasche Kognak […] zu kaufen«. 20 Der ironische Verweis auf die Verhältnisse im real existierenden Sozialismus unterstreicht die Notwendigkeit, dass Josepha sich fantastischer Fähigkeiten bedient, um ihr Anliegen durchzuführen. Zugleich überlistet sie die staatlichen Institutionen der DDR und deren Mechanismen des Machterhalts und es zeigt sich daran ihre Entschlossenheit, die durch das Ideal einer angeblich neutralen Subjektposition generierte Wissenschaft zu entlarven. Entsprechend dem Ziel einer Geschichts-Neuschreibung, die das hegemoniale heteronormative, rassistische und spezifische gesellschaftliche Schichten privilegierende Geschichtsbild überwinden soll, verfügen viele der sich auf der »imaginären Leinwand« tummelnden Akteure über von der Norm abweichende Körper, die demonstrieren, dass Geschichte buchstäblich in ihre Körper eingeschrieben ist. 21 Hegemoniale Vorstellungen herausfordernde Körper besitzen insbesondere Lutz/Lucia, der/die sowohl über männliche als auch über weibliche Sexualorgane verfügt, mit einem Mann und einer Frau verheiratet ist und 19 GLE S. 17. 20 Ebd., S. 18. 21 Zur Funktion des Körpers als Medium, in das kulturelle Zeichen eingeschrieben, aufbewahrt, erinnert und archiviert werden, siehe: Weigel, Sigrid: Bilder des kulturellen Gedächtnisses. Beiträge zur Gegenwartsliteratur. Dülmen-Hiddingsel: tende 1994, besonders S. 11 und S. 16. Siehe auch Öhlschläger, Claudia/Wiens, Birgit (Hgg.): Körper-Gedächtnis-Schrift. Der Körper als Medium kultureller Erinnerung. Berlin: Erich Schmidt Verlag 1997.

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somit das binäre heterosexuelle Modell der Ehe infrage stellt und überdies als »Vatermutter« sowohl Kinder gezeugt als auch geboren hat 22 sowie das weder schwarze noch weiße Baby, mit dem Josepha zu Romanbeginn schwanger ist. Insbesondere Josephas »schwarzweißes Kind« ist von Bedeutung, da es die erklärte Aufgabe der »Expedition« ist, diesem Kind eine neue Historiographie und damit ein Gefühl für Kontinuität innerhalb der Familiengeschichte zu verleihen. Shugderdemydins unregelmäßige Hautfärbung verweist folgerichtig nicht nur auf seinen afrikanischen Vater, sondern auch auf die »milchkaffeefarbenen Spritzer auf der Haut [seines Urgroßvaters,] des lettischen Juden Avraham Rautenkrantz«. 23 Daher ist sein Körper nicht einfach braun, was implizieren würde, dass sein genetisches Erbe der Verschmelzung fähig ist. Sein neuer hybrider Körper, der durch die »unbestimmbare Zahl milchkaffeefarbener Hautflecke« 24 hervorsticht, lässt sich vielmehr mit Homi Bhabha und Guillermo Gomez-Peña als Resultat und Symbol der aktuellen Migrationen und Beziehungen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen lesen. 25 Durch das Aufstören der binären Oppositionen schwarz/weiß und jüdisch/ deutsch verweist der Babykörper auf die Konstruiertheit eines Konzeptes wie das der »Rasse« und entlarvt die westliche Vorstellung einer monokulturellen nationalen Identität mit einem als weiß imaginierten homogenen Zentrum als Fiktion. Ferner verlangt der Körper des Jungen vehement die Integration aller Anteile seiner Familie, einschließlich der gewaltsam verdrängten jüdischen, und er erinnert an den Holocaust als Teil der deutschen Geschichte, der sowohl in der DDR als auch im vereinigten Deutschland nach 1990 ein Thema bleibt. Damit erzwingt Shugderdemydin sowohl für seine Familiengeschichte als auch für die offizielle Historiographie ein Umdenken bezüglich des Verständnisses (deutscher) Nationalidentität. 26 Die Diskrepanz zwischen Shugderdemydins 22 Eine ausführliche Analyse des Körpers von Lutz/Lucia findet sich in Klocke, Die frohe Botschaft der Kathrin Schmidt? 2010, S. 143 – 158. 23 GLE S. 422. 24 Ebd. 25 Bhabha, Homi: The Location of Culture. London/New York: Routledge, 2004 (1994). S. 313. Bhabha verweist hier auch auf Gomez-Peña, Guillermo: The New World (B) order. In: Third Text, Winter 1992 – 1993, Heft 21, S. 74. 26 Hingewiesen sei an dieser Stelle auf Peggy Piesches kritische Lesart dieses hybriden Babykörpers: »Of key interest here is that the language of the novel continually reverts to the racist patterns of attribution mentioned above. The widespread use of the term ›black-white‹ is itself underwritten by a hegemonic view of hybridity.« Piesche, Peggy: Black and German? East German Adolescents Before 1989: A Retro­ spective View of a ›Non-Existent Issue‹ in the GDR. In: The Cultural Afterlife of East Germany: New Transnational Perspectives. Hrsg. von Leslie A. Adelson. Harry & Helen Gray Humanities Program Series. Bd. 13. Baltimore: American Institute for Contemporary German Studies. The Johns Hopkins University 2002, S. 37 – 59. Hier S. 40. Piesche verweist implizit auf die rassistischen Vorstellungen von Hybridität,

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Ansprüchen auf einer Vereinbarkeit verschiedener ethnischer Zugehörigkeiten und der deutschen Realität, die eben dies nicht zulässt, wird allerdings an seiner und Josephas Flucht aus dem sozialistischen Deutschland deutlich, denn die beiden entkommen nicht in den Westen, sondern begeben sich an einen nicht näher bestimmten Ort »im Süden«. Da in beiden deutschen Staaten bis 1989 ebenso wie im vereinigten Deutschland das rassistische Primat des Blutes als ausschlaggebender Faktor für Nationalität und Staatsbürgerschaft gilt, können weder der östliche, noch der westliche Teil des Landes und auch nicht das vereinte Deutschland Josepha und ihrem Sohn als Heimat dienen. 27 die sich im neunzehnten Jahrhundert mit Verweis auf ein physiologisches Phänomen entwickelt haben und die im zwanzigsten Jahrhundert reaktiviert wurden, um ein kulturelles Phänomen zu beschreiben. Das Evozieren dieses Konzepts birgt zweifels­ ohne Gefahren, auf die Robert Young verweist: »Today, therefore, in reinvoking this concept, we are utilizing the vocabulary of the Victorian extreme right as much as the notion of an organic process of the grafting of diversity into singularity.« Young, Robert J.C.: Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture, and Race. London/New York: Routledge 1995, S. 10. Die Erzählhaltung in Schmidts »Die Gunnar-LennefsenExpedition« distanziert sich meiner Meinung nach jedoch von solch hegemonialen Vorstellungen von Hybridität, indem gerade diese gleich zweifach ironisiert und dadurch dekonstruiert werden: Zum einen, indem das »schwarzweiße Kind« die Vorstellungen einer ethnischen Binarität überwindet und zum anderen, indem betont wird, dass in der Familie der Schlupfburgs die Frauen dominieren. Gerade dieser Aspekt dekonstruiert jegliche Vorstellung einer »Rassenzüchtung«, wie sie typisch war für die im neunzehnten Jahrhundert aufkommenden Diskurse, die betonten, dass das Blut innerhalb einer Familie vom Vater auf den Sohn vererbt würde. Vgl. dazu auch Young, Colonial Desire. Hybridity in Theory, Culture, and Race. 1995, S. 105. Dementsprechend betont Friederike Eigler: »Hybridität ist hier nicht nur das Zeichen der Zeit bzw. der Zukunft, sondern sozusagen der Normalfall in dieser deutschen (Familien-)Geschichte. […] Zum anderen rückt sie [Schmidt – S. K.] durch die Vervielfältigung der Väter Vorstellungen von ›Rasse‹ ins Blickfeld und karikiert historische Manifestationen von Rassismus und Antisemitismus [Hervorhebung S. K.], insbesondere das faschistische Mutterbild, das als Garant ›rassischer Reinheit‹ im Nationalsozialismus propagiert wurde.« Eigler, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. 2005, S. 120. 27 Friederike Eigler liest das Datum der Flucht, November 1976, im Zusammenhang mit Wolf Biermanns Ausbürgerung aus der DDR und daher in Verbindung mit den fehlgeschlagenen Reformbestrebungen in der DDR. Da die Biermannaffäre in der »Gunnar-Lennefsen-Expedition« nicht erwähnt wird, unterstreicht dies den Ansatz einer Historiographie von unten. Dieses Ziel kann nicht erreicht werden, indem man sich auf ein einzelnes Ereignis bezieht, das überdies auf die intellektuelle Kultur der Dissidenten beschränkt bliebe. Eigler, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. 2005, S. 106. Eiglers Ansatz wird überdies unterstützt durch die Tatsache, dass »Die Gunnar-Lennefsen-Expedition« Teile von Wolf Biermanns »Barlach-Lied« von 1965 zitiert (GLE S. 155).

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»Seebachs schwarze Katzen« Anders als »Die Gunnar-Lennefsen-Expedition«, in welcher eine sich über fünf Generationen erstreckende Kontinuität der Familiengeschichte erzeugt wird, weist »Seebachs schwarze Katzen« ein für die Väterliteratur typisches Generationenkonzept auf, nämlich eine bipolare Konstellation zwischen der Generation des Vaters und des Sohnes. Mit Verweis auf die in den 1970er und 1980er Jahren entstandene westliche Väterliteratur bemerkt Assmann: »Die Texte konzentrierten sich ausschließlich auf die moralisch besetzte, hochexplosive intergenerationelle Schnittstelle zwischen Vater und Sohn oder Tochter. Sie setzten ein duales Generationenmodell voraus, bei dem die jeweils ältere mit der jeweils jüngeren Generation einen anthropologischen Grundkonflikt austrägt. In der Väterliteratur ging es immer um diese Sollbruchstelle, sie war der Ort, wo das Drama der deutschen Nachkriegsgeschichte von Schuld und Anklage, Verstrickung und Auflehnung exemplarisch ausagiert wurde.« 28

»Seebachs schwarze Katzen« verfügt über genau diesen anthropologischen Grundkonflikt, lediglich die Sollbruchstelle hat sich verschoben. Denn der Roman widmet sich eben nicht der Frage nach Schuld und Verantwortung für das Nazi-Regime sowie der Beziehung zwischen Nazi-Tätern und ihren Kindern, sondern im Mittelpunkt steht die Frage nach Schuld und Verantwortung für die durch die Staatssicherheit manifestierte Macht des DDR-Regimes und dem Verhältnis der Generation der Stasi-Mitarbeiter zu ihren Kindern. Überdies lässt sich auch das von mir eingangs als für die Väterliteratur typische Oszillieren zwischen dem Wunsch des Sohnes nach einer Verbindung zum Vater und der Forderung nach Aufklärung über dessen Vergehen und der damit verbundenen Abrechnung ausmachen. Im Zentrum von »Seebachs schwarze Katzen« steht Bert Willer, der im Jahr 2004, nachdem er sich vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) absetzen und unenttarnt ein neues Leben als Anzeigenakquisiteur aufbauen konnte, mit seinem 16-jährigen Sohn David unauffällig in einer Berliner Plattenbausiedlung lebt. Der Vorname des Sohnes verweist bereits auf den sich entwickelnden Konflikt zwischen einem moralisch überlegenen und den Vater herausfordernden David und einem aufgrund seines Alters und seiner Position in der Familie zunächst übermächtigen Goliath. Drei Jahre vor Einsetzen der Basiserzählung fingierte Berts Frau Lou, nachdem sie das gesamte Ausmaß der Stasitätigkeit ihres Mannes erfasst hatte, ihren durch eine angeblich unheilbare Krankheit motivierten Selbstmord und lebt seitdem unter falschem Namen mit ihrem neuen Mann im Saarland. Der Sohn, der seine Mutter für tot hält, erinnert die Zeit vor ihrem Verschwinden als Idylle zwischen »seiner Mutter und seinem

28 Assmann. Geschichte im Gedächtnis. 2007, S. 74.

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Vater, die sich doch ganz gut hatten leiden können«. 29 Die gegenwärtigen Gefühle des Jungen gegenüber seiner Mutter dagegen schwanken, wenn er denn überhaupt an sie denkt, zwischen »Traurigkeit, Verzweiflung und Wut in abwechselnder Weise«. 30 Das für die Väterliteratur der 1970er und 1980er Jahre charakteristische Aussparen der Mutter, das die untergeordnete Rolle der Privatsphäre und der dort geformten, das heißt auch emotional vernachlässigten Persönlichkeiten reflektiert, wird hier im fingierten mütterlichen Selbstmord geradezu überspitzt aufgegriffen, indem die Mutter sich in der Flucht vor der nötigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihres Mannes selbst für die Familie auslöscht. 31 Mit der Mutter ist David allerdings de facto auch der Vater abhanden gekommen, der entweder »alle Tage kurz angebunden oder gar nicht da« 32 ist oder der »ihn von Zeit zu Zeit registrierte […] wie einen Fremden, der ihm irgendwie an die Seite gestellt worden war«. 33 Kontinuität wird zwischen diesen beiden Generationen lediglich durch eine Popelinjacke gewährleistet, die der Vater dem Sohn vererbt hat und die dieser so wenig abzulegen gewillt ist wie ehedem der Vater. 34 Jochen Vogt hat für die westdeutsche Väterliteratur emotionale Distanz, Mangel an Liebe sowie Sprachlosigkeit, kurzum ein »Scheitern an der Vaterrolle« als

29 Schmidt, Kathrin: Seebachs schwarze Katzen. München: Knaur 2007 (Kiepenheuer und Witsch 2005), S. 20. Alle mit SSK bezeichneten Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. Sprechend sind auch Davids Erinnerungen daran, wie er oft seinen Kopf zufrieden auf die Brust seines Vaters gelegt und sich schlafend gestellt hatte, während seine Mutter das Frühstück für alle bereitete. Ebd., S. 51 – 52. 30 Ebd., S. 18. 31 Wenngleich Lou sich nicht durch Arbeit für die Staatssicherheit schuldig gemacht hat, erlaubt es ihr die späte Flucht in den Westen, auch ihre eigene politische Überzeugung, die explizit als Teil ihrer DDR-Identität angeführt und mit den Erfahrungen im Nationalsozialismus begründet wird, in der DDR zurückzulassen: »So rot war sie [Lou – S. K.] damals, so blutgeduscht von den Opfern des Zweiten Weltkrieges, dass ihr die Hetze wider die rötlichste Siegermacht wie ein Flankenangriff auf die eigene Person vorkam« (SSK, 9). Barbara Kosta erachtet das Verfahren, die Mütter in der Väterliteratur der 1970er und 1980er Jahre auszusparen, als geradezu symptomatisch für die männliche Linke der 1960er Jahre und danach. Siehe Kosta, Barbara: Väterliteratur, Masculinity, and History: The Melancholic Texts of the 1980s. In: Conceptions of Postwar German Masculinity. Hrsg. von Roy Jerome mit einem Nachwort von Michael Kimmel. Albany, NY: SUNY P 2001, S. 219 – 241, hier S. 223. Zum Aspekt des Auslöschens der Mütter durch die Väter in der Väterliteratur vergleiche Fuchs, The Tinderbox of Memory. 2006, S. 52: »Entangled in their code of honor, this generation of fathers also reenacts the erasure of women, which had already characterized the anthropology of the interwar period.« 32 SSK S. 16. 33 Ebd., S. 17. 34 Ebd., S. 33.

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charakteristische Merkmale analysiert. 35 Dieses Versagen führt bei Bert Willer zu der grundlegenden Frage »ob er überhaupt einen Sohn hatte. Wie er aussah. Wie er hieß. Welche Schuhgröße?« und kulminiert in dem sich der Erinnerung verweigernden Fazit: »Nichts«. 36 Der lediglich physisch anwesende Vater ist unfähig, eine emotionale Bindung zum Sohn aufzubauen, obgleich sich dieser wiederholt eine tiefe Beziehung zum Vater wünscht. Genau hier zeigt sich das für die Väterliteratur typische Oszillieren zwischen dem Bedürfnis des Sohnes nach einer Verbindung zum Vater und der notwendigen Realisation, dass dieses Verlangen aufgrund der Brüche in der elterlichen Biografie keine Aussicht auf Erfüllung hat. Das Glück der frühen Kindheitstage, das David als Symbiose von Eltern und Kind rekonstruiert, ist für den Teenager allein durch das Betrachten von Fotos aus »der alten Zeit« 37 heraufzubeschwören. Genau dies wird der VaterSohn-Beziehung jedoch endgültig zum Verhängnis: Kurz bevor die beiden 2004 eine Reise nach Teneriffa antreten, entdeckt David auf seiner Suche nach alten Familienfotos Papiere, die seinen Vater als Hauptmann der Stasi entlarven, der auf Frauen in Ost und West angesetzt war und die er bespitzeln und »destabilisieren« 38 sollte. Der zufällige Fund der seinen Vater belastenden Akten führt zu der für die Väterliteratur typischen Spurensuche des Sohnes, der erkennt, dass ihm »sein Vater […] ein Rätsel« ist. 39 Obgleich sich ihm der Inhalt der Papiere lange nicht erschließt, 40 ist David sich von Beginn an »so sicher, ein Tabu zu brechen mit dieser Lektüre, daß er den Gedanken daran lieber so schnell vergaß, wie er aufgetaucht war«. 41 Nach der auf das Auffinden der Akten folgenden Konfrontation wird die Entfremdung zwischen Vater und Sohn nur noch größer, bis Bert schließlich beginnt, sich seiner Vergangenheit zu stellen. Der Sohn erzwingt damit zwar das Aufsprengen der generationenübergreifenden Dauerverdrängung, welches in einem – wie der Vater konstatiert – vom Sohn »induzierten Monolog« 42 kulminiert, in dem zwar der Leser Details aus Berts Vergangenheit erfährt, dieser seinem eigenen Sohn gegenüber jedoch keine Auskünfte erteilt. 43 Das 35 Vogt, Er fehlt, er fehlte, er hat gefehlt… 1998, S. 391. 36 SSK S.  21 – 22. 37 Ebd., S. 20. 38 Ebd., S. 59. 39 Ebd., S. 60. 40 Ebd., S.  28 – 29. 41 Ebd., S. 27. 42 Ebd., S. 76. 43 Ebd., S. 75. Dass Sohn David zum auslösenden Faktor für die versuchte Vergangenheitsbewältigung des Vaters wird, wird expliziert: »Noch nie hatte er zu einem Außenstehenden davon gesprochen, aber es wunderte ihn nicht, dass es heute über ihn kam. […] Sein Sohn hatte Lunte gerochen. Das reichte, um, mit einigen Stunden Verspätung, darüber zu sprechen, was David hatte wissen wollen« (SSK, 62).

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Fehlschlagen des vom Sohn eingeforderten Gesprächs sollte jedoch nicht als individuelles Versagen betrachtet werden, sondern als das, was Jochen Vogt für die Väterliteratur der 1970er und 1980er Jahre als »diskursive[n] Ausdruck des in Deutschland schwer gestörten Generationenverhältnisses, speziell zwischen Vätern und Söhnen« beschrieben hat. 44 Indem Kathrin Schmidts Roman auf die Erzählperspektive eines allwissenden Erzählers zurückgreift, erfährt der implizite Leser nicht nur aus den Akten, die David liest, sondern darüber hinaus auch aus Berts geständnisartigen Erinnerungen, die dem Sohn vorenthalten bleiben, von dessen Vergangenheit. Die narrative Struktur trägt damit wesentlich zur graduell sich offenbarenden Geschichte bei. Bemerkenswert bleibt jedoch der Effekt, den Davids »Ansprache« 45 auf seinen Vater hat: Nach kurzer Irritation und Fluchtgedanken ist er bald »wieder er selbst, Bert Willer, der seinem Sohn zeigte, was ein Kerl zu sein hat. […] David staunte mit aufgerissenen Augen seinem Vater mitten ins Gesicht, der nun nicht mehr auswich, sondern den Jungen klein machte mit seiner Selbstzucht und Standhaftigkeit«. 46 In dieser Reaktion auf eine ihn bedrohende Krisensituation treten die ausgeprägte seelische Panzerung sowie das von Bert internalisierte Wertesystem deutlich zu Tage: Im Rang eines Offiziers und in die militärischen Strukturen der Nationalen Volksarmee der DDR integriert, hat er die geradezu preußischen Ideale Gehorsamkeit, Selbstdisziplin, Durchhaltevermögen und Selbstkontrolle zusammen mit dem militärischen Ehrenkodex derart verinnerlicht, dass er nun instinktiv auf diese vermeintlichen Tugenden zurückgreift. In seiner Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit hat er überdies Konformität im sozialistischen System und unbedingten Gehorsam gegenüber dem sozialistischen Staat und den von seinen Vertretern erteilten Befehlen eingeübt. Ähnlich wie beispielsweise Christoph Meckels Vater in »Suchbild« erscheint Bert Willer unfähig, sein politisch-ideologisch motiviertes Handeln sowie dessen Auswirkungen seinem Sohn gegenüber zu rechtfertigen. Er verfügt über eine »kalte Persona«, die sich in gefühlsmäßiger und kommunikativer Starrheit äußert, und wird zum »eisernen Krieger« – zunächst im Kampf gegen den kapitalistischen Feind, später dann gegenüber seinem Sohn. 47 Gerade in Berts Willers emotionaler Abstumpfung zeigt sich deutlich die Verknüpfung von privater und politischer Ebene. Die im Rahmen seiner früheren Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit antrainierte Kälte, Abstumpfung und Kommunikationsunfähigkeit führt nun zu einer unüberbrückbaren 44 Vogt, Er fehlt, er fehlte, er hat gefehlt… 1998, S. 387. 45 SSK S. 47. 46 Ebd., S. 48. 47 Zu Vorstellungen von Maskulinität und der Darstellung der »kalten Persona« in der Väterliteratur siehe Fuchs, The Tinderbox of Memory. 2006, S. 47 – 53. Siehe auch Kosta, Väterliteratur, Masculinity, and History. 2001, S. 219 – 241, insbesondere S. 221.

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Distanz zum Sohn. Unfähig, Nähe herzustellen und eine angemessene väterliche Autorität zu verkörpern, löst Bert Willer bei David eine fundamentale Enttäuschung aus und unterstreicht damit sein Scheitern an der Übernahme der Vaterrolle. Der Sohn durchlebt eine dramatische Entwicklung, innerhalb derer sich sein Vaterbild vom heroischen und allwissenden Vater in der DDR zunächst zum in der Wende besiegten Vater und schließlich zum Täter hin verändert. Bereits vor der Entlarvung des Vaters zeigen sich Davids narzisstische Verletztheit und die für die Väterliteratur typische Melancholie im »angstauslösenden Blick« 48 des ernsten Jungen. Geradezu selbstverliebt hält David andere Menschen auf Distanz und auch sein Vater »hätte nicht sagen können, nach welchen Kriterien sein Sohn anderen gestattete, seine Nähe zu suchen.« 49 Dass diese eine typische Reaktion auf den Verlust eines idealisierten Vorbilds und insbesondere eines Liebesobjekts darstellt, darauf hat bereits Sigmund Freud verwiesen. 50 In dem Moment, als er den Vater als Täter erkennt, wird der Prozess der Identifikation mit dem Vater radikal und endgültig unterbrochen. Der gravierende Verlust des positiven männlichen Rollenmodells bedroht ultimativ den Kern von Davids eigener, sich entwickelnder Männlichkeit, die ihm zunehmend inakzeptabel erscheint. Folgerichtig entwickelt der Sohn sich beständig zurück: In seinem kontinuierlichen Schrumpfen, das von einem den Vater irritierenden »zutraulich[en] und mitunter sogar fröhlich[en]« 51 Verhalten begleitet ist, tritt der Wunsch, den Status des unschuldigen und unwissenden Kindes wieder zu erlangen, zu Tage. Der Vater, der sich in den Augen des Sohnes zweifach schuldig gemacht hat, nämlich sowohl durch seine politischen als auch durch seine menschlichen Verfehlungen, kann seine Täterrolle nur bedingt akzeptieren. Da er neue Methoden für das Ministerium für Staatssicherheit erarbeitete, mit denen seine Opfer psychisch und – durch bewusst falsche medizinische Betreuung – auch physisch zerstört werden sollten, 52 wiegt seine Schuld doppelt. Ähnlich wie viele Nazi-Täter vermag auch Bert Willer nicht, seine Schuld anzunehmen: »Die Täterseite gefiel ihm nicht mehr, zumal er sie erst seit den Wendetagen als Täter-Seite zu sehen in der Lage war«. 53 Angesprochen wird hier, was Assmann als »Verschiebung der Kategorie des Normalen« bezeichnet. 54 Bert Willer ist Teil einer Generation, die nicht nur in der DDR, sondern auch durch 48 SSK S. 14. 49 Ebd. 50 Kosta, Väterliteratur, Masculinity, and History. 2001, S. 226. Freud, Sigmund: Mour­ ning and Melancholia. In: General Psychological Theory. Papers on Metapsychology. New York: Collier Books 1963, S. 167. 51 SSK S. 154. 52 Ebd., S. 41. 53 Ebd., S. 75. 54 Assmann, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. 2006, S. 45.

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das Ministerium für Staatssicherheit sozialisiert wurde. Die dort erworbenen Kategorien für richtig und falsch, gut und schlecht sind jedoch seit den Wendetagen ungültig geworden, in vielen Fällen wurden sie sogar durch diametral entgegengesetzte Vorstellungen ersetzt. Bert Willers real-sozialistische Konditionierung wird somit in dem Moment aufgehoben, in dem sich der soziale Referenzrahmen radikal verändert hat. Erst im Verlauf der Wende, unter dem Druck der Gesellschaft, ihrer veränderten Normen, Bewertungskriterien und Wahrnehmung sowie als Folge der neu konstruierten kollektiven Selbstbilder vermag der sich seiner Taten erinnernde Bert, sich der Täter-Seite zuzurechnen. Die Veränderung des sozialen Referenzrahmens zwingt ihn zu der Erkenntnis, dass er sowohl politisch als auch moralisch gescheitert ist. Bereits Maurice Halbwachs hat darauf verwiesen, dass der soziale Rahmen, der sich von einer Generation zur nächsten verändert und von einer Gruppe zur nächsten unterscheidet, zum einen bedeutungskonstituierend wirkt und zum anderen »die Imperative der Gesellschaft der Gegenwart« 55 enthält. Folgerichtig wird Bert durch seinen in der Nach-Wende-Gesellschaft sozialisierten und sich weiter vom Vater abgrenzenden Sohn zur Aufarbeitung seiner Vergangenheit gezwungen. Die Aufarbeitungsfähigkeit sowie -leistung ist vom aktuellen sozialen Rahmen abhängig und verweist auf eine Dimension, die Berts persönliche, in einem spezifischen sozialen Umfeld generierte und kommunizierte Erinnerungen übersteigt. Assmann betont beispielsweise, dass in dem Moment, in dem solche Vergegenwärtigungen mitteilbar werden, sie »auch zu einem gemeinsamen Besitz […] [einer – S. K.] Gruppe« gehören. 56 Bert fungiert somit als Repräsentant einer Gruppe von Vätern, die ihre Erinnerungen an die DDR nur bedingt an die nächste Generation weitergeben können, da sie sich durch ihre Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit schuldig gemacht haben. Gerade weil sich die Bewertungskriterien dafür, was »Schuld« signifiziert, im aktuellen sozialen Rahmen der Nach-Wende-Gesellschaft verändert haben, sind diese Väter in einem Mechanismus gefangen, der die Weitergabe ihrer Erinnerungen blockiert. Diese Konstellation, in der es nach Langenhorst »nicht nur um den je individualbiographischen Einzelfall, sondern um das Phänomen einer ganzen Generation« 57 geht, kann sowohl für die ursprüngliche als auch für die neue Väterliteratur als typisch erachtet werden. Analog zur Darstellung der Vätergeneration der Täter wird David damit zum Repräsentanten einer Generation von Söhnen und Töchtern, welche sich in die Si55 Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 (Berlin: Luchterhand 1966), S. 158. 56 Assmann, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. 2006, S. 35 – 36. 57 Langenhorst, Georg: »Vatersuche« in deutschen Romanen der letzten 20 Jahre. Zur Renaissance eines literarischen Urmotivs. In: Literatur für Leser 1, 1994, S. 23 – 35, hier S. 26.

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tuation versetzt sehen, sich mit der Vergangenheit ihrer Väter auseinanderzusetzen. Wie die Kinder in der früheren Väterliteratur befindet sich auch der adoleszente David auf der Suche nach dem eigenen Selbst, was durch die Erkenntnis der väterlichen Schuld dahingehend erschwert wird, dass diese auf den Sohn übergeht und als Teil der eigenen Identität akzeptiert werden muss. Dass diese Erfahrung zunächst destabilisierend wirkt, hat Peter Sloterdijk für die Generation der um die Mitte des 20. Jahrhunderts Geborenen bereits konstatiert: Ihnen sei das Urvertrauen abhanden gekommen und damit die unerschütterliche Gewissheit, »guten Grund unter den Füßen und stärkende Überlieferungen im Rücken zu haben. Man ist hier immer auf eine seltsame Art ontologisch von schlechten Eltern, man hat Abgründe hinter sich, wo andere Stammbäume haben«. 58 Im Roman wird die Problematik der negativen Provenienz, inklusive der durch die väterlichen Taten und den Betrug ausgelösten, verunsichernden Effekte, von Lou antizipiert, als sie auf Berts Eingeständnis, für das Ministerium für Staatssicherheit tätig gewesen zu sein, reagiert: »Eine Hypothek hätte er dem Jungen damit aufgeladen, die der vermutlich gar nicht in der Lage wäre abzutragen«. 59 Der psychologisch geschulten Lou ist klar, dass die Schuld des Vaters dem Sohn übermächtig vorkommen muss. Darüber hinaus – und das ist hier der wesentliche Punkt – muss es ihm auch unmöglich erscheinen, selbst dieser Schuld entrinnen zu können. Auf diese Konstellation der Übertragbarkeit von Schuld auf die nachfolgenden Generationen, die auch auf das Ausmaß aufmerksam macht, in dem der Bereich des Persönlichen und vermeintlich Privaten vom Politischen durchdrungen ist, verweist schon Friedrich Nietzsche: »Da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Erinnerungen verurteilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Tatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen.« 60 58 Sloterdijk, Peter: Zur Welt kommen – zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 48. 59 SSK S. 107. 60 Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Werke in drei Bänden. Bd. 1. Hrsg. von Karl Schlechta. München: Carl Hanser Verlag 1962, S. 229 – 230. Assmann verweist auf Friedrich Schiller, der das Bild der Kette bereits in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Jena 1789 benutzte, dabei jedoch noch ein anderes Verständnis von »Schuld« hatte: »Die individuellen Lebensgeschichten sind nach Schiller vergänglich, unvergänglich dagegen ist allein die Kette, der Zusammenhang der Generationen, Geschlechter, Nationen und Kulturen. […] Interessant an Schillers Bild von der Kette ist die Zukunftsorientierung: Zukunft entsteht dadurch, dass wir das, was wir der Vorwelt verdanken, angereichert um unseren eigenen Beitrag an die Nachwelt weitergeben. Die Schuld, von der er spricht, ist eine Dankesschuld oder, wie es in heutiger Terminologie heißt, eine ›Bringschuld‹.« Assmann. Geschichte im GedächtniS. 2007, S. 71.

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Die Verbrechen der vorangegangenen Generationen gehen somit aufgrund der von Nietzsche angesprochenen genealogischen Kette auf die Nachwelt über. Wenngleich die folgende Generation darauf dringt, diese Kette zu durchbrechen, entsteht gerade durch das Bedürfnis, sich von den durch die Geburt bestehenden Bindungen radikal zu distanzieren, eine neue Form der Genealogie: David repräsentiert sozusagen die erste Generation von MfS-Kindern, die – wenn sie sich positionieren will – mit der negativen Kraftquelle umgehen muss, die aus der Schuld ihrer Väter erwachsen ist. Diese transgenerationelle und die eigene Biographie unweigerlich beeinflussende Verstrickungssituation zwingt die Angehörigen dieser Generation, sich in einer genealogischen Kette zu verorten. Diese Situation wird durch den Umstand erschwert, dass die Kommunikation zwischen Vater und Sohn gestört beziehungsweise unmöglich ist. Dadurch wird eine einem synchronen Generationenbegriff zugrundeliegende Vision, wie beispielsweise von Karl Mannheim in der Vorstellung eines gemeinsamen Erlebnishorizonts in einem soziohistorischen Zeitraum imaginiert, als nicht realisierbar entlarvt. Assmann spricht von einer von Mitgliedern zweier Generationen sozial geteilten »Zeit, die qualitativ mit Erleben und Erinnerung gefüllt ist, und in der Gemeinsamkeit und Differenz erfahren und verarbeitet wird«. 61 Genau dies wird durch die Schuld des Vaters und die daraus resultierende Kommunikationslosigkeit jedoch in Frage gestellt. David repräsentiert eine Generation, die in der Folge der MfS-Tätigkeit seines Vaters de facto vaterlos aufgewachsen ist. Dem Leser wird insbesondere durch die Diskrepanz zwischen dem Wissensstand der individuellen Charaktere und dem der heterodiegetischen Erzählinstanz bewusst gemacht, welche Erinnerungen und vergangenen Ereignisse als sicher etabliert gelten können. Damit wird eine im Verlauf der Romanhandlung stetig wachsende Stabilität im Narrativ erzeugt. Indem Schmidts Erzähler sich durch die distanzerzeugende allwissende Form, welche sowohl Beobachter­ erinnerungen als auch Einblicke in die Gefühls- und Gedankenwelt der verschiedenen Charaktere erlaubt, als selbstbewusst und zuverlässig etabliert, können die auf subjektiven Erinnerungen und falschen Informationen beruhenden Unsicherheiten der Protagonisten sichtbar werden. Davids Bedürfnis, seine Unwissenheit bezüglich der familiären Vergangenheit zu überwinden und das Wissen darüber mittels der Rekonstruktion zu erlangen, kontrastiert immer wieder mit dem Wissen der heterodiegetischen Erzähldistanz. Während für 61 Assmann, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. 2006, S.19. Zum synchronen Generationenbegriff siehe auch Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen. In: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7, 1928, S. 157 – 185 und S. 309 – 330; Jureit, Ulrike/Wildt, Michael (Hgg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs. Hamburg: Hamburger Edition HIS Verlag, 2005; Liebau, Eckart: Generation. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf. Weinheim/Basel: Beltz Verlag, 1997, S. 295 – 306.

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David vieles im Unklaren verbleibt und damit Brüche und Lücken im Familiengedächtnis explizit dargestellt werden, vermag Schmidts Text für den Leser am Ende Geschlossenheit zu erzeugen: »blinde Flecken« werden nach und nach mit Erkenntnissen gefüllt und Vergangenheit und Gegenwart werden in ihrer ganzen Komplexität illuminiert. Die Väterliteratur – eine obsolete Gattung? Aleida Assmanns Erkenntnis, dass wir »im Schatten einer Vergangenheit [leben – S. K.], die in vielfältiger Form in die Gegenwart weiter hineinwirkt und die Nachgeborenen mit emotionaler Dissonanz und moralischem Dilemma heimsucht«, 62 kann sicherlich zugestimmt werden. Trotzdem ist die Väter­ literatur nicht als überholte Gattung versus dem aktuellen und quasi »weiter­ entwickelten« Familienroman anzusehen. Vielmehr widmen sich in der Gegenwartsliteratur seit 1989 sowohl der Familienroman als auch eine neue Version der Väterliteratur der Aufarbeitung diverser, durch die deutsche Geschichte bedingter, emotionaler Dissonanzen und moralischer Dilemmata. Auch wenn sich aufgrund der formalen Differenzen, beispielsweise eine Betonung der Konfrontation und Abrechnung mit dem Vater in der Väterliteratur gegenüber der Akzentuierung von Kontinuität im Familienroman, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unterschiedlich gestaltet, fokussieren beide Gattungen auf das Verhältnis von offizieller und privater Kommemoration historischer Ereignisse. Beide zeichnen sich überdies durch das Bestreben aus, im Familien­ gedächtnis abgespeicherte Ereignisse ins kulturelle Gedächtnis zu übersetzen, und beide erkennen die Querverbindungen zwischen Individuum, Familien­ geschichte und nationaler Geschichte an. Die beiden hier exemplarisch analysierten Bücher präsentieren spezifische innerfamiliäre Blicke, die auf wesentliche historische Ereignisse verweisen. Damit wird sowohl im Familienroman als auch in der (neuen) Väterliteratur Geschichte dahingehend privatisiert, dass sowohl politische als auch soziale Faktoren, die historischen Ereignissen zugrunde liegen, durch die Brille der Familiengeschichte betrachtet werden. Allerdings lassen sich wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Büchern konstatieren: Während »Die Gunnar-Lennefsen-Expedition« über mehrere Generationen und verschiedene historische Ereignisse hinweg auch die verstörenden Elemente der (Familien-) Geschichte produktiv für die zukünftige Generation erarbeitet und damit die Brüche der Vergangenheit, beispielsweise zwischen Josephas Vater und der Tochter, aber auch zwischen der Urgroßmutter und Ottilie zu schließen vermag, betont »Seebachs schwarze Katzen« den bestehenden Bruch und die sich dem Verlangen der Kinder nach einem Heilungsprozess widersetzende Unmöglichkeit, das 62 Assmann, Generationsidentitäten und Vorurteilsstrukturen in der neuen deutschen Erinnerungsliteratur. 2006, S. 39.

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gestörte Verhältnis zwischen Kinder- und Elterngeneration zu kitten. Der Roman verbleibt in der Dialektik zwischen dem Wunsch nach Kontinuität und Nähe zum Vater und der Realität des Bruchs und der Kommunikationslosigkeit ebenso wie er zu einem gewissen Grad zwischen historischer Analyse und subjektiver Erinnerung oszilliert. Dabei erscheint die Elterngeneration als durch die DDR und ihre im real existierenden Sozialismus aufgeladene Schuld derart belastet, dass die Individuen emotional nicht in der Lage sind, so weit zu gesunden, dass sie sich den Bedürfnissen und Anforderungen der Kinder zu stellen vermögen. Da dies sowohl auf den Vater als auch auf die Mutter, die bezeichnenderweise Psychologin ist, zutrifft, definiert der Text die Konstellation als Langzeitschaden. Anders als jene Vertreter der Väterliteratur, die als autobiographische Projekte angelegt sind, vermag »Seebachs schwarze Katzen« nicht die der Autobiographie inhärente Spannung zwischen Authentizität und Fiktion auszunutzen. Der Roman ist folglich weniger ein Ort der Selbstfindung und Reflexion als der Präsentation einer problematischen Situation, die für eine ganze Generation junger Erwachsener von Bedeutung ist: die Frage, wie sie als Kinder ehemaliger Stasi-Offiziere mit der Schuld ihrer Väter umgehen können und welchen Einfluss die paternale Vergangenheit auf ihre Gegenwart und Zukunft hat. Berücksichtigt man die Tatsache, dass die Väterliteratur der 1970er und 1980er Jahre erst entstand, nachdem die Väter verstorben waren, so steht eine Welle vergleichbarer autobiographischer neuer Väterliteratur vermutlich noch an. 63 Mit »Seebachs schwarze Katzen« hat Kathrin Schmidt jedenfalls die Grundproblematik aufgeworfen und dargelegt, in welchem Ausmaß insbesondere die Vater-Sohn-Beziehungen, aber auch andere zwischenmenschliche Verbindungen durch die Staatssicherheit und ihre »politisch-operativen Zersetzungsmaßnahmen« belastet sind.

63 Zu hinterfragen wäre demnach, inwiefern beispielsweise die erst kürzlich erschienenen Romane von Marion Brasch und Eugen Ruge eben nicht als »Romane einer Familie«, sondern als neue Väterliteratur gelesen werden müssten. Vgl. Brasch, Marion: Ab jetzt ist Ruhe. Roman meiner fabelhaften Familie. Frankfurt/M.: S. Fischer 2012; Ruge, Eugen: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Roman einer Familie. Reinbek: Rowohlt 2011.

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I. Einleitung Abgesehen von absonderlichen Charakteren in phantastisch-grotesken Umgebungen und den Zwängen, Leidenschaften und Abgründen, denen sie unterworfen sind, beschreibt Georg Kleins Prosa nichts weniger als die Entstehung von Literatur. Seine Romane zeigen in literarischer Form, dass dem Erzählen die Lektüre vorausgeht. Entsprechend sind die ›Helden‹ in ihnen obsessive Leser, die das Gelesene deuten und sich produktiv aneignen. Über die Grenzen des Literarischen hinaus lesen sie, was ihnen in die Hände fällt, und bringen als fiktive Autoren Texte hervor, die mit dem klassischen Kanon nichts mehr gemeinsam haben. Ihre Phantasie speist sich aus Videos, Comics und archäologischen Artefakten, ihre ›literarischen‹ Schöpfungen umfassen Geheimdienstberichte, Träume und in Holz geritzte kultische Zeichen. Sie erweitern das Repertoire der Literatur, das Kleins Prosa zur Diskussion stellt. Denn der Begriff des Literarischen steht darin in unmittelbarem Bezug zu anderen Medien: zu literarischen Gattungen und Genres, nicht-literarischer Prosa, Gebrauchs- und Unterhaltungstexten, Briefen, Faxen, theatralen Aufführungen, Fotos, Gemälden, Zeichnungen, Computern, Kunstobjekten, zum Fernsehen, Internet und Telefon, zur Rohrpost und zur Architektur. Aus der Medienkonkurrenz erschließen sich die Konturen des Literarischen, das neben der Darstellung seiner technischen Bedingungen (Schrift, Druck, Buch) und ideellen Voraussetzungen (Werk, Fiktionalität) die Fähigkeit besitzt, Medialität zu thematisieren. Literatur, so die im Folgenden zu erörternde These, ist für Klein ein Hypermedium, das alle anderen Medien in sich einschließt. Denn sie erlaubt die Beschreibung von medienrelevanten Merkmalen, die über das eigene (literarische) Medium hinausgehen. Kleins Poetologie beruht auf Medienreflexion. Zu den konstitutiven Charakteristika des Mediums Literatur rechnet Christoph Reinfandt »Autorschaft als kommunikative Institutionalisierung des modernen Subjekts ›hinter‹ den als ›Werk‹ aufgefassten Texten mit ihren als intendiert interpretierten Bedeutungen und Funktionen zwischen Weltabbildung und

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Christoph Zeller Fiktion, und schließlich die Interpretation selbst als potentiell den Leser ermächtigender Akt.« 1

Klein veranschaulicht den Prozess der »Weltabbildung« und Sinnkonstitution am Handlungsverlauf seiner Prosa. Seine Figuren sind in die Deutung und Interpretation der ihnen begegnenden Phänomene einbezogen. Sie problematisieren Autorschaft als mediengebundene Ausdrucksmöglichkeit. Ist Literatur das »Medium von Subjektivität«, 2 so sind in Kleins Texten Subjekte von den Medien abhängig, die ihnen darin zur Verfügung stehen. Subjektivität verteilt sich desgleichen auf die Vielzahl der selbst wiederum fiktiven, in den Texten aufgeführten Medien. Literarizität besteht für Klein also neben der Problematisierung von Autorschaft in der medialen Selbstreflexion und der polyphonen Anlage seiner Werke, insbesondere aber in der Poetizität seiner Texte. Poetologisch ist Kleins Prosa, da »die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre Bedeutung, ihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen.« 3 Sie erhalten diesen Wert, indem sie sich von anderen Medien durch ihre Vieldeutigkeit unterscheiden. Vieldeutig ist Literatur, da ihre Sprache im Gegensatz zu Gebrauchstexten und kommunikativen Alltagssituationen eine immer schon sinnbildliche Struktur aufweist. Sinnbilder sind im Allgemeinen ambig und unzuverlässig. Sie verlangen nach Deutung und steigern den Mehrwert des literarischen Textes mit jeder neuen Lektüre. In Allegorien kommen selbst noch Kleins poetologische Prämissen zum Ausdruck. Der seinen Romanen und Erzählungen vorgegebene Metatext ist sinnbildlich zu verstehen und als Selbstthematisierung des Erzählens vor dem Hintergrund einer zunehmenden medialen Dichte zu deuten. Der Entschlüsselung des poetologischen Metatexts von Kleins ersten Romanen – »Libidissi« (1998), »Barbar Rosa« (2001) und »Die Sonne scheint uns« (2004) 4 – sind die folgenden Ausführungen gewidmet. 1 Reinfandt, Christoph: Literatur als Medium. In: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phä­nomen des Literarischen. Hrsg. von Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer. Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 161 – 187, hier S. 173. 2 Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2003, S. 522. 3 Jakobson, Roman: Was ist Poesie? In: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921 – 1971. Hrsg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 67 – 82, hier S. 79. 4 Die genannten Romane werden zitiert nach Klein, Georg: Libidissi. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006 (im Text abgekürzt »L« mit Seitenangabe); ders.: Barbar Rosa. Eine Detektivgeschichte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007 (im Text abgekürzt »BR« mit Seitenangabe) sowie ders.: Die Sonne scheint uns. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006 (im Text abgekürzt »S« mit Seitenangabe). Kleins Erzählbände »Anrufung des blinden Fischs« (1999) und »Von den Deutschen« (2002) sowie der Roman »Sünde, Güte, Blitz« (2007) lassen sich in ähnlicher Weise als medien-

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II. Verflüssigung Rauschzustände sind ein wiederkehrendes, allegorisches Motiv in Georg Kleins Prosa. An den oft heruntergekommenen, randständigen Protagonisten seiner Romane sind sie nicht selten zu beobachten. So hat sich der Agent Spaik aus dem Debütroman »Libidissi« dem Genuss von Suleika verschrieben. Die Zurechnungsfähigkeit Mühlers, des Ich-Erzählers in »Barbar Rosa«, war lange Zeit von einer Sucko-Sucht getrübt. Lemon wiederum, eine der Erzähler-Figuren aus »Die Sonne scheint uns«, schuldet einen zeitweiligen, tödlichen Persönlichkeitswandel seiner Mondsüchtigkeit. Leicht als seltsame erzählerische Zutat des Autors misszuverstehen, kommt dem Rausch ein besonderes semiotisches Gewicht zu. Die Halluzinationen, denen die Figuren ausgeliefert sind, geben den Plot von Kleins Texten vor. Rauschzustände wiederum signalisieren die Verwandlungen, denen seine Motive unterworfen sind, und Verwandlungen werden durch Flüssiges angezeigt. In jeweils anderer Gestalt tauchen Charaktereigenschaften, Themen und narrative Details, Textfragmente, Zitate und gattungstypische Merkmale von neuem auf. Verflüssigungen sind Allegorien der Aneignung und Umformung ästhetischen Materials. Bereits die Orte des Geschehens sind von Wasserwegen durchsetzt oder von Flüssigem gerahmt. Flüsse und Kanäle kennzeichnen – wie in »Libidissi« und »Barbar Rosa« – die Szenerie. In »Die Sonne scheint uns« liegt der Umschlagplatz des Geschehens unweit des Hafens. Desgleichen ist das Schicksal der (Anti-)Helden an schwer fassbare, weil flüssige, und d. h. bewegliche, instabile, sich wandelnde Orte gebunden, wie etwa dasjenige des Ich-Erzählers in »Barbar Rosa«, der einst sucko-trunken auf dem »großen künstlichen Teich« des Liebestunnels (BR, 119), einer Rummelplatzattraktion im Luna-Park, einen folgenschweren Unfall erlitt und gegen Ende der Erzählung in einem stillgelegten Hallenbad auf die Lösung seines Auftrags hofft. Manche der Figuren verlieren ihr Leben aufgrund eines Zuviel oder Zuwenig an Flüssigem, so der Dampfbadbetreiber Freddy in »Libidissi«, der in einem leeren Lumpensiederbecken seine letzten Worte spricht. Oder Funny in »Die Sonne scheint uns«, dessen Trunksucht alle Vorsicht vergessen und den Genuss von Brennspiritus als wünschenswert erscheinen lässt. Anderen Romanfiguren wird Flüssiges zur Obsession, wie dem verschrobenen, von seinen Perversionen getriebenen Kurti in »Barbar Rosa«, dessen Begierde sich auf die Ausscheidungen älterer Frauen richtet. Sonderbare Getränke beanspruchen nach dem Willen ihres Erfinders besondere Aufmerksamkeit. In »Libidissi« etwa verbindet Suleika die Menschen, die reflexive Metatexte lesen. Obwohl in Umfang und Erzählweise von den bisherigen Publikationen unterschieden, ist auch Kleins »Roman unserer Kindheit« (2010) von poetologischen Elementen getragen, die Literatur gleichwohl nicht in Konkurrenz zu anderen Medien zeigen, sondern das Erzählen selbst thematisieren.

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es zu sich nehmen, nicht nur durch ihre geschmacklichen, sondern durch ihre medialen Eigenschaften. Denn Suleika, »das übelste der einheimischen Getränke« (L, 6), das aus Stutenmilch gewonnen und mit Hilfe von Bakterien aus dem »Darm von Schlachtkälbern« (L, 7) einem Gärungsprozess unterzogen wird, ist zugleich Getränk und Informationsträger. So erhält Spaik Botschaften durch ein Rohrpostsystem. Den Rohrpostbüchsen ist die Größe der Suleika-Flaschen angepasst. Auf diese Weise gelangte Suleika während der ersten sogenannten »Reinheitskampagne der Gahisten«, einer religiös-fundamentalistischen Revolutionsbewegung, unentdeckt an ihre Kunden. In einer von den Kolonialherren verlassenen, der westlich-kapitalistischen Wirtschaftsordnung entglittenen, von internen Machtkämpfen sowie ethnischen und religiösen Spannungen zerrütteten Stadt gelten die überkommenen Sinnträger wenig. Um die Zeichen zu deuten und zu einem bündigen Ganzen – nämlich zu einer tragfähigen, zu verarbeitenden Information – zusammenzufügen, sind die Spione der westlichen Welt in Libidissi zusammengekommen. Von diesen Deutungsversuchen erzählt der Roman und unterschlägt doch das zu Deutende. In Kleins wundersamer Welt ist der Agent vielmehr auf seinen etymologischen Ursprung verwiesen: ›Agens‹ ist die treibende Kraft, das wirkende, handelnde Prinzip, aber auch der medizinisch wirksame Stoff und krankmachende Faktor. Agenten sind demnach Medien, der lateinischen Bedeutung des Wortes nach ›Dazwischen-Stehende‹, die Botschaften übermitteln, Botschaften empfangen, während der Text selbst weniger die zu deutenden Informationen als den Vermittlungsprozess zur Schau stellt: »Meine erste Post […] war nichts weiter als eine Flasche Suleika. Aber als ich direkt aus der Plastikflasche einen Schluck davon kostete, schmeckte ich eine schwer vergleichbare, den Absinth an Zweideutigkeit noch übertreffende Bitternis, und in meine Nase stieg der verwesungsartige, sofort zu Höherem inspirierende Duft von wirklich altem Suleika-Brandy. […] Erst am folgenden Nachmittag entdeckte ich = Spaik, aus Trunkenheit und Schlaf erwacht, die an das Geschenk gekoppelte Botschaft: Das Etikett der Flasche war schief und locker aufgeklebt, es ließ sich leicht vom Kunststoff lösen. Auf die Rückseite des Papierchens war mit Bleistift eine Nachricht geschrieben, und ich = Spaik las den ersten an mich gerichteten Rohrpostbrief.« (L, 37 f.)

Die Doppelung des Namens ist dem lokalen Piddi-Piddi geschuldet, das auf Pronomen gänzlich verzichtet und den Sprechenden allein in der dritten Person nennt. Darüber hinaus deutet es auf eine Persönlichkeitsstörung hin, die Spaik das Überleben sichert. Denn die Botschaften, die Spaik empfängt, schickt er an sich selbst: 5 »Alle Schriftstücke, die ich aus den Untiefen des Rohrpostsystems erhalten habe, zeigen dasselbe: eine kaum verschliffene Schulschreibschrift, 5 Vgl. Willer, Stefan: Rohrpostsendungen. Zeichen und Medien in der Prosa Georg Kleins. In: Weimarer Beiträge 48, 2002, H. 1, S. 113 – 126, hier S. 123: »Der Text spielt von Anfang an mit der Möglichkeit, daß Spaik selbst, im Zustand der Absencen, die ihn oft überfallen, der Absender der Rohrpostbüchsen sein könnte.«

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genau so, wie ich sie selbst vor Jahrzehnten, am Füller kauend, erlernt habe.« (L, 38) Bis auf die letzte Nachricht, in der dazu aufgefordert wird, die Berichterstattung mit sofortiger Wirkung einzustellen, bleiben den Lesern die Inhalte der von entstellenden Rechtschreibfehlern durchsetzten, kurzen Texte verborgen. Dass sie hingegen die Grundlage für Spaiks außerordentliche nachrichtendienstliche Tätigkeit darstellen, daran besteht kein Zweifel. Spaik nimmt die Machtübernahme durch die Gahisten in der einst vom westlichen Kolonialismus zugrunde gerichteten Stadt ebenso vorweg wie die epidemische Verbreitung von Mau, einer Krankheit, die Fremden einen durch innere Austrocknung verur­ sachten, qualvollen Tod bereitet. Auch den blutigen Aufstand der Gahisten am neunten Todestag ihres Propheten, des Großen Gahis, kündigt Spaik in der Nacht zuvor an. 6 Sein Wissen bezieht der Agent weniger aus eigenen Beobachtungen und Gesprächen mit seinen Informanten als aus den neun »Videogesängen« des Großen Gahis. (L, 71 f.) Ein Medium ist die Grundlage für die Berichte an die Vorgesetzten in Deutschland, Spaik also ein Sinnbild des Philologen, der aus einem Medium (einem Primärtext) andere Medien (literaturwissenschaftliche Bücher, Essays und Rezensionen, Vorträge, Webseiten und Features in Radio und Fernsehen) herstellt – ein idealer, impliziter Leser. 7 Die Videogesänge studiert Spaik in einem Zimmer, in dem sich nicht nur die dafür nötige technische Ausrüstung befindet, sondern auch, verborgen hinter dem Bildnis des Propheten Gahis, die Sendestation der Rohrpost. Spaik schickt sich die Ergebnisse seiner Analysen vom unteren Stockwerk seines Hauses zu. Kommunikation erfolgt solcherart zwischen den Schichten seiner Persönlichkeit, die allegorisch in den verschiedenen Stockwerken des Hauses verschlüsselt sind. Liegt die Sendestation der Rohrpost im unteren, so befindet sich die Empfangsstation im oberen Stockwerk. Im Dachgeschoss wiederum hält sich ein junges Mädchen auf, das nur Spaik wahrzunehmen imstande ist. »Lieschen« lautet der Name dieses Kindes, der nicht nur eine Aufforderung zur Lektüre darstellt – lies! –, sondern auch, wie Stefan Willer hervorhebt, graphisch eine Verbindung von Ich und Es herstellt. 8 6 Seine Informationen an das »Bundeszentralamt« übermittelt Spaik von einer im für Ausländer verbotenen »Goto« gelegenen Sendestation, die einmal von amerikanischen Baptisten betrieben wurde. Im gleichen Gebäude hatte sich auch das deutsche Goetheinstitut eingemietet. Die Nachrichtenübermittlung erfolgt unverschlüsselt über eines der radikalen christlichen Diskussionsforen von »American World Net«: »Eine Codierung ist hier, auf der weltweiten Spielwiese der esoterischen Spinner und religiösen Wirrköpfe, nicht vonnöten. Jedes Geheimnis, und damit jede Zukunft, ist in diesem großen Geschrei, im Lärm der Heils- und Unheilspropheten, geborgen wie ein Keim in der Wärme des Misthaufens.« (L, 156) 7 Und könnte nicht umgekehrt jeder Philologe ein ›Agent‹ genannt werden, der aus dem Medium der Schrift Informationen sammelt, um sie wiederum medial zu vermitteln? 8 »Immerhin kreuzt sich in ihm das ›es‹ des objektivierbaren Kindes (Lieschen) mit dem ›ich‹ Spaiks (Lieschen).« Willer, Rohrpostsendungen. 2002, S. 126.

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Suleika löst Spaik die Zunge. Das Getränk befreit ihn von den Zwängen, denen sich das Ich zu beugen hat, und initiiert einen Kommunikationsvorgang mit seinem Unterbewusstsein. Dies Eindringen in die Psyche des Protagonisten, bei dem sich die Persönlichkeit mit dem Medium verbindet, bildet den Kern von Kleins Medienkonzeption. Seine Vorstellung von Medialität besage, so Klein in einem Interview mit Claudia Kramatschek, »daß die Seele als Ganzes eine mediale, also zur Verflüssigung fähige Verfassung besitzt.« 9 Medialität ist demnach eine Eigenschaft des inneren Menschen, Verflüssigung aber deren bildliche Repräsentation. Dem Getränk, das den Kommunikationsvorgang auslöst, gleicht sich Spaik an. Seine »Seele« wird flüssig und zu jenem Medium, das dem Ich zur Selbsterkundung zu Gebote steht. Die Analyse der Videogesänge ist für Spaik daher ein Akt der Selbsterkenntnis, die Botschaften wiederum sind Fragmente eines sich selbst fremden Ichs. Rekursiv verweisen die Videobänder auf den Agenten, der Agent auf die Rohrpostsendungen, diese aber auf die fehlerhafte Sprache der Botschaften, jene auf Suleika. Auslöser für die Erkundung des eigenen Inneren ist das Getränk, das den Agenten in einen Rausch, also in einen Zustand des Außer-sich-Seins versetzt. Sich zu verlieren ist die Voraussetzung zur Selbsterkenntnis, die ein permanentes, unerfülltes Verlangen bleibt und zur Sucht – zur Sehnsucht – wird. Das »Wesen menschlicher Wahrheit«, heißt es entsprechend im Text, habe der »Prophet der Revolution« unmittelbar vor seinem Tod, »zum Befremden nicht weniger seiner Anhänger, mit einer läufigen Hündin verglichen. In einzigartigen Versen habe Gahis jeden Versuch, die Empfängnisbereitschaft einer in Hitze geratenen Wahrheit zu verhüllen, der Lächerlichkeit preisgegeben, und es sei ein Jammer, daß ausgerechnet von diesem Fernsehauftritt des Meisters keine Videokopie in den freien Handel gelangen dürfe.« (L, 108 f.)

Unveränderlich und daher ›wahr‹ ist Spaiks Wandlungsfähigkeit, seine Anpassung an das jeweilige Medium, mit dem er kommuniziert und über das er sich schließlich selbst zum Medium macht, sich verflüssigt. ›Wahr‹ im Rahmen des fiktiven Geschehens ist des weiteren die poetische Qualität der Vermittlung, denn sie geht auf »Gesänge« zurück, eine lyrische Gattung, die transportiert und schließlich von Spaik in eine ausufernde Prosa gegossen wird. III. Oberflächen Nicht nur in »Libidissi« ist die Verbindung von Figurenpsyche und Medium die Voraussetzung des Erzählens und ein Getränk der Treibstoff der Handlung. Von Anfang an erweckt etwa Mühler, die Erzähler-Figur in »Barbar Rosa«, den Eindruck, die Geschichte handle von ihm selbst und sei die Erfindung 9 Kramatschek, Claudia: Geister und Behörden. Gespräch mit Georg Klein. In: Neue deutsche Literatur 49, 2001, H. 5, S. 25 – 42, hier S. 40.

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seiner eigenen, überbordenden Phantasie. Das erzählende Ich spiegelt sich in zahlreichen Medien, die zum Gegenstand des Erzählens werden und so mit dem Protagonisten verschmelzen. Schon die Erteilung des »Auftrags«, einen verschwundenen Geldtransporter wieder zu finden, ist an eine Vielzahl von Medien gebunden, die auf das Erzähler-Ich zurück verweisen. Um den Auftrag entgegenzunehmen, tritt der Erzähler in eine schmale, hermetisch verriegelte Kammer und vertauscht seine physische Existenz gewissermaßen mit einer elektronischen: »Von der Decke ist eine winzige Kamera auf mich gerichtet« (BR, 7). Durch ein optisches Medium gelangt das Bild des Ichs bereits vor dem Original in den Raum. Dort nimmt der Gast vor einem Bildschirm Platz, der alle Instruktionen bereithält. Auf der medialen Oberfläche aber erkennt der Erzähler den hinter ihm stehenden Auftraggeber, dessen Spiegelbild mit seinem eigenen auf dem Monitor verschmilzt: »Als endlich die letzten Sätze eine freie, grüne Fläche nach sich zogen, waren darin ganz schwach, wie in einer zweiten oder dritten Schicht des Glases, die rechte Schulter meines Anzugs und Hannsis Kopf gespiegelt.« (BR, 10) Immer wieder starrt das Erzähler-Ich im Lauf der Handlung auf Monitore, von denen es sich Aufschluss über seine Identität und die Beschaffenheit der Wirklichkeit erhofft. So etwa, wenn Mühler in einem Taxi unversehens einen »bunten Bildschirm« im Armaturenbrett entdeckt (BR, 104), oder als die vorbeiziehende Stadt auf den Bildschirmen im Inneren eines »Janus-Dreiradtransporters« erscheint, die die Fenster des Gefährts ersetzen. Schließlich findet sich Mühler inmitten seiner Gegenspieler vor einem Fernsehapparat wieder, der eine beliebte Quizsendung ausstrahlt. Im Verlauf der Sendung erkennt er seinen Auftraggeber, dessen Identität mit der seinen, so darf angenommen werden, identisch ist. 10 Die zur Groteske gesteigerten medialen Transformationen gipfeln in einem Happening, an dem der Detektiv als Fahrer des zum karnevalesken Themenwagen umfunktionierten Geldtransporters beteiligt ist. Steuern lässt sich der Wagen allein durch einen Monitor, der das Ich mit der Außenwelt verbindet. In Umkehrung des sonst gegen einen zu regen Medienkonsum vorgebrachten Arguments hatte Bertini, der Initiator und Spiritus Rector der Performance, Mühler gewarnt: »Da oben [in der wirklichen Welt jenseits des Monitors – der Verf.] sei so viel zu sehen, daß es, wie ein zu großer Schmerz, als Summe Nichts ergeben müsse. Abstumpfung, Gleichgültigkeit im schlimmsten Sinne drohe dem, der partout darauf bestehe, das Wagnis unmittelbaren Schauens einzugehen.« (BR, 194)

Die Realität wird dem Ich zur Illusion, die Illusion aber erscheint als geisterhafte Wiederkehr des Ichs auf dem Bildschirm. »In mattem Schwarzweiß« sieht Mühler die Spiegelung seines Schädels: 10 Der Vorname des Auftraggebers lautet »Hannsi«, der Nachname des Erzählers »Mühler«, zusammengenommen »Hannsi Mühler« – eine Anspielung auf Hans-Peter, genannt Hansi Müller, den ehemaligen deutschen Fußballnationalspieler.

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Christoph Zeller »Ich bin nicht allzu schreckhaft und weiß, daß die Strapazen eines Auftrags am Fleisch meines Gesichtes zehren, aber nie hätte ich gedacht, daß mir jegliche Rundung, alle mildernden Polster, abgeschmolzen werden könnten, daß mir die Haut einmal so glatt und totenmaskenhart über die vorderen Schädelknochen spannen würde. Entsetzt fletschte das Bild vor mir die Zähne, die Lippen rutschten weit übers Gebiß, sogar das Zahnfleisch schien zurückgewichen, und zwischen langhalsigen Hauern torkelte eine dicke Zunge, deren schlammiger Belag eine eigene schlingernde Bewegung zu vollziehen schien. Ich glaubte zu erkennen, daß die mobile Schicht aus aufgeweichter, halbzerkauter Papiermasse bestand. Sogar einzelne Lettern, halbe Wörter konnte ich entziffern, es war, als hätte ich ein Blatt aus einem Buch zerbissen und dann vergessen, es hinabzuschlucken. […] Ich war mir ein Gespenst.« (BR, 198)

In der »mobile[n] Schicht aus aufgeweichter, halbzerkauter Papiermasse« ist das Ende des Buchs als dominantes Medium veranschaulicht. Darüber hinaus erkennt sich Kleins ›Held‹ als tote, mediale Oberfläche, auf der »einzelne Lettern, halbe Wörter« zu lesen sind. Die ›Oberfläche‹ des Ichs gleicht einer medialen Oberfläche und markiert allegorisch die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, Leben und Tod. Denn Kleins Detektiv ist einem Verdacht nachgegangen, den Boris Groys als ein existenzielles Apriori beschrieben hat. Spekulationen über das Jenseits des medialen Scheins führten, so Groys, zur »Neuformulierung der alten ontologischen Frage nach der Substanz, dem Wesen oder dem Subjekt«, das »hinter dem Bild der Welt« wirke. 11 In einem der Erfahrung unzugänglichen »submedialen Raum« würde das Walten einer höheren Instanz als wenig vorteilhaft angenommen: »Hinter der Zeichenoberfläche der öffentlichen Archive und Medien vermuten wir in der Tat unweigerlich Manipulation, Verschwörung und Intrige.« 12 Den Manipulationen seines eigenen Unbewussten trotzend, blickt Kleins Protagonist schließlich in die Fratze seines Ichs. Einen ›tieferen‹ Sinn – seines Lebens und Handelns – kann der Detektiv nicht finden als nur die Wahrheit des Mediums, das sich, seiner Bestandteile bewusst, zur Gefährdung wird: »Blickt die Maschine in ihr eigenes Gehäus und sieht auf ihre Innenwände, auf Räder und Rollen, auf den Drahtverhau der Elektrik und auf die Klötzchen ihrer Elektronik den eigenen frühen Film geworfen, droht Festfraß, Kurzschluß und der Absturz späterer Programme. (BR, 199) In die sinnbildlichen Verweise auf die Mechanik des Menschen ist auch die Psyche einbezogen. Die vor dem inneren Auge entstehenden Bilder unterscheiden sich nicht von den medial erzeugten: »Nach meinem Unfall hatte man mir verschiedene Therapien angeboten, deren teils raffinierte, teils grobschlächtige Verfahren mir helfen sollten, meine Räder wieder in die Bahn zu lenken.« (BR, 152) An die »Psychotechniker« erinnert sich der Ich-Erzähler kaum (BR, 152), 11 Groys, Boris: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München und Wien: Hanser 2000, S. 20. 12 Ebd., S. 21.

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umso mehr an die Details seines Unfalls. Mit zweifach gebrochener Hand im Steuerrad seines umgeschlagenen Bootes verkeilt – »bewegungslos und ohne einen Laut von mir zu geben« –, fand man den Erzähler so tief im hüfthohen Teich, dass ihm »schon beim geringsten Wellengang das Schlucken von Wasser und das Ertrinken« drohte. (BR, 121) Die Ursache des Unfalls war ein SuckoRausch. Sucko sei »der billigste und wirksamste Alkoholverstärker«: Nur mit größter Mühe kann Mühler dem zähen Brei, »den man in heißen Alkoholika auflöst und lauwarm trinkt« (BR 18), abschwören. Aus den Beschreibungen lässt sich schließen, dass die Therapie gegen die Sucko-Sucht aus einer Reprogrammierung des Gehirns durch visuelle Reize besteht: »Ich kann nur kurze Zeit vor Bildschirmen verbringen. Besonders nachteilig wirkt sich das Fernsehen auf meine Nerven aus, wenn es sich um eine kritische Sendung handelt, die in einem aufklärerischen Tonfall untersprochen ist. Mürrisch lehnt sich dann etwas in mir gegen den Geist des Mediums auf, zugleich erfaßt mich eine Müdigkeit so zügig, daß ich, noch bevor ich meinen Ärger äußern könnte, in dumpfen Halbschlaf falle. Mein Chefarzt, Neurochirurg und Physiotherapeut, nannte diesen Effekt berufshumorig unser Götteropfer, weil man die vielen heilsamen Stunden vor den Videosimulatoren, glücklich genesen, paradoxerweise mit eingeschränkter Fernsehtauglichkeit bezahlt.« (BR, 108)

Ob »die vielen heilsamen Stunden vor den Videosimulatoren« für den IchErzähler jemals ein Ende finden, steht zu bezweifeln, und so dürfte es sich bei Kleins Roman um die halluzinatorische Erfahrung seines Protagonisten handeln. Denn allein als Simulation einer Realität, die der Einbildungskraft des Erzählers geschuldet ist, lassen sich die sprunghaften und inkongruenten Handlungslinien, die fehlenden Verknüpfungen und Auflösungen, die allegorischen und wandelbaren Charaktere und das überraschende Ineinander der Schauplätze erklären – Träume im Traum. 13 Eine Ahnung von der eigenen medialen Existenz steigt in Mühler erst auf, als ihm eine »von außen, aus meiner Welt« (BR, 181) geschlagene Delle in der obersten Schicht eines Fernsehapparates zu denken gibt: »So schoß mir jetzt, gekauert vor den Fernsehapparat, die Stirn auf seinem Glas, allerlei Ungerufenes aus dem noch nicht ganz abgeschlossenen Auftrag vor das innere Auge.« (BR, 182) Zu einem Flug, wie er sich nur im Traum einstellt, setzt das Ich auf den 13 Es gibt zahlreiche Indizien für die traumartige Verfassung der Erzählung, die ihren Ursprung in den Halluzinationen des Ich-Erzählers hat. So deuten etwa die Geldscheine, die der Detektiv für die Durchführung des Auftrags vorab erhält, darauf hin, dass der Auftraggeber vom Verbleib des Geldtransporters unterrichtet, in die Machenschaften Bertinis eingeweiht sein und sie sogar selbst veranlasst haben muss: »Viele der Banknoten waren mit Pünktchen eines rosa Lacks verschmutzt, als hätten sie an einem Ort gelegen, wo man mit dieser Farbe sprühte« (BR, 34). Gegen Ende des Romans wird klar, dass das Hallenbad gemeint ist, in dem der gestohlene Geldtransporter mit rosa Farbe versehen und mit Geldscheinen verziert wird.

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folgenden Seiten an und durcheilt, »von jedem Sinn entleert und in klamaukig schnell hüpfender Folge«, die »wichtigsten Gehäuse, in die ich meine Arbeit eingeschlossen hatte« (BR, 182): »In eine der Klüfte drang ich ein. Mein Blickpunkt war bereits unter die höchsten Firste abgesackt, in Regenrinnenhöhe pendelte mein Flug sich ein, so durch die Enge stoßend, schien ich zu rasen, obschon ein simples optisches Maßnehmen verriet, daß ich kaum schneller war als die Fahrmaschinen, die sich über den Grund der Straße schleppten.« (BR, 183)

Nach den Prinzipien der Verdichtung und Verschiebung, die Freud für den Traum geltend machte, 14 bearbeitet der Erzähler die für den Fortgang der Handlung wichtigen Materialien aus seiner Umgebung. Im »Gebrauchttextfundus« der Brüder Lionel und Arnold Ilbich finden sich die Schlüssel zur Lösung seines Auftrags, während der Fortgang des Geschehens wiederum von den Materialien abhängt, die das Traum-Ich vorfindet. Dass dem Detektiv das Fragment eines russischen Comics und die Betriebsanleitung des Janus-Dreiradtransporters würden helfen können, ergibt sich aus der umgekehrten Chronologie des Traums: Längst ist dem Neuen und vermeintlich Überraschenden eine Bedeutung zugewiesen, erklärt sich der Fortgang des Erzählens doch aus dem Ursprung der Symbole, die dem Träumenden immer schon zu eigen sind. Die Progression der Handlung beruht auf der Regression des Ichs in tiefere Bewusstseinsschichten. »Meine Archivare« (BR, 36) nennt das Traum-Ich daher die Brüder Ilbich und bezieht sich auf das Archiv seines Gedächtnisses, aus dem sich die Handlung speist. Kleins Text ist, wie ein Traum, das Produkt einer sekundären Bearbeitung und reflektiert in literarischer Sprache die Voraussetzungen seiner eigenen Entstehung. Im halluzinatorischen Rausch – des Schreibens, Träumens und Trinkens – schöpft das Ich aus dem Fundus der Bilder, um sie in einen kohärenten, wenn auch alogischen, weil rebus-haften, narrativen Zusammenhang zu bringen: »Denn jetzt […] brauchte ich eine zweite Dosis Material, um meinen stockenden Geist durch frische Text- und Bildkanäle wieder in Richtung Auftrag fließen zu lassen.« (BR, 75) IV. Autorfiktionen Aus dem vorgefundenen Material entwickelt der Detektiv in »Barbar Rosa« seine eigene Geschichte. Er wird zum fiktiven Autor der Erzählung, der seine Objet trouvés in einen neuen, narrativen Bezug zueinander stellt. Die Alltagsgegenstände und popkulturellen Fundstücke der fiktiven Autoren kontrastieren dabei einer virtuosen, gehobenen Sprache. Sein poetologisches Verfahren teilt Klein wie beiläufig am Beispiel eines von einer Polin übersetzten russischen Comic-Fragments mit. Ähnliche im Text verstreute Hinweise lassen auf eine Ästhetik schließen, die durch das Geschriebene das Schreiben veranschaulicht: 14 Vgl. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung. In: Studienausgabe. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt/M.: Fischer 2000, Bd. 11, S. 282 – 308.

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Georg Kleins Poetologie »Die Sätze seien mit erlesenen Wörtern und ausgefallenen Wendungen wie garniert und sollten, wenn sie sich nicht täusche, an die Sprache guter Bücher erinnern. Sie selbst habe als junges Mädchen gerne Russisch gelernt und als einzige in ihrer Klasse auch freiwillig russische Literatur gelesen. Mit Grund vermute sie, daß dieser Comicschreiber für einige Stellen die Dialoge bedeutender Romane geplündert habe. Und lachend, große Zähne bleckend, fügte sie hinzu, es sei, als ob die Sprechblasen gestohlenes Gold im Munde trügen.« (BR, 50)

Die Verfahren des Zitats und der Anspielung, insbesondere des Pastiches, der Parodie, der Satire und der Travestie, sind typisch für Kleins Stil. Seine Anleihen bei populären Genres wie dem Spionage-, Detektiv- und Horrorroman, aber eben auch dem Comic, werden, wie erwähnt, von einer eleganten, literarischen Hochsprache unterlaufen. 15 Dem Erzähler in »Barbar Rosa« wird man die selbstattestierte, »stupende Blödigkeit« (BR, 16), die unzureichende Bildung, die beschränkte Lese- und Lernfähigkeit (BR, 12 und 15) kaum glauben dürfen angesichts des reichen rhetorischen Ornaments seiner Sätze: »Selig, wer so den Stachel nicht nur an, sondern auch in sich spürt und als sein eigener Zwingherr das sklavische Prinzip, das er verkörpert, nicht nur ackern, sondern auch peitschen lassen kann. Also pflügte ich den Wildwuchs meiner Phantasterei schnell unter, legte das Feld der Sinne wieder brach für meinen einen Zweck, beschloß, das Treiben im Trockendock samt jenem unerkannten Gegenstand im Rahmen meines Auftrags nutzbringend zu deuten.« 16 (BR, 158 f.) 15 Nicht allein wegen der in seinen Texten aufeinandertreffenden Kulturen und Subkulturen, sondern vor allem wegen der Mischung verschiedener Genres wurden Kleins Texte mit dem Attribut des »Hybriden« versehen; vgl. Taberner, Stuart: A New Modernism or ›Neue Lesbarkeit‹?: Hybridity in Georg Klein’s »Libidissi«. In: German Life and Letters 55, 2002, H. 2, S. 137 – 148 sowie Schmitt, Christian: Der Gang der (V)ermittlungen: Georg Kleins hybride Genrespiele. In: Germanica 39, 2006, S. 75 – 88. Auf »Hybridisierung« als »Kern« von Kleins »Medientheorie« hat auch Willer hingewiesen; vgl. ders.: Rohrpostsendungen. 2002, S. 121. Als einen »entirely problematic mode of identity« deutet hingegen Matthias Fiedler Hybridität; siehe ders.: Crossing the Boundary of the Other: Identity and Physical Violence in Georg Klein’s Novel »Libidissi«. In: Violence, Culture, and Identity. Essays on German and Austrian Literature, Politics, and Society. Hrsg. von Helen Chambers. Oxford und New York: Lang 2006, S. 389 – 399, hier S. 393. 16 Mit Blick auf den Widerspruch zwischen dem geringen intellektuellen Selbstbild und der in »Barbar Rosa« gebrauchten hochkulturellen Sprache bemerkt Klein in einem Interview mit Thomas Combrink (Der unsichtbare Darsteller. Gespräch mit Georg Klein über Zeit- und Geschichtserfahrung. In: Neue deutsche Literatur, 52, 2004, H. 7, S. 13 – 21, hier S. 19): »Jeder literarische Erzähler ist in einem gewissen Maße unwahrscheinlich, weil die Erzählsituation, die ein Text vorgibt, von Anfang an eine künstliche ist. Es gibt Tricks, diese Künstlichkeit wiederum künstlich zu kaschieren, zum Beispiel, indem man in einem inneren Monolog oder in einer erlebten Rede

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Schon in »Libidissi« war die Sprache Spaiks Anlass für einen Konflikt mit seinen Vorgesetzten. Die ausufernden, literarischen Berichte des Agenten enttäuschen die Erwartungen des »Bundeszentralamts«, das nachrichtendienstliche Erkenntnisse in prägnanter und präziser Diktion verlangt. Die Flüssigkeit von Spaiks Stil steht jedoch im Widerspruch zu den überflüssigen »Transelemente[n]« seiner »legendär[n]« (L, 104) Beschreibungen. An ihnen erweist sich die Untauglichkeit des Agenten für das Geschäft der Informationsbeschaffung. Daher sieht die Behörde in Deutschland seine Eliminierung vor und schickt ein Killerkommando in die Stadt Libidissi. Aus der Spannung zwischen rhythmisierter Prosa und prosaischem Gebrauchstext, zwischen dichterischer Ausschmückung und nüchternem Behördendeutsch geht die Erzählung hervor, die zu großen Teilen, so darf angenommen werden, auf den Berichten Spaiks beruht. Anders als das »Bundeszentralamt« erwarten die Leser keine trockenen, nachrichtendienstlichen Beschreibungen, sondern spannende Darstellungen in einer dichterisch gesättigten Sprache. Auch in »Libidissi« ist der Erzähler eine Autor-Figur, die sich durch Mängel auszeichnet. Die fehlerhafte Rechtschreibung entspricht dem verwahrlosten und ungepflegten Äußeren des Agenten, der sich desto eifriger und umsichtiger auf die Entschlüsselung der »Einflüsterungen des großen Rohrpostsenders« – seines Unterbewussten – besinnt. Ähnlich versiert und rhetorisch geschliffen wie seine Vorgänger in »Libidissi« und »Barbar Rosa« äußert sich Lemon in »Die Sonne scheint uns«. Gelegentlich von der Stimme Gabor Cziffras, des ungreifbaren Auftraggebers, beim Vortrag der Geschichte unterbrochen, gibt die sprachliche Finesse des Erzählers Grund zum Misstrauen. Denn ähnlich wie seine Brüder im Geiste, Spaik und Mühler, ist Bitter Lemon die von Saumseligkeit und Defiziten geprägte Figuration eines fiktiven Autors. »Lesen war und ist nicht meine Stärke« (S, 43), gesteht der Erzähler, der sich mit der Lektüre von Comics schadlos hält und dennoch in bestem Deutsch behauptet: »Zu denen, die so beiläufig herrschaftlich über Geschriebenes sprechen dürfen, werde ich, wenn kein Wunder an mir geschieht, nie gehören.« (S, 72) Lemon geht keiner geregelten Tätigkeit nach, schläft mit offenen Augen und gibt sich dem Alkohol hin. Seine Miete steht aus, seine Aussichten sind trüb, und so nimmt Lemon das Angebot Cziffras dankend an, sich in dem abgeschotteten Hochhaus am Alten Salzhafen an der Suche nach der »Sonne«, einer mit geheimnisvollen Zeichen versehenen, versucht, einem allgemein bekannten Jargon treu zu bleiben. So etwas langweilt mich in der Regel zu Tode. Interessanter finde ich den Versuch, die Künstlichkeit des Erzählers über das übliche Maß hinaus zu steigern. Bei den Lesern gibt es eine Bereitschaft, hier mitzugehen, weil der Singsang eines hochartifiziellen Erzählers das euphorische Freiheitsgefühl, das ein Text mit Glück induzieren kann, viel eher möglich macht als der Sermon eines Typs von nebenan. Bitter Lemon […] hat in seiner Not andere hypertrophe Fähigkeiten entwickelt. Er ist trotz seiner Lese- und Schreibstörungen ein Intellektueller eigener Art.«

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»gelochte[n] Himmelsscheibe« (S, 122) von großem materiellen und noch größerem archäologischen Wert zu beteiligen. Die Himmelsscheibe war Teil einer Sammlung, die einst in Ilja Gunter Gors »Museum der Weltmirakel« (S, 125) als Hauptstück ausgestellt wurde. Das Hochhaus, in dem sich die Protagonisten zusammenfinden, wurde den Fundamenten des bei einem Luftangriff zerstörten Museums aufgesetzt. Lediglich ein Film, der bei der glamourösen Eröffnung in den 1920er Jahren aufgenommen wurde, zeigt die Scheibe vollständig, d. h. zusammen mit einem Sichelmond und einem in der Mitte platzierten Bernstein (S, 127). Auch ein antiker Gürtel sowie eine von Runen geschmückte Keule sind zu den Besonderheiten der Sammlung zu zählen und werden im Laufe der Handlung von Bedeutung sein. Denn die Keule erweist sich als Vorbild für jene Tatwaffen, die Lemon bei einer Reihe von Morden verwendet. Das Schnitzmesser und den Lötkolben, mit dem der Erzähler den dem Original abgeschauten Zierrat anbringt, lässt Cziffra gemeinsam mit allen Spuren beseitigen, die Bitter Lemon als Serientäter ausweisen. Ausgelöst werden seine Verbrechen von der Lektüre der auf der Himmelsscheibe sichtbaren Zeichen, die dem sonst nur mühsam lesenden Lemon ohne weiteres verständlich sind, während sie den Lesern der Geschichte bis zuletzt verborgen bleiben. (S, 207) Dass Lesen Böses und Schreiben Sterben verheißt, bindet die allegorische Darstellung von Autorschaft ebenso ironisch wie traditionsbewusst z. B. an Kafkas »In der Strafkolonie«. Lemon begreift sich als »Buchhalter« Gabor Cziffras (S, 11), dem Kopf des Unternehmens. Gelegentlich als Deus ex Machina ins Geschehen eingreifend, sitzt Cziffra in einer Kammer über dem Aufzug des Hochhauses und kontrolliert seine »Schiffsmannschaft« (S, 61) durch eine Vielzahl an Mikrofonen. Geräusche und Gespräche fügen sich für ihn zu einem »Horchbild« (S, 122) zusammen. Das Manko eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit weiß Cziffra erfindungsreich zu kaschieren. Seine schriftlichen Mitteilungen – auf rätselhafte Weise zu Papier gebracht – verzichten auf Leerzeichen und Großschreibung. Seinem Namen entsprechend ist das Entziffern Programm. Seinen Briefen eignet dabei eine »schnörkellose Funktionalität«, die »seiner Mitteilung etwas kalt Modernes« verleihen. (S, 72) Der Hinweis auf Profanes hebt die göttergleichen Attribute Cziffras – sein Schweben über den Dingen, seine geheimnisvollen Auftritte, seinen sagenhaften Reichtum – hervor. Mehr als hundertjährig und gleichsam alterslos ist er väterlicher Beschützer, strenger Richter und verhängnisvolles Schicksal in einem. Anspielungen auf die germanische Mythologie finden sich im Text zuhauf und lassen darauf schließen, dass es sich bei der Cziffra-Figur um eine Konfiguration des höchsten Gottes, Odin, handelt. 17

17 »Funny fühlt Papa Sonne kommen«, heißt es in einem Abschnitt: »Weiter und weiter hat sich Papa Sonne als eine pralle Hitzekugel, vom Gleiten ganz leicht zum Ei verformt, den Schacht heraufgeschoben. In Richtung Wäldchen, hin zu Funny. Hin zu den Geistern. Hier ist Walhalla.« (S, 162)

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Die Etymologie des Namens Odin verweist auf die Dichtkunst (vgl. altnordisch ódr = »Stimme, Gesang, Leidenschaft, Dichtung«). Der höchste germanische Gott trägt in der »Lieder-Edda« zudem den Beinamen »Liodasmieder« (= Liedermacher), ist also ein Dichter. Wie bei Cziffra, so ist Odins Gesichtsfeld eingeschränkt. Um vom Brunnen Mimirs zu trinken, opfert er ein Auge. Am Weltenbaum Yggdrasil hängend, erfindet er die Runen. Seit den frühesten bildlichen Darstellungen wird Odin gemeinsam mit seinem Sohn Thor dargestellt. Thor wird den Gewalten des Himmels zugeordnet; die indogermanische Wurzel des Begriffs »Himmel« geht auf ›Stein‹ und ›Amboss‹ zurück. Der mit einem Hammer ausgestattete Thor galt als mächtiger Krieger. Mit einer Keule versehen, verwandelt sich Lemon in Kleins Roman zu Thor und entscheidet über Leben und Tod im Auftrag Odins/Cziffras. Seine Taten orientieren sich am Lauf des Mondes, seine Instruktionen entstammen geheimnisvollen Runenzeichen. Die Briefe Odins/Cziffras liest Lemon mit Leichtigkeit – nicht anders als die Symbole auf den archäologischen Fundstücken, die ihm für kurze Zeit in die Hände fallen. Die Runenschrift zu lesen, bereitet dem »Gehemmte[n], ja chronisch Verstockte[n]« keinerlei Mühe: »Sein Zeigefinger schob sich von Zeichen zu Zeichen über die matt oxidierte Bronzescheibe. Hauchlos sprachen die Lippen den mit den Augen und Fingerkuppe abgenommenen Text.« (S, 122) Rechenschaft über die Aktionen der »Schiffsmannschaft« legt Lemon in einer »Kladde« ab. Sie ist, wie das Manuskript- und Konzeptbuch eines Autors, ein wertvolles, von einem privaten Idiom geprägtes Unikat. Seine Aufzeichnungen sind in Runenschrift gehalten und nur Eingeweihten verständlich: »Wie ausgemessen sind stets fünf große Zeichen zu einer Gruppe formiert, und jeweils zwei dieser akkuraten Blöcke bilden eine Zeile. Vita [einer der fünf mit der Suche nach der Sonne beauftragten Protagonisten – der Verf.] weiß nicht einmal, ob hier Lettern zu Wörtern oder Ziffern zu Zahlen beieinander stehen. Denn kein einziges der Zeichen ist ihm geläufig. Er kann nicht sagen, ob die spiegelverkehrte Eins, die doppelt den Anfang macht, einen Lautwert besitzt oder vielleicht nur eine verschriebene Elf bedeutet. Einige Zeichen erkennt er wieder, ohne sie zu kennen. Erst vorhin, als er die Keule auf dem Kühlschrank abgelegt hat, sind sie ihm, ins Holz der Waffe eingraviert, aufgefallen: der zweistufige Blitz, der Kreis mit Innenpunkt, das dreiarmige Ypsilon, vielleicht ein stilisiertes Bäumchen oder ein Krähenfuß, und die Sichel, die mit ihren Spitzen nach unten weist, als stürze ein schmaler Mond vom Himmel.« (S, 142)

Wie in »Libidissi« und »Barbar Rosa« steht auch in »Die Sonne scheint uns« der Reichtum erzählerischer Ausdrucksweisen im Widerspruch zum defizitären Erscheinungsbild des fiktiven Autors. Je gefährdeter der Erzähler, desto variabler und schillernder die Erzählung. Klein bietet eine Variante von der Auflösung individueller, im Erzählen evidenter Autorschaft, präziser: Er macht die Gefährdung des Autors zum Ausgangspunkt eines narrativen Verfahrens, das Autorschaft als peripher, gerade deshalb aber als interessant und erzählenswert

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darstellt. Gerade im Außergewöhnlichen, Abseitigen und Bizarren bestätigt sich Kleins Sicht auf die (fiktive) Wirklichkeit. In seinen phantastischen Archiven – den Stätten zwischen Historie und Politik, Archäologie und Technologie, Wahrheit und Traum – finden sich die Spuren einer auf Subjektivität gründenden Epoche, die etwa von Barthes und Foucault der Vergangenheit zugewiesen wurden. 18 Klein erinnert an diese Epoche durch den Gestus subjektiven Erzählens, der in den Erzählerfiguren ironisch gebrochen zur Anschauung kommt. Seine fiktiven Autoren verlieren sich im Redefluss der Weltliteratur: in der antiken Mythologie ebenso wie in den populären Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts, im Reisebericht, im Journalismus und auch im Jargon von Gebrauchstexten. Subjektivität ›verflüssigt‹ sich in der Vielstimmigkeit verschiedener Textsorten und Gattungen, die zu hybriden, textuellen Gebilden ineinanderfließen. 19 V. Metaisierung der Literatur Kleins ästhetische Strategie erschließt sich aus der Bildersprache seiner Romane. In Bildern der Verflüssigung wird etwa die Fähigkeit zur Aneignung und Verwertung kultureller Versatzstücke angezeigt. Sie sind zugleich Allegorien des Medialen, denn Medien sind Formen der Übertragung, in denen sich das Dargestellte mit der Art und Weise der Darstellung – der technischen Vermittlung ebenso wie den gattungsspezifischen Modi – verbindet. In Allegorien verweist der jeweilige Text auf die Bedingungen seiner Entstehung. Der Entstehung von Texten jedoch geht die Lektüre des literarischen Kanons voraus, zu dem Klein einen umfangreichen Bestand trivialer und funktionaler Texte zählt. Aus diesem Kanon durch Zitat und Anspielung zu schöpfen, heißt ihn zu verflüssigen und das gewonnene Material in eine neue Form zu übertragen. Die Allegorisierung hebt dabei die poetologische Selbstreflexion in den Stand des Ästhetischen, denn sinnbildliche Darstellung ist ein Merkmal literarischer Hochsprache. Ihr ästhetisches Fluidum erhalten Kleins Texte letztlich durch ihre Metasprache, in der die oft dem Trivialen und der Kolportage angelehnte Handlung aufgehoben wird. Der jeweilige ›Auftrag‹ – zur Spionage, zur Aufdeckung eines Verbrechens, zur Auffindung

18 Vgl. Barthes, Roland: Der Tod des Autors. In: Jannidis, Fotis u. a. (Hgg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2000, S. 185 – 193; Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: ebd., S. 198 – 229. 19 Die Figuren in »Die Sonne scheint uns« entbehren daher einer Identität. Ihre »bürgerlichen Namen« haben sie »für die Dauer des Auftrags« (S, 23) gegen die Namen von Getränken eingetauscht, die sie in einem schlecht funktionierenden Kühlschrank auf der zehnten Etage des verlassenen Hochhauses gefunden haben: Funny, Vita, Light, Still und Lemon. Das Spiel mit pop-kulturellen Versatzstücken nimmt Klein beim Wort. Soda-Pop steht für das Prinzip der Verflüssigung, das sein ästhetisches Verfahren auszeichnet: die Aneignung, Verarbeitung und Zubereitung literarischer Zutaten zu einem bekömmlichen, ästhetischen Cocktail.

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verlorener Gegenstände – gerät zur Nebensache, und die Besinnung auf den ästhetischen Rahmen und die Art und Weise der Darstellung rückt ins Zentrum. Kunst – als Veranschaulichung dieser ästhetischen Prinzipien – erfährt in Kleins Romanen folgerichtig eine hohe Wertschätzung. In »Die Sonne scheint uns« begeben sich die Protagonisten auf die Suche nach Artefakten. Ein ehemaliges Kunstmuseum bildet den Ort des Geschehens. Man hält Lemon lange Zeit für einen Künstler und kunstvoll sind die Verzierungen auf seinen todbringenden Waffen. »Die Kunst kennt keine Neuigkeiten!« (S, 202), gibt Martha Mutschereit, Lemons Vermieterin und eines seiner späteren Opfer, mit dem sicheren Gespür der Dilettantin zum Besten und formuliert damit eine von Kleins ästhetischen Prämissen. Neu ist indessen die Umgebung, in der ein solcher Satz fällt: eine heruntergewohnte, muffige Küche, die einer kleinen Sitz­ecke und einem großen Fernseher leidlich Platz gibt. Der Gegensatz zwischen hochkulturellem Dogma und popkulturellem Ambiente bildet ein Charakteristikum von Kleins literarischer Ästhetik, die Verwendung von Versatzstücken aus den so unterschiedlichen, für die Kunst bedeutungsvollen Umgebungen ein anderes. Denn auch das Alte ist einmal neu gewesen und erneuert sich im Augenblick seiner Wiederentdeckung. Für die Gegenwart der Protagonisten ist daher gerade das Älteste – das archäologische Artefakt und selbst noch der Mythos – von größter Brisanz. Derartige Verschiebungen des chronologischen und räumlichen Gefüges im Namen der Kunst lassen sich auch in »Barbar Rosa« beobachten. In dessen Mittelpunkt steht Bertini, ein Künstler, der die Programmatik des Happenings aus den 1960er und 1970er Jahren auf die Spitze treibt. Die Straße habe das Theater zu ersetzen, die Zuschauer sollten zu Mitwirkenden werden, die Umgebung müsse den Rahmen für künstlerische Aktionen abgeben, hieß es etwa bei Joseph Beuys, Wolf Vostell und Allan Kaprow, die allesamt Kunst und Leben gleichsetzen wollten. Bertini macht sich einen Namen durch öffentliche Auftritte, bei denen er Abscheu und Ekel provoziert – die Ästhetisierung eines Gefühls, das Performance-Künstler wie Chris Burden, Hermann Nitsch und Marina Abramović zu nutzen wissen. 20 Den Geldtransporter hat sich Bertini als ästhetisches Objet trouvé angeeignet, nachdem ein abgestürztes amerikanisches Transportflugzeug die Führerkabine des Fahrzeugs in Brand gesetzt hatte und die beiden Insassen ums Leben gekommen waren. Der Wagen soll, Bertinis Absichten zufolge, im Mittelpunkt einer Aktion stehen, die den Kult ums Geld anprangert. Als modernes Leitmedium verweist Geld im literarischen Kontext 20 Bertinis erste Performance besteht darin, sich in einer möglichst voll besetzten UBahn eine Pustel auszudrücken: »Sofort nach diesem pfloppenden Geräusch floß grünliche Flüssigkeit über Bertinis Nasenspitze. Der Eiter tropfte ihm auf Kinn und Brust, schleimte in einer Menge aus dem Pickelloch, die seinem Ursprung gar nicht angemessen war – und eben dieses übertriebene Maß des eklen Flusses verhinderte, zusammen mit der Größe unseres Ekels, daß wir, die Fahrtgenossen, Bertinis auserwähltes Publikum, an der Erscheinung Echtheit zweifeln konnten.« (BR, 25)

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auf die Krise der Schrift und auf die Natur des Medialen, denn Geld reproduziert und simuliert die Welt nach quantitativen Richtlinien. 21 Bertini widersetzt sich dieser auf rein quantitativen Maßstäben beruhenden Simulation. Nackt, nur mit einer Girlande aus Geldscheinen bekleidet, plant er, sich auf dem rosa bemalten und mit Geldscheinen verzierten Transporter zu zeigen und »Geld über Geld auf die Passanten [zu] streuen. Aus heiterem Morgenhimmel sollten die wohlbekannten Scheine denen vor Augen kommen, die ihrem Broterwerb entgegeneilten. Allerdings würden unsere so beschenkten Zeitgenossen bestenfalls halbe, meistens sogar zu Drittel-, Fünftel- oder Zehntelstreifen zerschnittene Banknoten in ihren Fingern finden, und ihr Bemühen, das ihnen zugefallene Teilglück zu ganzen Noten zu ergänzen, müsse ausgerechnet an der Unzahl der umherflatternden Scheine scheitern.« (BR, 195)

Den für Bertinis Aktionen typischen Ekel-Effekt garantieren die präparierten Leichen der beiden Fahrer, die in der umgebauten Frontkabine platziert werden. Bertini zwingt Mühler, zwischen den mumifizierten Leibern Platz zu nehmen, um den Wagen, von außen unsichtbar, über einen Bildschirm zu steuern. Durch diese Performance wird der Zwang zur Kunst, der Exhibitionismus der Kunstschaffenden, die Verbindung von Ästhetik und Profit, vor allem aber die Medialisierung der Realität, d. h. ihre Verwandlung in Ziffern und Pixel, in Szene gesetzt. Von dieser Verwandlung berichtet der Erzähler, der das Erlebte in sprachliche Zeichen überträgt. Die in »Barbar Rosa« beschworenen Medien – Computer, Telefon, Faxgerät, Fernseher, Geld – erzeugen jene Bilder des Wirklichen, die Jean Baudrillard als »Simulakren« 22 bezeichnet hat. Dem Erzähler in Kleins Roman kommt es zu, die simulierte Wirklichkeit durch eine Vervielfachung des Scheins (die mit der Zerstörung der Scheine korrespondiert) grotesk zu steigern. Denn die Bilder, die das erzählende Ich auf dem Monitor sieht, sind dessen erzählerische Produkte. Sichtbares wird als Lesbares visualisiert, Lesbares durch Sichtbares ins metaästhetische Bild gehoben. Die Wirklichkeit ähnelt jenem Traum, den Mühler 21 »Geld macht die Welt lesbar. Denn Geld regiert und strukturiert die Welt: es orientiert sie auf das Knappe, Gute und Teure hin. Und Geld macht die Welt überdies aufrichtig, kalt und indifferent lesbar. Geld macht nämlich keinen Hehl daraus, daß es die Lesbarkeit der Welt unter einem und nur einem Focus organisiert, herstellt, einrichtet und so insgesamt simuliert.« Hörisch, Jochen: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996, S. 67. 22 Jean Baudrillards Konzept des Simulakrums beruht auf einer Theorie des Geldes: »Das Geld ist die erste Ware, die Zeichenstatus erlangt und dem Gebrauchswert entkommt. Es ist die Verdopplung des Tauschwertsystems in einem sichtbaren Zeichen, und in dieser Eigenschaft das, was den Markt (und damit auch den Mangel) in seiner Transparenz veranschaulicht. Aber heute geht das Geld einen Schritt weiter: es entkommt sogar dem Tauschwert. Vom Markt selbst entbunden, wird es zum selbständigen Simulakrum: jeglicher Botschaft und jeglicher Tauschbezeichnung entkleidet, wird es seinerseits zur Botschaft und tauscht sich mit sich selber aus.« Ders.: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin: Matthes und Seitz 2005 [im Original 1976], S. 42.

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für seinen subjektiven Seins-Modus ausgibt. Seine Realität besteht allein in der Erfahrung, ein symbolisches Wesen zu sein, das sich in der Welt nicht anders als durch Zeichen, das wiederum heißt: mit Hilfe von Medien zurechtfindet. Literarische Selbstreflexion erschöpft sich nicht in einer immanenten Ästhetik, sondern verweist auf die anthropologischen Grundlagen menschlicher Existenz. Die Darstellung von Medien fällt für Klein in eins mit der Beschreibung des Menschen, der sich seiner Medien bedient und mit ihnen verschmilzt: »Ich habe einen hohen Begriff von Medialität. Es flößt mir Ehrfurcht ein, zu sehen, wie ein Medium seine Oberfläche verändert, wie sogenannte Inhalte, Geister also, gleichsam aus dem Nichts Gestalt annehmen. Vielleicht bleibe ich zeitlebens der vierjährige Knirps, der in den fünfziger Jahren zum ersten Mal beobachtete, wie die Mattscheibe eines Fernsehers ein Bild aufscheinen läßt. Oder noch mehr ins Magische gewendet: Wenn wir erleben, wie ein Mensch von einem Dämon, von Haß oder Liebeswut ergriffen wird und dann eine Zeitlang ganz dieser Geist zu sein scheint. Das gehört sicher zu den bestürzendsten, aber auch beglückendsten Beobachtungen und, wenn es uns selbst geschieht, zu den großen Erfahrungen der Psyche. Da muß die Kunst hinwollen.« 23

Der Literatur kommt in den ästhetischen Metatexten Kleins dabei eine besondere Bedeutung zu. Sind seine erzählenden Protagonisten Konfigurationen fiktiver Autoren, so entscheidet deren Lektüre, Analyse, Deutung, Aneignung und Verarbeitung von Texten über den Verlauf und den Ausgang der Handlung. 24 Immer sind es Schriftzeichen, in die sich für die fiktiven Autoren die Welt verwandelt: Runen, die in den germanischen Mythos entführen (»Die Sonne scheint uns«), Comics und Betriebsanleitungen, die einen Traum in Gang setzen (»Barbar Rosa«) sowie Berichte, die sich auf Gesänge stützen und wegen ihres dichterischen Überflusses zur Gefahr werden (»Libidissi«). Literarische Selbstreflexion dient daher nicht zuletzt der Verortung von Literatur im Konzert der Medien. In ihr sind – Kleins Poetologie entsprechend – alle anderen Medien enthalten. Sie ist für den Autor das Hypermedium, das die mediale Vielfalt beschreibt und in Buchstaben bannt. Klein ist sich dabei der Vorteile, die der literarischen Sprache eignen, bewusst. Im Gespräch mit Claudia Kramatschek erinnert er an die im Film angewandte »Technik des morphing, mit der man zwischen einzelnen digitalisierten Bildern einen gleitenden Übergang erzeugen kann. Aber: Das kann die Literatur schon lange. Und ich wage zu behaupten, auf ihrem Gebiet mindestens genauso gut, wenn nicht besser.« 25 23 Kramatschek, Geister und Behörden. 2001, S. 40. Zur Verschmelzung von Subjektivität und Medialität vgl. Jahraus, Literatur als Medium. 2003, S. 301: »Wo das Subjekt fungierte, fungieren die Medien.« 24 Entsprechend erklärt Schmitt (ders.: Der Gang der (V)ermittlungen. 2006, S. 88) die Pro­tagonisten Kleins zu »Allegorien der Literatur«. 25 Kramatschek, Geister und Behörden. 2001, S. 41.

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Marina Potyomina Wolfgang Hilbigs »Das Provisorium« und Thomas Hettches »Nox«. Zu östlichen und westlichen Denkfiguren in der Nachwendeliteratur

Für die deutsche Literatur nach der Wende scheinen Dialog und Wetteifer charakteristisch zu sein. Der Wetteifer beschränkt sich jedoch nicht nur auf einen Konkurrenzkampf um die Gunst der Leser. Es entsteht vielmehr der Gedanke, dass die deutschen Schriftsteller von heute die Wende als ihre eigene Chance ansehen, sich neu entfalten und ausdrücken zu können, und um die Wette mit dem Thema experimentieren. Während manche Schriftsteller sich auf sich selbst und auf ihr Schaffen konzentrieren, sind sie, ohne es zu wissen, längst zu aktiven Teilnehmern eines Dialogs geworden. Es ist aber nicht nur ein Dialog mit dem Leser und den Kollegen aus dem Literaturbetrieb. Man nimmt unwillkürlich an einem Disput zwischen Ost- und Westdeutschen, dem östlichen und westlichen Europa, zwischen Deutschland und der ganzen Welt teil. Denn in diesem historischen Kontext, indem der Autor und sein Werk existieren, wird jedes künstlerisch gestaltete Wort, jeder Text, der auch nur indirekt das Thema der Wiedervereinigung streift, als ein Zwischenruf oder gar als eine Stellungnahme in der mehrstimmigen Literaturwelt der Nachwendezeit wahrgenommen. Wahrscheinlich ist auch aus diesem Grund das unverwandte Interesse der Kritik und des Publikums am »Roman zur Wiedervereinigung« so groß. Der »ideale Roman der Wiedervereinigung« ist aber ein Trugbild, eine weitere Utopie. Denn um solch ein Literaturwerk erschaffen zu können, müsste man die ganze Erfahrung, die sowohl von den Ost- als auch von den Westdeutschen während der Vorund Nachwendezeit gesammelt wurde, zusammenbringen. Und dieses Gemisch soll die verschiedenen Sichtweisen nicht nivellieren, sondern sie akkumulieren. Man könnte vermuten, dass der innere und äußere, d. h. der explizite und implizite Dialog bei den west- und ostdeutschen Schriftstellern a priori nach einem anderen Muster abläuft. Wenn man aber zwei Romane von einem ost- und von einem westdeutschen Autor (und zwar: Wolfgang Hilbigs »Das Provisorium« und Thomas Hettches »Nox«) zur Untersuchung heranzieht, kann man sehen, wie sehr diese zwei Denkprozesse sich auf die eine oder andere Weise miteinander verbinden und zu wunderlichen, gar bizarren dialektisch- komplizierten Mustern verflechten.

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Im Roman »Provisorium« von W. Hilbig wird das Problem des ambivalenten Lebens des Individuums in einer gewollten aber fremden Umgebung geschildert. Auf der einen Seite strebt der Protagonist dem Westen zu, weil er im Tapetenwechsel die Chance für die eigene künstlerische Entfaltung ohne Zensur und Einschränkung erkennt. Auf der anderen Seite wird er von der Inspiration verlassen. In seiner Schilderung stechen gleich zwei dominante Konzepte heraus, und zwar die Konzepte der »Freiheit« und der »Grenze«. Die erste Erscheinungsform der Freiheit ist die Freiheit des Grenzübergangs: Der Held kann sich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass es ihm gelungen ist, in den Westen zu kommen. Da diese Freiheit ihm immer noch ungreifbar, imaginär und trügerisch erscheint, ist er ständig unterwegs, am häufigsten aber passiert er die deutsch-deutsche Grenze. Weder im Osten noch im Westen findet er Halt. Die Rückkehr in die Wirklichkeit bringt ihn wieder zu den alltäglichen Problemen zurück: Schaffenskrise, Unsicherheit und Daseinsschwankungen. Den Ausweg sieht er nur im Dämmerzustand des Alkoholrausches. In der Situation der existenziellen Verlorenheit bewahrt ausgerechnet die Grenze ihn vom unabwendbaren Verfall der Persönlichkeit. Man kann aber nicht sagen, dass die äußeren Umstände den Helden daran hindern, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Er hat eigentlich alle Voraussetzungen, um im Westen glücklich zu leben und zu arbeiten. Er hat ein Stipendium von einer literarischen Gesellschaft erhalten und in einem literarischen Wettbewerb eine hohe Preissumme gewonnen. Trotzdem hilft ihm das nicht, und es kommt noch schlimmer: er hört ganz auf zu schreiben, denn sein Schriftstellersein verbindet er nur mit der DDR. Nur da konnte er schreiben. Hier, im Westen, kann er »zu seiner Eigenschaft als Schriftsteller nicht zurückfinden«, weil er »von deren Ursprung, der ihm wie ein Existenzbeweis vorkam […] für immer abgeschnitten war.« 1 Allegorisch wird seine Inspirationsquelle mit einem Wald verglichen, »in dem es dunkel wurde…« und das »abseits hinter einer Grenze lag, über die er nicht zurückkonnte.« (P 259) Die Welle der Panik wird durch den Alkohol gedämpft. Aber sogar die Alkoholsucht »hielt in der DDR unauslöschliche Bilder bereit.« (P 27) Der Schriftsteller C. leistet also keinen Widerstand. Der Freiheitserhalt stellt sich als künstlerisches Unvermögen heraus. Die Grenze versus Unfreiheit in Form einer Schaffensimpotenz wird zum Grund für die totale Niederlage. Er befindet sich in einem grenzwärtigen Zustand und kann und will die Möglichkeiten einer provisorischen Übergangsphase in seinem Leben und seiner Kariere als Schriftsteller nicht als Sprungbrett für ein sinnvolleres, inhaltsvolleres und beständigeres Leben nutzen.

1 Hilbig, Wolfgang: Das Provisorium. Frankfurt/M.: S. Fischer 2000, S. 25; fortan im Text gekennzeichnet durch die Sigle (P Seite).

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Östliche und Westliche Denkfiguren – Wolfgang Hilbig und Thomas Hettche

Das Thema der Grenze spiegelt sich auch in Gestalt eines »provisorischen Grenzzustandes« wider, in dem sich der Protagonist befindet. C. versucht nicht einmal sein Leben zu ordnen. Sogar in der Wohnung hat »er nie die geringsten Anstalten gemacht, sich diese wohnbar einzurichten.« (P 20) Im Gegenteil, »es war, als ob er unablässig Zeichen setzen musste für den provisorischen Charakter seines Daseins.« (P 20) Und als wäre das nicht genug, hofft er, dass die äußeren Umstände ihm dabei helfen, diesen inneren Zustand noch greifbarer zu machen. Er sucht fast nach einem Anlass, sich nochmal davon zu überzeugen, dass seine Einstellung auf das Provisorische und die Vergänglichkeit des Moments gerechtfertigt ist. Mit dem Rücken zur Wand, an der Grenze der eigenen Möglichkeiten, gerät C. in eine Pattsituation. Wenn die reale Grenze verschwindet, bleibt sie in Form einer fixen Idee des Helden zurück, der seinen Platz in der neuen Lebensrealität nicht gefunden hat. Das Unbeendete, das Unfertige und nicht bis zum Ende Empfundene wird zur Dominante seines Lebens, zum provisorischen Zustand ohne Anfang und Ende. In dieser Erfahrung des Grenzzustandes wird ein provisorischer Raum erschaffen, in dem die neue Realität und die alte Erfahrung zusammenstoßen und einander widersprechen. Symbolische Bedeutung erhalten für den Protagonisten dabei die »unausgeräumten Umzugskartons.« (P 21) Auf der einen Seite sind das die Symbole des provisorischen Zustandes, in dem sich der Held befindet und den er mit allen Kräften aufrechtzuerhalten versucht. Auf der anderen verdeutlichen »zwei dieser Kisten […] das Unaufgearbeitete. Sie waren zwar vorhanden, sie standen vor ihm, sie standen ihm dauernd im Weg, aber sie waren die Gegenwart eines Verlustes.« (P 21)

Unter diesem Verlust kann man auch das verschlüsselte Wissen verstehen, das seine Bedeutung im Westen verlor. Der Held versteht mit Entsetzen, dass eine unüberwindbare Grenze zwischen Gestern und Heute, zwischen der Wahrnehmung der Umwelt und der unverbrüchlichen Gesetze des Lebens in der DDR und der BRD existiert. Das, was in der DDR wichtig und monumental erscheint, wird in der BRD zum Objekt des Kaufes und Verkaufes, zu einer MarketingStrategie. Während in der DDR immer noch die entsetzlichen Ereignisse wie »Holocaust & Gulag« spührbar sind und verarbeitet werden, zelebriert man im Westen »Shopping und Fun«. Deswegen wird das in den Büchern dokumentierte, beschriebene und erfasste Wissen des 20. Jahrhunderts von C. in die Kisten gepackt und wie von einem Gefängniswärter bewacht. Die Geschichte des orientierungslosen Lebens des Protagonisten ist eine Variante der vom Autor aufgestellten Prognose über die unvermeidlich werdende Entfremdung zwischen dem Osten und dem Westen. Wie das öffentliche Leben, das in den Abgrund herabrollt, ohne jegliche Grenzen und Einschränkungen, so befindet sich auch die Literaturgesellschaft nach Meinung des Helden am Rande einer Katastrophe. Ekel in ihm erregt der

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Rummel um die Literatur des Ostblocks, besonders »die Zustimmung, die er geerntet hatte, für seine Anwürfe gegen das System und die Zustände drüben …« (P 71) Im Westen spürt er das Ende der Literatur, denn sie dient nur der Zerstreuung des Publikums; die »kritische Phase der Literatur war vorbei«, (P 71) meint der Held. Diese Entwicklung ist ein Vorbote des Endes, es ist, als ob man »Leichen zum Gelag« (P 71) lud. Es wundert also nicht, dass C. sich hier wie in einem Käfig vorkommt. Übrigens ist auch die DDR in seiner Vorstellung ein verschlossener Raum. Denn »wenn er einmal drin war im DDR-Käfig, dann war er drin.« (P 31) Um diesen verschlossenen Raum, der von den Toten nur so wimmelt, verlassen zu können, muss man selbst zu einem Toten werden. Jedes Mal, wenn C. sich betrinkt, hofft er, dass er gestorben ist, denn nur der Tote kann aus diesem Kreislauf des Kaufens und Verkaufens herauskommen. Auf diese Art und Weise versucht er den Seelenfrieden hinter der Grenze (am Abgrund) zu finden, um dort ein anderes, wahreres Leben zu beginnen. Das Motiv des Sterbens wird auf der einen Seite als Möglichkeit des Übergangs von einem Zustand in einen anderen angesehen, d. h. als ein Ausweg aus einer scheinbar ausweglosen Situation. Auf der anderen Seite wird mit dem Tod (im metaphorischen Sinne des Wortes) die Rückkehr in die DDR assoziiert. Denn wenn die Flucht aus der BRD erfolgt ist, wird er »für die Bundesrepublik unauffindbar und gestorben« (P 31) sein. Schaffenskrise und Verzweiflung äußern sich in dem hilflosen Zustand des Protagonisten. Dies alles führt zur Desorientierung in der Umwelt: der Schriftsteller C. irrt durch die Stadt umher, verpasst die Haltestellen, verirrt sich sogar im Gebiet des Bahnhofs. Sogar seine eigene Wohnung verwirrt ihn. Die Sprache verwandelt sich in eine Reise durch ein stürmisches Meer und ruft nur Schwindelgefühl und Übelkeit hervor. Wie die Romanhelden von Sartre und Kafka ist C. schwach und überflüssig, und seine Übelkeit ist nur ein Zeichen der Furcht vor der absurden Existenz. Die Realität grenzt sich vom Helden durch die Wand seiner eigenen Empfindungen ab. Er nimmt die Wirklichkeit durch die Fetzen seiner Träume und Halluzinationen wahr. Die Grenze zwischen der Realität und Irrealität verwischt allmählich. Desto verwunderlicher ist es, dass C., der völlig degradiert ist, die Fähigkeit nicht verliert, das Geschehene zu analysieren. Im Gegenteil, er beginnt die Wirklichkeit noch klarer und zynischer wahrzunehmen. Die Orte, die Räume und Figuren führen bei Hilbig ein Doppelleben, das aus Erfahrung und Halluzination besteht. Wie früher jongliert der Schriftsteller mit den Begriffen der einander entgegenwirkenden Welten: der überirdischen Welt und der unterirdischen Welt der Katakomben. Der Aufenthalt in München endet für den Helden mit der Einweisung in die psychiatrische Klinik Haar. Den Weg dahin findet C. endlos und die Gegend »unheimlich«. (P 43) Dieser Weg erinnert ihn an den Weg zur Grenze. Die Klinik ist mit einem Zaun versehen, »der seltsam harmlos« (P 43) aussah. Hier in der Klinik und geschlossenen Anstalt »spürte er plötzlich Frieden«. (P 46) In Hilbigs

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Östliche und Westliche Denkfiguren – Wolfgang Hilbig und Thomas Hettche

Phantasie erhält dieser Ort die Gestalt einer Schwelle zur Hölle, gleichzeitig ist es aber auch das Fegefeuer, das den Protagonisten und den Leser im Glauben lässt, dass alles einen guten Ausweg haben wird und alle symbolhaften, imaginären und inneren Grenzen vom Helden überwunden werden. Im Unterschied zu Hilbig lässt Thomas Hettche in seinem Roman »Nox« den Schriftsteller ganz am Anfang des Romans sterben. Er wird Opfer eines Mordes und ist die Leiche, die uns von der Nacht der Wiedervereinigung berichtet. Das Bizarre an der Situation ist, dass der Schriftsteller von den angefangenen Veränderungen in seinem Land, schlimmer noch, von seiner eigenen Stadt umgebracht wurde. Denn hinter der Maske der Mörderin, die ihren Namen vergessen hat und deswegen fast wie C. in Hilbigs Roman desorientiert, verwirrt und verloren durch die Strassen irrt, versteckt sich die vor ein paar Jahrzehnten in zwei Teile getrennte Stadt. Die Stadt, die in dieser schicksalhaften Nacht ihre Vergangenheit schon verloren, aber die Zukunft noch nicht erworben hat. Der Idee Roland Barthes vom »Tod des Autors« kommt im Kontext dieses Romans eine andere Bedeutung zu. Es scheint so, als ob der Schriftsteller sich selbst gern zurückgezogen hat und froh scheint, die Last der Schriftstellerverantwortung ablegen zu dürfen. Er schließt sich von vornherein aus der Gruppe der Geschichtsschreiber sowie der Schöpfer, die das Mosaikbild der Wiedervereinigung zusammenlegen, aus. Er kann und will mit seiner Stimme in diesem Chor der Wende-Zeugen nicht mitwirken, denn diese Nacht wird auch so in unzähligen Erinnerungen und in verzerrten, toten Abbildungen auf Fotos und Fernsehbildschirmen weiterleben. Dabei hat er die Chance, viel mehr von der Stadt zu erfahren, als sie normalerweise zulässt. Im wahrsten Sinne des Wortes kann er die personifizierte Stadt »für einen Moment so sehen, wie niemand sie kannte, ihr geheimes Gesicht und Lust darin.« 2 Aber diese Erkenntnis erschreckt ihn und er nimmt die Herausforderung nicht an. Selbst die Vorahnung der kommenden Veränderungen macht ihm Angst und lähmt seinen Willen. Die unterbewusste Angst verwandelt sich genauso wie bei dem Schriftsteller C. bei Hilbig in Kopfschmerzen, die ihn – den Lebenden – ständig verfolgen und ihn erst nach seinem Tod als Schriftsteller in Ruhe lassen. Der Schriftsteller-Zurückzieher hat also die Chance, zu einem Schriftsteller-Propheten zu werden, die er aber nicht wahrnimmt. Es ist der Autor-Zwischensender der Geschichte, der die Wirklichkeit reflektiert, aber nicht gedanklich verarbeitet. Also er selbst, das Schicksal und der Tod haben ihm die Rolle des objektiven Zuschauers zugeteilt. Nur so konnte er stillhalten und sich selbst und der Welt um ihn herum zuhören. »So bewegungslos und still, wie es ein Zuschauer nur sein kann« verfolgte er jede Bewegung seiner Mörderin und konnte »nicht aufhören hinzusehen.« (N 62) Somit ist die Stadt und ihre Geschichte das ein2 Hettche, Thomas: Nox. Berlin: List Verlag 2004, S. 20; fortan in Text gekennzeichnet mit Sigle (N Seite)

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zige, was ihn noch am Leben hält. Je schneller und unaufhaltsamer sein Körper abstirbt und erstarrt, desto deutlicher sieht er, wie das Leben um ihn herum erwacht und zu brodeln beginnt. Auf der einen Seite ist er ins Abseits getrieben, d. h. durch seine Regungslosigkeit vom Leben ausgegrenzt; auf der anderen Seite befindet er sich praktisch über allen Grenzen und kann photographisch genau, also im wahrsten Sinne des Wortes »kaltblütig«, »mit gleichgültigen Augen« (N 27) sowohl die Einzelschicksale der Stadt in der Nacht der Wiedervereinigung als auch die grandiosen geschichtlichen Ereignisse beobachten. Der Tod als Metapher bekommt hier noch einen stärkeren Ausdruck als bei Hilbig. Ausgerechnet in dem Moment, als der Schriftsteller getötet wird, beginnt die Wunde der Stadt sich wieder zu vernarben, bzw. in diesem Moment wird sie besonders deutlich und offensichtlich. Im Zusammenstoß von Leben und Tod entsteht das Verständnis der Dinge: Nur der Tod lässt den »Atem der Dinge hören«: »Nur wenn man tod ist, hört man, wie in einer Stadt alles die Steine zerfrisst. Nur den Dingen gleich, öffnete die Stadt sich hinein in meinen Kopf, und mein Körper reflektierte ihren Lärm.« (N 27)

Nur verdinglicht, mit der Natur verschmolzen kann der Schriftsteller der Stadt horchen. Der Übergang von einem Zustand in den anderen, vom Leben in den Tod, gibt ihm die Chance, zu einem Teil des Weltprozesses zu werden, sich ihm zu öffnen, ihm nicht zu widerstehen und den vom Körper befreiten Geist von jenem mitreißen zu lassen. Sowohl der Schriftsteller als auch die Stadt befinden sich in einem Übergangszustand. Aber während er für den Schriftsteller den Übergang vom Leben zum Tod bedeutet, ist er für die Stadt der Übergang vom Tod zu einem neuen Leben. Der ein Mal lebende Schriftsteller wird verdinglicht und entpersönlicht, während die Stadt mit jedem Augenblick mehr personifiziert wird und Umrisse und Konturen verliehen bekommt. Wie der ermordete Schriftsteller dem eigenen sterbenden Körper horcht und jedes physiologische Detail seines Absterbens festhält, so ist auch seine Mörderin ausschließlich mit sich, d. h. mit den eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen, Wünschen und Instinkten beschäftigt. Die Mörderin erlebt eine Art Grenzerfahrung, sie befindet sich in einer Erwartungshaltung; »in zitternder Aufregung« (N 28) spürt die Stadt die kommenden Veränderungen. Der Schriftsteller und die Stadt sind also auf ihren eigenen Körper, die Hülle, fixiert. Sie versuchen die Geschehnisse nicht zu analysieren und seelisch zu verarbeiten. Dadurch erklären sich auch die zahlreichen Körpermetapher wie »die Wunde«, »zertrennte Ader« u. s. w. In Bezug auf die Stadt aber ist diese Körperlichkeit gut zu verstehen. Der Wunsch, den Vorgängen, die in ihrem Körper entstehen, zu gehorchen, die nichterklärbare Aufregung und fast sexuelle Lust sowie das Streben nach Vereinigung äußern sich im Bild eines sexuellen

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Aktes. Die Stadt, die im Moment der höchsten emotionalen Spannung, schon den Mord vollzogen hat, ohne das zu diesem Zeitpunkt verstanden zu haben und gleichzeitig Angst davor spürend, sehnt sich danach, von der sexuellen Ekstase hingerissen zu werden. Die Stadt ist genauso irritiert wie der Schriftsteller, sehnt sich aber im Unterbewusstsein nach dieser Vereinigung und Verschmelzung. Und die tierischen Triebe (»Tier neben dem Tier«) machen diesen Prozess unberechenbar und unkontrolliert: »sie beobachtete und verfolgte, wie das Unvorhergesehene immer tiefer in sie eindrang.« (N 71) Das Schöne und das Hässliche, das Anziehende und das Erschreckende verschmelzen zu einem einheitlichen Ganzen, und diese Erfahrung sowie die neuen Empfindungen erinnern an das Numinose, das man in den Balladen von Goethe spürt. Es ist bemerkenswert, dass in »Nox« der Kern und das Herz der Stadt der westliche Teil ist. Auch wenn die Vereinigung und der sexuelle Akt gewollt und gewünscht zu sein scheinen, sind sie mit Schmerz und Selbstüberwindung verbunden. Der Osten will den Westen und dringt in den Westen ein: »der Schmerz brannte im Körper der Stadt … während das Schiff langsam immer weiter in sie hineinglitt.« (N 71) Die Stadt fühlt sich so, als ob sie »im Angesicht der Feinde« (N 37) das alles tut. Der westliche Teil der Stadt ist gezwungen, die Brände und Narben des östlichen Teils anzusehen, der z. B. in der Figur von David vor ihr steht. Er ist gezwungen, ihn anzunehmen und sich mit ihm zu vereinen. Aber die Mörderin spürt, dass auch ihr Gegenstück seine eigene Geschichte und eigene Wunden hat. Das ist kein toter Spross, sondern das Wesen, das eine eigene qualvolle Vorgeschichte hinter sich hat. Während der Vereinigung öffnet sie sich auch den fremden Erinnerungen, die in diesem Augenblick zu den ihren werden. Das sind die Erinnerungen, die ihr wie ein Messer durch den Leib schneiden, und »der Schmerz hörte nicht auf.« (N 65) Dabei »rekapituliert und memoriert sie sich selbst.« (N 38) Die Stadt spürt, dass sie sich selbst will. So verwandelt sich das Motiv des Schmerzes in das Motiv der Lust. Der Schmerz verschwindet in dem Moment, als die Stadt den fremden Schmerz an und auf sich nimmt: »Als ich die Narbe sah auf deiner Haut, war es, als ob ich den Schmerz selbst spüre. Und dann war es plötzlich kein Schmerz mehr.« (N 96)

Und trotz alledem werden die Ostdeutschen im Roman als »menschliche Monstra« (N 73), die wahrscheinlich von der Ideologie verdorben wurden, dargestellt. Sie sind die Perversen, die Sadomasochisten, die an Experimente mit ihrer Psyche und ihrem Körper gewöhnt sind. Und die Mauer »war ein Schnitt, mit dem sich die Stadt vom Osten trennte. Wie man ein Glied amputiert, bevor die Ptomaine den ganzen Körper überschwemmen«, und »erst mit der Mauer stockte der Zufluß der Monster.« (N 75) Jetzt wird verständlich, warum die Mörderin als erstes den Wunsch verspürt, nicht wie der Protagonist bei Hilbig die Grenze zu passieren, sondern sich hinter ihr zu verkriechen.

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In diesem Kontext sei erwähnt, dass zwar provisorisch, aber sehr wertvoll in Hettches »Nox« nicht die Kisten mit den Büchern sind, wie bei Hilbig, sondern eine aus medizinischer Sicht kostbare pathologisch-anatomische Sammlung. Diese Sammlung ist auch »ein Stück Kulturgeschichte der Menschheit, da sie noch viele Krankheitsbilder enthält, die in unseren Breiten ausgerottet, bedeutungslos, in jedem Fall aber behandelbar geworden sind.« (N 23) Die Sammlung in »Nox« besteht also nicht wie bei Hilbig aus zusammengeworfenen, unausgepackten Büchern, die die Weltweisheit aufbewahren, sondern es sind fleißig geordnete und etikettierte Objekte. Die Bücher bei Hilbig sind ein Teil der eigenen Geschichte und des eigenen Schicksals, während die Sammlung bei Hettche ein Teil der fremden Geschichte darstellt, ein Objekt, an dem man lernen kann, das man studieren und nützlich machen muss. Die Wende bietet also die Möglichkeit, die ad acta gelegten Krankheitsgeschichten wieder ans Licht zu bringen und jetzt schon an den neuen Objekten zu experimentieren. Man wird bestimmt versuchen, aus dem Ostteil, dessen Einwohner der Grenzhund symbolisiert, »aus seinen Knochen ein völlig anderes Tier zusammenzusetzen.« (N 17) Zeitweiligkeit und Vergänglichkeit erhalten im Roman ein fast barockes Ausmaß: zeitlich und vergänglich sind die Häuser. Sie sind gleichzeitig »künftige Fundstücke« und »schorfige Erinnerung.« (N 13) Die Idee der Erinnerung und des Gedächtnis/Phänomens kommt in diesem Roman oft vor. Fast alles, was die Mörderin und das Opfer sehen, sind Artefakte, die als Teil der Geschichte, als Abdrucke der Vergangenheit und der Zukunft agieren. »Die aus der Zeit geratene Vergangenheit« (N 23) kann man im Untergrund sehen, z. B. in der U-Bahn. Auch wenn diese Vergangenheit noch sehr zerbrechlich, vorsichtig und provisorisch befestigt ist, scheint sie hier zumindest ein wenig real und greifbar zu sein, als ob sie nur darauf wartet, wiederentdeckt zu werden. Zu den Symbolen dieser Erwartung werden »die alten Stationsschilder und Hinweistafeln« und »die provisorisch […] vermauerten Aufgänge und Unterstände mit Sichtschlitzen.« (N 24) Denn die abgetrennten Adern beim Menschen bedeuten den entgültigen Tod, d. h., wenn die Zeit versäumt wurde, kann er nicht mehr reanimiert werden. Bei der Stadt ist das anders. Die zugemauerten Übergänge könnten gesprengt und der Kreislauf der vitalen Energie wiederhergestellt werden, denn was provisorisch ist, ist nicht für die Ewigkeit bestimmt. Vielleicht ist die Zeit noch nicht verpasst worden und könnte sich die Wiedervereinigung als eine erfolgreiche Operation herausstellen. Gegenwärtig scheint der Autor aber darüber noch skeptisch zu sein. Die Wiedervereinigung wirkt hier, als ob man das schlecht verheilte Gewebe, die Narbe »am lebendigen Leib« (N 111), wieder aufreißt. Und die Menschen um die Mauer herum werden mit »Madenfraß« und »Fliegenlarven« auf der offenen Wunde, die sich hineinbohren ins nekrotische Gewebe« (N 84), dargestellt. Die Freude über die Wiedervereinigung ist nur ein Schein, und »nur für kurze Zeit

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Östliche und Westliche Denkfiguren – Wolfgang Hilbig und Thomas Hettche

wird das aussehen wie Freude« (N 14), denn »nichts heilt sie. Nicht wirklich. Der Schmerz bleibt und keine Wunde schließt sich.« (N 101) Die einzige Möglichkeit die Wunde heilen zu lassen, ist Gift in die Wunde zu legen, das »den Frost und den Schmerz nimmt«. (N 113) Das Gift an der Speerspitze, denn »die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug.« (N 113) Den Schlussakkord des Buches bildet die Zusammenführung der MörderinStadt mit fast allen Figuren des Romans und mit sich selbst im Hauptgebäude der Pathologie. Dieses Treffen erinnert an »den Ball bei dem Teufel« in Michail Bulgakows Roman »Der Meister und Margarita«. Die Mörderin kommt über den Schmerz und die Selbstüberwindung, über alle Stufen des Fegefeuers zum Verstehen dessen, was geschieht, zum Selbstverständnis, zur Erlösung. Professor Mathern, wie Voland und der Hund einer der Gehilfen des Teufels, bringen der Stadt alle dunklen Winkel ihrer Seele und ihrer Geschichte bei. Und man sollte die Toten als deren Untertanen annehmen und lieben lernen, weil das ein Teil von ihr selbst ist. Wie das blutende und von Küssen erstarrte Knie der Margarita, so ist auch die Haut der Mörderin-Stadt stumm und blutig: »Meine Haut ist die Topographie eines Krieges, dachte sie.« (N 15) Nachdem sie aber durch alle diese »Schicksalsschläge« gegangen ist, ist sie zu neuem Leben wiederauferstanden. »Die Nacht zerriß wie ein Vorgang« (N 121), das »Theater der Anatomie war leer.« (N 121) Fazit Der moderne Literaturbetrieb ist sehr rationalistisch. Er zielt immer auf die Darstellung eines bewussten, absichtlichen und künstlichen Gebildes ab. Thomas Hettche verwendet häufiger die intuitiven Verfahren des Wetteiferns; seine Erzählweise ist explodierend, abgerissen, fragmentarisch und stilistisch unruhig. Beide Autoren verwenden assoziative, nichtlineare Denkfiguren, zum Teil eine Zerrissenheit der Erzählvorgänge, und benutzen das Paradigma des verschwindenden Bildes. Wolfgang Hilbig und sein Protagonist reflektieren über die Wirklichkeit, versuchen sie zu verarbeiten, suchen nach einer Lösung, nach dem tieferen Sinn der Geschehnisse. Bei Hettche geht es um das Spiegeln der Wirklichkeit, d. h., man distanziert sich von der Geschichte und entfremdet sie. Die Hauptaufgabe ist herauszufinden: »Was ist Spiegelung und was Gespiegeltes«. (N 118) Die Denkmuster der ostdeutschen Schriftsteller der 1990er Jahre haben sich lange vor der Wende entwickelt. Aber das kritische, das ironische Moment geht mit der Zeit nach der Wende verloren. Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass ihre Denkweise durch die Politik und Ideologie kontrolliert und geprägt ist. Als Kritik und Ironie zum Alltag zu gehören beginnen, verlieren sie ihre vorherige kritische Schärfe. Ironie und kritisches Denken werden rationalisiert und nähern sich nun mehr und mehr den westlichen Erzählmodellen und Darstellungsmethoden an.

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In beiden Romanen kann man den dialogischen Zustand zwischen der traditionellen Nationalkultur und dem neuen, unvollendeten, sozialistischen, kulturellen Konglomerat erkennen. Die Autoren spüren intuitiv die formale und inhaltliche Nichtabgeschlossenheit der DDR-Kultur und reproduzieren sie als ein Phantom dieser Kultur. Die Schriftsteller streben danach, den existierenden Realitäten eine moderne Deutung zu geben. So wird z. B. bei Hettche die Berliner Mauer als eine einfache Gegebenheit wahrgenommen. Sie ist nur ein Bild, ein Vorwand, damit der Autor eigene Ideen und Assoziationen entfalten kann. Deswegen verwendet er derart viele sprachliche Bilder für verschiedene Formen der indirekten Gedächtnisabbildung (Fotos, Kameras, Leitungen, Medien, Filme u. s. w.). Viele moderne westdeutsche Autoren, die sich mit dem Thema Ost-West befassen und zu denen auch Hettche zählt, haben eine sekundäre, indirekte Wahrnehmung der Geschichte. Auf der einen Seite stellen sie das Leben nach der Wende in einer sehr revolutionären und mutigen Form dar, jedoch sind sie andererseits die Rebellen mit dem post-revolutionären Bewusstsein, kurz gesagt: die »Post-Nachwende-Rebellen«. Daraus lässt sich ableiten, dass der Konflikt in ihren Werken immer rhetorisch ist, d. h. künstlich, abgesehen von den Lebenssituationen, die sie beschreiben. Die modernen Schriftsteller beschäftigen sich mit diesen Ereignissen nur, um diese Konfrontation (Ost-West) noch einmal zu erfassen. Sie schaffen in ihren Werken ein literarisches Spielfeld, auf dem als Gegner Ideen, Figuren, Zeiten und Situationen agieren. Das ist das sich entfaltende »Glasperlenspiel«, von dem Hermann Hesse spricht, also das moderne Spiel mit dem Sinn.

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Oliver Ruf Transzendenz-›Kanäle‹: Medienphilosophie und Memoria bei Daniel Kehlmann

»Es gibt die 1 und die 2, das Einfache und das Zweifache/das Double. […] Das Zweifache/ das Double kommt vor dem Einfachen; es vervielfältigt es in einer weiteren Abfolge.« Jacques Derrida, »Dissemination«

I. Wenn im Folgenden von Medienphilosophie die Rede sein wird, so ist damit eine Bündelung von Fragen gemeint, die auf das gerichtet sind, was als kultureller Wandel vor sich geht, sowie auf das Begreifen dessen, was in einer zukünftigen Situation möglich sein könnte. 1 Grundlage für eine derartige medienphilo­ sophische Reflexion ist dabei jener »Umsturz der Codes«, 2 der im Austritt aus der »Gutenberg Galaxis« 3 den kulturellen Kontext neu bestimmt. Den Terminus ›Medienphilosophie‹ verwende ich also, um eine Art von Theorie zu bezeichnen, die »neben der systematischen auch eine rekonstruktive, ausgesuchte Momente der philosophischen Tradition einer aneignenden Re-Lektüre unterwerfende Problemstellung« 4 beinhaltet. Theorien dieser Art richten sich u. a. »auf die materialen Bedingungen der Möglichkeit bestimmter theoretischer Diskurse, wobei die kulturbestimmende Literalität hier mit einer neuen Taktilität 5 bzw. der rein geistige ›Sinn‹ philosophischer Diskurse mit den Sinnen der Wahrnehmung rückgekoppelt wird.« 6 1 Vgl. Hartmann, Frank: Medienphilosophische Theorien. In: Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus. Hrsg. von Stefan Weber. Konstanz: UVK 2003, S. 294 – 323, hier S. 290 f. 2 Flusser, Vilém: Kommunikologie. Mannheim: Bollmann 1996, S. 235. 3 McLuhan, Marshall: The Gutenberg Galaxis. The Making of Typographic Man. Toronto: University of Toronto Press 1962. 4 Hartmann, Medienphilosophische Theorien. 2003, S. 291. 5 Ebd. Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media. 2. Aufl. Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 327. 6 Siehe dazu auch Hörisch, Jochen: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien. Frankfurt/M.: Eichborn 2004.

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Oliver Ruf

Das ist eine Komponente der Medienphilosophie, die sie für kultur- bzw. dann auch speziell für literaturwissenschaftliche Perspektiven und Fragestellungen anwendbar macht: Werden literarische Textwelten »mit Bilderwelten, Sounds, Programmierungen etc. konfrontiert«, dann sind in der Folge durch die Frage nach dem Ort und dem Träger medialer Gebilde in Literatur auch die Rahmenbedingungen zu hinterfragen, »in denen der sinnlich-geistige Doppelbezug des Menschen zu sich und seiner Welt« unter den Bedingungen neuer medientechnischer Entwicklungen ebenfalls »neue Erwartungshaltungen produziert.« 7 Aus diesen Bemerkungen geht nochmals hervor, dass ich den Begriff der Medienphilosophie hier in einem Sinne verwende, der »übergeordnete wie übergreifende Fragen« betrifft, die, wie gesagt, »mit der Veränderung kultureller Codes« zu tun haben. 8 Im allgemeinen epistemologischen Verständnis ist die ›Welt‹ dem Menschen daher »nicht unmittelbar gegeben«, sondern stets vermittelt »über einen sinnlichen Wahrnehmungs- und einen vernünftigen Erkenntnisapparat, über zwischengeschaltete Symbolsysteme wie die Sprache bis hin zu kulturellen und technischen Programmierungen«:

7 Hartmann: Medienphilosophische Theorien. 2003, S. 291. Die transdisziplinäre Konjunktur der Medienphilosophie belegen seit Beginn der 1990er-Jahre eine Reihe richtungsweisender Arbeiten, darunter Fietz, Rudolf: Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche. Würzburg: Königshausen & Neumann 1992; Hartmann, Frank: Medienphilosophie. Wien: Wiener Universitätsverlag 2000; Sandbothe, Mike: Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internet. Weilerswist: Velbrück 2001; Vogel, Matthias: Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001; Münker, Stefan/Roesler, Alexander/ Sandbothe, Mike (Hrsg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs. Frankfurt/M.: S. Fischer 2003; Margreiter, Reinhard: Medienphilosophie. Lehrbrief der Universität Rostock. Rostock: Universitätsdruckerei 2004. Die spezifische Signatur der Medienphilosophie beschreiben Christian Filk, Sven Grampp und Kay Kirchmann als »heteronomes Diskursgefüge«, »das nicht nur seiner diskursiven und wissenschaftshistorischen, sondern letztlich sogar seiner disziplinären Einordnung noch harrt […]« (Filk, Christian/Grampp, Sven/Kirchmann, Kay: Was ist ›Medienphilosophie‹ und wer braucht sie womöglich dringender: die Philosophie oder die Medienwissenschaft? Ein kritisches Forschungsreferat. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 29.1, 2004, S. 39 – 65; siehe dazu auch Sandbothe, Mike: Einleitung. Wozu systematische Medienphilosophie? In: Systematische Medienphilosophie. Hrsg. von Ludwig Nagl und Mike Sandbothe. Sonderband 7 der Deutschen Zeitschrift für Philosophie. Berlin: Akademie-Verlag 2005, S. XII–XXVII, hier S. XIII). Meine Ausführungen verstehe ich als Beitrag zur weiterreichenden Fokussierung und Anwendung medienphilosophischer Fragestellungen auf die Kultur- und Literaturwissenschaften, d. h. auch generell für deren Öffnung gegenüber den Medien­ wissenschaften sowie der Philosophie. 8 Hartmann: Medienphilosophische Theorien. 2003, S. 291.

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Medienphilosophie und Memoria bei Daniel Kehlmann »Mit den Speicher- und Übertragungsmedien des 19. und dem Übergang von analogen zu digitalen Medien des 20. Jahrhunderts haben diese Programmierungen eine definitive Eigendynamik in Richtung einer Abkopplung der Apparatewirklichkeit von der Menschenwelt entwickelt.« 9

Ein solcher Ansatz geht davon aus, dass »Medien als Materialitäten der Kommunikation nicht länger als neutrale Botschafter, sondern als durchaus sinnerzeugende Agenten« zu betrachten sind, 10 wobei hier immer mit der Möglichkeit gerechnet wird, dass es einen Zusammenhang zwischen Wahrheitsaussagen und Diskursordungen im Sinne Foucaults gibt, 11 insbesondere im Hinblick auf eine spezifische Schriftvergessenheit im Sinne Derridas. 12 So scheint die Konstruktion des Menschen prinzipiell durch kulturelle und mediale Techniken realisiert zu sein, geht man davon aus, dass im Zeitalter elektronischer Datenverarbeitung Apparate bzw. Schaltungen als »Schematismus von Wahrnehmbarkeit überhaupt« 13 alles sogenannte Menschliche überlagern. 14 Diese Möglichkeit der Wahrnehmung einer Medien-Menschlichkeit bedeutet also, dass Theorien dieser Art immer auch um die Problematik einer Medialität des Kognitiven kreisen. 15 Um dessen Betonung geht es bei der medienphilosophischen Lektüre, die ich im vorliegenden Beitrag vorstellen werde und in der ich mich mit einem Werk der jüngeren bzw. jüngsten deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auseinandersetzen möchte: mit demjenigen von Daniel Kehlmann. Dazu ist in einem ersten Schritt die Textauswahl zu begründen und zu erläutern, was Kehlmanns Romane für medienphilosophische Fragestellungen interessant macht. Hierbei 9 Ebd., S. 292. 10 Ebd. 11 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. München: Hanser 1974. 12 Vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 21, 23. 13 Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. München: Fink 1987, S. 5. 14 Vgl. Hartmann: Medienphilosophische Theorien. 2003, S. 292. 15 Dass traditionelle philosophische Fragestellungen, die sich mit der Problematik einer Medialität des Kognitiven beschäftigen, immer neue Aktualisierungen erleben, zeigen die »untergründigen Verbindungslinien, die sich von verschiedenen philosophischen Klassikern zu aktuellen Theorieansätzen ziehen lassen«: »von René Descartes zu Noam Chomsky, wenn es um die Tiefenstruktur universaler Ideen für den Ausdruck des Denkens geht, von Gottfried Wilhelm Leibnitz zu Ludwig Wittgenstein, wenn es um die Sprache als Spiegel des Verstandes oder Grenze meiner Welt geht, von Giambattista zu Jacques Derrida, wenn es um die Kritik des Phonozentrismus oder um die der Sprache vorgelagerte Struktur der Schrift und des Schreibens geht […]« (Ebd., S. 293 f.). Diese Beobachtung wird auch durch Ansätze befördert, die einerseits Kulturwissenschaft mit Kulturtechnik verschränkt sehen (vgl. Kittler, Friedrich: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. München: Fink 2000), andererseits das Thema Kommunikation einer technizistischen Verengung entheben wollen (vgl. Serres, Michel: Hermes I. Kommunikation. Berlin: Merve 1991).

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ist auch danach zu fragen, welche spezifischen Problemstellungen der Medien­ philosophie relevant sind. Weshalb ich bei einer Untersuchung der medien­ philosophischen Dimensionen von Kehlmanns Texten die ›Medienumbrüche‹ 16 zur literalen Kultur des späten 18. und der telekommunikativen Kultur des 21. Jahrhunderts behandele, 17 werde ich entsprechend begründen und hierzu diese kurz skizzieren. Vorab kann festgehalten werden, dass bei Kehlmann sowohl Objekte wie Subjekte, befördert durch mediale Bedingungen und Zuweisungen, in einem gewissen Sinn zu Erinnerungsgegenständen angereichert werden, und das in einem wechselseitigen Transformationsverhältnis: Beleben sich die Objekte als Medien, so zersetzen sich die Figuren und lösen sich auf. Damit wird Erinnerung als Medium der Identitätsbildung in fundamentaler Weise befragt, wie ich im Anschluss an Perspektiven der Memoria-Theorie zeigen will. 18 Die Frage nach der Konzeption von Erinnerung als dialektischem (Vergessens-)Vorgang ist dabei durchgehend mit der Frage nach der poetischen Funktion seiner intermedialen Relation verbunden. Erweisen wird sich, dass im Akt des Erzählens eine Differenz zwischen medialer Kommunikation (und damit von ›Welt‹-Wahrnehmung) und persönlicher Memoria eröffnet wird. So tragen Kehlmanns Romane (sein Bestseller 19 »Die Vermessung der Welt« und 16 Siehe dazu Viehoff, Reinhold: Mediale Umbrüche – Disziplinierung der Wahrnehmung? In: Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte, 24.4, 1998, S.  227 – 232. 17 Andreas Käuser hat die Frage nach dem spannungsreichen Zusammenhang von Medialisierungs- und Epochenschwellen um 1800 gestellt. Die Erforschung der Medienumbrüche zur literalen Kultur des späten 18. Jahrhunderts ebenso wie jene zur digitalen Kultur des 20./21. Jahrhunderts beeinflussen sich nach Käuser wechselseitig im Konzept der Epochenschwelle. Dieses Konzept kommentiert – ganz im Verständnis der Medienphilosophie – mediale Innovationen durch anthropologische Reflexion. Dabei elaboriere der anthropologische Diskurs Kategorien wie Verkörperung/Embodiment, Identität/Individualität, Performanz/Versinnlichung, Fremdheit/ Alterität; und die Anwendung dieser Kategorien auf mediale Innovationen verweise auf die Konvergenz von Diskurs und Medium und problematisiere das Verhältnis von Semantik und Technik, Mensch und Medium, von ›Verleiblichung‹ (Hegel) und ›sinnlichen Begriffen‹ (Herder). Vgl. Pfeiffer, Ludwig K./Schnell, Ralf: Schwellen der Medialisierung – Zur Einleitung in diesen Band. In: Schwellen der Medialisierung. Medienanthropologische Perspektiven – Deutschland und Japan. Hrsg. von dens. Bielefeld: Transcript 2008, S. 7 – 13, hier S. 10. 18 Siehe hierzu Schößler, Franziska: Das Möbiusband der Erinnerung. Gender, Genre und Memoria in den Filmen von David Lynch. In: Freiburger FrauenStudien, 20, 2007, S. 143 – 157, hier S. 143. 19 Zum Bestseller-Status des Romans siehe u. a. die Meldung der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« (13.06.2007): »Mit Die Vermessung der Welt durchbricht Daniel Kehlmann nun die Schallmauer von einer Million verkauften Exemplaren – in gebundener Ausgabe. Seit Erscheinen im September 2005 steht der Titel auf der Bestsellerliste des Spiegel, wo er 35 Wochen lang Platz eins belegte. Außerdem

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mehr noch sein »Roman in neun Geschichten« mit dem Titel »Ruhm« 20, auf die ich mich hier konzentriere, ohne das Gesamtwerk aus den Augen verlieren zu wollen) insbesondere Walter Benjamins Überlegung literarisch Rechnung, Erinnerung besiegele das grundsätzliche ›Tot-Sein‹ des Gegenstandes, eben auch die Auslöschung des Objekts. 21 Kehlmann verhandelt damit, so meine These, beispielhaft das »semiotische Unglück des Mnemonisten«. 22

wurde der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Roman bisher in 35 Sprachen übersetzt. Einzig Patrick Süskinds ›Parfum‹, das erfolgreichste deutsche Buch der Nachkriegszeit, Bernhard Schlinks Vorleser und Die Blechtrommel von Günter Grass haben ähnliche Auflagen erzielt – allerdings alle inklusive Taschenbuchausgaben.« Siehe dazu auch Preußer, Heinz-Peter: Zur Typologie der Zivilisationskritik. Was aus Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt einen Bestseller werden ließ. In: Text+Kritik, 177: Daniel Kehlmann, 2008, S. 73 – 85; Korten, Lars: Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, 57.2: Beststeller des 21. Jahrhunderts. Hrsg. von Martin Huber und Albert Meier, 2010, S. 197 – 207. Zur Rezeption siehe Zeyringer, Klaus: Vermessen. Zur deutschsprachigen Rezeption der Vermessung der Welt. In: Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. Materialien, Dokumente, Interpretationen. Hrsg. von Gunther Nickel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008, S. 78 – 94; Stein, Julia: »Germans and humor in the same book.« Die internationale Rezeption der Vermessung der Welt. In: Ebd., S. 136 – 150. Eine Zusammenstellung der Literaturkritiken zum Roman bietet Bobzin, Henning: Auswahlbibliografie. In: Text+Kritik, 177: Daniel Kehlmann, 2008, S. 86 – 89, hier S. 88 f. Über den geringen Publikumserfolg der vorausgegangenen Romane berichtet Kehlmann in seiner Dankesrede zur Verleihung des WELT-Literaturpreises (Kehlmann, Daniel: Die Katastrophe des Glücks. In: ders.: Lob. Über Literatur. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2010, S. 169 – 178, insbes. S.  169 – 172). 20 Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Roman. 21. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006 (im Folgenden zitiert als DVdW); ders.: Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten. 3. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009 (im Folgenden zitiert als R). Eine konzise narratologische Analyse von »Ruhm« bietet Bareis, J. Alexander: »Beschädigte Prosa« und »autobiographischer Narzißmus« – metafiktionales und metaleptisches Erzählen in Daniel Kehlmann Ruhm. In: Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von dems. und Frank Thomas Grub. Berlin: Kadmos 2010, S. 242 – 268, sowie Wehdeking, Volker, Judith Hermann, »Alice«, und Daniel Kehlmann, »Ruhm«. Erzählverfahren des postmodernen Minimalismus und Neorealismus. In: Sprachkunst, 40.2, 2009, S. 261 – 277. 21 Vgl. Menke, Bettine: Das Nach-Leben im Zitat. Gedächtnis der Texte. In: Gedächtniskunst. Raum – Bild –Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Hrsg. von Anselm Haverkamp und Renate Lachmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 74 – 110, hier S. 84 f. 22 Lachmann, Renate: Die Unlöschbarkeit der Zeichen. Das semiotische Unglück des Mnemonisten. In: Ebd., S. 111 – 141.

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II. Die medienphilosophisch entwirrbaren Komponenten der literarischen Werke Daniel Kehlmanns können – das wurde bereits angedeutet – durch Rückgriff auf die neuere, kulturwissenschaftlich perspektivierte Memoria-Theorie gedeutet werden. So behandelt Kehlmann das zentrale Sujet ›Erinnerung‹ auf der Metaebene seiner Werke. Diese sind daher allem voran auch immer Fiktionen über sich selbst; sie treffen reflexive Aussagen über das Medium Literatur, aber auch über Medien schlechthin als Formen von Erinnerung: 23 Diese Texte gleichen der Vivisektion eines seelischen Innenraums; 24 seine Figuren, »verstoßen aus den Gärten der Kindheit und der Schönheit alter Gottesbeweise, eingekerkert in einer meist nebligen, verspiegelten, verfehlten, dämonenbesetzten Schöpfung, sind somnambule Sonderlinge nahe am Wahn – der allerdings auch die Realität selbst sein könnte –, Separatisten des Gefühls und des Blicks, Gaukler der Anlage nach oder von Berufs wegen, Enthusiasten, Genies, auch Genies der Einbildungskraft, Schatten oft schon zu Lebzeiten und mithin Grenzgänger zwischen der jenseitigen Welt und dem Diesseits.« 25

Ähnlich wie etwa in Freuds Aufsatz über E.T.A. Hoffmann beschrieben, 26 entsteht hier etwas ›Unheimliches‹ aus dem ›Heimlichen‹ eines existenziellen Entsetzens, das sich hinter der Oberfläche des Da-Seins zu unkontrollierbaren Abgründen öffnet: »Sie alle quält das Gefühl, auf Erden nicht erwartet und also immer schon verloren zu sein; sie hegen den Verdacht, von Grund auf getäuscht zu werden, in ein lebenslängliches Fieber gefallen, gefangen im Traum eines missgünstigen Träumers, oder gar nur einen Traum im Traum zu träumen: Markus Mehring in Bankraub fürchtet, dass sein Coup (eines Tages weist sein Konto durch den Irrtum eines Angestellten Millionen auf, er räumt es leer und flieht) nur der Traum eines anderen ist, der jederzeit erwachen kann; David Mahler in Mahlers Zeit entdeckt, ähnlich Carl Friedrich Gauß in der Vermessung, wie dünn das Weltgewebe gewirkt ist, ›wie grob gestrickt die Illusion, wie laienhaft vernäht ihre Rückseite‹ – Julian in Der fernste 23 Damit verweist Kehlmanns Literatur exemplarisch auf die Möglichkeit der ›halluzinatorischen‹ Welterzeugung aller Fiktionen, wodurch auch deren ›Macht‹ anerkannt wird, sich als Wirklichkeit(en) auszugeben. 24 Zu diesem Verfahren siehe auch Schößler, Das Möbiusband der Erinnerung. 2007, S. 144. 25 Gasser, Markus: Daniel Kehlmanns unheimliche Kunst. In: Text+Kritik, 177: Daniel Kehlmann, 2008, S. 12 – 29, hier S. 12 f. 26 Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud u. a. Bd. XII. Frankfurt/M.: S. Fischer 1999, S. 227 – 278. Dazu näher Kittler, Friedrich: »Das Phantom unseres Ichs« und die Literaturpsychologie. E.T.A. Hoffmann – Freud – Lacan. In: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hrsg. von dems. und Horst Turk. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 139 – 166.

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Medienphilosophie und Memoria bei Daniel Kehlmann Ort lebt agonielang gar in den Naht­rissen dieses Gewebes eingezwängt. Für den Maler Kaminski beruht die ganze Welt auf nichts als Täuschung und Betrug, und für Gauß bedeutet der Tod, dass endlich der Schleier der Maja fällt und er all das zu verstehen beginnt, was ihm auf Erden nur wie ein dämonisches Puzzle erschienen war: ›Der Tod würde kommen als eine Erkenntnis von Unwirklichkeit. Dann würde er begreifen, was Raum und Zeit waren, was die Natur einer Linie, was das Wesen der Zahl.‹ Solange man nicht tot ist und kein Geist, bleibt nur die tröstliche Möglichkeit, dass es die Welt, gegen jene jenseitige gehalten, im Grunde nicht gibt.« 27

In »Die Vermessung der Welt« löst Kehlmann mithin »das Problem des Sterbenmüssens, als wär’s gar keins, und den Leser ergreift das Gefühl einer geradezu amüsanten Transparenz der Welt.« 28 Es zeigt sich das Programm einer »illu­ sionistischen Ästhetik«, 29 die die Wege durch die erzählten Welten als Wege in das Innere der Figuren erscheinen lassen, so dass der Eindruck entsteht, diese Welten seien die Seele der Protagonisten und verräumlichen ihre Psychen, als ob in deren Abgründen und Dunkelheiten tatsächlich das Unbewusste zu Hause sei. In »Beerholms Vorstellung« 30 ist daher die Auffassung, dass ein echter Magier des Erzählens nur derjenige sei, dem es gelinge, täuschend auch sich selbst zu täuschen und die Grenze zwischen Fantasie und ›Wirklichkeit‹ durchlässig zu halten, so eng in die Handlung verwoben, dass das finale Verschwinden der Hauptfigur, »seine letzte Escamotage«, zur »Metapher für die elementare Bannkraft literarischen Tuns« avanciert: »Wo nichts war, ist plötzlich etwas, beansprucht Wirklichkeit für sich, jedoch ohne ›Wirklichkeit‹ zu sein […].« 31 Es zeigt sich ein »erweiterter Realismus, ein Spiel mit der Wirklichkeit«, »als wären es erzählte Träume«, 32 ein, wie Kehlmann selbst sagt, »Brechen von Wirklichkeit«, 33 bei dem das »Feld des Traumes« regelrecht »vermessen wird« und auf dem er »von Anfang an seine Stoffe angesiedelt« hat. 34 Kehlmann führt aus: 27 Gasser, Daniel Kehlmanns unheimliche Kunst. 2008, S. 13. Vgl. dazu auch Kehlmann, Daniel: Mahlers Zeit. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999; ders.: Der fernste Ort. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001; ders.: Ich und Kaminski. Roman. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. 28 Gasser, Markus: Das Königreich im Meer. Daniel Kehlmanns Geheimnis. Göttingen: Wallstein 2010, S. 83. 29 Gasser, Daniel Kehlmanns unheimliche Kunst. 2008, S. 13. 30 Kehlmann, Daniel: Beerholms Vorstellung. Roman. Wien/München: Deuticke 1997. 31 Gasser, Daniel Kehlmanns unheimliche Kunst. 2008, S. 15. 32 Zeyringer, Klaus: Gewinnen wird die Erzählkunst. Ansätze und Anfänge von Daniel Kehlmanns »Gebrochenem Realismus«. In: Text+Kritik, 177: Daniel Kehlmann, 2008, S. 36 – 44, hier S. 36. 33 Kehlmann, Daniel: Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen: Wallstein 2007, S. 15. 34 Ahrend, Thorsten: No more dogs! Erfahrungen mit Daniel Kehlmann. In: Text+Kritik, 177: Daniel Kehlmann, 2008, S. 68 – 72, hier S. 68.

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Oliver Ruf »Ein Erzähler operiert mit Wirklichkeiten. Aus dem Wunsch heraus, die vorhandene nach seiner Vorstellung zu korrigieren, erfindet er eine zweite, private, die in einigen offensichtlichen Punkten und vielen gut versteckten von jener ersten abweicht. Der lange Traum, schrieb Schopen­hauer, sei unterbrochen von kurzen, und das sei am Ende alles; für einen Erzähler ist die lange Geschichte unterbrochen von kurzen, und was ihn nervös macht, ist nicht deren substantielle Gleichartigkeit, sondern deren Vermischung, also jede Verletzung der Grenzen. Zum Beispiel die unerwartete Konfrontation mit einer sehr realen Maschine, entwickelt von jemandem, den er in manchem Augenblick bereits für seine eigene Erfindung hielt.« 35

Kehlmann bezieht sich mit dieser Aussage auf eine Szene gegen Ende von »Die Vermessung der Welt«, in der jene »legendäre Telegrafenanlage« auftaucht, die der ›wirkliche‹ Carl Friedrich Gauß in seiner Göttinger Sternwarte erfunden hatte, »um sich mit seinem in der Stadtmitte arbeitenden Kollegen zu unterhalten.« 36 Auf diese Szene werde ich im Folgenden noch einmal zurückkommen. Kehlmann kommentiert, im Roman stehe Professor Gauß, »alt geworden und gebrechlich«, am Fenster und schicke Signale hinaus, »halb mit seinem Mitarbeiter Weber sprechend, halb mit sich selbst, zugleich auch mit der im Lauf seines Lebens bestürzend angewachsenen Welt der Verstorbenen.« (DVdW, 12)

Als Kehlmann diesen Apparat de facto in der Göttinger Sternwarte kurz vor Beendigung seines Romans betrachtet, wird ihm sofort klar, dass dieses Gespräch unmöglich stattgefunden haben kann: »Das Ausschlagen der Empfangsnadel war so schwach, daß man durch ein Fernrohr auf eine Skala starren mußte. Das wieder bedeutete, daß der Sendende zuvor einen Boten zum Empfänger zu schicken hatte, um anzukündigen, wann er mit der Übermittlung beginnen werde – fürwahr eine Monty-Python-Konstellation. Noch in Gauß’ Zimmer, zwischen Empfangsgerät, Fenster und Ölbild, beschloß ich, bei meiner Version zu bleiben.« 37

Es ist diese ästhetische Erfahrung medientechnischer Maschinen und Abläufe, hier: des Mediums des Telegrafen, die die Relevanz einer medienphilosophischen Lektüre von Kehlmanns Literatur nahelegt. So wird der Leser auf die Bedingungen medialer Kommunikation aufmerksam, die die medialen Objekte überhaupt erst generieren. Es ist das thematisierte Medium letztendlich immer selbst – so lässt Kehlmanns Erzählen spürbar werden –, das seine Sujets hervor35 Kehlmann, Daniel: Wo ist Carlos Montúfar? In: Nickel, Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. 2008, S. 11 – 25, hier S. 11 f. 36 Ebd., S. 11. Zur Mediengeschichte des Telegraphen s. u. a. Bruns, Johannes: Die Telegraphie in ihrer Entwicklung und Bedeutung. Leipzig: Teubner 1907 sowie Schellen, H.: Der elektromagnetische Telegraph in den einzelnen Stadien seiner Entwicklung und in seiner gegenwärtigen Ausbildung und Anwendung nebst einem Anhang über die elektrischen Uhren. Braunschweig: Viehweg und Sohn 1850. 37 Kehlmann, Wo ist Carlos Montúfar? 2008, S. 12.

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bringt. Damit kommt den medialen Objekten eine spezifische Funktion zu. Sie werden zu Zeichen jenseits ihres Gebrauchs, zu Zeichen, in die etwas Ungenanntes oder Unnennbares regelrecht einwandert. Die Objekte werden skulptural und speichern etwas Vergangenes, womöglich auch etwas unbewusst Verdrängtes, ohne echte Speichermedien zu sein; dennoch sind sie es, die jene Sprünge zwischen den Realitäten ermöglichen, von denen ich bereits gesprochen habe, und die auf frühere Sequenzen verweisen. 38 Sie stellen die Verbindung zwischen erzählter Gegenwart und Traum-Wirklichkeit her; sie sind Erinnerungsspeicher, so wie die Memoria-Theorie von einem »Gedächtnis der Dinge« spricht. 39 Allerdings sind die medialen Objekte in Kehlmanns Literatur dynamisch: Sie bewahren das Verdrängte wie das Vergangene und ermöglichen den Vergleich 40 sowie zeitliche wie räumliche Bezugnahmen innerhalb der jeweiligen Fiktion. 41 Die Telegrafen-Szene mit Gauß in »Die Vermessung der Welt« ist dafür ein gutes Beispiel. Gauß verbringt darin, so heißt es auch im Roman, »den Großteil seiner Tage vor einer langen, in einer Verstärkerspule pendelnden Eisennadel«, deren Bewegung so schwach ist, dass »man sie mit freiem Auge nicht« sieht; man muss »ein Fernrohr auf einen über der Nadel angebrachten Spiegel richten, um die feinen Schwankungen der beweglichen Skala zu sehen«; »stundenlang« beobachtet Gauß »beim Licht einer Öllampe dieses Pendeln« in der Überzeugung, wer diese Nadel beobachte, sehe »ins Innere der Welt« (DVdW, 272). Hin und wieder, beim Anstarren der Nadel, kommt er sich bei diesem Tun »wie ein Magier der dunklen Zeit vor, wie ein Alchimist auf einem alten Kupferstich« (DVdW, 273). Durch diese alchimistische Magie, die ein Moment des Unerklärlichen und Unheimlichen birgt, kommt die mediale Kommunikation mithin in der erzählten Welt der Fiktion dann tatsächlich zustande, dies jedoch auf eine unsichere Weise, da die per Nadel-Bewegung übermittelten Informationen ominös verschwinden können. In dem auf diese Weise telegrafisch realisierten ›Gespräch‹ mit Weber markiert Kehlmann eine solche unsichere Medien-Kommunikation wie folgt: [Gauß – der Verf.] »starrte noch eine Weile durch das Fernrohr auf die Spiegelskala über dem Empfänger, aber die Nadel schlug nicht aus, Weber antwortete nicht mehr. Wahrscheinlich waren die Impulse wieder unterwegs verlorengegangen.

38 Siehe zu diesem Verfahren wiederum Schößler, Das Möbiusband der Erinnerung. 2007, S. 144. 39 Vgl. ebd., S. 145 sowie u. a. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 1992. 40 Vgl. Schößler, Das Möbiusband der Erinnerung. 2007, S. 145. 41 Zum Motiv der Zeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur siehe Pause, Johannes: »Zeit ist ein Netz aus feinen Knoten.« Zum Wandel des Zeitmotivs in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Köln: Böhlau 2010.

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Oliver Ruf So plauderten sie häufig. Weber saß drüben in der Stadtmitte im physikalischen Kabinett vor einer zweiten Spule mit einer ebensolchen Nadel. Mit Induktionsgeräten sandten sie zu verabredeten Zeiten Signale hin und her.« (DVdW, 281)

Schließlich werden die gespenstischen Signale des Gauß-Weber-Telegrafen von Gauß mit einer tatsächlich mystischen Hoffnung verknüpft, die selbst die Realität des Romans übersteigt: der Kommunikation mit den Toten. 42 Im Roman heißt es: »Wie viele Stunden hatte er vor dieser Empfangsanlage auf ein Zeichen von ihr gewartet? Wenn Johanna dort draußen war, warum nutzte sie dann nicht die Gelegenheit? Wenn Tote sich von Mädchen im Nachthemd heran- und zurückholen ließen, warum verschmähten sie diese erstklassige Vorrichtung? Gauß blinzelte: Etwas mit seinen Augen stimmte nicht, das Firmament schien ihm von Rissen zerfurcht. Er spürte die ersten Regentropfen. Vielleicht sprachen die Toten ja nicht mehr, weil sie in einer stärkeren Wirklichkeit waren, weil ihnen diese hier schon wie ein Traum und eine Halbheit, wie ein längst gelöstes Rätsel erschien, auf dessen Verstrickungen sie sich noch einmal würden einlassen müssen, wollten sie sich daran bewegen und äußern. […] Der Tod würde kommen als seine Erkenntnis von Unwirklichkeit. Dann würde er begreifen, was Raum und Zeit waren […]. Vielleicht auch, warum er sich immer wieder wie eine nicht ganz gelungene Erfindung vorkam, wie die Kopie eines ungleich wirklicheren Menschen, von seinem schwachen Erfinder in ein seltsam zweiklassiges Universum gestellt. Er blickte um sich. Etwas Blinkendes zog über den Himmel, auf gerader Linie, sehr hoch oben. Die Straße vor ihm kam ihm breiter vor, die Stadtmauer war nicht mehr zu sehen, und zwischen den Häusern erhoben sich spiegelnde Türme aus Glas. Metallene Kapseln schoben sich in Ameisenkolonnen die Straßen entlang, ein tiefes Brummen erfüllte die Luft, hing unter dem Himmel, schien sogar von der schwach vibrierenden Erde aufzusteigen. Der Wind schmeckte säuerlich. Es roch verbrannt. Da war auch etwas Unsichtbares, über das er sich keine Rechenschaft geben konnte: ein elektrisches Schwingen, zu erkennen nur an einem schwachen Unwohlsein, einem Schwanken in der Realität selbst. Gauß beugte sich vor, und seine Bewegung hob alles auf. Durch und durch naß stand er auf und ging schnell zur Sternwarte zurück. Alt sein, das hieß auch, daß man an jedem Ort einnicken konnte.« (DVdW, 282 f.)

Die »Vermessung der Welt« ist, so Markus Gasser, also ein »Buch der Wunder und der Geister« und erzählt, »wie wir uns selber glauben machen wollten, wir glaubten nicht mehr an sie«, »wie wir mit dem Gewinn an quantifizierter Wirklichkeit unsere Träume beibehielten und vertieften und, allesamt heimliche Spiritisten, vor den Gittertoren der verborgenen Gärten stehen und Einlaß

42 Zur Todes-Thematik bei Daniel Kehlmann siehe ders./Kleinschmidt, Sebastian: Requiem für einen Hund. Ein Gespräch. Berlin: Matthes & Seitz 2008, S. 80 – 88.

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fordern.« 43 Die zitierte Szene beschwört den Raum als eine Seelenlandschaft, indem der Telegraf, obgleich er objektiv benutzt wird, ein subjektiver Apparat ist und die Sehnsüchte des Protagonisten beflügelt, nicht aber die Außenwelt abbildet. Ausgelöst durch die technische Erfahrung mit dem Telegrafen eröffnet sich Gauß die Transzendenz hin zu einer Traumlandschaft, die eine mediale Zukunftsvision enthält: In der Begegnung mit dem Medium wandelt sich die Erinnerung an die einstmals Geliebte zur Überschreitung des Diesseits hin zum Jenseits einer vollends technisierten Un-Wirklichkeit. 44 Deshalb nimmt sich die ›Welt‹ für Gauß auch so enttäuschend aus, sobald er erkennt, »wie dünn ihr Gewebe« ist, »wie grob gestrickt die Illusion, wie laienhaft vernäht ihre Rückseite«, weil »nur Geheimnis und Vergessen es erträglicher« machen und weil er sein Dasein ohne Schlaf, der »einen aus der Wirklichkeit« reißt, nicht auszuhalten vermag (DVdW, 59). Bevor ich auf den Zusammenhang von Erinnerung und Vergessen in der von Kehlmann erzählerisch imaginierten Medien-Szenerie näher eingehe, sind die Konsequenzen darzulegen, die durch Gauß’ Telegrafen-Nutzung hervorgerufen werden, wird doch mit dieser die »Erzeugung kommunikativer Gegenwart in räumlicher Distanz« 45, d. h. das telegrafische Prinzip, 46 »durch prinzipiell zeitfreie Datenübertragung Synchronie zu erzeugen und damit die Dimension des Raums zu relativieren, wenn nicht zu negieren«, 47 thematisiert. Es ist kein 43 Gasser, Das Königreich im Meer. 2010, S. 84. 44 Gunther Nickel hat eine derartige ›Überschreitung‹ bereits für Kehlmanns erste Romane »Beerholms Vorstellung« und »Mahlers Zeit« ins Bild eines magischen Realismus gesetzt: »Die beiden ersten Romane Kehlmanns handeln von der Grenze zwischen dem Unwahrscheinlichen und dem Unmöglichen. Wer sie überschreitet, täuscht sich, betrügt oder ist wahnsinnig. Aber es ist nicht immer leicht auszumachen, wo sie liegt und wann sie durchbrochen wird. Bei Kehlmann wirkt sie zudem verstörend durchlässig, in jedem Fall so verschwommen, daß sich ihr exakter Verlauf nicht klar ausmachen läßt. Der dadurch erzielte Effekt ist der eines magischen Realismus« (Nickel, Gunther: Von Beerholms Vorstellung zur Vermessung der Welt. Die Wiedergeburt des magischen Realismus aus dem Geist der modernen Mathematik. In: ders, Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. 2008, S. 151 – 168, hier S. 153). 45 Spangenberg, Peter M.: Technikinnovationen und Medienutopien. Hypothesen über Kommunikationsstrukturen und mentale Voraussetzungen von Zukunftserwartungen und Gegenwartsüberschreitungen. In: Medien und Erziehung, 45, 2001, S. 215 – 222, hier S. 219. 46 Diesem Befund liegt ein weit gefasster Telegrafie-Begriff zu Grunde: »Ein Telegraph im allgemeinen Sinne ist jede Vorrichtung, welche eine Nachrichtenbeförderung in der Weise ermöglicht, dass der an einem Orte zum sinnlichen Ausdrucke gebrachte Gedanke an einem entfernten Orte wahrnehmbar wieder erzeugt wird, ohne dass der Transport eines Gegenstandes mit der Nachricht stattfindet.« (Noebels, J./Schluckebier, O./Jentsch, O.: Telegraphie und Telephonie. Leipzig: Hirzel 1901, S. 1) 47 Ruchatz, Jens: Das Telefon – ein sprechender Telegraf. In: Einführung in die Geschichte der Medien. Hrsg. von Albert Kümmel, Leander Scholz und Eckhard

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Zufall, dass im Verlauf der Mediengeschichte des Telegrafen der menschliche Körper als Bezugssystem gedient hat, um über eine räumlich-mediale Orien­ tierung nachzudenken. So hat vor McLuhans bekannter Gleichsetzung der Leitungsnetze elektrischer Nachrichtenübertragung mit dem menschlichen Nervensystem 48 Ernst Kapp Technik als Auslagerung von Körperfunktion und Körperstruktur aufgefasst, und zwar explizit im Hinblick auf den Telegrafen, 49 wobei die Analogisierung von Telegrafie und Nervensystem auch auf den System­charakter der Leitungsnetze und auf die informationelle Organisation von individuellen und sozialen Körpern bezogen wurde. 50 Bei Kehlmann eröffnet sich durch die Mediennutzung des Telegrafen mithin ein Körper-Diskurs, der mit demjenigen des sinnlich-räumlichen Daseins kurzgeschlossen ist, dem eine mythische Weltansicht 51 zur Seite gestellt wird. Mit Cassirer lässt sich sagen: Dem mythischen Denken wird die objektive Welt erst dadurch durchsichtig und unterteilbar in Bezirke des Daseins, indem es »sie in dieser Weise analogisch auf die Verhältnisse des eigenen Leibes abbildet«; 52 der mythische Raum-Entwurf übersetzt und überträgt diese ›Körper-Daten‹ in die symbolische Ordnung des telegrafisch entworfenen Ortes. Der Ort um die Sternwarte und den Telegrafen gerät für Gauß deshalb zu einer medial aufscheinenden »mythischen Geografie« 53 im Sinne Cassirers. Die medial initiierte und erträumt innovative, technisch belebte ›Welt‹ kann als Wunschprojektion des Protagonisten gelesen werden: Der Außenraum ist eigentlich ein Innenraum, ein durch die telegrafische Kommunikation hervorgebrachter körperlicher Erfahrungsraum, in dem neben dem Raum auch die Zeit aufgehoben scheint: Der den Raum überwindende Telegraf hebt die Zeit auf und erlaubt Gauß die Erinnerung an die tote Geliebte – ein Vorgang, der ihm an anderer Stelle vorkommt, »als wäre die Zeit vor- und zurückgeschnellt, als hätten sich mehrere Möglichkeiten eröffnet und gegenseitig wieder ausgelöscht.« (DVdW, 161) Damit wird eine Differenz zwischen medialer Dokumentation und persönlicher Memoria eröffnet, die sich im Kontext von Freuds Erinnerungsmodell lesen lässt: Dauer und Schutz von Erlebnisspuren sind nach Freud Schumacher. München: Fink 2004, S. 125 – 149, hier S. 127. Zu beachten und von Kehlmann inszeniert ist dabei aber stets auch die begrenzte Leistungsfähigkeit des Mediums, mit dem die Erfordernis verbunden ist, jede Botschaft auf ihre Notwendigkeit und lässliche Redundanz hin zu überprüfen (vgl. ebd., S. 129). 48 Vgl. McLuhan, Die magischen Kanäle. 1995, S. 17. 49 Vgl. Kapp, Ernst: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten. Braunschweig: Stern 1877, S. 139. 50 Vgl. Ruchatz, Das Telefon. 2004, S. 138. 51 Vgl. Großklaus, Götz: Medienphilosophie des Raums. In: Nagl/Sandbothe, Systematische Medienphilosophie. 2005, S. 3 – ­20, hier S. 3. 52 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. 9. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 112. 53 Ebd., S. 114.

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lediglich im Raum des konservierenden Vergessens möglich; allein das, was nicht bewusst wird, kann als ›Dauerspur‹ deponiert werden – das Vergessen schützt nach Freud die Eindrücke, während die Erinnerung diese entstellt und zersetzt: 54 »Damit gibt es keine Kontinuität von Erinnern und Erinnertem.« 55 Dieser Diskontinuität von Gedächtnis und Erinnerung trägt Kehlmann Rechnung, wenn das Gedächtnis als konservierte Spur durch die mediale Wahrnehmung zwar nicht zugänglich, jedoch als potentiell (träumend) erreichbar dargestellt wird: Die Gedächtnisfunktion der Schrift ist im telegrafischen Prinzip enthalten, da die gedruckte telegrafische Botschaft für eine Absicherung der immateriellen Kommunikation sorgt. 56 Gleichwohl wird Memoria als subjektiv-imaginativer Akt jenseits der Realien bestimmt. 57 Weder die persönliche Erinnerung noch Medien konservieren vergangene Ereignisse mimetischdokumentarisch, sondern konstruieren Gedächtnis-Bilder als selbstreferentielle Produkte ihrer Apparate. Erinnern, so lässt Kehlmann deutlich werden, ist ein autopoetischer Akt, ein konstruktivistischer Vorgang, der Bilder herstellt und arrangiert. 58 Ermöglicht wird dies durch die mediale Aufhebung von Raum und Zeit, die ja auch die erinnernde Fantasie kennzeichnet. Angefochten wird die Idee eines linearen Raum- und Zeitstrahls, der den Takt der Ereignisse uniformiert und Erinnerung zu einem planen Prozess werden lässt. Raum- und Zeiterfahrung werden subjektiviert und pluralisiert – und das in der Inszenierung der telegrafischen Medialität. Deren ›Zeit‹ kann mit Derrida ebenfalls als »tot« 59 bezeichnet werden, weil sie von einem Nicht-Gegenwärtigen (einerseits dem sich räumlich an einem anderen Ort befindlichen Kommunikationspartner, andererseits der räumlich wie zeitlich nicht ›anwesenden‹ Geliebten) durchzogen ist. Diese ›tote Zeit‹ kann als Prozess eines produktiven Gedächtnisses beschrieben werden: »Gedächtnisartig ist dieser Prozess der Spur, weil sich in der Spur etwas ›einprägt‹ oder ›eingeschrieben‹ hat und zwar über eine Distanz von einschneidender Bedeutung, eine Zäsur (wie etwa den Tod eines Individuums) hinweg.« 60

Produktiv ist dieses Gedächtnis, insofern als die Spur des Telegrafen etwas Abwesendes vergegenwärtigt und ein Vergangenes zeitigt.

54 Vgl. Schößler, Das Möbiusband der Erinnerung. 2007, S. 145. 55 Menke, Das Nach-Leben im Zitat. 1991, S. 84. 56 Vgl. Ruchatz, Das Telefon. 2004, S. 142. 57 Vgl. Schößler, Das Möbiusband der Erinnerung. 2007, S. 145. 58 Vgl. ebd. 59 Derrida, Grammatologie. 1992, S. 119. 60 Beuthan, Ralf: Medienphilosophie der Zeit. In: Nagl/Sandbothe, Systematische Medienphilosophie. 2005, S. 21 – 36, hier S. 31.

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III. Vom Telegrafen ist es kein weiter mediengeschichtlicher Schritt hin zum Medium des Telefons 61, zumal, wenn es um Fragen von Raum und Zeit geht. 62 In einem Beitrag für die Zeitschrift »Die Gartenlaube« aus dem Jahr 1881 heißt es denn auch programmatisch, das Telefon sei »nichts Anderes, als eine neue, siegreich vorgeschobene Etappe in dem glänzenden Kampfe des Menschengeistes gegen die so lange für unüberwindlich gehaltenen Mächte des Raumes und der Zeit.« 63

Obwohl die Realisierung eines »ausgedehnten Telephonweltverkehrs«, der »über Länder, Berge und Meere hinweg mündliche Verständigung ermöglicht« 64, wie sich ihn ein Autor wiederum in der »Gartenlaube« im Jahre 1891 erhofft, noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinter der Telegrafie zurücksteht, so ist im Prinzip des Telefonierens doch von Anfang an eine sinnlich-körperliche Erfahrung präsent, insofern damit nicht mehr eine abstrakt enkodierte Information, sondern die konkrete Sinnlichkeit der Stimme zur Kommunikation angeboten wird: »Damit wird nachrichtentechnische Synchronie tatsächlich als mediales Dabeisein erfahrbar.« 65 In dieser Hinsicht ist das Telefon also maßgeblich von der Telegrafie unterschieden: Die Medienforschung stellt heraus, dass die telefonische Information an Materialität zurückgewinnt, indem das Telefon den Sprechenden zwar räumlich vom Zuhörenden trenne, dennoch seine Individualität erhalte, indem diese über die Stimme in die Information eingeschrieben sei: »So entlegen das Telefon den Kommunikator optisch sein lässt, so akustisch präsent macht es ihn zugleich.« 66

61 Vgl. Ruchatz, Das Telefon. 2004, S. 127. 62 »Im Vergleich zur revolutionären Trennung von Information und Trägermaterie, die mit der Einführung der Telegrafie verbunden ist, brachte das Telefon lediglich eine geringfügige Optimierung, die kaum als bahnbrechend empfunden wurde, […] weil die telefonische Übertragung im Vergleich zum Telegrafen nur relativ kurze Strecken zu überwinden vermag.« (Ebd., S. 140 f.). 63 Mehring, Franz: Großstädtische Fernsprechnetze. In: Die Gartenlaube, 29, 1881, S. 531 – 534, hier S. 532. 64 H., J.: Das Zeitalter der Elektrizität. In: Die Gartenlaube, 39, 1891, S. 283 – 286, hier S. 286. 65 Ruchatz, Das Telefon. 2004, S. 145. In einem US-amerikanischen Handbuch wird daher das Telefon gleichsam als »Krönung« der Telegrafie demonstriert: »It [the telephone – der Verf.] speaks with the tones of the human voice; it speaks so that if three people are talking at one end, each of their voices is distinguished at the other, and you hear them all as if you stood in their presence« (Prescott, George B.: The Speaking Telephone. Talking Phonograph and other Novelties. New York: Appleton 1878, S. V). 66 Ebd., S. 141. Siehe dazu auch mit diversen Belegen Baumann, Margret: Mensch und Telefon – eine stimmige Verbindung. In: Mensch Telefon. Aspekte telefonischer

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Entsprechend hat es zum Medium Telefon eine Reihe von philosophischen bzw. oft eher theoretischen Äußerungen gegeben, die »meist äußerst knapp und in metaphorischer Art oder mit der Absicht, einen philosophischen Gedanken zu illustrieren und dadurch zu verdeutlichen« 67, ausgefallen sind, etwa von Friedrich Nietzsche 68, Georg Simmel 69, Charles Sanders Peirce 70, Walter Benjamin 71 oder Roland Barthes 72. Insbesondere hat Marshall McLuhan in »Understanding Media« das Telefon in seinen medientheoretischen Überlegungen berücksichtigt, und zwar im Kontext der bereits erwähnten Analogsetzung von menschlichem Körper und Mediensystemen. McLuhans Überlegungen bauen entsprechend darauf auf, dass Medien »Ausweitungen unseres Körpers in den Raum hinaus« 73 seien, und zwar dahingehend, dass nicht nur der Körper, sondern ebenso die Sinne »ausgeweitet werden«: »Medien stellen also eine Art Prothese oder Werkzeug dar, welches die Funktionen des menschlichen Körpers und seine sinnlichen Fähigkeiten über den gewohnten Raum hinaus technisch verstärkt oder verlängert.« 74

McLuhans These vom Telefon als ein den Körper erweiterndes Medium gehört in diesen theoretischen Zusammenhang, wenn er ausführt, mit dem Telefon komme es »zu einer Ausweitung des Gehörs und der Stimme, die eine Art außersinnliche Wahrnehmung darstellt« 75, was sich dann etwa in der Macht Kommunikation. Hrsg. von ders. und Helmut Gold. Heidelberg: Umschau/Braus 2000, S. 121 – 141, hier S. 122 f. 67 Roesler, Alexander: Medienphilosophie des Telefons. In: Nagl/Sandbothe, Systematische Medienphilosophie. 2005, S. 273 – 282, hier S. 274. Siehe auch Roesler, Alexander: Das Telefon in der Philosophie. Sokrates, Heidegger, Derrida. In: Telefonbuch. Beiträge zur Kulturgeschichte des Telefons. Hrsg. von Stefan Münker und Alexander Roesler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 142 – 160. 68 Nietzsche, Friedrich: Genealogie der Moral. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbände. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 5. München: dtv 1988, S. 346. 69 Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Hrsg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 671, 680. 70 Peirce, Charles Sanders: Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Edited by Charles Harsthorne and Paul Weiss. Vol. VIII. Edited by William Burks. Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1958, S. 144. 71 Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. In: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Helmut Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972 – 1999. Bd. IV.1. Hrsg. von Tillman Rexroth, 1991, S. 235 – 304, hier S. 242 f. 72 Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 97 f. 73 McLuhan, Die magischen Kanäle. 1995, S. 15. 74 Roesler, Medienphilosophie des Telefons. 2005, S. 274. 75 McLuhan, Die magischen Kanäle. 1995, S. 403.

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des Telefons äußere, jedes Unternehmen zu dezentralisieren, oder in der Unmöglichkeit, sich beim Telefonieren etwas bildlich vorzustellen, da dabei die völlige Anteilnahme der gesamten Person erforderlich sei, da es »die aktive Beteiligung unserer Sinne und Fähigkeiten« verlange: »Weil das Telefon ein sehr schwaches Hörbild vermittelt, verstärken und vervollständigen wir es durch den Einsatz aller anderen Sinne […].« 76 Damit erscheint das Telefon in McLuhans Terminologie als ein »kühles« Medium, da es »detailarm« sei, »weil das Ohr nur eine dürftige Summe von Informationen« 77 erhält, und zudem verlange das Telefon »mit der ganzen Kraft der elektrischen Polarität nach einem Partner.« 78 McLuhans Ausführungen über das Telefon sind kulturkritischer Art 79 und fügen sich in den eingangs angesprochenen Begriffshorizont der hier relevanten Ausrichtung der Medienphilosophie ein. 80 Sie weisen damit in eine Richtung, die ebenfalls Vilém Flusser bei seiner Explikation der »Geste des Telephonierens« interessiert, wobei dieser im Gesamten nachweisen will, dass »›Gestimmtheit‹ die symbolische Darstellung von Stimmungen durch Gesten ist.« 81 Eine Geste bedeutet für Flusser eine »Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt.« 82 »Gestimmtheit« löst die »Stimmungen aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus« und lässt sie »ästhetisch (formal werden) – in Form von Gesten« 83. Von dieser Idee ausgehend, muss man, so Flusser, die Funktion des Telefons von zwei Seiten aus in den Blick nehmen: von der Seite des Anrufers wie von derjenigen des Angerufenen; je nachdem von welcher Seite aus man das Telefon betrachtet, präsentiert es sich als ein völlig anderes Phänomen; für den Anrufer ist das Telefon ein Werkzeug, um dialogische Kommunikation zu initiieren, für den Angerufenen handelt es sich um ein Eindringen in dessen Lebenswelt. 84 76 Ebd., S. 407. 77 Ebd., S. 44 f. 78 Ebd., S. 407. 79 Vgl. Roesler, Medienphilosophie des Telefons. 2005, S. 275. 80 Siehe dazu auch die Überlegungen von Jacques Derrida, der dem Telefon zum Einen eine regelrecht antitotalitäre Wirkung zuspricht; zum Anderen konstituiert Derrida das Telefon als einen besonderen Apparat zur Bildung öffentlicher Meinung (vgl. Derrida, Jacques: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. 2 Bde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992, S. 34). Zur kritischen Einschätzung von Derridas Telefon-Denken siehe u. a. Roesler, Medienphilosophie des Telefons. 2005, S. 279. 81 Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf/Bensheim: Bollmann 1991, S. 12. 82 Ebd., S. 8. 83 Ebd., S. 14. 84 Vgl. Roesler, Medienphilosophie des Telefons. 2005, S. 275. Für den Angerufenen gibt es nach Flusser vier Typen des Eindringens in dessen Lebenswelt durch das

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Die Bemerkungen McLuhans und Flussers schlagen eine Brücke zu denjenigen Mediendiskursen, die mit der ›Apparatwirklichkeit‹ des Telegrafen- und Telefon-Mediums eröffnet und bei Daniel Kehlmann mit dem Memoria-Diskurs kurzgeschlossen werden. Bezeichnenderweise wird Erinnerung in dem im Anschluss an »Die Vermessung der Welt« erschienenen Roman »Ruhm« als kollektiv-dialogischer Akt thematisiert und anhand der telemedialen Möglichkeiten der Gegenwart vorgeführt. Hier ist daher nicht mehr der Telegraf präsent, sondern das Telefon in seiner postmodernen Form: als Mobiltelefon bzw. als Handy (später dann auch mit Blick auf Cyberspace und Virtual Reality). Thematisch wird mit dem Mobiltelefon nicht mehr ein Medium, in dem (wie beim Telegrafen) noch die Gedächtnisfunktion der Schrift enthalten ist, angesprochen; bedeutend wird vielmehr ein mündliches und damit flüchtiges, nur durch ein anderes Speichermedium festhaltbares Gerät, das einen signifikanten technischen Medienwandel durchlaufen hat, der die soziale Bedeutung des Telefons im Sinne ständiger Erreichbarkeit und beinahe völliger Raum- und Zeitüberwindung auf eine zuvor nicht realisierbare Ebene hebt. 85 Gleichzeitig ist durch die SMS-Funktion des Mobiltelefons der Schriftlichkeitsdiskurs doch wieder enthalten, wenn auch innerhalb des dem SMS-Schreiben inhärenten Gebots der Kurz- und Kürzest-Mitteilung und der zu diesem Zweck wiederum ebenfalls codierten Botschaft. Damit ist, wie Kehlmann selbst in einem Interview mit der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« sagt, eines der Hauptmotive in »Ruhm« die »Kommunikationstechnologie, wie sehr man sich auf sie verlässt, was ihr Versagen anrichten kann und vor allem wie sie Parallelwirklichkeiten schafft.« 86 Die Transzendenz Läuten des Telefons: »1) Man erwartet ungeduldig auf den Anruf und das Läuten ruft eine Anspannung hervor, 2) das Läuten unterbricht die Konzentration, 3) man entspannt sich gerade und empfindet das Läuten als Aggression, und 4) ist das Läuten Bestandteil der Lebenswelt, z. B. in einem Büro« (ebd., S. 276). 85 Vgl. Faulstich, Werner: Medienwissenschaft. Paderborn: Fink 2004, S. 111. 86 Lovenberg, Felicitas von: In wie vielen Welten schreiben Sie, Herr Kehlmann? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Dezember 2008. Siehe dazu auch Gasser, Das Königreich im Meer. 2010, S. 124: »Kehlmann kommt es in Ruhm? erst gar nicht in den Sinn, irgendwelche ›Kritik‹ zu ›üben‹ an der Kommunikationstechnologie, um den Nachkommen der unzähligen Fans gesellschaftlichen Niedergangs gefällig zu sein, für die, Kathrin Passigs kleiner Geschichte der Technologiekritik zufolge, bereits das nicht mehr handgeschriebene Buch ein Vorbote der Apokalypse gewesen war, die Daguerreotypie, dann Fotografie eine Erfindung Satans und das Kino eine nicht weniger humanitätswidrige Nichtigkeit und Massenillusion, für die das Telefon nur zu ›Entfremdung‹ führen konnte und zu einer Flut inhaltslosen Wortlärms, das Telegramm, dann die Postkarte die Beerdigung der Briefkultur und die Schreibmaschine dann das Ende der Schreibkultur war, die SMS-Nachricht die Sprache der Jugend verrohte, die Präsentationssoftware Powerpoint dem Denken und das Internet der Öffentlichkeit überhaupt den Garaus machte.« Zum Motivkomplex des Teufels bei

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der Realität mittels des Mediums ist erneut Kehlmanns Thema, das er ästhetisch reflektiert und imaginiert; für ihn ändert sich angesichts der neuen Medientechnologie vor allem das literarische Erzählen. Im Interview sagt Kehlmann: »Den großen Abschied zum Beispiel gibt es nicht mehr. Ein Mann und eine Frau fallen sich um den Hals, Geigenmusik, Nimmerwiedersehen, gebrochene Herzen. Die Frau geht an Bord des Flugzeugs ­– und noch vor dem Start schickt sie eine SMS. Und von da an gehen jede Stunde Nachrichten hin und her. Das ist eine tief andere Lebenswirklichkeit, auch seelisch. Das kommt mir als Autor natürlich entgegen. Ich interessiere mich schon immer für den Surrealismus, für das Unwirklichwerden des Alltags. Mobiltelefone und E-Mails schaffen eine Parallelwirklichkeit. Man kann neben dem eigenen zusätzliche Leben führen – ein weiteres Thema des Romans.« 87

In der ersten ›Geschichte‹ von »Ruhm« wird diese ontologische Option allerdings in Frage gestellt und dekonstruiert sowie gleichsam ihre soziale Schattenseite vor Augen geführt. Der Techniker Ebling, der sich jahrelang geweigert hat, ein Mobiltelefon zu kaufen, in der Erzählgegenwart aber von diesem immens beeindruckt ist (»Schlechthin perfekt war es, wohlgeformt, glatt und elegant«; R, 7), sieht sich eines Tages damit konfrontiert, plötzlich über den Mobiltelefonanschluss einer anderen Person zu verfügen. Nach anfänglicher Irritation begibt er sich am Telefon nicht allein in die Rolle dieses Anderen, er übernimmt am Ende dessen Identität, lebt – in der ›Wirklichkeit‹ des Mobiltelefons – dessen Dasein und verzweifelt schließlich daran, dass das Telefon dann doch irgendwann verstummt, womit ihm das neue Leben verwehrt bleibt, da ihn niemand anruft. Das Eindringen in die Lebenswelt des Angerufenen im Sinne Flussers potenziert sich zur Krise des postmodernen Subjekts. »Ruhm« besitzt von Beginn an eine sowohl medien- wie sozialreflexive Dimension, die mit einer Identitätsproblematik der Figuren eng umklammert ist: Diese können mit Hilfe unterschiedlicher Medien die Identität anderer Personen annehmen und sind somit auf eine uneindeutige Identität festgelegt. Zugleich eröffnet sich ihnen die sie umgebende ›Welt‹ als ebenso unsicher bzw. brüchig; ihnen erscheint die eigentliche ›Wirklichkeit‹ oftmals illusionistisch, unwirklich, etwa wenn in dem Kapitel »In Gefahr« der Schriftsteller Leo Richter durch ein Flugzeugfenster blickend erklärt: »Wie eine große Attrappe. Eine Platte mit in paar hundert Glühbirnen. Vielleicht fliegen wir ja nicht, vielleicht sind wir gar nicht hier. Alles ein Trick.« (R, 32) Die Unsicherheit bzw. Brüchigkeit von Identität und Welt wird zudem über den reflexiven Gegenstand der Literatur verhandelt. Die Geschichte »Rosalie geht sterben« repräsentiert eine literarische Fiktion der Kehlmann-Figur Leo Kehlmann siehe Joachim Rickes: Die Metamorphosen des ›Teufels‹ bei Daniel Kehlmann – »Sagen Sie Karl Ludwig zu mir«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. 87 Lovenberg, In wie vielen Welten schreiben Sie, Herr Kehlmann? 2008.

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Richter, in der dieser als Autor darüber nachdenkt, seine Figur Rosalie, die er als todkrank erfindet und von der er auf dem Weg zu ihrem klinisch-kontrollierten Suizid erzählt, doch nicht sterben zu lassen, sie statt dessen am Schluss einfach in eine andere erzählte Welt transportiert, in der sie wieder jung und gesund ist. 88 Diese Episode nutzt Kehlmann metareflexiv, um die Möglichkeiten der ›Wirklichkeits‹-Veränderung am Medium der Literatur zu demonstrieren; er exemplifiziert sein Generalthema der doppelten Welt und des Identitätsverlustes anhand der fiktiven Schreib-Szene eines Autors, die diesen wiederum auf sich selbst zurückwirft. Leo Richter führt aus: »Und zugleich, ich kann es nicht leugnen, kommt mir die absurde Hoffnung, daß dereinst jemand dasselbe für mich tun wird. Denn wie Rosalie kann auch ich mir nicht vorstellen, daß ich nichts bin ohne die Aufmerksamkeit eines anderen, ja daß meine bloß halbwahre Existenz endet, sobald dieser andere den Blick von mir nimmt – so wie eben jetzt, da ich diese Geschichte endgültig verlasse, Rosalies Dasein erlischt. Von einem Moment zum nächsten. Ohne Todeskampf, Schmerz oder Übergang.« (R, 76 f.)

Diese Nicht-Identität, wie sie fiktive Figuren repräsentieren, wird in »Ruhm« dadurch forciert, aber auch dekonstruiert, dass Kehlmann die Differenz zwischen den Figuren offensiv an die telemediale Kommunikation und damit an die Aufmerksamkeit eines Telefon-Partners bindet, beispielweise wenn es heißt: »Im Frühsommer seines neununddreißigsten Jahres wurde der Schauspieler Ralf Tanner sich selbst unwirklich. Von einem Tag zum nächsten kamen keine Anrufe mehr.« (R, 79)

Damit knüpft Kehlmann an die erste Geschichte des Romans an, in der, wie gesagt, ein Techniker telefonisch eben die Identität eines gewissen Tanners übernimmt. Bezeichnenderweise versucht Tanner nun hier, seine Wirklichkeit medial zu überprüfen, indem er seinen Namen »googelt«, den über ihn verfassten »Wikipedia«-Artikel korrigiert und Auftritte eines »ziemlich guten Ralf-Tanner-Imitators: einem Mann, der ihm täuschend ähnlich sah und dessen Stimmen und Gesten fast die seinen waren« (R, 80) auf »Youtube« betrachtet. Kehlmanns Romanfigur versucht dadurch, dem medial konstruierten und medial existierenden Abbild seiner selbst habhaft zu werden – in dem Bewusstsein, ohne die mediale Erreichbarkeit (durch das Mobiltelefon) und ohne die mediale Präsenz (im Internet) in Wirklichkeit womöglich wirklich tot zu sein, d. h. wie eine Fiktion ohne die Aufmerksamkeit im Medium als Person und Mensch zu verschwinden. Auch mit den Bildmedien wird dieser Kurzschluss im Roman festgelegt. Über Tanner heißt es: 88 Siehe dazu auch Gasser, Das Königreich im Meer. 2010, S. 112: »Der Mörder ist immer der Autor. Und so steht der tückische Roman Ruhm von 2009, ein Horrorstück, in dem Komik, Groteske und schieres Grauen gleichermaßen die Führung übernehmen und sich alles aus Kehlmanns bisherigem Werk zusammenballt, am vorläufigen Ende einer solchen Reihe schriftstellerischer Kapitalverbrechen […].«

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Oliver Ruf »Er hatte schon lange den Verdacht, daß das Fotografiertwerden sein Gesicht abnützte. Sollte es möglich sein, daß jedesmal, wenn man gefilmt wurde, ein anderer entstand, eine nicht ganz gelungene Kopie, die einen aus sich selbst verdrängte? Ihm war, als wäre nach den Jahren des Bekanntseins nur mehr ein Teil von ihm übrig und als brauchte er bloß noch zu sterben, um einzig und allein dort zu sein, wo er eigentlich hingehörte: in den Filmen und auf den unzähligen Fotografien. Und jener Körper, der noch immer atmete, Hunger hatte und sich aus irgendwelchen Gründen hier und dort herumtrieb, würde endlich nicht mehr stören – ein Körper, der dem Filmstar ohnehin nicht sehr ähnlich war.« 89 (R, 81 f.)

Die Bilder (der Fotografie sowie des Films) konservieren für Tanner die Erinnerung an seine ›wirkliche‹ Identität; diese Medien der Erinnerung, der Konservierung zeigen ihn (ähnlich wie in der Telegrafen-Szene in »Die Vermessung der Welt«) als ein Gespenst, d. h. als ein vergangenes Subjekt, als einen tatsächlich Toten. Gasser führt aus: »Dann sind Telefongespräche plötzlich Geistergespräche, Fotoalben, Totenalben, dann ist ein Kinosaal ein Reich auf Celluloid gebannter Schauspieler, die im Licht des Tages draußen längst verblichen sind. […] Kaum einer denkt heute mehr daran, wie zauberisch und doch auch bestürzend gespenstisch nach der Erfindung der Fotografie die des Telefons einmal war: Weit weg war der andere und ­– unsichtbar – zugleich gegenwärtig ganz dicht am Ohr. Er war da – und dennoch fern. […] in den magischen Membranen des Telefons war etwas von Unsterblichkeit zu spüren, so wie die Stimmen der geliebten Toten noch lange in uns verweilen […].« 90

Diese testamentarische Struktur führt »Ruhm« ausdrücklich vor, wenn sich die Figur Tanner als Schauspieler nicht mehr an einen Film erinnern kann, in dem er mitspielt und der in der Erzählgegenwart für das Kino in einem weiteren Medium, dem Fernsehen, angekündigt wird (R, 88). Ein Doppelgänger, so erzählt es Kehlmann, tritt zunächst in allen Medien an die Stelle der Figur, bis diese sich selbst auflösen sieht: »Unwillkürlich versuchte er, sein Bild in der Scheibe zu sehen, aber es gelang nicht, genausowenig wie in den Schaufenstern, nirgendwo schien es mehr spiegelnde Flächen zu geben.« (R, 89)

Am Ende erweist sich jedoch – als Clou der Geschichte –, dass die Figur es sich auch wiederum erträumt haben könnte, der berühmte Schauspieler zu sein, 89 Zur Idee des Sterbens durch das Medium Fotografie siehe etwa Wetzel, Michael: Die Zeit der Entwicklung. Photographie als Spurensicherung und Metapher. In: ZeitZeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit. Hrsg. von Georg Christoph Tholen und Michael O. Scholl. Weinheim: VCH 1990, S. 265 – 280, hier S. 269 f.; Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985; Sontag, Susan: Über Fotografie. Frankfurt/M.: S. Fischer 1980, S. 72. 90 Gasser, Das Königreich im Meer. 2010, S. 122 f.

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und dass alles ein medial durchwobenes Trugbild, ein sich in täuschenden Erinnerungen äußernder Selbst-Betrug ist, oder aber dass dieses Selbst durch die Medien getötet worden ist, und zwar in dem Moment, als das Selbst konserviert werden sollte: »An einer Bushaltestelle blieb er stehen, aber dann entschied er sich anders und ging weiter, ihm war jetzt nicht danach. Es war jedesmal seltsam, öffentliche Verkehrsmittel zu benützen, wenn man einem Star ähnlich sah. Die Leute starrten, Kinder stellten dumme Fragen, und man wurde mit Telefonen fotografiert. Oft machte es ja auch Spaß. Manchmal schien es einem, als wäre man ein anderer.« (R, 93)

Und so verschwinden Kehlmanns Figuren, verflüchtigen sich, entgleiten in regelrecht surrealistischer Manier. 91 Die ›Geschichten‹, die Kehlmann erzählt, ihre Brüche und Sprünge, die dennoch von inhaltlichen Kohärenzen zusammengehalten werden, entsprechen diesem Verfahren wie ebenfalls ihre psychoanalytischen Anspielungen. Sie bilden die sie konstruierenden und auslösenden Medien ab, Fotografie und Film wie Internet- und Telekommunikation. Der Inhalt wiederholt die Struktur der Medien. In diesem Sinne bildet »Ruhm« einen traumhaften, transzendenten Gedächtnisraum, aus dem es kein Entkommen gibt, etwa wenn in »Osten« die Protagonistin, die anstelle Leo Richters eine Reise in ein fremdes Land unternimmt, dort regelrecht verlorengeht, nachdem der Akku ihres Handys schwächer wird und die Verbindung abbricht (R, 113), so, als existiere sie nur dann, wenn dieses Medium funktioniert und ihre Präsenz beglaubigt: »Sie hörte sich atmen, und da begriff sie, daß sie bereits schlief und im Traum auf sich selbst herabsah. Mit verblüffender Klarheit wußte sie, daß solche Momente selten waren und daß man vorsichtig mit ihnen umgehen mußte. Eine falsche Regung, und man fand nicht mehr zurück, und schon war das alte Dasein dahin und kam nie wieder. Sie seufzte. Oder vielleicht 91 Der Roman »Ruhm« sollte denn auch ursprünglich »Die Verschwundenen« heißen (vgl. ebd., S. 122). In einer nicht darin enthaltenen Erzählung (Kehlmann, Daniel: Leo Richters Porträt. Reinbek bei Hamburg: rororo 2009), in der Leo Richter vom Journalisten Guido Rabenwall bedrängt wird und für die Roland Barthes’ Theorem vom Tod des Autors als Folie dienen kann, fühlt Richter nach einer Lesung (dem Motiv des Verschwindens folgend), als stünde er hinter sich und sähe über die eigene Schulter, und er »dämmert – buchstäblich sterbenserschöpft – der eigenen Verflüchtigung entgegen. Er verliert seine Konturen im Halbschlaf, träumt noch seinen ersten Roman, wie Ruhm einer ist, geht in jenes andere Wesen über, das die Öffentlichkeit mit ihren Fragen aus ihm fabriziert hat, und hört, ein lächerlicher Spuk, zu existieren auf … wenn auch nur für diese eine Nacht« (Gasser, Das Königreich im Meer. 2005, S. 131). Zu einer derartigen Konstruktion und Destruktion des Künstler-Mythos bei Kehlmann siehe auch Feulner, Gabriele: Mythos Künstler. Konstruktionen und Destruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts. Berlin: Erich Schmidt 2010, S. 422 – 439.

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Oliver Ruf träumte sie nur, daß sie das tat. Dann, endlich, erlosch ihr Bewußtsein.« (R, 119)

Der Roman »Ruhm« erinnert, d. h., er konstruiert menschliche Existenzen, die durch Medien auf ihre Seelenlandschaft blicken, auf ihre Wünsche, Ängste und Nöte. Und der Roman führt aus, wie mittels Medien neue ›Welten‹ entstehen, nachdem diese zunächst das entsprechende Subjekt ausgelöscht haben. Das Kapitel »Ein Beitrag zur Debatte« versinnbildlicht den selbstreferenziellen Aspekt von medialer Memoria, denn es führt in der Sprache eines Internet-Bloggers, der offenbar auch für die Verschaltung der MobiltelefonAnschlüsse in »Ruhm« verantwortlich zeichnet, in Form eines von diesem geschriebenen Internet-Blogs vor, wie die Figur »mollwitt« wiederum in der eigenen Lebenswirklichkeit grandios als Außenseiter scheitert, ein ›echtes‹ Parallelleben in der Virtualität führt und, als er durch eine Vortragsreise gezwungen ist, offline zu sein, den durch die vorangegangenen Geschichten ja hinlänglich bekannten Schriftsteller Leo Richter, den er zufällig trifft, dazu zu bringen versucht, ihn als Figur zum Gegenstand einer seiner Romane zu machen. Kurz: Der in der realen ›Welt‹ scheiternde und sich virtuell auslebende »mollwitt« begehrt ein fiktives Leben, um die von ihm verehrte Romanfigur Lara innerhalb der Fiktion kennen zu lernen. Als er auch damit scheitert, versucht er, den medialen Tod des Schriftstellers zu forcieren, 92 dies jedoch in dem Bewusstsein, auf das ›reale‹ Dasein für immer zurückgeworfen zu sein. »mollwitt« resü­miert: »Er wird nichts über mich schreiben, ich werde Lara nie treffen. Reality wird alles sein, was es für mich gibt […]. Ich hab für immer nur mich. Immer bloß hier, auf dieser Seite, auf der andren: never. Keine andre Welt. […] Alles geht weiter wie immerschon immer. In einer Geschichte, das weiß ich jetzt, werde ich nie sein.« (R, 158)

Die virtuelle Realität, in der sich Kehlmanns Figur bewegt, soll als Vorstufe, als Sprungbrett für eine bessere, und zwar die literarische ›Wirklichkeit‹ genutzt werden; doch das Unternehmen ist zum Scheitern verurteilt. Erhofft wird die Produktion von Dauerhaftigkeit, der Verewigung des Körpers in der Fiktion, also ein Zustand, in dem dem medienphilosophischen Verständnis gemäß das Phänomen medial erzeugter und erlebter Erfahrungsräume bzw. Situationen, in denen die leibliche Anwesenheit medial überschritten wird, 93 erreicht ist. Der Wunsch, derart Erinnertes selbst zu werden, so verdeutlicht die Episode aus »Ruhm«, findet in einem sozialen Netzwerk statt, in der vergangene Ereignisse gemeinsam erlebt werden. Nur deshalb schreibt »mollwitt« überhaupt seinen 92 »mollwitt« kommentiert: »Im literaturhaus-Forum hab ich geschrieben, daß seine Bücher Müllmist sind, und bei Amazon, na frage nicht. Aber das bringt nichts, das liest der doch nie« (R, 158). 93 Vgl. Münker, Stefan: Medienphilosophie der Virtual Reality. In: Nagl/Sandbothe, Systematische Medienphilosophie. 2005, S. 382 – 396, hier S. 381.

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Medienphilosophie und Memoria bei Daniel Kehlmann

Blog über das Treffen mit Leo Richter. Erinnerung entsteht hier erst in einem gemeinsamen, digital-dialogischen Raum, in dem die Grenzen und Identitäten zwischen Personen verschwimmen, denn »mollwitts« Geschichte ist grundsätzlich unsicher erzählt; wer sich hinter dem Namen »mollwitt« verbirgt, ist im Cyberspace zunächst unklar, ebenso wie die Aussagen, die hier als ›echte‹ Erlebnisse geschildert werden. Hat Maurice Halbwachs von einem sozialen Gedächtnis gesprochen, d. h. von sozialen Rahmen, die die Erinnerung kollektiv organisieren, 94 so ist Erinnerung bei Kehlmann zumindest ein potentiell gemeinschaftliches Projekt, ein sozialer und dialogischer Akt 95 – auch wenn dieser am Ende im Vergessen mündet. Im Medienvergleich lässt sich konstatieren: Bleibt bei Kehlmann die Erfahrungswelt der virtuellen Realität eines Telefonats auf den Hörraum von Stimmen beschränkt, so »öffnet sich allein die komplexe Installation einer lokalen virtuellen Realität nahezu dem gesamten sensorischen Wahrnehmungssystem desjenigen, der in sie eintaucht.« 96 Bei Kehlmann ist dies um Erinnerungsräume herum situiert, die durch Räume medialer Kommunikations-, Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten eröffnet werden, welche durch die spezifisch ästhetische Differenz der Wahrnehmungssituation gekennzeichnet sind. 97 Jedoch mündet diese Differenz nicht in einem zweiten Leben, sondern am Ende in der vermeintlich echten Realität, aus der es dann doch kein Entkommen gibt. Die beiden letzten Geschichten in »Ruhm« verdeutlichen diese Lesart. In »Wie ich log und starb« ist es ausgerechnet ein Spezialist für mobile Kommunikation, dem sein eigenes Handy »unheimlich« ist, da es »die Wirklichkeit aus allem« nehme. (R, 163) Kehlmann erzählt, wie diese Figur beginnt, ein Doppelleben mit zwei Frauen zu führen, für dessen Etablierung das Mobiltelefon eine entscheidende Rolle spielt: Per SMS simuliert er, an Orten zu sein, an denen er sich nicht befindet, um beide Frauen zu belügen. Ort und Zeit erscheinen somit als aufgehoben, zumindest im Akt der Täuschung. Dabei gehört es zur erzählerischen Konstruktion des Romans, dass es sich bei dem Protagonisten um den Vorgesetzten von »mollwitt« handelt. Am Schluss offenbart er sich, wie für den Roman »Ruhm« symptomatisch, vor sich selbst, wenn er sich vom 94 Vgl. Schößler, Das Möbiusband der Erinnerung. 2007, S. 151 sowie Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart: Enke 1967. 95 Zum Verfahren des dialogisch Erinnerten vgl. wiederum Schößler, Das Möbiusband der Erinnerung. 2007, S. 151. 96 Münker, Medienphilosophie der Virtual Reality. 2005, S. 391. 97 Zum Begriff der »ästhetischen Differenz« im Hinblick auf »virtuelle Realität« siehe auch ders.: Was heißt eigentlich ›Virtuelle Realität‹? Ein philosophischer Kommentar zum neuesten Versuch der Verdopplung der Welt. In: Mythos Internet. Hrsg. von dems. und Alexander Roesler. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, S. 108 – 127, hier S. 123 f.; ders.: Vermittelte Stimmen, elektrische Welten. Anmerkungen zur Frühgeschichte des Virtuellen. In: ders./Roesler, Telefonbuch. 2000, S. 185 – 198, hier S. 187.

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Unheimlichen heimgesucht fühlt, um sich »ohne Geheimnis, Schein, Phantasie und Trug« zu sehen, »ganz so, wie [er] wirklich war.« (R, 190) Die Handlung des Romans läuft darauf hinaus, dass sich die Erzählwirklichkeit des Textes und diejenige der Fiktionen Leo Richters in einer einzigen Erinnerungssequenz verbinden. »Das alles passiert nicht wirklich«, sagt deshalb eine Figur Leo Richters zu diesem, der ja Kehlmanns Figur ist. Richter antwortet: »Wirklich. Dieses Wort heißt so viel, daß es gar nichts mehr heißt.« (R, 200) Weiter heißt es: »›Ich wußte, du machst das mit mir. Ich wußte, ich komme in eine deiner Geschichten! Genau das wollte ich nicht!‹ ›Wir sind immer in Geschichten. […] Geschichten in Geschichten in Geschichten. Man weiß nie, wo eine endet und eine andere beginnt! In Wahrheit fließen alle ineinander. Nur in Büchern sind sie säuberlich getrennt.‹« (R, 201)

Es ist nur konsequent, dass Kehlmann Leo Richter in dieser ›Geschichte‹ nunmehr verschwinden lässt, dass er Richter seiner Figur gegenüber immer unrealer vorkommen lässt, »fast durchsichtig schon und nur mehr wie ein Statthalter seiner selbst.« (R, 202) Der Autor Leo Richter wird dann zur Stimme, »beinahe körperlos, sie schien von überallher zu kommen und war doch kaum zu hören.« (R, 202) Die Geschichte inszeniert noch einmal die Überschreitung der ›Wirklichkeit‹ hin zu ›Welten‹, die nur im Traum erreichbar sind: »Wohin der Schlaf sie schicken mochte?«, fragt sich Richters Figur. »Plötzlich war es ihr egal. Ihr Telefon läutete. Sie achtete nicht darauf.« (R, 203) Das Handy klingelt, wie schon zu Beginn des Romans, nur diesmal, so Kehlmann, »in einer Region, wo es keinen Empfang gibt und es gar nicht läuten könnte.« 98 IV. Kehlmanns Werke repräsentieren insgesamt eine kollektive Erinnerung an die Historie und den Wandel der Medien, mit denen die Historie und der Wandel der sozialen Umwelt des Menschen unmittelbar verbunden sind; sie erfüllen – mit den Mitteln der Literatur – jene »soziale Funktion«, 99 die der Medienphilosophie zugeschrieben wird, nämlich die Problematik zu diskutieren, in Medien das materiale Prinzip einer Konstitution von Wirklichkeit, Erkenntnis, Kommunikation, Subjektivität und dergleichen zu sehen. 100 Diese Konstitution reinszeniert Kehlmann, wobei er sie mit unterschiedlichen kulturellen Zeichen 98 Lovenberg, In wie vielen Welten schreiben Sie, Herr Kehlmann? 2008. 99 Rorty, Richard: Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 40. 100 Vgl. Mersch, Dieter: Technikapriori und Begründungsdefizit. Medienphilosophien zwischen uneingelöstem Anspruch und theoretischer Neufundierung. In: Philosophische Rundschau, 50.3, 2003, S. 193 – 219, hier S. 201.

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Medienphilosophie und Memoria bei Daniel Kehlmann

überlagert. So wird Tradition aufgerufen und Kultur zitiert, so dass seine literarischen Werke nicht zuletzt auch eine intertextuelle Literatur darstellen, die neben ihren intermedialen Durchsetzungen ebenfalls in literarischen Allusionen zum Ausdruck kommt. Kehlmann hat dazu angemerkt, etwa mit »Ruhm« an unterschiedliche Formen der Kurzgeschichte z. B. von Raymond Carver oder an Luis Bunuel anknüpfen zu wollen. 101 Hinzufügen ließe sich u. a. auf gleicher Motivebene Marcel Proust. 102 Es ist aber vor allem, so meine Schlussfolgerung der Deutung der beiden Romane, die intertextuelle Intermedialität, die eine ästhetische Form von Erinnerung auf einer metafiktionalen Ebene darbietet. In Bezug auf den Memorialaspekt lässt sich damit festhalten, dass es diese Bezüge als Erinnerungsstrategie sind, 103 die dem zitierten ›Material‹ (seien es Medien, sei es Literatur) eingeschrieben sind. Kehlmanns Werke vergegenwärtigen Chiffren der mediengeschichtlichen sowie medientheoretischen Tradition, revitalisieren sie, schreiben sie um und stellen sie auf diese Weise eigentlich erst her. Erst durch derartige Imitation, Zitation werden Originale produziert. Kehlmanns Werke machen die Erinnerungsstrukturen der Medien selbst zu ihrem Inhalt. 104 Die Erinnerungen der Figuren sind diejenigen der jeweils angewandten Medien. Versucht man, wie ich es im vorliegenden Beitrag unternommen habe, Medienphilosophie und den Memoria-Diskurs am Beispiel der Literatur Daniel Kehlmanns in Verbindung zu bringen, so ist zweierlei zu bedenken: Erstens, dass hier Erinnerung an technisch-materiale Medien gebunden ist; zweitens, dass dabei die technisch-materialen Medien nicht als Erklärungsfundamente der spezifischen Erinnerungsleistung ausreichen, sondern wesentlich im Kontext einer spezifischen kulturellen Lebenspraxis verortet sind. Dies geschieht, wie eingangs angedeutet, durch Umcodierungsprozesse, die sich unter den symbo101 102 103 104

Vgl. Lovenberg, In wie vielen Welten schreiben Sie, Herr Kehlmann? 2008. Dazu näher Gasser, Das Königreich im Meer. 2010, S. 122 f. Vgl. Schößler, Das Möbiusband der Erinnerung. 2007, S. 150. Dass Kehlmanns Werke zahlreiche unterschiedliche Deutungsebenen bereithalten, ist evident. Verwiesen sei beispielweise auf die divergenten Lektüren der »Vermessung der Welt« von Friedhelm Marx (Marx, Friedhelm: Die Vermessung der Welt als historischer Roman. In: Nickel, Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. 2008, S. 169 – 185; ders.: Die Wahrnehmung der Fremde in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt. In: Ins Fremde schreiben. Gegenwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdeckungsreisen. Hrsg. von Christof Hamann und Alexander Honold. Göttingen: Wallstein 2009, S. 103 – 115); Ulrich Fröschle (Fröschle, Ulrich: »Wurst und Sterne.« Das Altern der Hochbegabten in Die Vermessung der Welt. In: Nickel, Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt. 2008, S. 186 – 197) und Stephanie Catani (Catani, Stephanie: Formen und Funktionen des Witzes, der Satire und der Ironie in Die Vermessung der Welt. In: ebd., S. 198 – 215; dies.: Metafiktionale Geschichte(n). Zum unzuverlässigen Erzählen historischer Stoffe in der Gegenwartsliteratur. In: Hamann; Honold, Ins Fremde schreiben. 2009, S. 143 – 168, insbes. S. 158 f.).

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lisch prägenden Bedingungen epochaler Leitmedien vollziehen, welche dann als Instanzen bzw. »Kanäle« der Sinne durch Vermittlung, Veröffentlichung und memoriale Speicherung des kulturellen Sinns fungieren 105 – eines ›Sinns‹, in dem die (mediale) Wahrnehmung einer wie auch immer gearteten, Raum und Zeit suspendierenden, anderen ›Welt‹ immer mitgedacht ist. Helmut Krausser hat ein solches Mitdenken einer anderen ›Welt‹ im Hinblick auf Kehlmanns Roman »Mahlers Zeit« auf den Punkt gebracht: 106 »Eine verstörend komplizierte Erzählung wird, nach etlichen Ausflügen in die Unendlichkeit des Denkens, zurückgeführt zu ihrem Anfang, dem Ausgangspunkt allen menschlichen Strebens nach Wahrheit, letztlich nach der Überwindung des Todes, der Vergänglichkeit. Mag es Mahler in Person auch nicht geschafft haben, drückt der Roman dennoch aus, worum sich jenes pionierhafte Denken der Menschheit in seiner Essenz dreht – und dass es in dieser Richtung immer weitergehen wird, bis einstmals die Zeit vielleicht tatsächlich angehalten werden kann. In einer Weise, die unsere Vorstellungskraft übersteigt.« 107

105 Siehe dazu auch Großklaus, Medienphilosophie des Raums. 2005, S. 5; Giesecke, Michael: Medienphilosophie der Sinne. In: Nagl; Sandbothe, Systematische Medienphilosophie. 2005, S. 37 – 62. 106 Dass es sich lohnt, auch »Mahlers Zeit« (oder auch »Ich und Kaminski«) aus medienphilosophischer Perspektive neu zu lesen, kann an dieser Stelle nur betont werden. Aus Platzgründen muss auch dieses Vorhaben der zukünftigen KehlmannForschung vorbehalten bleiben. 107 Krausser, Helmut: Ich und Kehlmann. Und Mahlers Zeit. In: Text+Kritik, 177: Daniel Kehlmann, 2008, S. 54 – 57, hier S. 57.

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Brauchen wir noch Verlage? Vom Schreiben und Publizieren im Zeitalter des Internet? –

Carsten Gansel und Elisabeth Herrmann im Gespräch mit Andreas Barth, Markus Frank, Wolfgang Farkas, Sabrina Janesch und René Strien

Carsten Gansel:  Der Titel unserer Gesprächsrunde »Brauchen wir noch Verlage? Vom Schreiben und Publizieren im Zeitalter des Internet?« wirkt zunächst fast rhetorisch. Allerdings muss man konstatieren, dass es gegenwärtig im Sinne von Niklas Luhmann Irritationen und Störungen gibt. Zur Debatte steht nicht erst heute die Zukunft des Lesens, es geht um Autorinnen und Autoren und vor allem auch um jene, die die Bücher produzieren, die Verlage. Und dies meint Autoren- bzw. Publikumsverlage und Wissenschaftsverlage gleichermaßen. Elisabeth Herrmann:  Frau Janesch, ich möchte meine erste Frage an Sie richten. Wie wichtig ist für Sie als junge Autorin – Sie haben gerade im Aufbau Verlag ihren Debütroman veröffentlicht – die Verortung im Internet? Wie wichtig sind Facebook oder Twitter, um als Autorin aufzutreten und am Literaturbetrieb teilzunehmen? Sabrina Janesch:  Ich habe eine Homepage mit einem Blog, den ich aber sträflich vernachlässige. Als ich in Danzig Stadtschreiberin war, war es eine meiner Aufgaben täglich oder zumindest wöchentlich einen Blogeintrag zu verfassen. Ich habe einen Facebook-Account, ich schaue mir an, was Leute twittern, ich schreibe exzessiv E-Mails. Ich sehe bei all dem aber eine Gefahr für mich als Schriftstellerin, die am besten jeden Tag auch ein paar Seiten des neuen Romans verfassen sollte. Die Gefahr, mich aussaugen zu lassen im Internet durch all die Gelegenheiten, etwas zu schreiben. Am Ende des Tages habe ich dann oft so einen Widerwillen, dass ich gar nichts mehr schreiben möchte, auch keine einzige E-Mail, nicht einmal einen Einkaufszettel. Von daher ist es wichtig, mich ein bisschen von alldem fernzuhalten. Was für mein Schreiben allerdings wesentlich ist, ist YouTube. In meinem neuen Ro-

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Gespräch

man wird der Irak an ein paar Stellen auftauchen – ich schreibe über einen Soldaten – und da sind die YouTube-Videos eine wichtige Online-Quelle, die mich inspiriert. Carsten Gansel:  Für die Autorin Sabrina Janesch spielt das Internet also eine entscheidende Rolle. Ich gebe die Frage einmal an die hier versammelten Vertreter der Verlagsbranche weiter. Welche Rolle spielt für Verlage der digitale Markt? Ist das Internet für Autorenverlage wie Aufbau und Blumenbar oder für einen Wissenschaftsverlag wie Winter eine Herausforderung und inwieweit stellt man sich dieser Herausforderung? René Strien:  Ich nehme das einmal als rhetorische Frage. Für mich als Geschäftsführer und Programmdirektor des Aufbau Verlages ist die Auseinandersetzung mit dem Online-Markt inzwischen selbstverständlich. Man muss sich nur die Branchenpresse anschauen. Wir erleben hier einen Paradigmenwechsel, der sich in verschiedenen Bereichen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit vollzieht. Ganz genau vorhersagen kann man diese Umwälzung für unseren Bereich wohl nicht. Man muss sich aber die Bedeutung von Schlagzeilen wie die bei Spiegel Online vom 20. Juli 2010 klarmachen, um die Notwendigkeit zu sehen, dass sich ein Verlag auch in diesem Bereich aufstellt. Spiegel Online titelte: »Amazon verkündet den E-Buch-Sieg.« Erstmals hatte Amazon mehr E-Books verkauft als Hardcover-Bände. Zwar beruhigt uns die Gesellschaft für Konsumforschung, die behauptet: »Germans are still Bookworms.« Die Leser verweigern sich vielleicht noch zu einem großen Teil. Ein Verlag kann das natürlich nicht. Ich selber bin privat kein großer Internetspieler und habe mit all diesen Dingen schon generationsmäßig nicht mehr so viel zu tun. Seit etlichen Jahren nutze ich aber den Reader von Sony, der für unsere Arbeit sehr praktisch ist. Inzwischen habe ich mir auch ein iPad besorgt, weil Lifestyle natürlich auch für den Buchhandel eine große Rolle spielt und Marktanteile entwickelt. Die elektrischen Lesegeräte haben aber auch ihre Nachteile. Wenn ich mein iPad nicht aufgeladen hätte, könnte ich Ihnen nichts vorlesen oder zeigen. Ich hab dran gedacht, aber schon wenn ich das Kabel verlegt hätte, hätte ich ein Problem. Insofern hat das gute alte Buch eine ganze Reihe von Vorzügen. Ein teures iPad darf nicht in die Badewanne fallen, mit einem Taschenbuch kann das schon mal passieren. Dennoch wären wir schlecht beraten, wenn wir an den Stellen, wo sich ein Markt abzeichnet nicht dabei wären. Deswegen stehen wir vor denselben Problemen, die andere Verlagsformen auch haben, die Sicherung von Rechten, die wir nicht automatisch haben, und die Frage nach der Existenzberechtigung eines Verlages in Zeiten, in denen ein Autor theoretisch auch sagen könnte: »Ich brauche diese ganze Maschinerie nicht, ich kann z.B. über soziale Netzwerke und andere Portale direkt mit den Kunden in Kontakt treten.« Darüber muss man diskutieren.

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Brauchen wir noch Verlage? Gespräch

Wolfgang Farkas:  Als Verleger eines kleinen Verlags wie Blumenbar sehe ich in Online-Angeboten eine schöne, spielerische Form mit Leuten, die unsere Bücher lesen und die sich für unsere Themen interessieren, in Kontakt zu treten. Ein Beispiel: Anfang des Jahres haben wir im Verlauf einer Produktion verschiedene Coverentwürfe, die für das Buch zur Auswahl standen, in die Facebook-Runde gestellt und die Leute um ihre Meinung gebeten. Die ersten Einsendungen haben ein Buch gewonnen. Danach haben wir einen zweiten Wettbewerb nachgeschoben. Die Leute sollten Bücher von uns in ihren Regalen fotografieren. Das war einfach eine ganz schöne und lustige Sache, um mit den Lesern in Kommunikation zu treten. Man muss aber dazu sagen, dass bei Blumenbar die Bücher von Anfang an nicht allein im Mittelpunkt standen, sondern Teil eines sozialen Netzwerks, einer bestimmte Szene gewesen sind, in der sich verschiedene Bereiche überschneiden und befruchten: Literatur, Kunst, Musik, Clubkultur. Insofern würde ich natürlich unterstreichen, dass Bücher alleine nicht ausreichen, um auch in Zukunft ein moderner Verlag zu sein. Ich glaube, die aktuellen Entwicklungen sind eine große Chance, eine Verlagskultur neu zu erfinden. Andreas Barth:  Ich vertrete mit dem Winter Verlag Heidelberg einen Wissenschaftsverlag. Diese Sparte ist anders gestrickt als der Bereich Belletristik. Gerade in unserem Segment ist Digitalisierung von entscheidender Wichtigkeit. Man wäre als Verleger schlecht beraten, wenn man davor die Augen verschließt. Ich sage das, auch wenn ich persönlich Bücher sehr schätze. Die Frage ist auch für uns, wie stellt sich der Verlag modern auf. Als Wissenschaftsverlag sind wir gegenüber unseren Konkurrenten relativ zurück. Das Problem waren vor allem die hohen Investitionskosten. Es herrscht aber inzwischen ein großer Druck aufgrund der unsicheren Rechtslage und der Gefahr des Missbrauchs der Digitalisierung. So hat die British Library kürzlich Aufsätze aus laufenden Zeitschriften unseres Hauses digitalisiert, ohne uns nach den Rechten zu fragen, und bot die Beiträge stattdessen selbst zum Verkauf. Das war der letzte Anstoß für uns, ebenfalls auf den digitalen Zug aufzuspringen. Ein Verlag kann sich gegen die mit der Digitalisierung verbundenen Probleme nur wappnen und wehren, wenn er selbst auf seiner Online-Plattform einen Downloadbereich bereitstellt und neben Printausgaben eben auch E-Books verkauft – entweder direkt oder über externe Unternehmen. Carsten Gansel:  Im Bereich der Wissenschaftsverlage zeichnet sich also die Tendenz ab, neben dem Buch auch die lizensierte Onlineversion anzubieten. Spielt das auch für einen klassischen Autorenverlag eine Rolle? René Strien:  Wirtschaftlich spielt das heutzutage überhaupt keine Rolle, wir generieren dadurch keine wesentlichen Einkünfte. Aber es gibt eine für Verlage bedenkliche Tendenz. Im neuesten Buchreport ist ein großer Bericht

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Gespräch

zu lesen über eine etablierte Autorenagentur, die inzwischen ihren eigenen E-Book-Verlag gegründet hat. Dies ist möglich, weil die unterschiedlichen Rechte im Zusammenhang mit Publikationen zunehmend unterschiedlich vergeben werden. Wenn ein Verlag also nicht automatisch wesentliche Rechte an einer Publikation übertragen bekommt, muss er sich gewissermaßen in einer Rückwärtsbewegung darum bemühen, diese Rechte zu erwerben. Das macht Produktionsprozesse etwas schwerfällig. Demgegenüber verdienen internationale Portale wie Amazon oder Google bereits viel Geld mit E-Books. Auch wenn die amerikanischen Entwicklungen mit Verzögerungen zu uns kommen und nicht eins zu eins übertragen werden, ist völlig klar, dass digitale Veröffentlichungsformen auch für uns marktwirtschaftlich werden. Gerade weil diese Entwicklung sehr umfangreiche Vorarbeiten nötig macht, müssen wir in diesem Bereich aktiv tätig sein. Wolfgang Farkas:  Ich finde nicht, dass es ausgemacht ist, dass man zwangsläufig auf den E-Book-Zug aufspringen muss, um ein zukünftiges Geschäft nicht zu verpassen. Perspektivisch wäre auch vorstellbar, dass digitale Downloadinhalte als Marketinginstrumente für das gedruckte Buch kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Ob das E-Book-Lesen zu einer Kultur werden wird, weil man für ein E-Book ein paar Euro weniger zahlt als für das gedruckte Buch, da bin ich skeptisch. René Strien:  Der amerikanische Buchmarkt sagt da etwas ganz anderes. Da hat sich das E-Book ja tatsächlich als ein Geschäftsmodell etabliert. Die Herausforderung für uns ist, dass wir hier keine Marktlücke entstehen lassen dürfen. Wir dürfen an dieser Stelle auf die Rechte nicht verzichten, sondern müssen versuchen, in allen Bereichen den Autoren eine möglichst umfangreiche Verwertung zu garantieren. Elisabeth Herrmann:  An diesem Punkt sei Markus Frank gefragt. Sie sind Fachanwalt für Steuerrecht und Handels- und Gesellschaftsrecht bei der Kanzlei Gentz & Partner in Berlin und betreuen mehrere Verlage und Medienunternehmen. Sind E-Book und digitale Medien ein Zug, auf den die Verlage aufspringen müssen? Wie schätzen sie das aus der Sicht des Juristen und Beraters ein? Markus Frank:  Ich kann natürlich auch wenig darüber sagen, was die Zukunft bringt, ich kann aber etwas dazu sagen, wo wir stehen und was für ein Druck auf dem Buchmarkt herrscht. Der ganze Buchmarkt hat ein Volumen von ungefähr 10 Milliarden Euro. Es ist ein Markt, der noch einigermaßen stabil ist, und die Verlage haben trotz der Wirtschaftskrise einigermaßen ihr Auskommen gehabt. Die Verlage sind aber einem starken Strukturwandel ausgesetzt, das hat etwas mit der Konzentration im Vertrieb zu tun. Es gibt immer weniger Buchhändler, die immer größer werden, ganz vorne Amazon, danach Thalia und andere Ketten. Im Prinzip erwirtschaften die Verlage mittlerweile

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Brauchen wir noch Verlage? Gespräch

90 Prozent ihres Umsatzes mit 10 Buchhändlern. Es gibt 5.000 Buchhändler insgesamt, 3.000 sind relevant. Zu den wesentlichen Aufgaben eines Verlags gehört der Vertrieb und der findet konventionell eben im stationären Buchhandel statt. Dies hat zur Folge, dass die Verlage sich teure Vertriebsmannschaften leisten mussten und diese Vertriebsmannschaften haben bis vor einigen Jahren noch bis zu 80 % des Gesamtumsatzes des Verlages erwirtschaftet. Inzwischen sind es unter 30%. Das heißt, die Deckungsbeiträge, die man mit so einer Mannschaft erwirtschaftet, werden immer geringer. Das ist also erstmal ohnehin eine Strukturkrise. Dazu kommt, dass die Zielgruppen sich verändern. Die Leute, die sich Bücher kaufen, das sind Leute, die immer älter werden. Tatsache ist, dass eine Generation verschwindet und die jüngere Generation, die nachwächst, ist es gewohnt, im Internet zu telefonieren, Musik zu hören, Filme anzugucken und eben auch zu lesen. Bisher war es so, dass wir alle sehr gelassen auf diese technischen Entwicklungen reagiert haben. Und wenn ich mich in dieser Runde umhöre, dann bekomme ich den Eindruck, dass die hiesigen Verleger den Warnschuss noch nicht alle gehört haben. Denn das, was die Zahlen aussagen, das ist wirklich dramatisch. Also ein Paradigmenwechsel nach etwa 500 Jahren Buchdruck, da passiert jetzt etwas ganz Dynamisches. Nachdem das iPad verkauft wurde, gab es innerhalb von neun Wochen 2,5 Millionen verkaufte Bücher über diese iPads. Es kommt noch im Jahr 2008 ein Umsatz von weltweit insgesamt zwei Prozent im elektronischen Bereich insgesamt dazu. Die Zahlen von 2009 sind noch nicht veröffentlicht, aber es gibt diese Meldungen wie von Spiegel Online, dass die Anzahl der verkauften Bücher im elektronischen Segment inzwischen höher ist als im Printbereich. Carsten Gansel:  Angesichts dieser Zahlen muss man sich offenbar verstärkt fragen: Wo bleibt dann in der Zukunft der Verlag? Markus Frank:  Die Autoren brauchen die Verlage, weil dort ganz bestimmte wichtige Aufgaben übernommen werden. Aber es ist in der Tat so, dass die Agenturen dazwischen geschaltet sind. Die allermeisten Bücher kommen heute über Agenturen an die Verlage und nicht direkt zu den Verlagen. Und wenn die Agenturen nun auf die Idee kommen, selbst verlegerisch tätig zu werden, dann ist das wirklich ein dramatisches Signal. Was macht ein Verlag noch? Er stellt die Bücher her, er lässt sie drucken usw. Die ganzen Wertschöpfungsketten, die darin stecken, die fallen seit der Digitalisierung zunehmend weg. Das hat zur Folge, dass nur noch gedruckt wird. Man kann ein literarisches Werk als E-Book kaufen und am Bildschirm suche ich mir Cover, Einband und Heftung aus. Das kann ich mir alles über diese vereinfachte Vertriebsstruktur individualisiert zusammenstellen. Wenn sich der Vertrieb über Amazon oder Apple ausdifferenziert, dann kann es die Verlage ruck-zuck die Existenz kosten. Es gab auf der Frankfurter Buchmesse eine Umfrage, die 2009 veröffentlicht wurde. Demnach rechnen die meisten Verleger damit, dass dieser Strukturwandel

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zehn Jahre dauert. Zu einem Zeitpunkt, da sich das E-Book bereits von einem Nischenprodukt zu einem Kerngeschäft entwickelt hat! Meine Einschätzung ist da viel dramatischer. Ich gehe von maximal 4-5 Jahren aus, gerechnet ab heute. Die Verlage, die darauf nicht vorbereitet sind, die wird es vom Markt fegen. Carsten Gansel:  Ich möchte in diesem Zusammenhang eine Frage an Andreas Barth stellen, die die Wissenschaftsverlage betrifft. Es gibt Überlegungen von Seiten der sogenannten Allianz der Deutschen Wissenschaftsorganisationen aus DFG, Wissenschaftsrat und Max-Planck-Instituten, die darauf abzielt, dass sämtliche wissenschaftlichen Publikationen sofort ins Internet gestellt werden. Das würde dazu führen können, dass etwa wissenschaftliche Zeitschriften überflüssig werden. In Folge wäre die etablierte Zeitschriftenkultur bedroht, sie würde in Zukunft verschwinden. In welcher Weise wird man als Verlagsleiter hellhörig, wenn man solche Aussagen hört? Andreas Barth:  Man weiß, dass bei wissenschaftlichen Publikationen, sei es in den Naturwissenschaften oder in den Geisteswissenschaften, sehr viel über das Zeitschriftengeschäft läuft. Es gibt Fachzeitschriften, die bereits hundert Jahre alt sind. Die aktuelle Zeitschriftenkrise ist ausgelöst worden durch die Initiative SCM – science and technology –, die von wenigen international operierenden Großverlagen getragen wird. Diese Online-Zeitschriften sind für Jungwissenschaftler, die Karriere im akademischen Bereich machen wollen, sehr wichtig. Wir sind einer der wenigen Verlage, die in diesem Feld tätig geworden sind. Das wurde, ich habe es bereits erwähnt, vor allem aufgrund des zunehmenden Schwarzmarkts der Bibliotheken notwendig. Aus diesen und ähnlichen Ansätzen und Initiativen ist dann die Idee des Open Access entstanden; die Idee, Usern wissenschaftliche Forschung direkt und kostenfrei zugänglich zu machen. Demgegenüber muss ich sagen, dass es bei uns durchgängig bis heute so ist, dass die Autoren weiterhin ihren Verlag wünschen und sie wollen auch weiterhin das Buch. Die sogenannte Allianz der Deutschen Wissenschaftsorganisationen, die Sie ansprechen, hat die Autoren offensiv ermuntert, ihre Aufsätze auch online zu stellen. Man hat dann mit viel Geld sogenannte Repositorien bereitgestellt, ein Zentralrepositorium in Göttingen angesiedelt. Diese Repositorien haben aber schlicht nicht den Erfolg gezeigt, den man sich erhofft hatte. Namhafte Wissenschaftler haben weiter in Buchverlagen publiziert. Anders als in den Naturwissenschaften haben sich in vielen Fächern noch keine karriererelevanten Online-Zeitschriften etabliert. Dennoch leiden alle wissenschaftlichen Verlage unter dem Prinzip des Open Access. Die DFG geht immer mehr dazu über, die Mittelvergabe etwa für Editionen – also Vorzeigeprojekte der Geisteswissenschaften – an die Bedingung zu knüpfen, dass auch Open Access-Versionen angeboten werden müssen. Was das für Auswirkungen für Buchverlage hat, brauche ich nicht weiter auszuführen. Carsten Gansel:  Vielleicht geben sie doch ein konkretes Beispiel.

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Andreas Barth:  Nun: Es sind beispielsweise in den letzten Jahren eben viele Editionsprojekte nicht mehr zustande gekommen oder zumindest ins Stocken geraten aufgrund des großen Widerstands nicht nur der Verlage, sondern auch der Autorenschaft gegen solche administrativen Vorgaben. Der nächste administrative Schritt gegen die Verlags- und Zeitschriftenlandschaft geht nun von der Bundesregierung aus. Dort diskutiert man die Fixierung einer sechsmonatigen Karenzzeit für Zeitschriften, d.h., sechs Monate nach der Publikation soll die Ausgabe frei zugänglich sein. Das hat fatale Auswirkungen auf das Zeitschriftengeschäft, wenn etwa Bibliotheken beginnen, diese sechs Monate abzuwarten. Diese Gefahr besteht vor allem im Bereich der Geisteswissenschaften, die nicht unter einem solchen Aktualitätsdruck stehen wie die Naturwissenschaften und die Medizin. Es wäre nur allzu verständlich, dass unterfinanzierte Bibliotheken aus der Not heraus so handelten. Es hätte für einen Verlag wie Winter aber schlimme Auswirkungen, wenn das Zeitschriftengeschäft einbrechen würde. Elisabeth Herrmann:  Frau Janesch, schätzen Sie als Autorin es als vorteilhaft ein, dass die digitalen Medien einen direkteren Zugang zu Texten eröffnen und damit ein breiteres Publikum erreichen? Würden Sie Ihre Bücher gern in digitaler Weise veröffentlicht sehen? Sabrina Janesch:  Ich kann als Leserin und als Autorin sagen, dass mir das fertige Produkt einfach sehr wichtig ist. Ich möchte den Umschlag sehen, das Papier fühlen. Das Buch ist mir als Objekt wichtig. Aber ich fände es durchaus auch erstrebenswert, wenn man einen Text einfach herunterladen könnte. Das hat sicherlich seine Vorteile. Elisabeth Herrmann:  Wenn man in diese Richtung einmal weiterdenkt: Welche Rolle spielt in einem derartigen Szenario noch das Verhältnis zwischen Autor und Verlag? Ein Lektorat fiele ja beispielsweise weg, wenn eine Autorin direkt im Internet publizierte. Sabrina Janesch:  Für mich bleibt der Verlag als Institution sehr wichtig. Als Leserin bieten mir Verlagsprogramme z.B. thematische Orientierung. Als Autorin fühle ich mich in diesem Gefüge verankert und habe im Verlag meinen familiären Ort innerhalb des Literaturbetriebs. Natürlich habe ich dort am meisten Kontakt mit dem Lektorat. Das wäre eine wirklich fatale Entwicklung, wenn das an Bedeutung verlieren würde. Als Autorin durchläuft man sehr viele verschiedene Phasen, wenn man an einem Projekt sitzt, und jede Phase wird von einem Lektor begleitet. Das ist für mich enorm wichtig und ich möchte es auf keinen Fall missen. Hinzu kommen noch andere Aufgaben, die der Verlage für mich übernimmt, sei es die Öffentlichkeitsarbeit, sei es die Veranstaltungsorganisation oder die Sicherung und Verwaltung von ausländischen Rechten. Carsten Gansel:  Wie sehen das die Verlagsleiter?

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René Strien:  Mir gefällt natürlich sehr, was Frau Janesch über den familiären Charakter der Verlagscommunity sagt. Immerhin sind wir ein mittelständischer Betrieb mit 60 fest angestellten Mitarbeitern, da geht es nicht automatisch familiär zu. Ich bin der Überzeugung, dass die Qualität der Lektoratsarbeit nicht unter den aktuellen Entwicklungen im Online-Bereich gelitten hat. Wir haben bei allem betriebswirtschaftlichen Kalkül einen eher hohen Lektoratsanteil, den wir uns gerne und mit Absicht erlauben. Unser Prinzip ist, dass wir die wesentlichen Dinge im Hause machen, um die Qualität garantieren zu können. Dazu gehört auch eine intensive und gute Autorenbeziehung. In dem Bereich müssen wir auch noch besser werden. Da sind uns im übrigen Verlagsmodelle wie das des Blumenbar-Verlags auch ein Ansporn. Je größer man wird, je mehr man produziert, umso höher ist die Gefahr, dass die Kernarbeit, also das, womit man sich auch letzten Endes definiert, dass das unpersönlicher wird und zur Fließbandproduktion tendiert. Wir versuchen, wo immer es geht, den Fokus auf die Autorenbeziehungen zu legen und ziehen daraus unsere Identität. Da wollen wir wie gesagt eher besser werden, als nachzulassen. Carsten Gansel:  Dann gebe ich die Frage gleich weiter an Herrn Farkas. Ein solches Lob hört man als Leiter eines kleinen Verlags wie Blumenbar sicherlich gern. Wolfgang Farkas:  Ich kann nur bestätigen, was Frau Janesch und René Strien gesagt haben. Idealerweise wird ein Buch in familiärer Atmosphäre gemeinsam von Autor und Verlag gemacht. Das fängt an bei der Programmsetzung und der Titelauswahl bis hin zum Lektorat, betrifft Überlegungen zum Veröffentlichungszeitpunkt, zu Marketing und Pressearbeit und zu literarischen Veranstaltungen. Es ist ein Zusammenspiel verschiedener Aufgabenbereiche, bis ein Buch auf den Markt kommt und dort auch eine gewisse Aufmerksamkeit erhält. Ich sehe es ganz selten, dass Autoren ohne jede Unterstützung von Seiten eines Verlagslektorats einen Roman schreiben, der schon sehr gut ist und dann womöglich mit Erfolg selbständig digital veröffentlicht werden könnte. Das ist durchaus vorstellbar, aber ich würde denken, dass das die absolute Ausnahme ist. Ein Text ist ganz stark ein Gemeinschaftswerk mit dem Autor, der Autorin als der künstlerischen Oberleitung. Carsten Gansel:  Herr Barth, immer mehr Wissenschaftsverlage haben keine Lektoren mehr und verlangen von den Wissenschaftlern, Ihre Publikationen nicht nur philologisch vernünftig, sondern inzwischen auch drucktechnisch ausreichend zu gestalten. Solche Verlage drucken dann nur noch. Wie sehen sie diese Praxis? Andreas Barth:  Also zunächst einmal unterscheiden sich Wissenschaftsverlage in ihren Aufgaben nicht sonderlich von Autorenverlagen. Auch in unserem

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Bereich gehört es klassischerweise zum Verlagshandwerk, für Bücher zu werben, Veranstaltungen zu organisieren usw. Fairer Weise muss man sagen, dass viele Verlage, die das Lektorat abgeschafft haben, dies aus wirtschaftlichen Gründen getan haben. In einer solchen Situation kann ein Haus sich unterscheidbar halten bzw. machen, wenn es gerade in diesem Bereich sehr viel Aufwand betreibt. Wir sind gut beraten, das zu tun. Elisabeth Herrmann:  An dieser Stelle nochmals eine Frage an den Juristen. Herr Frank, wenn ein Buch ein Gesamtwerk von Autor, Lektor und Verlag darstellt, wem gehört es am Ende eigentlich? Markus Frank:  Es ist durchaus ein überlebenswichtiges Thema für die Verlage, ob durch die Arbeit des Lektorats im Zweifelsfall ein so hoher Wertschöpfungsanteil steckt, dass da ein eigenes Recht entsteht. Das ist in der gegenwärtigen Situation einer der wenigen Rettungsanker. Wenn eigene Rechte begründet wären an den Texten, dann könnten auch die Verlage selbstständig und autonom darüber entscheiden. Wenn das nur der Autor und die Agentur kann, dann ist es mit dem »familiären« Idyll nicht mehr weit her. Am Ende steht die Frage: Wer verdient das Geld, wer hat die Vertriebsmacht? Und diese Vertriebsmacht monopolisiert sich eben derzeit sehr stark und genau deshalb kommt es darauf an, wer die Rechte an einem Werk besitzt und es vermarkten kann. Wenn Autoren in den Verlagen eine Heimat finden und denen eine breite Verfügungsmacht über die Rechte in allen Verwertungsstufen überlassen, dann haben die Verlage eine Chance im Wettbewerb zu überleben. Nun ist es im Agentursystem inzwischen so, dass Rechte immer kürzer, nur über einige Jahre, und weniger umfangreich an die Verlage abgetreten werden. Das macht es für die Verlage eben schwierig, am Markt in allen Verwertungsstufen Geld zu verdienen oder auch eine eigene Backlist zu unterhalten. Elisabeth Herrmann:  Herr Strien, ein Verlag wie Aufbau wäre von dem, was Herr Frank sagt, stark betroffen? René Strien:  Die Frage danach, wer hat die Rechte an einem Buch hat, Verlag oder Autor, wird dann relevant, wenn versucht wird, das, was in Gemeinschaftsarbeit entstanden ist, auseinander zu dividieren. Wenn ein Autor mit einem fertigen Buch ankommt, kann ich mir überlegen, ob ich den Band veröffentliche oder nicht. Dann ist klar, dass die Rechte beim Autor liegen. Wenn ein Werk aber in einem Lektoratsprozess entstanden ist und der Autor sich im Anschluss dazu entscheidet, nur einen Teil des Ergebnisses und damit einen Teil der Verwertungsmöglichkeiten mit dem Verlag zu machen, dann würde man rechtliches Neuland betreten. Es wäre juristisch zu prüfen, inwieweit durch die Verlagsarbeit tatsächlich ein eigenes Recht entstanden ist und bis zu welchem Punkt ein Autor alleine vorgehen kann.

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Carsten Gansel:  Welche konkreten Probleme in Bezug auf das Urheberrecht ergeben sich denn aus dem Wechsel zu den digitalen Medien und dem damit einhergehenden erweiterten Publikationsrahmen? Markus Frank:  Juristisch ist das gar nicht so schwierig. Der Autor ist der Herr über die Rechte an seinem Buch. Er kann das Buch verwerten lassen, er kann entscheiden, welche Rechte er übernimmt: Die einzige spannende Frage ist die, die René Strien angesprochen hat. Wenn dem Verlag eigenständige Rechte entstehen, dann kann der Verlag den Standpunkt stark machen, dass der Autor nicht mehr alleiniger Urheber ist und geteilte Rechte entstehen. Das heißt, man kann über das Produkt nicht mehr alleine verfügen. Verlage tun gut daran, gemeinsam mit den Autoren eine Vermarktungsstrategie zu entwickeln und die Autoren tun gut daran, zu den Verlagen zu halten. Es wäre aber durchaus eine Situation denkbar, in der ein Autor sich auf den Standpunkt stellt, dass die gemeinsame Produktion vom Verlag gedruckt werden soll, dass er die E-Book-Rechte aber für sich behält und das ursprüngliche, nicht redigierte Manuskript selbständig herausbringt. In dieser Hinsicht wird noch vieles geklärt werden müssen. Elisabeth Herrmann:  Um die Frage des Urheberrechts ein bisschen auszuweiten, eine Frage an Sie, Herr Farkas. Der Plagiatsfall Helene Hegemann hat ja in letzter Zeit für einige Aufregung gesorgt. Ihr Verlag dürfte von diesem Plagiatsfall wiederum profitiert haben. Wie stellen sie sich zu diesem Fall? Wolfgang Farkas:  Helene Hegemann hatte sich für ihren zunächst hochgelobten Debütroman »Axolotl Roadkill« bei dem Blogger Airen bedient und zwei Dutzend Passagen aus dessen Internetblog für ihren Roman verwendet. Daraufhin wurde das Buch das literarische Skandalthema dieses Jahres. Hegemann wurde von der Kritik weitgehend fallen gelassen und es entbrannte eine heftige Debatte ums Urheberrecht und ums Plagiieren. Ist der Roman ein Plagiat oder nicht? In der zweiten Auflage von »Axolotl Roadkill« gab es einen Quellenhinweis auf Airen. Dessen Buch »Strobo« hat wiederum von der Affäre profitiert. Airen wurde kurzzeitig sogar der bekannteste Blogger in der deutschen Szene und Blumenbar kam da relativ kurzfristig mit rein und brachte eine zweite Serie von Tagebucheinträgen Airens, die in Mexiko spielen, als Buch heraus. Das wurde ganz schnell entschieden und produziert, solange das Hegemann-Thema noch heiß war. Und es kam dann tatsächlich auch innerhalb von vier Wochen. Das war eine unheimlich schnelle Produktion, das Buch wurde in einer Woche lektoriert, Cover gestaltet, Pressearbeit gemacht und die ersten 1.000 Exemplare bereits parallel verkauft. Insofern hat Airen und uns die öffentliche Meinung auf jeden Fall genutzt – dass es diesen Skandal gab. Gleichzeitig gab es eine sehr große Schere von Kritik und von Aufmerksamkeit für diesen zweiten Band. Tatsächlich wurde das Buch mittelprächtig verkauft, es war nicht wirklich ein Bestseller.

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Elisabeth Herrmann:  Helene Hegemann hatte mit folgendem Argument auf die Kritik an ihrer Vorgehensweise reagiert: Es zähle sowieso keine Originalität mehr, sondern nur »Echtheit« und wir gehörten doch längst alle der Sharing-Kultur an. Frau Janesch, wie stehen Sie zu dieser Position? Sabrina Janesch:  Was da passiert ist, finde ich schade, weil es eine Technik in Verruf gebracht hat, die ich sehr wertvoll finde und die, glaube ich, jeder anwendet, in der Musik sowieso, aber auch in der Literatur, nämlich Verfahren des Sampelns, der Collagierung, der Montage. Man lässt sich inspirieren, greift eine Struktur oder Motivik auf, verleibt sich einen Gegenstand irgendwie ein und überführt diesen in etwas Neues. Die Art und Weise, wie Helene Hegemann mit Airens Vorlagen umgegangen ist, ist schon ein Plagiat. Sie hätte es offen tun müssen und mit einem kreativen Mehrwert damit umgehen. Carsten Gansel:  In gewisser Weise ist mit diesem Vorgang auch das angesprochen, was man Event-Kultur nennt. René Strien:  Es zeigt sich in diesem Fall in der Tat eine Tendenz, die es sicherlich immer gegeben, die sich aber sehr verstärkt hat – und die einem Verlag auch helfen kann, wenn er sie sich zu nutzen macht: das Buch als Event. Ein Buch wird nicht einfach als ein Text wahrgenommen; dazu gehört eine Autorperson, die sich wiederum inszenieren lässt. Sehr oft dreht sich die Diskussion eher um die Person als um das, was im Text passiert. Dieses Gesamtkonzept macht Blumenbar z.B. ganz hervorragend. Auch da können wir von dem einen oder anderen kleineren Verlag, der neue und originelle Herangehensweisen an Literatur findet, lernen. Elisabeth Herrmann:  Damit ist einmal mehr die Digitalisierung angesprochen. Wolfgang Farkas:  Ich sehe in der Digitalisierung auch eine Chance und zwar dort, wo es um Inhalte geht und nicht nur um die Verwertungsrechte. Auch der Roman der Zukunft wird sich bestimmt im Hinblick auf Digitalisierung verändern. Ich sehe die Hauptschwierigkeit und Herausforderung vor allem in der Konzentration im Handel. Ein kleinerer, jüngerer Verlag wie wir, der gegen Größen wie Random House quantitativ nicht konkurrieren kann, kann sich eine Nische einrichten durch andere Art der Öffentlichkeitsarbeit, z.B. in Form eines Bar- und Clubbetriebs, neuartiger Abomodelle usw., mit denen man neue Leser gewinnen kann. René Strien:  Völlig richtig. Noch einmal – und da ist nichts grundlegend anderes zwischen dem elektronischen und dem traditionellen Publikationsmarkt –: es gibt eine Verschiebung der Marktmacht zum Handel. Die wenigen Ketten führen zu einer Ausdünnung der Vielfalt. Uns geht der Markt mit Buchhändlern zunehmend verloren, die sich auf Neues einlassen. Uns geht es da auch nicht

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viel anders als kleineren Verlagen. Wir müssen Partner finden, die unsere Angebote entdecken und sich auf das, was wir ihnen versprechen, auch einlassen. Dem entspricht auch das Einschießen von Feuilletons und Gesellschaft auf zwei bis fünf Bücher und Themen, von denen man glaubt, da haben wir etwas, das alle gemeinsam toll finden. Das führt dazu, dass einzelne Spitzenautoren sehr viel besser verkaufen, als dass das ein Steven King vor 15, 20 Jahren getan hat. Aber das Spektrum dazwischen geht uns verloren. Carsten Gansel:  Das hört sich für jene, die sich dem Buch verpflichtet fühlen, doch sehr nach einer Art Untergangsstimmung an. René Strien:  Naja, um etwas Positives nachzuschieben: der Markt ist Jahrhunderte alt und nach wie vor sehr stark. Und da die Bedeutung von Verlagen weit über das Wirtschaftliche hinaus geht, wird ihnen auch kein schlimmes Ende bereitet werden. Sie haben eine gesellschaftspolitische und eine kulturelle Bedeutung und dahinter steckt eine unheimliche Kraft. Meine Sorge ist vor allem, dass die Verlage nicht schnell genug auf die neuen Entwicklungen reagieren, unterschätzen, wie schnell es jetzt gehen kann. Wenn sie aber ihre Stärken ausbauen, die Pflege der Autoren, das gemeinsame Schaffen von Werken und die intelligente Vermarktung von Produkten über den konkreten Vertrieb hinaus, nämlich Medienarbeit, Pressearbeit usw., wenn sie das stärken und ausbauen, dann haben sie auch weiterhin eine Chance. Carsten Gansel:  Würden sie bezüglich der Urheberrechtsproblematik im Internet einen Vergleich zwischen der Buchbranche und der Musikindustrie ziehen und welche Lehren zieht man als Buchverlag aus den Folgen des FileSharing? René Strien:  Eine Sache haben wir angesichts der Probleme der Musikbranche gelernt. Es lohnt sich nicht in Software zu investieren, die OnlineAngebote gegen alle möglichen Hackerangriffe oder illegale Downloads sichern. Entweder überzeugen wir die User davon, dass sie für geistige Arbeit ein angemessenes Entgelt zahlen wollen, oder wir schaffen es nicht. Wenn wir es nicht schaffen, können wir nichts im Internet verkaufen. In Bezug auf eine grundsätzliche Anerkennung von geistiger Urheberleistung sind wir mit unserem Urheberrecht relativ weit. Die geistige Urheberschaft ist Geld wert, ist eine Arbeit, eine Leistung, und die muss auch bezahlt werden. Carsten Gansel:  Es gibt in der Musikbranche inzwischen die Tendenz, dass Musiker den Großteil ihres Geldes nicht mehr mit den Alben machen, sondern mit teureren Konzertpreisen. Wird das im Verlagswesen auch diskutiert, die Autoren selbst noch stärker zu vermarkten durch Lesungen oder Hörspiele. René Strien:  Der Aufbauverlag hat eine Abteilung, die Veranstaltungen macht. Zwei feste und eine freie Mitarbeiterin machen im Jahr so grob 800 Veranstal-

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tungen. Im Vergleich zu Blumenbar fallen die natürlich etwas traditioneller aus. Wir machen die mit sehr vielen örtlichen Veranstaltern in ganz Deutschland. Die Autoren werden dafür bezahlt, ca. 600 Euro, wenn sie vor großem Publikum gelesen haben oder 250 Euro in einer kleinen Buchhandlung. Amerikanische Autoren kennen das nicht. Das zählt in den USA zu den Marketingarbeiten, die zu ihrem Job gehören. Aber gerade für die Mittelklasse von Autoren sind bezahlte Lesungen extrem wichtig. Von einer Vorauszahlung von 5.000 bis 20.000 Euro, den Prozenten am Verkauf und dem Bisschen an Tantiemen, davon kann man ja nicht leben, wenn man an einem Buch zwei oder drei Jahre geschrieben hat. Eine Lesung hilft auf allen Ebenen. Damit tut man etwas für die Vermarktung des Buches, für die Bekanntheit des Autors und die verdienen eben ihr Geld damit. Carsten Gansel:  In der Tat gehören Lesungen für Autoren zu einer nicht zu unterschätzenden Erwerbsquelle. Und in einer Mediengesellschaft spielt die Selbstinszenierung eine gewichtige Rolle. Dies gilt ja keineswegs nur für junge Autoren, denen diese Fähigkeit am Ende der 1990er Jahre von den Arrivierten vorgeworfen wurde. Das bedeutet aber auch, dass die Fähigkeiten der Autoren gefordert sind, denn eine Lesung, bei der der Autor mit monotoner Stimme seinen Text runterliest, das ist nicht das, was der Zuhörer erhofft. Wolfgang Farkas:  Das sehe ich auch so. Aber noch ein anderer Aspekt. Wir sind natürlich im Zuge der Eventisierung, das gehört einfach dazu. Doch mit Lesungen kann ein Verlag auf keinen Fall Geld verdienen, es sei denn, er hat zwei oder drei Superstars, aber das war es dann auch schon. Ich denke aber eher an einen Trend in der Branche, den man ›Nonbooks‹ nennt, also alles vom Notitzblock bis zur Puppe oder dem Kalender. Das wird bestimmt – auch in Anlehnung an die Musikindustrie – zunehmen und könnte auch zu Mehreinnahmen für einen Verlag führen. Elisabeth Herrmann:  Kommen wir noch einmal auf das Internet. Meine Frage: Ist der Untergang des Hauses Brockhaus dem Internetmarkt geschuldet? Markus Frank:  Teure Lexika-Editionen sind nicht mehr verkäuflich. Es gibt Wikipedia. Sehen Sie sich einmal die Kartenverlage an. Die sind vollends zu Navigationssystemen übergegangen. Dasselbe wird nicht im Belletristikbereich passieren, aber ich glaube, im Wissenschaftsbereich geht die Tendenz dahin. Ein Lexikon ist dann die erste Textsorte, die in einem Verlag fallen gelassen wird. Elisabeth Herrmann:  Vielleicht kann man an dieser Stelle einen Hinweis von Umberto Eco anbringen, im Sinne eines optimistischen Endes. »Das Buch ist eine Erfindung wie das Rad, der Hammer oder der Löffel, es kann nicht besser gemacht werden und wird sich deshalb auch erhalten.« Aber nochmal eine Frage an den Juristen: Sollte eventuell auch der Buchmarkt gesellschaftlich gefördert werden?

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Markus Frank:  Ja, darüber sollte man nachdenken. Es wäre zu überlegen, ob es in diesem Wirtschaftsbereich – ähnlich wie im öffentlich-rechtlichen Rundfunk – auch staatliche Subventionierungen gibt, um einen Kulturverlust verhindern zu können. Das gilt natürlich auch für die Printverleger der Tageszeitungen. Ich halte das für diskussionswürdig. Im Moment kämpfen die Printverleger noch stark gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das scheint mir ein taktischer Fehler zu sein. Es wäre viel interessanter, sich zusammenzutun und vielleicht unter der Petition »Qualitätsmedium« eine neue Strategie zu fahren. Das scheint mir sogar notwendig, um Schäden abzuwenden, die durch den Strukturwandel entstehen werden.

Ein Nachtrag 2013 Carsten Gansel:  Seit unserem Gespräch ist einige Zeit vergangen. Wenn Sie zurück blicken, was müsste aus der Sicht der »Jetztzeit« auf jeden Fall ergänzt werden. Es betrifft dies den Aufbau Verlag, aber natürlich auch die angesprochenen Veränderungen auf dem Buchmarkt. René Strien:  Sehr viel muss nicht ergänzt werden, da die Entwicklungen sich ziemlich genau in dem Rahmen bewegen, der in unserem Gespräch bereits abgesteckt wurde. Deutlich hat die Entwicklung besonders des letzten und des laufenden Jahres (2012/2013) gezeigt, dass digitale Verwertungsformen wie erwartet für Verlage zu einem relevanten Teil ihres Geschäftes geworden sind. Der Aufbau Verlag liegt hier zwar deutlich über dem bisherigen Branchendurchschnitt, denn wir haben 2012 fast 7% unseres Umsatzes mit digitalen Produkten erwirtschaftet. Für 2013 zeichnet sich für Aufbau eine Steigerung auf 11-12% ab, aber auch die Verlage, die hier noch Defizite haben, werden diese bald beseitigen, oder sie werden ernsthafte Probleme bekommen. Die Steigerungen in diesem Bereich werden auf absehbare Zeit überdurchschnittlich bleiben und auch zu neuen Textformen führen, die manchmal die alten sein können. Elisabeth Herrmann:  Woran denken Sie? René Strien:  An serielle Textsorten etwa, wie sie bereits im 19. Jahrhundert en vogue waren, erweisen sich in einigen Bereichen als besonders geeignet. Noch nicht gelöst ist eine allgemein akzeptierte Preisfindung, da zwei völlig unterschiedliche Interessenlagen zu vereinen sind: Für Urheber und Verlage gilt, dass sorgfältig erstellte Qualitätsinhalte wertig sind und einen entsprechenden Preis erbringen müssen, da sie sonst nicht mehr professionell erarbei-

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tet werden können. Bei den »Usern« digitaler Medien hingegen gibt es eine Gewöhnung an kostenfreie oder zumindest extrem niederpreisige Angebote, so dass in diesem Kontext die buchüblichen Preise als hoch gelten und gar gebundene Preise auf verbreitete Skepsis stoßen. Neben dem Entwickeln der oben bereits erwähnten kurzen Textformen, die dann in der Summe niedriger Einzelpreise auch auskömmliche Erträge ermöglichen können, gilt es hier vor allem, ein Qualitätsbewusstsein beim Leser zu schaffen, der die Zusammenhänge zwischen der von ihm gewöhnten hohen Qualität und dem erst durch einen entsprechenden Preis ermöglichten Arbeitsaufwand, der dahinter steht, verstehen lernen muss. Carsten Gansel:  Wie sieht es mit der Frage der Verlagsbindung von Autoren aus? René Strien:  Das ist in der Tat ein aktuell recht intensiv diskutiertes Thema, das in unserem Warschauer Gespräch nur kurz gestreift wurde. Ich meine die durch digitalen Angebote geschaffene Möglichkeit für Autoren, Verlage zu umgehen und sich via Netz und unterschiedlicher Portale – zum Teil durch große Distributoren wie Amazon massiv propagiert – direkt an ihre Leser zu wenden. Das erscheint manchem Autor zunächst verlockend, wird aber nur dann zur existentiellen Bedrohung für die Verlage werden, wenn diese ihre ureigensten Aufgaben, bei deren Erfüllung sie weiterhin konkurrenzlos sind, aus den Augen verlieren: Qualität und Unverwechselbarkeit zu bieten, den Autoren solidarischer Partner in materiellen (Vorauszahlungen! Dienstleistungen unterschiedlichster Art) und künstlerischen Belangen zu sein und den Lesern (gerade auch in der Beliebigkeit des Netzes) Orientierung und Verlässlichkeit zu garantieren. Gelingt dies, wird es innerhalb der von heute aus zu überschauenden Zeiträume in Europa weiterhin einen interessanten und für eine Vielfalt von Verlagen auskömmlichen Markt mit gedruckten Büchern geben. Carsten Gansel:  Herr Frank, an den Juristen eine vergleichbare Frage mit Blick auf unser Gespräch. Sie waren 2010 nicht unbedingt optimistisch gewesen und haben auf absehbare Folgen für die Buchbranche verwiesen. Das betraf Veränderungen im Vertrieb oder die Aushöhlung der Wertschöpfungsketten. Was gibt es diesbezüglich im Jahr 2013 zu ergänzen? Markus Frank:  Bedauerlicherweise ist meine negative Prognose zum Marktgeschehen übertroffen worden. Dies hat zur Folge, dass sich eine erhebliche Zahl von mittelständischen Publikumsverlagen in einer wirtschaftlichen Krise befinden. Der Strukturwandel im Vertrieb hat sich verstärkt, zudem findet eine Verlagerung des Buchgeschäftes – weg vom stationären Handel, hin zum Distanzhandel – statt. Die drei größten Buchhandelsketten kündigen an, dass sie ihre Einzelhandelsflächen in den nächsten drei Jahren um 50 % reduzieren wollen.

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Elisabeth Herrmann:  Das sind keine wirklich guten Nachrichten. Was hat sich in der Urheberrechtsfrage getan und gibt es Aussichten auf eine staatliche Subventionierung der Printverleger. Markus Frank:  Die aufgeworfenen urheberrechtlichen Fragen sind weiter ungeklärt. Das Thema Förderungen der Printmedien durch Subventionen nimmt Fahrt auf. Entsprechende Stellungnahmen zu geplanten Reformen der Landesmediengesetze liegen bereits vor.

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Beiträgerinnen und Beiträger

Barth, Andreas, Dr.: Studium der Germanistik, Mediävistik, Philosophie an der Universität Tübingen. Promotionsstipendium. Promotion 2000. Seit 2001 Lektor beim Universitätsverlag Winter in Heidelberg. Seit 2003 Geschäftsführender Gesellschafter und Verlagsleitung. Lehrbeauftragter an der Universität Heidelberg (Germanistisches Seminar). Zahlreiche Publikationen. Braun, Matthias, Dr.: Studium der Theologie, Theater- und Literaturwissenschaft in Berlin und Leipzig. Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagenbehörde und Redakteur der wissenschaftlichen Reihe der BStU. Letzte Veröffentlichung: Carsten Gansel/ Matthias Braun (Hgg.): Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung. Göttingen: V&R unipress 2012. Flinik, Joanna, Dr. phil.: Studium der Germanistik an der Universität Poznan. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Germanistik an der Pommerschen Akademie in Słupsk. Promotion 2006. Stipendiatin des HerderInstituts in Marburg. Letzte Publikationen über Fritz Zorn, Deutschschweizer Migrantenliteratur. Farkas, Wolfgang: Studium an der Deutschen Journalistenschule. Anfang der 1990er Jahre mit Kollegen Gründung des Kafe Cult. 2002 gemeinsam mit Lars-Birken Bertsch Gründung des Blumenbar Verlages in München. 2012 Verkauf des Blumenbar Verlages an den Aufbau Verlag. Frank, Markus: Studium der Rechtswissenschaften und Referendariat in Berlin, Rechtsanwalt und Partner bei »Gentz und Partner Rechtsanwälte Steuerberater Notare«. Beratungstätigkeit u. a. für Verlage, Rundfunk­anstalten, Filmproduktionen. Seit 2001 Fachanwalt für Steuerrecht, seit 2008 zudem Fachanwalt für Gesellschaftsrecht, langjährige Tätigkeit als Dozent bei der Deutschen Anwaltsakademie im Fachgebiet Gesellschaftsrecht. Seit 2007 auch Gründung der Frank & Frank GmbH als Beteiligungsgesellschaft und Beratungsunternehmen. Beteiligung an und Aufbau von Digitalverlagen. Veröffentlichungen im Bereich des Gesellschafsrechts, Handelsrechts und Zivilprozessrechts. Gansel, Carsten, Prof. Dr.: Studium der Germanistik, Slawistik, Pädagogik. Professor für Neuere Deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität

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Beiträgerinnen und Beiträger

Gießen. Mitglied des P.E.N. Letzte Publikation: Carsten Gansel/Matthias Braun (Hgg.): Es geht um Erwin Strittmatter oder Vom Streit um die Erinnerung. Göttingen: V&R unipress 2012. Gradinari, Irina, Dr.: Studium der Germanistik und Slawistik. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl der Neueren deutschen Literaturwissenschaft der Universität Trier. Letzte Publikation: Irina Gradinari: Genre, Gender und Lustmord. Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa. Bielefeld: Transcript 2011. Harbers, Henk, Dr.: Studium der Germanistik und Philosophie. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Deutsche Sprache und Kultur der Universität Groningen, Niederlande. In letzter Zeit Publikationen zu philosophischen und mythologischen Themen in deutscher Gegenwartsliteratur. Herrmann, Elisabeth, Prof. Dr.: Associate Visiting Professor für Neuere deutsche und Skandinavische Literaturen und Kulturwissenschaften an der University of Alberta in Edmonton, Kanada. Publikation: Elisabeth Herrmann/ Florentine Strzelczyk. Guest editors: Embracing the Other: Conceptualizations, Representations, and Social Practices of [In]Tolerance in German Culture and Literature. Special Issue of Seminar. A Journal of Germanic Studies. Volume 48, Number 3, September (2012). Janesch, Sabrina: Studium Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim und Polonistik an der Jagiellonen-Universität Krakau. Seit dem Diplom im Sommer 2009 arbeitet sie als Schriftstellerin und Publizistin. 2010 erschien ihr erster Roman »Katzenberge« (Aufbau Verlag Berlin), 2012 folgte der Roman »Ambra« (Aufbau Verlag Berlin). Nicolas-Born-Förderpreis 2011, Ledig House Residency 2011, Anna-Seghers-Preis 2011. Joch, Markus, Prof. Dr.: Studium der Germanistik, Politologie und Soziologie. Associate Professor an der Faculty of Letters der Keio University Tokyo. Letzte Publikation: Markus Joch/Jörg Döring (Hgg.): Alfred Andersch ›revisited‹. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Berlin/ Boston: Walter DeGruyter 2011. Kaminskaja, Juliana V., Dr.: Studium der Germanistik und Geschichte der Weltliteratur. Dozentin am Lehrstuhl für Geschichte der Weltliteratur der Staatlichen Universität St. Petersburg. Letzte Publikation: Vallaster, Günter: Eine Welt voller Angst. 1 Bild-Geschichte. Ins Russische übersetzt von Juliana V. Kaminskaja und Mark Kanak. In: Vallaster, Günter: Lyrik der Gegen­wart. Am Sims. Wien: Edition Art Science 2013. S. 77 – 108.

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Beiträgerinnen und Beiträger

Klocke, Sonja E., Dr.: Studium der Germanistik, Amerikanistik und Anglistik. Promotion in Modern German Literature and Culture (Indiana University, Bloomington, USA). Assistant Professor im Department of German der University of Wisconsin – Madison (USA). Zuletzt Publikationen zu Thomas Brussig, Emine Sevgi Özdamar, Kathrin Schmidt, Verena Stefan und Juli Zeh. Nell, Werner, Prof. Dr.: Literatur- und Sozialwissenschaftler; Prof. für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Martin Luther-Universität Halle-Wittenberg. Letzte Veröffentlichung: Werner Nell: Zwischen Protomoderne und Postmoderne. Eine komparatisti­sche Sichtweise auf die Wiederkehr Galiziens in der Literatur. In: Kratochvil, Alexander u. a. (Hgg.): Kulturgrenzen in postimperialen Räumen. Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen. Bielefeld: transcript 2013, S. 187 – 219. Neuhaus, Stefan, Prof. Dr.: Studium der Germanistik in Bamberg und Leeds. 1996 Promotion, 2001 Habilitation, 2005 Ehrendoktorwürde der Universität Göteborg. Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz-Landau, Standort Koblenz. Letzte Publikation: Stefan Neuhaus (Hg.): Figurationen der Liebe in Geschichte und Gegenwart, Kultur und Gesellschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. Potyomina, Marina, Dr. phil.: Studium der Germanistik. Dozentin am Lehrstuhl für Linguistik und interkulturelle Kommunikation der Baltischen Föderalen Immanuel-Kant-Universität (Kaliningrad, Russland). Letzte Publikation: Marina Potyomina: Geschichte der deutschen Literatur (2013). Ruf, Oliver, Prof. Dr.: Studium der Germanistik und Politikwissenschaften. Professor an der Fakultät Digitale Medien der Hochschule Furtwangen. Letzte Publikation: Oliver Ruf: Schreibleben. Essays. Hannover: Wehrhahn 2012. Strien, René: zunächst Studium der Rechtswissenschaften, dann Germanistik und Romanistik an der Universität Köln. Bis 1989 wissenschaftlicher Mitarbeiter (Hispanistik), 1989 bis 1993 Lektor beim Gustav Lübbe Verlag (Bergisch Gladbach). Seit 1994 Verlagsleiter des Aufbau Verlages Berlin; seit 1995 Geschäftsführer, seit 2008 auch Verleger des Aufbau Verlages Berlin. Zahlreiche Übersetzungen (aus dem Spanischen, Französischen und Englischen), Vor- und Nachworte sowie Lexikonartikel und Aufsätze. Strzelczyk, Florentine, Prof. Dr.: Full Professor of German: Professor für deutsche Gegenwartsliteratur, Kultur- und Filmwissenschaft an der University of Calgary, Kanada. Letzte Publikation: Embracing the Other: Conceptualizations, Representations, and Social Practices of [In]Tolerance in German Culture and Literature. Special Issue of Seminar. A Journal of Germanic

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Beiträgerinnen und Beiträger

Studies. Guest editors Elisabeth Herrmann and Florentine Strzelczyk. Volume 48, Number 3, September (2012) Žagar-Šoštarić, Petra, Dr. sc.: Studium der Germanistik und Philosophie. Oberassistentin für Neuere deutschsprachige Literatur an der Abteilung für Germanistik der Philosophischen Fakultät der Universität in Rijeka. Letzte Publikation: Petra Žagar-Šoštarić: Das Dazwischensein als Störung im Roman »Hotel Zagorje« von Ivana Simić Bodrožić . In: Gansel, Carsten/Zimniak, Pawel (Hgg.): Störungen im Raum – Raum der Störungen. Heidelberg: Winter 2012, S. 441 – 458. Zeller, Christoph, Dr. phil.: Associate Professor of German, Vanderbilt University (Nashville, USA). Letzte Publikation: Christoph Zeller/Dieter Sevin (Hgg.): Heinrich von Kleist: Style and Concept. Explorations of Literary Dissonance, Berlin und Boston: Walter de Gruyter 2013.

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