Teilhabeorientierte Kulturvermittlung: Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens 9783839435618

Germany boasts one of the most diverse cultural landscapes in Europe. Nevertheless, publicly-supported cultural programm

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German Pages 288 [292] Year 2016

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Teilhabeorientierte Kulturvermittlung: Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens
 9783839435618

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Publikum für alle oder: Neue Gemeinschaften stiften. Einführung in das Thema
Audience Development, kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung, Community Building. Konzepte zur Reduzierung der sozialen Selektivität des öf fentlich geförder ten Kulturangebots
Elfenbeinturm oder menschliches Grundrecht? Kulturnut zung als soziale Distinktion versus Recht auf kulturelle Teilhabe
2. Perspektiven der Nicht-Besucher. Empirische Erkenntnisse und Konsequenzen für Kulturvermittlung
Nicht-Besucher im Kulturbetrieb. Ein Überblick des aktuellen Forschungsstands und ein Ausblick auf praktische Konsequenzen der Publikumsforschung in Deutschland
Quo vadis Kulturvermittlung? Ergebnisse des 2. Jugend-KulturBarometers
Menschen mit Migrationshintergrund als Kulturpublikum. Erkenntnisse des aktuellen Forschungsstands für ein er folgreiches Audience Development
Ehrenamtliche von KulturLeben Berlin als erfolgreiche Mittler zwischen kulturellen Angeboten und Erstbesuchern. Empirische Erkenntnisse zu einem Instrument kultureller Teilhabe
KulturLeben Berlin – Arm, aber Lust auf mehr! Abbau von Barrieren zur Nut zung außerhäusiger Kulturangebote für Menschen mit geringen Einkünf ten durch persönliche Vermittlung
40 Years of Audience Focus. The evolution of Audience Development practice in the UK and the impact of arts policy
3. Diskurse, Konzepte und Formate sozial integrativer Kulturvermittlung. Kulturvermitt lung und Audience Development »klassischer Kultureinrichtungen«
Sozial integrative Kulturvermittlung öffentlich geförderter Kulturinstitutionen zwischen Kunstmissionierung und Moderation kultureller Beteiligungsprozesse
Die Brücke als Riss. Reproduktive und transformative Momente von Kunstvermittlung
Rein – Raus – Dazwischen. Strategien zum Umgang mit der Schwelle am Deutschen Theater Berlin
Die Kluft zwischen E und U überwinden
Das Zukunftslabor – Eine Initiative der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Wie Musik Gesellschaft verändert
Kindertheater als Modell für partizipative und sozial integrative Vermittlung von Theater. Notizen aus der Praxis
Outreach
Einladende Interventionen zwischen Spielplatz und Konzertsaal. Interaktive Klanginstallationen in öf fentlichen Sphären als ästhetische Ermöglichungsräume für kulturelle Bildungsprozesse
Shopping Culture. Istanbul’s shopping malls as spaces for cultural participation and education
Populäre Kultur
Was alle angeht. Über die Bedeutung von populärer Kultur als integrative Kulturpraxis
Gaming als Blaupause für eine neue partizipative, digitale Kulturvermittlung
4. Community Building durch Kunst und Kultur
Aktiv partizipative Sozialrauminszenierung für kulturelles und künstlerisches Lernen vor Ort. 45 Jahre Spielkultur in München
Superdiversity – Steilvorlage für die künstlerische Bildung in globalisierten Stadtteilen
Creative Placemaking in the United States. Arts and cultural strategies for community revitalization
Partizipative Kulturentwicklungsplanung als Wegbereiter für neue Formen der kulturellen Teilhabe und des Community Building
Autorinnen und Autoren

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Birgit Mandel (Hg.) Teilhabeorientierte Kulturvermittlung Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens

Birgit Mandel (Hg.)

Teilhabeorientierte Kulturvermittlung Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Heersumer Landschaftstheater: »HAIRSUM Superstars«, © Katja Drews, Holzminden (2014) Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3561-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3561-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung Birgit Mandel | 9

1. P ublikum für alle oder : N eue G emeinschaften stiften E inführung in das T hema Audience Development, kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung, Community Building Konzepte zur Reduzierung der sozialen Selektivität des öffentlich geförder ten Kulturangebots Birgit Mandel | 19

Elfenbeinturm oder menschliches Grundrecht? Kulturnutzung als soziale Distinktion versus Recht auf kulturelle Teilhabe Max Fuchs | 51

2. P erspek tiven der N icht -B esucher E mpirische E rkenntnisse und K onsequenzen für K ulturvermittlung

Nicht-Besucher im Kulturbetrieb Ein Überblick des aktuellen Forschungsstands und ein Ausblick auf praktische Konsequenzen der Publikumsforschung in Deutschland Thomas Renz | 61

Quo vadis Kulturvermittlung? Ergebnisse des 2. Jugend-KulturBarometers Susanne Keuchel | 79

Menschen mit Migrationshintergrund als Kulturpublikum Erkenntnisse des aktuellen Forschungsstands für ein er folgreiches Audience Development Vera Allmanritter | 89

Ehrenamtliche von KulturLeben Berlin als erfolgreiche Mittler zwischen kulturellen Angeboten und Erstbesuchern Empirische Erkenntnisse zu einem Instrument kultureller Teilhabe Birgit Mandel und Thomas Renz | 103

KulturLeben Berlin – Arm, aber Lust auf mehr! Abbau von Barrieren zur Nutzung außerhäusiger Kulturangebote für Menschen mit geringen Einkünften durch persönliche Vermittlung Angela Meyenburg und Miriam Kremer | 109

40 Years of Audience Focus The evolution of Audience Development practice in the UK and the impact of ar ts policy Anne Torreggiani | 115

3. D iskurse , K onzepte und F ormate sozial integrativer K ulturvermittlung K ulturvermittlung und A udience D evelopment

» kl assischer K ultureinrichtungen «

Sozial integrative Kulturvermittlung öffentlich geförderter Kulturinstitutionen zwischen Kunstmissionierung und Moderation kultureller Beteiligungsprozesse Birgit Mandel | 125

Die Brücke als Riss Reproduktive und transformative Momente von Kunstvermittlung Alexander Henschel | 141

Rein – Raus – Dazwischen Strategien zum Umgang mit der Schwelle am Deutschen Theater Berlin Ulrich Khuon, Intendant Deutsches Theater Berlin, und Birgit Lengers, Leiterin Junges DT | 155

Die Kluft zwischen E und U überwinden Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, über Interkultur, Entertainment im Theater und Kulturvermittlungsstrategien der Komischen Oper im Gespräch mit Birgit Mandel | 165

Das Zukunftslabor – Eine Initiative der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen Wie Musik Gesellschaft veränder t Esther Bishop, Lea Fink und Albert Schmitt | 171

Kindertheater als Modell für partizipative und sozial integrative Vermittlung von Theater Notizen aus der Praxis Stefan Fischer-Fels | 187

O utreach Einladende Interventionen zwischen Spielplatz und Konzertsaal Interaktive Klanginstallationen in öffentlichen Sphären als ästhetische Ermöglichungsräume für kulturelle Bildungsprozesse Jens Schmidt | 197

Shopping Culture Istanbul’s shopping malls as spaces for cultural par ticipation and education Özlem Canyürek | 209

P opul äre K ultur Was alle angeht Über die Bedeutung von populärer Kultur als integrative Kulturpraxis Barbara Hornberger | 219

Gaming als Blaupause für eine neue partizipative, digitale Kulturvermittlung Christoph Deeg | 227

4. C ommunit y B uilding durch K unst und K ultur Aktiv partizipative Sozialrauminszenierung für kulturelles und künstlerisches Lernen vor Ort 45 Jahre Spielkultur in München Wolfgang Zacharias im Interview mit Birgit Mandel | 239

Superdiversity – Steilvorlage für die künstlerische Bildung in globalisierten Stadtteilen Lutz Liffers | 247

Creative Placemaking in the United States Ar ts and cultural strategies for community revitalization Bill Flood and Eleonora Redaelli | 257

Partizipative Kulturentwicklungsplanung als Wegbereiter für neue Formen der kulturellen Teilhabe und des Community Building Patrick S. Föhl und Gernot Wolfram | 265

Autorinnen und Autoren  | 281

Einleitung Birgit Mandel

Kulturvermittlung hat in Deutschland in den letzten Jahren sehr stark an Bedeutung gewonnen. Inzwischen dürfte es kaum noch ein Konzerthaus, Theater oder Museum geben, das nicht über innovative Formate der Vermittlung versucht, neue Besucher anzusprechen: Mittels populärer Flashmobs wird auf neue Weise (Zufalls-)Aufmerksamkeit geschaffen, Outreach-Formate machen klassische Kultur open air und im öffentlichen Raum neu erlebbar, Virtual-realityAnwendungen und immersive Inszenierungen zeigen Kunst in außergewöhnlichen Perspektiven, »Bürgerbühnen« eröffnen aktive ästhetische Erfahrungen und Zugänge. Eine solche Neu-Kontextualisierung klassischer Kunst und Kultur und die (zumindest temporäre) Befreiung aus ritualisierten, bildungsbürgerlich geprägten Rezeptionsweisen kann die Zugänglichkeit und Attraktivität für neue Besuchergruppen erhöhen. Für Kulturvermittlung mit dem Ziel von Audience Development gab es in den letzten Jahren eine Fülle vielversprechender BestPractise-Beispiele – auch wenn solche bei weitem noch nicht flächendeckend in den Institutionen umgesetzt sind. Reichen diese Bemühungen aber aus, um die bestehende soziale Homogenität des öffentlich geförderten Kulturlebens zu verändern – denn noch immer gehören vorwiegend die hochgebildeten sozialen Milieus zu den Besuchern klassischer Kulturangebote – oder braucht es darüber hinausgehende Konzepte der Kulturvermittlung, um Anstöße für ein sozial inklusives, von vielen verschiedenen Gruppen der Gesellschaft mitgestaltetes Kulturleben zu geben? Vom Audience Development zum Community Building – so könnte in Anspielung auf den Buchtitel des amerikanischen Kulturvermittlers Borwick eine Weiterentwicklung der Konzepte der Kulturvermittlung lauten, anknüpfend an (sozio-)kulturelle Leitbilder einer Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland bereits seit den 1970er Jahren propagiert, aber nur in Ansätzen umgesetzt wurden. Angesichts der gravierenden Veränderungen in der Bevölkerung v.a. durch Migration und der damit verbundenen Pluralisierung kultureller Interessen und Ansprüche an Kunst und Kultur erhält die Frage nach der gesellschaftspolitischen Relevanz des öffentlich geförderten Kulturle-

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Birgit Mandel

bens neue Bedeutung. In allen Beiträgen dieser Publikation geht es deshalb um Konzepte, Strategien und Formate von Kulturvermittlung im Kontext der Frage, wie das öffentlich geförderte und gestaltete Kulturleben einer Gesellschaft inklusiv und Gemeinschaft stiftend wirken kann. Die soziale Homogenität des Publikums klassischer, öffentlich geförderter Kultureinrichtungen bei gleichzeitigem Anspruch öffentlicher Kulturpolitik, mittels Kunst und Kultur gemeinsame gesellschaftliche Identität und Gemeinschaft zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen herzustellen und kulturelle Bildungsprozesse aller Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen, fordert zu neuen Ansätzen der Kulturvermittlung heraus. Gräben überwinden und neue Gemeinschaften bilden statt kulturelle Distinktion zu zementieren, so lässt sich das Ziel einer teilhabeorientierten Kulturvermittlung benennen. Kulturvermittlung wird hier bewusst weit definiert als Gestaltung kultureller Kontexte mit dem Ziel, zum einen Zugänge zu eröffnen zu Kunst und Kultur durch Neu-Kontextualisierung, Anknüpfungspunkte und Bezüge für unterschiedliche kulturelle Interessen zu ermöglichen, aber auch Verbindungen herzustellen zwischen unterschiedlichen Gruppen und Kulturen. Kulturvermittlung umfasst dabei sowohl direkte Formen der personalen Vermittlung etwa in Führungen, Gesprächen und Workshops, Formen medialer Vermittlung z.B. in Beschriftungen, Programmheften, Apps, interaktiven Inszenierungen und Computerspielen, kuratorische Konzepte wie auch indirekte Formen der Vermittlung durch Aufmerksamkeitsmanagement und Markenbildung in PR und Marketing bis hin zur partizipativen und kollaborativen Entwicklung von Kulturräumen. In dieser Publikation werden Konzepte von Kulturvermittlung auf ihr Potenzial befragt, bestehende Strukturen des klassischen Kulturbetriebs zu erweitern und zu verändern und in Auseinandersetzung mit neuen Nutzern öffentlich finanzierte Kulturorte und -angebote neu zugänglich und zu anschlussfähigen »interkulturellen« Begegnungsorten zu machen. Aber auch kulturelle und ästhetische Interessen, Formate und Orte über die klassischen Kulturangebote hinaus werden als Möglichkeit kultureller Selbstbildung in den Blick genommen: Seien es die vor allem in der jüngeren Bevölkerung sehr beliebten Computer-Games oder andere populär- und breitenkulturelle Angebote sowie vielfältige soziokulturelle Aktivitäten an Alltagsorten. In Anknüpfung an Konzepte von kultureller Demokratie und »Kultur von unten«, wie sie seit den 1970er Jahren v.a. durch die sogenannte »Neue Kulturpolitik« postuliert wurden, wird danach gefragt, wie es gelingen kann, das öffentlich geförderte kulturelle Leben insgesamt sozial durchlässiger zu gestalten und inwiefern dazu partizipativ angelegte Kulturentwicklungsplanungen und Community Building Prozesse beitragen können, die gezielt sozial diverse Bevölkerungsgruppen einladen, ihre Interessen einzubringen. Nach einer übergreifenden Einführung in das Thema durch die Herausgeberin und einer politischen Begründung für kulturelle Teilhabe durch Max Fuchs wer-

Einleitung

den im zweiten Teil des Buches aktuelle empirische Erkenntnisse der Kulturbesucher- und Nicht-Besucherforschung dargestellt. Thomas Renz fasst in einer umfassenden Meta-Analyse die Ergebnisse der bestehenden Nicht-Besucherstudien zusammen, ergänzt durch eine eigene empirische Erhebung, und zieht daraus Konsequenzen für Kulturvermittlung, Kulturmanagement und Kulturpolitik. Vera Allmanritter hat spezifisch für die Gruppen der Menschen mit Migrationshintergrund den empirischen Forschungsstand ausgewertet und diesen ergänzt durch eine eigene Befragung in türkisch- und russischstämmigen intellektuellen Migrantenmilieus. Susanne Keuchel präsentiert die Ergebnisse des zweiten Jugendkulturbarometers, das repräsentativ Einstellungen und Interessen im kulturellen Bereich von jungen Menschen in Deutschland erhoben hat und leitet daraus Handlungsempfehlungen für Kulturvermittlung ab. Ob und wie sich Menschen mit niedrigem sozialen Einkommen in sozial prekärer Lage für ihnen bislang eher fremde, außerhäusige kulturelle Angebote mobilisieren lassen, haben Thomas Renz und Birgit Mandel in ihrer Studie zur Kulturloge Berlin (jetzt umbenannt in Kulturleben Berlin) untersucht, die nach dem Tafelprinzip nicht verkaufte Freikarten vergibt. Der Beitrag der Initiatorinnen der Kulturloge Berlin, Angela Meyenburg und Miriam Kremer, zeigt, wie es gelingt, Menschen in schwieriger sozialer Lage spezifisch zu adressieren und mit welchen Service- und Vermittlungsangeboten u.a. für geflüchtete Menschen diesen eine selbstbestimmte kulturelle Teilhabe ermöglicht werden kann. Anne Torreggiani, die seit vielen Jahren für den Arts Council England politisch motivierte Audience-Development-Programme entwickelt, zeigt anhand von Bevölkerungsstudien, dass es auch in England trotz kulturpolitischer Vorgaben nur bedingt gelungen ist, das Kulturpublikum in seiner sozialen Struktur nachhaltig zu erweitern. Damit verweist sie auf die Grenzen von Audience Development und entwickelt zugleich kulturpolitische Perspektiven für eine Erweiterung des Audience-Development-Konzepts. Im dritten Teil des Buches liegt ein zentraler Fokus auf der Kulturvermittlung in den klassischen, öffentlichen Einrichtungen wie Theatern, Museen und Konzerthäusern, weil diese als konstitutiv für ein meritorisches Kulturleben in Deutschland gelten und in diese dementsprechend ein Großteil öffentlicher Mittel fließen. Viele dieser Einrichtungen arbeiten aktuell intensiv an Konzepten, wie sie neue Relevanz herstellen können über den Kreis des Fachpublikums, der Kenner und der gehobenen sozialen Milieus hinaus. Dabei geht es nicht nur um neue Kommunikationsstrategien, auch die Programme und die programmatische Ausrichtung der Einrichtungen stehen zur Disposition. Nachdem in einem weiteren Beitrag der Herausgeberin die verschiedenen Ziele und Vorgehensweisen von Kulturvermittlung zur Überwindung zentraler »Barrieren« des Besuchs von Kulturinstitutionen diskutiert werden, setzt sich Alex-

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Birgit Mandel

ander Henschel kritisch mit der Funktion der Kulturvermittlung am Beispiel des Outreach-Projekts eines Museums auseinander. Kulturvermittlung sei weniger als Brückenfunktion zu interpretieren, so sein Vorschlag, sondern eher in ihrer Ursprungsbedeutung als einem Schlichtungsprozess zwischen zwei Parteien mit unterschiedlichen Interessen, der keineswegs konfliktfrei verlaufen muss. Hier knüpft der Beitrag von Ulrich Kuhon, Intendant des DT, und Birgit Lengers, Leiterin des Jungen Deutschen Theaters an, wenn sie ihre Vorgehensweisen der Öffnung für ein junges, diverses Publikum beschreiben und betonen, dass es dabei im ersten Schritt darum geht, Interessens-Unterschiede und Konflikte deutlich zu machen zwischen diesen Erst-Besuchern und den traditionellen Anspruchsgruppen. Barrie Kosky, der mit Beginn seiner Intendanz in der Komischen Oper Berlin auch in seiner Programmpolitik eine deutliche Öffnung hin zu populären Genres wie Musical und Revue unternommen hat, vermutet, dass die implizit noch immer wirkende und v.a. vom Feuilleton aufrecht erhaltene »typisch deutsche« Trennung von E-Kultur als qualitativ hochwertiger und damit öffentlich zu fördernder Kunst und U-Kultur als eher minderwertiger Massenunterhaltung die Zugänglichkeit zu bestimmten Kulturformen erschwert, indem Unterhaltung als ein zentrales Element von Kultur tendenziell als negativ gewertet würde. Neues Publikum brachte der Komischen Oper neben der offensiven Programmerweiterung auch die aktive Arbeit mit der Zielgruppe Kinder sowie die CommunityArbeit unter dem Label »Salem Opera«, die Aktivitäten der Komischen Oper mit verschiedenen Gemeinschaften türkischer Migranten verbindet. Mit einer radikalen Outreach-Strategie ist es der Kammerphilharmonie Bremen gelungen, sich als klassisches Orchester neu aufzustellen: Indem sie mit ihrem Orchester dauerhaft auf das Gelände einer Gemeinschaftsschule in einem als sozial schwierig eingestuften Vorort Bremens gezogen ist und dort in einer Art »Wohngemeinschaft« mit den Schülerinnen und Schülern tagtäglich zusammen lebt, hat sie neue Perspektiven auf ihre musikalische Arbeit gewonnen. Esther Bishop, Lea Fink und Albert Schmitt beschreiben, wie es ihnen gelungen ist, Zugänge und Verbindungen zu den Schüler/-innen und ihrer Lebenswelt herzustellen, auf welche Weise sie mit diesen gemeinsam künstlerische Inszenierungen entwickelt haben und wie davon auch ihre musikalische Qualität profitiert hat. Inwiefern Kindertheater Modellcharakter für eine konsequent besucherzugewandte Haltung von Theatern haben kann und wie dabei das Moment der Vermittlung im Kunstwerk selbst implementiert ist, erörtert Stefan Fischer-Fels, Leiter des Jungen Schauspiels Düsseldorf. Die Rezeption von Kunst und Kultur hängt sehr stark vom jeweiligen Setting ab, Kontexte verändern die Wahrnehmung und Einordnung. Klassische Kultur-Häuser wie ein Museum oder Konzertsaal definieren nicht nur Artefakte als wertvoll, sondern geben zugleich eine bestimmte Rezeptionsweise vor, im traditionellen westlichen Kanon v.a. eine kontemplative, introvertierte Wahrnehmung der präsentierten Kunst. Wie ein Outreach-Format gestaltet werden kann, das

Einleitung

Formen experimenteller »Neuer Musik« und Klangkunst im öffentlichen Stadtraum präsentiert und wie damit aktive ästhetische Erfahrungen voraussetzungslos möglich werden, zeigt der Beitrag von Jens Schmidt. Özlem Canyürek beschreibt, wie in Istanbul die boomenden Shopping Malls zunehmend zu Kulturhäusern werden, indem die Betreiber in den Malls nicht nur ein umfassendes Entertainment-Angebot bieten, sondern ebenso zeitgenössische Kunst und häufig kostenlose, kulturelle Bildungsangebote für Kinder. Diese Funktionen übernähmen sie auch deswegen, weil das öffentliche Kulturangebot in der Türkei zunehmend auf traditionelle, religiös motivierte Angebote reduziert würde. Inwiefern Einkaufszentren »niedrigschwellige« Kulturorte sein können wird von der Autorin, gestützt durch eine empirische Untersuchung, analysiert. Einige der Artikel dieses Buches basieren auf einer Tagung des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, die die Autorin gemeinsam mit Thomas Renz und in Kooperation mit dem Deutschen Theater und der Kulturloge Berlin 2014 am Deutschen Theater in Berlin unter dem damals sehr kontrovers diskutierten Titel »Mind the gap. Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung« durchführte. Der Begriff »niedrigschwellig«, der aus der sozialen Arbeit stammt, erwies sich dabei als wenig tauglich, suggeriert er doch im Kontext klassischer Kulturangebote ein Gefälle zwischen »Hoch«-Kultur und kulturell »Niedrig«Gebildeten, die man an »legitime« und höherwertige Hochkulturangebote heranführen müsse. Zugleich würden damit die vielfältigen alltagskulturellen, breitenkulturellen, soziokulturellen und populärkulturellen Ausdrucksformen abgewertet. Wenn Menschen sich nicht für bestimmte klassische Kulturangebote interessieren, bedeutet dies ja keineswegs, dass sie keine kulturellen Interessen haben, nur eben andere. Dies wurde von den Vertretern der Cultural Studies bereits seit Anfang der 1970er Jahre offensiv betont: Populäre Kultur in ihren vielfältigen Ausdrucksformen ist fest verankert im Leben eines Großteils der Bevölkerung und hat kein Vermittlungsproblem. Barbara Hornberger beschreibt in ihrem Beitrag »Was alle angeht« den ebenso lustvollen wie emanzipativen Gebrauch populärer, leicht zugänglicher Kulturformen. Diese würden keineswegs nur als passive »Berieselung« genutzt, sondern seien individuell bildungsrelevant, indem darin Bedeutungen für den einzelnen verhandelt würden. Auch wenn im Kontext populärer Kultur Vermittlung nicht nötig ist, sei sie dennoch möglich, indem diese auf Deutungshoheit verzichte und das sinnlich intuitive Erleben als Ausgangspunkt für eine kognitive Auseinandersetzung mit der »Gemachtheit« von Artefakten reflektiere: »Begreifen, was mich ergreift«. Das Populäre sei die eigentlich integrative kulturelle Praxis der Gegenwart. Stellvertretend für viele andere populäre Kulturformen beschreibt Christoph Deeg, was Computer-Games als partizipative Kulturform so attraktiv macht für viele Menschen und was Kulturinstitutionen davon für ihre Neuausrichtung und Vermittlung lernen könnten.

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Birgit Mandel

Neben den klassischen Kulturinstitutionen gibt es auch in Deutschland, verstärkt seit den 1970er Jahren, eine Vielfalt an (sozio-)kulturellen Einrichtungen, Projekten und Aktivitäten, die darauf zielen, alltagsnahe Treffpunkte und Räume für selbstbestimmte, vielfältige kulturelle und politische Aktivitäten zu etablieren. Diese können sowohl »von unten«, quasi als Gegenbewegung und Alternative zur offiziellen kulturpolitischen Agenda entstehen, wie auch durch öffentliche Programme einer beteiligungsorientierten Kulturentwicklungsplanung, die aktuell v.a. in strukturschwachen Regionen erprobt wird, um durch Neu-Kartografierung kultureller Bedürfnisse und Interessen, dem Zerfall traditioneller kultureller Infrastruktur zu begegnen. Im fünften Teil des Buches reflektiert Wolfgang Zacharias die kultur- und bildungspolitischen Entwicklungen im Feld der kulturellen Bildung mit Kindern und Jugendlichen seit den 1960er Jahren unter der Frage, inwieweit und auf welche Weise chancengerechte Zugänge zu non-formalen kulturellen Angeboten geschaffen wurden, und analysiert, mit welchen niedrigschwelligen Formaten im öffentlichen Stadtraum dies dem bereits seit Ende der 1960er Jahre agierenden Verein »Spielkultur München« gelingt. Lutz Liffers zeigt aus stadtsoziologischer Sicht, wie kommunale Bildungslandschaften gestaltet werden müssten, um gleichberechtigte kulturelle Bildungschancen für alle Gruppen zu ermöglichen in heterogenen Stadtquartieren, die angesichts des Zusammenlebens von Menschen aus verschiedenen Ländern, Kulturräumen und Milieus zunehmend als »super diverse« zu bezeichnen seien. Er plädiert für die Adressierung einer kollektiven, transkulturellen Bürgerschaft im Sinne von »urban citizenship«, die sich erst durch gemeinsame künstlerischkulturelle Auseinandersetzung mit dem Stadtteil bilde. Kulturvermittlung müsse sich dafür grundlegend von gutmeinenden ethnischen Diskursen verabschieden ebenso wie vom Konzept defizitorientierter Sozialarbeit. Die US-amerikanischen Autoren Bill Flood und Eleonora Raedelli zeigen die zugleich kultur- wie wirtschaftspolitisch motivierte Entwicklung von Förderprogrammen in den USA vom Audience Development zum Creative Placemaking auf als einer Strategie des Community Building und der Re-Vitalisierung von Städten und Stadtteilen mit künstlerischen und kulturellen Initiativen. Zugleich weisen sie anhand des Fachdiskurses über Creative Placemaking auch auf die Gefahren im Sinne von Verdrängung und Gentrifizierung durch eine kunstbasierte Stadtentwicklungsplanung hin und führen den alternativen Begriff des Creative Placekeeping ein. Dieser verweise darauf, dass es auch in sozial prekären Stadtvierteln bereits vielfältige kulturelle Ressourcen gibt, die aktiviert werden können durch Einbezug der unterschiedlichen Menschen vor Ort mit ihren verschiedenen kulturellen Bedürfnissen unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit. Patrick Föhl und Gernot Wolfram stellen abschließend Qualitätskriterien dafür auf, mit welchen Methoden eine partizipative, transparente Kulturentwicklungsplanung gelingen könnte, in der die unterschiedlichen Interessen vielfältiger Bevölkerungsgruppen eingehen. Sie plädieren unter der Prämisse von Kulturpolitik

Einleitung

als Gesellschaftspolitik für die Ermächtigung ganz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen als Akteure für kulturelle Transformationsprozesse. »Communities«, die sich oft erst in solchen Planungsprozessen bilden, finden häufig andere Antworten, Einschätzungen, Zukunftsvisionen als elitenbestimmte Diskurse, so ihr Fazit: Je mehr Menschen mitentscheiden bzw. -diskutieren, sich verantwortlich fühlen und Kultur nicht als eine Angelegenheit von kleinen, elitären Gruppen begreifen, desto größer ist die Chance, dem zum Teil drohenden Bedeutungsverlust kultureller Arbeit entgegen zu steuern. Angesichts so vieler unterschiedlicher sozialer Milieus innerhalb der deutschen Gesellschaft wäre es fahrlässig, nur auf die Ansprüche von Bildungseliten zu blicken, die häufig politisch wie zivilgesellschaftlich die Diskurse bestimmen.

Mit dem hier aufgemachten Spektrum wird die Reichweite von Kulturvermittlung deutlich erhöht: Sie kann zum Motor für Transformationsprozesse von Kulturinstitutionen werden und zum Anstifter neuer Gemeinschaften, die aus kulturellen Initiativen entstehen können und weit über den Kultursektor hinaus gehen.

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1. Publikum für alle oder: Neue Gemeinschaften stiften

Einführung in das Thema

Audience Development, kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung, Community Building Konzepte zur Reduzierung der sozialen Selektivität des öffentlich geförderten Kulturangebots Birgit Mandel

1. K ulturelle B e teiligung als kulturpolitisches K onzep t Lange bevor das Konzept des Audience Development in Deutschland als kulturmanageriale Strategie und zumindest in den Diskursen auch als kulturpolitisches Ziel nach angelsächsischem Vorbild aufgegriffen wurde, gab es Forderungen nach einem »Bürgerrecht Kultur« (Glaser/Stahl 1974) und einer »Kultur für alle« (Hoffmann 1979). In der sogenannten »Neuen Kulturpolitik«, die sich in den 1970er Jahren mit Gründung der Kulturpolitischen Gesellschaft parteiübergreifend entwickelte, wurde gefordert, Barrieren vielfältiger Art abzubauen, um allen Menschen kulturelle Teilhabe zu ermöglichen. Dabei ging und geht es bis heute im politischen Diskurs weniger darum, die Attraktivität des öffentlich geförderten Kulturangebots grundsätzlich zu hinterfragen, als vielmehr um die Frage, wie die bestehenden, klassischen Kultureinrichtungen langfristig erhalten werden können, indem sie mehr Besucher aus bislang wenig erreichten sozialen Milieus gewinnen. Das Ziel, eine breite, sozial diverse Bevölkerung in die öffentlich bereitgestellten, institutionellen kulturellen Angebote, v.a. die Theater, Konzerthäuser und Museen zu involvieren, ist bis heute unerreicht. Nach wie vor werden in Deutschland die Angebote dieser Kultureinrichtungen vor allem von den höher gebildeten und sozial besser gestellten Bevölkerungsgruppen wahrgenommen. Partizipation an Kultur kann unterschiedliche Reichweiten haben, von der Teilnahme als Besucher professioneller Kulturveranstaltungen über aktive künstlerisch-kulturelle Teilhabe als Amateur bis zur Mitbestimmung als interessierter Bürger über kulturpolitische Förderziele.

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Intensivere kulturmanageriale und kulturpolitische Ansätze, sich um unterrepräsentierte Zielgruppen als Besucher kultureller Angebote zu bemühen, lassen sich in Deutschland erst seit etwa zehn Jahren feststellen. Zentrale Auslöser für diese Bemühungen sind ein nachlassendes Interesse an klassischen Kulturangeboten bei jüngeren Generationen durch fehlende Enkulturation und ein Wandel kultureller Interessen insgesamt u.a. durch den wachsenden Anteil an Migranten in der Bevölkerung. Ein verstärktes kulturpolitisches Interesse an »Kultureller Bildung« als Auftrag an die öffentlich finanzierten Kultureinrichtungen forcierte die Beschäftigung von Kultureinrichtungen damit, wie sie v.a. Bevölkerungsgruppen mit niedrigem formalen Bildungsniveau erreichen können, wobei der Fokus auf Kindern und Jugendlichen liegt. Hinzu kamen kulturmanageriale und kulturpolitische Impulse in Richtung Audience Development und kulturelle Bildung aus anderen Ländern in einem zunehmend internationalen Kulturbetrieb. Der in den angelsächsischen Ländern geprägte Begriff des »Audience Developments« bezeichnet die Generierung und Bindung neuen Publikums für Kultureinrichtungen in der strategischen Kombination von Kulturnutzerforschung, Marketing, PR und Kulturvermittlung (vgl. Arts Council England 2004, Mandel 2008). Im Unterschied zum klassischen Marketing, das v.a. auf die quantitative Erhöhung von Besucherzahlen zielt, kann Audience Development auch die qualitative, nachhaltige Entwicklung von Publikum zum Ziel haben, sowohl in Hinblick auf die soziodemografische Zusammensetzung wie in Hinblick auf die Qualität der Erfahrungen der Nutzer/-innen und die Bildungswirkungen der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur. Audience Development aus einer rein marketingorientierten, wirtschaftlichen Perspektive wird versuchen die am leichtesten, weil bereits potenziell interessierten Zielgruppen zu adressieren, um mit möglichst geringem Aufwand eine ausreichende und nachhaltige Auslastung der Kapazitäten zu erreichen. Audience Development mit dem Anspruch, bislang unterrepräsentierte soziale Gruppen als Besucher zu gewinnen, bedarf deutlich größere Anstrengungen, die von Outreach-Formaten über Programmveränderungen bis zur Neuausrichtung der Leitziele einer Einrichtung reichen (vgl. Kap. 3). Um solche Anstrengungen kulturpolitisch zu unterstützen und zu forcieren, wurden in Ländern wie England und Australien staatliche Fördergelder an Strategien geknüpft, mit denen es nachweislich geeignet gelingt, bestimmte bislang unterrepräsentierte Zielgruppen zu erreichen. In England wurde Audience Development wesentlich durch kultur- und sozialpolitische Ziele unter New Labour in den 1990er Jahren angestoßen, die an öffentlich geförderte Kultureinrichtungen den Anspruch stellten, für alle Bevölkerungsgruppen, vor allem auch für sozial benachteiligte Gruppen da zu sein, um diesen eine Brücke zu bauen, sich stärker in das kulturelle und gesellschaftliche Leben zu integrieren. Das deutsche Kultursystem weist eine Reihe von Merkmalen auf, die einer Implementierung von nationalen, staatlichen Förderprogrammen für Audience Development nach englischem Vorbild entgegen stehen. Diese reichen von der

Audience Development, kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung

Kulturhoheit der Bundesländer und der grundgesetzlich geschützten Kunstfreiheit bis zum Prinzip der institutionellen Anbieterförderung, das eine Art »kulturelle Grundversorgung« der Bevölkerung auf hohem Niveau und weitgehend unter Ausschluss von Marktmechanismen gewährleisten soll. Die Entscheidung darüber, was künstlerisch und kulturell wertvoll ist, wird dabei an Experten auf der Anbieterseite (Intendanten/Direktoren) delegiert und nicht bzw. nur sehr begrenzt dem Votum des Publikumsgeschmacks ausgesetzt, durch den eine Verflachung der künstlerischen Qualität und eine »Mainstreamisierung« von Kunst und Kultur befürchtet wird. Basis ist die Maxime »Fördern, was es schwer hat«. Die kulturelle Abwertung des Massengeschmacks fand ihre theoretische Begründung u.a. in den kultursoziologischen Schriften von Adorno und Horkheimer, die populäre, kulturwirtschaftlich produzierte Kunst und Kultur als Produkte der »Industriekultur« kritisierten (Adorno/Horkheimer 1947). Anders als etwa in den USA, wo die Interessen der potenziellen Nutzer bzw. des Publikums einen wesentlichen Einfluss auf die Kulturproduktion haben, weil das Publikum und private Förderer die Haupteinnahmequelle auch der meisten gemeinnützigen Kulturbetriebe darstellen, sind die Kultureinrichtungen in Deutschland aufgrund der hohen staatlichen Förderung deutlich unabhängiger von Publikumszuspruch. Der Anteil des Budgets aus Ticketverkäufen macht etwa bei öffentlichen Theatern in Deutschland nur ca. 15 % aus (vgl. Deutscher Bühnenverein 2013), im Vergleich zu ca. 60 % in den USA (vgl. National Endowment of the Arts 2012). Auch wenn es in Deutschland kein nationales Audience Development Programm zur Förderung eines sozial diversen Publikums von Kultureinrichtungen gibt, wurden in den letzten Jahren bundesweite Programme zur Förderung einer chancengerechteren Kulturellen Bildung aufgelegt, wie das Programm des Bundesbildungsministeriums »Kultur macht stark«, das sich explizit an sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche richtet, die über kulturelle BildungsKooperationen an ihren Alltagsorten erreicht werden sollen. Auch das von der Bundeskulturstiftung mitinitiierte und von der Mercator Stiftung und einzelnen Bundesländern mitfinanzierte Programm »Kulturagenten für kreative Schulen« zielt u.a. darauf ab, junge Menschen aus allen sozialen Gruppen auf eine für sie gewinnbringende Weise mit Kunst in Berührung zu bringen. Aktuell gibt es Anzeichen dafür, dass eine stärker konzeptbasierte Kulturpolitik (vgl. Kulturpolitische Gesellschaft 2014) auch in Deutschland dazu beiträgt, zukünftig stärkere Vorgaben zu machen, um kulturelle Partizipation zu erhöhen: So hat erstmalig der Bund die wenigen von ihm geförderten Kultureinrichtungen verpflichtet, einen bestimmten Prozentsatz ihrer Fördersumme für Kulturvermittlungsmaßnahmen auszugeben. In einzelnen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern sind neue Kulturförderrichtlinien entwickelt worden, die Kultureinrichtungen auffordern, sich um ein diverses Publikum, v.a. junge Menschen zu bemühen. Allerdings

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Birgit Mandel

fehlt bislang ein System, um den Erfolg überprüfen und ggf. Sanktionen veranlassen zu können (vgl. Renz 2015: 63f.). Wie ist der Status Quo kultureller Beteiligung und des Interesses an Kunst und Kultur in der Bevölkerung in Deutschland? Mit welchen Strategien gelingt es, ein diverses Publikum für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen zu gewinnen, das der Vielfalt der Gesellschaft entspricht, und wo sind die Grenzen des kulturbetrieblichen Audience Development? Ist es überhaupt möglich für klassische Kulturinstitutionen, die von ihrem Image und ihrem Anspruch dem Segment der sogenannten Hochkultur zugeordnet werden, Menschen aus sozialen Gruppen jenseits des Kernpublikums der formal hochgebildeten, sozial privilegierten Milieus zu interessieren? In welcher Weise müssen sich Institutionen dafür verändern? Welche kulturpolitischen Strategien werden aktuell diskutiert, um das öffentlich geförderte kulturelle Leben in Deutschland insgesamt diverser und inklusiver zu gestalten?

2. Z entr ale E rgebnisse zu K ulturnut zung , kulturellen I nteressen und E instellungen zu K unst und K ultur in D eutschl and Die nachfolgenden Ergebnisse zu kultureller Partizipation in Deutschland basieren auf den bislang wenigen deutschen Studien, v.a. vom Zentrum für Kulturforschung sowie den Ergebnissen von Eurobarometer Befragungen zum Thema Kultur. Letztere ermöglichen einen Vergleich mit anderen Ländern, weil sie auf einem gemeinsamen Fragebogen und einer harmonisierten Definition kultureller Partizipation basieren (vgl. EB 2007, EB 2013).

Im europäischen Vergleich mittlere Intensität kultureller Aktivität in Deutschland Empirische Studien zur kulturellen Partizipation stehen vor dem Problem zu definieren, was unter Kultur verstanden werden soll und welche kulturellen Aktivitäten in die Messung einbezogen werden sollen (vgl.  Morone  2006:  30). Deutlich wird bei internationalen Vergleichen von Studien (u.a. Schuster 2007), dass in Deutschland der gebräuchliche Kulturbegriff enger ist als in vielen anderen Ländern. Während dort etwa auch Sport, Feste oder Zoobesuche dazu gezählt werden, liegt der deutschen Kulturpolitik tendenziell ein Kulturbegriff zugrunde, der vorwiegend an den Künsten und den Institutionen der klassischen Kultur orientiert ist und der auch in der Bevölkerung vorherrscht (vgl. Allensbach 1992, Zentrum für Kulturforschung 1. u. 2. Jugendkulturbarometer 2007/2012, 1. Interkulturbarometer 2012). In diesen Befragungen wird auch deutlich, dass es eine Wertschätzung für die klassischen Kulturformen und -einrichtungen gibt, obwohl ein Großteil der Bevölkerung diese selbst nicht besucht.

Audience Development, kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung

Dem Fragebogen des Eurobarometers wird eine breite Definition von »kultureller Aktivität« zugrunde gelegt. Unterschieden wird in häusliche Kulturaktivitäten wie Musikhören, Lesen, Fernsehfilme ansehen; außerhäusige kulturelle Aktivitäten wie Kino, Theater, Museumsbesuche; eigene kulturelle Betätigung als Amateur wie Musizieren, Fotografieren, Tanzen etc. (vgl. Morone 2006: 30). Mit Hilfe eines »index of cultural practice«, der die diversen kulturellen Aktivitäten zusammenfassend misst, wird im Eurobarometer das Niveau des kulturellen Engagements der Bevölkerung eines Landes in einem Wert zusammengefasst. Die Ergebnisse zeigen, dass die nordischen Länder die höchsten Bevölkerungsanteile mit sehr hoher oder hoher kultureller Partizipation aufweisen, angeführt von Schweden (43 %), Dänemark (36 %) und den Niederlanden (34 %). Der entsprechende Anteil in Deutschland von 18 % entspricht dem EU-Durchschnittswert, liegt aber z.B. noch unter den Anteilen in GB (26 %) und Frankreich (25 %). Trotz seines im internationalen Vergleich sehr hohen Anteils an klassischen Kulturinstitutionen ist Deutschland auch beim Besuch klassischer Kultureinrichtungen nicht in der Spitzengruppe, sondern nur knapp oberhalb des europäischen Durchschnitts (vgl. EB 2013).

Abnehmender Besuch »hochkultureller« Veranstaltungen Wie in den meisten anderen europäischen Ländern besteht auch in Deutschland die häufigste kulturelle Aktivität darin, ein Buch zu lesen (79 %), Kulturprogramme im Fernsehen oder Radio zu sehen oder zu hören (74 %), historische Monumente oder Sehenswürdigkeiten zu besichtigen (63  %) und ins Kino zu gehen (54 %). Der Besuch klassischer Kultureinrichtungen ist deutlich weniger populär. 19 % gingen mindestens einmal im Jahr ins Ballett oder die Oper, 30 % ins Theater und 44  % in Museen. Seit 2007 gab es einen Rückgang dieser Aktivitäten beim Theater um minus sieben Prozentpunkte, beim Museumsbesuch um minus vier Prozentpunkte. Kinobesuche hingegen stiegen um einen Prozentpunkt (vgl. EB 2013 im Vgl. zu EB 2007). Eine Studie von ARD und ZDF zu kulturellen Freizeitaktivitäten in der deutschen Bevölkerung zeigt, dass nach Lesen und Musikhören Computerspiele bereits auf Platz drei der am häufigsten ausgeübten, kulturellen Freizeittätigkeiten liegt (vgl. Neuwöhner/Klinger 2016: 432). Auf der Grundlage einer Metastudie verschiedener deutscher (Nicht-)Besucherstudien aus den letzten drei Jahrzehnten wird das Potenzial der regelmäßigen Besucher von klassischen Kulturangeboten in Deutschland auf 5 bis 15 % geschätzt, das Potenzial der Gelegenheitsbesucher auf 35 bis 45 % (vgl. Renz 2016: 130). Etwa die Hälfte der Bevölkerung dürfte demnach keines der öffentlich subventionierten Kulturangebote nutzen.

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Soziale Herkunft entscheidender als ethnische Herkunft, dennoch signifikant geringere Besuche klassischer Kultureinrichtungen von Menschen mit Migrationshintergrund Nach den Ergebnissen des ersten »Interkulturbarometers« für Deutschland zeigen sich in der Rangreihe der kulturellen Präferenzen zwischen der Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund kaum Unterschiede. Allerdings liegen die jeweiligen Besucheranteile der klassischen Kultureinrichtungen, anders als die der privatwirtschaftlichen, unterhaltungsorientierten Kulturformen, bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund um etwa 10 bis 20 % unter denen der deutschstämmigen Bevölkerung. Besonders ausgeprägt ist diese Differenz bei der Bevölkerung mit türkischem Migrationshintergrund, die in Deutschland die zahlenmäßig größte Zuwanderergruppe stellt (vgl.  Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2012a: 104). Junge Menschen mit Migrationshintergrund sind insgesamt kulturinteressierter, werden aber mehrheitlich von privatwirtschaftlichen Kulturanbietern erreicht (vgl. ebd.: 11). Die Bevölkerungsgruppen mit einer Abstammung der Familie aus der Türkei oder dem Nahen Osten weisen auch im Vergleich zu Bevölkerungsgruppen mit einem osteuropäischen oder russischen Migrationshintergrund besonders geringe Besuchsraten von klassischen Kultureinrichtungen auf (vgl. ebd.: 113). Insgesamt ist jedoch der Einfluss des sozialen Milieus, des Bildungsniveaus und der Familie auf Kulturnutzung und kulturelle Interessen deutlich stärker als das Herkunftsland, wie eine Sinus-Milieu-Studie zur Kultur bei Menschen mit Migrationshintergrund zeigt (vgl. Ministerpräsident des Landes NRW 2010). Menschen mit Migrationshintergrund als Gesamtheit haben einen deutlich weiteren Kulturbegriff, der auch Alltagskultur, Breitenkultur, Kultur der Länder und Völker umfasst. Dadurch verändere sich das Kulturverständnis in der deutschen Bevölkerung insgesamt (vgl.  Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2012b: 62).

Bildung und Alter sind die zentralen Einflussfaktoren auf die kulturelle Partizipation Die Intensität kultureller Aktivitäten in Deutschland korreliert stark mit dem Niveau der Bildung: 42 % derjenigen, die vor dem Alter von 16 Jahren aus dem Bildungssystem abgehen, also mit Hauptschulabschluss, weisen einen geringen »index of cultural practice« auf. Bei denjenigen, die erst im Alter von mindestens 20 Jahren das Bildungssystem verlassen, also Abiturienten bzw. Akademiker, sind dies nur 15 % (vgl. EB 2013). Auch andere Studien zeigen für Deutschland einen deutlichen Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und kultureller Partizipation (vgl. Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2002, 2005, Reuband 2002, Kirchberg 2005, Eckhard et al. 2006, Neuwöhner/Klingler 2011). Die Stammnutzer der öffentlich geförderten Kultureinrichtungen verfügen größtenteils über

Audience Development, kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung

einen hohen Bildungsgrad und Sozialstatus. Unter den jungen Menschen besuchen fast nur noch Gymnasiasten klassische Kultureinrichtungen. Es besteht also ein enger Zusammenhang von sozialer Herkunft und kultureller Inklusion. Diese soziale Spaltung des Kulturpublikums hat sich im Zeitvergleich verstärkt (vgl. Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2007, 2012a). Auch Kirchberg und Kuchar konstatieren in ihrer Meta-Studie zur Kulturnutzung »einen robusten Zusammenhang höherer Positionen in der Sozialstruktur mit der Nutzung hochkulturelle Sparten […] sowie die große Bedeutung des Faktors Bildung und des Einkommens bezüglich der (Nicht-)Besuchsentscheidung« (Kirchberg/Kuchar 2016: 576). Tendenziell wird das Publikum klassischer Kultureinrichtungen älter, insbesondere für das Opernpublikum wird ein ausgeprägter Alterungsprozess konstatiert (vgl. Föhl/Lutz 2010: 43). Die kulturellen Interessen der 14- bis 24-Jährigen sind im Vergleich zu den kulturellen Interessen der ab 50-Jährigen deutlich stärker auf die massenkulturellen Angebote wie Filme und Popmusik ausgerichtet und deutlich schwächer auf die klassischen Hochkultursparten (vgl. Zentrum für Kulturforschung Jugendkulturbarometer 2012: 26). Im Zeitverlauf zeigt sich ein abnehmendes Interesse junger Menschen an traditionellen Kulturangeboten (vgl. Keuchel/Zentrum für Kulturforschung 2007, 2012a). Ergebnisse verschiedener Studien deuten darauf hin, dass sich diese popkulturellen Präferenzen neuer Generationen auch im Alter nicht ändern werden, also von einem automatischen »Reinwachsen« in klassische Kultureinrichtungen nicht mehr ausgegangen werden kann (vgl. Reuband 2005, Peterson et al. 2000, Treinen 2012). »Es gibt Anzeichen dafür, dass die Nachfrage nach Hochkultureinrichtungen in Zukunft abnehmen wird, da die Kulturnachfrage eher kohortenals altersabhängig ist.« (Kircherg/Kuchar, 2016: 561)

Desinteresse am Besuch bestimmter Kulturangebote dominiert vor institutionellen und objektiven Barrieren Bei den klassischen Kulturangeboten wird »mangelndes Interesse« am häufigsten als Hinderungsgrund genannt, diese überhaupt oder häufiger wahrzunehmen. An zweiter Stelle steht »zu wenig Zeit«. Erst danach kommen institutionelle bzw. objektive Barrieren: »Zu teuer«, »limitiertes Angebot«, »schlechte Qualität«. Dies gilt auch für die EU Bevölkerung insgesamt (vgl. EB 2013). Auch in Besucherstudien für Theater in Deutschland wurden vor allem subjektbezogene Zugangsbarrieren ermittelt: Die Theaterprogramme werden von jungen Menschen nicht als relevant für ihre alltägliche Lebenswelt erachtet. Insbesondere jüngere Männer haben Vorbehalte gegenüber dem Theater und bevorzugen alternative Freizeitangebote, die Zerstreuung und Entspannung bieten, ohne dabei geistig anspruchsvoll zu sein. Das Image von Theatern als Ort der Hochkultur gilt als nicht passend für die eigene peer group. Es besteht die Sorge, die Rituale dieses Ortes nicht zu kennen, die Inszenierungen nicht zu verstehen

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und sich zu langweilen (vgl. Deutscher Bühnenverein 2002, Mandel/Renz 2012, Zentrum für Kulturforschung/Keuchel 2012a, Mandel 2013).

Eigene künstlerische Aktivitäten motivieren für den Besuch kultureller Veranstaltungen Menschen, die als Amateure selbst künstlerisch tätig sind, indem sie z.B. singen, malen oder ein Musikinstrument spielen, nehmen kulturelle Angebote deutlich intensiver wahr als künstlerisch nicht aktive (vgl. Zentrum für Kulturforschung/ Keuchel 2002, 2012a). In Deutschland sind 88 % der besonders aktiven Kulturnutzer selbst künstlerisch tätig (vgl.  EB 2013). Hinsichtlich der dominierenden Form künstlerischer Betätigung, der Musik, ist wiederum festzustellen, dass Musikschulen v.a. von Kindern aus höheren Bildungsschichten besucht werden (vgl. World Vision 2010: 155). Wie lassen sich diese Ergebnisse interpretieren in Bezug auf die Frage nach der Förderung kultureller Teilhabe? Dass Deutschland hinsichtlich der kulturellen Partizipation seiner Bevölkerung sowohl bei einer breiten Definition von Kultur als auch bei den klassischen Hochkultur-Angeboten lediglich einen europäischen Mittelplatz einnimmt, ist insofern überraschend als das Land über eine im internationalen Vergleich sehr dichte und in erheblichem Umfang öffentlich finanzierte kulturelle Infrastruktur verfügt. Die Ergebnisse legen die These nahe, dass die Kulturnachfrage nur bedingt von der Dichte des institutionalisierten Kulturangebots beeinflusst wird. So hat sich seit den 1970er Jahren die Zahl der öffentlich geförderten Theater in Deutschland fast verdoppelt, während die Zahl der Besuche relativ konstant geblieben ist (vgl. Föhl/Lutz 2010). Für diese These spricht zudem, dass bei den Zugangshindernissen zu außerhäusiger Kultur nur von sehr wenigen der im Eurobarometer Befragten das Problem eines begrenzten oder qualitativ unzureichenden Angebots genannt wird. Der Versuch, die Unterschiede in der kulturellen Partizipation zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu erklären, wurde bislang nicht unternommen. Hierfür wären vertiefte Vergleichsstudien erforderlich, die nicht nur Unterschiede in den kulturellen Traditionen, der Kulturpolitik, den vorherrschenden Formen der Organisation und des Managements von Kultureinrichtungen, sondern auch im Bildungssystem, den Sozialstrukturen oder der Einkommensverteilung betrachten müssten. Eine Vermutung, warum im Vergleich zu Deutschland die Partizipationsrate in Großbritannien signifikant höher ist, könnte darin bestehen, dass die intensiven Audience Development Maßnahmen, sowie v.a. die großen nationalen Anstrengungen im Bereich der kulturellen Bildung, implementiert über die Schulen seit New Labour in den 1990er Jahren, bereits gegriffen haben. Dabei ist jedoch festzustellen, dass auch in Großbritannien die soziale Ungleichheit in der Nut-

Audience Development, kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung

zung bestimmter kultureller Angebote nicht aufgebrochen werden konnte. So zeigte etwas die »Taking Part«-Studie von 2011 für Großbritannien (DCMS) »that the arts still attract an elite minority of the public which had remained largely unchanged despite policy rhetoric« (Jancovic 2014: 8, vlg. auch Torregiani 2014). Nach den Ergebnissen der Eurobarometer-Befragungen sind in Deutschland im Zeitraum zwischen 2007 und 2013 sowohl der Anteil der intensiven Kulturnutzer als auch die Nutzung klassischer Kulturangebote rückläufig. Dass zugleich die mit Abstand am häufigsten genannte Begründung für den Nicht-Besuch klassischer Kultureinrichtungen »mangelndes Interesse« ist, deutet darauf hin, dass die Einrichtungen für viele als nicht attraktiv und relevant für ihr eigenes Leben wahrgenommen werden. Als ein Erklärungsfaktor für eine sinkende Nachfrage nach klassischer Kultur in Deutschland gilt die demografische Entwicklung. Zwar könnte die Bildungsexpansion potenziell dem Alterungsprozess des Hochkulturpublikums entgegenwirken, allerdings gehört die Rezeption von klassischer Kultur bei nachwachsenden Generationen auch mit höherer Bildung nicht mehr selbstverständlich zum Lebensstil wie in der Vergangenheit bei den traditionellen bildungsbürgerlichen Kreisen (vgl. u.a. Renz 2016). Da sich die Kulturnachfrage eher als kohorten- denn altersabhängig erweist, muss damit gerechnet werden, dass die Nachfrage in Zukunft weiter abnehmen könnte. »Trotz einer insgesamt in den letzten 50 Jahren verbesserten Ausbildung und Bildung der deutschen Bevölkerung gab es keine parallele Zunahme der Hochkultur, weil die Gesamtzahl der dieser vermeintlichen Leitkultur zusprechenden Bevölkerung abgenommen hat«, so die These von Kirchberg und Kuchar (Kirchberg/Kuchar 2016:  563). Föhl und Nübel konstatieren nach einer Auswertung von Studien zum Publikum von Theatern, als der am höchsten öffentlich geförderten Kulturform in Deutschland: »Das Theater hat heute seine herausragende Bedeutung als Leitmedium der gesellschaftlichen Selbstverständigung und zentralem kommunikativem Ort des Gemeinwesens weitestgehend verloren.« (Föhl/Nübel 2016: 211) Bei den jüngeren Altersgruppen kann auch eine Substitution der Nutzung öffentlicher Kulturangebote durch konkurrierende Angebote auf dem Freizeitmarkt als eine Ursache für eine sinkende Nachfrage nach klassischer Kultur vermutet werden. Dabei dürften vor allem die zunehmende Nutzung elektronischer Medien und insbesondere das Internet als wesentlicher Kulturraum eine zentrale Rolle spielen. Schließlich könnte auch der wachsende Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ein Erklärungsfaktor für abnehmende Besucherzahlen im klassischen Kulturbereich sein, da die Bevölkerung mit Migrationshintergrund hier geringere Partizipationsraten aufweist, und offensichtlich vielen diese Institutionen wenig vertraut sind. Als zentrale Erklärungsvariablen für die soziale Spaltung der Kulturnachfrage werden in allen vorliegenden Nutzerstudien der Faktor Bildung und soziale Herkunft identifiziert. Auf der einen Seite stehen die Bürger/-innen mit einfacher

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Bildung, die mit weit überwiegender Mehrheit nicht oder nur sehr geringfügig am öffentlichen Kulturleben teilnehmen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen mit hoher Bildung und häufig höherem Einkommen, von denen viele nicht nur die klassischen Kulturangebote, sondern parallel auch populäre Kulturgenres wahrnehmen, wie eine Studie des Zentrums für Kulturforschung zum gebildeten »Kulturellen Allesfresser« zeigt (vgl. Zentrum für Kulturforschung 2005). Theoretische Erklärungsansätze für die soziale Spaltung der Kulturnachfrage argumentieren entweder individualistisch oder strukturalistisch. Gemäß der individualistischen Ansätze nehmen für den Einzelnen die Wahlmöglichkeiten und Handlungsoptionen auch in der Nutzung kultureller Angebote zu: Jeder Einzelne würde gemäß persönlicher Präferenzen sein ganz individuelles Kulturnutzungsverhalten jenseits traditioneller Zuschreibungen herausbilden, und Unterschiede verschiedener sozialer Gruppen in der Nutzung kultureller Angebote würden sich demnach zunehmend auflösen (vgl. Lahire 2008, Beck/Beck 1994 in Kirchberg/ Kuchar 2016: 556ff.). Vertreter der Omnivoren-These gehen davon aus, dass bestimmte kulturelle Aktivitäten nicht mehr einem bestimmten Milieu oder Status zuzuordnen sind, und Menschen zunehmend unberechenbarer und vielfältiger in ihrem Kulturnutzungsverhalten sind. Die vorliegenden empirischen Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass diese These vom »kulturellen Allesfresser« nur für die höher gebildeten, stark kunstund kulturinteressierten und insgesamt sehr mobilen Bevölkerungsgruppen gilt. Diese verfügen offensichtlich über so viel »kulturelles Kapital« (Bourdieu 1982), dass sie ein breites Spektrum an Kultur, von hochkulturellen bis populärkulturellen Angeboten, souverän rezipieren können. Auch Reuband, der der These einer zunehmenden Auflösung gruppenspezifischer sozialer Unterschiede in einer für Köln repräsentativen Befragung zur Nutzung der Theater, Opern und Museen nachgeht, kommt zu dem Befund, dass sich soziale Ungleichheit in der Nutzung eher verstärkt hat, wobei v.a. der Faktor Bildung dominant sei. »Die soziale Spaltung des Kulturpublikums scheint größer als zuvor.« (Reuband 2012: 256) In strukturalistischen Erklärungsmodellen zur Kulturnachfrage wird in der Denktradition von Bourdieu davon ausgegangen, dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht maßgeblich den Kulturkonsum beeinflusst (vgl. Kirchberg/Kuchar 2016: 556ff.). Tatsächlich erweisen sich in Kulturnutzerstudien bestimmte soziodemografische Faktoren, allen voran der eigene Bildungsabschluss und das Bildungsniveau des Elternhauses, als zentrale Einflussfaktoren. Dies spricht dafür, dass das Modell der sozialen Distinktion durch bestimmte Kulturformen in Abhängigkeit zur sozialen Lage, ausdifferenziert und erweitert durch die Milieu-orientierten Ansätze (vgl. Schulze 2000, Sinus-Milieu-Studien), noch immer greift, auch wenn sich das Spektrum kultureller und ästhetischer Distinktionsformen sehr erweitert hat.

Audience Development, kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung »The core problem is that cultural capital has become much more subtle and complex. […] Whereas higher-status people are diversifying their cultural portfolios and are reaping large gains in social network diversity and work success, poorer citizens find themselves locked in cultural ghettos with a narrowing range of choices and experiences.« (Erickson 2008: 344f.)

Während also Menschen mit hohem sozialen Status souverän zwischen verschiedenen Kulturformen agieren können, sind Menschen mit niedrigem Status in ihrem kulturellen Radius sehr viel begrenzter, wodurch sich die soziale Spaltung auch auf kulturellem Gebiet fortsetzt.

3. A udience D e velopment als S tr ategie der G enerierung und B indung eines neuen , diversen P ublikums für die öffentlich geförderten K ultureinrichtungen E rgebnisse eines F orschungsprojek ts »I nterkulturelles A udience D evelopment« Inwiefern kann es mit Hilfe von Audience Development Strategien gelingen, die empirisch festgestellte, sozial selektive Nutzung bestimmter hochkultureller Angebote aufzubrechen und zur sozialen Durchlässigkeit öffentlich geförderter Kultureinrichtungen beizutragen? Audience Development ist eine systematisch angelegte, kulturbetriebliche Strategie, die darauf abzielt, neue, bisher nicht erreichte Besuchergruppen zu gewinnen und nachhaltig an eine Kulturinstitution zu binden. Dabei zeichnet sich Audience Development durch einen integrativen Ansatz aus, der Elemente des Kulturmarketings und der Kulturvermittlung auf der Basis von Kulturnutzerforschung strategisch zusammenbringt und damit Kulturbesucher nicht (nur) als »Kunden«, sondern vielmehr als Subjekte einer ganzheitlichen Erfahrung im Rahmen eines Kulturbesuchs begreift (vgl. Mandel 2008). Audience Development kann sowohl das Ziel einer quantitativen Steigerung des Publikums verfolgen wie auch dazu beitragen, bestehendes Publikum noch stärker zu binden durch Service- und Vermittlungsangebote, die besondere Erfahrungen und kulturelle Selbstbildungsprozesse ermöglichen (vgl. u.a. Kawahima 2006: 57). Neben der Publikumsgewinnung und -bindung kann Audience Development auch das Ziel einer positiven Imagewirkung bestimmter Kultureinrichtungen und Kulturformen in einer breiten Bevölkerung haben, die u.a. dafür sorgt, dass Menschen diese Einrichtungen überhaupt als bedeutungsvollen Ort wahrnehmen und einer öffentlichen Kulturförderung zustimmen, auch wenn sie dessen Angebote selbst nicht als Publikum nutzen (vgl. Mandel 2013). Audience Development kann auch kulturpolitisch motivierte Ziele der qualitativen Veränderung des Publikums im Sinne einer sozial diverseren Struktur vor dem Hintergrund eines chancengerechten Zugangs zu öffentlich finanzierten

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Gütern verfolgen. Mehr noch kann Audience Development auch als eine Strategie begriffen werden, bei der öffentlich geförderte Kultureinrichtungen sich gemeinsam mit neuen Nutzern verändern, um unterschiedliche kulturelle Interessen und Ansprüche in einer sich demografisch verändernden Gesellschaft zu berücksichtigen. Dafür wurde von der Autorin der Begriff des »Interkulturellen Audience Development« eingeführt, der darauf verweist, dass unterschiedliche soziale und kulturelle Gruppen mit verschiedenen kulturellen Interessen zusammentreffen und sich auseinandersetzen, woraus sich kulturelle Bildungsprozesse und Veränderungen für alle Seiten ergeben können (vgl. Mandel 2013). Dahinter steht die in Deutschland aktuell propagierte kulturpolitische Idee, dass über kulturelle Angebote Menschen unterschiedlicher ethnischer, kultureller und sozialer Herkunft »interkulturell« zusammentreffen und über Kunst und Kultur Differenzen produktiv werden können, woraus sich neue, gemeinsame »transkulturelle« Identitäten entwickelt könnten (vgl. u.a. Symposien zur Interkultur der Akademie Genshagen und der Zukunftsakademie NRW). Ein aktueller empirischer Gesamtüberblick, inwieweit und mit welchen Zielen, Methoden und Ergebnissen öffentlich geförderte Kultureinrichtungen in Deutschland mit Hilfe eines systematischen Audience Development versuchen, neue Besuchergruppen zu gewinnen, liegt nicht vor. Eine Befragung aller großen Kultureinrichtungen in Deutschland von 2007 ergab, dass immerhin 50 % der Museen und 60 % der Theater Publikumsbefragungen durchführen (Zentrum für Audience Development 2007). Eine weitere Studie von 2009 zur Gewinnung von Migranten als Publikum ermittelte, dass etwa die Hälfte der befragten Einrichtungen sich auf unterschiedlichen Intensitätsstufen mit dem Thema »Migranten als Publikum« befassen. Insgesamt vermuteten zwei Drittel, dass in den deutschen Kulturinstitutionen bei diesem Thema noch »ein hoher Entwicklungsbedarf« besteht (Zentrum für Audience Development 2009). Man kann davon ausgehen, dass ein Großteil der öffentlich geförderten Kultureinrichtungen inzwischen Überlegungen dazu anstellt, wie bestimmte, bislang unterrepräsentierte Zielgruppen erreicht werden können, denn auch in Deutschland hat der politische Druck auf die Institutionen zugenommen, hohe Auslastungszahlen zu erreichen und v.a. den Anteil jüngerer Besucher (v.a. mit nicht-westlichem Migrationshintergrund) zu steigern. Aktuell verstärkt auch die hohe Zahl der Geflüchteten die Herausforderung, die öffentlich geförderten Kulturinstitutionen für Menschen unterschiedlicher Herkunft zugänglich und zu einem Begegnungsort zu machen. Bislang wird jedoch die öffentliche Förderung von Kultureinrichtungen nicht systematisch mit Forderungen verbunden, bestimmte Zielgruppen besser zu erreichen. Vor dem Hintergrund der historischen Bezüge und strukturellen Bedingungen von Kulturpolitik in Deutschland besteht eine hohe Zurückhaltung gegenüber staatlichen Interventionen in künstlerische Bereiche oder einer Funktionalisierung von Kunst für kunstferne, gesellschaftspolitische Zwecke. Kulturförderung ist primär Förderung von Institutionen gewissermaßen durch einen

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staatlichen Mäzen, der keine weiteren Forderungen stellt. Dem entsprechend gibt es bislang keine nationalen und auch keine kontinuierlichen Audience Development Programme der Bundesländer, jedoch erste Modellversuche. Die Autorin war verantwortlich für die Begleitforschung eines vom Kulturministerium Nordrhein-Westfalen initiierten und finanzierten Projekts »Interkulturelles Audience Development«. In diesem Projekt ging es um die Frage, ob und wie es großen, renommierten öffentlichen Theatern und Museen gelingen kann, bislang kaum erreichtes Publikum, v.a. junge Menschen und Bevölkerungsgruppen mit nicht-westlichem Migrationshintergrund zu gewinnen (vgl. Mandel 2013). Fünf Theater, eine Oper und ein Museum entwickelten, gefördert mit zusätzlichen Projektmitteln, partizipative Projekte für die jeweils avisierten, neuen Zielgruppen in Zusammenarbeit mit Multiplikatoren, die aus diesen Bevölkerungsgruppen kommen. Es entstanden Projekte in Kooperation z.B. mit Jugendzentren, Schulen, Migrantenkulturvereinen, Arbeitsloseninitiativen, jungen Autoren mit verschiedenen, nicht-westlichen Migrationshintergründen und freien künstlerischen Gruppen. Folgende zentrale Strategien zur Ansprache und Erstgewinnung neuer Besucher aus nicht klassisch kunstaffinen Bevölkerungsgruppen der beteiligten Institutionen wurden als erfolgreich identifiziert: • Kooperationen mit Einrichtungen und Initiativen aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Einsatz von Multiplikatoren und Keyworkern. • Veränderung der Kommunikation und Distribution: vielfältige Formen eines populären Aufmerksamkeitsmanagements unter Einbezug von Alltagsorten, zielgruppendifferenzierte Kommunikationsformen, Medien und prominente Mittler, persönliche Einladung mit Freitickets, (Re-)Brandingprozesse im Sinne eines vielfältigen und offenen Hauses. • Veränderung der Rahmenbedingungen der Rezeption: neue Formate wie Outreach, Open Air und kommunikative Events, veränderte gastronomische Angebote, Veränderung des Ambiente, neue Vermittlungsformate, persönliche Begegnungen mit Künstlern und Kulturschaffenden. • Veränderung der Programme: vielfältigere Spielpläne, Cross-Over-Programme und v.a. partizipative Programmentwicklung in Zusammenarbeit mit Laien/neuen Zielgruppen. • Änderung der Mission von der Organisations- zur Besucherorientierung, Aufwertung der Kulturvermittlung, Veränderung interner Strukturen, neue Leadership-Konzepte, diverses Personal auch im Management. Die Aufführungen der mit neuen Zielgruppen realisierten, partizipativen Projekte erreichten mehrheitlich ein höher gebildetes, bereits an vielfältigen Kunstformen interessiertes, experimentierfreudiges, allerdings im Vergleich zum Stammpublikum der beteiligten Häuser deutlich jüngeres Publikum, darunter signifikant mehr Menschen mit Migrationshintergrund. Auch wurden durchschnittlich zu einem Drittel Erst-Besucher der Einrichtung erreicht sowie bis-

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herige Nicht-Besucher von Theatern, die im wesentlichen aus Angehörigen der teilnehmenden Laien bestanden. Zugleich ergab die Evaluation, dass die Projekte hinsichtlich der tatsächlichen Bindung der neuen Besucherinnen und Besuchern aus bislang nicht kunstaffinen Gruppen nur wenig erfolgreich waren. Die Befragung von Teilnehmenden und Erst-Publikum zeigte, dass bisherige Nicht-Besucher, v.a. wenn sie aus bildungsfernen Milieus stammten, nicht animiert werden konnten, zukünftig weitere Veranstaltungen der Häuser zu besuchen. Selbst die aktiv beteiligten Laien, die ihre Teilnahme in der Abschlussbefragung fast ausnahmslos als sehr positiv und bereichernd für ihr Leben bewerteten, brachten das eigene Projekt und die daraus entstandene Aufführung kaum mit den »normalen« Programmen der Einrichtung in Verbindung. Die hauptsächlichen Effekte der Projekte wurden in der Abschlussbefragung aller beteiligten Theater- und Museumsschaffenden dann auch nicht in der Gewinnung neuer Publikumsgruppen gesehen, sondern an erster Stelle in einer Erweiterung des eigenen Horizonts durch die Zusammenarbeit mit Menschen eines anderen kulturellen und sozialen Hintergrunds und einer Sensibilisierung für interkulturelle Sichtweisen. Ebenso wurde künstlerische Anregungen und die spezifische Qualität der auf diese Weise entstandenen künstlerischen Produktionen hervorgehoben. Die Zusammenarbeit mit Menschen anderer sozialer und kultureller Hintergründe hat laut Aussagen der Befragten in den Einrichtungen interkulturelle Lernprozesse ausgelöst, deren Nachhaltigkeit und strategische Verankerung in der Personal- und Programmpolitik jedoch noch keineswegs abgesichert war. Deutlich wurde im Rahmen des Modellprojekts, dass eine enge Verbindung mit der künstlerischen Arbeit von großer Bedeutung dafür ist, ob Audience Development nachhaltige Effekte auf eine Institution hat. Nur dann, wenn auch die künstlerisch Verantwortlichen, die in der Hierarchie der öffentlichen Institutionen in Deutschland deutlich über den für Vermittlung und Marketing Zuständigen angesiedelt sind, die Arbeit mit neuen Nutzern auch für künstlerisch wertvoll erachten und dies durch positive Beurteilung in der überregionalen Fachpresse bestätigt wird, kann mit einer positiven Entscheidung der Leitung gerechnet werden, die Institution für Interessen neuer Nutzergruppen stärker zu öffnen. Während die ursprüngliche Zielsetzung des Projekts »Interkulturelles Audience Development« darin bestand, über die partizipativen Projekte neue Besucher zu gewinnen und zu binden, wurde in der Evaluation deutlich, dass dieses nicht gelingen wird, wenn sich die Einrichtungen nicht zugleich auch in ihren Zielsetzungen, ihren internen Strukturen und ihrer Programmpolitik verändern. Die Studie bestätigte damit Ergebnisse von Audience-Development-Evaluationen in England, die die hohe Bedeutung einer veränderten Programmatik und Programmpolitik für das Erreichen neuen Publikums aus bislang nicht kunstaffinen Bevölkerungsgruppen betonen: »If you want to change your audience, you first have to change yourself.« (Arts Council England 2004, Morton Smith 2004)

Audience Development, kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung

Die zentrale Bedeutung der Programmpolitik dafür, neues und anderes Publikum zu interessieren, kollidiert in Deutschland mit der Maxime der Kunstfreiheitsgarantie, die eine Berücksichtigung von Publikumsinteressen in der künstlerischen Programmgestaltung von öffentlich geförderten Einrichtungen tendenziell tabuisiert. Derzeit werden Bemühungen um ein anderes Publikum in der Regel an die Abteilungen für Marketing und Vermittlung ausgelagert und berühren nicht das »Kerngeschäft« der künstlerischen Arbeit und die Leitungsebene. Im Kulturmarketing wird oftmals unterschieden zwischen einem an »Kunst orientierten« versus einem an »Zielgruppen orientierten« Ansatz: Findet man für ein nicht antastbares, künstlerisches Produkt das passende, weil bereits potenziell interessierte Publikum (vgl. Colbert 1999), oder geht man von einer Zielgruppe aus, die man neu erreichen möchte, und gestaltet für diese ein ihren Interessen entsprechendes »Produkt« bzw. Programm? Für das Kulturmarketing in öffentlich geförderten Kultureinrichtungen in Deutschland galt bislang das Credo, dass künstlerische Produktionen und Programm nicht strategisch an den Interessen potenziellen Zielpublikums auszurichten seien,  um die künstlerische Freiheit und Qualität nicht zu gefährden, die sogenannte »Produktpolitik« im Marketingmix also ein Tabu sei (vgl. Klein 2001: 308). Zukünftig ist also sehr differenziert zu untersuchen, wie diejenigen, öffentlich geförderten Kultureinrichtungen mit dem dezidierten Anspruch, ein kulturelles Angebote für die gesamte Bevölkerung einer Stadt zu bieten, Programme entwickeln können, die »alle angehen« (vgl. Dramaturgische Gesellschaft 2015) Angesichts des noch sehr jungen Entwicklungstandes von Audience Development in deutschen Kultureinrichtungen liegen bislang mit Ausnahme der referierten Studie »Interkulturelles Audience Development« (Mandel 2013) keine veröffentlichten Evaluationsergebnisse zu der Frage vor, inwieweit es durch Maßnahmen des Audience Development gelungen ist, das Publikum einer Kultureinrichtung zu verändern im Sinne einer größeren sozialen Heterogenität. Allerdings verweisen Studien aus England darauf, dass selbst mit umfassenderen Audience-Development-Maßnahmen, soziale und bildungsbedingte Unterschiede in kulturellen Interessen nur geringfügig verändert werden können (vgl. Torregiani in diesem Band mit Bezug auf die »Taking Part«-Studie). Trotz kulturpolitisch forcierter Strategien des Audience Development sei es auch dort nicht gelungen, die kulturellen Präferenzen der Bevölkerung so zu beeinflussen, dass ein sozialstrukturell breiteres Publikum die klassischen Kulturangebote wahrnimmt und dadurch die soziale Spaltung der Nutzung kultureller Angebote signifikant reduziert werden konnte. Für Anne Torregiani, Direktorin einer im Auftrag des Arts Council tätigen Audience Development Agentur, haben sich auch die hohen Erwartungen der Politik, Kunst als wirksames Mittel zur Bekämpfung sozialer Probleme einsetzen zu können, als unrealistisch herausgestellt. Auch die Evaluationen der »New Audience Development«-Programme in Großbritannien lassen einerseits erkennen, welche Konzepte am ehesten positive

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Wirkungen erzielen konnten: Kooperationen mit vielfältigen Partnern und die Einbindung in lokale Bildungslandschaften, eine auf Vielfalt setzende Personalpolitik und eine Veränderung der Programmstrategie, einhergehend mit einem Selbstverständnis »that puts audiences at the centre of their mission« (Torregiani in diesem Band). Sie machen andererseits auch Beschränkungen bisheriger Strategien des Audience Development deutlich wie die alleinige Konzentration auf den Abbau von Barrieren in Bezug auf Rahmenbindungen von Kulturnutzung statt die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen »Kernprodukt«: »Audience Development tends to concentrate on barrier removal. […] [But] barrier removal alone would not be effective, but different products must be packed or devised – possibly involving core product change in addition to product surround change – to appeal to the different segments.« (Kawashima 2000: 25) Hinzu kommt, so Torregiani, dass die britische Kulturpolitik in der Vergangenheit viele kurzfristige Maßnahmen des Audience Development verordnete, die keine langfristigen Wirkungen auf die soziale Durchmischung des Kulturpublikums entfalten konnten. Erst seit kurzem gebe es nachhaltig orientierte, kulturpolitisch gesteuerte Audience-Development-Strategien, die die wesentliche Dimension eines veränderten Leadership einhergehend mit Change-Management-Prozessen von Institutionen anwenden. Audience Development würde nun zunehmend in der Führungsebene und als zentrale Mission und damit als langfristiger Prozess der Veränderung von Institutionen verankert. Torregiani zieht zwei Schlussfolgerungen für die Zukunft des Audience Development: Zum einen müsse man Strategien, kulturelle Interessen von Menschen zu verändern bzw. zu erweitern, sehr langfristig anlegen und auch in der Bildungspolitik fest verankern. »In my view changing cultural habits takes a long time. I anticipate that it will take some years before the impact of strategic appliance of audience development starts to show up in the overall statistic.« (Torregiani in diesem Band) Zum anderen solle sich Audience Development auf der institutionellen Ebene auf die Gruppe der »somewhat engaged people«, der tendenziell bereits Interessierten konzentrieren, statt – aufgrund politischen Drucks – die am schwersten erreichbaren »non-engaged people«, die bislang keinerlei Interesse haben, in Kultureinrichtungen bringen zu wollen. Auch Renz kommt in seiner Studie über Nicht-Besucher klassischer öffentlicher Kultureinrichtungen zu dem Ergebnis, dass Nicht-Besucher weniger durch von den Institutionen ausgehende Barrieren abgehalten werden, die zu beseitigen seien, sondern dass ein Großteil der Nicht-Besucher deswegen nicht komme, weil er grundsätzlich über wenig Teilhabechancen (vgl. »capability approach« [Amartya Sen 1999] in Renz 2016) wie v.a. Bildung, Einkommen und sozialen Status verfügt. Darüber hinaus gäbe es bei vielen Menschen grundsätzlich kein Interesse an bestimmten, hochkulturellen Veranstaltungen (vgl. Renz in diesem Band). In seiner Befragung von solchen Nicht-Besuchern von Stadt- und Staatstheatern, die prinzipiell über Beteiligungschancen wie ein hohes Bildungsniveau,

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hohes Einkommen und zeitliche Ressourcen verfügen, wurde als wesentlicher Grund für den Nicht-Besuch genannt, dass die Rezeption der Inszenierungen öffentlicher Theater als tendenziell anstrengend empfunden würde und man in seiner Freizeit unterhaltungsorientierte Programme bevorzuge. Dies entspricht dem Ergebnis der oben vorgestellten Studie zum »Interkulturellen Audience Development«, dass die Programme der entscheidende Faktor dafür sind, ob man ein anderes Publikum gewinnen kann. Und zugleich berührt dies die grundsätzliche Frage, ob öffentlich geförderte Kunst in ihrem Anspruch an die Behandlung von Stoffen (Bedeutungsoffenheit, Mehrfachcodierung, kritische Behandlung ernsthafter Themen) Rücksicht nehmen sollte auf (ebenfalls legitime) Unterhaltungsbedürfnisse eines Freizeit-Publikums. Die für die deutsche Kulturlandschaft spezifische Unterscheidung in die ernsthafte, manchmal schwer zugängliche und darum öffentlich geförderte Kultur auf der einen Seite und populäre Unterhaltungskultur, die sich auf dem freien Markt behaupten muss, auf der anderen Seite, erweist sich als eine Denktradition, die die soziale Spaltung verstärkt. Zugleich wird damit auch die Frage nach der Reichweite von Audience Development berührt: Wenn durch die Forschungsergebnisse deutlich wird, dass die Veränderungen der Rahmenbedingungen von Kulturanbietern wie Kommunikation, Distribution und Präsentation zwar notwendige, aber nicht hinreichende Maßnahmen sind, um die sozial selektive Nachfrage hochkultureller Programme zu verändern, inwieweit kann und darf man im Rahmen eines kulturpolitisch motivierten Audience Development auch Einfluss nehmen auf künstlerische Programme und künstlerisches Personal einer Einrichtung? Und mehr noch: Inwieweit kann ein politisch motiviertes Audience Development auch als Bestandteil von Kulturentwicklungsplanungen von Kommunen und Bundesländern weitergedacht werden?

4. A nsät ze zur F örderung der kulturellen Teilhabe im ak tuellen kulturpolitischen D iskurs in D eutschl and Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Ein Großteil öffentlich geförderter Kulturangebote wird nur von einer kleinen Gruppe der Gesellschaft wahrgenommen, die vor allem durch höhere Bildung und einen gehobenen sozialen Status gekennzeichnet ist. Evaluationen bisheriger institutioneller Audience-Development-Programme zeigen, dass diese nur in sehr begrenztem Maße die soziale Spaltung der Kulturnachfrager verringern können, weil weniger institutionelle Barrieren als vielmehr mangelndes Interesse an bestimmten, hochkulturellen Angeboten sowie grundsätzlich mangelnde Selbstverwirklichungschancen, v.a. Bildung, für den Nicht-Besuch verantwortlich sind. Warum ist die sozial selektive Nutzung kultureller Angebote aus kulturpolitischer Sicht überhaupt als ein Problem zu betrachten, das es zu lösen gilt?

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Ein zentrales Argument besteht darin, dass es einen gesellschaftlichen Konsens geben muss, bestimmte kulturelle Güter zu schützen und zu fördern, der langfristig nur dann gewährleistet ist, wenn es in der Bevölkerung insgesamt eine breite Wertschätzung dafür gibt. Wenn eine Bevölkerungsmehrheit diese Kulturgüter zwar mitfinanziert, aber nicht nutzt und damit ihren Wert selbst nicht erfährt, könnte dieser bislang für Deutschland noch bestehende »Rechtfertigungskonsens« (Schulze 2000) langfristig gefährdet sein. Ein weiteres Argument ist die Verpflichtung, einen chancengerechten Zugang für alle gesellschaftlichen Gruppen zu öffentlich bereitgestellten Gütern zu ermöglichen, besonders wenn diese Güter wie im Fall Kultur dazu beitragen sollen, individuelle, kulturelle Bildungsprozesse zu ermöglichen. Argumentiert wird auch, dass öffentlich bereitgestellte Kulturangebote Begegnungen zwischen Menschen verschiedener sozialer und auch ethnischer Herkunft ermöglichen sollen als Chance gesellschaftlicher Integration und kultureller Identitätsstiftung durch gemeinsames Erleben von Kunst und Kultur an einem öffentlichen Ort. Obwohl Kunst und Kultur einerseits Mittel sozialer Distinktion und Abgrenzung sind, wird ihnen andererseits das Potenzial zugesprochen, Gemeinschaft zu stiften über soziale Grenzen hinweg. Mehr noch wird häufig an Kunst der Anspruch gestellt, beispielhaft für andere Lebensbereiche aufzuzeigen, wie man produktiv mit Interessensunterschieden umgehen und dabei neue Perspektiven für das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt entwickeln kann. Aktuell ist ein erheblicher Teil der Bevölkerung von den Bildungs- und Integrationswirkungen ausgeschlossen, die von der Beschäftigung mit öffentlich bereitgestellten Kulturangeboten ausgehen können. Die vielfach konstatierte soziale Spaltung der Gesellschaft dürfte damit auch durch die kulturelle Spaltung weiter verfestigt werden. In der aktuellen Praxis und im kulturpolitischen Diskurs in Deutschland lassen sich drei zentrale Ansätze ausmachen, von denen erwartet wird, dass sie zur Reduzierung der sozial selektiven Effekte des öffentlich geförderten Kulturangebotes beitragen könnten: 1. Veränderung der Kulturinstitutionen (Audience Development in Verbindung mit Change Management), 2. Veränderung der Nachfrager (kulturelle Bildung), 3. Veränderung der geförderten Kulturlandschaft (partizipative Kulturentwicklungsplanung und konzeptbasierte Kulturpolitik).

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Veränderung der öffentlich geförderten Kulturinstitutionen durch Audience Development und Change Management Vor allem vor dem Hintergrund des stark zunehmenden Anteils an Migranten und Geflüchteten, wird der klassische Marketingansatz öffentlich geförderterer Kulturinstitutionen, für ein sakrosanktes, künstlerisches Produkt ein bereits interessiertes Kernpublikum zu adressieren, hinterfragt. Audience-Development-Maßnahmen, die auf der Ebene veränderter Kommunikations-, Preis-, Distributions- und Servicepolitik, veränderter Präsentationsformate sowie intensivierter Kulturvermittlung ansetzen, können, so wurde deutlich, zwar temporär ein neues, anderes Publikum anziehen. Diese Maßnahmen bewirken jedoch gemäß erster empirischer Erkenntnisse kaum eine nachhaltige Erweiterung des klassischen Kulturpublikums, wenn sie nicht zugleich auch mit Veränderungen in den Institutionen einhergehen. Ein verändertes »Leadership«, eine veränderte Personalpolitik, der aktive Einbezug von Laien in die Entwicklung neuer Programme und insgesamt eine radikale Neuausrichtung der Mission und Ziele in Richtung Diversität wären gemäß bisheriger Evaluationsergebnisse Voraussetzung, um neues, diverses Publikum nachhaltig zu binden. Ein Beispiel für eine solche Neuausrichtung eines öffentlichen Theaters in Deutschland ist das Maxim Gorki Theater in Berlin, das unter der Direktion von Shermin Langhoff und Jens Hillje als sogenanntes postmigrantisches Theater neu aufgestellt wurde mit Management und künstlerischem Personal aus unterschiedlichen Herkunftsländern und einer neuen Programmatik. Inwieweit dies Auswirkungen auf die soziale Zusammensetzung des Publikums hat, wäre empirisch zu verifizieren. Ein anderes Beispiel, das zu heftigen Protesten unter traditionellen Theatermachern in Deutschland geführt hat, ist die geplante Neuausrichtung der Volksbühne Berlin durch den designierten neuen Direktor Chris Dercon (aktuell Leiter der Tate Modern), der einen stärker interdisziplinären Zuschnitt unter Einbezug populärer Events und Outreach an populären Orten plant. Gegner befürchten eine Auflösung der deutschen Theatertradition und des klassischen Theaterkanons. Auch die Veränderung der Programmpolitik in Richtung einer deutlich populäreren Ausrichtung, wie sie Barrie Kosky an der Komischen Oper in Berlin mit großem Publikumserfolg vorgenommen hat, dürfte Signalwirkungen auf öffentliche Kulturinstitutionen in Deutschland insgesamt haben. Vom Einfluss von Führungspersonal aus anderen Ländern, das mit einem anderen Verständnis von Kultur und vermutlich geringerer Angst vor zu viel Popularität antritt, scheinen Impulse für eine Veränderung klassischer Kulturinstitutionen auszugehen, die auch Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Publikums in Richtung einer größeren sozialen Diversität haben können. Demgegenüber stehen die Beharrungskräfte der traditionellen Institutionen und ihres bisherigen Personals. Die öffentlich geförderten Institutionen tendieren dazu, eine »Beharrungskraft zu entwickeln, die Innovationen verhindert, weil es

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sich zum Teil als vorteilhafter erweist, resistent gegenüber Veränderung zu sein, wenn man eine bestimmte Form gesellschaftlicher Wertigkeit einschließlich enger Beziehungen zur ›Macht‹ etabliert habe«, so das Fazit einer Analyse über Veränderungsbereitschaft öffentlicher Kultureinrichtungen (Koch 2014:  347). Und zugleich stellt der Autor fest, dass Publikumsorientierung sich als stärkster Motor erweist für Innovationen in den Institutionen: »Der Vorrang des Publikums ist ein Moment eines umfassenden Prozess der Pluralisierung und Demokratisierung, der die Grundlagen der Werturteile verändert, Herrschaftsverhältnisse verschiebt, Konsumenten zu eigenen Wert- und Wahlentscheidungen ermächtigt, und der eine Erweiterung, Hybridisierung und Ausdifferenzierung der Umgangsformen mit Kunst und kulturellen Produkten mit sich bringt.« (Ebd.) Die gezielte Einladung an ein erweitertes Publikum, mit den künstlerischen Werken »eigensinnig« umzugehen, und die dabei entwickelten, neuen Formate der Präsentation und Rezeption würden langfristig auch zu künstlerischer und institutioneller Innovation führen. »Building Communities, not Audiences«, so beschreibt der US-amerikanische Autor Doug Borwick eine neue, erweiterte Ziel-Perspektive für Kulturinstitutionen. Diese sollten über ihre Bedeutung als Produzent und Bewahrer von Kunst und Kultur hinaus als »guter Nachbar« Verantwortung für das gemeinsame soziale und kulturelle Leben in einer Nachbarschaft/Region/Kommune übernehmen (vgl. Borwick 2012: 38), sollten also ihre Kompetenzen und die ihrer Mitarbeiter auch dafür einsetzen, bedeutungsvolle Beziehungen mit der Nachbarschaft, in der sie leben, aufzubauen. Dies bedinge eine Veränderung der Mission von Kultureinrichtungen, indem sie »Community Engagement« nicht als zusätzliche Aufgabe, sondern als Kern ihrer Arbeit begreifen: »Community engagement should be a new lens through which all of an organization´s activities are viewed, not as something extra.« (Borwick 2012: 94) Das beinhalte auch eine Hinterfragung des Programms der Einrichtung in Hinblick auf die Anschlussfähigkeit zu aktuellen Themen einer Community sowie eine kritische Evaluation, was von den bisherigen Programmen gestrichen werden könnte, um Raum und Ressourcen für den Auf bau von Kollaborationsbeziehungen zu unterschiedlichen Gruppen zu haben. »There is a possibility that a modest cut-back in programming could be undertaken, redirecting resources toward activities designed to open the organization more fully to the community.« (Ebd.: 96) Dabei betont Borwick, dass eine Hinwendung zu den sozialen Anliegen einer Kommune nicht zum künstlerischen Qualitätsverlust führe, sondern im Gegenteil auch die Kunst bereichern könne: »Inclusive processes can yield exceptional artistic result […] by expanding the palette of artistic options available to artists, stimulating work in new genre, and facilitating their growth as artists by bringing them in contact with a broader range of people and cultures.« (Borwick 2012: 98f.) Ähnlich beschreibt auch die US-amerikanische Kulturvermittlerin Liz Crane, die viele Kultureinrichtungen bei Community Projekten beraten hat, das dadurch veränderte Leitbild einer Kultureinrichtung als »being a good neighbor«: »That

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means taking an active and interested role in the changes, surrounding the institution and sharing resources for mutual benefit.« (Crane 2012: 90) Crane zeigt auf, dass Kulturinstitutionen nicht nur Einrichtungen sind, die Kunst präsentieren, sondern über physisches Kapital (Raum, Architektur, Infrastruktur), soziales Kapital (Mitarbeiter mit Ideen und Kontakten), politisches Kapital (Beziehungen zu Kulturpolitik und Kulturverwaltung) und kreatives Kapitel (kulturelle und künstlerische Sensibilität) verfügen, das sie einbringen können in aktuelle Anliegen einer Community, in der sie situiert sind. Vor allem das Potenzial, kulturelle, nicht kommerziell definierte Freiräume und Begegnungsorte für unterschiedliche soziale Milieus zu eröffnen, erwies sich als Stärke der Kultureinrichtungen. Being a good neighbor is not viewing the community as an ›other‹, but as a fellowship of players with similar and overlapping interests, and, based on that view, choosing to apply the organization’s assets in ways that lead to more vibrant communities, support mutual interests, and yield healthier arts organizations. (Crane 2012: 90f.)

Dass auch die Kulturinstitutionen in erheblichem Maße davon profitieren, nicht nur in Bezug auf ihre gesellschaftliche Akzeptanz, sondern auch in künstlerischer wie in ökonomischer Hinsicht, betonen beide Autoren nach Evaluation diverser Kultureinrichtungen, die ihre Mission in Richtung Community Building verändert haben. Ein solches erweitertes Verständnis von den Aufgaben einer Kunstinstitution wird in Deutschland derzeit sowohl im Zuge der Neu-Konzeptionierung kommunaler und regionaler Kulturentwicklungsplanungen diskutiert (vgl. Föhl/Wolfram in diesem Band) wie auch im Kontext der Frage von kultureller Integration Zugewanderter aus anderen Kulturkreisen.

Kulturelle Bildung für potenzielle Kulturnachfrager Eine zentrale Strategie, um mehr Menschen auch mit nicht bildungsbürgerlichen Hintergründen zu Nutzern des öffentlich bereitgestellten Kulturangebots zu machen, besteht in der Forcierung kultureller Bildung, v.a. über Kooperationen des Kultursektors mit dem Bildungssektor, die es ermöglichen, alle jungen Menschen unabhängig von ihrem familiären Hintergrund zu erreichen. Mangelndes kulturelles Kapital im Bourdieuschen Sinne könne demnach durch externe Bildungsmöglichkeiten ausgeglichen werden. Neben der Implementierung von Kooperationen zwischen öffentlichen Kultureinrichtungen und Schulen sowie Kindergärten und Jugendkultureinrichtungen (u.a. gefördert durch bundesweite Programme wie »Kultur macht stark«, »Kulturagenten für kreative Schulen«, »Kinder zum Olymp«) besteht eine kulturund bildungspolitische Strategie auch in der Qualitätssteigerung und Professionalisierung von Kulturvermittlung durch Implementierung von Studiengängen. Allein in den vergangenen 25 Jahren ist die Zahl der Studiengänge, die im weites-

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ten Sinne für die außerschulische Kulturvermittlung qualifizieren, in Deutschland auf 365 angewachsen (vgl. Kulturpolitische Gesellschaft/Blumenreich 2012). Im Bericht der Enquete-Kommission für Kultur in Deutschland (Deutscher Bundestag 2008) wird der kulturellen Bildung eine zentrale, kulturpolitische Bedeutung beigemessen als Voraussetzung, das parteiübergreifende Ziel einer »Kultur für alle« zu realisieren. Und auch in den Programmen der Bundesländer gilt kulturelle Bildung als zentrales, kulturpolitisches Ziel, auch wenn sich das in den öffentlichen Kultureinrichtungen noch nicht widerspiegelt, wo noch 2010 nur 4 % des Budgets für Personal und Maßnahmen kultureller Bildung verwendet wurden (vgl. Zentrum für Kulturforschung 2010). Zugrunde liegt die Überzeugung, dass Menschen, wenn man sie frühzeitig mit Kunst und Kultur in Berührung bringt, auch im späteren Leben ein nachhaltiges Interesse für diese kulturellen Angebote haben. Tatsächlich zeigen Ergebnisse des Jugendkulturbarometers für Deutschland, dass eigene künstlerische Aktivitäten signifikant das Interesse auch an der Rezeption professioneller Kunst erhöhen. Nicht bewahrheitet hat sich die Vermutung, dass durch Besuche professioneller Kulturveranstaltungen im Rahmen des Schulunterrichts nachhaltig Interesse daran entwickelt wird: Tendenziell erzeugten schulische Besuche eher den gegenteiligen Effekt einer langfristigen Ablehnung hochkultureller Angebote. Ob Interesse an bestimmten, kulturellen Veranstaltungen geweckt wird, hänge vielmehr von der Qualität und einer Vielfalt formaler, non-formaler und informeller Vermittler und Vermittlungsformen ab. Bislang sei das Elternhaus der zentrale Mittler (vgl. Zentrum für Kulturforschung, 2. Jugendkulturbarometer 2012). Zunehmend wird in Deutschland auch über die Qualität ebenso wie die Ziele kultureller Bildung diskutiert. Diese werden keineswegs nur in der Enkulturation in das bestehende klassische Kulturangebot gesehen, sondern im aktuellen Diskurs v.a. im Empowerment der Subjekte durch kulturelle Bildung, die es dem Einzelnen ermöglichen soll, eigene kulturelle Interessen zu entwickeln und auszudifferenzieren, eigene kulturelle Werturteile zu bilden und sich damit auch aktiv in das gemeinschaftliche und öffentlich geförderte Kulturleben einbringen zu können (vgl. u.a. Grundsatzpapiere Bundesvereinigung kulturelle Jugendbildung 2009 und folgende Jahre). Einerseits soll die Initiierung kultureller Bildungsprozesse also die Chance eröffnen, an den klassischen Kulturangeboten mit Gewinn zu partizipieren, andererseits aber auch dazu verhelfen, eigene kulturelle Interessen herauszubilden und einzubringen unabhängig von bestehenden Normen und Werturteilen.

Veränderung der öffentlich geförderten Kulturlandschaft Obwohl der Anteil der Nutzer klassischer Kultureinrichtungen stagniert bzw. in manchen Bereichen sogar rückläufig ist, bedeutet das nicht, dass nur eine kleine Gruppe von Menschen kulturell aktiv ist. Ein Großteil der Bevölkerung in Deutschland nimmt kulturelle Angebote jenseits der öffentlich geförderten

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wahr, seien es solche der privaten Anbieter wie Kino, Popkonzerte, Clubs oder aber »breitenkulturelle« Angebote wie Chöre oder Tanzgruppen. Insbesondere in ländlichen Regionen sind andere Praktiken kulturellen bürgerschaftlichen Engagements weit bedeutsamer als der Besuch traditioneller Kulturinstitutionen, die dort kaum vorhanden sind. So gibt es etwa allein im Flächenland Niedersachsen 1.000 Amateurtheatergruppen (vgl. Renz/Götzky 2014). Es ist also davon auszugehen, dass viele Menschen in kulturelle Aktivitäten involviert sind, die nicht zur öffentlich bereitgestellten, kulturellen Infrastruktur gehören, und diese somit nicht in einer offiziellen Statistik als Kulturnutzer erfasst werden. Vor allem Breiten- und Populärkultur, aber je nach Erscheinungsform auch die Soziokultur, sind Phänomene einer in die Lebenswelt eingebetteten Kultur. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie alltäglicher Teil des Lebens sind und meist im geografischen und sozialen Nahraum von Menschen verortet sind, also Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft. (Götzky 2016: 457)

Breitenkulturelle Aktivitäten basierten häufig auf ehrenamtlichem Engagement und aktiver Teilhabe. Mit der zivilgesellschaftlichen Tätigkeit werden informelle Räume der öffentlichen Kommunikation geschaffen. Diese sind notwendig, um Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung aus ihrer Alltagswelt in den öffentlichen Raum, d.h. ihren sozialen und geografischen Nahraum zu vermitteln und damit dem Individuum Einfluss und Gestaltungsmöglichkeiten in seiner Lebenswelt zu sichern. (Ebd.: 466)

Breitenkultur sei bislang von der Kulturpolitik nur wenig beachtet, so die Einschätzung Götzkys, vielmehr lege diese den Fokus darauf, Menschen als Publikum klassischer Kultureinrichtungen zu gewinnen, um diese zu legitimieren (vgl. ebd.: 459). Zentral für den Diskurs um Publikum und Teilhabe müsse aber die Anerkennung von grundsätzlich heterogenen Interessen sein. Kleberg und Skok konstatieren schon 1993, dass kulturpolitische Maßnahmen mit dem Ziel, ein sozial ausgewogenes Publikum für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen zu gewinnen, gescheitert seien und schlugen stattdessen vor, die Definition von kultureller Partizipation zu erweitern durch Aktivitäten wie Zirkus, Sport, Gastronomie und Mode, die in einer breiten Bevölkerung sehr populär seien, statt sich an einer kulturpolitischen Norm bestimmter, als hochwertig geltender Formen zu orientieren (vgl. Kleberg/Slok 1993: 182). Einerseits ließe sich das Problem mangelnder kultureller Teilhabe also dadurch lösen, dass man den offiziellen Kulturbegriff erweitert im Sinne der Cultural Studies und damit das Spektrum dessen, was als »legitime« Kultur Akzeptanz findet, weit über die öffentlich geförderten Angebote hinaus. Andererseits könnte damit jedoch auch der Anspruch erhoben werden auf eine Neuverteilung öffentlicher Kulturfördermittel.

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Die heftigste Debatte über öffentliche Kulturförderung in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten wurde durch die These vom »Kulturinfarkt« ausgelöst (Haselbach et al. 2012): In Deutschland gäbe es ein Überangebot an öffentlich geförderten Kulturinstitutionen, die weder besondere künstlerische Innovationen hervorbrächten, noch ausreichende Nachfrage und Rückhalt in der Bevölkerung fänden. Produziert würde »von allem zu viel und überall das Gleiche«. Gefordert wurde von den Autoren des »Kulturinfarkts« zum einen, dass man 50 % der Kulturinstitutionen schließen und die frei werdenden Mittel für die Förderung neuer Kulturformen verwenden solle, zum anderen plädierten die Autoren dafür, bei der Entwicklung des kulturellen Angebotes stärker auf marktwirtschaftliche Prinzipien zu setzen, weil diese die realen Interessen der Nutzer berücksichtigen würden. Die deutschlandweit große Empörung über diese Vorschläge sowohl auf Seiten der Kulturschaffenden wie der Kulturpolitiker, forciert durch das in der Regel eher wertkonservativ argumentierende überregionale Feuilleton, zeigte, dass in Deutschland derzeit eine Veränderung der traditionellen, institutionellen Kulturlandschaft mit Schließung von Einrichtungen und Neuverteilung der Mittel kaum durchsetzbar ist. Gründe dafür sind nicht nur der Wunsch nach Besitzstandswahrung seitens der Vertreter der Institutionen, sondern auch die berechtigte Befürchtung auf Seiten der Kulturpolitik, dass gewachsene Strukturen mit hohem symbolischen Gehalt wegbrechen und mehr noch die dafür verwendeten Mittel komplett gestrichen werden könnten. Mehr Marktwirtschaft und Ausweitung des privaten Sektors könnten zwar dafür sorgen, dass das Kulturleben den Bedürfnissen und Interessen der Bevölkerung stärker entspricht und die kulturelle Definitionsmacht bestimmter Bevölkerungsgruppen mit hohem sozialen Status zurückgedrängt wird. Andererseits könnten damit eine Reduktion kultureller Vielfalt und eine Tendenz zur Mainstreamisierung einhergehen. Denn Kunst ist nur bedingt markttauglich aufgrund der hohen, nicht zu standardisierenden Herstellungskosten, und neue Kunstformen brauchen oftmals Zeit bis sie eine Marktnachfrage erzeugen. Ein Auf begehren gegen das bisherige Kulturfördersystem geht aktuell auch von Vertretern der freien Kulturszene aus (v.a. in Berlin, Koalition der freien Szene) sowie vom Kritischen Bündnis junger Kulturaktivisten mit migrantischem Hintergrund, die offensiv Anspruch erheben auf ihren Anteil an öffentlichen Fördermittel für eigene kulturelle Produktionen. Ihr Ziel ist es, »sich einen Platz im Kulturbetrieb zu erstreiten, eigene Formen von Selbstpräsentation zu entwickeln und stereotypisierende kulturelle Darstellungsmuster und Rassismus zurückzuweisen« (www.mindthegap.wordpress.com). Kulturpolitische Experten in Deutschland plädieren in dieser Situation zunehmend diversifizierter kultureller Interessen für eine konzeptbasierte Kulturpolitik (vgl. Kulturpolitische Gesellschaft 2014), die auf der Basis von Kulturentwicklungsplanungen gemeinsam mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen transparente Ziele aushandelt und strategisch umsetzt. Damit könnte den kulturellen Wünschen und Bedürfnissen der Bürger/-innen einer Kommune oder

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Region in ihrer Vielfalt sehr viel mehr entsprochen werden unter Abwägung verschiedener Interessen. Im Rahmen solcher partizipativer Kulturentwicklungsplanungen würde ein normatives Kulturverständnis in Frage gestellt ebenso wie die ausschließlichen Werturteile einer exklusiven Gruppe kultureller Entscheider (vgl. Föhl/Wolfram in diesem Band). Vielmehr ginge es darum, die Interessen der gesamten Bevölkerung in den Planungsprozessen möglichst repräsentativ einzubringen und partizipativ getroffene Entscheidungen umzusetzen, auch wenn diese dem Expertenurteil entgegen stehen. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass es sehr schwierig ist, Menschen aus nicht kunstaffinen, weniger gebildeten Milieus zu motivieren, sich an Entscheidungen über öffentliche Kulturförderung zu beteiligen, da bei vielen die Überzeugung vorherrscht, sie seien nicht kompetent, sich dazu zu äußern (vgl. Bevölkerungsbefragung anlässlich der Europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010, Mandel/Timmerberg 2009). Auch gibt es die Erfahrung, dass wiederum die hochgebildeten Milieus die Diskussionen in solchen Kulturentwicklungsplanungen dominieren (vgl. Jancovich 2014: 6). Bei der Frage, wie Nicht-Experten stärker involviert werden können, spielt auch die Größe der Orte und die Anzahl der zu beteiligenden Personen eine wichtige Rolle. Es ist ein arbeitsintensiver Prozess, Mikrostrukturen über kulturell aktive Gemeinschaften ausfindig zu machen und herauszufinden, wer die zentralen Ansprechpartner einer Teilöffentlichkeit sind und wie sie zu beteiligen wären. Bei zunehmender Größe der zu betrachtenden Gemeinschaft scheint es immer schwieriger, dies zu realisieren. Die Befürchtung, dass Entscheidungen einer breiten Bevölkerung immer nur zur Bestätigung des Mainstreams führen, wird von Jancovic widerlegt mit Verweis auf eine Studie von Fenell et al. (2009) sowie mit Verweis auf das Projekt »Contact« in Manchester, wo die Bevölkerung über das Theaterprogramm entscheiden konnte (Contact 2011): »The public were more open to risk taking than expected.« (Jancovic 2014: 11) Als kulturpolitische Strategie für eine größere soziale Gerechtigkeit im öffentlich geförderten kulturellen Leben schlägt auch Anne Torregiani statt Audience Development lokale Kulturentwicklungsstrategien vor, wie sie u.a. in dem vom Arts Council initiierten Programm »Creative People and Places« realisiert würden: »That really does shift the power. 30 Million pounds have been given to place-based partnerships in towns with low engagement to create cultural programmes and infrastructure in a more open and democratic way.« (Torregiani in diesem Band). In den USA wurde dafür der Begriff des »creative placemaking« entwickelt. Ziel ist es, soziale Nahräume wie die Nachbarschaft, das Stadtviertel oder eine Region auf Grundlage der Bedürfnisse sowohl von Bürgerinnen und Bürgern, zivilgesellschaftlichen Akteuren und der regionalen Wirtschaft weiterzuentwickeln. In Deutschland gibt es hierzu erste Ansätze im Ruhrgebiet in

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der öffentlich geförderten Kulturwirtschaftsinitiative »Kreativ-Quartiere« (www. kreativ-quartiere.de). Kulturpolitische Strategien für eine stärkere soziale Vielfalt des kulturellen Lebens setzen also im Sinne eines Cultural Governments auch auf den Einbezug vielfältiger Akteure in Planungsprozesse, um Perspektiven zu erweitern und zur sozialen Durchmischung beizutragen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass nicht allein staatliche Akteure für kulturpolitisches Handeln im Sinne größerer Diversität und vielfältiger Beteiligung am gemeinschaftlichen kulturellen Leben verantwortlich sind, sondern ebenso zivilgesellschaftliche Akteure, Vereine, Stiftungen und auch kulturwirtschaftliche Akteure.

Fazit und Perspektiven Wenn es das Ziel von Kulturpolitik ist, für öffentlich geförderte Kulturangebote eine Nutzerschaft zu entwickeln, die die Gesellschaft in ihrer Vielschichtigkeit repräsentiert, müsste dies, so zeigen die vorne erörterten Ergebnisse, mit einer Erhöhung sozialer Beteiligungschancen durch Bildung und vielfältige kulturelle Selbstbildungsangeboten ebenso wie mit einer substanziellen Veränderung der öffentlichen Institutionen und mehr noch mit Veränderungen der geförderten Kulturlandschaft insgesamt einhergehen. Audience Development im engeren Sinne kann Kulturinstitutionen zwar attraktiver und relevanter für ein breiteres Publikum machen, jedoch nur geringfügig zur Verringerung sozialer Selektivität der Partizipation am öffentlich geförderten Kulturangebot beitragen. Hierfür müssen die Institutionen sich auch in ihrer Gesamtausrichtung neu aufstellen, wofür in einigen Einrichtungen bereits Ansätze erkennbar sind. Eine Neuausrichtung des kulturellen Angebots und der Kulturlandschaft insgesamt dürfte aufgrund des Beharrungsvermögens und des hohen Institutionalisierungsgrades der bestehenden Kulturanbieter nur sehr langfristig zu realisieren sein. Ein Schlüssel, längerfristig eine stärkere Beteiligung der breiten Bevölkerung am öffentlichen Kulturleben zu erreichen, dürfte in der Förderung der Bildung im Allgemeinen und der kulturellen Bildung im Besonderen liegen. Dabei hängt es von der Qualität der Kulturvermittlungsangebote ab, ob dadurch bestehende kulturelle Werturteile reproduziert werden oder die Fähigkeit gefördert wird, eigenständige Interessen zu entwickeln und aktiv in das öffentliche Kulturleben einzubringen. Letzteres könnte zu einer Erweiterung der »legitimen« Kulturformen führen und im besten Falle nicht nur zu einem diversen Kulturleben, sondern auch zu neuen interkulturellen Verbindungen und Angeboten, die dazu beitragen, soziale Grenzen mindestens temporär zu überwinden.

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Eine Weitung des Kulturverständnisses mit einer höheren Wertschätzung breiten- und alltagskultureller Aktivitäten und einer stärkeren Vernetzung verschiedener kultureller Sphären, Kulturformen verschiedener Herkunftsländer und Milieus würde neue Chancen für ein von vielen getragenes Kulturleben ermöglichen.

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Audience Development, kulturelle Bildung, Kulturentwicklungsplanung

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Birgit Mandel

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Elfenbeinturm oder menschliches Grundrecht? Kulturnutzung als soziale Distinktion versus Recht auf kulturelle Teilhabe*

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Max Fuchs

Ich beginne mit zwei Zitaten. Das erste Zitat ist kurz und stammt von Max Frisch anlässlich einer Generalversammlung des Deutschen Bühnenvereins vor etlichen Jahren. Er sagte sinngemäß: »Stellen Sie sich vor, die Theater schließen und keiner merkt es.« Das zweite Zitat ist etwas länger und stammt von der Marketing-Direktorin des US-amerikanischen Cincinnati Symphony Orchestra Sonja Ostendorf-Rupp: Die neueste Umfrage des National Endowment for the Arts zur Teilnahme der Bevölkerung an kulturellen Ereignissen […] bestätigte, dass die Teilnahme an der so genannten Hochkultur weiter sinkt. Dies gilt für die Sparten Ballett, Theater, Oper, Symphonie und Museum. Besorgniserregend ist insbesondere der Besucherschwund bei der jungen, weißen und gut ausgebildeten Bevölkerung, die traditionell den Nachwuchs für das Kernpublikum der oben genannten Sparten bildete […]. Die Erwartungen an die Präsentation und Vermittlung von Kunst und Kultur haben sich maßgeblich verändert. In der Diskussion, wie der seit Jahrzehnten anhaltende negative Besuchertrend umzukehren sei, fallen immer wieder drei Stichwörter: Relevanz, meaning and value (Sinn und Wert) und Engagement (im Sinne von Einbindung). Die meisten amerikanischen Institutionen sind ohne nennenswerte direkte staatliche Finanzierung abhängig von Eintrittsgeldern sowie Einnahmen aus Geschäftsbetrieb und Spenden. Das sinkende Verständnis der Bevölkerung für die traditionelle Arbeit von Kulturinstitutionen (abzulesen in den sinkenden Besucherzahlen als auch einem Spendenniveau, das immer noch unter dem von 2008 liegt) zwingt die Institutionen, neue Wege der Kommunikation, Kooperation und Programmgestaltung zu gehen. Immer häufiger verlassen die Institutionen ihre Stammhäuser, um Men-

*|Der Artikel ist eine redigierte Fassung eines Vortrags für die Tagung »Mind the Gap« am Deutschen Theater, Januar 2014.

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Max Fuchs schen außerhalb der mit Tradition und Riten besetzten Räumlichkeiten neu zu begegnen. (Ostendorf-Rupp 2013)

Ich werde mich nun mit meinem Thema in zwei Teilen befassen. In einem ersten Teil werde ich fragen, warum die in den Zitaten vorgestellten Befunde so schlimm sind. Denn Angebote kommen und gehen. Man kann sogar sagen, dass die Geschichte der Künste, vor allem die Geschichte des Theaters, auch eine Geschichte des Scheiterns ist. Man erinnere sich etwa an das Scheitern von Lessing in Hamburg, der versucht hat, ohne Subventionen ein ästhetisch anspruchsvolles Theater durchzusetzen. Man erinnere sich daran, dass berühmte Maler wie van Gogh kaum etwas von ihren Werken haben verkaufen können. Goethe als Schauspielleiter in Weimar hatte alle möglichen seichten Stücke auf dem Spielplan. Nur zwei Namen tauchen dort kaum auf, nämlich die Namen Goethe und Schiller. Bei den Schriftstellern weiß man, dass über 90  % von ihnen einen Brotberuf brauchen, weil sie nicht von ihrem eigenen Schreiben leben können. Wozu also aufregen, wenn Kultureinrichtungen schließen müssen, weil sich die Menschen nicht mehr dafür interessieren? In einem zweiten Teil geht es dann um die Frage, was man tun kann, um diese (Horror-)Vision einer Zerstörung von kultureller Infrastruktur zu verhindern.

Anthropologische, politische und gesellschaftliche Begründungen kultureller Teilhabe Warum ist es schlimm, wenn Kultureinrichtungen verschwinden und die Menschen sich immer weniger mit Künsten befassen? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten. Eine erste besteht darin, eine anthropologische Notwendigkeit der Künste für das Menschsein zu belegen (vgl. Fuchs 2008, 2011). Wenn man zurückgeht zu den Wurzeln der Entstehung des Menschen, kann man zeigen, dass eine künstlerisch-ästhetische Praxis von Anfang an zu finden ist. Man erinnere sich an die frühzeitlichen Musikinstrumente, die vor einigen Jahren gefunden wurden und bei denen Musikwissenschaftler herausgefunden haben, wie sie zu spielen sind. Bekannt sind auch die vielfältigen Höhlenmalereien aus der frühen Steinzeit, die mit beachtlicher ästhetischer Qualität Szenen aus dem Alltag der damaligen Menschen darstellen. All diese Funde weisen darauf hin, dass menschliches Leben ohne Kunst unvollständig ist. Über die Notwendigkeit einer ästhetischen Praxis bei der Menschwerdung gibt es viele interessante Theorien. Ich will an dieser Stelle nur darauf hinweisen, dass sich etwa Wolfgang Welsch, einer der wichtigsten deutschsprachigen Philosophen am Ende des letzten Jahrhunderts, inzwischen sehr intensiv mit einer evolutionären Ästhetik befasst. Auch andere Philosophen wie Ernst Cassirer oder Helmuth Plessner geben in ihren anthropologischen Entwürfen einer ästhetischen Praxis einen wichtigen Platz. Bei diesen Untersuchungen geht es um eine

Elfenbeinturm oder menschliches Grundrecht?

alltägliche ästhetische Praxis, die eine bedeutende Rolle im Überleben der Menschen gespielt hat. Verstehen kann man diese Tatsache allerdings nur, wenn man sich, zumindest zeitweilig, von dem mitteleuropäischen Begriff der »autonomen Kunst« löst. In eine ähnliche Richtung geht die Argumentation, dass es keine menschliche Gesellschaft gibt, die ohne Tanz, ohne Theaterspiel, ohne Gestaltungsprozesse auskommt. Und auch in der Entwicklung jedes einzelnen Menschen, der Ontogenese, spielen ästhetische Praktiken eine unverzichtbare Rolle. Diese Lebensrelevanz der ästhetischen Praktiken hat schließlich dazu geführt, dass es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und in allen inzwischen existierenden Menschenrechtskonventionen und -Pakten einen Artikel gibt, der von einem Menschenrecht auf kulturelle Teilhabe spricht. In der Kinderrechtskonvention heißt es sogar, dass Kinder ein Recht auf Spiel und Kunst haben. Wie wichtig es ist, dass hierbei ein weites Verständnis von ästhetischer Praxis zugrunde gelegt wird, wird etwa an einem Fehler deutlich, der sich bei der Planung der ersten Weltkonferenz zur künstlerischen Bildung im Jahre 2006 in Lissabon ergab: Dort hatte die Geschäftsstelle der UNESCO sich sehr stark auf die mitteleuropäischen Traditionskünste wie Musik, bildende Kunst und Theater konzentriert, was dazu geführt hatte, dass Kolleginnen und Kollegen aus Afrika, Südamerika und Asien darauf hinweisen mussten, dass in ihren Heimatländern ganz andere Kunstformen eine sehr viel wichtigere Rolle spielen, zum Beispiel Haareflechten, Stelzenlaufen oder Weben. Eine zweite Begründung für die Notwendigkeit von Kunst und ästhetischer Praxis ist eine politische. Diese bezieht sich zunächst einmal auf die westliche Tradition. In dieser entstand die Ästhetik als Disziplin der Philosophie erst Mitte des 18. Jahrhunderts, maßgeblich geprägt durch Alexander Baumgarten. Der damals neue Ästhetikdiskurs war dabei allerdings eng verbunden nicht nur mit der Entwicklung der Moderne, sondern speziell mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der Genese des bürgerlichen Subjekts (vgl. Eagleton 1994), eine Tatasche, die beim Auf bau der heute so oft angesprochenen, dichten kulturellen Infrastruktur in Deutschland im 19. Jahrhundert eine entscheidende Rolle gespielt hat, da es mit dem Bürgertum eine potente Trägergruppe gegeben hat, die nicht bloß die Mittel hatte, eine solche Infrastruktur aufzubauen und zu erhalten, sondern auch ein genuines Interesse daran. Denn man kann zeigen, dass die Theater, Museen und Opernhäuser einen großen Einfluss auf die Entwicklung und Festigung einer bürgerlichen Identität hatten. Dies ist insofern heute noch relevant, weil – man erinnere sich an das Eingangszitat – man feststellen muss, dass es offenbar gerade in dieser Trägergruppe des Bürgertums ein abnehmendes Interesse an dem Erhalt dieser Kultureinrichtungen gibt (vgl. Nipperdey 1990). Ein anderer Aspekt der politischen Legitimation von ästhetischer Praxis bezieht sich auf den französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu. In seiner Studie »Der kleine Unterschied« fasst er die Ergebnisse der bislang umfangreichsten empirischen Untersuchungen ästhetischer Präferenzen in der französischen

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Bevölkerung zusammen (vgl. Bourdieu 1987). Sein in unserem Zusammenhang wichtigstes Ergebnis besteht darin, dass ästhetische Praxis überhaupt keine harmlose Erscheinung ist, sondern ganz wesentlich dazu beiträgt, die Gesellschaft zu strukturieren und diese Struktur auch zu erhalten. »Sage mir, womit du dich kulturell befasst, und ich sage dir, wo dein Platz in der Gesellschaft ist!«, so könnte man die zentrale Aussage dieser Studien zusammenfassen. Durch unterschiedliche ästhetische Praxen entstehen Prozesse der Distinktion, die nicht bloß die Verschiedenheit des Geschmacks in der Gesellschaft illustrieren, sondern die auch eine hohe politische Bedeutung haben. So sehr man diese politische Wirkung ästhetischer Praxis einerseits bedauern mag, so muss man andererseits doch feststellen, dass sie auch eine Begründung für die Erhaltung von Kultureinrichtungen zumindest für eine bestimmte Trägergruppe liefert. Für die Pädagogik ist diese Erkenntnis insofern wichtig, als sich darin auch eine gute Begründung für eine umfassende ästhetische Bildung findet. So hat der damalige französische Staatspräsident das College de France beauftragt, ein Curriculum für die Schulen in Frankreich zu entwickeln. Auf der Basis der Ergebnisse der Studien von Bourdieu hat man sich dabei an dem Ziel orientiert, eine hohe ästhetische Souveränität für alle Kinder und Jugendlichen sicherzustellen. Dies bedeutete nicht, dass nun jeder die Werke der Hochkultur wertschätzen musste. Es sollte nur nicht länger so sein, dass man sie aufgrund einer ästhetischen Inkompetenz ablehnte. Nun verändern sich Gesellschaften, sodass sich die Frage stellt, ob der von Bourdieu festgestellte Distinktionsprozess auch heute noch in dieser Form stattfindet. Neuere Studien aus Frankreich zeigen, dass es in dieser Frage zu Veränderungen gekommen ist (vgl. Lahire 2006). So wird festgestellt, dass in den letzten Jahren eine Pluralisierung des ästhetischen Geschmacks bei jedem Einzelnen stattgefunden hat, sodass sich jeder in unterschiedlichen Geschmacksgemeinschaften zuhause fühlen kann. Dies bedeutet allerdings, dass die hegemoniale Rolle einer hochkulturellen Geschmackspräferenz in dieser Form nicht mehr existiert, und hat kulturpolitisch zugleich die Konsequenz, dass das, was in wichtigen Kunstzeitschriften seit vielen Jahren diskutiert wird, eine Begründung erfährt: Dass nämlich das traditionelle Stammpublikum kultureller Einrichtungen wegbricht, weil es die Distinktionsfunktion dieser Einrichtungen offenbar nicht mehr benötigt. Vor diesem Hintergrund wird vielleicht auch verständlich, dass es inzwischen in einzelnen, großen Städten zu Demonstrationen gegen die Subventionierung der Oper gekommen ist. So hat man bei einer großen Demonstration in Bonn etwa die Tatsache beklagt, dass die Subventionierung einer einzigen Opernvorstellung mehr Geld benötigt, als für den Breitensport im ganzen Jahr zur Verfügung gestellt wird. Aus dieser Situation ergeben sich schwierige Legitimations-Diskussionen, bei denen der klassische Hochkulturbereich keine guten Karten hat. Ein weiteres Argument für die Wichtigkeit der Künste bezieht sich auf ihre Relevanz in der modernen Gesellschaft. Die Moderne ist angetreten mit einer Viel-

Elfenbeinturm oder menschliches Grundrecht?

zahl vollmundiger Versprechungen: Wohlstand, Frieden, Freiheit, Menschenwürde, autonome Lebensgestaltung. Allerdings hat man relativ bald festgestellt, dass sich in der Entwicklung der Moderne erhebliche Pathologien ergeben, sodass eine »Geschichte der Kultur der Moderne« heute sehr gut als eine »Geschichte der Kritik der Kultur der Moderne« geschrieben werden kann (vgl. Bollenbeck 2007). Mitte des 18. Jahrhunderts hat Rousseau in seiner denkwürdigen Preisschrift einen ersten, vehementen Protest gegen die Moderne formuliert, und am Beginn des 19. Jahrhunderts formierte sich die Romantik als Gegenbewegung zu einer Aufklärung, die an einen unablässigen Fortschritt der Gesellschaft glaubte. Am Ende des 19. Jahrhunderts wuchs die Bedeutung von Friedrich Nietzsche, der alle Protest- und Reformbewegungen gegen die industrielle Moderne beeinflusste. Vor dem Hintergrund einer solch massiven Kritik an den Entwicklungstendenzen sah man in den Künsten und in den Künstlern Hoffnungsträger für eine bessere Welt. In der Romantik begann man, die Künste als funktionales Äquivalent für Religion zu sehen. Es entstand eine Kunstreligion, in der Kunst und Künstler auf ein Podest gestellt wurden. Dies hat die Erziehungswissenschaftlerin Yvonne Ehrenspeck zum Anlass genommen, die »Versprechungen des Ästhetischen« (1998) kritisch zu hinterfragen mit dem Ergebnis, dass es zu erheblichen Überforderungen der Künste und des Ästhetischen gekommen ist. Aktuell stellt sich daher die Frage, was die Künste und was eine ästhetische Praxis tatsächlich sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft leisten können. Wir erleben im Moment eine Konjunktur kultureller Bildung. Viele nehmen dies mit großer Genugtuung zur Kenntnis. Möglicherweise steckt allerdings ein Wermutstropfen in all den Prozessen einer verstärkten Förderung kultureller Bildung, insofern die tatsächlichen Wirkungen der praktischen Bildungsarbeit größtenteils noch unklar und Gegenstand aktueller Forschungen sind, welche selbst einen wichtigen Bestandteil der Förderprogramme bilden. Man darf gespannt sein, was – gerade in Zeiten einer evidenzbasierten Politik – diese Untersuchungen zeigen werden.

Was tun? – Stellschrauben für kulturelle Teilhabe Das Ziel der Kulturpolitik und jeder einzelnen Kultureinrichtung muss darin bestehen, die kulturelle Teilhabe zu verbessern. »Kulturelle Teilhabe« ist ein international anerkanntes Konzept, das im Allgemeinen für gut und wünschenswert erachtet wird. Doch was kann man tun? Ich fand es nützlich, mich in einem Nachbarbereich der Kulturpolitik, nämlich der Sozialpolitik, zu informieren, wie der Diskussionsstand dort ist. So hat sich der renommierte Sozialpolitikforscher Franz Xaver Kaufmann damit befasst, in welcher Weise soziale Teilhabe – wie kulturelle Teilhabe auch ein Menschenrecht – verbessert werden kann. Er hat dabei vier Stellschrauben identifiziert (vgl. Kaufmann 2003):

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• • • •

Erreichbarkeit Finanzierbarkeit Rechtliche Schranken Bildung

Überträgt man diese Begriffe auf die Kulturpolitik, so stellt man schnell fest, dass sie auch im Hinblick auf kulturelle Teilhabe eine große Relevanz haben.

Erreichbarkeit Gerade unsere großen Kultureinrichtungen befinden sich im Zentrum unserer Städte und sind aus verschiedenen Gründen von Menschen, die in den Randbezirken leben, nicht gut erreichbar. Zum einen ist der öffentliche Nahverkehr nicht überall gut ausgebaut, zum anderen entstehen bei der Anreise häufig erhebliche Kosten. Was kann man in dieser Situation tun? Eine Möglichkeit besteht darin, dass die Mitarbeiter von Kultureinrichtungen ihre Häuser verlassen und sich, zumindest zum Teil, auf eine aufsuchende Kulturarbeit umstellen. Ein wichtiges und funktionierendes Instrument ist zudem der Ausbau der Kooperationen mit solchen Einrichtungen, in denen diejenigen, die man gerne als Besucher gewinnen möchte, bereits teilhaben. Ein gelungenes Beispiel habe ich vor einiger Zeit in der Komischen Oper Berlin erlebt. Diese feierte ein rundes Jubiläum in Hinblick auf ihren Arbeitsbereich »Kinderoper«. Die gesamte Oper war gefüllt mit neugierigen Kindern. Das kam dadurch zustande, dass die Oper ein intensives Kooperationsprogramm mit Schulen betreibt. Außerdem behandelt die Komische Oper ihren Arbeitsbereich »Kinderoper« genauso wie die Erwachsenenoper. Das heißt, dass für Produktionen dieselben Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Damit wird eine Wertschätzung der jungen Akteure und des neuen, jungen Publikums ausgedrückt.

Finanzierbarkeit Natürlich spielt gerade bei Menschen mit geringem Einkommen der Eintrittspreis eine große Rolle. Man muss sich nur einmal vor Augen halten, welch niedriger Betrag bei Hartz IV-Empfängern für die Freizeitgestaltung vorgesehen ist. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass im Hinblick auf eine kulturelle Teilhabe aller Menschen der Preis eine zwar wichtige, aber nicht entscheidende Rolle spielt. Denn in anderen Ländern, zum Beispiel in England, den Niederlanden und in skandinavischen Ländern, hat man die Erfahrung gemacht, dass bei einem Wegfall von Eintrittspreisen sich zwar die Anzahl der Besucher erhöht, allerdings auch dann nur Besucher aus derselben Gruppe der Bevölkerung kommen. Um über den Kreis der traditionellen Kulturbesucher hinauszukommen, braucht man andere Ideen und muss noch weitere Anstrengungen unternehmen.

Elfenbeinturm oder menschliches Grundrecht?

Bildung Es liegt auf der Hand, dass sich Kunstwerke nicht immer unmittelbar jedem erschließen. Viele Werke brauchen zu ihrem Verständnis ein gewisses Vorwissen, ein Verständnis für die Arbeitsweise des Künstlers oder der Künstlerin. Kulturelle Bildung ist also so gesehen in der Tat eine Voraussetzung für Teilhabe. Es gilt allerdings auch das Umgekehrte: Kulturelle Bildung entsteht erst dadurch, dass ich mich selber in eine ästhetische Praxis begebe oder mit künstlerischen Produkten und Prozessen auseinandersetze. Teilhabe ist also so gesehen auch die Voraussetzung dafür, dass kulturelle Bildung entstehen kann. Diese scheinbare Widersprüchlichkeit löst sich auf, wenn man kulturelle Teilhabe auf der einen und kulturelle Bildung auf der anderen Seite als Kategorien ansieht, die sich auf derselben Abstraktionsebene befinden: Es gibt ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis.

Schlussbemerkung Es liegen inzwischen vielfältige Erfahrungen von Kultureinrichtungen vor, dass und wie man die kulturelle Teilhabe der Menschen verbessern kann. Aus meiner Sicht gibt es allerdings ein zentrales Hindernis: Die Einstellungen der Menschen, die in diesem Feld beschäftigt sind. Man muss nämlich akzeptieren, dass die Realisierung von kultureller Teilhabe ein gleichberechtigtes Ziel ist neben der Absicht, interessante und innovative künstlerische Werke herzustellen. Das hat zur Konsequenz, dass auch Kultureinrichtungen beides haben, einen Bildungs- und einen Kulturauftrag. Um diese zu erfüllen, müssen sich Kulturinstitutionen immer wieder neu erfinden, müssen gesellschaftliche Veränderungen zur Kenntnis nehmen und auf sie reagieren, um selbst gesellschaftliche Veränderungen sowie individuelle Bildungsprozesse in Gang setzen zu können. Als kritischer Hinweis ist nach wie vor das Kapitel zu Kulturpolitik in dem damaligen kultursoziologischen Bestseller von Gerhard Schulze »Die Erlebnisgesellschaft« sehr ernst zu nehmen (Schulze 1992). Dort ist zu lesen, dass Selbsterhaltung eine zentrale Handlungsmaxime in der Kulturpolitik sei. Es könnte jedoch sein, dass aufgrund der vorne skizzierten Legitimationsprobleme, die nur durch eine Veränderung der Kunst- und Kulturlandschaft gelöst werden können, von denjenigen, die die Finanzen bereitstellen, eben jene Veränderungen, entgegen der Tendenz zur Selbsterhaltung, eingefordert wird. Ich komme daher noch einmal auf den eingangs zitierten Text von Sonja Ostendorf-Rupp zurück, die ihren Beitrag mit den Worten abschließt: »Der heute als Zwang empfundene Druck für US-Institutionen, neue Wege zu begehen, führt langfristig hoffentlich zu einer Erhaltung oder Wiederbelebung der Relevanz der Kulturinstitutionen, damit diese auch weit in das 21. Jahrhundert hinein noch eine Rolle spielen – in einer dann zeitgemäßen Form.« (Ostendorf-Rupp 2013)

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2. Perspektiven der Nicht-Besucher Empirische Erkenntnisse und

Konsequenzen für Kulturvermittlung

Nicht-Besucher im Kulturbetrieb Ein Überblick des aktuellen Forschungsstands und ein Ausblick auf praktische Konsequenzen der Publikumsforschung in Deutschland Thomas Renz

Jeder Bürger muss in die Lage versetzt werden, Angebote in allen Sparten und mit allen Spezifizierungsgraden wahrzunehmen, und zwar mit zeitlichem Aufwand und einer finanziellen Beteiligung, die so bemessen sein muss, dass keine einkommensspezifischen Schranken aufgerichtet werden. (Hoffmann 1981: 29)

Bereits Hilmar Hoffmann benannte in seinem Werk »Kultur für alle« (1981) die Notwendigkeit des Abbaus besuchsverhindernder Barrieren im Kulturbetrieb zur Förderung von mehr kultureller Teilhabe. Solche Überlegungen waren bis dahin relativ neu: Nach dem zweiten Weltkrieg wurden in der Bundesrepublik Kultureinrichtungen zwar recht schnell wieder aufgebaut (vgl.  Overesch 2006: 311), diese blieben aber ein Ort starrer sozialer und künstlerischer Konventionen (vgl. Höhne 2012: 42). Seit den 1950er Jahren wurde eine angebotsorientierte Kulturpolitik gepflegt, welche Besucher von Kulturveranstaltungen »prinzipiell nicht als Subjekt, sondern vorrangig nur als Objekt der eigenen – sicherlich lobenswerten – ›kulturpflegerischen‹ Bemühungen« sah (Klein 2008: 92). Wer genau in die Theater und Museen kam und wer nicht, war weder für die Kulturpolitik noch für den Kulturbetrieb relevant. Erst durch den gesellschaftlichen und politischen Wandel der 1970er Jahre wurden kulturpolitische Ideen in der BRD neu ausgerichtet: Kunst und Kultur sollte nicht mehr nur Repräsentations- und Selbstvergewisserungsinstrument eines kleinen Teils der Bevölkerung sein, vielmehr wurde das Potenzial von Kunst und Kultur für die Entwicklung von Individuen und der Gesellschaft betont unter dem Begriff »Kultur für alle«. Obwohl damit scheinbar die Adressaten und Wirkungen der Angebote wichtiger wurden, führte dies nicht zu systematischen empirischen Untersuchungen, wer die kulturellen Angebote nutzt und wer nicht und weshalb ein großer Teil der deutschen Bevölkerung trotz

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Thomas Renz

kulturpolitischem Wandel immer noch nicht von den Angeboten erreicht wurde (vgl. Glogner/Föhl 2010: 12). Obgleich 30 Jahre später die Idee von »Kultur für alle« in Kulturpolitik, Kulturbetrieb und Kulturwissenschaft manifestiert ist (vgl. Schneider 2010), der Freizeitmarkt und somit das Angebot kultureller Veranstaltungen enorm gewachsen ist (vgl. Glogner/Föhl 2010: 14) und spätestens im 21. Jahrhundert der Zusatznutzen von Kunst und Kultur als kulturelle Bildung zum Boom-Thema geworden ist (vgl. Bockhorst et al. 2012), zeigen die statistischen Zahlen, dass das Stammpublikum öffentlich geförderter Kultureinrichtungen in Deutschland immer noch eine kleine, eher besser gebildete Gruppe der Bevölkerung ausmacht, und man weit von der Idee einer Partizipation von »allen« entfernt ist. Dieser Text geht deshalb der Frage nach, auf welchen wissenschaftlichen und theoretischen Begriffen Publikumsforschung auf baut, welche besuchsverhindernden Barrieren aus empirischen Studien bekannt sind und welche Konsequenzen dieses Wissen für Kulturpolitik, Kulturmanagement und Kunstproduktion haben kann, wenn deren Akteure diese statistischen Zahlen auch als Exklusion bestimmter sozialer Milieus in Deutschland begreifen, die zu Veränderungen auffordert.

Begriffliche und wissenschaftliche Verortung der Publikumsforschung Da das empirische Interesse von Kulturbetrieb und Kulturpolitik am Publikum wie dargestellt noch recht jung ist, existiert auch die systematische wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema noch nicht lange. Obwohl die Rezeption von Kunst zum originären Gegenstand kunst- und kulturwissenschaftlicher Forschung gehört, gibt es z.B. in den Theater- oder Bildenden Kunstwissenschaften nur äußerst wenig empirische Erkenntnisse über die Adressaten der Kunstwerke. Dies ist zum einen theoretisch mit dem Bild eines eher idealtypischen (und nicht konkret empirisch greif baren) Rezipienten (vgl. Warning 1994), zum anderen mit in diesen Disziplinen verbreiteten Forschungsmethoden und -traditionen zu erklären (vgl. Renz 2016). Wissenschaftlich ist die empirische Publikumsforschung somit weniger in den Kultur- als in den Sozialwissenschaften zu verorten (vgl. Glogner 2012). Diese untersuchten auch als Reaktion auf politische Entwicklungen ab den 1970er Jahren zunehmend die Gesellschaft in Bezug auf Teilhabe bestimmter Gruppen in sozialen, kulturellen oder wirtschaftlichen Feldern. Und diese Disziplinen lieferten auch das methodische Handwerkszeug: Mittels Beobachtung oder Befragung im Feld werden Daten erhoben, später ausgewertet und interpretiert. Die Wissensgenerierung erfolgt somit nicht ausschließlich über theoretische Reflexion, sondern über die Generierung oder Überprüfung der Theorien an den Subjekten selbst. Selbstverständlich haben unterschiedliche methodische Zugänge zum Forschungsgegenstand im Rahmen der jeweiligen Disziplin ihre volle Berechtigung. Allerdings klafft im Diskurs über die Adressaten von Kunst und Kultur immer noch eine große Lücke zwischen theoretischen

Nicht-Besucher im Kulturbetrieb

Annahmen, was Kunst und Kultur auslösen solle, und dem empirischen Wissen, ob diese – durchaus wohlgemeinten – Ansprüche auch tatsächlich erreicht werden. Max Fuchs hat beispielsweise Mitte der 1990er Jahre circa 90 wissenschaftliche Behauptungen über die Wirkung von Kunst und Kultur gesammelt, welche aber überwiegend empirisch nicht bestätigt waren (Fuchs/Baer 1995: 98). Neben akademisch intendierten Studien über das Publikum von Kultureinrichtungen wie z.B. Museen (vgl.  Klein/Bachmayer/Schatz 1981) oder Opern (vgl.  Wiesand 1975), wurde die empirische Kulturpublikumsforschung in den letzten circa 30 Jahren auch durch kulturpolitische (z.B. Keuchel 2003) oder kulturbetriebliche (z.B. Bendzuck 1999) Auftragsforschung in Form einer angewandten Sozial- und Evaluationsforschung geprägt. Studien, welche an und von Kultureinrichtungen selbst durchgeführt werden, basieren meist auf den theoretischen Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre, insbesondere der Marketing-Management-Theorie (vgl.  Renz 2012: 183). Ab den 1990er Jahren feiert das Kulturmanagement auch im öffentlich geförderten Kulturbetrieb einen »Siegeszug« (Tröndle 2008: 134) und empirische Besucherbefragungen in Kultureinrichtungen werden mit diesem zu einem »wahren Megatrend« (Haller 2006: 2). Das ökonomische Interesse von Kultureinrichtungen am Publikum führt erstmal nur dazu, das Publikum quantitativ zu vergrößern: Es geht dann darum, mehr Karten zu verkaufen mit dem Ziel der Vollauslastung der eigenen Ressourcen. Welche Personengruppen kommen und welche nicht, spielt in dieser Logik keine primäre Rolle. Die empirischen Studien, welche im Folgenden vorgestellt werden, basieren auf einem engen Kulturbegriff: Sie beziehen sich auf (Nicht-)Besucher von Veranstaltungen öffentlich geförderter Kultureinrichtungen in Deutschland. Die Notwendigkeit der Begriffsdefinition wurde somit an die Kulturpolitik bzw. deren Förderpraxis delegiert. Ausgehend von der öffentlichen Förderung von Kultur in Höhe von circa neun Milliarden Euro pro Jahr welche zu einem Großteil in die »klassischen (Hoch-)Kultureinrichtungen« (Mandel 2008: 22) geht, untersucht empirische Besucherforschung in diesem Sinne das Publikum öffentlich geförderter Kultureinrichtung, beziehungsweise erforscht, wer aus welchen Gründen die an alle gerichteten Angebote nicht besucht. Eine solche empirische Besucherforschung geht also weniger von einem grundsätzlichen kritischen Hinterfragen der Aktivitäten der Kulturpolitik aus und versucht vielmehr Anspruch und Wirklichkeit der gegenwärtigen, deutschen Kulturpolitik empirisch abzubilden, um auch belastbare Daten für etwaige nachgelagerte, politische Diskussionen zu Verfügung zu stellen. Vor dem Hintergrund von »Kultur für alle« als Maxime von Kulturpolitik und Kulturbetrieb fällt jedoch schnell auf, dass weite Teile der Bevölkerung die öffentlichen Theater, Museen und Konzerthäusern nicht nutzen und dies nicht nur auf persönliche Entscheidungen, sondern auch auf gesellschaftliche Strukturen zurückzuführen ist, die auf eine »soziale Exklusion bestimmter Teile der Bevölkerung« (Renz 2010: 250) hinauslaufen. Aus dieser Perspektive wird Publikumsforschung zur

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sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsforschung. Es geht dann darum, herauszuarbeiten, ob »Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den ›wertvollen Gütern‹ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten.« (Hradil 2001: 30) Anders als beim primär ökonomisch begründeten Interesse am Publikum in der betriebswirtschaftlichen Forschung, geht es hierbei nicht um eine quantitative Maximierung der Publikumszahlen, sondern vielmehr darum, zu fragen, welche gesellschaftlichen Gruppen an öffentlich geförderten Kulturveranstaltungen weniger teilhaben und auf welche Merkmale und Strukturen diese Exklusion zurückzuführen ist. Da die soziale Ungleichheitsforschung eine solche empirische Beobachtung nicht zwangsläufig mit einer Bewertung als problematisch oder veränderungswürdig verbindet, bedarf es allerdings einer weiteren normativen und politischen Begründung, weshalb soziale Ungleichheit z.B. in Bezug auf Besuche öffentlich geförderter Kulturveranstaltungen als »abbau-würdig« verstanden wird. Hierfür können Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte angeführt werden. Bereits Hilmar Hoffmann verbindet seine Argumentation in »Kultur für alle« eng mit diesen Gedanken: Demokratie müsse in allen gesellschaftlichen Subsystemen gelebt werden, sonst könne ein demokratischer Staat nicht funktionieren. Er leitet aus dem demokratischen Prinzip ein »Gebot der Gesetzmäßigkeit« ab, wonach kulturpolitische Handlungen »möglichst jedem Menschen den organisatorischen Zugang zu und die rezeptive Teilhabe an den verschiedenen Erscheinungsformen von Kunst zu ermöglichen« haben (Hoffmann 1981: 46). Dieses Verständnis von Teilhabe als Grundelement der Demokratie ist auch eng mit der Idee der Menschenrechte verknüpft. Denn die Verbindung von Gleichheit und Freiheit ist ein wesentliches Resultat der politischen Philosophie der Aufklärung. Demokratische Staaten haben Menschenrechte explizit in ihren Verfassungen anerkannt (z.B. die Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetz Artikel 1 Abs. 2). Die Vereinten Nationen haben 1948 mit der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« eine lange Liste von Rechten beschlossen, welche mit Artikel 27 auch explizit ein Recht auf kulturelle Teilhabe benennt: »Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen.« (Vereinte Nationen 1948) Die Verortung dieser Fragestellung im Rahmen der sozialen Ungleichheitsforschung impliziert also eine Haltung, das Nicht-Besuchen von Theatern oder Museen nicht ausschließlich als freie Entscheidung der Individuen zu verstehen, sondern eine ungleiche Verteilung der Teilhabe immer als abbauwürdigen, sozialen Missstand, als Exklusion bestimmter Gruppen der Gesellschaft von demokratischen Prozessen zu begreifen. Daraus können Modelle entwickelt werden, wie der demokratische Staat eine solche kulturelle Teilhabe fördern kann, beispielsweise im Sinne von staatlichen Leitkonzepten. Hilfreich für Fragen der Nicht-Besucherforschung können Ansätze wie der »Capability-Approach« des Wirtschaftswissenschaftlers Amartya Sen (1999) sein. Dabei werden Verwirklichungschancen zum zentralen Ausgangspunkt staatlicher Einflussnahme ge-

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macht und untersucht, welche gesellschaftlich bedingten Strukturen kulturelle Teilhabe verhindern. Bei der Bewertung des Verhaltens z.B. eines Nicht-Besuchers öffentlich geförderter Kulturveranstaltungen geht es also nach diesem Konzept nicht darum, »ob er das nicht will«, sondern »ob er das nicht kann« (Bartelheimer 2007: 11). Ein »Nicht-Können« geht auf fehlende Verwirklichungschancen zurück, ein »Nicht-Wollen« ist in einer freien Wahl begründet, welche keine staatliche Intervention rechtfertigt (vgl. ausführlich Renz 2016).

Das Kulturpublikum in Deutschland Die folgenden Erkenntnisse basieren auf einer Meta-Studie, bei der mehr als 50 Kultur-Besucherbefragungen und 22 öffentlich zugängliche Nicht-Besucherstudien im deutschsprachigen Raum gesichtet und in Bezug auf kulturelle Teilhabe der Bevölkerung sowie auf besuchsverhindernde Barrieren ausgewertet wurden (vgl. Renz 2016). In diese Sekundäranalyse einbezogen wurden quantitative, über das Publikum einer einzelnen Einrichtung hinausgehende, empirische Besucherstudien, überwiegend seit den 1990er Jahren, vereinzelt – vor allem in Bezug auf einzelne wichtige Barrieren – auch älteren Datums. Qualitative Studien sind in diesem Forschungsfeld eher selten (vgl. Föhl/Lutz 2010: 39). Da die bestehenden Studien alle auf unterschiedlichen Definitionen von Kultur, Zeiträumen der Nutzung und methodischen Prämissen basieren, stoßen Zahlenvergleiche schnell an Grenzen. Allerdings erlaubt die Sekundäranalyse eine grobe Darstellung des Publikums öffentlich geförderter Kultureinrichtungen. Zudem kann damit der Wissensstand über die bisher theoretisch konstruierten und empirisch überprüften besuchsverhindernden Barrieren abgebildet werden. Wird allein die Besuchshäufigkeit der deutschen Bevölkerung in öffentlich geförderten Theatern, Museen, Konzerthäusern usw. empirisch untersucht, so ist quasi als Durchschnittswert folgende Dreiteilung möglich: Kern-, Gelegenheits- und Nie-Besucher. Etwa 10 % der deutschen Bevölkerung zählen zu den Kernbesuchern öffentlich geförderter Kultureinrichtungen (vgl. z.B. Frank et al. 1991: 343, Mandel 2013: 20). Diese Gruppe zeichnet sich durch regelmäßige Besuche und hohes Kulturinteresse aus. Soziodemografisch sind diese »kulturellen Allesfresser« (Begriff aus z.B. Keuchel 2006) vor allem durch überdurchschnittlich hohe Bildungsabschlüsse gekennzeichnet. Alle Studien, welche diesen Aspekt erheben, kommen zum Schluss, dass (hohe) Bildung der prägnanteste Grund für Interesse an Kultur sowie für entsprechende Partizipation darstellt (Frank 1991: 254, 341, Kirchberg 1996: 153, Keuchel 2003: 102, Mandel 2005, Neuhoff 2007: 482, Mandel/Timmerberg 2008: 7 u.v.m.). Eine Diskussion über Zugangsbarrieren ist für diese Zielgruppe irrelevant. Vielmehr stellen diese für kulturbetriebliche Marketingbemühungen die am einfachsten anzusprechende Adressaten dar, wenn in kurzer Zeit mit möglichst Ressourcen schonendem Einsatz mehr Besuche generiert werden sollen, um z.B. die Auslastung zu erhöhen. Indem diese bereits bekannte

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Zielgruppe aktiviert wird, können mehr Tickets verkauft werden, ohne dass dafür neue Besucher(-gruppen) angesprochen werden (müssen). Ebenfalls eine wichtige Zielgruppe von Kulturmarketing sind die Gelegenheitsbesucher, welche circa 40  % der deutschen Bevölkerung ausmachen. Diese zeichnen sich durch seltenere Besuche, aber durch grundsätzlich vorhandenes Interesse aus. Ihre Beziehung zu Kultureinrichtungen hat sich z.B. aus biografischen Gründen wie nach Familiengründung oder Berufseinstieg temporär verändert. Armin Klein, einer der Pioniere der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kulturmarketing, bringt das Interesse an diesen Gelegenheitsbesuchern aus Sicht des Marketings einer Einrichtung auf den Punkt: »Kultur-Marketing in öffentlichen Kulturbetrieben ist die Kunst, jene Marktsegmente bzw. Zielgruppen zu erreichen, die aussichtsreich für das Kulturprodukt interessiert werden können.« (Klein 2001: 40) Es ginge also darum, diejenigen als (neues) Publikum zu gewinnen bzw. wieder zu gewinnen, welche bisher zwar noch nicht kommen, allerdings grundsätzlich am Kulturangebot interessiert sind. Diese aus ökonomischen Gründen nachvollziehbare Haltung ist eine erste Erklärung, weshalb Kultureinrichtungen sich um die bereits kunstaffinen Zielgruppen bemühen und mehrheitlich wenig erfolgreich darin waren, neue, ganz andere Gruppen als Publikum zu erreichen. Etwa die Hälfte der Bevölkerung sind den Nie-Besuchern zuzuordnen. Diese Gruppe zeigte kein persönliches Interesse am Besuch von Theatern, Museen oder Konzerthäusern (Kolland 1996: 176, Mandel Juni 2005, Europäische Kommission 2007:v17, dcms 2008: 4, Keuchel 2008: 83, Allensbach 1991: 44, Keuchel 2003: 28, 2005: 212). Wenn diese Nie-Besucher in Kultureinrichtungen anzutreffen sind, dann sind sie eher zufällig dort, häufig z.B. in Museen an historischen oder auch touristisch interessanten Orten (vgl. dcms 2008: 4). Im Gegensatz zu den Kernbesuchern sind in dieser Gruppe überdurchschnittlich formal niedrige Bildungsabschlüsse festzustellen (Kirchberg 2005: 263, Keuchel 2008: 49). Da dieser doch recht große Teil der Bevölkerung vom Kulturmarketing der öffentlich geförderten Kultureinrichtungen aus ökonomischen Gründen bisher nicht wirklich bearbeitet wurde (Hausmann 2005: 66), bedarf es offensichtlich anderer Instrumente, um bisher nicht kunstaffine Zielgruppen für das Kulturangebot zu gewinnen. Die Kulturmanagementforschung liefert hierfür das aus dem anglo-amerikanischen stammende Audience-Development-Konzept. Dieses verbindet Nicht-Besucherforschung, Kulturvermittlung und zielgruppenorientierte Programmplanung (Mandel 2008, Renz 2016). Eine wesentliche Rolle spielen dabei die Identifizierung und der Abbau besuchsverhindernder Barrieren.

Besuchsverhindernde Barrieren Der Begriff der »Barriere« stammt ursprünglich aus dem gallo-romanischen und stellt dort ein physisches Hindernis im Sinne einer Schranke dar. Als einer der ersten verwendete Hans-Joachim Klein den Begriff im Kontext der Publikums-

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forschung und definierte Barrieren als »Mechanismen, die einen selektiven Besuchsausfall bewirken« (Klein/Bachmayer/Schatz 1981: 194). Dadurch entsteht ein prozessartiges Modell: Irgendeine physische, psychische oder imaginierte Intervention unterbricht einen bestehenden Motivationsprozess. Als Beispiel sei die Idee eines Theaterbesuchs genannt, welche dann aufgrund einer ausverkauften Vorstellung am Wunschtermin nicht realisiert werden kann. Die Barriere liegt in dem Fall im Angebot der Kultureinrichtung. Denkbar ist aber auch, dass keine passende Begleitung für den Theaterabend gefunden wird, weil im eigenen Freundeskreis kein Interesse am Theater besteht. Dann ist die Barriere eher subjektiv und in der Situation des Individuums begründet. Obgleich in der deutschsprachigen Publikumsforschung nur sehr wenig explizite Nicht-Besucherstudien existieren (Kirchberg 1996, Klein 1997, Deutscher Bühnenverein 2003, Mandel/ Renz 2010, Renz 2016), werden besuchsverhindernde Barrieren auch im Rahmen repräsentativer Bevölkerungsstudien untersucht (z.B. Frank et al. 1991, Keuchel 2003, Mandel 2013).

Vom Angebot ausgehende Gründe, welche Besuche verhindern Barrieren, welche von den Kultureinrichtungen selbst ausgehen, sind forschungstechnisch am einfachsten identifizierbar. Das Vorhandensein einer Kultureinrichtung in einigermaßen erreichbarer Nähe ist grundsätzliche Voraussetzung für Kulturbesuche. Dementsprechend stellt eine mangelnde kulturelle Infrastruktur eine wichtige Barriere dar (vgl. Eisenbeis 1980: 20, Mandel 2006: 203, Europäische Kommission 2007: 17). Neben verkehrstechnischen Fragen, z.B. der Problematik nach dem Besuch einer kulturellen Veranstaltung wieder nach Hause zu kommen (vgl. Gerdes 2000: 13), ist in diesem Kontext vor allem die in Deutschland existierende Diskrepanz in der kulturellen Infrastruktur zwischen ländlichen und urbanen Räumen relevant. Die Landbevölkerung besucht entsprechend seltener Kulturveranstaltungen (vgl. Opaschowski 2005: 212), allerdings ist die bloße Existenz einer Kultureinrichtung noch lange keine Garantie für Besuchsaktivitäten der ansässigen Bevölkerung. Von allen, auch internationalen Studien wird der Eintrittspreis als relevante, oft auch als primäre Barriere benannt (z.B. Kirchberg 2005: 292, Eckhardt 2006: 281). Von Seiten der Einrichtungen wären kostenlose Angebote oder zumindest Preisvergünstigungen denkbar. Immerhin wünschen sich über 80 % der Europäer kostenlose Kulturangebote (vgl. Europäische Kommission 2007: 57). Auf internationaler Ebene existieren bereits Studien, welche das Besuchsverhalten bisher kulturferner Zielgruppen vor, während und nach preispolitischen Maßnahmen untersucht haben. Eine schwedische Studie kommt für Museen zum Schluss, dass durch entsprechende Preisreduktion bisher museumsferne Zielgruppen erreicht werden konnten (vgl. Nickel 2008: 104). Allerdings wird dabei auch immer wieder deutlich, dass der Anstieg der Besucherzahlen vor allem auf eine intensivierte Besuchsaktivität derjenigen zurückzuführen ist, welche als Gelegenheits-

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oder Kernbesucher ohnehin schon zum Publikum gehören (vgl.  Gottesdiener 1996: 20). Ebenfalls interessant in diesem Kontext ist die vor allem bei Nicht-Besuchern verbreitete Unkenntnis der Eintrittspreise öffentlich geförderter Kultureinrichtungen, die häufig höher eingeschätzt werden. Bereits Rainer Dollase hat in den 1980er Jahren empirisch bewiesen, wie stark der Subventionsbetrag für klassische Konzerte von der Bevölkerung unterschätzt wird (Dollase 1986: 56), was sich bis heute nicht geändert zu haben scheint (vgl. Kirchberg 1998: 146, Keuchel 2006: 81). Deshalb führt eine bloße Preisreduzierung nicht automatisch zur Aktivierung dadurch anvisierter Zielgruppen mit niedrigem Einkommen. Susanne Keuchel kommt in der »Rheinschienen-Untersuchung« zum Schluss, dass »attraktive Preisvergünstigungen […] vor allem von den schon erreichten Zielgruppen sehr positiv aufgenommen« werden (Keuchel 2003: 227). Sollen Preisbarrieren abgebaut werden, um bisherige Nie-Besucher zu aktivieren, so sollte dies mit einer offensiven Kommunikationspolitik verbunden werden. Dementsprechend kann auch bereits eine unpassende Kommunikation der kulturellen Angebote eine besuchsverhindernde Barriere darstellen. Eine der wenigen verbandspolitisch intendierten Nicht-Besucherstudien vom Deutschen Bühnenverein zeigt zum Beispiel, dass gerade einmal 16 % der dort befragten Jugendlichen dem Satz zustimmen: »Das Theater bemüht sich aktiv, mich über das Programm zu informieren.« (Deutscher Bühnenverein 2003: 4) Damit die Kommunikationspolitik von Theatern oder Museen Einfluss auf die Entscheidungsfindung dieser Zielgruppen nehmen kann, müsste das Informationsverhalten von Nie-Besuchern berücksichtigt werden. Bei Nie-Besuchern überwiegt tendenziell »ein situatives, spontanes Informationsverhalten« (Frank et al. 1991: 217) und die Mund-zu-Mund-Propaganda hat einen noch höheren Stellenwert als bei der Gesamtbevölkerung (vgl. Klein 1990: 26). Nicht-Besucher mit niedriger Schulbildung scheinen durch die klassische Medienarbeit, z.B. im Kulturteil von Tageszeitungen, nicht erreicht werden zu können (vgl. Keuchel 2003: 101). Das Kunstwerk bzw. das künstlerische Angebot selbst war bislang selten im Sinne einer Barriere Gegenstand der empirischen Publikumsforschung. Zum einen ist das auf die grundgesetzlich geschützte Kunstfreiheit und die daraus resultierende Konsequenz für das Management öffentlich geförderter Kultureinrichtungen zurückzuführen, sich zum Beispiel im Rahmen der Marketingaktivitäten nicht in die »Kunst an sich« einzumischen. Zum anderen ist die Kunstrezeption im Rahmen quantitativ-standardisierter Erhebungen auch methodisch schwer und in Bezug auf die Komplexität solcher Prozesse nur bedingt zu erforschen. Tendenziell schrecken Nicht-Besucher vor Verständnisschwierigkeiten zurück (vgl.  Klein/Bachmayer/Schatz 1981: 198) und lehnen moderne Ästhetik beispielsweise im Theater (vgl. Deutscher Bühnenverein 2003: 16) oder im Museum (vgl. Frank et al. 1991: 256) ab. Allerdings beruhen diese Zuschreibungen vor allem bei besuchsunerfahrenen Nicht-Besuchern weniger auf dem tatsächlichen Kulturangebot und mehr auf subjektiven Imagezuschreibungen.

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Eine eigene, qualitative Untersuchung von Gelegenheitsbesuchern von Theatern kommt jedoch zu dem Fazit, dass bei deren seltenen Besuchen vor allem eine nicht erfolgreiche Rezeption der Bühnendarstellung problematisch werden kann. In 24 episodischen, qualitativen Interviews wurden Personen befragt, welche aufgrund soziodemografischer Merkmale wie hohe Bildungsabschlüsse, eigentlich statistisch die besten Besuchsvoraussetzungen mitbringen, dennoch nur sehr selten öffentlich geförderte Theater besuchen. Wie nehmen sie in ihren seltenen Besuchen das Bühnengeschehen wahr? Auf welche Weise eignen sie sich die Darstellung an? Gelegenheitsbesucher setzen als zentrale Rezeptionsstrategie das Verstehen des Theatertextes ein. Bereits in der Jugend wird bei durch Schulen organisierten Besuchen dieser Zugang geprägt. In der Regel erfolgt die Hinwendung zum Theater durch die Schule im Rahmen des Deutschunterrichts. Dann wird die Besuchsentscheidung auf Autor, Werk und gegebenenfalls Kompatibilität zum Unterrichtsthema reduziert. Wird zudem auch die Rezeption allein auf Autor und Text konzentriert, bleibt der Einsatz anderer Theatermittel unbeachtet. Der Theaterbesuch wird lediglich als eine Zugabe zur vorherigen Auseinandersetzung mit dem Theaterstoff im Deutschunterricht empfunden. Die Leistungen des Theaters, vor allem die Darstellung der Interpretation mit verschiedenen Theatermitteln, scheinen gar keine Relevanz in dieser Art von Theatervermittlung zu haben. Diese bereits durch nicht-vermittelte Theaterbesuche mit der Schule eingeübte Rezeptionsstrategie wird von Gelegenheitsbesuchern auch später bei selbstorganisierten Besuchen angewendet. Die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Interpretation der mit der Bühnendarstellung verbundenen, auch abstrakten Zeichen wird von ihnen als Zwang und Störfaktor und nicht persönlich gewinnbringend empfunden. Wenn die Rezeptionsstrategie des Verstehens nicht erfolgreich ist, werden Theaterbesuche ohne persönlichen Mehrwert und entsprechend negativ erlebt. Durch den hohen Stellenwert des Theatertextes in der Rezeption verfügen vor allem Gelegenheitsbesucher also über keinen Zugang zur Interpretation der Modernisierung historischer und zeitloser Theaterstoffe. Die Neuinszenierung von Klassikern, d.h. von literaturgeschichtlich bedeutsamen Theaterstoffen im Sinne von Dramen und Schauspielen, stellt aber einen wesentlichen Teil des Angebots öffentlich geförderter Theater in Deutschland dar. Ausgehend vom hohen Stellenwert des Textes in der Rezeption durch Gelegenheitsbesucher kann dies zu einer nicht unproblematischen Erwartungshaltung führen. Der Einsatz anderer Theatermittel wie z.B. Requisiten oder Bühnenbild wird dann an der erwarteten Kompatibilität mit dem bekannten Text gemessen. Wenn eine erwartete Texttreue und die tatsächliche Bühnendarstellung dann nicht zusammenpassen, können Enttäuschung und das Gefühl der Überforderung entstehen (vgl. Renz 2016).

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Persönliche Gründe, welche Besuche verhindern Bereits das Beispiel des Rezeptionsverhaltens von Gelegenheitsbesuchern macht deutlich, dass es fließende Grenzen zwischen vom Angebot ausgehenden und auf persönliche Gründe zurückzuführenden Barrieren gibt. Das Nicht-Verstehen einer Theaterinszenierung kann zum einen auf ein unpassendes Angebot auf Seiten der Theatermacher, zum anderen auf nicht vorhandene Rezeptionskompetenzen auf Seiten der Individuen zurückgeführt werden. Subjektive Barrieren sind forschungstechnisch schwieriger zu ermitteln, auch da mit sozial erwünschtem Antwortverhalten in standardisierten Erhebungsinstrumenten zu rechnen ist (vgl. Bekmeier-Feuerhahn 2012: 256). Ein negatives Image bildet sich »aus der Summe aller positiven und negativen Einstellungen gegenüber den einzelnen Leistungsbestandteilen« einer Kultureinrichtung heraus (Butzer-Strothmann 2001: 62). Klassischen Kultureinrichtungen und ihren Veranstaltungen wird mehrheitlich ein Image als Bildungseinrichtung zugeschrieben (vgl.  Mandel 2005), ohne dass dies positiv konnotiert wird. Vor allem stellt die Zuschreibung von »langweilig« (Keuchel 2006: 87) eine besuchsverhindernde Barriere dar. Anders als in älteren Studien ergibt sich aus einem potenziellen Kleiderzwang in Kultureinrichtungen derzeit keine Barriere mehr, obgleich dieser noch bemerkt wird (vgl. Damas 1995: 102). Ausgehend vom hohen Stellenwert von Kulturbesuchen als soziale Aktivität, stellt auch fehlende Begleitung, die auf mangelndes Interesse im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis zurückzuführen ist, eine relevante Barriere dar (vgl. Deutscher Bühnenverein 2003: 4, Keuchel 2006: 83, 87, Renz 2016: 226). Vor allem bei Nie-Besuchern spielt die soziale Funktion eine bedeutende Rolle in der Freizeitgestaltung. Internationale Studien zeigen, dass dabei vor allem Aktivitäten mit der Familie eine besondere Relevanz zukommt (vgl. dcms 2007: 15). Einfacher standardisiert messbar, allerdings auch sehr subjektiv in der Bewertung ist der Faktor Zeit. Fehlende Zeit ist als besuchsverhindernde Barriere in allen Sparten relevant (vgl. Europäische Kommission 2007: 17, Mandel/Timmerberg 2008: 7). Der Umfang von Freizeit steht dabei nicht zwingend im Zusammenhang mit der Intensität des Interesses und der Nutzung (vgl. Frank et al. 1991: 197). Fehlende Zeit für potenzielle Kulturbesuche entsteht auch durch alternative Freizeitaktivitäten. Wenn also z.B. der neueste Blockbuster im Multiplex-Kino, der abendliche Besuch im Fitness-Studio oder einfach ein gemütlicher Fernsehabend wichtiger als der Besuch einer öffentlich geförderten Kultureinrichtung ist, dann kann das Barrierenmodell vielleicht gar nicht greifen. Denn wo keine Motivation existiert, da kann diese auch nicht durch Barrieren unterbrochen werden.

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Motivationsfördernde Bedingungen Eine Binnenordnung oder theoretische Verortung der eben aufgeführten Barrieren ist nicht einfach. Die Barrieren entstammen aus Studien, deren Grundlage nur äußerst selten theoretisch ausgearbeitet ist bzw. überhaupt existiert. Vielmehr handelt es sich bei der Mehrzahl der Studien um tendenziell im Sinne der Kulturpolitik und des Kulturmanagements anwendungsorientierte Arbeiten, welche zwar durchaus wissenschaftstheoretisch zu verorten sind, die aber Barrieren nicht aus einem theoretischen Modell ableiten. Kirchberg und Kuchar merken sogar nach einem internationalen Vergleich von Nicht-Besucherstudien an: »Theoretisch basierte Erklärungen zum Nichtbesuch wurden bisher kaum oder gar nicht formuliert.« (Kirchberg/Kuchar 2013: 169) Die in den hier ausgewerteten Studien aufgeführten, vom Objekt wie auch vom Subjekt ausgehenden Barrieren verbindet die Tatsache, dass sie alle einen bestehenden Motivationsprozess unterbrechen. Es wird also theoretisch davon ausgegangen, dass grundsätzlich ein Interesse an Besuchen von Theatern, Konzerten und Museen besteht, welches dann, aus welchen Gründen auch immer, unterbrochen wird. Diese Perspektive ist vermutlich auch auf die Anwendungsorientiertheit vieler Studien zurückzuführen: Es ist weniger ein beispielsweise primär sozialwissenschaftliches, sondern eher ein aus zukünftigen Existenzsorgen der institutionalisierten Kultur ausgehendes Erkenntnisinteresse, auf welchem (Nicht-)Besucherstudien wie z.B. die des Deutschen Bühnenvereins (2003) aufbauen. Woran liegt es aber, dass viele Menschen überhaupt keine Grundmotivation haben, das öffentlich bereitgestellte Kulturangebot zu besuchen? Bei solchen Fragen kann auch an das vorne erläuterte theoretische Konzept der sozialen Ungleichheitsforschung angeknüpft werden: Es werden Merkmale untersucht, welche kulturelle Teilhabe gesellschaftlich bedingt fördern oder verhindern. Zum anderen kann auf Ebene der politischen Konsequenzen überlegt werden, wie Kulturpolitik und Kulturmanagement mit ihrem Instrumentarium zukünftig positiven Einfluss auf diese Motivationsprozesse haben können, oder an welchen Stellen dieses Thema ihren Handlungsspielraum übersteigt. Dabei können Konzepte wie der vorne angeführte Verwirklichungschancen-Ansatz nach Sen (1999) die Einordnung der Erkenntnisse unterstützen, angewandte Instrumentarien wie beispielsweise Audience Development können konkrete Vorschläge zur Umsetzung kulturpolitischer und kulturmanagerialer Ziele forcieren. Die dieser Sekundäranalyse zugrunde liegenden Studien zeigen, dass Bildung der wichtigste Einflussfaktor auf kulturelles Interesse ist und ein hohes Kulturinteresse meist mit den formal höchsten Bildungsabschlüssen einhergeht (Frank 1991: 254, 341, Kirchberg 1996: 153, Keuchel 2003: 102, Mandel 2005, Neuhoff 2007: 482, Mandel/Timmerberg 2008: 7 u.v.m.). Im Umkehrschluss verfügen formal bildungsferne Menschen auch über wenig Wissen bezüglich der Rahmenbedingungen und des Ablaufs von Kulturveranstaltungen. Die Motivation zum

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Besuch kultureller Veranstaltungen entsteht am ehesten in Kindheit und Jugend, wobei die Hinführung zu Kunst und Kultur durch die Eltern nachhaltigere Konsequenzen auf das Kulturinteresse hat, als die Aktivitäten der Schulen (vgl. Mandel 2008: 28, Keuchel 2012). Die Motivation kann sich im Verlauf des Lebens ändern, vor allem Berufseintritt oder eine Veränderung der familiären Situation (vgl. Opaschowski 1997: 91) kann zu einem Rückgang der Motivation führen (vgl. Renz 2016). Spätestens hier wird deutlich, dass die Motivation auf unterschiedliche Bedürfnisse zurückgehen kann: Kulturbesuche können auf dem Wunsch nach sozialer Interaktion, nach ästhetischem oder inhaltlichem Nutzen oder auch nach einer symbolischen Aufwertung basieren (vgl. Mandel 2008: 49). Die Motivation, Theater und Museen zu besuchen, kann aber auch dann entstehen, wenn ein wie auch immer initiierter Besuch die eigenen Bedürfnisse nach einer sinnvollen Freizeitgestaltung erfüllte und somit eine Relevanz für das eigene Leben erfahren wurde. Nicht-Besucher haben dabei andere Präferenzen als das Stammpublikum von Kultureinrichtungen: Sie bevorzugen soziales Miteinander im Familienkreis und aktives Mitmachen (vgl. Hood 1983: 54).

Konsequenzen für Kulturpolitik, Kulturmanagement und Kunstproduktion Voraussetzung für die Diskussion von Konsequenzen ist eine wertbasierte Entscheidung, dass die vorgestellten Zahlen der prozentual geringen und auf bestimmte Bildungsschichten und Milieus begrenzten Teilhabe der Bevölkerung am öffentlich geförderten Kulturleben sowie die diese beeinflussenden Barrieren überhaupt einer Veränderung bedürfen. Wird aber der Status quo der kulturellen Teilhabe in Deutschland als soziale Exklusion verstanden und Hoffmanns ursprüngliche »reale Utopie« (1981) zum Ziel oder Paradigma des Kulturbetriebs erhoben, so kann ein Abbau besuchsverhindernder Barrieren auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Auf Ebene der Kulturpolitik kann der bereits geführte Diskurs über neues Publikum für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen auf eine Diskussion konkreter Instrumente einer zielorientierten und evidenzbasierten Politik gelenkt werden. Dazu zählen beispielsweise Steuerungsinstrumente wie Zielvereinbarungen, die (noch) nicht in allen Bundesländern genutzt werden (vgl. Renz 2016). Ziel könnte es sein, dass die Ansprache neuer oder bestimmter Zielgruppen als selbstverständlicher Teil der öffentlichen Kulturpflege verstanden werden würde und nicht wie bisher nur in zusätzliche und temporär beschränkte Extraprogramme ausgelagert oder gar an Stiftungen und Sponsoren delegiert wird. Diese Überlegungen werden jedoch auch immer vor dem Hintergrund der grundgesetzlich geschützten Kunstfreiheit und der damit verbundenen Autonomie der künstlerischen Entscheidungen in geförderten Einrichtungen diskutiert werden müssen. Die Stellen, welche in Kulturorganisationen seit Ende der 1990er Jahre an der Schnittstelle zu den Besuchern agieren, sind im Marketing-Management zu ver-

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orten. Auf dieser Ebene kann es darum gehen, zukünftig (noch) kleinteiligere Zielgruppen zu definieren, um mit einem intensiven Segmentmarketing diese individuell anzusprechen. Manchmal scheint hier der Anspruch von »Kultur für alle« ein modernes Zielgruppenmarketing zu verhindern. In der Aufteilung des potenziellen Publikums in Segmente und in einer durch die eigenen Ressourcen notwendig begrenzt zu bearbeitenden Auswahl dieser Segmente, wird die Gefahr gesehen, dass dadurch nicht mehr »alle« Menschen in gleicher Weise willkommen wären. Eine Aufteilung des potenziellen Publikums einer Kultureinrichtungen muss vor dem Hintergrund solcher Überlegungen kritisch hinterfragt werden, ob dadurch trotz bester Absichten die soziale Teilung nicht noch manifestiert wird. Auf der anderen Seite zeigt die Marketingforschung, dass der Anspruch »one site fits all« aufgrund der Ausdifferenzierung der Gesellschaft in verschiedene Lebensstile schon lange nicht mehr funktioniert (vgl. Klein 2001). Im Rahmen betrieblicher Marktforschung könnten also zielgruppenspezifische Barrieren individuell für die einzelnen Kulturbetriebe erforscht und abgebaut werden. Allerdings kann es dabei nur um Barrieren gehen, welche auch im Handlungsfeld des Marketings liegen. Somit dürfte die Konsequenz solcher Bemühungen maximal in der erfolgreichen Ansprache von Gelegenheitsbesuchern liegen. Entscheidet sich eine Kultureinrichtung jedoch für die Bearbeitung neuer Zielgruppen, zu denen auch bisher nicht kunstaffine Nicht-Besucher zählen, so muss dies auch von der Führungsebene der Organisation ausgehen. Denn eine solche Entscheidung kostet Ressourcen und ist nicht ausschließlich an das Marketing zu delegieren. Zum einen können durch individuelle Nicht-Besucherforschung offensichtliche Barrieren (wie z.B. zu hohe Eintrittspreise bei Menschen mit geringem Einkommen oder unpassende Öffnungs- bzw. Aufführungszeiten bei berufstätigen Zielgruppen) erkannt und abgebaut werden. Zum anderen können Kooperationen mit Multiplikatoren gesucht werden (z.B. Kulturlogen, soziale Einrichtungen oder Bildungsinstitutionen). Um diese neuen Zielgruppen auch nachhaltig an die eigene Einrichtung anzubinden, ist eine positive Rezeptionserfahrung unumgänglich. Kulturvermittelnde Angebote – mit welcher Zielsetzung auch immer – können diese unterstützen. Solche Aktivitäten werden auch Einfluss auf die Programme der Einrichtungen haben. Allein die Veränderung der Kommunikation wird vermutlich nicht zu einer dauerhaften Integration neuer Zielgruppen führen. Denn bestimmte Sparten und künstlerische Formate sind insofern populärer als andere, da sie den wahrgenommenen Rezeptionsansprüchen der Nicht- und Gelegenheitsbesucher eher entsprechen. Im Theater sind das Inszenierungen, welche sich quasi selbst vermitteln. Die Handlung ist ohne notwendige weitere Informationen oder Anregungen nachvollziehbar und eine mögliche Dekodierung theatraler Zeichen ist keine zwangsläufige Voraussetzung für eine gewinnbringende Rezeption bzw. kollidiert zumindest nicht mit den Ansprüchen beispielsweise der Zufallsbesucher. Im Theater betrifft das vor allem Genres wie z.B. Krimis, Komödien, Musicals, aber auch stellenweise bekannte Klassiker der Literaturgeschichte. Eine strategische Ausrichtung der Angebote an

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der Zielgruppe dieser Gelegenheitsbesucher würde dementsprechende Inszenierungen in die Spielplangestaltung integrieren. Denkbar wäre auch, Programme und Produkte unverändert zu lassen und durch geeignete, direkte Vermittlungsleistungen eine persönlich gewinnbringende Rezeption zu ermöglichen. Kulturvermittlung wäre dann das »Ass« im Ärmel der Kultureinrichtungen für noch so abstrakte Kunstwerke. Allerdings zeigen Ergebnisse biografischer Forschung, dass vor allem berufstätige Gelegenheitsbesucher ihrer Freizeitgestaltung einen hohen Regenerationsanspruch zuweisen (vgl. Renz 2016). Daraus resultiert für abendliche Aktivitäten auch an Wochenenden ein Bedürfnis nach Unterhaltung. Dies kann mit dem Angebot einer öffentlich geförderten Kulturveranstaltung kollidieren, wenn dieses einer zu hohen geistigen Auseinandersetzung bedarf. Möglich wäre auch eine Strategie, welche gerade nicht intellektuelle Rezeptionszugänge vermittelt, sondern vielmehr auf Genuss und sinnliche Wahrnehmung setzt und so dem Regenerationsanspruch von Besuchern in ihrer Freizeitgestaltung entgegenkommt. Es stellt sich also die Frage für öffentlich geförderte Kultureinrichtungen, ob und wie sie auf diese Herausforderungen nach Ansprache neuer Zielgruppen im Sinne eines sozial ausgewogeneren Publikums reagieren und inwiefern sie bereit sind, sich selbst und ihre Angebote in Auseinandersetzung mit neuen Besuchern kritisch zu hinterfragen. Kultureinrichtungen können sich bewusst dafür entscheiden, Brücken zu bisherigen Nicht-Besuchern zu bauen. Dann ginge es darum, die Diskrepanz zwischen berechtigt anstrengend, komplex und mehrdeutig gestalteter Kunst auf der Seite der Produzenten und den ebenfalls berechtigten Ansprüchen nach Unterhaltung und Erholung auf der Seite der Nicht-Besucher zu überbrücken. Dafür müssten sich beispielsweise Theater in ihrem Selbstverständnis weiterentwickeln. Denn die grundsätzlichen Probleme einer Programmpolitik, welche nicht mit den erlernten Rezeptionserfahrungen und Freizeitansprüchen von Nicht- und Gelegenheitsbesuchern zusammenpasst, lassen sich nur bedingt im Rahmen von Marketing- und Vermittlungsmaßnahmen lösen. Am Ende solcher Entwicklungen könnte ein anderes Theater stehen, das mit anderen Inhalten, neuen Programmen und populären Kunstformen seine gesellschaftliche Relevanz und Attraktivität behauptet.

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Quo vadis Kulturvermittlung? Ergebnisse des 2. Jugend-KulturBarometers*

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Das erste »Jugend-KulturBarometer« (Keuchel/Wiesand 2006) wurde 2004 vom Zentrum für Kulturforschung (ZfKf) für das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und drei Stiftungen, das zweite (Keuchel/Larue 2012) 2010/11 für das BMBF erstellt. Bundesweit wurden jeweils rund 2.500 in Deutschland lebende Personen im Alter von 14 bis 24 Jahren in einer geschichteten Stichprobe befragt. Ermittelt wurden in durchschnittlich 30-minütigen persönlich durchgeführten Interviews die kulturellen und künstlerischen Interessen der 14- bis 24-Jährigen, der Besuch außerhäuslicher Kulturangebote, Einstellungen und Wünsche zum Kulturbesuch sowie die kulturellen Biografieverläufe junger Menschen.

Ein Zeitvergleich von 2004 bis 2011 – Möglichkeiten und Interpretationsspielräume Bundesweite Bevölkerungsumfragen in der Kulturforschung sind selten und damit ist der vorliegende Zeitvergleich ein extrem seltener Luxus! Innerhalb einer umfangreichen Erhebung mit weitgehend identischen Fragekonstrukten können hier erstmals Entwicklungen im Bereich kultureller Aktivitäten und Einstellungen junger Leute innerhalb eines größeren Zeitraums gemessen werden. Im letzten Jahrzehnt kann eine deutliche Intensivierung des Diskurses um kulturelle Bildung beobachtet werden, der auch direkte Auswirkungen auf die aktuelle Praxis hat, wie dies exemplarisch folgende Infrastrukturerhebung zu Bildungsangeboten in klassischen Kultureinrichtungen verdeutlicht (Keuchel/Weil 2010). Der hier seit 2004 extrem gestiegene Anteil der Angebote richtet sich dabei maßgeblich an Schulklassen (61 %) und Kindertagesstätten (17 %). Noch selten

*|Teile des Artikels wurden erstveröffentlicht in der Zeitschrift »Standbein Spielbein« des Bundesverband Museumspädagogik e.V., Ausgabe 98/2014. 1

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sind hier Bildungsangebote, die sich an Kinder (10  %) oder Jugendliche in der Freizeit (6 %) richten.

Abbildung 1: Entstehungsjahr aktueller Bildungsformate in klassischen Kultureinrichtungen, ZfKf 2010

Dieser Aufwind in der kulturellen Bildung wurde begleitet von drei Themenschwerpunkten, die das Engagement in diesem Themenfeld sehr stark mitbestimmt haben: Mehr Chancengleichheit, die Angst um das Kulturpublikum von morgen und Transfereffekte. So beförderte nicht zuletzt das erste »Jugend-KulturBarometer« 2004 eine deutliche Sensibilisierung für das Thema Chancengleichheit in der kulturellen Bildung aufgrund der schlechten Ergebnisse zur Partizipation junger, bildungsferner Zielgruppen und das beobachtete, sehr geringe Engagement von Hauptschulen in der kulturellen Bildung (vgl. Keuchel 2009). Die Angst um das Kulturpublikum von morgen wurde nicht zuletzt »geschürt« durch Zeitreihenvergleiche (vgl. u.a. Keuchel 2006, Hamann 2005: 10), die sehr konkret aufzeigen, dass Kulturpräferenzen nicht alters-, sondern vor allem generationsspezifisch geprägt sind (vgl. Keuchel 2014). Der verstärkte Blick auf die Transfereffekte wurde in den letzten Jahren erneut belebt durch medial stark inszenierte, kulturelle Bildungsprogramme und -projekte wie z.B. »Sistema« oder »Rhythm is it«. Mit dem gestiegenen Engagement in der kulturellen Bildungsvermittlung seit 2004 ist es spannend, zu beobachten, ob sich auch das kulturelle Verhalten junger Leute geändert hat. Mit dem vorliegenden Zeitvergleich wäre damit grundsätzlich auch eine Bewertung der bisherigen kulturellen Vermittlungsaktivitäten denkbar. Bei der Interpretation entsprechender Ergebnisse gilt es allerdings auch zu berücksichtigen, dass sich andere gesellschaftliche Bereiche wie z.B. der Bildungssektor oder die Medienlandschaft in diesem Zeitraum ebenfalls deutlich verändert haben. »Kulturelle Prozesse« stehen immer auch in der Dynamik gesamtgesellschaftlicher Prozesse. So könnten auch Änderungen der Medien- und Bildungslandschaft, wie z.B. der kontinuierliche Ganztagsschulausbau, die kulturellen Interessen und Aktivitäten junger Leute beeinflusst haben. So spielten

Ergebnisse Jugend-KulturBarometer

2004 die sozialen Medien, beispielsweise facebook, noch keine Rolle. Eine gleichbleibende oder geringere kulturelle Beteiligung könnte auch auf den Wechsel von G9 zu G8 und ein größeres Zeitbudget für soziale Medien zurückgeführt werden. Diese Umstände gilt es bei der Interpretation und Bewertung der folgenden Ergebnisse zu berücksichtigen.

Eine positive Bilanz – Mehr junge Leute besuchen kulturelle Angebote Ein positives Ergebnis des Zeitvergleichs ist der Rückgang des Nicht-Nutzeranteils unter den 14- bis 24-Jährigen um fünf Prozentpunkte von 17  % auf 13  %. Besonders erfreulich ist dabei der Rückgang von zehn Prozentpunkten unter den jungen, bildungsfernen Bevölkerungsgruppen, die maximal einen Hauptschulabschluss erreicht und noch nie ein kulturelles Angebot besucht hatten. Betrachtet man die Multiplikatoren in der bisherigen Kulturbiografie junger Leute, so regen vor allem die Schulen und das Elternhaus Kulturbesuche an. Einen sichtbaren Zuwachs unter den Multiplikatoren im Zeitvergleich verzeichnen dabei ausschließlich die Schulen mit neun Prozentpunkten. Dieser Zuwachs deckt sich mit der Zunahme an Bildungsangeboten für Schulen in klassischen Kultureinrichtungen. Allerdings sind hier jedoch die Zahlenverhältnisse zu bedenken: So stehen beispielsweise 133 Orchester (vgl. Deutsche Orchestervereinigung 2012) oder 400 Jugendkunstschulen (vgl. Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V. 2011: 7) 34.486 allgemeinbildenden Schulen und 8.796.894 Schülern (vgl. Statistisches Bundesamt 2010/11) gegenüber. Damit wird erneut unterstrichen: Kultureinrichtungen können zwar einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Bildung leisten. Aufgrund ihrer geringen Zahl im Verhältnis zur Anzahl der Schüler sowie ihrer vielen weiteren zentralen, zu bewältigenden Aufgaben, wie das Bewahren und Sammeln oder die zeitgenössische Kunstproduktion, können sie jedoch kein flächendeckendes Angebot bereitstellen.

Eine weniger erfreuliche Bilanz – Mehr Aktivitäten können nicht gleichgesetzt werden mit einer nachhaltigen Interessensbildung Richtet man den Blick auf die Interessen der 14- bis 24-Jährigen an den einzelnen Kultursparten, wird deutlich, dass die vermehrten Kulturaktivitäten nicht einhergehen mit einem Zuwachs des vergleichsweise ohnehin geringen Interesses an klassischen Kulturangeboten. Mit Abstand am häufigsten und mit geringen Zuwächsen im Zeitvergleich äußern die jungen Menschen ein Interesse an Musik, Film und Comedy. Ein alarmierendes Ergebnis des Zeitvergleichs ist der deutliche Rückgang des Kulturinteresses bei jungen, bildungsfernen Bevölkerungsgruppen, also speziell den Gruppen, die in den letzten Jahren verstärkt mit Kulturvermittlungsaktivitä-

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ten erreicht wurden. Hieraus können sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen abgeleitet werden: So hat möglicherweise die schulische Kulturvermittlung auch kontraproduktive Effekte auf die kulturelle Interessensbildung junger Menschen. Welche Faktoren dabei eine Rolle spielen könnten, wird nachfolgend noch ausführlicher diskutiert. Die Ursachen könnten auch außerhalb der Kulturlandschaft liegen, so in der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft (vgl. u.a. Anger/Plünnecke/Seyda 2007: 41), die von vermehrten Kulturvermittlungsaktivitäten allein nicht »aufgehalten« werden kann.

Abbildung 2: Interesse am Kulturgeschehen bei jungen und älteren Bevölkerungsgruppen, ZfKf/Ifak 2007; ZfKf/Gfk 2004, 2010/11

Ursachenforschung – Welche Faktoren stehen in Beziehung zu einem positiven Interessenstransfer? Aufgrund der eben diskutierten Ergebnisse des Zeitvergleichs wurden im Rahmen des zweiten »Jugend-KulturBarometers« neue Sachverhalte überprüft und das Datenmaterial unter neuen Fragestellungen analysiert. Dabei wurde deutlich, dass die 14- bis 24-Jährigen im Gegensatz zum tatsächlichen Besucherverhalten der Gesamtbevölkerung noch sehr stark an einem altersspezifischen Kulturpräferenzmodell festhalten. So glauben 62 % der 14- bis 24-Jährigen, dass sie, wenn sie 45 Jahre und älter sind, eher die klassischen Kultureinrichtungen besuchen werden. Beklagt wird in diesem Zusammenhang vor allem das fehlende Interesse des Freundeskreises. Rückmeldungen einer anderen qualitativen Studie (Keuchel/ Weber-Witzel 2009) verweisen zudem auf den Umstand, dass ein Aufenthalt in klassischen Kultureinrichtungen vielfach auch deshalb als unangenehm empfunden wird, weil dort nur »alte Leute« seien. Entsprechend nennen die 14- bis 24-Jährigen als geeignete Maßnahmen für mehr kulturelle Teilhabe neben der

Ergebnisse Jugend-KulturBarometer

vielfach sehr kontrovers diskutierten Senkung der Eintrittspreise (45 %) vor allem die stärkere Berücksichtigung eines »jugendgerechten Ambientes« (43  %) und aktueller Rezeptionsgewohnheiten, wie mehr »Action und Spannung« (36 %), sowie punktuell viele weitere Maßnahmen, die den Wunsch nach einer stärkeren Einbeziehung jugendlicher Lebenswelten unterstreichen, wie mehr Jugendthemen bei Kulturangeboten (29 %), mehr Werbung in Jugendmedien (20 %), mehr junge gleichaltrige Künstler, mehr Gründungen von Jugendkulturclubs (14  %) oder sogar mehr eigene Beteiligung (6 %). Die unterschiedliche Perspektive auf das Phänomen »Kunst und Kultur« bei Jung und Alt geht sogar so weit, dass die 14- bis 24-Jährigen eigene künstlerische und kulturelle Ausdrucksformen, wie Graffiti, Streetdance oder Poetry-Slam gar nicht unter »Kultur« fassen – die Reduzierung der Kulturperspektive auf die »Künste« ist per se eine sehr deutsche Perspektive (vgl. Keuchel 2012) –, sondern diese eher dem allgemeinen Freizeitbereich zuordnen. Unter der offenen Frage nach der persönlichen Kulturdefinition nennen junge Leute vor allem klassische Kultursparten, für die sich das Gros weitgehend gar nicht interessiert und beabsichtigt, diese frühestens mit 45 Jahren zu besuchen. Weitere Unterschiede zwischen Jung und Alt zeigen sich auch bei den Erwartungen an Kulturbesuche. Ältere ab 50 Jahren erwarten hier am ehesten »gute Unterhaltung« (61 %) und eine »gute Atmosphäre« (37 %). Die 14- bis 24-Jährigen äußern entsprechende Erwartungen deutlich seltener (45 % bzw. 24 %). Dagegen heben die jungen Leute (30 %) im Vergleich zu den Älteren (20 %) stärker den Bildungseffekt hervor. Gegebenenfalls hat die zunehmende Verlagerung von kulturellen Angeboten in den schulischen Sektor auch nachteilige Effekte in der Form, dass junge Leute Kunst und Kultur zunehmend als Lernstoff des Lehrplans wahrnehmen und nicht als ein bereicherndes Freizeitangebot mit Unterhaltungswert. Auffällig in der Analyse des zweiten »Jugend-KulturBarometers« war unter diesem Gesichtspunkt das vergleichsweise schlecht ausgeprägte, aktuelle Kulturinteresse unter jungen Leuten, die nur über schulische Multiplikatoren an künstlerisch-kreative Angebote, z.B. im Rahmen von Projektwochen, Schul-AGs oder Bildungsangeboten in Kultureinrichtungen, herangeführt wurden. Betrachtet man hier die unterschiedlichen Zugänge der jungen Leute zu bisher besuchten Bildungsangeboten in Kultureinrichtungen, kann festgestellt werden, dass sich der aktuelle Anteil der 14- bis 24-Jährigen mit starkem bzw. sehr starkem Kulturinteresse unter denen, die mit der Schule schon einmal ein Kulturangebot besucht haben (16 %), und denen, die noch nie ein entsprechendes Angebot besuchten (14 %), kaum unterscheidet. Nahezu doppelt so hoch ist dieser Anteil unter den 14- bis 24-Jährigen, die bisher nur privat ein entsprechendes Angebot besuchten (30 %). Am höchsten ist er jedoch unter den jungen Leuten, die bisher privat und schulisch ein entsprechendes Angebot besuchten (43  %). Hat der private Zugang den Vorteil, dass man das Bildungsangebot in einem freiwilligen und Freizeitkontext erlebt, hat letztlich der schulische Zugang auch einen Vorteil gegenüber dem Privaten, der nach den vorliegenden Daten vor allem vom

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Elternhaus initiiert wird: Bei einem Kulturausflug mit der Schule befindet man sich unter Gleichaltrigen. Möglicherweise gehört zur »Erfolgsformel« in der Kulturvermittlung neben der Qualität, dass kulturelle Bildungsmaßnahmen im Freizeitkontext mit Gleichaltrigen und relevanten Peergroups erlebt werden.

Abbildung 3: Aktuelles Interesse am Kulturgeschehen der 14- bis 24-Jährigen, differenziert nach dem bisherigen Besuch eines Bildungsangebots in Kultureinrichtungen und Art des Zugangs, ZfKf/Gfk 2010/11

Wirft man in diesem Sinne abschließend noch einmal einen Blick auf systematische Beziehungen zwischen den einzelnen beteiligten Multiplikatorengruppen und dem aktuellen Kulturinteresse der 14- bis 24-Jährigen, wird deutlich, dass vor allem die Beteiligung non-formaler Multiplikatoren in einem positiven Zusammenhang zum aktuellen Kulturinteresse junger Leute steht. Non-formale Akteure der kulturellen Bildung, hier z.B. kulturelle Bildungseinrichtungen, Vereine oder Religionsgemeinschaften, haben den Vorteil, dass ihre Angebote in der Freizeit stattfinden und oftmals partizipative Ansätze beinhalten, die zugleich gemeinsam mit Gleichaltrigen des eigenen sozialen Umfelds wahrgenommen werden.

Ergebnisse Jugend-KulturBarometer

Abbildung 4: Aktuelles Interesse am Kulturgeschehen der 14- bis 24-Jährigen, differenziert nach den Multiplikatoren, die bisher an Kulturvermittlungsprozessen beteiligt waren, ZfKf/Gfk 2004; 2010/11

Fazit – Empfehlungen für eine künftige, nachhaltige Kultur vermittlung Der vorausgehend diskutierte Zeitvergleich bescheinigt einen Teilerfolg für die kulturelle Bildungslandschaft: Es wurden mehr vor allem bildungsferne, junge Leute in der Kulturvermittlung über Schule erreicht. Zugleich verdeutlichen die Daten, dass dieser Teilerfolg bestenfalls als »Etappensieg« bezeichnet werden kann. Das Rezept »Mehr Kulturvermittlung gleich mehr Interesse« funktioniert nicht grundsätzlich. Verschiedene Ursachen sind hier denkbar. Möglicherweise ist die starke Konkurrenz im Kampf um das schwindende Freizeitbudget junger Leute, beispielsweise von Seiten sozialer Medien, der kommerziellen Freizeitindustrie, aber auch einer zunehmenden Leistungsgesellschaft, mit dafür verantwortlich, dass es allgemein schwieriger wird, nachhaltige Interessen im Kulturbereich zu stärken. Erste erfolgreiche Schritte im Sinne von mehr Chancengleichheit in der kulturellen Bildung wurden in den letzten Jahren unternommen. Zu nennen sind hier nur exemplarisch »Jedem Kind ein Instrument«, »TuSCH«, oder das NRW-Landesprogramm »Kultur und Schule«. Die nächsten Schritte liegen, neben Überlegungen zu flächendeckenden Maßnahmen, in Überlegungen zur Gestaltung von erfolgreichen Bildungsformaten. In diesem Kontext werden aktuell auch schon einige Anstrengungen unternommen. Möglicherweise sind bewährte Formate

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wie die traditionelle Schulklassenführung im Museum doch nicht so wirksam und gehören auf den Prüfstand. Die vorliegenden Ergebnisse regen dazu an, stärker noch über Kooperationsstrategien nachzudenken, die das soziale Umfeld und Peergroups miteinbeziehen. Schule kann und sollte man bei Kulturvermittlungsstrategien nicht außer Acht lassen, will man Chancengleichheit in der kulturellen Bildung ermöglichen. Vielleicht bedarf es hier jedoch eines weiteren, stärkeren Austauschs mit außerschulischen Partnern, um Charaktermerkmale non-formaler Bildungsprozesse in die Kulturvermittlung zu integrieren und auch in schulischen Kontexten, beispielsweise im Ganztag, zu bewahren, als freiwillige, gemeinschaftliche und partizipative Prozesse, in denen junge Multiplikatoren eigenverantwortlich kulturelle Prozesse mitgestalten und ihnen hierzu auch ausreichend eigene Frei(zeit)Räume zugestanden werden.

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Menschen mit Migrationshintergrund als Kulturpublikum Erkenntnisse des aktuellen Forschungsstands für ein erfolgreiches Audience Development Vera Allmanritter

Schon im Jahr 2005, als sich Deutschland offiziell zu seiner Rolle als Einwanderungsland bekannte (vgl. Meier-Braun/Weber 2013), war eine Auseinandersetzung des Kunst- und Kulturbereichs mit den hierzulande lebenden Menschen mit Migrationshintergrund hochaktuell, denn in vielen Großstädten konnte kaum noch von unbedeutenden Minderheiten gesprochen werden (bspw. Stuttgart 40 %, Frankfurt a.M. 39 %, Nürnberg 37 %). (Vgl. Statistisches Bundesamt 2009: 8). Ausgeprägte Wanderungsbewegungen innerhalb der Europäischen Union nach Deutschland sowie ein deutlicher Anstieg der Asylbewerberzahlen seit etwa dem Jahr 2011 haben die Aktualität dieses Themenfelds noch verstärkt (vgl. Alscher 2015, OECD 2015). Bereits im Jahr 2008 gaben 55 % der deutschen Kulturinstitutionen an, dass sie sich (wenn auch großteils nicht intensiv) mit dem Themenfeld beschäftigten. Den Stellenwert dieser Zielgruppe innerhalb der nächsten fünf Jahre schätzten 56 % der Institutionen als gleichbleibend ein, 43 % prognostizierten sogar eine Steigerung (vgl. Allmanritter 2009: 16, 35). Dennoch wird sowohl in der kulturpolitischen Diskussion als auch in der Forschungsliteratur weiterhin auf bislang mangelnde, konzeptionell-theoretische Grundlagen, eine inadäquate kulturelle Infrastruktur und Defizite bei der konkreten Ansprache dieser Zielgruppe sowie eine ungenügende Beachtung von Menschen mit Migrationshintergrund bei Planungsprozessen hingewiesen (vgl. Höhne 2012: 136, Kulturpolitische Gesellschaft 2010: 9). Obwohl sich insbesondere die empirische Kulturbesucherforschung ebenfalls seit etwa dem Jahr 2005 mit dieser Thematik intensiv beschäftigt hat (bspw. Gerhards 2013a, Keuchel 2012, Cerci/ Gerhards 2009, Cerci 2008) und trotz der inzwischen vielerorts vorhandenen praktischen Erfahrungen hinsichtlich einer solchen interkulturellen Öffnung (dargestellt bspw. in Allmanritter/Siebenhaar 2010, Schneider 2011, Mandel 2013),

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stehen offenbar viele Kulturinstitutionen weiterhin vor Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung. Eine Begründung hierfür könnte in der durch die Forschung bislang nicht abschließend beantworteten grundlegenden Frage liegen, wie auf Menschen mit Migrationshintergrund am gewinnbringendsten zugegangen werden kann. Sind bei der Ansprache verschiedener Zielgruppen die Betonung deren Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Milieus (Milieumarketing), deren nationale Herkunft und (herkunfts-)kulturelle Wurzeln (Ethnomarketing) oder eine Kombination beider Faktoren besonders zielführend? Der hier vorliegende Beitrag wird hinsichtlich dieser Fragestellung die bisherigen Erkenntnisse der Kulturmanagementforschung zur Ansprache von Menschen mit Migrationshintergrund zusammenfassen und dabei auch auf die Ergebnisse einer aktuellen empirischen Studie der Autorin eingehen.

Erkenntnisse aus dem aktuellen Forschungsstand der letzten zehn Jahre In den letzten zehn Jahren wurden im Rahmen der empirischen Kulturpublikumsforschung mehrere Arbeiten vorgelegt, die sich in einer breiten Perspektive mit Menschen mit Migrationshintergrund als potenzielle Nachfrager von Kulturangeboten beschäftigen. Hierbei lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen an dieses Themenfeld feststellen: Ein Fokus auf soziale Milieus innerhalb der Bevölkerung mit Migrationshintergrund und ein Fokus auf verschiedene nationale bzw. ethnische Wurzeln von Menschen mit Migrationshintergrund. Die empirische Studie »Die Milieus der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland« (2008) des Marktforschungsunternehmens Sinus beleuchtet das Kulturnutzungsverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund nach sozialen Milieus (bspw. Gerhards 2013a, Der Ministerpräsident des Landes NordrheinWestfalen 2010, Cerci/Gerhards 2009, Wippermann/Flaig 2009, Sinus 2008, 2007a, b). Aus dieser Studie lassen sich die folgenden Kernergebnisse ableiten: • Der individuelle Migrationshintergrund einer Person beeinflusst nicht deren Milieuzugehörigkeit (vgl. Gerhards 2013a: 10). • Personen mit verschiedenem Migrationshintergrund, die demselben sozialen Milieu angehören, sind sich ähnlicher als Personen mit dem gleichen Migrationshintergrund aus verschiedenen sozialen Milieus (vgl. ebd.). • Der individuelle Migrationshintergrund einer Person beeinflusst deren Alltagskultur (vgl. ebd.). • Das Kulturnutzungsverhalten einer Person ist nicht abhängig von deren individuellem Migrationshintergrund, sondern von deren Bildung, Einstellungen, sozialer Lage und Herkunftsraum (Großstadt vs. ländliche Region) (vgl. Cerci/ Gerhards 2009: 3).

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• Es wurden acht Herkunftskultur übergreifende Migranten-Milieus identifiziert, die sich in ihren Wertorientierungen, Lebensauffassungen und -stilen sowie ihrer kulturellen Identität, ihren kulturellen Interessen und ihrer Kultur- und Mediennutzung deutlich voneinander abgrenzen lassen (vgl. Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2010). Doch gleichzeitig finden sich in sechs von den acht Migranten-Milieus im Rahmen der Beschreibung der konkreten kulturellen Präferenzen oder Kulturnutzung explizite Hinweise, dass Bezüge zu den jeweiligen herkunftskulturellen Wurzeln eine nicht unbedeutende Rolle spielen. Dies gilt für das »Adaptive bürgerliche Milieu« (16 %), das »Statusorientierte Milieu« (12 %), das »Religiös-verwurzelte Milieu« (7 %), das »Traditionelle Arbeitermilieu« (16 %), das »Entwurzelte Milieu« (9 %) sowie für das »Hedonistisch-subkulturelle Milieu« (15 %). Nur in den Beschreibungen zweier Milieus finden sich explizite Präferenzen für Angebote aus einer spezifischen (eigenen) Herkunftskultur nicht. Ihr Fokus ist sehr international und ihr Selbstverständnis kosmopolitisch: Dies gilt für das »Multikulturelle Performermilieu« (13 %) und das »Intellektuell-kosmopolitisches Milieu« (11 %) (vgl. Gerhards 2013a: 52ff, Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2010: 18ff, Wippermann 2010: 12ff, Cerci/Gerhards 2009: 16ff, Cerci 2008a: 8ff.). Zudem wird innerhalb der Publikationen zu den Migranten-Milieus festgestellt: Einwanderer möchten sich in Kunst und Kultur stärker repräsentiert sehen. Menschen mit Migrationshintergrund signalisieren hohes Interesse an Kunst und Kultur, sofern ihnen überzeugende Identifikationsangebote gemacht werden. Ihre Lebenserfahrungen sollten sich in den Inhalten, sie selbst wollen sich in den Akteuren spiegeln. (Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2010: 15)

Beeinflusst die individuelle Migrationserfahrung bzw. der Migrationshintergrund einer Person deren kulturelle Interessen, deren Wünsche und Erwartungen an Kulturangebote und davon abgeleitet deren Kulturnutzungsverhalten also doch maßgeblich? Ergebnisse aus empirischen Studien, die Menschen mit Migrationshintergrund aufgeteilt nach den Herkunftsnationen/-ethnien beleuchten, bejahen die Frage. In diesen Forschungsarbeiten werden entweder Menschen mit Migrationshintergrund oder Menschen verschiedener Migrationshintergründe in ihrem Kulturnutzungsverhalten gegenübergestellt (bspw. Keuchel 2015, 2012, Keuchel/Larue 2012, Cerci 2008, Keuchel/Wiesand 2006). Sie stellen als Kernergebnisse fest: • Der individuelle Migrationshintergrund einer Person übt (neben weiteren Einflussfaktoren wie vor allem deren Bildung und Alter, Werthaltung i.d. Familie) einen ganz spezifischen und konkreten Einfluss auf deren kulturelles Interesse und Kulturnutzungsverhalten aus. Denn eine spezifische kulturelle

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Infrastruktur, kulturgeschichtliche Traditionen sowie politisch und kulturpolitisch gewachsene, gesellschaftliche Wertesystemen bewirken Erfahrungen und Praktiken sowie die Entwicklung von Seh- und Hörgewohnheiten bei der Kunstrezeption, die diese Person während ihrer Migration aus dem Herkunftsland in das Aufnahmeland mitbringt (vgl. Keuchel 2015, 2012: 81ff, 88ff, 102ff, 183ff, Keuchel/Larue 2012: 144ff, Keuchel 2006: 61ff.). Ein Einfluss des Herkunftslands einer Person oder deren Vorfahren kann insbesondere beobachtet werden, wenn gravierende Unterschiede zwischen der hiesigen kulturellen Infrastruktur und der des Herkunftslands einer Person vorhanden sind. Dies ist vor allem der Fall, wenn jenes Herkunftsland nichteuropäisch geprägten Kulturräumen (bspw. türkischen, solchen im Nahen Osten oder in Nordafrika) zuzuordnen ist (vgl. Keuchel 2015, 2012: 82f.). Dieser Effekt gilt nicht nur für diejenigen, die selbst migriert sind, denn er geht im Generationenverlauf ihrer Nachkommen nicht völlig verloren. So interessieren sich bspw. Jugendliche der zweiten oder dritten Migrantengeneration aus osteuropäischen Ländern (v.a. Russland) entsprechend der traditionell hohen Bedeutung dieser Angebote in diesem Kulturraum stärker für klassische Kulturangebote und seltener für zeitgenössische oder avantgardistische Kulturangebote, Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund häufiger für Kulturangebote aus dem islamischen bzw. arabischen Kulturkreis als diejenigen ohne oder mit anderweitigem Migrationshintergrund (vgl.: Keuchel 2012: 64ff., 81ff., Keuchel/Larue 2012: 144ff., 171, Keuchel/Mertens 2011: 4, Keuchel 2006: 61ff.). Der Migrationshintergrund und die damit verbundene hybride, bi- oder multikulturelle Mischidentität einer Person führen bei dieser zu einem weiten Kulturbegriff. Während Menschen ohne Migrationshintergrund den Schwerpunkt vor allem auf die klassischen Künste legen, nennen Menschen mit Migrationshintergrund vergleichsweise (auch) stärker Bereiche wie »Lebensweise«, »kulturelle Diversität«, »Familie« oder »Religion« (vgl. Keuchel 2015, 2012: 36ff.). Die Migrationserfahrung einer Person oder ihrer Vorfahren bewirkt eine große Aufgeschlossenheit für kulturelle Angebote aus verschiedenen Kulturräumen. Während Menschen mit Migrationshintergrund sich sowohl für Angebote aus dem europäischen Kulturraum als auch oftmals zusätzlich für Angebote aus anderen Herkunftskulturen interessieren, beschränken Menschen ohne Migrationshintergrund ihr Interesse an Kunst und Kultur primär auf Angebote aus dem europäischen Kulturraum (vgl. Keuchel 2015, 2012: 86ff.). Angehörige der dritten Migrantengeneration haben ein weit größeres Interesse an kulturellen Angeboten als Menschen ohne Migrationshintergrund. Dies gilt auch im Vergleich zu denjenigen, die zur gleichen Altersgruppe (14- bis 24-Jährige) gehören (vgl. Keuchel 2015, 2012: 83ff.). Von den Jüngeren ohne Migrationshintergrund unterscheidet sie auch ihr vergleichsweise höheres Interesse an klassischen Kunstformen. Dennoch werden 14-24 Jährige mit

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Migrationshintergrund von klassischen Kultureinrichtungen vergleichsweise seltener erreicht (vgl. ebd.).

Kernergebnisse einer aktuellen Studie der Autorin Sind Informationen über die Zugehörigkeit zu einzelnen Migranten-Milieus für eine Ansprache von Menschen mit Migrationshintergrund als Kulturbesucher ausreichend? Würde eine Kombination mit Informationen zum je spezifischen Migrationshintergrund einer Zielgruppe die Erfolgschancen der Ansprache nicht bei fast allen Milieus erhöhen? In ihrem aktuellen empirischen Forschungsprojekt versuchte die Autorin dieses Beitrags, den Milieu-orientierten Ansatz mit dem national/ethnisch orientierten Ansatz zu verbinden, um Antworten auf diese Fragen zu finden (vgl. Allmanritter 2016/17). Hierfür wurden im Rahmen einer heuristischen Studie mit einem neu entwickelten Verfahren exemplarisch etwas mehr als 50 Angehörige des »Intellektuell-kosmopolitischen Milieus« von Sinus identifiziert. Eine Zuspitzung auf dieses Milieu erfolgte aus dreierlei Gründen: • Es handelt sich dabei von acht Migranten-Milieus um dasjenige, das (Hoch-) Kulturangebote vergleichsweise am häufigsten nutzt (vgl. Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2010:  94ff.). Dessen Ansprache bedeutet für Kulturinstitutionen das höchste Synergiepotenzial mit bisherigen Aktivitäten und somit den geringsten Aufwand und das kleinste Risiko (vgl. Allmanritter/Siebenhaar 2010: 182) und ist somit für erste Bemühungen der Ansprache von Menschen mit Migrationshintergrund als (potenzielle) Besucher (zunächst) besonders attraktiv. • Dieses Milieu wird in der Sinus-Studie als Leitmilieu beschrieben, das als ein Vorbild und Multiplikator deutlichen Einfluss auf das Kulturnutzungsverhalten anderer Milieus ausüben kann (vgl. Gerhards 2013a: 55f.). Da sich in diesem Milieu viele Künstler/-innen und Kulturmanager/-innen befinden und sich die Milieuangehörigen in kulturell vermittelnder Funktion verstehen, bringt es ein großes Potenzial für eine interkulturelle Vermittlerrolle mit (vgl. Gerhards 2013a: 104, Der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen 2010: 94ff.). • Es war davon auszugehen, dass die Milieuangehörigen aufgrund ihrer ausgeprägten Erfahrungswerte mit der Nutzung von Kulturangeboten substanzielle Anregungen für Entwicklung von Audience-Development-Strategien in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt geben können. Des Weiteren erschienen sie aufgrund ihrer kosmopolitischen Ausrichtung als besonders geeignet, um zu überprüfen, ob herkunftskulturelle Einflussfaktoren tatsächlich hinter den Einfluss der Milieuzugehörigkeit zurücktreten. Die ausgewählten Personen wurden anschließend in qualitativen Interviews intensiv und ergebnisoffen nach ihren kulturellen Interessen und ihrem Kulturnut-

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zungsverhalten (bspw. Breite und Frequenz, geografischer Radius, Informationswege, Sprach-, Preis- und Ticketingpräferenzen, präferierten Begleitpersonen, kombinierte Aktivitäten) und nach Hinweisen auf Besuchsanreize beziehungsweise Nutzungsbarrieren für sie selbst und andere Migranten-Milieus befragt. Aufgrund des breiten kulturellen Angebots und der vergleichsweise hohen Anzahl von Menschen mit Migrationshintergrund vor Ort wurde diese Befragung in den Großstädten Berlin, Frankfurt a.M. und in Stuttgart realisiert. Da sich aus der bisherigen Forschung kulturraumbedingt für zwei in allen diesen Städten große Migrantengruppen deutliche Unterschiede in ihrem Kulturnutzungsverhalten erwarten ließen – Menschen mit türkischem Migrationshintergrund gegenüber Menschen aus Ländern der ehemalige Sowjetunion (vgl. bspw. Keuchel 2012, Keuchel/Wiesand 2006, siehe vorne) –, stammten die Befragten zu Vergleichszwecken aus diesen zwei Herkunftsländern. Die Studie kam zu folgenden, ausgewählten Kernergebnissen: • Der unterschiedliche Migrationshintergrund der Befragten übte äquivalent zur Beschreibung des »Intellektuell-kosmopolitischen Milieus« keinen sichtbaren Einfluss auf die Antworten aus, die sie auf Fragen zu ihrem generellen Kultur- und Mediennutzungsverhalten gaben: • Sowohl die Befragten mit türkischem Migrationshintergrund als auch diejenigen mit Migrationshintergrund aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion wiesen milieubedingt ein sehr hohes Interesse an und eine sehr hohe Nutzungsfrequenz von verschiedensten kulturellen Angeboten auf (Hochkultur wie Populärkultur, klassisch wie zeitgenössisch). • Da Angehörige aus beiden Befragtengruppen angaben, zu einem sehr hohen Anteil selbst die Initiatoren für gemeinschaftliche Kulturbesuche zu sein, zeigte sich auch das milieutypische, äußerst hohe Potenzial als Mittler und Multiplikatoren für Kulturangebote zu fungieren in beiden Gruppen in gleichem Maße. • Wie aus der Milieubeschreibung zu vermuten war, galt für die Befragten mit türkischem Migrationshintergrund und Migrationshintergrund aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion gleichermaßen, dass neben Empfehlungen aus dem persönlichen Umfeld das Internet als Informationsquelle für Kunst und Kultur die größte Rolle spielte (dabei insbesondere die Social Media-Plattform Facebook). • Besuchsbarrieren aufgrund von Sozialisation und Vorbildung hatten für beide Befragtengruppen keine herausragende Bedeutung, da sie als Mitglieder eines gehobenen Milieus über ausreichend »kulturelles Kapital« verfügten (vgl. hierzu urspr. Bourdieu 1982). • Bezogen auf ihr konkretes Kultur- und Mediennutzungsverhalten sowie auf Barrieren für andere Migranten-Milieus zeigten sich jedoch herkunftsbedingte Unterschiede zwischen beiden Befragtengruppen:

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• Befragte mit türkischem Migrationshintergrund und mit Migrationshintergrund aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion gaben an, dass sie sich für Angebote aus allen Ländern der Welt interessieren und diese auch nutzen. In den Antworten auf vertiefende Fragen stellte sich jedoch heraus, dass Angebote (auch »cross-culture«), die einen Bezug zu speziell ihrer jeweiligen Herkunftskultur haben, für sie im Vergleich dennoch eine besondere Attraktivität haben. • Zudem zeigte sich zwischen den Befragtengruppen in Bezug auf die Präferenzen für einzelne Kulturangebote ein Unterschied, der die oben aufgeführten Forschungsergebnisse zum ästhetisch prägenden Einfluss von Herkunftskulturräumen auf die Kulturnutzung zumindest in der Tendenz zu bestätigen scheint: Im Gegensatz zu Befragten mit türkischem Migrationshintergrund gaben einige Befragte aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion an, dass sehr moderne Inszenierungen bei klassischen Konzerten, Opern, Operetten, Sprechtheatern und Tanztheatern sie abschrecken könnten. • In beiden Befragtengruppen spielte die Nutzung herkunftssprachlicher Medien bzw. von Medien aus ihrer jeweiligen Herkunftskultur als Informationsquellen für Kunst und Kultur eine Rolle. Im Vergleich zu deutschsprachigen Medien nahmen diese aber einen geringeren Stellenwert ein. Trotz ausgezeichneten Deutschkenntnissen, gaben beide Befragtengruppen an, dass sie Informationsmaterial in ihrer jeweiligen (evtl. zweiten) Herkunftssprache im Rahmen einer generellen Mehrsprachigkeit sehr attraktiv fänden. • Als vermutete Besuchsbarrieren nannten sowohl Befragte mit türkischen als auch Befragte aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion für eher kunst-ferne Migranten-Milieus neben mangelnder Vorbildung und sozialen Gründen eine mangelnde interkulturelle Kompetenz der Kulturinstitutionen, die fehlende Spiegelung ihrer unterschiedlicher, (auch) herkunftskulturell geprägter Lebenswelt in der Programmpolitik sowie das Fehlen von Angeboten und Informationsmaterial in ihrer jeweiligen (evtl. zweiten) Herkunftssprache. • Die Befragten mit Migrationshintergrund aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion ergänzten an dieser Stelle die Vermutung, dass speziell sehr moderne Inszenierungen dem Geschmack der Mehrheit der Menschen mit dieser Herkunftskultur nicht entsprächen und insbesondere bei eher kunst-fernen Milieus eine starke Abschreckungswirkung haben könnten. • Beide Befragtengruppen gaben übereinstimmend an, dass eine Steigerung der interkulturellen Kompetenz innerhalb von Kulturinstitutionen sowie Bezüge zu ihrer jeweiligen Herkunftskultur in deren Programmplanung und Kommunikation (auch) für sie selbst große Besuchsanreize darstellen würden. Die Studie kommt zusammenfassend zu dem Schluss, dass das allgemeine Kultur- und Mediennutzungsverhalten der Befragten auch bei verschiedenem Migrationshintergrund (türkisch/ehemalige Sowjetunion) sehr stark mit der

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Beschreibung des »Intellektuell-kosmopolitischen Milieus« in der Migranten-Milieu-Studie von Sinus übereinstimmt. Damit unterscheidet es sich in seinem Kultur- und Mediennutzungsverhalten gleichzeitig deutlich von der Beschreibung anderer Milieus innerhalb der Sinus-Studie. Ein rein milieubasiertes Vorgehen bei der Ansprache von Angehörigen des »Intellektuell-kosmopolitischen Milieus« ist somit unabhängig von deren jeweiligen Migrationshintergrund zielführend und müsste auf andere Art und Weise erfolgen als eine Ansprache der anderen sieben Migranten-Milieus. In Übereinstimmung mit der Sinus-Studie wird ebenfalls sehr deutlich, dass ein rein herkunftsbasiertes Vorgehen bei der Ansprache von Menschen mit Migrationshintergrund ohne Informationen zu ihrer Milieuzugehörigkeit dagegen nicht zu empfehlen ist. Es zeigen sich in der Studie bezüglich des spezifischen Kultur- und Mediennutzungsverhaltens herkunftsbedingte Unterschiede zwischen jenen mit türkischem Migrationshintergrund und jenen mit Migrationshintergrund aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Dies verdeutlicht, dass zumindest bei diesen beiden Migrantengruppen Informationen zum individuellen ethnischen Migrationshintergrund der einzelnen Milieuangehörigen für Kulturinstitutionen vor allem in den Bereichen der Programmgestaltung und deren Kommunikation wertvolle Anknüpfungspunkte an deren (auch) herkunftskulturell geprägte Lebenswelt liefern können.

Wie gelingt eine zielführende Ansprache von Menschen mit Migrationshintergrund? Werden Informationen zu den Migranten-Milieus in Zielgruppen übersetzt, entspricht dies dem sogenannten »Milieumarketing«. Hierbei werden verschiedene Zielgruppen innerhalb der Bevölkerung gemäß ihrer jeweiligen Zugehörigkeit zu sozialen Milieus adressiert. Ein solches Vorgehen beinhaltet, dass die individuellen ethnischen oder nationalen Wurzeln von Menschen mit Migrationshintergrund (bspw. französische, chinesische, türkische oder russische) bei einer Ansprache durch Kulturinstitutionen vernachlässigt werden. In der Kulturmarketingliteratur wird seit langem darauf hingewiesen, dass eine Ansprache von Zielgruppen nach soziodemografischen Faktoren wie Alter, Geschlecht oder auch die nationale Herkunft grundsätzlich nur bedingt sinnvoll ist (vgl. Geyer 2008: 105, Klein 2005: 138 ff.). Auch die vorne aufgeführten Studien zeigen, dass soziale Milieus, die neben diesen Faktoren zudem Werte, Einstellungen und lebensweltliche Muster einbeziehen, für die Beschreibung von Bevölkerungsgruppen weit geeigneter sind. Idealerweise liegen Kulturinstitutionen entsprechend Angaben über die Verbreitung bestimmter Sinus-Milieus oder gar Sinus-Migranten-Milieus innerhalb ihres direkten Umfelds vor. Faktisch ist dies jedoch nur selten der Fall. Das Instrument zur Erfassung und die Methode zur Erstellung der SinusMigranten-Milieus sind nicht frei zugänglich, die Institutionen müssten erhebliche finanzielle Mittel aufwenden, um das Sinus Institut zu beauftragen. Zudem mangelt es vielen Institutionen noch an Wissen, wie eine Ansprache über (Mig-

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ranten-)Milieus konkret aussehen könnte (vgl. Gerhards 2013b, Barz et al. 2008, Barz/Tippelt 2007). Dennoch können auch die im Vergleich zur eigenen Situation abstrakten, allgemeinen und öffentlich zugänglichen Milieubeschreibungen maßgeblich zu einem besseren Verständnis von Kulturinstitutionen für einzelne soziale Gruppen innerhalb der Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund und der Bestimmung von (potenziellen) Zielgruppen für kulturelle Angebote beitragen. Werden Informationen zur nationalen bzw. ethnischen Herkunft in marketing- oder kulturvermittlungsrelevante Informationen für die Ansprache von Zielgruppen mit Migrationshintergrund übersetzt, entspricht dies dem sogenannten »Ethnomarketing« (vgl. Schammann 2014, Dorfner 2009). Hierbei werden verschiedene Zielgruppen innerhalb der Bevölkerung gemäß ihrer jeweiligen nationalen bzw. ethnischen Herkunft oder der ihrer Vorfahren angesprochen. Diese Herangehensweise ist im Profit-Bereich bereits etabliert, sieht sich jedoch – neben der vorne bereits aufgeführten mangelnden Erfolgswahrscheinlichkeit bei einer Ansprache über soziodemografische Faktoren – mit einem zentralen Forschungsergebnis der Kulturwissenschaften konfrontiert: Den Menschen mit Migrationshintergrund oder die homogenen Nationalkulturen, Ethnien oder Identitäten gibt es nicht (vgl. Bhabha 1994, Hall/Hall 1990, Hall 1990, Hall 1976). Da mit einer solchen Zielgruppenbildung und der Anwendung von Ethnomarketing die Gefahr verbunden ist, dass Unterschiede zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen konstruiert und verfestigt werden können, die in dieser Form gar nicht bestehen, wird ein solches Vorgehen durchaus kritisch betrachtet (vgl. Kulinna 2007, Schuchert-Güler/Eisend 2007). Ein Adressieren von Menschen mit Migrationshintergrund einzig über deren jeweilige nationale oder ethnische Wurzeln ist Kulturinstitutionen somit nicht zu empfehlen. Eine Kombination des Milieu-orientierten Ansatzes mit dem national/ethnisch orientierten Ansatz kann die Erfolgschancen einer Ansprache – bei vorsichtiger Annäherung, beständiger und kritischer Reflexion des Vorgehens – jedoch deutlich erhöhen, darauf deuten auch die Ergebnisse der Befragung des »Intellektuell-kosmopolitischen Milieus« hin. Wird stattdessen auf Informationen zum Migrationshintergrund einer Zielgruppe und auf ein hieran anknüpfendes spezifisches Audience Development verzichtet, lassen sich aus den Antworten der Befragten in der Studie der Autorin für verschiedene Sinus-Migranten-Milieus unterschiedliche Konsequenzen ableiten: Bei dem befragten kulturaffinen »Intellektuell-kosmopolitischen Milieu« mündet dies zwar nicht im Fernbleiben von (Hoch-)Kulturangeboten. Eine Berücksichtigung des Faktors »Migrationshintergrund« kann jedoch als nicht zu unterschätzender Besuchsanreiz und Mittel zur Besucherbindung wirken. Ein solches Vorgehen kann Interesse wecken, das Image der Kulturinstitutionen positiv beeinflussen und die Besuchsfrequenz erhöhen. Nicht zu unterschätzen sind hierbei auch potenzielle Mittler- und Multiplikatoreffekte, denn die Milieuangehörigen agieren oftmals als Impulsgeber für Kulturbesuche in ihrem Umfeld.

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Aus den Vermutungen der Befragten, was andere Migranten-Milieus mit einer vergleichsweise geringen Affinität zu (Hoch-)Kulturangeboten von einem Kulturbesuch abhält, lässt sich ableiten, dass eine Ansprache mit expliziter Bezugnahme auf den spezifischen Migrationshintergrund der jeweilige Milieuangehörigen unter Umständen ausschlaggebend dafür sein kann, dass ein solcher Kulturbesuch überhaupt stattfindet. Inwieweit dies tatsächlich zutrifft, müssten jedoch weitere, speziell auf Kulturangebote eher kunstferner Sinus-Migranten-Milieus bezogene Untersuchungen überprüfen.

Handlungsempfehlungen Aus den oben dargestellten Ergebnissen des aktuellen Forschungsstands lassen sich für Kulturinstitutionen, die im Rahmen von Audience Development mittels Kulturvermittlung und Kulturmarketing Menschen mit Migrationshintergrund gezielt als Publikum gewinnen und an sich binden möchten, die folgenden vier zentralen Handlungsempfehlungen ableiten: • Grundvoraussetzung für eine stärkere Berücksichtigung des Faktors »Migrationshintergrund« bei einer Ansprache von Migranten-Milieus ist eine Einbettung in eine ernst gemeinte, interkulturelle Öffnung der Kulturinstitutionen im Rahmen eines umfassenden und langfristig ausgelegten »Change-Managements«, das deutlich nach außen kommuniziert wird. • Eine besonders wichtige Rolle für ein zielführendes Audience Development zumindest hinsichtlich des »Intellektuell-kosmopolitischen Milieus« spielen Besuchsanreize im Bereich der Produkt- und Servicepolitik wie eine Programmerweiterung mit Angeboten von Regisseuren, Autoren und Komponisten aus der Herkunftskultur, Angebote in der (evtl. zweiten) Herkunftssprache und eine stärkere Präsenz von Künstlern, Musikern, Schauspielern aus der Herkunftskultur. Im Bereich der Kommunikationspolitik bietet eine Ansprache in der (evtl. zweiten) Herkunftssprache einen zusätzlichen Besuchsanreiz. Dass ein solches Vorgehen eventuell hilft, parallel Besuchsbarrieren für (Hoch-)Kulturangeboten fernere Milieus abzubauen, macht es umso empfehlenswerter. • Um hierbei zumindest innerhalb des »Intellektuell-kosmopolitischen Milieus« eine hohe Attraktivität für Angehörige möglichst vieler verschiedener Migrantengruppen zu erreichen, ist es zu empfehlen, ein künstlerisch hochwertiges und breites Angebotsspektrum mit verschiedensten herkunftskulturellen Bezügen in mehreren Sprachen anzubieten. Insbesondere herkunftskulturell hybride Angebote, bei denen etwas Gemeinsames und Neues in hoher künstlerischer Qualität entsteht, entsprächen den hybriden Identitäten vieler Menschen mit Migrationshintergrund und würden gleichzeitig Bezüge zu verschiedenen herkunftskulturellen Lebenswelten herstellen.

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• Da Angehörige des »Intellektuell-kosmopolitische Milieus« als Stammbesucher von Kulturangeboten in ihrem Umfeld als Mittler und Multiplikator agieren, ist es zudem äußerst lohnenswert, diese gezielt als Mittler anzufragen (bspw. durch ermäßigte Gruppenpreise, einfach weiterzugebendes Informationsmaterial). Mit entsprechenden Audience Development-Bemühungen können Kulturinstitutionen im Sinne eines Wertbeitrags für die Gesamtgesellschaft dazu beitragen, pluralistische gesellschaftlicher Realitäten besser abzubilden, Brücken zwischen Menschen mit und ohne oder mit verschiedensten Migrationshintergründen zu bauen und diesen Bevölkerungs-»Gruppen« eine chancengleiche Teilhabe im Kunst- und Kulturbereich zu ermöglichen. Weiterführende Schritte könnten in partizipativen Konzepten und einer Einbindung der neu zu gewinnenden Gruppen in die Weiterentwicklung von Kulturinstitutionen liegen. Bei all diesen Maßnahmen kann Kulturinstitutionen deutlich nahe gelegt werden, das Selbstverständnis des »Intellektuell-kosmopolitischen Milieus«, zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen kulturell vermittelnd zu agieren, in eine entsprechende Entwicklung einzubeziehen, und damit die große Chance zu nutzen, gemeinschaftlich eine kulturell diverse Zukunft des Kunst- und Kulturbereichs zu gestalten.

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Menschen mit Migrationshintergrund als Kulturpublikum

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Vera Allmanritter

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Ehrenamtliche von KulturLeben Berlin als erfolgreiche Mittler zwischen kulturellen Angeboten und Erstbesuchern Empirische Erkenntnisse zu einem Instrument kultureller Teilhabe Birgit Mandel und Thomas Renz

Seit über zehn Jahren taucht der Begriff »Audience Development« in den kulturpolitischen und kulturmanagerialen Diskursen in Deutschland auf (vgl. Reussner 2004). Mehrfach wurde seitdem bestätigt, dass nur ein vergleichsweise geringer Teil der deutschen Bevölkerung sich für Kunst interessiert und regelmäßig Kulturveranstaltungen besucht (vgl. Renz in diesem Band). Daher werden Instrumente gesucht, welche ein sozial diverseres Publikum forcieren und somit kulturelle Teilhabe qualitativ und quantitativ ausbauen können: Welche kulturpolitischen Programme und welche kulturmanagerialen Instrumente sind tatsächlich geeignet, um vielfältigere Gruppen der Gesellschaft stärker am öffentlichen bzw. öffentlich finanzierten, kulturellen Leben zu beteiligen? Die Erkenntnisse von Nicht-Besucherstudien zeigen, dass es nicht genügt, technisch relativ leicht veränderbare, besuchsverhindernde Barrieren wie beispielsweise Eintrittspreise oder unpassende Öffnungszeiten abzubauen, um neue Zielgruppen für Besuche öffentlich geförderter Kultureinrichtungen zu gewinnen. Ausschlaggebend ist die fehlende Grundmotivation, überhaupt Kulturveranstaltungen besuchen zu wollen. Als Ursache für dieses Desinteresse werden ungleich verteilte Bildungschancen und Prozesse sozialer Exklusion insgesamt vermutet (vgl. Renz 2016). Können neue, bürgerschaftliche Bewegungen wie die Kulturlogen, Kulturtafeln, Kulturdrehscheiben oder Kulturpforten, die sich in den vergangen Jahren deutschlandweit unter verschiedenen Namen, aber in der Regel mit ähnlichem Konzept, gründeten, um Eintrittskarten für kulturelle Veranstaltungen an Menschen mit geringem Einkommen zu vermitteln, tatsächlich bisherige Nicht-Besucher kultureller Veranstaltungen motivieren? Wie gelingt es diesen Organisationen, Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten, die ja keineswegs nur

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Birgit Mandel und Thomas Renz

finanzielle sind, zu überwinden? Unter dieser Fragestellung hat das Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim die Arbeit der Kulturloge Berlin1 in zwei empirischen Befragungen untersucht.

Die erste Befragung von 2011 – Erfolg durch persönliche Ansprache und ehrenamtliche Kultur vermittlerinnen Die Kulturloge Berlin, die größte ihrer Art in Deutschland, vermittelt nach dem Prinzip der Berliner Tafeln Karten für kulturelle Veranstaltungen, die nicht verkauft werden können. Erreicht werden die potenziellen Gäste vor allem über kostenlose Essensausgaben sowie Initiativen weiterer Sozialeinrichtungen wie Arbeitslosentreffs, Frauenhäuser etc. 2011 stellten 70, meist privatwirtschaftliche Institutionen unterschiedlicher kultureller Sparten, von Comedy bis zu klassischen Musikkonzerten, der Kulturloge ca. 2000 Karten pro Monat zur Verfügung. Jeden Monat konnten circa drei neue Einrichtungen dazu gewonnen werden. Vermittelt werden die Karten von gut 70 Ehrenamtlichen durch technische Unterstützung eines eigens entwickelten Softwareprogramms. Anfang 2011 wurden die bisher registrierten Gäste der Kulturloge Berlin mit Hilfe eines online-basierten, standardisierten Fragebogens ausführlich befragt. Zudem wurden qualitative Interviews mit den Vermittlerinnen und Organisatoren der Kulturloge Berlin geführt (Mandel/Renz 2011). Die empirischen Ergebnisse verwiesen darauf, dass das Ziel der Kulturloge, die kulturelle Teilhabe von bisherigen Nicht-Kulturbesuchern zu fördern, erreicht wurde. Mehr als die Hälfte der sogenannten Gäste hatte in den zwölf Monaten vorher so gut wie keine Kulturveranstaltungen besucht und wurde erst durch die Kulturloge dazu angeregt. Auch bei den Kulturnutzern, die über die Kulturloge vermittelt wurden, zeigte sich, dass Kulturnutzung mit hoher Bildung korreliert, denn immerhin hatten 50  % der befragten Gäste Abitur und/oder Hochschulabschluss, obwohl insgesamt unter den finanziell Bedürftigen sehr viel mehr mit niedriger Schulbildung vertreten sind. Dennoch waren unter den erreichten Menschen immerhin auch ca. 50  % mit mittlerer und niedriger Bildung, was viel ist im Vergleich zu den normalen Besuchern von institutionellen kulturellen Angeboten. Die Gäste der Kulturloge interessierten sich sowohl für klassische als auch für unterhaltsame Angebote und es war für sie wenig relevant, ob ein klassisches Konzert oder Kabarettprogramm im Angebot war. Als die häufigsten Motive für die Registrierung bei der Kulturloge wurden neben einem grundsätzlichen Interesse an Kulturveranstaltungen genannt, dass die Veranstaltungen kostenfrei sind sowie der Wunsch nach mehr sozialer und kultureller Teilhabe. 95 % der Gäste fühlten sich nach dem Kulturbesuch persönlich bereichert. 1 | 2015 hat sich die »Kulturloge Berlin« in »KulturLeben Berlin – Schlüssel zur Kultur e.V.« umbenannt. Der Begriff »Kulturloge« beschreibt in diesem Text keine Marke, sondern das Organisationsprinzip.

Ehrenamtliche als Mittler

Zwei Faktoren für diesen Erfolg konnten aus der empirischen Befragung extrahiert werden: die persönliche Ansprache der Gäste durch die ehrenamtlichen Vermittler und die Möglichkeit eine Begleitperson mitnehmen zu können. Erst durch die persönliche Vermittlung wurden die meisten der Gäste angeregt und explizit ermutigt, kulturelle Veranstaltungen (erstmalig) zu besuchen (obwohl sie z.B. auch über den sogenannten »berlinpass« für Einkommensschwache Karten zum Preis von nur 3 Euro erhalten könnten). Vor allem von Seiten der Kulturpolitik und öffentlichen Kultureinrichtungen befürchtete Mitnahmeeffekte können insofern weitgehend ausgeschlossen werden. Die aufwändige Tätigkeit der Kulturloge ist nur durch ein hohes ehrenamtliches Engagement erreichbar. Hauptamtlichen Mitarbeitern von Kulturinstitutionen würden der direkte Zugang zu diesen Zielgruppen und die Zeit für die persönliche Ansprache fehlen.

Hält der Erfolg an? Die Befragung von 2013 2013 wurden die Gäste der Kulturloge Berlin erneut durch die Universität Hildesheim quantitativ befragt, um zum einen Veränderungen im Zeitverlauf abzubilden und zum anderen ein neues Projekt der Kulturloge zur expliziten Ansprache von migrantischen Geringverdienern zu untersuchen (vgl. Renz 2013). Kernergebnis dieser auf fast 1.000 Interviews basierenden Onlinebefragung ist, dass die Kulturloge auch weiterhin ein Instrument darstellt, um bisher noch nicht kunstinteressierte Menschen für Kulturbesuche zu gewinnen. Weiterhin werden im Vergleich zum allgemeinen Kulturpublikum auch Menschen mit formal niedrigen Bildungsabschlüssen erreicht. Im Vergleich zur oben beschriebenen Anfangsphase, in der fast 50 % Erstbesucher und Menschen mit niedrigen Bildungsabschlüssen erreicht werden konnten durch Ansprache über die verschiedenen sozialen Einrichtungen, wird das Publikum jedoch zunehmend gebildeter und verfügt über mehr Kulturbesuchserfahrung vor der Registrierung bei der Kulturloge. Es nähert sich in Bezug auf verschiedene Strukturmerkmale tendenziell dem allgemeinen Kulturpublikum an. 2011 wurden 73  % der registrierten Gäste durch persönliche Ansprache in sozialen Einrichtungen (z.B. den Lebensmitteltafeln) gewonnen. Diese Art der Akquise ist immer noch der am häufigsten genannte Erstkontakt. Allerdings ist dieser Anteil 2013 auf 54 % zurückgegangen, während der Anteil der Gäste, die aufgrund von Empfehlungen durch Bekannte oder Freunde auf die Kulturloge aufmerksam geworden sind, von 7  % (2011) auf 25  % (2013) gestiegen ist. Dies ist auf die weiterhin sehr aktive und erfolgreiche PR- und Öffentlichkeitsarbeit der Kulturloge sowie auf die Zufriedenheit der Gäste zurückzuführen. Gleichzeitig ist dies aber auch ein Grund dafür, dass sich das Publikum der Kulturloge nach der Gründungszeit tendenziell dem allgemeinen Publikum von Kulturveranstaltungen anpasst, wodurch der Effekt, tatsächlich Menschen für Kulturveranstaltungen zu gewinnen, die zunächst keine Motivation und keine Erfahrungen hatten, abnimmt.

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Birgit Mandel und Thomas Renz

Das Konzept der Kulturloge erweist sich also einerseits weiterhin als ein effektives, nur durch großes Engagement der ehrenamtlichen Mitarbeiter zu ermöglichendes Instrument des Audience Developments, mit dem auch bislang nicht-kunstaffine Erwachsene erreicht werden können. Andererseits scheint es notwendig, auf die sich verändernden Besucherstrukturen zu reagieren und weiter an der Ansprache neuer Gäste und Erstnutzer kultureller Einrichtungen über die Essensausgaben und Sozialpartner zu arbeiten. Dies ermöglicht die Kulturloge auch über die hohe Anzahl von Gästen (ca. 3.600 Personen), die an soziale Einrichtungen angegliedert sind und als Gruppen angesprochen werden und die in der Befragung nicht berücksichtigt waren. Darunter sind auch Behinderteneinrichtungen, deren Klienten z.T. schwere kognitive Beeinträchtigungen haben.

Ausblick – Von der Kartenvermittlung zur Integrationsarbeit Auf Basis der zweimaligen Evaluation der Kulturloge Berlin sowie anderer, ähnlich angelegter Evaluationen z.B. von KulturRaum München, welche zu fast identischen Ergebnissen kommen (vgl. Maurer 2012), ist davon auszugehen, dass das Konzept zumindest in urbanen Räumen funktioniert. Zunehmend erfolgt die Ansprache potenzieller Gäste auch über spezifische soziodemografische Differenzierungen über den Faktor niedriges Einkommen hinaus. So gelang es etwa über die Vermittlung durch Multiplikatoren und die Ehrenamtlichen der Kulturloge, die Teilzielgruppe der Gäste mit Behinderung zu erreichen und zu mobilisieren. Eine andere empirische Befragung zeigte, dass 83 % der Gäste mit Behinderung vor der Teilnahme am Angebot der Kulturloge Berlin selten oder nie Kulturveranstaltungen besucht haben (vgl. Seifert 2014). Indem die Kulturlogen diese Gruppen direkt ansprechen und sie als Gäste zu Veranstaltungsbesuchen einladen, zum Teil auch begleiten, werden auch auf Seiten der Kultureinrichtungen Lerneffekte ausgelöst: »Verantwortliche in der Kulturszene werden dafür sensibilisiert, dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt zum Publikum gehören und ihren spezifischen Bedürfnissen beim Besuch von Veranstaltungen Rechnung zu tragen ist.« (Seiffert 2014: 45) Deutlich wurde an diesen Studien allerdings auch, dass die Ansprache einer durch ein bestimmtes soziodemografisches Merkmal gekennzeichneten Zielgruppe (in diesem Fall das unterdurchschnittliche Einkommen) einer noch stärkeren Binnendifferenzierung bedarf. Denn die Befragten gehören keineswegs den gleichen Milieus an und haben auch ganz unterschiedliche Vorerfahrung und Vorbildung in Bezug auf kulturelle Angebote. Noch deutlicher wird dies im Zusammenhang mit der Zielgruppe der migrantischen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit geringem Einkommen, die im Rahmen eines Projekts der Kulturloge Berlin, gefördert vom Staatsminister für Kultur und Medien, explizit adressiert werden (Kulturloge 2012). Diese Zielgruppe wurden zum einen durch mehrsprachige Flyer angesprochen, zum anderen erfolgte die telefonische Vermittlung

Ehrenamtliche als Mittler

häufig in der jeweiligen Herkunftssprache. Die Befragung im Rahmen der Studie von 2013 hat gezeigt, dass sich die Gäste mit Migrationshintergrund strukturell nur wenig von denen ohne Migrationshintergrund unterscheiden. Sie sind tendenziell sogar höher gebildet sowie jünger als der Durchschnitt der Gäste der Kulturloge und verfügen häufig über mehr Besuchserfahrung in der Vergangenheit (vgl. Renz 2013: 13). Zudem interessieren sie sich noch stärker für kulturelle Angebote für Kinder und Familien. Dies deckt sich mit der Erkenntnis aus anderen Studien, dass Herkunftskultur und Migrationshintergrund für kulturelle Teilhabe weitaus weniger bedeutend sind, als das soziale Milieu (vgl. Allmannritter in diesem Band). Bisherige Ansätze von Audience Development in Deutschland basierten auf Aktivitäten von Kultureinrichtungen und, wenn auch in weit geringerem Umfang, auf kulturpolitischen Programmen und Instrumenten. Mit den Kulturlogen kam ein neuer zivilgesellschaftlicher Akteur hinzu, der durch bürgerschaftliches Engagement die Bedeutung von Kunst und Kultur für die individuelle und gesellschaftliche Lebensqualität breit kommuniziert. Bürger und vor allem Bürgerinnen vermitteln ihre eigene Begeisterung für Kunst und Kultur an andere weiter und zwar ohne Verwertungsinteressen und vor dem Hintergrund eines breiten, hierarchiefreien Kulturbegriffs. Nachdem diese Organisationen sich nach einer Anfangs- und Auf bauphase konsolidiert haben, scheinen sie auch ihre Angebote auszudifferenzieren und sich neben der Vermittlung von Restkarten zunehmend auf vielfältigen Ebenen zu Akteuren der Förderung kultureller Teilhabe und Integration zu entwickeln. Exemplarisch kann das von der Aktion Mensch geförderte Projekt von KulturLeben Berlin zum Auf bau einer Koordinierungs- und Vernetzungsstelle für ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit zur Ermöglichung von kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe von Flüchtlingen in Berlin angeführt werden. Die ehrenamtlich aufgebauten Strukturen scheinen für diese Integrationsarbeit besonders prädestiniert zu sein. Es lohnt sich also auch für Kulturpolitik und Kulturverwaltung, diese Bewegung zu begleiten und zu unterstützen.

L iter atur Kulturloge 2012: Projektbeschreibung: »Kulturelle Teilhabe migrantischer GeringverdienerInnen«, URL: www.kulturlogeberlin.de/download.php?f=aa7b0 5676595730bdc4eb77b8e3efdd8&target=0 vom 22.11.2013. www.kulturleben-berlin.de/projekte/#ziel01 vom 21.03.2016 Mandel, Birgit/Renz, Thomas (2011): Die Evaluation der Kulturloge Berlin, Hildesheim. Maurer, Katharina (2012): Die Evaluation von KulturRaum München, München. Reussner, Eva Maria (2004): »Audience Development – Das Publikum von morgen. Konzepte und Strategien der Besucherentwicklung. Bericht über das 6. Berliner Forum für Kultur- und Medienmanagement am 18./19. Juni 2004

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Birgit Mandel und Thomas Renz

im Deutschen Technikmuseum Berlin«, URL: www.kulturmanagement.net/ downloads/audiencedevelop vom 08.06.2014. Renz, Thomas (2013): Kulturelle Teilhabe migrantischer Geringverdiener. Eine Befragung der Gäste mit Migrationshintergrund der Kulturloge Berlin und ein Vergleich der Entwicklungen aller Gäste zwischen 2011 und 2013, Hildesheim. Renz, Thomas (2016): Nicht-Besucherforschung. Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development, Bielefeld. Seiffert, Monika (2014): »Kulturelle Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Ergebnisse einer Befragung von Gästen der Kulturloge Berlin mit Behinderung und Darstellung der Workshop-Diskussion«, in: Mandel, Birgit/Renz, Thomas (Hg.), MIND THE GAP? Zugangsbarrieren zu kulturellen Angeboten und ein kritischer Diskurs über Konzeptionen niedrigschwelliger Kulturvermittlung, Hildesheim. S. 42-47.

KulturLeben Berlin – Arm, aber Lust auf mehr! Abbau von Barrieren zur Nutzung außerhäusiger Kulturangebote für Menschen mit geringen Einkünften durch persönliche Vermittlung Angela Meyenburg und Miriam Kremer

Die gemeinnützige, ehrenamtliche Arbeit von KulturLeben Berlin – Schlüssel zur Kultur e.V. (vormals Kulturloge Berlin) ermöglicht seit 2010 Menschen mit geringen Einkünften die Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben Berlins. Von kulturellen Partnereinrichtungen erhält KulturLeben Berlin nicht verkaufte Karten und vermittelt diese über freiwilliges bürgerschaftliches Engagement kostenlos an Menschen, die sich solche Tickets nicht leisten können. Das Angebot von KulturLeben Berlin richtet sich an Menschen mit einem Monatseinkommen von maximal 900 Euro netto. Interessierte melden sich bei sozialen Partnereinrichtungen oder bei KulturLeben direkt als Gast an, indem sie ihren Einkommensstatus nachweisen und ein Anmeldeformular ausfüllen. Dabei geben sie ihre kulturellen Vorlieben an. Einmal jährlich werden die Einkommensverhältnisse erneut überprüft. Beim Kulturbesuch müssen Gäste ihren Einkommensstatus nicht mehr darlegen, sondern nennen am Einlass ihren Namen (Prinzip der Gästeliste). Jeder Gast kann zudem eine Begleitung seiner Wahl in die Veranstaltung einladen. An Kinderveranstaltungen können Familien auch mit bis zu vier Kindern teilnehmen, sofern die Altersempfehlung berücksichtigt wird. Kulturveranstalter stellen KulturLeben Berlin nicht verkaufte Plätze zur Verfügung, die sonst nicht belegt wären. Die Anzahl der Plätze variiert von Veranstaltung zu Veranstaltung und wird von den Institutionen nach eigenem Ermessen festgelegt. Über KulturLeben können Kulturpartner ihre Auslastung verbessern und neue Zielgruppen ansprechen. So wird eine nachhaltige Ausnutzung vorhandener Ressourcen gefördert. Jeder Kulturplatz wird von freiwilligen Mitarbeitern im telefonischen Einzelgespräch an die Gäste vermittelt. Entspricht eine Veranstaltung den angegebenen Interessen der Gäste, werden diese angerufen und informiert. Der Gast kann sich

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Angela Meyenburg und Miriam Kremer

über das von Freiwilligen betreute Gästetelefon auch selbst nach aktuellen Veranstaltungen erkundigen. Das persönliche Gespräch, über das die Gäste eingeladen, beraten und motiviert werden, hat zentrale Bedeutung. Die Erfahrung zeigt, dass die Menschen sich durch die direkte telefonische Ansprache angenommen und erwünscht fühlen. Bei verbindlicher Zusage eines Kulturbesuchs werden Gäste beim Kulturpartner auf die Gästeliste gesetzt. Bleiben Gäste einer gebuchten Veranstaltung ohne Absage fern, erhalten sie einen Vermerk. Kommt dies mehr als dreimal vor, scheidet der Gast aus der Vermittlung vorerst aus. Soziale Institutionen haben die Möglichkeit, ihren Klienten das Angebot von KulturLeben Berlin vorzustellen und Anmeldungen entgegenzunehmen. Einrichtungen wie Frauenhäuser oder Behinderteneinrichtungen erhalten über KulturLeben Gruppenkontingente für ihre Klienten. Gemeinsam mit sozialen Partnern ermöglicht KulturLeben Berlin seit 2012 Menschen mit geistiger Behinderung die Teilhabe an Kultur: Gäste mit geringem Assistenzbedarf können unabhängig von Gruppen Veranstaltungen mit einer Begleitung ihrer Wahl besuchen. Für vorbildliches Engagement im Bereich der sozialen Inklusion wurde KulturLeben Berlin im September 2014 mit dem PHINEO Wirkt-Siegel ausgezeichnet.

Gründe für die Nicht-Teilhabe am öffentlichen außerhäusigen Kulturleben bei Menschen mit geringem Einkommen Menschen, die lange nicht mehr am kulturellen Leben teilgenommen haben, verlieren nicht nur die Kenntnis über dieses, sondern geraten immer mehr in eine sowohl gefühlte als auch tatsächliche Außenseiterrolle. Die Situation verschärft sich bei Menschen, die vor ihrer Arbeitslosigkeit Kulturveranstaltungen selten oder gar nicht besuchten. In der aktuellen prekären Situation verspüren sie keine Motivation und haben nicht das notwendige Selbstbewusstsein, sich bislang unbekannte Orte zu erobern. Innerhalb familiärer Strukturen wird es in einer solchen Situation schwierig, positive Erfahrungswerte für Kinder zu schaffen. Auch mangelhafte elterliche und schulische (kulturelle) Erziehung bei Kindern und Jugendlichen führt häufig zu einem wenig ausgeprägten Selbstwertgefühl in Bezug auf Kunst und Kultur. Auch psychische Barrieren wie Depressionen oder soziale Phobien und Ängste, die sich auf körperliche Beeinträchtigungen beziehen, können Kulturbesuche verhindern. Weitere Gründe, die einem Kulturbesuch dieser Gruppen entgegen stehen, sind Angst vor mangelndem »Fachwissen«, kulturelle und sprachliche Barrieren, Unsicherheiten über die gesellschaftlichen Codes in einer Kultureinrichtung (»Wie benehme ich mich richtig? Was ziehe ich an?«). Die genannten Lebenssituationen führen häufig zu sozialer Isolation. Kommt noch finanzielle Armut hinzu, fällt es vielen Menschen schwer, eigenständig den Weg (zurück) zu gesellschaftlicher und kultureller Teilhabe zu bewältigen. Nur wenige Menschen, die meist selbst im kulturellen Bereich tätig sind bzw. waren oder die durch ihre Ausbildung bereits Zugang zu Kultur erlangten, können sich diesem Automatismus entziehen.

KulturLeben Berlin – Arm, aber Lust auf mehr!

Viele Menschen mit kognitiven Einschränkungen und/oder körperlicher Behinderung können trotz eventuell vorhandener Motivation Kulturveranstaltungen nicht eigenständig besuchen, sondern benötigen Begleitung. Die aus der sozialen Situation der Menschen resultierenden, psychischen Barrieren zu durchbrechen, ist für Kulturveranstalter selbst kaum zu leisten. Häufig ist es unmöglich, im Rahmen der »normalen« Aktivitäten der Besucherorientierung und der Kulturvermittlung die dafür notwendigen Kapazitäten aufzubringen.

Gezielte Ansprache von Geflüchteten als Gäste Seit 2012 ermöglicht KulturLeben Berlin Geflüchteten die Teilnahme an Kulturund Freizeitveranstaltungen; KulturLeben arbeitet dafür mit zahlreichen Einrichtungen der Flüchtlingshilfe zusammen. Darunter sind Initiativen der Willkommenskultur, soziale Partner, Partner aus Verwaltung und Politik, externe Bildungseinrichtungen und Kultureinrichtungen. Seit 2016 erhält der Verein eine Projektförderung von Aktion Mensch zum Auf bau einer Koordinierungsund Vernetzungsstelle für Flüchtlingsarbeit auf der Basis freiwilligen Engagements. Der Schwerpunkt liegt auf der Vermittlung kostenloser Kulturplätze an Menschen auf der Flucht. Dazu zählen Einzelpersonen, Familien oder Gruppen. Zur Überbrückung von Sprachbarrieren werden Gäste bei Bedarf durch mehrsprachige Flyer informiert und bei der telefonischen Kulturvermittlung in der eigenen Familiensprache kontaktiert. Um Hemmschwellen zu senken, werden freiwillige Mitarbeiter eingeladen, Geflüchtete zu Kulturveranstaltungen zu begleiten. Das gemeinsame Erleben soll den Austausch zwischen Geflüchteten und Berlinern fördern und das gegenseitige Verständnis stärken. KulturLeben steht den Freiwilligen für Fragen und Rückmeldungen zur Verfügung und bietet diesen Fortbildungen zu folgenden Themen: • Unterstützung im Umgang mit eigenen Erwartungen, Zielen und Erfahrungen; Erfahrungsaustausch und Diskussion • Rechte und Pflichten freiwilliger Begleiter; Beschwerdemanagement • Umgang mit sprachlichen Verständigungsschwierigkeiten • Ausbildung und Entwicklung interkultureller Kompetenzen • Sensibilisierung im Umgang mit psychisch belasteten und traumatisierten Menschen • Kenntnisse zur sozialrechtliche Lage geflüchteter Menschen; aufenthaltsrechtliche Grundlagen Durch die Dokumentation der einzelnen Begleitungen durch Freiwillige (standardisierter Fragebogen) werden wichtige Erfahrungen und Erkenntnisse gesammelt und ausgewertet, die zur besseren Umsetzung der Projektziele beitragen

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sollen. Erste Erkenntnisse zeigen, dass v.a. folgende Barrieren eigenständigen Kulturbesuchen Geflüchteter (zunächst) im Weg stehen: • • • •

Sprachliche und kulturelle Barrieren Psychische Belastungen und Traumata (Krieg, Flucht, Verfolgung etc.) Mangelndes Bewusstsein/Selbstbewusstsein Stress angesichts der unklaren Lebenssituation und fehlender Perspektiven (Wie geht es weiter?) • Angst und Unsicherheit angesichts neuer unbekannter Orte (Was erwartet mich am Kulturort?) • Fehlende Orientierung (Wie komme ich zum Kulturort?) • Mangelnde Kenntnis und/oder Information über kulturelle Angebote in Deutschland Die Erfahrung zeigt, dass viele Flüchtlinge Gruppenangebote wahrnehmen, da zu Beginn die eigenständige Orientierung häufig schwer fällt. Menschen, die in Flüchtlingsheimen leben, identifizieren sich in der Regel jedoch nicht mit diesem Ort. Bei Kulturbesuchen in der Gruppe können sie ihre Begleitung genauso wenig frei auswählen, wie die Mitbewohner/-innen, mit denen sie in der Unterkunft zusammenleben. Auch wenn viele die Möglichkeit von Gruppenbesuchen nutzen, da diese zu Beginn Unterstützung und Halt in einer neuen, unbekannten Umgebung bieten, sind vor allem junge Menschen bestrebt, sich von Abhängigkeiten frei zu machen, um –  im Rahmen der Möglichkeiten – wieder autonom agieren zu können. KulturLeben setzt daher mit seinem neuen Projekt auch auf individuelle Formen der Begegnung. Das Angebot der Einzelbegleitung durch Freiwillige ist ein erster Schritt. Aus Gesprächen mit Geflüchteten geht hervor, wie wichtig es ist, die Menschen sehr differenziert in ihrer Individualität mit ihren persönlichen Interessen und mit den kulturellen Erfahrungen ihres Herkunftslandes wahrzunehmen. Krieg und andere humanitäre Katastrophen (Hunger, Armut, religiöse und politische Verfolgung, Rassismus etc.) überdecken mit ihren Bildern nur zu leicht all das, was die Kultur des jeweiligen Landes in ihren vielfältigen Ausdrucksformen ausmacht. In der Wahrnehmung geflüchteter Menschen überwiegt (auch aufgrund der Medienberichte) der Begriff »Flüchtling«. Das Individuum bleibt dahinter erst einmal verborgen. Als Kulturvermittler unterliegt man oft selbst vorgefassten Vorstellungen über kulturelle Vorlieben Geflüchteter, die sich in der Realität z.T. als anders erweisen. In der Zusammenarbeit mit Schülern aus Integrations- und Sprachklassen der VHS Mitte machten wir z.B. die Erfahrung, dass wider Erwarten ein Theaterstück in deutscher Sprache großes Interesse wecken kann, auch wenn die Deutschkenntnisse (noch) nicht ausreichen, um die Handlung verstehen zu können. Der Wunsch, die deutsche Sprache zu hören und zu erspüren, gibt hier die Motivation. Gerade bei jungen Kulturgästen im Exil fällt auf, wie groß häufig das

KulturLeben Berlin – Arm, aber Lust auf mehr!

Bedürfnis ist, die deutsche Kultur und Geschichte kennenzulernen. Verblüffung und Freude löste ein Besuch im Museum für Islamische Kunst aus. Die in diesem Fall neue Erkenntnis, dass Kunst- und Kulturschätze aus den Heimatregionen hier in einem repräsentativen Museumsbau wie dem Pergamonmuseum ausgestellt und dokumentiert sind, stärkt das Selbstvertrauen in die eigene kulturelle Identität, die Krieg und andere Katastrophen nicht auslöschen können. Die aus der praktischen Arbeit von KulturLeben gewonnenen Erfahrungen in der Vermittlung kultureller Angebote an geflüchtete Menschen zeigen: Um ein Bewusstsein für die Bedürfnisse, Wünsche und 
Vorstellungen Geflüchteter zu erlangen, ist es unumgänglich, Verallgemeinerungen zu vermeiden und eine 
offene Begegnungskultur auf Augenhöhe zu schaffen.

Fazit Die Zugangsbarriere »Geringes Einkommen« betrifft viele Menschen, auch unabhängig vom Bildungsniveau. Monetäre Armut zieht oft weitere Barrieren nach sich, die zu sozialer Isolation führen können. Zu den Zugangsbarrieren gehören neben dem geringen Einkommen soziale Ängste, mangelndes Selbstbewusstsein, geringer Bildungsstand, Desinteresse, geistige und körperliche Behinderung, psychische Erkrankungen sowie sprachliche und kulturelle Barrieren. Zur Ansprache neuer Zielgruppen sollten sich Kulturvermittler zuvor intensiv mit den individuell verschiedenen Barrieren von Geringverdienenden auseinandersetzen. Kostenlose Angebote oder ermäßigte Eintrittspreise allein locken nicht automatisch Menschen mit geringen Einkünften in das eigene Haus. Für eine zielgruppennahe Öffentlichkeitsarbeit ist neben der Preisgestaltung zusätzlich ein Bündel weiterer Marketing-Maßnahmen notwendig. Sprach- und Preisbarrieren zu überwinden ist wichtig, viel wichtiger ist es jedoch, ein Bewusstsein für Kunst und Kultur generell zu wecken. Um Ängste und Vorurteile abzubauen, bedarf es Motivation, Einfühlungsvermögen und ein ermutigendes Heranführen an vielleicht bislang unbekannte Orte. Die KulturLeben-Methode überzeugt auch dadurch, dass die Vermittlung nicht an eine Kultureinrichtung oder Institution gebunden ist. In der unabhängigen Vermittlungstätigkeit durch ein ehrenamtliches Team liegt der Erfolg des Konzepts im Wesentlichen begründet. Durch das Konzept der gezielten Ansprache von Menschen in prekären sozialen Situationen in Kooperation mit verschiedenen sozialen Partnerinstitutionen, der persönlichen telefonischen Kulturvermittlung sowie des Angebots der Begleitung kann KulturLeben Berlin Gäste individuell und bezogen auf die persönliche soziale Situation beraten, motivieren und zumindest temporär sozial integrieren.

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KulturLeben Berlin in Zahlen Kulturpartner: 360 Sozialpartner: 260 Plätze in der Vermittlung pro Monat: 4.000 Kulturplätze Plätze in der Vermittlung 2015: 48.000 Kulturplätze Gäste: 15.500, davon 2.500 Kinder und ca. 7.000 Gäste aus sozialen Partnereinrichtungen Weitere Informationen zu KulturLeben Berlin finden Sie auf www.kulturleben-ber lin.de

40 Years of Audience Focus The evolution of Audience Development practice in the UK and the impact of arts policy Anne Torreggiani

In this paper, I take a brief look at the changes in arts management practice that have helped UK cultural organisations reach more and more diverse audiences over the past 40 years. I offer a personal view of the influence of policy on that practice. What does practice in the UK now look like, and what new ideas and approaches are emerging? At The Audience Agency, we are passionate about sharing intelligence and I offer these thoughts in the hope that it will begin a dialogue. We benefit enormously from comparing differences in practice across Europe.

The A udience A gency By way of introduction, I should note that The Audience Agency is a not-for-profit, independent agency working with 1.000 cultural organisations and agencies like the Arts Council of England to develop audiences. As well as a comprehensive research service, we offer consultancy, analysis, advice, evaluation and training in all aspects of Audience Development – from community involvement to marketing and leadership. The Audience Agency works to a »give-and-gain model« inviting organisations to share information – knowledge, skills and audience data. We are currently commissioned by Arts Council England, the main arts institutions grant-giving body in England, to provide a range of services including a national research and data analysis framework, and skills development programmes. Our role is to help organisations answer questions like these: • Who are your audiences? • Who could they be?

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Anne Torreggiani

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How can you reach them? What do they need? How can you improve? Who could you work in partnership or collaboration with? What information and learning could we share? We take the view that Audience Development is an organisational process that puts the needs of a range of audiences at the centre of planning. It involves programming, participation, education and marketing. It can help a cultural organisation achieve and balance it’s creative, social and financial objectives.

40 Y e ars of A udience F ocus – A udience D e velopment in B ritain I appreciate that while Britain has a reputation for doing Audience Development well, and invented the term (in 1997 as far as I know), we certainly did not invent the practice. People all over the world have of course been doing great Audience Development for thousands of years. In the UK, we still have much to learn. Post-war cultural policy in the UK has, however, put a particular emphasis on access for audiences, and this has given rise to a concentrated effort to involve the widest possible cross-section of society in the arts and culture. When the Arts Council was set up in 1944, it had both an artistic and social mission, just like the BBC, and this thinking informs the sensibilities of cultural leaders. Further, most cultural organisations in the UK need to earn the majority of their income. Most receive less than 50 % from regular funding. Being responsive to audiences is also a matter of financial survival. Arts policy has been arms-length about the arts, but interventionist about reaching audiences. Over time, this has helped to give many arts organisations a strong audience focus. Governments have offered »carrots« (incentives), or »sticks« (threats of punishment) to drive audience focus.

1980 s – The Thatcher Y e ars The Thatcher years, a time of right-wing policies that dictated subsistence public funding, were in many ways devastating for the cultural infrastructure. It was a damaging time for community-based arts – a strong tradition in the UK informing our approach to Audience Development. But Thatcherite policy did help the sector learn self-sufficiency, and the capacity to generate revenue from high-frequency, well-off supporters and sponsors. We learned how to be good marketers and to apply the best marketing planning principles in arts-appropriate ways. Those­ principles are very important in an Audience Development strategy, though the

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aims are far more complex than the pure financial profit served by commercial marketing.

L ate 1990 s , e arly 2000 s – The B l air Y e ars »Things can only get better« was the slogan of the new, left-wing Blair government. The sector saw increases in funding and much-needed capital investment in the physical infrastructure through national Lottery funds. Along with this came expectations that the cultural sector should be a driver of social inclusion and cultural integration. On the positive side, this helped to validate and confirm a self-image of the arts as agents of social good, and even as a change agent, and shaped much excellent practice we now recognise as essential to reaching excluded audiences. In their efforts to drive this inclusion agenda, however, the politicians encouraged the sector to over-claim it’s potential to heal social ills, and spawned a raft of expensive and short-term »Audience Development projects« many with little strategic purpose or genuine legacy. The net effect on audience diversification was limited, at best localised. These policies also encouraged a belief that Audience Development is something you do with a grant, or in order to get one, rather than an intrinsic part of your activity as a cultural provider.

The l ast D ecade In this period, the recession has again reduced the amount of funding and other revenue available to the arts. This has been exacerbated by a swing back to the politics of the right, albeit tempered by a general acceptance of an agenda of representativeness (if not inclusion) in public engagement. This environment has demanded entrepreneurialism and a greater emphasis on strong audience relationships. While the sectors generally left-leaning impulse has been to safeguard access for the less privileged, the economic situation has driven ingenious income-generation – together they have made strategic and evidence-based Audience Development an essential. Many arts organisations are weathering the storm well: We saw only small declines in audiences at the height of the recession and many organisations are generating more of their own revenue without public arts funding than ever before.

A udiences in E ngl and – W here are we now ? The reality is that audiences have grown over the past twenty years, despite that dip in growth during recession. 78 % of people now claim to have engaged with the arts each year. Public attitudes towards the arts are very positive with nearly

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90 % of people believing that the arts and museums should be publicly funded. According to a recent EU-study, only the Nordic countries have significantly higher levels of engagement. There has, however, been very little change in the overall demographic, or social mix of audiences. Why not, when so much good work has been done? In my view, changing cultural habits takes a long time. I anticipate that it will take some years before the impact of strategic appliance of Audience Development starts to show up in the overall statistics. It is only recently that we have really started to think about Audience Development as a long-term organisational strategy and understood where the opportunities for wholesale change lie. We know much more now about our audiences, their needs and how to meet them, than we did a decade ago. Organisations are generally open to the idea that a focus on audiences and their needs is healthy, and not in some way anti-art. There has been much institutional change. A commitment to high quality access for disabled people and young people, inclusive employment practice, more ethnic diversity among staff, programming and audiences are all increasingly the norm. Those institutions that are leading the way in Audience Development put audiences at the centre of their vision/mission. They respond swiftly and imaginatively to audience feedback, in which they make proper investment. Many have come to understand their communities through an extraordinary range of local connections, working in partnership with schools, universities, local government, businesses, artists and charities, increasing their position as valued and visible contributors to society. Nevertheless, resistance and ignorance to audience focus remains in some parts of the sector. As a whole sector, then, we are heading, slowly, in the right direction. If we continue along this path, the next decade will see audiences more representative of the population. This will only be the case where there is a policy commitment to audience focus that reflects not some political ideology, but what we really know about audiences.

A udiences Today – U nderstanding over all Pat terns of E ngagement in the P opul ation They key factors affecting people’s propensity to engage with culture are: • Level of education attained • Proximity of offer • Family habits Income, cultural background and other demographic factors are all much less significant than we might believe. In fact, nowadays, we know a lot about how the

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population splits down in terms of the way they relate to the arts. There are three key groups: • »Highly-engaged« people – about 10  % of the population – are regular and confident attenders of the arts. There is a distinction between those with a preference for a more classic and traditional programme and those interested in the contemporary. For both, culture is an important part of their lifestyle. Most culture professionals are part of this highly engaged group of course and tend to identify with their outlook and preferences. We know where they are, they know where we are. The most critical demographic features of this group are that they tend to have degree-level education, and congregate in large conurbations. • »Somewhat-engaged« people – about 65 % of the population – are occasional attenders who tend to prefer familiar products and faces. They are motivated to engage with culture primarily for it’s social benefits. This group is »open to persuasion« but needs lots of encouragement and recommendation. • »Non-engaged« people – about 25 % population – are just not that interested in the arts. The main reason they give for non-engagement is »did not have time« which we take as a proxy for »was not a priority«. Many of these people still believe it is important to fund the arts, they just don’t want to take part. Economic factors may be significant, but indifference is the defining barrier. Within these groups we also know far more about the preferences and interests, motivations and views of sub-groups. The Blair years saw a proliferation of short-term, unsustainable projects targeting »non-engaged« people indifferent to culture while continuing business as usual with the elite »highly-engaged« audience. Cultural organisations paid little attention to the interests of the »somewhat-engaged« in between. We are increasingly of the view that concerted efforts to diversify audiences should focus here.

A udience I nsight driving ne w Thinking in A udience D e velopment This market-place understanding is changing how we think about Audience Development and shaping the way organisations are seeking to serve whole communities. Each group needs to be managed differently, and we are seeing clearer distinctions in the strategies for each. Organisations are adopting sophisticated customer relationship management (CRM) plans for highly engaged audiences, incentivising loyalty and advocacy. Working in communities with very low or no engagement we now appreciate demands with a very different kind of practice, often on-site and with plenty of community involvement.

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Some of the most interesting developments are aimed at the overlooked 65 % of people with some engagement in the arts. All across England, cultural institutions have been developing their offer, changing the way they behave and talk about their work, and brokering new creative partnerships to reach out to these people »open to persuasion«. This reorientation appreciates the value people place on social benefits and seeks to lower their sense of risk. A range of tactics designed to connect with people who are not »insiders«, includes: • Presenting iconic works/artists but in new and well-contextualised ways, recognising that many in these groups like more background explanation, especially about the artist’s intention or ideas. • Programing quality »outdoor arts« reaches these groups far more effectively. • Making intelligent association with the names, faces and ideas that capture the popular imagination. Juliette Binoche working with Akram Khan dance company, Kraftwerk at Tate Modern, Aphex Twin with the London Sinfonietta – all brought large new audiences plus genuine creative depth to these partnerships. Over the past decade, The Audience Agency has developed and/or delivered a number of national action-research initiatives with the support of Arts Council England that explore ways of reaching beyond highly-engaged »insiders«. I mention 3 as particularly relevant: • »Family Friendly« – Evidence suggested that less engaged people were more likely to go to arts events with their children, wanting to introduce them to a range of experiences. On the back of this insight, the initiative helped organisations experiment with family friendly changes to their offer. It stressed the importance of the environment, how different the needs of different audiences can be, and the power of letting staff work together to make the changes audiences want. »Family Friendly« is now understood as a powerful inclusion, and organisational development strategy. • »Arts Ambassadors« – Similarly, it was observed that less engaged people are more persuaded by the opinions of their friends and families than arts »insiders«. In fact recommendation from someone you trust is make or break. The programme helped organisations to set up mutually advantageous relationships with interested brokers and advocated in their local communities. The greatest challenge was for organisations to respond to the feedback they received. • »Not For The Likes Of You« was a complex research programme that showed that organisations great at reaching diverse audiences were open to new ideas and alternative views inside their own organisation. Attracting wide audiences was not about promotion, but about product, attitude and outlook.

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All three initiatives made the link directly or indirectly between Audience Development and the way organisations behave. Putting audiences at the centre is not about how arts educationalists, marketers or programmers do their job; it is about how they work together in an integrated and vision-led way. It is about organisational adaptability and commitment. It is about leadership.

C onclusion – H ow can F unders and P olicy -M akers help the ne x t 40 Y e ars ? We have come a long way in the past 40 years: We now understand who our audiences are, who they could be and how we need to behave if we want to reach a broader cross-section of society. I would suggest that the role of policy-makers and funders is to promote and encourage the right kind of leadership. I have 3 specific suggestions:

1. Encourage better practice through funding criteria Policy-makers can choose to reward good practice and since we now understand what that really means, this should become part of their funding criteria. I would suggest this include audience focused leadership plus a proper plan, based on proper evidence for joined-up product and Audience Development. In return, they need to have realistic expectations, accepting that not all cultural organisations can or should reach all audiences.

2. Support better practice through central commissioning Rather than funding interventionist initiatives on the basis of hunch and ideology, it would be good to provide long-term, arms-length access to better independent information and support, promoting the kind of organisational culture we know is successful: • • • • •

Progressive, open-style leadership Encourage learning, and learning from mistakes Use of high quality evidence Incentivise collaboration and shared learning Development of critical new skills

There have been a number of English initiatives to do just that, including: • »Cultural Leadership Programme« (Sadly now defunct initiative, no specific focus on audience but promoting cultural change)

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• »Audience Finder« – www.audiencefinder.org (Current audience trends and feedback, The Audience Agency) • »CultureHive« – www.culturehive.org (Archive of good practice resources and training, Arts Marketing Association and The Audience Agency) • »Arts Fundraising and Philanthropy« – www.artsfundraising.org.uk (New programme to develop leadership skills and sensibilities in this arena)

3. Enable new models Policy-makers have tended to prop up the status quo. New and better evidence makes it hard to ignore that if the power and money were in different hands, change might happen faster. Policy-makers should be open to and encourage a greater diversity of production and distribution models. Digital is of course changing this game, but it’s not all about digital. Arts Council England have recently initiated a new programme, »Creative People And Places«, that really does shift the power. £30million have been given to place-based partnerships in towns with low engagement to create cultural programmes and infrastructure in a more open and democratic way. I tip this as a next step in the journey and one to watch for the future. Weiterführende Informationen über die Aktivitäten des Arts Council England im Bereich des Audience Development: www.artscouncil.org.uk/goal/2 www.artscouncil.org.uk/what-we-do/our-priorities-2011-15/engaging-audiences/

3. Diskurse, Konzepte und Formate sozial integrativer Kulturvermittlung Kulturvermittlung und Audience Development

»klassischer Kultureinrichtungen«

Sozial integrative Kulturvermittlung öffentlich geförderter Kulturinstitutionen zwischen Kunstmissionierung und Moderation kultureller Beteiligungsprozesse Birgit Mandel

Kunst zugänglich und anschlussfähig machen, die Kreativität des Einzelnen herausfordern und Anstöße für gelingendes Leben geben, Publikumsgenerierung oder neue Gemeinschaft(en) anstiften über gemeinsam erlebte und erfahrene Kunst und Kultur – die Bandbreite der mit Kulturvermittlung verbundenen Aktivitäten und Zielsetzungen ist vielfältig, der Begriff entsprechend mehrdeutig und missverständlich. Er verweist einerseits auf eine Brückenfunktion, die Begegnungen zwischen Kunst(-institutionen) und Besuchern/Publikum sowie Begegnungen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen ermöglichen kann. Andererseits meint »Vermittlung« in seiner Ursprungsbedeutung einen Schlichtungsprozess zwischen Parteien mit unterschiedlichen Interessen und verweist darauf, dass Kulturvermittlung in diesem Sinne keineswegs konfliktfrei verlaufen muss (vgl. Henschel in diesem Band). Welche Ziele und Funktionen kann professionelle Kulturvermittlung in öffentlichen Kulturinstitutionen haben, wenn ihr Fokus nicht nur darauf liegt, Verständnis zu schaffen für komplexe Kunst- und Kulturgegenstände und -produktionen, sondern auch »sozial inklusiv« zu sein im Sinne einer Zugänglichkeit und Teilhabe für ganz unterschiedliche Gruppen der Gesellschaft mit je unterschiedlichen kulturellen Interessen?

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1. Funktionen und Ziele von Kultur vermittlung im Kontext von Kulturinstitutionen Kulturvermittlung zeigt sich in verschiedensten Formaten und kann ganz unterschiedliche Interessen verfolgen. Folgende (prototypische) Funktionen von Kulturvermittlung in öffentlichen Kulturinstitutionen zeigen die Bandbreite auf: Eines der geläufigsten Formate von Kulturvermittlung ist immer noch die klassische »Kunsterklärung«, in der kunst- und kulturwissenschaftlich relevantes Wissen mehr oder weniger monologisch »übermittelt« wird, denn Kulturbesucher/-innen erwarten von Vermittlung als professioneller »Serviceleistung« offensichtlich auch Fachwissen über Kunst. Teilnehmer/-innen von Vermittlungsangeboten wollen häufig nicht diskutieren und hinterfragen, sondern wünschen kompaktes Wissen darüber, wie künstlerische Arbeiten »richtig« im Sinne fachwissenschaftlicher Kategorien zu verstehen sind. Das mag damit zusammen hängen, dass klassische, als Hochkultur wahrgenommene Angebote in der Regel auch als Bildungsangebote verstanden werden, zu denen man einen kognitiven Zugang finden muss, ebenso wie damit, dass viele sich als nicht vorgebildete Laien kein eigenes Urteil zutrauen und nicht über die Codes der souveränen, eigenständigen Kunstaneignung verfügt. Besteht die Zielgruppe aus Kindern und Jugendlichen, wird in der Vermittlung in der Regel sehr viel spielerischer und dialogischer vorgegangen, weil umfangreiche Erkenntnisse vorliegen, dass Kinder und Jugendliche vor allem durch eigene, aktive Beteiligung Aufmerksamkeit und Interesse entwickeln. Ein inzwischen in fast allen größeren Kultureinrichtungen etabliertes Format der partizipativen Kunstvermittlung besteht in Workshops für Schulklassen oder Einzelbesucher/-innen, bei der die professionellen künstlerischen Produktionen durch eigenes ästhetisches Gestalten erfahren werden können – sei es nach Betrachtung von Bildern einer Ausstellung oder indem als Vor- oder Nachbereitung eines gemeinsamen Theater- oder Museumsbesuchs eine spezifische künstlerische Inszenierung und Thematik durch eigene ästhetische Tätigkeit aktiv begriffen wird. Dabei haben vor allem Kinder offensichtlich sehr viel weniger Berührungsängste gegenüber als fremd wahrgenommenen künstlerischen Produktionen als erwachsene Teilnehmer/-innen. Eine indirekte, jedoch sehr wirkungsvolle und unverzichtbare Form von Kulturvermittlung sind Maßnahmen in Marketing und PR. Durch Markenbildungsprozesse, die eine Kultureinrichtung als besonderen, bedeutungsvollen, zugänglichen und attraktiven Ort in einer breiten Öffentlichkeit bekannt machen, durch Marketingkampagnen und -aktionen im öffentlichen Raum oder durch Strategien des viralen Marketings z.B. in den Social Media, kann Bekanntheit und Vertrauen in eine Kultureinrichtung und somit Interesse am Besuch geschaffen werden. Eine weitere Form indirekter Kulturvermittlung besteht in der Gestaltung der Rahmenbedingungen von Kulturpräsentation und Rezeption, etwa indem Kulturveranstaltungen in eine ihnen entsprechende Gastronomie eingebettet sind,

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»out­reach« an öffentlichen oder touristisch attraktiven Orten gezeigt werden oder auch indem sie z.B. »barrierefrei« und jederzeit über das Internet rezipiert werden können, wie etwa in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker. Die NeuKontextualisierung kann neue Wahrnehmungsweisen von Kunst ermöglichen. Auch der Auf bau von Kooperationsbeziehungen mit verschiedenen Partnern ist eine zentrale, indirekte Form von Kulturvermittlung, über die Kontakte zu potenziellen Nutzergruppen aufgebaut werden, die nicht von selbst kommen. Einen entscheidenden Schritt weiter geht Kulturvermittlung, wenn sie nicht nur vorhandene professionelle Kunstwerke und Produktionen kommentiert, kommuniziert und präsentiert, sondern in künstlerischen Kollaborationen zwischen Laien, freien Kulturschaffenden und den professionellen Künstler/-innen einer Institution neue Produktionen entstehen. Hier kommen unterschiedliche kulturelle und ästhetische Ideen und Interessen von Menschen unterschiedlicher Milieus, Herkunft und/oder Altersgruppen zusammen. So entwickelten etwa Dramaturgen des Schauspiels Dortmund gemeinsam mit Laienchören, Schulklassen und Migrantenkulturvereinen die Inszenierung »Heimat unter Erde«. Die Ziele, die jeweils mit Kulturvermittlung erreicht werden sollen, sind ebenso vielfältig wie die Formate: • Verständnis für bestimmte Kunst- und Kulturformen erhöhen und diese als förderungs- und erhaltenswürdig wahrnehmbar machen und legitimieren (Funktion der Kunstvermittlung und Kunsterziehung). • Das Bildungspotenzial von Kunst und Kultur nutzen sowohl für die allgemeine Bildung als auch für die künstlerische und kulturelle Bildung (Funktion der Kunstpädagogik). • Für Menschen Plattformen des Austausch über Kunst und Kultur zu schaffen sowie Möglichkeiten der individuellen Erhöhung ihrer Lebensqualität und Erfahrungen ihrer eigenen Gestaltungsfähigkeit bereitstellen (Funktion der Kulturpädagogik und kulturellen Bildung). • Chancengerechtigkeit herstellen und den sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft stärken über kollektiv erfahrene Kulturereignisse (kulturpolitische Funktion). • Die Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft durch reflexions- und handlungsfähige Menschen fördern, die mit Kunst und Kultur Erfahrungen kritischen ebenso wie utopischen Denkens gemacht haben (gesellschaftspolitische Funktion). • Für Kultureinrichtungen mehr und neues Publikum generieren, Auslastungszahlen steigern, das Publikum von morgen sichern (Funktion des Audience Development und Kulturmarketings). Mögliche Zielsetzungen reichen also von Verständnis, Wertschätzung und Schaffen eines gesellschaftlichen Konsens für den bestehenden Kunst- und Kulturkanon bis dahin, diesen kritisch zu hinterfragen und neue, bislang im kulturellen

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und öffentlichen Leben unterrepräsentierte gesellschaftliche Gruppen dazu zu ermächtigen, ihre kulturellen Interessen einzubringen und dabei eventuell auch öffentliche Kulturförderung neu zu verhandeln.

2. Vom autorisierten Kunstsprecher zum Anstifter für kulturelle Partizipation – Veränderungen im Rollenverständnis von Kultur vermittlern vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungen Wie hat sich das professionelle Selbstverständnis von Kulturvermittlern entwickelt und verändert in den vergangenen Jahrzehnten? Hier werden im wesentlichen die Entwicklungen in der BRD dargestellt, dennoch vorab auch eine kurze Anmerkung zur Kulturvermittlung in der DDR, die bislang noch kaum detailliert untersucht wurde. In der DDR gab es bereits seit den 1950er Jahren intensive Bemühungen einer kulturellen Bildung für alle unter dem Begriff der »kulturellen Massenarbeit«. Auf der Basis eines breiten Kulturbegriffs, der sowohl die klassische Kunst wie die Unterhaltungskultur (z.B. Schlager, Zirkus) und die Alltagskultur umfasste, war die Rezeption von Kunst in Kulturinstitutionen ebenso wie das Laienschaffen in alle Bereiche der Gesellschaft eingebunden: Vom Kindergarten über die Betriebe bis zu den Wohnsiedlungen, allerdings immer unter der ideologischen Zielsetzung der Herausbildung der »sozialistischen Persönlichkeit«. Kulturvermittler/-innen waren in allen Bereichen der Gesellschaft tätig (vgl. Koch 1983, John 1980). In der Bundesrepublik wurden seit Ende der 1970er Jahre Museumspädagogen, Theaterpädagogen, Konzertpädagogen in öffentlichen Kultureinrichtungen beschäftigt, tendenziell in marginaler Position. Obwohl viele neue Stellen geschaffen wurden, sind die Abteilungen für Kulturvermittlung in Budget und Ausstattung mehrheitlich immer noch unterrepräsentiert, oft nicht in der Leitung verankert und damit von begrenztem Einfluss auf die Ziele und Gestaltung einer Kultureinrichtung. Parallel zur Kulturvermittlung in den öffentlichen Kultureinrichtungen etablierten sich Kulturpädagogen in außerschulischen Zentren und Projekten wie in Jugendkunstschulen, soziokulturellen Zentren oder Kinder-Kultur-Vereinen (vgl. Zacharias 2001). Waren die Vermittler/-innen zunächst Fachwissenschaftler wie Kunsthistoriker, Theaterwissenschaftler und Musikwissenschaftler, oder aber ausgebildete Kunst-Lehrer, die nicht im Schuldienst tätig sein wollten, so kamen seit Ende der 1980er Jahre Absolvent/-innen der ersten Kulturvermittlungsstudiengänge auf den Arbeitsmarkt. Vor allem im Zuge der Umstellung auf Bachelor und Master entstand eine Vielzahl neuer Studiengänge der außerschulischen Kulturvermittlung. Analog zur Professionalisierung und »Akademisierung« der Kulturvermittlung ist der sogenannte »educational turn« in den Künsten zu beobachten: Viele

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Künstler/-innen begreifen ihr Kunstschaffen explizit auch als Vermittlung und legen ihr Wirken als interaktiven Prozess an, der sich erst durch die Partizipation der Rezipienten realisiert, die damit zu Ko-Produzenten werden. Dabei verwischen die Grenzen zwischen Kunst und Vermittlung (vgl. Jäschke/Sternfeld 2013), was zu einer tendenziellen Aufwertung von Kunst- und Kulturvermittlung führte. Diese wird damit auch in ihrer künstlerisch-gestaltenden Funktion als eigenwertig und nicht nur als pädagogische Aufgabe oder Serviceleistung begriffen. Künstlerische Kulturvermittlung orientiert sich am Potenzial von Kunst, Störmomente, Irritationen und Gegenerzählungen zu erzeugen. Sie begreift sich als »Fortsetzung von Kunst« im Sinne eine »künstlerischen Haltung«: »Die Herangehensweise ist künstlerisch, und Kunst rückt als bezugsdisziplinäre Orientierung in den Vordergrund, die bildungsbezogene Auseinandersetzung lernt quasi von Kunst – je singulär« (Sturm 2001: 30). Wie haben sich die Leitideen von Kulturvermittlung in den vergangenen Jahrzehnten verändert vor dem Hintergrund der Veränderungen des Kultursektors? Wesentliche Initiatoren und Theorie-Geber von Kulturvermittlung in den 1970er Jahren waren Hilmar Hoffmann mit seinem Postulat »Kultur für alle« (Hoffmann 1979) und Hermann Glaser, der ein »Bürgerrecht Kultur« verlangte (Glaser 1974), was in die Forderungen nach einer »neuen Kulturpolitik« Ende der 1970er Jahre mündete. Obwohl es Hoffmann und Glaser auch um die Aufwertung und Ausweitung soziokultureller Formen ging, konzentrierte sich ihre konkrete kulturpolitische Arbeit im wesentlichen auf die Idee, Zugangsbarrieren abzubauen, um allen gesellschaftlichen Gruppen die Teilhabe am kulturellen Erbe und den Angeboten der öffentlichen Kultureinrichtungen zu ermöglichen. Trotz vielfältiger Investitionen in die Infrastruktur hat sich an der weitgehenden Begrenzung des Publikums der öffentlich geförderten, klassischen Kulturinstitutionen auf ein formal hochgebildetes Klientel seit den 1970er Jahren wenig verändert (vgl. empirische Studien Mandel und Renz in diesem Band). Mit zunehmender Konkurrenz durch private Anbieter und zunehmender Internationalisierung des Kultursektors begann man sich auch in klassischen Kultureinrichtungen seit Mitte der 1990er Jahre aktiv um das Publikum zu bemühen. Unter dem Leitbild »Von der Angebotsorientierung zur Nutzerorientierung« (vgl. u.a. Klein 2001) wurden Marketing- und Audience-DevelopmentMaßnahmen entfaltet (vgl. Mandel 2008, Mandel 2012a), um neues Publikum zu gewinnen und zu binden als wesentliches Element eines modernen, »exzellenten Kunstbetriebs« (Klein 2007). Seit knapp zehn Jahren, ausgelöst auch durch den »Pisa-Schock«, ist das vormals stark vernachlässigte Thema »kulturelle Bildung« für den Kultursektor zentral geworden. Zum einen weil man das besondere Potenzial von Kunst und Kultur für die Erhöhung des Bildungsniveaus in der Gesellschaft insgesamt nutzen möchte, zum anderen weil deutlich wurde, dass kulturelle Bildung Voraussetzung ist, um »Publikum von morgen« zu generieren und damit auch zukünftig die gewachsene Kulturlandschaft zu erhalten. Mit dem Interesse an kultureller Bildung

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einher geht die Aufwertung der Kulturvermittlung, denn kulturelle Bildung, hier verstanden als Selbstbildungsprozess in Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur, erfordert oftmals die Anregung durch professionelle Vermittler/-innen. Die aktuell sicherlich größte Herausforderung für Kulturpolitik in Deutschland besteht darin, im Zuge der demografischen Veränderungen in der Gesellschaft, vor allem durch Migration, den Kultursektor in Deutschland so umzugestalten, dass er repräsentativer für eine veränderte Bevölkerung mit veränderten kulturellen Interessen und Zugängen wird: Im Rahmen der Strategieentwicklungen für ein »Interkulturelles Audience Development« wurde deutlich, dass dies auch mit essentiellen Veränderungen der bestehenden Kultureinrichtungen in ihren Anspruchsgruppen, ihrer Programmpolitik, Organisationsformen und ihrem Personal verbunden ist (vgl. u.a. Mandel 2013). Zu konstatieren ist, dass die verschiedenen Paradigmen von Kulturvermittlung derzeit parallel vorhanden sind: von der sozialpolitischen Verpflichtung, klassische Kultur allen Gruppen der Bevölkerung zugänglich zu machen, über Serviceleistungen für effektive Kultureinrichtungen, der pädagogischen Mission, Kunst als Chance für individuelle Bildungsprozesse zu eröffnen, bis hin zum kritischen Hinterfragen kultureller Wertmaßstäbe und Hierarchien.

3. »Barrieren« abbauende Vermittlungsformate – Die operative Seite der Kultur vermittlung Fasst man die bestehenden empirischen Studien zu den Gründen des Nicht-Besuchs bestimmter (hoch-)kultureller Angebote zusammen (vgl. Mandel/Renz 2010 sowie Renz in diesem Band), so werden in Bevölkerungsbefragungen vor allem folgende Argumente direkt oder implizit genannt: • • • • • •

• •

Mangelnde finanzielle Mittel. Mangelnde Zeit. Kein Wissen über bestimmte kulturelle Angebote. Kein Wissen, wie man den Kulturbesuch organisiert, und die Vermutung, dass dies mit großem Aufwand verbunden ist. Sorge, sich zu langweilen und das Bedürfnis nach Unterhaltung und Entspannung ebenso wie nach sozialem Austausch nicht befriedigen zu können. Sorge, bestimmte kulturelle Angebote nicht zu verstehen/nicht entschlüsseln zu können, bestimmte Kunstrituale nicht zu kennen und sich inkompetent, deplatziert und fremd zu fühlen. Kein Bezug zu bestimmten kulturellen Angeboten, keine Relevanz zum eigenen Leben erkennbar. Kein Interesse.

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Evaluationen und Begleitstudien verschiedener Vermittlungsprogramme zeigen, dass bestimmte Formate erfolgreich darin sein können, einige dieser Barrieren abzubauen und Interesse bei vormaligen Nicht-Besuchern zu schaffen. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Vermittlungsmaßnahmen, die sich auf Strukturen beziehen, also auf die strategische Organisation der Rahmenbedingungen von Vermittlung; solchen, die auf direkten pädagogischen und didaktischen, medialen und personalen Vermittlungsprozessen basieren, und solchen, die auf eine ästhetisch-künstlerische Produktqualität des Vermittlungsprozesses zielen (vgl. Wimmer 2010). Als ein sehr wirkungsvolles Mittel, um nicht kunstaffine Erstbesucher mit geringen finanziellen Mitteln anzusprechen, erwies sich die Verteilung von Freikarten für Kulturangebote in Kombination mit expliziter, persönlicher Einladung an Alltagsorten sonst nicht erreichter Gruppen (vgl. u.a. »Test drive the arts«Programme des Arts Council England 2003) sowie die persönliche Vermittlung durch ehrenamtliche Mittler wie sie die Kulturlogen inzwischen in vielen Städten Deutschlands anbieten (vgl. Mandel/Renz in diesem Band). Auch mit der Politik, kostenfreien Eintritt in öffentliche Museen zu gewähren und dies offensiv zu kommunizieren, konnte man z.B. in England ein breiteres Bevölkerungsspektrum für Museumsbesuche gewinnen. Längerfristige Kooperationen mit Bildungs- und sozialen Einrichtungen sind eine zentrale Voraussetzung, um Menschen über bestimmte Zugehörigkeiten an ihren Alltagsorten zu erreichen, seien es Kitas, Schulen, Jugendzentren, Sozialeinrichtungen, Betriebe, Migrantenkulturvereine, Laienchöre, Sportvereine u.v.m. Dabei hat sich auch die Arbeit mit sogenannten »Key Workern« und »Arts Ambassadors« als Kommunikator/-innen und Mittlern, die adäquate Zugänge ermöglichen und Vertrauen auf bauen, als erfolgreich erwiesen (vgl. Jennings/Arts Council England 2003, Mandel 2013). Als unverzichtbar gilt ein populäres Aufmerksamkeitsmanagement sowohl als Re-Branding von Kulturinstitutionen, um sich neu zu positionieren und bestehende Hochkultur-Images zu verändern, die immer wieder vor allem in qualitativen Befragungen als Barriere sichtbar werden, wie auch durch kommunikative Maßnahmen, die sich gezielt an neue Zielgruppen oder auch an eine breite, zufällige Öffentlichkeit richten. Diverse Aktionen des Guerillamarketing und des Viralen Marketings von Kultureinrichtungen konnten sehr wirkungsvoll Interesse und neue Besucher/-innen generieren (vgl. Mandel 2012a). Mit neuen outreach-Präsentationsformaten »umsonst und draußen« an öffentlichen Orten gelingt es auch klassischen Kulturanbietern, Menschen im Alltag zufällig zu erreichen. In der Verbindung von Kunstpräsentationen mit einer »lockeren« Freizeit-Atmosphäre z.B. an attraktiven, »touristischen« Orten, an denen Kulturbesuche mit Unterhaltung, Entspannung oder Naturerlebnissen verknüpft werden, entstehen offensichtlich Besuchsanreize für breite und vielfältige Besuchergruppen. Dies zeigen die hohen Auslastungszahlen etwa der meisten OpenAir-Klassik-Veranstaltungen. Generell finden Menschen in touristischen Settings

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und der Rolle des Touristen leichteren Zugang auch zu solchen kulturellen Angeboten, zu denen sie in ihrem Alltag wenig Bezug haben (vgl. Mandel 2012b, Pröbstle 2014). Kommunikative (Event-)Formate, die Kunstrezeption mit sozialem Austausch, Geselligkeit, Essen und Trinken verbinden, erweisen sich als attraktiver und zugänglicher als die klassischen Präsentationsformen. Auch das Web 2.0 ist ein »barrierefreier« und zugleich interaktiver Raum für Kulturvermittlung, in dem virales Marketing in den Social Media wirkungsvoll greifen kann und in dem man ohne die üblichen Konventionen klassischer Kunstrezeption kulturelle Angebote selbstbestimmt und häufig auch partizipativ wahrnehmen kann (vgl. Mandel 2014). Eine wirkungsvolle Form von Kulturvermittlung besteht also darin, die Rahmenbedingungen von Kunstrezeption so zu gestalten, dass sie unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigen und Menschen auch zufällig im Alltag oder an Freizeitorten erreicht werden. Die in Befragungen immer wieder formulierten Befürchtungen von Nicht-Besuchern, bestimmte kulturelle Angebote nicht verstehen zu können, lassen sich durch gute Rahmenbedingungen allein jedoch nicht aus dem Weg räumen. Denn tatsächlich sind bestimmte Kunstformen nicht immer voraussetzungslos zu rezipieren, sondern erfordern ein Fachwissen oder die Kenntnis kultureller Codes, um aus ihnen Sinn machen zu können. Vermittlung von Kunstwissen auf »niedrigschwellige« Weise, indem jenseits des »Kunstfachjargons« Anknüpfungspunkte und Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden zwischen verschiedenen Sprachen und Welten, ist also ebenfalls eine notwendige Form von Kulturvermittlung, damit Rezeptionsprozesse glücken und Erst-Besucher/-innen für sich und ihr Leben von der Begegnung mit einer für sie neuen Kunst- oder Kulturform profitieren. Was für die Zielgruppe Kinder zunehmend entwickelt wird: Audio Guides mit spannenden Geschichten, inszenierte Ausstellungen, interaktive Stücke, ist für erwachsene Besucher noch immer die Ausnahme. Dabei ist zu hinterfragen, wie viel und welches Wissen man eigentlich braucht, um mit bestimmten Kunstformen etwas anfangen zu können. Wie kurzweilig und unterhaltsam sollte Vermittlung sein – oder darf und muss sie auch anstrengend sein? Erste Befragungsergebnisse bei nicht Kunstinteressierten zeigen, dass diese sich unter Kulturvermittlungsangeboten eher Lernen im schulischen Sinne vorstellen, woran sie wenig Interesse haben (vgl. Mandel/Renz 2010). Eine sozial integrative Kulturvermittlung müsste sich also deutlich unterscheiden von schulisch anmutenden Lernsettings und auch Spaß und gute Unterhaltung als Erwartungen an Freizeitaktivitäten versprechen, zugleich aber ebenso Lust machen auf eine gewisse Anstrengung, die mit ungewohnten, neuen, sperrigen Wahrnehmungen verbunden ist, weil erst durch »Differenzerfahrungen« kulturelle Bildungsprozesse in Gang gesetzt werden (vgl. Dewey 1988). Geht man davon aus, dass künstlerisch-kulturelle Rezeptionsprozesse immer eine subjektive und mindestens innerliche, aktive Beteiligung verlangen, damit

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sie überhaupt stattfinden können, sind dialogische Kommunikation und Interaktion weitere Qualitätskriterien von Kulturvermittlung. Allerdings ist zu berücksichtigen, wie vorne angedeutet, dass Besucher/-innen keineswegs per se motiviert sind aktiv mitzumachen, sondern sich von diesem Anspruch möglicherweise zunächst überfordert fühlen. Dies zeigt die Grenzen und zugleich die besondere Herausforderung für die Entwicklung partizipativer Kulturvermittlungsformate auf, in die sich alle trotz unterschiedlichen Wissens über Kunst mit ihrer je individuellen Erfahrung aktiv einbringen können. Hier erweist sich das je persönliche Verhältnis zwischen Teilnehmer/-innen und Vermittler/-innen bzw. Künstler/-innen als zentrale Komponente für gelingende Kooperationen: vertrauensvolle persönliche Beziehungen sind die Voraussetzung, um gemeinsame künstlerische Interessen entwickeln zu können (vgl. Mandel 2013). Aber auch wenn vielfältige Brücken angeboten werden zwischen Kunst und neuen bzw. potenziellen Nutzer/-innen, können diese nicht über die »Barriere« hinweghelfen, wenn für Menschen bestimmte kulturelle Angebote keinerlei Bezug zu ihrem Leben und dem, was ihnen wichtig ist, aufweisen. Wenn es sich um öffentliche Kultureinrichtungen handelt, die sich explizit dem Auftrag verschrieben haben, für möglichst viele Gruppen einer Stadtbevölkerung da zu sein, wie etwa ein Stadttheater, müssen also auch die Programme hinterfragt werden auf Bezüge zu aktuellen Themen und auf populäre Anknüpfungspunkte. Kulturvermittlung kann hier aktiv werden, indem sie kollaborative Formate entwickelt, in denen gemeinsam mit neue NutzerInnen neue Programme entwickelt werden, die anschlussfähiger für unterschiedliche Interessen sind (vgl. Mandel 2013). Über eine veränderte Programmpolitik hinaus sind jedoch auch traditionelle, hierarchische Strukturen zu hinterfragen und Zugangsmöglichkeiten für neue Akteur/-innen zu eröffnen, um Kulturinstitutionen weiter zu öffnen.

4. Kann Kultur vermittlung die Welt retten? – Die normative Seite der Kultur vermittlung Im Diskurs der kritischen Kunstvermittlung, der u.a. auf der documenta 12 durch Carmen Mörsch in die öffentliche Debatte eingebracht wurde, unterscheidet sie in affirmative, reproduktive, dekonstruktive und transformative Ansätze: In der affirmativen Kunstvermittlung wenden sich »autorisierte Sprecher/-innen der Institutionen an eine ebenso spezialisierte und selbstmotivierte, von vornherein interessierte Öffentlichkeit« (Mörsch  2009:  10). Im reproduktiven Verständnis »übernimmt Kunstvermittlung die Funktion, das Publikum von morgen heranzubilden und Personen, die nicht von alleine kommen, an die Kunst heranzuführen […] und Schwellen abzubauen.« (Ebd.) Dabei kritisiert Mörsch, dass diese Ansätze immer von den Interessen einer Institution aus gedacht sind und sich darin ein »monodirektionaler Paternalismus« äußere. In der dekonstruktiven Kunstvermittlung würden hingegen »Distinktions- und Exklusionsmechanismen von

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Institutionen gemeinsam mit dem Publikum hinterfragt.« (Ebd.) Sie plädiert für den Übergang zum transformativen Diskurs, in dem Kunstvermittlung den Anspruch hat, zur gesellschaftlichen Mitgestaltung aufzufordern und Kulturinstitutionen »als veränderbare Organisationen begriffen werden, bei denen es weniger darum geht, Gruppen an sie heranzuführen, als dass sie selbst (die Institutionen) – aufgrund ihrer durch lange Isolation und Selbstreferenzialität entstandenen Defizite – an die sie umgebende Welt, z.B. ihr lokales Umfeld herangeführt werden müssen.« (Ebd.) Das Kunstvermittlungsprogramm der nachfolgenden documenta 13 wurde von vornherein als »Vielleicht Kunstvermittlung« (documenta XIII) bezeichnet, stellte damit professionelle Kulturvermittlung grundsätzlich in Frage und beauftragte viel mehr sogenannte »weltgewandte Begleiter« (Wordly Companiens), die als Laien und zugleich Experten ihres eigenen Lebens die ausgestellte Kunst kommentierten im Dialog mit den Besucher/-innen. Henschel schlägt vor, Vermittlung eher als »Relations- denn als Substanzbegriff« zu benutzen. Es wird nicht »etwas« vermittelt im Sinne von »übermittelt« sondern »zwischen« Individuen und Gruppen. Dabei geht es dann nicht mehr darum, bestimmte Kunstformen besser zu verstehen als viel mehr im Kontext mit Kunst und mit künstlerischen Mitteln über kulturelle Wertesysteme zu verhandeln. »Konflikte inszenieren und Konflikte sichtbar machen« – dafür plädieren auch Birgit Lengers und Ulrich Kuhn, Deutsches Theater (vgl. die Beiträge von Henschel und Lengers/Kuhon in diesem Band). Die Konfrontation operativer Überlegungen zur Kulturvermittlung mit Diskursen der kritischen Kunstvermittlung wirft eine Reihe an Fragen auf, die sowohl das wissenschaftliche Selbstverständnis wie auch die konkrete Praxis betreffen: Von wessen Interessen aus soll man Vermittlung denken: Von der Kunst aus, die in ihrer besonderen Qualität erkannt werden möchte? Von den Kunstinstitutionen, die in ihrem symbolischen Eigenwert als gesellschaftlich wertvolle Orte der Bewahrung, Produktion und Präsentation von Kunst wirken und nachgefragt werden wollen, sowie von ihrem Bedarf nach Publikumserfolgen und Selbsterhaltung? Vom potenziellen Rezipienten, dem Möglichkeiten zur kulturellen Selbstbildung geschaffen werden sollen bzw. der Kunst nutzen möchte für die individuelle Bereicherung seines Lebens? Oder ausgehend von den Interessen nachwachsender Generationen und neuer kultureller Akteur/-innen, die die bestehenden Institutionen samt ihrer kanonisierten Inhalte in Frage stellen? Kann man als Vermittler/-in dabei neutral bleiben und »schlichten«, vor allem dann, wenn man als Mitarbeiter/-in einer Institution aus dem institutionellen Machtvorsprung und zugleich auch Abhängigkeitsverhältnis heraus agiert? Die theoretischen Positionen einer kritischen Kunst- und Kulturvermittlung klingen unter dem Aspekt der »Political Correctness« in einem partizipativ, dialogisch und demokratisch gedachten, öffentlichen Kultursystem sehr plausibel. Was aber bedeuten sie für die Praxis der Kulturvermittlung? Wie gelingt Vermitt-

Sozial integrative Kultur vermittlung

lung »auf Augenhöhe« mit allen Beteiligten ohne zu »missionieren«? Ist man naiv, wenn man als Vermittler/-in selbst begeistert ist von den künstlerisch-kulturellen Angeboten der Einrichtung, für die man arbeitet, und andere ebenfalls davon begeistern möchte im Sinne einer »reproduktiven Kunstvermittlung«? Sollte man als Kulturvermittler/-in seine Fachkompetenz weniger einbringen, sondern eher als eine Art Katalysator und Moderator zwischen verschiedenen Positionen agieren? Was bedeutet das für die Profession der Kulturvermittlung? Ist diese eher eine Haltung größtmöglicher Offenheit und kritischer Selbstreflexion, als dass sie fachliche Kunstkompetenz oder methodisch-didaktische Vermittlungskompetenz umfasst? Geht es vor allem um Aktivierungs-Kompetenz im Sinne einer partizipativen Kulturvermittlung? Oder wie lässt sich die Anwendung konkreter, operativer Vermittlungsansätze (wie etwa die Gestaltung attraktiver Rahmenbedingungen für Kunstrezeption: outreach, interaktive Vermittlungsformen etc.) mit einer kritischen Distanz zum bestehenden Kunstbetrieb und seinen Machtstrukturen verbinden? Muss man sich entscheiden, ob man kulturelle Angebote vermitteln und damit erhalten oder ob man sie hinterfragen und verändern will, oder wie lässt sich beides zusammen bringen?

Fazit: Konsequenzen für professionelle Kultur vermittlung Obwohl sich diese Fragen, die das grundsätzliche Selbstverständnis von Kulturvermittlung berühren, weder pauschal noch losgelöst vom Kontext und einer spezifischen Vermittlungssituation sowie der Person des Vermittlers, beantworten lassen, abschließend einige »lösungsorientierte« Überlegungen: Vermittlung im Rahmen von öffentlich geförderten Kulturinstitutionen bewusst als wechselseitigen Lernprozess anzulegen, könnte eine Bedingung für eine sozial integrative Kulturvermittlung sein. Denn Kulturinstitutionen und ihre Akteure sind dringend darauf angewiesen, von neuem Publikum, neuen Besucher/-innen und neuen künstlerischen Akteur/-innen zu lernen, wenn sie relevante, partizipative Kulturorte werden wollen, in denen sich Menschen unterschiedlicher Gruppierungen und Herkunft in ihren Interessen wiederfinden und wohlfühlen. Hier kommt der Vermittlungsprofession in einer Kultureinrichtung zentrale Bedeutung zu: Sie hat dabei die Aufgabe, die Ideen neuen Publikums offensiv einzubringen, gegen Widerstände durchzusetzen und immer wieder auf andere Interessen und Perspektiven jenseits der eigenen Institution und des Kernklientels aufmerksam zu machen. Vermittlung muss dafür auch neue Besucher/-innen ermutigen, eigene Ideen zu artikulieren sowie im ersten Schritt motivieren, eine Kultureinrichtung überhaupt zu besuchen, die bislang nicht von Interesse und Bedeutung für jemanden war. Konkret: Auf der operativen, strukturellen Ebene ist es notwendig, Kulturvermittlung als Gesamtstrategie zu begreifen, bei der die verschiedenen kulturmanagerialen, pädagogischen und programmbezogenen Ebenen einer Kultureinrich-

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tung ineinandergreifen auch in Form langfristiger Kooperation mit vielfältigen Partnern jenseits des Kultursektors. Auf der Ebene der Prozess- und Ergebnisqualität stehen Kulturvermittler/-innen vor allem vor der Herausforderung, Besucher zu ermutigen und zu befähigen, eigene Wertmaßstäbe im Umgang mit Kunst zu entwickeln und Raum zu öffnen für eigene Interpretationen. Zugleich kann und muss professionelle Kulturvermittlung inhaltliches Fachwissen zu ihren besonderen Gegenständen und methodische sowie künstlerisch-gestalterische Fähigkeiten in Vermittlungsprozesse einbringen als Basis für die Auseinandersetzung über das Medium Kunst sowie als Basis dafür, Ideen und ästhetische Gestaltung von Laien professionell in Szene setzen zu können. Empathie und auch persönliches Interesse an Menschen anderer sozialer Gruppen und Herkunft ist die Voraussetzung, damit wechselseitige Lernprozesse stattfinden können. Dies beinhaltet auch, Besucher/-innen genauso wichtig zu nehmen wie die Kunst und die sozialen, kommunikativen Dimensionen von Kunstrezeption und -produktion zu stärken. Wenn Kulturvermittlung dabei selbst als kreativer und künstlerischer Prozess gestaltet wird, kann das vor standardisiertem Vorgehen schützen und dazu beitragen, Vermittlungssituationen immer neu und kontextbezogen zu entwickeln. Denn künstlerische Kunst- und Kulturvermittlung basiert darauf, Prinzipien der Künste in die Kulturvermittlung einzubringen: wie die Verbindung von emotionalem, sinnlichen und kognitivem Zugang, die Deutungsoffenheit bzw. Mehrdeutigkeit von Kunst, oder ihr Potenzial auch Widersprüche auszuhalten und unterschiedliche subjektive Ansichten und Perspektiven gleichberechtigt produktiv werden zu lassen. Auf der normativen Ebene gilt es, den eigenen Kulturbegriff sowie den der Institution, für die man tätig ist, ebenso wie Wertzuschreibungen gegenüber anderen ästhetischen und kulturellen Präferenzen zu reflektieren. Die Website »Kulturvermittlung Schweiz« benennt dafür Leitfragen und »Kriterien für eine vornehmlich dekonstruktive und eine transformative Kulturvermittlung«, mit denen Kulturvermittler ihre Arbeit selbstkritisch reflektieren können (vgl. www. kultur-vermittlung.ch, Kapitel 8). Auch der (Hoch-)Kulturbegriff, wie wir ihn in Deutschland pflegen, und die traditionelle Trennung von E- und U-Kultur hat sich als eine wesentliche Hemmschwelle erwiesen für ein breit wahrgenommenes öffentliches Kulturleben. Hier ist kritisch zu hinterfragen, ob und warum bestimmte populäre Kulturformen als qualitativ minderwertiger, weniger komplex, weniger bildend betrachtet werden; denn die künstlerische Qualität wird ja immer als wesentliches Argument dafür genannt, dass bestimmte Kulturinstitutionen und Kulturformen öffentliche Förderung beanspruchen können und andere eben nicht. Das Hinterfragen eines normativen Kulturbegriffs und die Anerkennung verschiedener Kulturformen, sei es klassische Kultur, Popkultur, Soziokultur, Volkskultur, Breitenkultur oder digitale Kultur, als verschieden aber gleichwertig, ist Voraussetzung für Kulturvermittlung, die nicht zur Missionierung werden will.

Sozial integrative Kultur vermittlung

Zusammenfassende Thesen zur Kultur vermittlung von Kulturinstitutionen • Kulturvermittlung ist als ganzheitliches Konzept vom Aufmerksamkeitsmanagement über den Auf bau neuer Partnerschaften mit Sozial- und Bildungseinrichtungen bis zur Anregung zu künstlerisch-ästhetischem und kulturellem Gestalten zu begreifen. Sie basiert im Rahmen von Kultureinrichtungen auf einer alle Bereiche einer Organisation umfassenden Zielsetzung der Besucherorientierung. • Kulturvermittlung kann sowohl reproduktiv wie dekonstruierend sein und manchmal sind die Übergänge fließend; sie kann vorhandene Machtverhältnisse bestätigen in der Bestimmung dessen, was kultureller Kanon ist und was vermeintlich die wertvollere gegenüber weniger wertvoller Kultur; Kulturvermittlung kann aber ebenso Menschen unterschiedlicher Milieus ermutigen, sich und ihre Kultur einzubringen und durchzusetzen als Akteure eines öffentlich gestalteten Kulturlebens. • Gängige Erwartungen an Kulturvermittlung sind die des »allwissenden Erzählers« und »autorisierten Sprechers«, der sagt, wie Kunst zu sehen und zu deuten ist. Kulturvermittlung steht im Zwiespalt, diese Erwartungen nicht zu enttäuschen und zugleich auch nicht vorgebildete Laien zu ermutigen, sich eigene Werturteile zuzutrauen und die Angebote aktiv zu nutzen. Kulturvermittlung kann Fachkompetenz einbringen, aber auch Freiräume schaffen für eigene Ideen neuer Nutzer/-innen und daraus Lernprozesse und Perspektivenwechsel auch für die Kulturschaffenden in den Institutionen entwickeln. • Kulturvermittler/-innen sind sowohl »Schwellenabbauer« gegenüber kulturellen Angeboten als auch »Brückenbauer« zwischen Menschen verschiedener kultureller Interessen und Herkunft und in Zukunft möglicherweise verstärkt auch Moderatoren, die bestehende Interessenskonflikte sichtbar machen. • In dieser komplexen Situation ist ihre Professionalität unverzichtbar: Ihr Wissen um Barrieren und um ganz unterschiedliche kulturelle Interessen, ihr Wissen um Kunst und Kunstcodes, ihre Kompetenz, ästhetische Prozesse bei Laien zu initiieren und Ergebnisse in Szene zu setzen, auch ihre Begeisterung für bestimmte (hochkulturelle) Kunstformen bei gleichzeitigem Wissen um und Offenheit für andere Formen sowie ihr Reflexionsvermögen kultureller Machtverhältnisse. Welche Schlüsse sie daraus jeweils für die Ziele und Gestaltung ihrer Arbeit als Kulturvermittler ziehen, wird individuell ganz unterschiedlich sein – entscheidend ist, dass sie diese reflektieren, hinterfragen und Vermittlung als immer neue Gestaltungsaufgabe begreifen.

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Sozial integrative Kultur vermittlung

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Die Brücke als Riss Reproduktive und transformative Momente von Kunstvermittlung Alexander Henschel

Die Intervention »Mind the trap!« auf der Tagung »Mind the gap!« im Deutschen Theater 2014 hat mindestens dies verdeutlicht: Das einseitige Entwerfen von Brücken erzeugt nicht immer eine Verbindung zwischen zwei Ufern, sondern stellt zuweilen den Riss, der überbrückt werden soll, erst her. Die Ambivalenz zwischen Brücke und Riss, zwischen Schlichtung und Konflikt oder zwischen Reproduktion und Transformation sind dabei konstitutive Elemente jedes ernstzunehmenden Vermittlungsprozesses, und ich will im Folgenden ebendiese Ambivalenz herausarbeiten und zeigen, was passiert, wenn sie ausgeblendet wird. Ich werde dabei zunächst ein Beispiel einführen und dieses Beispiel mit all seinen singulären Problemen, seinem Gelingen und seinem Scheitern als ReflexionsAnlass nutzen, um drei Begriffe zu entwickeln: »Vermittlung«, »Reproduktion« und »Transformation«. Von dort aus will ich fragen, was Kunstvermittlung dazu beitragen kann, um mit Lücken umzugehen, welche die Tagung »Mind the gap!« beschäftigt haben.

B rückenbau Ich springe nach Südtirol und dort nach Bolzano bzw. Bozen, das u.a. durch den Tafelbach geteilt wird. Dabei sind die Stadtviertel westlich des Flusses mehrheitlich italienischsprachig und die östlichen Viertel mehrheitlich deutschsprachig geprägt. Ein Zentrum der westlichen Uferseite bildet das traditionsreiche Viertel Don Bosco, mittlerweile charakterisiert durch sozialen Wohnungsbau, vom rechtsnationalen Internetblog dolomitengeist »sozialer Brennpunkt« und »Migranten-Hochburg« genannt. Auf der anderen Seite des Flusses, unmittelbar am Ufer gelegen, steht das Museion – Museum für moderne und zeitgenössische Kunst. Ausgehend von der »Feststellung, dass sich die Kunst […] seit einigen Jahrhunderten großen Bevölke-

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rungsschichten entfremdet hat« (Cigolla 2004: 2), hatte das Amt für italienische Kultur – in Bozen gibt es drei Kulturämter, eines für italienische, eines für ladinische und eines für deutsche Kultur – die Idee, die Bewohner/-innen von Don Bosco am kulturellen Gut des Museion verstärkt teilhaben zu lassen. In Zusammenarbeit mit dem Museion beauftragte das Amt den Künstler Alberto Garutti, der ins Herz des Don Bosco-Viertels eine Art Mini-Ausgabe des Museions platzierte. 2003 wurde der »Cubo Garutti« aufgestellt: Ein weiß gestrichener Kubus, mit den Maßen 3 x 3 x 3 Meter und zwei großen Glasfronten; eine Outdoor-Vitrine, in die das Museum wechselnde Objekte aus seiner Sammlung hineinstellte. Auf dem Cubo ist der Satz von Garutti zu lesen: »In diesem kleinen Raum werden Werke aus dem Museum für moderne und zeitgenössische Kunst Bozen ausgestellt, damit die Bewohner dieses Stadtteils sie betrachten können.« Der Cubo sollte, so Luigi Cigolla vom Amt für italienische Kultur, als »Maßnahme […] zur Bildung des Publikums« und als »Anreiz für die betroffenen Bürger« dienen, sich mit zeitgenössischer Kunst zu beschäftigen, ohne dabei die »Schwelle einer Einrichtung überschreiten zu müssen« (ebd.) Es ging demnach um Schwellenabbau bzw. den Auf bau einer Brücke zwischen zeitgenössischer Kunst und den Bewohner/-innen des Don Bosco-Viertels. Aufgestellt wurde der Cubo an einem halb öffentlich, halb privaten Platz in Don Bosco, einem großen Innenhof, umgeben von sozialen Mietwohnungsbauten und durchzogen von mehreren sich kreuzenden Fußwegen. An derselben Stelle befindet sich ein Spielplatz und für die Aufstellung des Cubo musste ein Klettergerüst entfernt werden. War es der Gedanke des Amtes, ein »neues Publikum an die zeitgenössische Kunst heranzuführen« (ebd.), so machte sich in Don Bosco jetzt Ärger breit. Sichtbar wurde der Ärger aber zunächst nur dadurch, dass der Cubo als Graffiti-Wand und zuweilen als öffentliche Toilette genutzt wurde. Eine andere öffentliche Plattform, an der sich Kritik am Cubo hätte abbilden können, gab es nicht. Erst 2008/2009 wurde die Kunstvermittlungsabteilung des Museums involviert, damals noch unter der Leitung von Michael Giacomozzi, und erst zu diesem Zeitpunkt begann das Museion seine Ausstellungspraxis zu verändern. So wurden 2009 die Künstler/-innen Alessandro Sambini und Daniele Ansidei mit der Bespielung des Cubo beauftragt, die zunächst eine Umfrage unter den Nachbar/-innen machten. Statt aber mit einem fertig gepackten Methodenkoffer anzureisen, klingelten sie zunächst, hörten zu und ließen dabei all den Ärger über sich ergehen, den der Cubo verursachte. Ärger nicht nur über den unsensiblen Umgang mit den räumlichen Gegebenheiten des Hofes, sondern auch über die Wahrnehmung, dass die Bewohner/-innen von Don Bosco offenbar ein Defizit an kultureller Bildung hätten, das man mit der »Maßnahme« des abgestellten Minimuseums auszugleichen gedachte. Doch nicht nur Ärger zeichnete sich ab, sondern auch positive Reaktionen sowie »ein starker Wille zur Mitgestaltung und zur Diskussion über Kunst«. Die Folge war das Projekt »Große Lotterie in Don Bosco«, bei der auch verhandelt wurde, was die Bewoh-

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ner/-innen jeweils unter Kunst verstehen und was sie gerne im Cubo zeigen würden. Doch nicht nur die Kunstvermittlung des Museion ist seitdem in Planung und Betreuung des Cubo involviert, sondern auch der Kulturverein La Rotonda – La Vispa Teresa, der nur ein paar Meter vom Cubo entfernt seinen Sitz hat. Ein Ort, an dem alltägliche Interessen und Probleme der Bewohner/-innen, kulturelle und künstlerische Angebote und lokalpolitische Auseinandersetzungen aufeinander treffen und eine engagierte Plattform finden. Aus dem einseitigen, »von Amts wegen« aufgestellten und vom Museion bespielten Ausstellungsraum ist inzwischen ein kollaboratives Projekt geworden. Im Cubo entstehen Ausstellungen, die von einer mehrseitigen Zusammenarbeit aus Kurator/-innen, Bürger/-innen, Künstler/-innen, Wohnungsbaugesellschaft sowie Mitgliedern des Vereins La Rotonda geprägt sind. »Aber«, so Ivo Corrà, Projektleiter des Bereichs »Bildungsprojekte« am Museion, »man kann den Cubo nicht alleine lassen.« (Corrà 2014) Permanent macht sich neuer Ärger breit, neue Argumente gegen den Cubo werden verhandelt und es bedarf einer permanenten Vermittlung zwischen den verschiedenen Interessen und Institutionen sowie einer permanenten kommunikativen Möglichkeit, »Ärger auf den Tisch zu legen« (ebd.). Die Vermittlung meines Beispiels ist demnach nicht abgeschlossen. Sie ist eine Vermittlung in Permanenz.

D er B egriff der V ermit tlung Ich will mich nun meinem ersten Begriff, dem der »Vermittlung«, zuwenden und drei Aspekte des Begriffs herausarbeiten.

Richtung der Vermittlung Ein erster Aspekt betrifft die Richtung einer Vermittlung. Von wo nach wo wird eigentlich etwas oder jemand vermittelt? Im Programmheft zur Tagung »Mind the Gap« gab es dazu ein aufschlussreiches Statement: »Um neue Besucher anzusprechen, müssen Formen und Formate von Kulturvermittlung entwickelt werden, die eine größere Reichweite kultureller Angebote in den Alltag einer vielfältigen Bevölkerung hinein entfalten können.« Vermittlung wäre dann in eine Richtung gedacht, ginge von A aus nach B. Und genauso lief es auch zunächst in Bozen. Das Kulturamt wollte die Reichweite des kulturellen Angebots des Museion vergrößern und stellte in den Alltag des Viertels Don Bosco den Cubo hinein, oder anders gesagt: Das Museum stellte sein Angebot ab. Abgesehen davon, dass zu diesem Zeitpunkt die Vermittlungsabteilung des Museion überhaupt noch nicht involviert war, möchte ich hier in Frage stellen, ob bei einem solchen unidirektionalen Vorgehen überhaupt sinnvoll von Vermitt-

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lung gesprochen werden kann. Vermittlung im Sinne einer Schlichtung würde niemals funktionieren, wenn am Anfang nicht ein Prozess wechselseitiger Anerkennung stünde. Ohne Anerkennung der jeweils anderen Position braucht ein Schlichtungsgespräch gar nicht erst beginnen, weil im Grunde schon vorher feststeht, wer wen dominieren wird. Und auch im pädagogischen Wortsinn von »Vermitteln« (der meistens aufgerufen zu sein scheint, wenn von Kulturvermittlung die Rede ist), bei dem »etwas«, zum Beispiel Wissen über etwas, vermittelt werden soll, kann Vermittlung nicht in eine Richtung funktionieren: Lernen und Lehren sind sich wechselseitig bedingende Prozesse, es gibt stets wechselseitige Lerneffekte. Die kann man höchstens verdecken, ausschalten kann man sie nicht. Vermittlung müsste also per se in mehrere Richtungen funktionieren, müsste mindestens aus zwei Richtungen, wenn nicht aus vielen Richtungen heraus gedacht werden. Für einen einseitigen und verlustfreien Transfer von Informationen steht dagegen ein anderer Begriff zur Verfügung, nämlich der der »ÜberMittlung«. In eine mehrperspektivische Vermittlungspraxis scheint mir der Umgang mit dem Cubo gemündet zu sein. Aus einem anfangs unidirektionalen Vorgehen wurde eine Kooperation aus vielen Richtungen. In Vermittlung ernsthaft involviert, statt ihr bloß ausgesetzt zu sein, müsste also heißen, anerkannt zu werden und an den Spielregeln von Vermittlung mitschreiben zu können. Denn, so Nora Sternfeld, »warum sollte überhaupt irgendjemand Lust haben, bei einem Spiel mitzuspielen, das gänzlich andere erfunden haben?« (Sternfeld 2012: 119) Anerkennung müsste dann mindestens bedeuten, jemanden so zu nennen, wie sie, er oder wer auch immer sich selbst nennt, und das dürfte, um ein anderes Beispiel anzuführen, in den seltensten Fällen »Mensch mit Migrationshintergrund« sein. Im Hinblick auf die Vermittlung von Wissen würde gegenseitige Anerkennung weiterhin bedeuten, die, wie Carmen Mörsch schreibt, »Gleichwertigkeit unterschiedlichen Wissens« anzuerkennen (Mörsch 2009b: 251) und, auf die mittlerweile mehrperspektivische Ausstellungs- und Vermittlungspraxis des Cubo bezogen, die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Herangehensweisen an Kunst. Die Intervention »Mind the trap!« hat die Brisanz des Kampfes um Anerkennung deutlich gemacht. So ging es den Akteur/-innen gerade nicht darum, als betroffene Objekte zur Tagung eingeladen, sondern als Subjekte, als Expert/-innen und Forscher/-innen auf dem Gebiet der sozialen Exklusion im Rahmen von Kulturpraxis anerkannt zu werden. Dass ihnen dieser Platz auch im Nachgang der Tagung nicht immer zuerkannt wurde, zeigen einige Reaktionen im Anschluss. So schreibt Vanessa-Isabelle Reinwand-Weiss, Direktorin der Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel, in einem Beitrag zur Tagung: In vielen gesellschafts- und politiknahen Wissenschaftsdisziplinen wird allzu vorschnell der Sprung von der Analyse in die praktischen Handlungsempfehlungen an spezifische Adressaten vorgenommen. Wissenschaft ist aber zunächst einmal dazu da, zu analysieren und

Die Brücke als Riss zu verstehen. Von welchem Ärztekongress würde man erwarten, dass natürlich Patienten eingeladen werden und mitdiskutieren, weil es ja um diese geht? (Reinwand-Weiss 2014)

Ein Vergleich, der so falsch wie symptomatisch ist. Falsch ist der Vergleich, weil die Tagung eben nicht ausschließlich von Vertreter/-innen der Wissenschaft (meines Erachtens »Patientin«, da unter strukturell bedingten, blinden Flecken leidend) bestritten wurde, sondern ebenso von Vertreter/-innen aus Institutionen (ebenfalls »Patientinnen«, da unter zunehmenden Legitimationsschwund leidend). Falsch ist der Vergleich auch, weil die von »Mind the trap!« vorgeschlagenen Referent/-innen aus einer ebensolchen Mischung aus Wissenschaftler/-innen und Praktiker/-innen (gleichsam nicht von Leiden befreit) bestand. Symptomatisch ist der Vergleich und seine argumentative Einbettung, weil er einen Wissenschaftsbegriff behauptet, der immer noch von der Möglichkeit reiner Wirklichkeitsbeobachtung und »Analyse« ausgeht und seine eigene, Wirklichkeit herstellende und zuweilen diskriminierende Praxis nicht erkennt. Symptomatisch ist der Vergleich zuletzt auch, weil er zeigt, wie Kunst- und Kulturvermittlung nach wie vor entworfen werden: nämlich unidirektional und defizitgesteuert. Sie soll denen zukommen, denen ein Problem, etwa ein Defizit an kultureller Bildung, an Teilhabe oder auch »fehlende Motivation, Kulturveranstaltungen zu besuchen« attestiert wird. Ein solch defizitärer Entwurf der Adressat/-innen von Vermittlung würde jeden Schlichter zur Verzweiflung bringen. Bei einer dermaßen einseitigen Ausgangslage müsste ein Schlichter erst einmal intervenieren, bevor Vermittlung im Sinne einer Mediation überhaupt stattfinden könnte. Und eben das haben »Mind the trap!« getan. Sie haben interveniert und verdeutlicht, dass Partizipation – ein weiterer Begriff, von dem auf der Tagung immer wieder als scheinbarem Lösungsmittel des Schwellenproblems die Rede war – nicht einfach zugewiesen werden kann, sondern erkämpft werden muss (vgl. Sternfeld 2012: 123).

Vermittlung als Verbindung durch Trennung Ein zweiter Aspekt des Vermittlungsbegriffs schließt direkt daran an und fragt nach dem Zusammenhang von Intervention und Vermittlung bzw. stellt erst einmal die Frage, was eigentlich die Funktion von Vermittlung ist und was nicht? Im Hinblick auf den derzeit geführten Diskurs erhärtet sich der Eindruck, es sei Funktion der Vermittlung, Verbindungen zu schaffen, Lösungen herbei- oder gar Heilung durchzuführen. Die immer wieder aufgerufene Metapher der Brücke (vgl. z.B. Goebl 2002: 38, Mandel 2008: 19) suggeriert, man könne einen Bruch, einen Konflikt, einen Widerspruch, eine Lücke durch Vermittlung überbrücken und ihn so nivellieren. Dabei legt die ältere Wortgeschichte von »Vermittlung« das Gegenteil von Vermittlung als Verbindung nahe: Im Mittelhochdeutschen lässt sich die Bedeutung der Vermittlung als Trennung nachweisen (Grimm/ Grimm 1956: Sp. 877f.) Das »Mittelhochdeutsche Handwörterbuch« etwa führt

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das Lemma »ver-mitteln« als »hindernd wozwischen treten« (Lexer 1878: Sp. 181). So vermittelt etwa der Leib zwischen Gott und Menschheit, indem er »als störendes mittelding zu gott und den menschen« steht (Grimm/Grimm 1956: Sp. 878). Im Neuhochdeutschen dominiert zwar die Bedeutung des Vermittelns als Verbinden, doch ist das Moment der Trennung nicht verschwunden, im Gegenteil: Bei jeder Form des Vermittelns, bei der ein Dritter eine Rolle spielt, bei der also ein Dritter als Vermittler sich zwischen zwei Teile schiebt, wird verbunden und getrennt zugleich. Eine Schlichterin trennt gleich auf mehre Weisen: Sie trennt etwa zwei Streithähne, um überhaupt sprechen zu können bzw. unterbricht Kommunikationsprozesse, wenn von Anbeginn die eine Seite die andere dominiert. Beide Formen der Trennung wären Voraussetzungen für eine mögliche Verbindung. Vermittlung als Verbindung durch Trennung: Ein offensichtlich widersprüchlicher Begriff und genau als solcher wird und wurde er in der Philosophie diskutiert. So thematisiert etwa Immanuel Kant in seiner »Kritik der reinen Vernunft« die Vermittlung von Wissen und meint damit keineswegs jenes Wissen, das direkt und ohne Einschränkung in unseren Kopf gelangen würde. Das wäre nämlich unmittelbares Wissen. Vermitteltes Wissen wäre dagegen solches, das ver-mittels unserer Wahrnehmung, also durch unseren jeweils ganz eigenen Beobachtungsapparat, immer schon verändert wird (vgl. Kant 1787: 124ff, Oliveira 1973:  44). Wissen wäre also nach Kant nur vermittelt und niemals unmittelbar zu haben, wäre nicht restlos erschließbar. Wissen als ein konstitutiv vermitteltes wäre immer schon einem Bruch, einem Konflikt, einem Widerspruch mindestens zwischen dem ausgesetzt, was ich wahrnehme und dem, wie ich wahrnehme. In Anschluss daran haben G.W.F. Hegel, Karl Marx, Theodor W. Adorno und Gotthard Günther den Begriff der Vermittlung weitergetrieben und es lässt sich quer zu all diesen Positionen mindestens dies formulieren: Es ist nicht die Funktion der Vermittlung, gegen Konflikte, Brüche und Widersprüche zu arbeiten, sondern es ist die Funktion der Vermittlung, mit Konflikten, Brüchen und Widersprüchen zu arbeiten (vgl. Henschel 2012: 22). So schreibt etwa Adorno in seiner »Negativen Dialektik«: »Vermittlung sagt keineswegs, alles gehe in ihr auf, sondern postuliert, was durch sie vermittelt wird, ein nicht Aufgehendes.« (Adorno 1980: 174) Vermittlung ist ohne Konflikte, Brüche, Lücken und Widersprüche nicht zu haben. Für eine Verbindung ohne Trennung, ohne Lücke steht dagegen ein anderer Begriff zur Verfügung, nämlich der der Un-Mittelbarkeit (vgl. Arndt 2004). Die Widersprüchlichkeit des Vermittlungsbegriffs lässt sich auch auf Bozen übertragen: Man meinte es gut, wollte Schwellen abbauen und Lücken schließen. Man wollte eine Brücke bauen und erzeugte stattdessen einen regelrechten Riss. Es war daraufhin aber nicht die Leistung der Kunstvermittlung diesen Riss zu kitten, sondern mit dem Konflikt um den Cubo zu arbeiten. Das heißt konkret: Die Kunstvermittlung hat dem Konflikt zu einer öffentlich kommunikablen Platt-

Die Brücke als Riss

form verholfen und einen Raum ermöglicht, in dem »Ärger auf den Tisch gelegt« werden konnte. Vermittlung hätte demnach nicht die Funktion, Schwellen abzubauen, sondern, mit Bezug auf eine Formulierung Birgit Lengers, Schwellen und Konflikte in Szene zu setzen, sie ans Licht zu bringen und andere (Macht-)Verhältnisse zu ermöglichen. In diesem Sinne betrieben »Mind the trap!« konkret Vermittlung: Sie intervenierten, zogen eine Trennlinie, brachten einen Konflikt ans Licht, setzen ihn performativ in Szene, um ihn anschließend in einer Pressekonferenz öffentlich und diskutabel zu machen.

Vermittlung als Relationsbegriff Der dritte Aspekt stellt die Frage danach, was Vermittlung eigentlich »ist«. Auch hier möchte ich die Brückenmetapher in Frage stellen. Denn das Bild der Vermittlung als Brücke suggeriert, Vermittlung sei ein Ding, ein Produkt, von dem man nur genau wissen müsste, wie es aussehen soll und wo man es hinstellen will, um es seriell zu erzeugen. Doch der Konflikt um den Cubo hat gezeigt, dass die derzeitige offene Vermittlungsarbeit erst durch die Einsicht der Museumsleitung in die eigenen Defizite und ihre Bereitschaft, Kontrolle abzugeben, möglich wurde. Erst der Übergang von einer vermeintlich kontrollierten in eine für alle Seiten unkalkulierbare Situation hat neue Verhältnisse geschaffen, die ein gemeinsames Arbeiten erlaubt. Damit ist aber kein abgeschlossenes Produkt erzeugt worden, sondern ein fortlaufender Prozess, der immer noch von Konflikten und Widersprüchen, von Unwägbarkeiten und Machtkämpfen durchzogen ist. In der Philosophie lässt sich zu der Frage, was für ein Ding oder Produkt Vermittlung nun sei, lesen, dass Vermittlung »an sich« gar nichts ist, sondern nur dadurch besteht, dass sie sich auf etwas bezieht. Vermittlung dagegen als eigenständiges und objektivierbares Ding zu betrachten würde, in Anlehnung an Adorno, bedeuten, einen Substanz- mit einem Relationsbegriff zu verwechseln (vgl. Adorno 1971: 32). Wenn demnach Vermittlung ein Relations- statt Substanzbegriff ist, dann lässt sich daraus folgern, dass • Vermittlung stets abhängig ist von dem, worauf sie sich bezieht. Vermittlung ist abhängig von der Geschichtlichkeit und Wandelbarkeit ihrer Relate und ist deshalb konstitutiv als offener Prozess zu denken, der Veränderung impliziert. Die Frage »vermitteln oder verändern?« stellt sich demnach nicht. Transformative Momente sind vielmehr Bedingung für Vermittlung. • Vermittlung an sich keinen Eigenwert hat. Sie stellt Relationen zwischen Bestehendem her und reproduziert damit immer auch das, worauf sie sich bezieht. • Das bedeutet, so meine These, dass Reproduktion und Transformation zwei Seiten des Vermittlungsbegriffs sind. Man kann dazu auch den Umkehrschluss machen: Was wäre etwa Reproduktion ohne Transformation? Sie wäre

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sicher keine Vermittlung, sondern unmittelbare Reproduktion (eines Schemas, von Wissen etc.). Andersherum wäre Transformation ohne Reproduktion ebenfalls keine Vermittlung, weil sie sich auf nichts bezöge, keine Relationen herstellte. Transformation ohne Reproduktion wäre schlichtweg nichts.

R eproduk tion und Tr ansformation in der K unst vermit tlung Reproduktion und Transformation sind also zwei Seiten des Vermittlungsbegriffs, die nicht von diesem zu trennen sind. Wenn nun aber Carmen Mörsch, als Forscherin im Bereich Kunstvermittlung, Reproduktion und Transformation als unterschiedliche Diskurse von Kunstvermittlung behandelt (vgl. Mörsch 2009a), dann verstehe ich sie nicht so, dass sie unterschiedliche Praxen eindeutig einem Raster zuordnet, sondern so, dass sie unterschiedliche Muster in Praxis und Theorie der Kunstvermittlung beobachtet. Beides, reproduktive und transformative Kunstvermittlung, will ich hier durchspielen. Was wären etwa in Bezug auf den Cubo reproduktive Momente gewesen? Was wurde reproduziert? Reproduziert wurde von Anfang an mindestens dies: Kunst. Mit der Implementierung des Cubo und die wechselnden Ausstellungen wurde ein ganzer Diskurs aufgerufen und, diesen wiederholend, in einen neuen Kontext gestellt. Reproduziert wurden zudem bestimmte Sichtweisen auf Kunst, bestimmte Kunstbegriffe, oder zugespitzt: Das Museion hat sich durch den Cubo selbst reproduziert. Vermittlung ist immer auch Selbst-Vermittlung (vgl. Block 1995: 35). Mit der Platzierung des Cubo in Don Bosco wurde aber auch eine Lücke reproduziert. Ich habe es vorhin schon angedeutet: »Die« Bewohner des Don Bosco Viertels fühlten sich u.a. deshalb übergangen, weil man sie als homogene Gruppe behandelt hatte, die Defizite aufweist, nämlich ein Defizit an kultureller Teilhabe. Sie wurden als Teil eines sozialen Brennpunkts behandelt, den man mit einer gut gemeinten Geste aufwerten wollte. Das Gegenteil ist zunächst passiert, die Schwelle, die Barriere, die Lücke wurde nicht abgebaut, sondern reproduziert, sogar verstärkt. Die Reproduktion von stereotypen Annahmen im Rahmen von Kunst- und Kulturvermittlung ist dabei kein neues Phänomen. Seit sich von Kunstvermittlung sprechen lässt, seit also über 150 Jahren (vgl. Sturm 2002: 200), ist immer von irgendwelchen Zielgruppen die Rede, die man an den Gütern der sogenannten Hochkultur teilhaben lassen will. Im wilhelminischen Deutschland waren es »die Armen« und in den 1960er/70er Jahren »die Arbeiter«. So schreibt Michael Hofmann 1975 über staatlich subventionierte Kunstvermittlung und die Idee, Museen nach den Bedürfnissen »der Arbeiter« auszurichten und im Sinne eines Vergnügungsparks zu entwerfen:

Die Brücke als Riss Die auf dieser Basis operierende staatliche Kunstvermittlung […] reproduzierte nicht nur die notwendigen Mißerfolge des Kunsthandels, sondern erntete zusätzliche, als sie einen eigenständigen Beitrag zur Demokratisierung der Kunst leisten wollte. Da es ihr um die Erschließung neuer Besucherschichten, insbesondere aus der Arbeiterklasse, ging, sie aber traditionell an deren Fähigkeiten zu geistiger Auseinandersetzung zweifelte, bot es sich an, die […] Neuerungen der […] Kunst (Verwendung industrieller Werkstoffe, kinetische Kunst, Aufwertung von Spielautomaten) zu einem eigenen Didaktikverschnitt zusammenzufügen: Die Museen müssen attraktiv sein, Spielereien bieten, Reize, etwa eine Lichtorgel, an der jeder Besucher arbeiten […] kann, kinetische und technische Kunstwerke, veränderbare Objekte, an denen der Besucher mitbaut. (Hofmann 1975:140)

»Notwendig« waren die Misserfolge der Demokratisierung zum einen, weil eine homogene Gruppe mit bestimmten Bedürfnissen und Fähigkeiten angenommen wurde, wo keine bestand, und zum anderen, weil der Kunstdiskurs der frühen 1970er Jahre schon längst über die benannten »Neuerungen der Kunst« hinaus war. Aus den Armen und Arbeitern sind nun im Zuge der letzten Jahre vielfältigere und immer weiter differenzierte Zielgruppen geworden für die maßgeschneidert Kunstvermittlungsprojekte angeboten werden: Menschen mit Migrationshintergrund, Arbeitslose, Jugendliche, arbeitslose Jugendliche, arbeitslose Jugendliche mit Migrationshintergrund usw. Sternfeld schreibt zu dieser Entwicklung: Offensichtlich […] sind die Vermittlungskonzepte, die sich an marginalisierte Gruppen richten bzw. deren Ziel die soziale Inklusion ist, bei näherer Betrachtung viel mehr von Zuschreibungen als von Selbstdefinitionen getragen. Hier werden zumeist neue Zielgruppen definiert, deren Anliegen zur Inklusion als benannte und ausgemachte gesellschaftliche Gruppen in zahlreichen Aspekten die Exklusion […] sogar verstärken kann. Gerne ist hier etwa in Vorstellungen von partizipatorischen Projekten dann stolz von ›ehemaligen Drogensüchtigen‹ zu hören – eine Zuschreibung, die die Vergangenheit der Beteiligten in ihre Gegenwart in einer Ausstellung hereinträgt. (Sternfeld 2012: 124)

Manche Einladungen, basierend auf reproduzierten Annahmen über Zielgruppen, entpuppen sich so als Ausladungen. Auch transformatorische Momente lassen sich am Beispiel des Cubo beobachten. Transformation, so ich wie Mörsch verstehe, kam in Bozen dann ins Spiel, als die Museumsleitung bereit war, Macht abzugeben. Die Transformation des Verhältnisses zwischen Cubo und Bewohner/-innen von Don Bosco war erst möglich, als alle Beteiligten an den Spielregeln mitschreiben konnten. Das macht nochmals deutlich: Will Vermittlung nicht einen einseitigen Fokus auf reproduzierende Momente richten, dann wird sie unkalkulierbar. Alle an Vermittlung Beteiligten sind Momenten von Kontrollverlust ausgesetzt. Gleichzeitig gilt es auch hier, kritische Fragen zu stellen. Es müsste etwa genauer untersucht werden, ob die Transformation der Verhältnisse in Bozen tat-

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sächlich so weit geht, dass mit dem Cubo einen nachhaltiger Möglichkeitsraum gebildet oder ob nicht mittlerweile, mit kleinen Zugeständnissen, alte Verhältnisse hergestellt wurden. Denn auch Transformation ist nicht als eindeutiger Begriff zu fassen, sondern weist gleichsam ambivalente Merkmale auf. So hat Sternfeld in Bezug auf den Philosophen Antonio Gramsci herausgearbeitet, dass Transformation auch die Funktion einer Herrschaftstechnik übernehmen kann, nämlich dann, wenn Institutionen lediglich wohldosiert Veränderungen zulassen und Kritiker/-innen integrieren, statt die bestehenden Spielregeln und Ressourcenverteilungen ernsthaft zur Disposition zu stellen (vgl. Sternfeld 2012: 121ff.). Störungen stabilisieren zuweilen das System, statt es ins Wanken zu bringen (vgl. z.B. Krauss 2009: 187). Das heißt: Auch transformative Kunstvermittlung ist kein Heilmittel, keine Lösung. Es gibt, hält man sich an den Begriff der Vermittlung, keine Lösung! Das bedeutet aber nicht, dass alle Institutionen, die mit Kunstvermittlung zu tun haben, handlungsunfähig wären. Es bedeutet zunächst nur, dass es für die Praxis der Kunstvermittlung keinen festen Boden unter den Füßen gibt. Institutionen müssen deswegen aber nicht untergehen, sondern das Schwimmen lernen.

P l ädoyer : mit L ücken Ich springe nun von der Analyse in die praktischen Handlungsempfehlungen und plädiere für eine veränderte Vermittlungs- wie Forschungspraxis: Ich plädiere für weniger Kontrolle. Die immer neue Formulierung neuer Zielgruppen und die immer besser messbare Zusammensetzung solcher Zielgruppen ist ein Mehr an Kontrolle, ein Regulierungsinstrument, das aufzugeben ist, weil es potenzielle Adressat/-innen von Kunstvermittlung zu »Objekten der Repräsentation« (Sternfeld 2012: 120) macht und ihnen die Möglichkeit zur Selbstdefinition nimmt. Selbstdefinition ist aber eine Grundvoraussetzung für Anerkennung und damit für Vermittlung. Ich plädiere demnach für ein wissenschaftliches Methodenprogramm, das die Komplexität von Vermittlungsprozessen – zwischen Kunst, Institutionen, Akteur/-innen, Publikum, Nicht-Publikum, lokalen Kontexten – berücksichtigt, statt sie zu einer Seite hin, etwa zur Nicht-Publikums-Seite, zu vereinfachen (vgl. z.B. Heil 2007). Die Erforschung von möglichen Schwellen und Lücken halte ich für eine gute Idee, sofern sie nicht vor den Institutionen haltmacht und auch innerhalb von Institutionen nach Schwellen und Lücken sucht, sich also auch die Frage stellt, was eigentlich mit den vermeintlich marginalisierten Gruppen geschieht, wenn sie erst einmal im Museum sind. Es muss also nach wie vor untersucht werden – das verdeutlicht das alternative Tagungsprogramm »Mind the trap!« –, inwieweit strukturelle Ausgrenzung innerhalb von Institutionen stattfindet.

Die Brücke als Riss

Ich plädiere dafür, Adressat/-innen von Kunstvermittlung nicht per se als defizitär zu entwerfen, die verarztet werden müssen, sondern Vermittlung als Spiel wechselseitiger Anerkennung zu begreifen. Ich plädiere mit Eva Sturm für »Singularitätsforschung« (Sturm 2012: 358), für Aufmerksamkeit für singuläre Probleme mit singulären Menschen in singulären Kontexten und gegen die Verallgemeinerung von Vermittlungsproblemen. Statt etwa vorschnell gutgemeinte Einladungen für eine bestimmte Zielgruppe auszusprechen, könnte es Ausgangspunkt von Kunstvermittlung sein, die Aufmerksamkeit auf das je ganz eigene lokale Umfeld einer Institution zu richten – die derzeitige Vermittlungspraxis um den Cubo und die Arbeit von Birgit Lengers sind dafür gute Beispiele. Schlussendlich plädiere ich nicht für weniger, sondern für mehr Vermittlung, aber mit einem differenzierten Vermittlungsbegriff, der seine eigene Ambivalenz anerkennt.

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Die Brücke als Riss

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Rein – Raus – Dazwischen Strategien zum Umgang mit der Schwelle am Deutschen Theater Berlin Ulrich Khuon, Intendant Deutsches Theater Berlin, und Birgit Lengers, Leiterin Junges DT

Der Warnruf »Mind the Gap!« mahnt uns, die Lücke zu beachten, den Abgrund sicher, d.h. bewusst zu überwinden. Schwellen markieren Übergänge zu anderen Räumen und entschleunigen den Ankommenden. Ihre räumliche Ambivalenz besteht darin, dass sie zugleich trennen und verbinden. Sie leiten durch ein ›Dazwischen‹, von dem Gefahr wie Möglichkeiten ausgehen. Die Gefahr ist schnell benannt: Schwellen können unüberwindbar und abschreckend erscheinen, den Zugang erschweren oder gar unmöglich machen. Das Problem betrifft nicht nur die Ausgeschlossenen, sondern ebenso die in ihrer Hermetik abgetrennten, leeren und leblosen Orte. Theater sind besondere, aus dem Alltag herausgehobene Orte. Orte mit bestimmten Spielregeln und Codes. Und Theater sind Orte der Vergegenwärtigung und der Gemeinschaft, in ihnen kann symbolisch und ganz konkret (Stadt-)Gemeinschaft erlebt werden. Dazu braucht das Theater Durchlässigkeit, Begegnungen mit dem, was außerhalb seiner selbst geschieht. Das bedeutet, es geht nicht darum, kulturelle Angebote verständlicher, attraktiver oder populärer zu kommunizieren, sie besser zu erklären oder gar zu simplifizieren. Es geht darum, im Kontakt zu sein mit denen, für die das Theater da ist. Dazu muss die Schwelle in beide Richtungen überschritten werden: rein und raus. Wie können Schwellen zu Schlüsseln werden? Der erste Schritt ist, die Übergänge und Differenzen sichtbar zu machen und ein Bewusstsein darüber herzustellen, was trennt und was verbindet. Der zweite Schritt der Kulturvermittlung könnte sein, die Leerstellen ästhetisch zu markieren, das Dazwischen zu inszenieren. Der niederländische Architekt Herman Hertzberger hat die Schwelle als Schlüssel und »wichtigste räumliche Voraussetzung (conditio) für die Begegnung und den Dialog von Bereichen unterschiedlicher Ordnung« bezeichnet (Hertzberger 1995). Dieser Dialog kann sich nicht darin erschöpfen, denen ›da draußen‹

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Kulturgüter nahe zu bringen, sondern aus ihm kann Kultur und Kunst entstehen, von der sich nicht nur kulturelle Eliten angesprochen und gemeint fühlen. Idealerweise wird die Schwelle zu einem aufregenden Versprechen, in andere, unbekannte und ungewöhnliche Räume zu führen. Das kann und muss nicht immer gefahrlos, bequem, ohne Irritation und Innehalten sein.

The ater als spielerischer Z ugriff auf die W elt – S chwellen als S chlüssel Begreift man Schwellen als Chance, lassen sich daraus unterschiedliche Strategien des Umgangs mit ihnen ableiten: Überschreitung und Untersuchung, Markierung und Besetzung, Inszenierung und Bespielung. Im Folgenden werden fünf Projekte und Formate vorgestellt, die beispielhaft Etappen des Annäherungsprozesses und des gemeinsamen Weges markieren, auf den sich das DT seit der Spielzeit 2009/10 mit seinen Zielgruppen begeben hat. Das Junge DT startete programmatisch mit einer Absichtserklärung, im Vorwort des ersten Spielzeithefts hieß es: Wir wollen jungen Menschen zwischen 15 und 25 Jahren, egal welcher Nationalität oder Muttersprache, alle Türen ins DT öffnen. Das Junge DT bietet Austausch über Kunst und mit Kunst. Wir verstehen Theaterpädagogik als Vermittlungskunst, als Dialog und als ästhetische Forschung. Wir wollen gemeinsam mit jungen Menschen den Freiraum, den das Theater bietet, nutzen und laden herzlich ein zum Theater-Sehen, Theater-Erfahren und Selber-Spielen – im DT und ums DT herum.

Im Zentrum dieses Mission Statements stand die gut gemeinte, aber hybride Einladung an die gesamte Berliner Jugend, zu uns ins Theater zu kommen, gekoppelt mit der Behauptung: Alle Türen sind geöffnet. Das Theater gehört euch, ihr müsst nur noch kommen und eintreten. Wir versprachen zudem, als integrativer Bestandteil des DT, den Ansichten, Interessen und Erfahrungen junger Menschen einen zentralen Raum in der Theaterarbeit zu geben, und erhofften uns vitalisierende und auch verstörende Impulse für die künstlerische Auseinandersetzung mit Wirklichkeit auf allen Bühnen des Hauses. Das Theater soll sich schließlich um die Welt drehen, nicht um sich selbst. Aber eine Einladung auszusprechen, doch bitte zu uns zu kommen, um bei uns Theater zu schauen, ist natürlich allein wenig effektiv, vor allem, wenn sie alle Ursachen des Nichtkommens ignoriert. Aus diesem Grund ging es uns von Beginn an nicht nur um die Entwicklung einer »Zuschauerkunst«, sondern um die gemeinsame Theaterarbeit von Künstler/-innen mit jungen Menschen. Den künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten Jugendlicher sollte ein prominenter Platz im DT eingeräumt werden.

Rein – Raus – Dazwischen

Uns ist bewusst, dass wir nicht erwarten können, dass sich junge Menschen für das Theater interessieren, wenn wir uns nicht für sie interessieren, und wir können nicht erwarten, dass sie zu uns kommen, wenn wir uns nicht auch auf den Weg zu ihnen machen (u.a. mit Klassenzimmerstücken, in Schulkooperationen und mit dem Format »Theater Mobil«) oder wir uns gemeinsam an dritte Orte begeben. Für den Soziologen Dirk Baecker ist jede Theateraufführung »eine der radikalsten Formen der Erprobung des Sozialen« im Verhältnis von Zuschauern und Bühnengeschehen: »Das heißt, es gibt eine soziale Situation, in der das Theater sich befindet und in der die Neugier und die Urteilskraft mobilisiert werden muss und mobilisiert werden kann, sich anzuschauen, anzuhören und auszuhalten, was auf der Bühne passiert.« (Baecker 2005: 10) Umgekehrt braucht es aber auch die Neugier des Theaters, sich anzuschauen und auszuhalten, was in der Lebenswelt seines Publikums passiert. Theater ist Beziehungsarbeit. Aus diesem Grund arbeitet das Junge DT unter dem programmatischen Motto »Rein – Raus« seit der Spielzeit 2009/10 an der Überschreitung der Schwelle in beide Richtungen. Zunächst ging es darum, rauszugehen und sich in der unmittelbaren Umgebung zu verorten.

1. Die Schwelle überschreiten – »Theatertopografie« und »Theater Mobil« In der Reihe »Theatertopografie« starteten in der ersten Spielzeit unter dem Motto »Ortssinn schärfen!« Forschungsreisen mit Jugendlichen in die nähere Umgebung des DT. Das DT zog einen Kreis um das Theater mit einem Radius von 1.000 Metern. Welche signifikanten Orte liegen in dem Kreis? Was hat das, was diese Orte beinhalten und symbolisieren, mit Theater zu tun? Was haben sie mit uns zu tun? Lassen sich diese Orte künstlerisch erkunden, erschließen? Welches Material geben sie her? Wie lässt sich das Material theatral aufbereiten und präsentieren? Welche Expert/-innen können diese Recherche begleiten? Es handelte sich zum einen um eine Wahrnehmungsschulung und Weltaneignung mit Mitteln des Theaters, zum anderen um die Aufforderung an das Theater, sich – aus der Perspektive der Jugendlichen! – dieser Themen aus dem konkreten räumlichen Umfeld anzunehmen, sie aufzunehmen und möglichst kunstvoll in Szene zu setzen. Auf künstlerische Expedition begaben sich junge Menschen gemeinsam mit Künstler/-innen und Expert/-innen unterschiedlicher Disziplinen. So recherchierten und präsentierten Jugendliche bei den Projekten »Corpus« (Regie: Gudrun Herrbold, Bettina Tornau) und »Fittes Fleisch« (Leitung: Katja Fillmann, Pamela Dürr) Körperkonzepte, die sich an konkreten Orten wie der Charité oder der Charles-Darwin-Ausstellung im Naturkundemuseum festmachen lassen. Auch das Projekt »Bühnen der Macht« verließ unter der Leitung von Mieke Matzke das Theater, um gemeinsam mit Jugendlichen das Regierungsviertel als Spielfeld umzudefinieren und eine theatrale Schnitzeljagd zu entwickeln, zu der alle Interessierte eingeladen waren. Ausgangs- und Endpunkt war hier das Deutsche Theater.

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Den dritten Schwerpunkt zur »Rein – Raus«-Programmatik bildete das Format »Theater Mobil«. Hier wurden unter Anleitung professioneller Theatermacher/-innen aktuelle gesellschaftliche Themen (wie z.B. Kinder- und Jugendarmut oder Obdachlosigkeit) aufgegriffen und mit Jugendlichen vor Ort bearbeitet. In Kooperation mit der Gruppe »The Poor Maiden Monsters« wurde ein Musiktheater-Projekt über das Thema »Armut« entwickelt. Das Junge DT schickte eine Gruppe von Künstler/-innen in einem zur Suppenküche umfunktionierten Theatermobil in die Stadt. Als Rockband »Maiden Monsters« wurde sie zur modernen Heilsarmee. Sie recherchierte mit jungen Menschen, die sie auf Schulhöfen, am Alexanderplatz, bei der Berliner Tafel usw. antraf, und entwickelte theatrale Aktionen, um auf die prekäre Lage aufmerksam zu machen und Gegenstrategien auszuprobieren. Anschließend kehrten die »Maiden Monsters« zusammen mit ihren Anhänger/-nnen in die Box & Bar des DT zurück, wo sie aus ihren Recherche-Ergebnissen eine Rock-Revue entwickelten. Die Jugendlichen eroberten sich die Bühne und das DT erschloss sich neue Zuschauergruppen.

2. Die Schwelle untersuchen und markieren – »DT – Der fremde Planet« In der zweiten Spielzeit 2010/11 sollte nach der Erforschung des Umfelds nun das DT selbst mit seinen Zugangsbarrieren, seinen offensichtlichen, subtilen und impliziten »Schwellen« in den Fokus der künstlerischen Untersuchung gerückt werden. Im Rahmen des Projektes »Kultur.Forscher!«, einem gemeinsamen Programm der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und der PwC-Stiftung Jugend – Bildung – Kultur (nähere Informationen zum Projekt unter www.kultur-forscher. de), haben wir die »Spurensucher«, elf Schüler/-innen unserer Partnerschule, der Heinrich-von-Stephan-Gemeinschaftsschule, über ein Schuljahr regelmäßig als »Feldforscher/-innen« ins Theater eingeladen. Ausgehend von ihrer Aussage, sie fühlten sich im DT wie Außerirdische auf einem fremden Planeten, radikalisierten wir diesen Perspektivenwechsel. Aus dem Blickwinkel ihrer erfundenen Aliens kartografierten, erforschten, bespielten sie das gesamte Haus und führten Interviews mit Mitarbeiter/-innen aller Abteilungen. Leitfragen waren: An welchem Ort fühle ich mich wohl? Wo und wie kann ich meine Bedürfnisse nach Anregung und Unterhaltung, Schutz, Geborgenheit, Nahrung und Freundschaft befriedigen? Welches Expertenwissen und welche Tools brauche ich, um hier zu überleben? Mit wem kann ich mich verbünden? Auf Basis der Recherche-Ergebnisse entwickelten die Kulturforscher/-innen mit der Theaterpädagogin Katinka Wondrak und der bildenden Künstlerin Maria Wolgast das Brettspiel »DT – Ein fremder Planet«, das mit ganzen Klassen gespielt werden kann. Zum »Spiel-Release-Event« wurde es nicht nur auf dem Spielbrett, sondern einmalig live an den Originalschauplätzen des Theaters gespielt. Die Zuschauenden wurden in vier Teams eingeteilt und hatten die Aufgabe, die als Aliens agierenden »Spurensucher« im Theater zu beheimaten. Die andere

Rein – Raus – Dazwischen

Gruppe der »Spurensucher« übernahm die Rolle der ortskundigen Expeditionsleiter/-innen und Theaterexpert/-innen. Eine Konsequenz aus diesem Projekt, das uns das Defizit eines fehlenden, eigenen Rückzug- und Wohlfühl-Raums im DT vor Augen führte, war die Idee, im DT ein (temporäres) »Kinderzimmer« einzurichten. Zunächst im edlen Rangfoyer, d.h. im Zentrum des Hauses, später, in einer größeren Variante, auf der Schwelle, dem Theatervorplatz.

3. Die Schwelle besetzen und inszenieren – Das »Kinderzimmer« In den ersten Spielzeiten ging es primär darum, »den Ortssinn zu schärfen«, die Durchlässigkeit zu erhöhen und an der Öffnung des Deutschen Theaters in beide Richtungen zu arbeiten. Wir haben das Theater verlassen und uns aus der Perspektive unserer Zielgruppe künstlerisch mit unserer Umgebung auseinandergesetzt. Wir haben das Theater mithilfe von »Aliens« als »fremden Planeten« definiert, es auf seine Qualität als Aufenthaltsort erforscht und befragt und in ein Spielfeld transformiert. Einen eigenen, exklusiven Ort für die Arbeit mit Jugendlichen und die künstlerische Arbeit der Jugendlichen gab es im DT nicht. Das DT hat kein »Kinderzimmer«. Folglich wurde in der Spielzeit 2011/112 auf dem Vorplatz, der Schwelle zum DT, ein eigener, knallgrüner Forschungs-, Spiel- und Präsentationsraum installiert. Ein Kinderzimmer ist einem stetigen Wandel ausgesetzt. Die Spuren unterschiedlicher Lebensphasen sind sichtbar und unsichtbar in das Zimmer eingeschrieben. So erzählt das Kinderzimmer Geschichten über das Kind und über das Kindsein, über Jugend und Heranwachsen in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit. Es ist eine Art Container, gefüllt mit Hinweisen auf seine Bewohner/-innen und ihre Lebenswelten. Den Container-Gedanken nahm das Projekt auf. In dem wandelbaren Spielraum wurde das Thema Kindheits- und Jugendraum ausgestellt und lebendig befragt. Ein öffentlicher Raum wurde hergestellt, in dem spezifische Themen verhandelt wurden, die vor allem von den Jugendlichen selbst hineingetragen und gesetzt wurden. Damit wurde das Kinderzimmer zum Forschungsinstrument und gleichzeitig ein durch die Teilnehmenden gestalteter Ort der Kunst. Angeleitet bzw. begleitet von Künstler/-innen unterschiedlicher Disziplinen erforschten Kinder und Jugendliche (in den drei Produktionsphasen in den Altersgruppen 12+, 15+ und 17+) den Erfahrungsort »Kinderzimmer« mit jeweils unterschiedlichen ästhetischen Mitteln und Methoden. Die multifunktionale Box mit einem Grundriss von 12-14 qm, repräsentierte das durchschnittliche Kinderzimmer, quasi in der Blanko-Version, das durch die Ergebnisse der unterschiedlichen künstlerischen Projekte immer mehr gestaltet wurde. Das »Kinderzimmer« besaß ein Schaufenster zur Straße und war zum Theater aufklappbar. Es besetzte und markierte ästhetisch die Schwelle, den Übergang zwischen dem Rein- und Rausgehen. Es signalisierte zwischen dem Außenraum,

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der Lebenswelt der Jugendlichen, und dem Ort der Hochkultur: Hier ist euer Ort! Nehmt ihn euch! Macht was draus! Nach den Forschungsreisen in die Umgebung und nach der Erkundung des Theaters mit befremdenden Blicken konstituiert das »Kinderzimmer« einen dritten Ort im Zwischenraum, an dem Künstler/-innen und Jugendliche gemeinsame Sache machen können. Wenn der Architekt Herman Hertzberger die Schwelle als Schlüssel und »wichtigste räumliche Voraussetzung« für den Dialog »von Bereichen unterschiedlicher Ordnung« bezeichnet, ist das »Kinderzimmer« die Verräumlichung dieses Dialogs und bietet einen Ort der Begegnung, aus der Kunst entstehen kann, von der sich nicht nur kulturelle Eliten angesprochen fühlen. Schwellen sind idealerweise Versprechen, in andere, unbekannte und ungewöhnliche Räume zu führen. Oder man errichtet einen dritten Ort – mitten auf der Schwelle. Das kann ein »Kinderzimmer« sein, aber auch ein Basketballfeld oder eine »Wechselstube«.

4. Die Schwelle als Spiel- und Trainingsraum – Das »Herbstcamp« mit ALBA Berlin Zwei Jahre lang stand im Herbst ein Basketballkorb auf dem Vorplatz des DT – Symbol einer ungewöhnlichen Kooperation mit dem Basketballverein ALBA Berlin. Mit ALBA, den SOS-Kinderdörfern Berlin und dem Aufnahme- und Übergangswohnheim am Trachenbergring in Marienfelde konzipierten wir unter dem Motto »Trainieren für die Zukunft« während der Herbstferien zweiwöchige Kunst- und Sportcamps mit Trainer/-innen, Künstler/-innen, Pädagog/-innen und 80 Jugendlichen. In diesem Sinn setzen wir statt auf Einladungen und Angebote immer stärker auf Kooperationen mit Partnern aus anderen Bereichen, mit denen wir zusammen herausfinden, was uns gemeinsam interessieren könnte, und erreichen dadurch nicht nur theateraffine Jugendliche, sondern z.B. auch Sportler/-innen, Geflüchtete und Jugendliche in betreuten Wohngruppen, für die das DT bisher ein fremder Planet war. Die Verbindung von Kunst und Sport war auf ganz unterschiedlichen Ebenen produktiv und bereichernd. Der Teilnehmerkreis war viel heterogener, sowohl was die soziale und kulturelle Herkunft aber auch was Alter und Geschlecht der Jugendlichen betrifft. Die Jugendlichen wurden durch die intensive Jugend- und Schularbeit bei ALBA Berlin erreicht, bzw. direkt in den sozialen Einrichtungen, mit denen wir eng zusammenarbeiteten, angesprochen. Doch nicht nur der Teilnehmerkreis wurde erweitert, wir entdeckten zudem in der künstlerischen Arbeit viele Gemeinsamkeiten zwischen Sport und Theater und fanden heraus, wie diese sich ergänzen, bzw. die Differenzen fruchtbar gemacht werden können. Die Spielzeit 2013/14 stand unter dem Motto »Lust-Prinzip« und wir setzten uns mit der rhetorischen Frage auseinander »Müssen wir tun, was wir wollen, oder kann uns jemand sagen, was wir sollen?« Wir beschäftigten uns mit Stress,

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ausgelöst durch einen allgegenwärtig empfundenen Fremderwartungs- und Selbstoptimierungsdruck und wollten das Thema »Leistung« praktisch erforschen und neu definieren. Gemeinsam mit Jugendlichen, Künstler/-innen und Sportler/-innen galt es herauszufinden, was wir eigentlich nur nach dem Lustprinzip, nur um seiner selbst willen machen. Das Spiel ist zweckfrei, bzw. es trägt seinen Sinn in sich. Sein Hauptkennzeichen ist die Freiheit. Wir spielen Theater und wir spielen Basketball. Spielen ist also etwas, das man um seiner selbst willen tut, aus Spaß und in der Freizeit. Sportler/-innen und Künstler/-innen leisten, so der Sportsoziologe Prof. Helmut Diegel, in unserer ökonomisierten Gesellschaft Außergewöhnliches wie Überflüssiges. In den Theatern, Hallen und Stadien werden symbolische Güter produziert. Theater und Spielsport verweigern sich der Reproduktion. Die dort gemachten Erfahrungen lassen sich nicht vermitteln, man muss sie selber machen. Campübergreifend wurde unter Anleitung der ALBA-Trainer regelmäßig gemeinsam trainiert. Uns interessierte das Prinzip des Trainings, da es, allgemein formuliert, für alle Prozesse steht, die eine verändernde Entwicklung hervorrufen. Training lehrt nicht etwas Bestimmtes, vorher Definiertes, sondern stößt verändernde Prozesse an, d.h. beim Training geht es nicht darum, jemanden zu etwas zu machen, sondern einen Weg dahin aufzumachen und einzuüben. Training ist die Arbeit an Grenzen, oder, wie der Profibasketballer Patrick Femerling sagt: »Trainieren heißt, ein Gefühl dafür zu bekommen, was möglich ist.«

5. Die Schwelle als theatrale und interkulturelle Handelszone – Die »Wechselstube« mit Geflüchteten und (Wahl-)Berlinern Nach Spiel- und Trainingsplatz wird im Frühjahr 2016 ein neuer Ort des Austauschs auf der Schwelle des DT ins Leben gerufen: Die »Wechselstube. Eine theatrale Handelszone für Berliner_innen aus aller Welt«. Wie kam es dazu? Seit einigen Jahren engagiert sich das DT für und mit Geflüchteten und ist Partner verschiedener Netzwerke, u.a. der »Berlin Mondiale. Zusammenarbeit mit Geflüchteten in den Künsten«. Dieses Projekt des Rates für die Künste wird vom Flüchtlingsrats Berlin e.V. beratend unterstützt und initiiert und begleitet Partnerschaften zwischen Kultureinrichtungen und Geflüchteten-Unterkünften. Dabei wird Wert auf Kontinuität und persönlichen Kontakt zwischen den Institutionen gelegt, um den Bewohner/-innen möglichst nachhaltige Zugänge in die Stadtgesellschaft bzw. zu künstlerischen Ausdrucksformen zu ermöglichen. Im zweiten Projektjahr arbeiten 13 Kultureinrichtungen, eine Universität und 13 Geflüchteten-Unterkünfte zusammen. Das DT pflegt seit 2014 eine Tandempartnerschaft mit dem Aufnahme- und Übergangswohnheim am Trachenbergring in Marienfelde. Im Austausch sind über die künstlerischen Projekte hinaus weitere Angebote entstanden: Jugendliche spielen inzwischen im »Herbstcamp« und im Jugendclub Theater, für Kinder fanden Theaterworkshops im Wohnheim statt, Geflüchtete machen Praktika und Assistenzen in verschiedenen Abteilungen des

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Theaters. Das DT richtete aber auch eine Notunterkunft ein und bietet regelmäßig in zwei Gruppen Deutschunterricht an. In der künstlerischen Arbeit ist es jedoch zentral, dass Geflüchtete nicht permanent auf ihren Fluchtstatus reduziert bzw. über ihre Defizite definiert werden (keine Wohnung, mangelnde Sprachkenntnisse), auf die karitativ mit Hilfsangeboten und Spenden reagiert wird. Kunst setzt bei den Kompetenzen an: Was kannst du? Was hast du zu bieten? Was willst du tun? Es geht auch um Em­ powerment, den geschützten, betreuten Sozialraum zu verlassen. Unsere künstlerischen Projekte finden im gesellschaftlichen Kontext statt, immer in gemischten Gruppen auf Augenhöhe mit Nicht-Geflüchteten, niemand wird »ausgestellt«, instrumentalisiert oder auf seine Rolle als Geflüchteter reduziert. Glaubwürdig wird die Arbeit, wenn sie sich verbindet mit dem, was man auch sonst tut. Im Jungen DT arbeiten in der Spielzeit 2016/17 unter dem Motto »Wie gehören wir zusammen?« Künstler/-innen und Pädagog/-innen aus 17 verschiedenen Ländern. In der »Wechselstube« sind 50 Akteur/-innen beteiligt, die Hälfte sind Menschen mit Fluchterfahrung. In dieser theatralen Wechselstube, in der nicht Devisen, sondern Wissen, Erfahrung, Intuition, Fertigkeiten und Geschichten eingewechselt werden können, treffen sie bei den zehn öffentlichen Aufführungen im Mai 2016 auf das Publikum und treten in direkten Austausch. In realen und fiktiven, in kurzen und situativen Eins-zu-eins-Begegnungen werden Erfahrungen, Geschichten, Lieder, Träume, Kontakte, Sprachunkenntnisse, Geldscheine, innere Bilder, Handyschnappschüsse, Zertifikate, Identitätsschnipsel und Wissen ausgetauscht: Was habe ich, das du nicht hast? Und umgekehrt? Was will ich von dir? Können wir einen Deal abschließen? Kennst du jemanden, der meine Fähigkeiten brauchen könnte? Welche Telefonnummer in deinem Handy könnte mir nützen und gibst du sie mir? Bin ich eine Gefahr für dich? Wenn ja, was für eine? Was koste ich dich? Was kostest du mich? Ist Schenken schöner als Feilschen? Was ist nicht verhandelbar? Das Publikum trifft in der Wechselstube auch auf sehr unterschiedliche Handelsauffassungen, Tauschökonomien, Gemütszustände und auf die Frage, inwiefern unsere Beziehungen zu anderen Menschen in erster Linie ökonomischer Natur sind? Oder, ins Politische gewendet: Helfen wir als Gesellschaft nur, weil uns das wirtschaftlich von Nutzen ist? Aber auch: Was ist und wie entsteht Vertrauen zwischen Fremden? Das Theater begibt sich in seinem sozialen und in seinem künstlerischen Engagement mit Geflüchteten auf fremdes Terrain, kommt in unmittelbaren Kontakt, setzt sich aus, lernt und schult sich in Empathie. Diese Erfahrungen, diese (interkulturellen) Kompetenzen lassen natürlich auch die Institutionen nicht unberührt: Das Theater in einer Einwanderungsgesellschaft wird sich, wenn es die Veränderungsprozesse aktiv mitgestalten will, auch immer wieder selbst aufs Spiel setzen. Es muss sich nicht nur für die Kultur, die Geschichten und Themen

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der neuen Mitbürger öffnen, sondern auch für die Menschen selbst und sie aktiv beteiligen am Kunstschaffen.

F a zit Schwellen und Demarkationslinien können Ausgangspunkte für einen künstlerischen Dialog sein. Basis des Dialogs sind die gegenseitige Neugier und die beidseitige Bereitschaft, vertraute Räume zu verlassen und sich lustvoll und spielerisch auf Expeditionen in unbekanntes Terrain zu begeben. Über den Perspektivenwechsel, den »fremden Blick«, erfährt man Eigenes im Fremden und umgekehrt. Kulturvermittlung als künstlerische Praxis setzt an den Differenzen an. Dabei geht es nicht darum, dass Kulturexpert/-innen dem vermeintlich Unwissenden bestimmte kulturelle »Wissenspakete« übermitteln. Kulturelle Inhalte und Kompetenzen entstehen sozial und situativ durch das In-Beziehung-Setzen von unterschiedlichen Phänomen. Es handelt sich um »ein performatives Wissen, das nicht sprachlich übermittelt, sondern nur am eigenen Leibe erfahren werden kann.« (Fischer-Lichte 1999: 10). Statt um Übermittlung geht es uns folglich um die Initiation, Moderation und Rahmung von Bildungsprozessen. Schwellen haben dabei das Potenzial, ästhetisch markiert und besetzt zum Ausgangspunkt eines fruchtbaren künstlerischen Diskurses zu werden. Wenn sich Theater als soziales Laboratorium begreift, eröffnen Schwellen dritte Orte: Neue Spielräume für Begegnungen auf Augenhöhe ohne Hoheitsrecht. Don’t mind the Gap, let’s meet in the Gap!

L iter atur Baecker, Dirk (2005): »Kunst, Theater und Gesellschaft«, in: dramaturgie. Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft, 2/2005, Berlin, S. 9-15. Fischer-Lichte, Erika (1999): »Transformationen. Zur Einleitung«, in: Erika Fischer-Lichte/Kolesch, Doris/Weiler, Christel (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre, Berlin. Hertzberger, Herman (1995): Vom Bauen. Vorlesungen über Architektur, München.

D ank Dank an Kristina Stang, Mitarbeiterin am Jungen DT von 2011/12-2014/15, die maßgeblich an der Konzeption des »Kinderzimmers« beteiligt war, und an Ruth Feindel und Frank Oberhäußer, die das Projekt »Wechselstube« entwickelt haben.

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Die Kluft zwischen E und U überwinden Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, über Interkultur, Entertainment im Theater und Kulturvermittlungsstrategien der Komischen Oper im Gespräch mit Birgit Mandel

Mandel: Das Kulturverständnis in Deutschland, das bestätigen Ergebnisse von Bevölkerungsbefragungen, ist immer noch sehr stark an der sogenannten Hochkultur ausgerichtet. Wenn man Menschen fragt, was sie unter Kultur verstehen, dann nennen sie Goethe, Schiller, Rembrandt, Bach (vgl. Zentrum für Kulturforschung 2005-2012), aber nicht Madonna, Michael Jackson oder Hansi Hinterseer. Eigene kulturelle Präferenzen werden meist nicht unter den Kulturbegriff gefasst. Barrie Kosky, Sie benannten in einem Interview im Berliner Tagesspiegel als eine Herausforderung für den deutschen Kulturbetrieb, die Trennung zwischen der ernsthaften und der unterhaltenden, sprich E- und U-Kultur aufzuheben, und stellten die These auf: »Die Deutschen empfinden eine Art Schuld, wenn sie Spaß haben.« Ist dieses Kulturverständnis Ihrer Beobachtung nach national geprägt, und welche Unterschiede ergeben sich daraus für die Herangehensweise an Kunst und Kultur im Vergleich zwischen Deutschland und Australien, dem Land in dem Sie aufgewachsen sind? Kosky: Vorausschickend würde ich gerne zunächst drei Dinge sagen: Das erste ist, dass man dieses Thema nicht unter einem Generalblick betrachten kann. Man muss die jeweiligen Kontexte bedenken, ob kulturell, sozial, geschichtlich oder geografisch. Denn das, was in Berlin kulturell und gesellschaftlich passiert, ist nicht das, was in Brüssel, in London oder Buenos Aires, Saint Petersburg oder Gelsenkirchen passiert. Das zweite ist: Alles, was ich sage, ist meine persönliche Meinung, und ich rede nicht für jemanden oder für eine Organisation. Ich rede nur über meine Erfahrungen. Und eine dritte Anmerkung: Ich glaube, dass Deutschland gerade dabei ist, sein Kulturverständnis und seine Institutionen sehr stark zu verändern. Es ist viel geschehen in den letzten Jahren, und ich bin optimistisch, dass es in den nächsten Jahrzehnten weitere, rasante Entwicklungen in Richtung größerer Vielfalt geben wird.

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Interkulturelle Realitäten in Australien und Deutschland Ich beobachte zwischen Deutschland und Australien viele Unterschiede. Australien ist ein Land mit einer interessanten Spannung: Es ist eines der jüngsten und gleichzeitig eines der ältesten Länder der Welt. Es ist als Staat erst 240 Jahre alt, es gibt aber eine Aboriginal Tradition, die 50.000 Jahre alt ist. Australien ist eine multikulturelle Insel, ein Land, wo über 170 verschiedene Nationalitäten leben und Kunst schaffen, mit nur 25 Millionen Menschen, die alle Ausländer sind einschließlich der englischstämmigen »white population«. Das macht einen großen Unterschied aus zu Europa und zu Deutschland. Deutschland liegt in der Mitte von Europa und obwohl man mit dem Zug nur ein paar Stunden in ein anderes Land braucht, ist da mehr Distanz zwischen den kulturellen Gruppen in Europa als in Australien. Der Diskurs, den man in Deutschland hört über interkulturelle Kunst und darüber, wer ins Theater geht und wer nicht, hat in Australien bereits in den 1970er Jahren begonnen. Die deutsche Diskussion ist Jahrzehnte hinterher im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Ich sage nicht, dass das schlimm ist, aber: You’re way behind. In Australien gibt es z.B. einen Fernsehsender, der in den 1970er Jahren von der Regierung gegründet wurde, um nur Programme in anderen Sprachen zu machen. Es gibt einen Rundfunkkanal, auf dem man jeden Tag deutschen Rundfunk, russischen Rundfunk und japanischen Rundfunk hören kann. Ich sage das, weil meine große Frustration in Deutschland ist, dass die Menschen denken, man müsse wählen zwischen einer Kultur oder der anderen und sich entscheiden: »Bist du Deutscher oder Türke?« Man kann aber sagen: »Ja, ich bin beides.« Ich kann genießen, dass ich zwischen diesen Kulturen pendeln kann. In Deutschland denkt man da noch sehr in Schubladen. In Australien ist es hingegen absolut normal, dass Kinder aufwachsen mit zwei, drei verschiedenen Sprachen. Kulturelle Vielfalt wird überhaupt nicht als Problem wahrgenommen. Und es gibt noch andere wichtige Unterschiede: Zum Beispiel die Kulturfinanzierung, die in Australien ähnlich wie in Amerika und England vorwiegend privatwirtschaftlich organisiert ist. Das bedeutet, dass die Mehrheit des Geldes für Kulturangebote, etwa 80 Prozent, aus dem Kartenverkauf und durch Marketing als Sponsorship und Fundraising kommt. Im Gegensatz dazu kommen in meinem Haus in Berlin 85 Prozent des Budgets von der Stadt bzw. dem Land Berlin. Zum Glück. Deshalb bin ich sehr zufrieden in Berlin.

Vielfalt im Publikum durch Vielfalt im Programm Mandel: Doch in der Oper in Deutschland ist nur ein ganz bestimmter Ausschnitt der Gesellschaft zu finden: Hochgebildet, gehobenes Einkommen und gehobenes soziales Milieu, eher älter, vorwiegend »weiß«. Wodurch kommt das Ihrer Ansicht nach? Und wie kann man das verändern?

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Kosky: Ich kann natürlich nur darüber reden, was in meinem Haus passiert. Die drei Opernhäuser in Berlin verkaufen 850.000 Karten im Jahr – nur für Oper. Nun kann man sagen: »Ach, das sind immer die gleichen, sie gehen zehnmal in die Oper.« Aber es gibt keine andere Stadt auf der ganzen Welt, in der so viele Menschen Opern besuchen. Im Vergleich zu einem Madonna-Konzert oder zu einem Film kann man natürlich sagen, dass es nur ein kleiner Teil der Bevölkerung ist. Aber wenn man über Vielfalt redet, muss man auch akzeptieren, dass es Institutionen gibt, die sehr gut in einer bestimmten Art des Programm-Machens sind und andere in einer anderen. Ich glaube, es ist fatal zu denken, dass jedes Opernhaus und jedes Stadttheater das gleiche Programm mit allem für alle haben muss. Das ist unmöglich. Darum haben wir uns in der Komischen Oper natürlich gefragt: »Was ist das Spezifische, was (nur) wir machen und was wir besonders gut können?« Ich denke außerdem, dass wir nicht sagen können, dass es die Zuschauer oder das Publikum gibt als einen Block an Menschen. Der existiert nicht, es gibt verschiedene Zuschauer und verschiedenes Publikum für das gleiche Haus. In der Komischen Oper haben wir seit zehn Jahren eines der erfolgreichsten Kinderopern-Programme in ganz Europa. Da kommen pro Spielzeit über 40.000 Kinder in die Komische Oper, um große Kinderopern zu sehen. Wir erwarten nicht, dass ein achtjähriges Kind aus »Des Kaisers neue Kleider« kommt und sagt: »Ich will sofort Karten für ›Parzival‹ kaufen!« Das wird nicht passieren, weil es sich eben spezifisch für die Kinderoper interessiert und nicht für »Parzival«. Natürlich haben wir auch versucht, an die Stadtbevölkerung zu vermitteln, dass die Oper wirklich offen ist für alle. In Deutschland ist durch die Subventionen der Kartenpreis sehr gering. Man kann in die Komische Oper gehen für 8 Euro. Das ist weniger als für eine Kinokarte, deshalb kann man nicht sagen, dass es elitär ist. Doch auch durch das Programm soll die Komische Oper offen sein für alle. Die Tradition des Hauses erlaubt uns zu sagen: Musiktheater reicht von Rock über Musicals bis zur Operette und alles dazwischen. Vielfalt wollen wir also auch in unserem Programm feiern. Das ist die Position unseres Hauses.

Eine Sackgasse – Die Trennung in E und U Mandel: Ihr Opernhaus wurde zum besten Opernhaus des Jahres 2013 gewählt und hat auch einen starken Publikumszuwachs zu verzeichnen. Das von Ihnen inszenierte Musical »West Side Story« ist auf Monate ausverkauft. Woran liegt das? Hängt es damit zusammen, dass Sie Programme wie ein bekanntes Musical oder populäre Akteure aus der sogenannten Kleinkunst und der Comedy-Szene in die Oper hineinbringen? Ist das die Auflösung der Grenze zwischen sogenannter ernster Kultur auf der einen Seite und Unterhaltungskultur auf der anderen und wird diese Auflösung akzeptiert, auch vom eingeschworenen Stammpublikum?

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Kosky: Ja und nein. Musicals in Opernhäusern existieren in Deutschland seit den 1950er Jahren. Auch Walter Felsenstein, der Gründer der Komischen Oper, hat in den 1970er Jahren ein Musical inszeniert. Aber wo liegt der Unterschied? Er liegt darin, dass ich »Moses und Aron« von Schönberg, Zimmermanns »Die Soldaten«, eine Mozartoper und »West Side Story« in demselben Spielzeit-Programm mit denselben Künstlern mache, nur vor unterschiedlichem Publikum. Ich erwarte dabei nicht, dass das Publikum aus »West Side Story« in »Die Soldaten« von Zimmermann geht oder das Publikum einer Mozartoper im Anschluss zur Kasse rennt, um eine Berliner Jazz-Operette zu sehen. Wir kriegen 30 Millionen Euro Steuergelder, und damit habe ich die Verantwortung, ein weites Spektrum von qualitativ hohem, niveauvollem Musiktheater zu präsentieren. Denn an meinem Haus arbeite ich vor allem für die Zuschauer aus der Berliner Bevölkerung, die ganz unterschiedlich sind. Ein großes Problem in der deutschen Kultur ist diese Trennung zwischen E und U. Das ist eine Sackgasse. Dabei war es in den 1920er und 1930er Jahren auch in Deutschland ganz anders. Etwas ist passiert in der Nachkriegszeit, das Kulturverständnis hat sich komplett geändert aus vielfältigen Gründen. Und das kommt nicht von den Zuschauern. Sie kommen nicht nach Hause und denken: »War das E oder U? Nächste Woche zwei E-Abende und einer vielleicht U.« – »Zuviel U, Schatzi.« Niemand denkt das. Der Zuschauer denkt nicht daran, und auch der Künstler nicht. Mandel: Wer aber denkt dann in diesen Unterscheidungen? Das Publikum nicht, und auch die Künstler planen sicher nicht: »Jetzt mach ich mal was Populäres für die Massen, und danach was Anspruchsvolles für die Intellektuellen«, sondern sie wollen gute Kunst machen, die ankommt. Und trotzdem gibt es dieses Paradigma der ernsthaften, wertvollen und deshalb öffentlich geförderten Kunst auf der einen Seite und der populären, kommerziellen Unterhaltungskultur auf der anderen. Vielleicht hat diese Unterscheidung weniger mit den tatsächlichen künstlerischen Programmen zu tun als mit dem Image und der Tradition bestimmter Institutionen? Kosky: … und mit dem Feuilleton. Ich muss sagen, manchmal bleibt das Feuilleton in Deutschland weit hinter der Diskussion zurück. Da ist dann über das, was ich mache, zu lesen: »Fast wie ein Musical! Fast in die Richtung Unterhaltungstheater.« Wobei mit dem Begriff »Musical« oder auch »Entertainment« etwas Schlechtes bezeichnet wird. Dabei bedeutet Entertainment »to delight« im Sinne von »jemanden vergnügen und entzücken« und »to intoxicate«, »zu berauschen«, und ist ein großer Teil der Geschichte des Theaters, ein Teil der DNA des Theaters seit Tag Nummer eins. Seit dem griechischen Theater, in Shakespeares Theater, in Molieres Theater und Tschechows Theater hatte es die Aufgabe zu unterhalten und zu berauschen in Tragedy, Comedy, Ritual, Entertainment. Man kann tief berühren und sehr komplexe Ideen auf die Bühne bringen und immer noch

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unterhalten, also dafür sorgen, dass Menschen »delighted and intoxicated« sind. Zwei Worte, die ich jeden Abend im Theater haben möchte, egal wie schwer die Themen sind. Im Fall der Komischen Oper möchte ich nicht, dass wir sagen: »Parzival« oder »Woyzeck« muss wie »Der König der Löwen« gemacht werden, also z.B. »Parzival« in einer 90-Minuten-Fassung mit afrikanischen Musikern, großen Puppen und Ähnlichem, weil das der einzige Weg wäre, »Parzival« im 21. Jahrhundert zu präsentieren. Das ist nicht, worüber wir reden. Ich sage nur, dass die Idee, Kultur wäre eine Leiter oder Hierarchie, falsch ist. Ich glaube, wir haben das ein bisschen vergessen in Deutschland. Aber ich bin optimistisch, denn ich sehe eine große Veränderung.

Netze spannen – Das Vermittlungsprogramm der Komischen Oper Mandel: Große Veränderungen gibt es auch in der Arbeit der Komischen Oper in Bezug auf Vermittlung im engeren Sinne. Sie haben ein vielfältiges Vermittlungsprogramm etabliert, um etwas zum Gelingen zu bringen, was, so sagten Sie, das Schlüsselwort des 21. Jahrhunderts sei: Heterogenität. Mit welchen Strategien versuchen Sie, diese Heterogenität auch im Publikum zu schaffen? Kosky: Für mich ist es total normal, die Frage zu stellen: Wer sind unsere aktuellen und potenziellen Zuschauer? Es ist aber nie möglich, alle speziell anzusprechen. Deshalb haben wir, als ich nach Berlin kam, nach vielen Diskussionen entschieden: Wir machen weiterhin Opernprogramm speziell für Kinder und wir bauen außerdem ein türkisches Programm auf. Dafür haben wir unter dem Titel »Selam Opera« seit einigen Jahren einen Mitarbeiter mit türkischen Wurzeln, Mustafa Akca, der die Kontakte in die Communities auf baut und pflegt. Berlin ist eine große, türkische Stadt außerhalb der Türkei, und diese Kultur ist ein wichtiger Teil des Berliner Lebens. Als Erstes haben wir ein türkisches Programm für die Kinder begonnen und zusammen mit einem türkischen Komponisten die Oper »Alibaba« gemacht. Dabei singen deutsche Kinder auf Türkisch. Die Workshops sind gemacht zum einen für türkische Gruppen und zum anderen für Schulklassen, um zu sagen: »Dieses Opernhaus hat eine Tür für euch!« Die zweite Strategie ist, auch in die Communities zu gehen. Es hat keinen Zweck, hier in den Plüschsesseln zu sitzen und zu sagen: »Ihr seid willkommen, doch alle müssen zu uns in den heiligen Tempel kommen!« Natürlich sind alle willkommen, aber wir müssen gleichzeitig rausgehen, um Musik und Theater zu präsentieren und kleine Fäden zu entwickeln, mit denen wir dann hoffentlich ein Netz durch die Stadt ziehen können. Dieser Dialog ist sehr wichtig; ebenso wie es wichtig ist, einen solchen Prozess mit den Kindern anzufangen. Im Kinderchor der Komischer Oper haben mittlerweile ein Drittel der Kinder Einwanderungsgeschichte, was gelungen ist, indem wir direkt in die verschiedenen Migranten

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Communities der Stadt gegangen sind und den Eltern von unserem Chor erzählt haben. Unser Operndolmuş fährt mit Musikerinnen und Musikern der Komischen Oper in Berlin an viele verschiedene Orte, um unsere Arbeit und unsere Werke vorzustellen. Für jede unsere Opernaufführungen gibt es individuell wählbare Untertitel in Deutsch, Englisch, Französisch und Türkisch. Natürlich, das Feuilleton reagiert wie immer höchst zynisch: »Ja, denken Sie, Herr Kosky, Sie packen ein paar türkische Untertitel hinter die Stühle und plötzlich haben Sie tausende türkische Zuschauer?« Nein, doch erstens ist es ein Zeichen, und Zeichen sind sehr wichtig. Zweitens haben wir in 20 Jahren diese tausenden neuen Zuschauer vielleicht erreicht. Man muss mit etwas anfangen. Dieser zynische, negative Blick hilft niemandem. Ich möchte keinen tosenden Beifall, aber wir haben seit Beginn meiner Intendanz so ein Netz entwickelt. Und ich bin froh, wenn in einer tschechischen Oper, die auf Deutsch gespielt und gesungen wird, mit türkischen Untertiteln fünf türkische Zuschauer sitzen. Weil das ein Anfang von etwas ist.

Das Zukunftslabor – Eine Initiative der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen Wie Musik Gesellschaft verändert Esther Bishop, Lea Fink und Albert Schmitt

Seit zehn Jahren »lebt« Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen in einer »Wohngemeinschaft« mit der Gesamtschule Bremen-Ost in Osterholz-Tenever, dem Bremer Stadtteil mit den schlechtesten Sozialdaten. Ein ungewöhnliches Experiment, das sich neben der pragmatischen Raumlösung vor allem als Erprobungsfeld für Wirkungsweisen von Musik versteht und »Zukunftslabor«1 genannt wurde. Die allermeisten Kulturbetriebe in Deutschland beschäftigen sich mit der Frage, wie eine breitere Akzeptanz und ein größeres Interesse an ihren kulturellen Angeboten geschaffen werden kann. Die geforderte Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Kultur wird im »Zukunftslabor« der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen unmittelbar greif bar: Sechs Doppeltüren führen aus dem Konzertraum direkt in die Schule; dieses Spiel der architektonischen Durchlässigkeit spiegelt sich unmittelbar in den Programmen des »Zukunftslabors« wider, die bewusst auf der natürlichen, räumlichen Nähe auf bauen. So werden sowohl individuelle Potenziale entfaltet und so wird zugleich über die wachsende Einbeziehung sozialer Gruppen ein ganzer Stadtteil kulturell erschlossen. Musik wird als Katalysator für gesellschaftliche Entwicklung verstanden. Die Wohngemeinschaft mit der Schule wurde im Rahmen eines umfangreichen Sanierungskonzeptes des gesamten Stadtteils im Rahmen des Stadtumbau West möglich (Bundesministerium VBS: 2008). Sie besteht seit 2007 und ist seitdem mehrfacher Gegenstand interdisziplinärer Forschung: Längsschnittstudien 1 | Der Name »Zukunftslabor« berührt auch einen interdisziplinären Forschungsansatz, dessen Fragestellungen seit den 1940er Jahren langsam an Relevanz gewannen: »Future Studies« beschäftigten sich mit der Projektion möglicher Szenarien und skizzierte für globale Entwicklungstendenzen möglichst ganzheitliche und nachhaltige Perspektiven (vgl. Meadows 1972).

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zum Schulklima (Boehnke et al. 2011), städtebauliche Aspekte (Fischer: 2015), Integrative Partnerships (Guo 2013) und Prozessqualität im Bereich kulturelle Bildung (Wimmer 2010, Boehnke et al. 2011). Ein Transfer des »Zukunftslabors« an weitere Orte ist denkbar und beruht weniger auf strukturellen Gelingensbedingungen denn auf der Haltung der beteiligten Musiker. Diese Haltung wiederum ist sowohl an unternehmerische Initiative als auch an einen neuen Musikbegriff gekoppelt, der zum Ende erläutert werden soll.

Das Orchester – Verbindung von wirtschaftlicher und künstlerischer Verantwortung »Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen ist ein Orchester, wie es in Deutschland kein zweites gibt.« So formulierte es Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich der Einladung des Orchesters zu einem Wandelkonzert ins Schloss Bellevue. Der Unterschied zu den knapp 130 (Mertens 2014) öffentlich geförderten Orchestern: Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen ist ein Unternehmer-Orchester, seine alleinigen Gesellschafter sind die ausübenden Musiker. Sie erwirtschaften über 70  % ihres Gesamtetats selbst und tragen nicht nur die finanziellen Gewinne und Verluste ihres Orchesters, sondern auch die Verantwortung für Programmgestaltung, Honorargestaltung, Besetzung und Wahl der Dirigenten und Solisten. Auch die Vermittlungsarbeit beruht auf dem Engagement der Musiker. Obwohl das Orchester einen öffentlichen Bildungsauftrag wahrnimmt, fließen keine Subventionen der öffentlichen Hand. Die umfangreiche und vielfach ausgezeichnete Kulturvermittlung im »Zukunftslabor« ist somit Initiative privater Akteure. Aktuell wird sie z.B. von der Commerzbank-Stiftung gefördert als ein herausragendes Vermittlungskonzepte der Neu-Kontextualisierung kulturellen Erbes mit dem Ziel kultureller Bildung. Die Musiker investieren seit der Gründung ihres Orchesters 1980 erfolgreich in kulturelle Bildung, die sie durch andere Einnahmen querfinanzieren. Das freie Ensemble hatte sehr schnell, v.a. mit der Veröffentlichung aller neun Symphonien von Beethoven, weltweiten Erfolg in einer Zeit, in welcher der bis heute ungebrochene Trend zu Orchesterschließungen und Stellenabbau an öffentlichen Kulturinstitutionen begann (vgl. MIZ 2016). Der Erfolg beruht dabei nicht zuletzt auf einem Paradox: Künstlerische Eigenständigkeit ist hier untrennbar mit unternehmerischem Selbstverständnis verwoben. Anerkennung findet er auch in zahlreichen, für ein klassisches Orchester außergewöhnlichen Preisen wie dem Ehrenpreis der Deutschen Schallplattenkritik, dem Deutschen Gründerpreis und dem Vision Award. Die besondere Gesellschafterform und deren Auswirkung auf den Erfolg des Orchesters wurde mithilfe des Wirtschaftswissenschaftlers Christian Scholz von den Musikern selbst analysiert: Im »5-Sekunden-Modell« der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen sind die wichtigsten Erfolgsfaktoren des Orchesters abstrahiert und für

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andere Kontexte übertragbar gemacht. Sie manifestieren sich in fünf, scheinbar gegensätzlichen Begriffspaaren: Hierarchie und Demokratie, Spaß und Erfolg, Perfektion und Abenteuer, Energie und Konzentration, Notwendigkeit und Sinn (vgl. Scholz/Schmitt 2011). Das »5-Sekunden-Modell« wird vom Orchester als interaktives, musikbasiertes Management-Training für Hochleistungsteams angeboten und ist mittlerweile zu einer weiteren Einnahmequelle des Orchesters geworden. Mit den Erfolgsfaktoren des »5-Sekunden-Modells« lässt sich die enge Verzahnung von wirtschaftlichem Denken und Handeln mit der künstlerischen und politischen Haltung des Orchesters gut nachvollziehen. Im »Zukunftslabor« geht es somit nicht nur um kulturelle Bildung, sondern auch um die Reflexion der Alleinstellungsmerkmale künstlerischer Arbeit in einem wirtschaftlichen Kontext. Kunst wird dabei nicht als Nutznießer einer prosperierenden Wirtschaft betrachtet, sondern als potenzieller Impulsgeber und Partner für dieselbe. Die dafür notwendige Authentizität und Glaubhaftigkeit gewinnt das Orchester nicht zuletzt durch die Verortung des »Zukunftslabors« an eine Stelle, an der die alles entscheidende Haltungsfrage in ihren Grundzügen beantwortet werden muss: An einer öffentlichen Schule.

Stadtteil und Schule – Gemeinsame Herausforderungen Situation des von Hochhäusern der 1970er Jahre geprägten Stadtteils OsterholzTenever im Jahre 2006 hatte sich durch ein groß angelegtes Sanierungsprogramm zwar schon verbessert, stellte aber die Etablierung des »Zukunftslabors« dennoch vor große Herausforderungen. Die Statistiken verzeichneten eine Bewohnerzahl von 37.000, von denen zwei Drittel eine Einwanderungsgeschichte hatten. Über 30 % der Bewohner waren abhängig von Sozialleistungen, und ein Viertel aller Bewohner war jünger als 18 Jahre (Goldschmidt 2009: 35). Damit hatte Osterholz-Tenever die höchste Rate von Kinderarmut im Land Bremen (vgl. Arbeitnehmerkammer 2007). Die enorm unterschiedlichen Lebenswelten, die mit den Musikern eines klassischen Sinfonieorchesters (dem Inbegriff bildungsbürgerlicher Kultur) und dem sozialen Kontext der Nachbarschaft aufeinandertreffen, bringen unweigerlich Konfliktpotenzial mit sich. Die Überzeugung der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, Konflikte als Gelingensbedingung ihrer Arbeit anzunehmen und sich davon herausfordern zu lassen, ist somit für die gelungene Umsetzung des Zukunftslabors zwingend erforderlich. Die Gesamtschule Bremen-Ost als Partner des »Zukunftslabors« steht mit ihren eigenen Werten denen des Orchesters sehr nahe.2 Seit ihrer Gründung 1972 nimmt sie die Herausforderungen ihres sozialen Umfelds an und somit 2 | 2007 wurde Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen mit dem »Zukunftsaward für die beste Soziale Innovation« ausgezeichnet. Im Rahmen des Zukunftskongresses werden die besten Lösungen, die aktuelle Trendentwicklungen in zukunftsfähige Angebote umgesetzt haben, prämiert.

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gesellschaftliche Verantwortung über den reinen Bildungsauftrag hinaus wahr. »Es geht hier nicht nur um Wissensvermittlung. Es geht darum, sich zu kümmern, Orientierung zu geben«, so die ehemalige Schulleiterin Annette Rüggeberg (Hahn 2015). Trotz des gleichbleibend hohen BIP ist es der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor nicht gelungen, die Abhängigkeit zwischen dem sozioökonomischen Status des Elternhauses und den Bildungschancen eines Kindes aufzuheben oder spürbar abzuschwächen (vgl. OECD 2015: 78). Gleichzeitig gibt es keinen naheliegenderen Ort als die öffentliche Schule, an dem diesem Defizit entgegengewirkt werden könnte. In den zurückliegenden Jahren mehrmals von Schülermangel betroffen, ist die Gesamtschule Bremen-Ost mit über 1.300 Schülern mittlerweile die größte allgemeinbildende des Landes Bremen. Teil des Schulkomplexes war seit 1974 auch eine Stadtteil-Bibliothek, die mittlerweile zwar stark verkleinert wurde, aber dennoch als wichtiges Aushängeschild der Schule in den Stadtteil hinein ausstrahlt. Mit weiteren Räumlichkeiten für außerschulische Partner wie z.B. die Volkshochschule Bremen war das Konzept des Schulkomplexes von Beginn an auf Wirkung in den Stadtteil hinein angelegt (vgl. Architektenführer 2016). Voll entfalten konnte es sich jedoch erst durch den mit der Sanierung verbundenen Umbau der Schule, den Einzug der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und die langsame Aufwertung des Standorts durch die Etablierung von enger Zusammenarbeit mit dem Quartiermanagement.

Wohngemeinschaft aus Schule und Orchester Orientiert man sich an der Phänomenologie der hinreichend bekannten Studenten-WG, so wird die implizite Qualität der Situation in Osterholz-Tenever leicht verständlich. In einer Wohngemeinschaft treffen vielfach Lebenswelten aufeinander, die sich unter anderen Umständen niemals begegnet wären. Entgegen der normalerweise geltenden Milieuunterschiede, die solch einer Begegnung entgegenstehen, findet sich in der WG der VWL-Student beim Frühstück dem Tischlerlehrling gegenüber, man unterhält sich, entdeckt möglicherweise, dass man von ähnlichen Themen bewegt wird oder ist im entgegengesetzten Fall genötigt, einen modus vivendi zu etablieren, der wenigstens friedliche Koexistenz ermöglicht. Nicht abgespültes Geschirr und ignorierter Putzplan bilden weitere Herausforderungen für Toleranz und Kreativität in Sachen Ko-Habitation. Und nicht wenige ehemalige WG-Bewohner werden schwärmend auf diese besondere Zeit ihres Lebens zurückblicken, von verrückten Erlebnissen und gemeinsamer schräger Wohnungsdekoration als Resultat einer durchzechten Nacht berichten und diesen Lebensabschnitt keinesfalls missen mögen. Reflektiert man also die Kompetenzen und Eigenschaften, die für das erfolgreiche und gewinnbringende WG-Leben erforderlich sind, so lassen sich eindeutige Resultate beobachten: Mut, Selbstreflexion, Respekt, Offenheit, Beziehungsfähigkeit, Toleranz und Vertrauen sind offensichtliche Fähigkeiten, die im WG-Leben weiterentwickelt werden.

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Dies gilt in analoger Weise für das Zusammenleben von Musikern der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen mit Schülern und Lehrern der Gesamtschule Bremen-Ost. Mit der Etablierung des »Zukunftslabors« haben sie eine Chance ergriffen, architektonisch die Trennung zwischen Kultur- und Bildungseinrichtung aufzuheben und über die Schule hinaus die Energie und den Ausdruckswillen eines Klangkörpers von Weltrang mit der Lebenswelt eines Stadtteils zu verbinden. In diesem Labor entsteht eine nachhaltige Entwicklungssituation für Menschen mit bildungsfernem Hintergrund (vgl. Look 2014) sowie für die Orchestermusiker gleichermaßen – mit impliziten Bildungseffekten für alle involvierten Gruppen und ohne pädagogischen Impetus, der die eine der anderen überordnen würde. »Kultur wird zum Entwicklungsmotor einzelner Menschen, aber auch zum Motor der Entwicklung von Gemeinschaften, wie dem Orchester, der Schule, dem Stadtteil oder der Stadtgemeinde.« (Zukunftsaward3) Zum einen entstehen hier durch an die Lebenswelten der Schüler und Stadtteilbewohner anschlussfähige Gestaltung musikalischer Formate besondere künstlerische Werke, die ohne diese Begegnung nicht möglich gewesen wären. Zum anderen wird Musikvermittlung als Katalysator gesellschaftlicher Entwicklung insgesamt verstanden und erhebt damit auch einen förderlichen Einfluss auf Stadtentwicklung explizit zu ihrem Ziel.

Programm und Formate Im Fall des Zukunftslabors wird Musik als Medium verstanden, das zunächst einzelne und schließlich graduell zahlreicher werdende Akteure in ihrer individuellen Entwicklung und auch in ihren gegenseitigen Beziehungen fördert (vgl. Hüther 2008, 2011). Um diesen Anspruch methodisch umzusetzen, ist das Programm in unterschiedliche Formate gegliedert. Die logistische Vereinbarkeit zwischen dem System Schule und z.B. dem Proben- und Tourplan des Orchesters ist eine wichtige Gelingensbedingung des »Zukunftslabors«. Die Koordination hierfür erfordert sowohl Personalaufwand als auch eine optimale Kommunikationsstrategie beider Partner, die nur mit Mehraufwand und Anstrengung zu leisten sind. Verbindend für alle Formate ist der hohe und professionelle Anspruch der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen an alle Aktivitäten. Er findet sich nicht zwangsläufig auf künstlerisch-instrumentaler Ebene wieder, aber immer in der Erwartung an Konzentration, Ernsthaftigkeit, Leidenschaft und Hingabe aller Beteiligten.

3 | Die geteilten Werte sind, laut einer Studie der Erasmus Universität Rotterdam, für den Erfolg des Programms deutlich wichtiger, als partizipative Entwicklung der Partnerschaft (vgl. Guo 2013: 49).

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Patenschaften – Grundlagen schaffen Der wesentliche Faktor für den Erfolg der Wohngemeinschaft ist die individuelle Beziehung zwischen Musikern und Schülern. Hierbei spielt die Musik eine untergeordnete Rolle – die Akteure begegnen sich, begünstigt durch den Ganztagsschulbetrieb, zunächst als »Nachbarn« auf Augenhöhe. Sie teilen die gemeinsamen Infrastrukturangebote (Mensa, Pausenhof, Fahrradständer etc.) und zeigen gegenseitiges Interesse aneinander. Für diese Begegnungsebene ist nicht die Intensität, sondern die Kontinuität der Beziehung maßgeblich. Darauf auf bauend entwickeln sich Patenschaften für Schulklassen, um über einen längeren Zeitraum regelmäßigen Kontakt zu pflegen. Sie und das dadurch etablierte Vertrauensverhältnis zu einem Musiker sind die Basis für weitere Formate.

»Melodie des Lebens« – Individuell fördern Über einen Zeitraum von mehreren Monaten werden die Schüler bei der Erarbeitung von eigenen Musikbeiträgen unterstützt. In Singer-Songwriter-Workshops erarbeiten sie unter professioneller Anleitung Idee, Liedtext, Melodie und harmonische Strukturen. Die Schüler haben hier die Möglichkeit, durch ihre Texte Ereignisse ihres Lebens zu verarbeiten – von der ersten Liebe bis hin zu traumatisierenden Erlebnissen wie Flucht, Gewalterfahrung, Drogenabhängigkeit oder Verlust. Die so entstandenen, musikalischen Werke der Schüler kommen in regelmäßig stattfindenden Shows zur Aufführung, wobei Die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen die Schüler auf der Bühne begleitet. Somit haben die Schüler zwei kontinuierliche Bezugspunkte: Die monatliche Arbeit mit dem künstlerischen Leiter an den Texten und die immer daran anschließende Arbeitsphase mit dem ganzen Orchester. Die gemeinsamen Auftritte steigern das Selbstwertgefühl der Schüler und helfen ihnen, Ängste zu überwinden. Erfolgserlebnisse sind häufig eine völlig neue Erfahrung, was vielfach auf den klassisch stattfindenden Schulunterricht zurückwirkt: Die Schüler arbeiten besser im Team und folgen dem Unterricht disziplinierter, lernen im Umgang mit ihrer eigenen Biografie kritisches Denken und Reflexionsvermögen (vgl. Boehnke et al. 2011). Die »Melodie des Lebens« fördert die künstlerische Auseinandersetzung mit persönlichen Themen. Sie erzeugt einen Mechanismus, um innere und äußere Konflikte selbständig zu überwinden. Das Angebot an die Schüler wird in jedem Schulhalbjahr neu gestellt, und so kann der Einzelne immer wieder selbst entscheiden, inwieweit er davon Gebrauch macht. Das Prinzip der Freiwilligkeit bildet die Basis für eine Entwicklung, die hier verlässliche Unterstützung und Betreuung erfährt. All dies geschieht im vielfältigen Zusammenwirken von Instrumentalpädagogen, die für den Unterricht in den Bläser- und Streicherklassen verantwortlich sind, den Musiklehrern der Schule und den Musikern des Orchesters.

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»Stadtteil-Oper« – Gemeinschaft bilden Geleitet von dem aus dem Erfolg der »Melodie des Lebens« gewachsenen Mut entstand mit der »Stadtteil-Oper« ein Format, das über die Schule hinaus in den Stadtteil wirkt: So bringen seit dem Schuljahr 2008/2009 jährlich über 500 Teilnehmende ihre eigene Oper auf dem »grünen Hügel« mitten im Stadtteil auf die Bühne. Initiiert und geleitet von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen finden sich Schüler, aber auch Eltern, Geschwister, Lehrer, Vereinsgruppen, Nachbarschaftshilfen (z.B. das Mütterzentrum) und feste Einrichtungen wie Sparkasse, Deichverband, Polizei etc. als Teil eines einzigartigen Musiktheaterprojekts zusammen. Als roter Faden zieht sich das Prinzip des wechselnden Länderschwerpunkts, das sich an der Diversität der im Stadtteil vertretenen Nationalitäten orientiert, durch alle Produktionen: Nach Deutschland folgten Ghana, Polen, Russland, Vietnam und 2015 Persien. Eine »Stadtteil-Oper« ist nicht Star-Solisten gewidmet, sondern wird den Hauptakteuren eines Stadtteils auf den Leib geschrieben und mit ihnen gemeinsam entwickelt. Mit diesem völlig neuen Genre entstehen Zugänge zur Kunst, die für unterschiedlichste soziale Gruppierungen anschlussfähig sind: Eine »Stadtteil-Oper« vereint sämtliche Interessen ihrer Akteure, von musikalischer Beteiligung über (kunst-)handwerkliche Tätigkeiten bis hin zur Kulinarik und Logistik. Somit besteht die Hauptaufgabe einer »Stadtteil-Oper« in der Stückentwicklung, die so geartet sein muss, dass alle Gruppen ideal einbezogen werden und sich eine Eigendynamik entwickeln kann. Hierbei passt sich sowohl Handlung als auch Ästhetik des Musiktheaters dem Aufführungsort an: Die Themen des Stadtteils werden aufgenommen, Materialien werden im Stadtteil gesucht und recycelt. Die Intention ist hier, mit begrenzten Möglichkeiten einzigartige Erlebnisse zu schaffen und kreativ mit dem Vorhandenen umzugehen. Dabei soll auch die Erkenntnis vermittelt werden, dass nichts benötigt wird, was nicht schon da ist, um die Kunst und das Leben erfolgreich zu gestalten. Hochhäuser wurden zur Kulisse, das zurückgelassene, beschädigte Fahrrad zur unverzichtbaren Requisite und die Vorhänge aus der Haushaltsauflösung zum Grundstoff phantasiereicher Kostüme. Individuelles Engagement »über den Plan hinaus« ist zu jedem Zeitpunkt möglich und wurde über die Jahre als eine Form künstlerischer Spontanität ein verlässlicher Bestandteil der Entwicklung der »Stadtteil-Opern«. Die verpflichteten Künstler stehen nicht nur in der Verantwortung ihrer Rolle in der Produktion, sondern sind maßgeblich in die Entwicklung von Angeboten für den Stadtteil involviert. So führen sie beispielsweise außerschulische musikalische Workshops oder Sommerwerkstätten in dem Bereich »Kostüme und Bühne« während der Ferien durch. Im Laufe der Produktion werden alle Beteiligten an Grenzen geführt, die ohne Netz und doppelten Boden den Sprung ins Ungewisse erfordern und deren Überwindung sich in die vielen Erfahrungswerte einreiht.

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Die bereits erfolgreichen »Stadtteil-Opern« der letzten Jahre haben gezeigt, dass unter diesen Bedingungen Aufführungen auf erstaunlich hohem Niveau gelingen. Die Musiker der Deutschen Kammerphilharmonie stehen mit ihrer langjährigen Erfahrung dabei nicht nur ideologisch Pate für die »Stadtteil-Oper«, sondern investieren bewusst auch finanziell in deren langfristige Strukturen.

Stadtentwicklung Musik kann, so die Überzeugung der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, gesellschaftliche Veränderungsprozesse reflektieren und praktizieren. Im »Zukunftslabor« werden individuelle Potenziale durch ästhetische Erfahrungen zur Entfaltung angeregt und in diesem Prozess begleitet. Dies geschieht als Initialveränderung für einen gesamtgesellschaftlichen Prozess, der nicht für sich allein, sondern im Kontext von Veränderungen des wirtschaftlichen, technischen und sozialen Bereichs steht. Die Gesellschaft, die im Zuge der Arbeit des »Zukunftslabors« erreicht werden kann, besteht zum einen aus einer endlichen Anzahl von Individuen und einer endlichen Anzahl von Gruppen (z.B. einer Schulklasse oder einer Sommerwerkstatt), die im Zuge des Programms als »Zielgruppen« im Sinne eines Audience Developments einbezogen werden (wobei sich die »Stadtteil-Oper« nicht als klassisches Instrument des Audience Developments versteht). Zum anderen werden diese Gruppen erweitert durch Kreise, die indirekt durch das Programm angesprochen oder die von der entstehenden Resonanz (vgl. Rosa 2016: 281) angeregt werden. Die dabei entstehende Eigendynamik ist übergeordnetes Ziel und reicht weit über die unmittelbare Wirkung des Formats hinaus. Lange ist die Chance verkannt worden, die in der Nutzung kultureller Initiativen zur Initiierung und Gestaltung städtebaulichen Wandels liegt (vgl. Häußermann et al. 2008). Genau diese Chance versucht die Kammerphilharmonie Bremen mit dem »Zukunftslabor« zu nutzen. Dabei verfolgt das »Zukunftslabor« zwei Dimensionen von Stadtentwicklung: Zum einen die Verbesserung der Gemeinschaftsbeziehungen innerhalb des Stadtteils, die ihren Ursprungsimpuls aus den künstlerischen Formaten beziehen (soziale Dimension) und durch die Verlässlichkeit der Formate weiter genährt werden. Zum anderen werden bereits existierende Institutionen durch die Präsenz des »Zukunftslabors« in ihrer Entwicklung beeinflusst (strukturelle Dimension). Hierzu tragen beispielsweise Kooperationen mit Vereinen im Rahmen der »Stadtteil-Oper« bei, die vom Programm »Wohnen in Nachbarschaften« gefördert werden und über die in der »Stadtteilgruppensitzung« entschieden wird.4 Diese 4 | Das als Leitlinie entworfene »Integrierte Handlungskonzept« (IHK) im Rahmen der Bürgerbeteiligung in den Quartieren liegt im Ressort der Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport und wird kontinuierlich aktualisiert: www.sozialestadt.bremen. de/sixcms/detail.php?gsid=bremen222.c.4629.de#top vom 10.04.2016.

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monatlich stattfindende, öffentliche Sitzung ist wichtigstes Organ des Quartiermanagements und entscheidet über die Vergabe von Mitteln, die kleinen Projekten im Stadtteil zugutekommen. Das kommunale Handlungsprogramm existiert seit 1998 und hat als Zielsetzung, die Wohn- und Lebensbedingungen benachteiligter Quartiere durch Entwicklung von Engagement der Bewohner und durch Zusammenarbeit lokaler Akteure zu verbessern. Das Programm »Wohnen in Nachbarschaften« ähnelt der demokratischen Organisationsstruktur des Orchesters in vieler Hinsicht und verschafft dem Klangkörper einen idealen Resonanzraum für musikalische und außermusikalische Aktivitäten. Natürlich sollte angemerkt werden, dass sich die Auswirkungen der Formate auf die Stadtentwicklung sowohl in ihren Ausprägungen als auch in ihrer Messbarkeit noch in den Anfängen befinden, erste Studien jedoch zuversichtlich stimmen (vgl. Fischer 2015).

Das »Zukunftslabor« als Modell gelingender Kultur vermittlung – Herausforderungen für Nachahmer Die große, mittlerweile auch internationale Aufmerksamkeit, die das »Zukunftslabor« erfährt, ist Anlass gewesen, dessen Übertragbarkeit auf andere Kontexte zu prüfen und zu initiieren.5 Sie birgt auf Grund der ganzheitlichen Konzeption, der Abhängigkeit vom außerordentlichem Engagement einzelner Personen und der Orientierung an den Voraussetzungen, Stärken und Schwächen des konkreten Standorts enorme Herausforderungen. Ein möglicher Transfer ist daher nur im Sinne einer Übertragung der Grundgrammatik gemeint. Der dem »Zukunftslabor« immanente Anspruch an Nachhaltigkeit bedeutet zwangsweise, dass ein Zukunftslabor im Allgemeinen niemals nur als Projekt, das zeitlich begrenzt ist, betrachtet werden kann. Stattdessen muss von einem kontinuierlichen, »institutionalisierten« Programm die Rede sein, das unterschiedliche künstlerische Formate beinhaltet. Gerade dieser Anspruch der Kontinuität legt nahe, dass ein solches Programm zur Umsetzung an öffentlichen Häusern ideal geeignet ist, wobei jedoch die gegebene Struktur (Tarifverträge, hierarchische Organigramme) Auswirkungen auf die Haltung aller Beteiligten haben kann (vgl. Erd 1987), die eine Umsetzung behindern oder sogar ausschließen würde.6

5 | Es bestehen bereits konkrete Vorhaben, Zukunftslabore nach dem Vorbild der Deutschen Kammerphilharmonie andernorts zu etablieren: Die Kammerakademie Potsdam hat mit ihrem integrierten Probenort an Stadtteilschule Potsdam-Drewitz bereits eine räumliche Lösung gefunden. Das Theater Freiburg ist insbesondere konzeptionell an Ansätzen des Zukunftslabors interessiert, die sich an einem öffentlichen Stadttheater realisieren lassen. 6 | Das Theater Freiburg hat zu diesem Thema als eines der wenigen öffentlichen Häuser aktiv Stellung bezogen und einen Diskurs über Relevanz und Bedeutung von staatlichen

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Nicht zuletzt bedeutet nachhaltige Aktivität in gegenseitiger kultureller Bildung eine Investition in eine ungewisse Zukunft. Investition wiederum setzt eine unternehmerische Haltung voraus.7 Mut im künstlerischen wie im unternehmerischen Sinne ist unverzichtbar, da bekannte Systemgrenzen überschritten werden, und die Offenheit bestehen muss, sich mit Unbekanntem auseinanderzusetzen, in Beziehung zu treten, das Neue oder die Anderen zu verstehen und zu reflektieren, um anschlussfähig zu reagieren. Dies gilt sowohl für persönliche Beziehungen, als auch für künstlerische Inhalte. Ein Zukunftslabor künstlerisch mit Leben zu füllen, setzt den Wunsch voraus, weit über die Reproduktion jahrhundertealter Werke hinausgehen zu wollen. Für die Schüler und Musiker des Bremer »Zukunftslabors« erweitern sich damit beiderseits musikalische Horizonte. Für die Musiker stehen diese Aktivitäten folglich auch keinesfalls in Konkurrenz mit der Kernaufgabe des Ensembles, der Erarbeitung und weltweiten Präsentation beachteter und gefeierter Interpretationen eines weitgehend »traditionellen« Repertoires, sondern sind wichtiger Baustein künstlerischer Inspiration und interpretatorischer Tiefe. Dies wird vor allem im Umgang mit der stilistischen Bandbreite offensichtlich. Im Falle der »Melodie des Lebens« wird der Jazz- und Populärbereich gleichermaßen selbstverständlich neben Orchesterwerken des Barocks oder der Klassik präsentiert. Alle ausgesuchten Werke sprechen in der gemeinsamen Darbietung des Orchesters mit den Schülern ihre authentische Sprache. Verschiedene Musikstile werden dabei als gleichwertig begriffen. Für das Gelingen eines Zukunftslabors nach Bremer Vorbild ist also vor allem die Haltung der Beteiligten entscheidend, die neben den gerade erwähnten auch wesentlich durch die folgenden Überzeugungen gekennzeichnet sein sollte:

Individuelle Förderung durch Kontinuität persönlicher Beziehungen Als Konsequenz aus Brüchen in individuellen Biografien folgt häufig eine Unterentwicklung des Selbstbewusstseins. Daraus kann eine höhere Anfälligkeit für gesellschaftlich negativ bewertete Einflüsse folgen. In Stadtteilen mit ungünstigen Sozialdaten steigt die Gefahr einer solchen Tendenz. Obgleich sich Einzelschicksale immer unterscheiden, mangelt es ihnen zumeist an der Erfahrung verlässlicher Zuwendung und damit emotionaler Stabilität. Deshalb kann diese Lebenserfahrung nur durch eine langfristig angelegte Kooperation zwischen Kultureinrichten mit »Recherchen zum Stadttheater der Zukunft« mit vorangetrieben (vgl. Goebbels et al. 2011). 7 | An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Subventionen der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen lediglich das Kerngeschäft des Orchesters fördern, d.h. die Konzerte, Tourneen, CD-Aufnahmen etc. Der Bereich der kulturellen Bildung wird grundsätzlich nicht subventioniert, sondern deckt sich allein durch Drittmittel und Investitionen in Form von Honorarverzicht der Musiker.

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unterschiedlichen Systemen überschrieben werden. Die Beteiligung an künstlerischer Produktion und die individuelle Förderung in speziellen Formaten (wie durch die »Melodie des Lebens«) bietet Bewältigungsstrategien für persönliche Probleme und eröffnet Perspektiven, die zuvor unerreichbar und unbekannt gewesen sind. Durch das Leisten eines individuellen Beitrags zu einem größeren Ganzen wird eine Haltung gelernt und geübt, die fundamental für jede demokratische Gesellschaft ist: Aus der Steigerung von Selbstbewusstsein und Sozialkompetenz resultieren Beziehungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft, Toleranz und gesellschaftlicher Gestaltungswille. Die Übertragbarkeit dieser elementaren Bedingung der Verlässlichkeit ist in die unterschiedlichsten Kontexte denkbar und findet überall dort statt, wo pädagogische Arbeit als kontinuierliche »Beziehungsarbeit« verstanden wird.

Selbstverständlicher Umgang durch »unnormale Umstände« Das alltägliche Zusammenleben führt zu einem selbstverständlichen Umgang zwischen Gesellschaftsgruppen – Weltklassemusiker gegenüber Schülern aus sozial schwachen Familien –, die sich »unter normalen Umständen« niemals begegnen würden. Die Kontinuität dieser »Wohngemeinschaft« hat neben den regelmäßig stattfindenden musikalischen Begegnungen einen gewissermaßen diffundierenden Effekt, der sich sowohl auf die Schüler als auch die professionellen Künstler auswirkt. Die oftmals kontraproduktive Pädagogisierung von Beziehungen wird vermieden, die Künstler wahren ihre professionelle Identität und werden darin von den Schülern wertgeschätzt. Die Auseinandersetzung mit anderen Lebenswelten ist wichtiger persönlicher und künstlerischer Impulsgeber für die Künstler (vgl. Kahl 2015).

Community Building durch Kooperationen mit weiteren lokalen Akteuren Die Arbeit der Einrichtung beschränkt sich folgerichtig nicht auf die Anwesenheit in der Schule. Um Wirksamkeit in den Lebensrealitäten der Menschen entfalten zu können, finden die Formate in Kooperation mit den relevanten Akteuren der Umgebung statt. Dies können Vereine jeglicher Art, lokale Unternehmen, Händler, zivilgesellschaftliche Akteure, Bildungsträger, öffentliche Einrichtungen etc. sein, wobei die Zusammenarbeit weit über rein künstlerische Gesichtspunkte hinausgeht. Die Teilhabe an diesen Aktivitäten fördert eine demokratische und tolerante Haltung aller Beteiligten, gerade weil die Partner lernen, sich auf andere Sprachebenen in der Kommunikation zu begeben und Konflikte für einen gemeinsamen Fortschritt zu nutzen.

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Gesellschaftlich Wirken durch vielfältigen Kunstbegriff – am Beispiel des Musikbegriffs Wenn, wie bereits erwähnt, Musik als Medium persönlicher Entwicklung und gesellschaftlicher Veränderung wirken kann, liegt es nahe, nach einem möglicherweise veränderten Kunst- oder zumindest Künstlerbegriff zu fragen. Welche Art Musiker prägt Formate wie die »Stadtteil-Oper« und wovon unterscheidet sie sich? Musik erfüllte in verschiedenen Epochen sehr unterschiedliche Funktionen. Die vergangenen »bürgerlichen« 150 Jahre waren geprägt von dem Gedanken der Autonomie der »klassischen«8 Musik (vgl. Heister 1983: 41ff.). Autonomie ist dabei nicht gleichbedeutend mit »Funktionslosigkeit« oder »l’art pour l’art«, sondern impliziert lediglich die Unabhängigkeit von konkreten Anlässen. »Das Konzert [der bürgerlichen Musiktradition] ist [damit] der Realisierungsort autonomer Musik.« (Heister 1983: 42) Diese Definition sei den nun folgenden Gedanken vorausgestellt, um mit einem möglichst neutralen, nicht »traditionalistisch« konnotierten Musikbegriff zu sprechen. Ritualisierung und Überhöhung des Konzerts und seiner Abläufe (vgl. Vogels 2009: 110), der Fokus auf ein zunehmend kleiner werdendes Kernrepertoire, dessen technisch formvollendet perfektionierte Reproduktion ultimatives, künstlerisches Ziel geworden ist und die Reduktion von »klassischer« Musik im öffentlichen Leben auf Aufführungen in exklusiv wirkenden Kulturtempeln, bilden den zweifelhaften Höhepunkt der Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Entgegen der Intention der kulturpolitischen Initiative »Kultur für alle« (Hoffmann 1979), ist klassische Musik in dieser Aufführungspraxis bis heute einem schrumpfenden Gesellschaftskreis vorbehalten geblieben (vgl. Heinen 2013.) Die Vertreter öffentlich betriebener, zweifelsohne traditionsreicher Kulturinstitutionen reflektieren vor diesem Hintergrund erstaunlich wenig über den Bedeutungsinhalt von Musik. Stattdessen sind eine weitgehend selbstreferentielle Dramaturgie und die Interpretation jenes Kernrepertoires nach wie vor allgemeine Praxis, und es gibt wenig Flexibilität im Umgang mit dem tradierten Kunstund Musikbegriff. Anstatt anschlussfähig über Wirkmechanismen und Bedeutungsinhalt von Musik zu reflektieren, wird mit als zunehmend empfundener Bedrohung an der bedingungslosen Akzeptanz von Tradition und vermeintlich bewährten Errungenschaften festgehalten. Die Autonomie der Musik im Sinne von Heister wird auf diese Weise ad absurdum geführt, und anstatt der Musik den Freiheitsgrad zurückzugeben, den sie infolge falsch verstandenen Existenz-Sicherungsstrebens verloren hat, wird sie zunehmend bedeutungslos. Ihr entgleitet die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit, welche nicht durch die Verschiebung der Problematik auf einen parallelen Diskurs der Kulturvermittlung kompensiert werden kann. Die Instrumentalisie8 | Mit ›klassischer‹ Musik sei hier die Musik gemeint, die mit traditionellen Orchesterinstrumenten ausgeführt wird. Nicht notwendigerweise gemeint ist das traditionelle Repertoire.

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rung von Musik im Sinne eines »Mittels zum Zweck«, z.B. um produktive soziale Prozesse in einem Stadtteil zu initiieren, scheint große Besorgnis auszulösen. Auf dieses Dilemma kann die Antwort der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen zwangsläufig nur ein »sowohl als auch« sein (vgl. Scholz/Schmitt 2011). Das Miteinander des Gegensätzlichen sind Kennzeichen von Ganzheitlichkeit und Multiperspektivität. Der Musiker bzw. Künstler der Zukunft verkörpert demnach nicht ausschließlich ein anti-romantisches Künstlerideal, sondern bewegt sich mit großer Natürlichkeit zwischen verschiedenen Musik- bzw. Kunstbegriffen. Die Musik wird niemals »nur« als gesellschaftlicher Katalysator verstanden und niemals auf ein einzelnes sinnstiftendes, inhärentes Merkmal reduziert. Erst wenn ihr voller Bedeutungskanon, ihr ganzes Potenzial ausgeschöpft wird, kann sie auch ihre Wirkung in Gänze entfalten. Zuallererst sollte darum die Frage lauten: Welche Bedeutungen kann klassische Musik heute für unterschiedliche Anspruchsgruppen haben (die sie zu früheren Zeiten möglicherweise nicht gehabt hat)? Welche Möglichkeiten sind denkbar, die inhaltlichen Dimensionen klassischer Musik auszuleuchten und ihr damit veränderte Bedeutungshorizonte und Ausführungsmöglichkeiten zu geben? Bevor vermittelt werden kann, muss der Gegenstand an sich durchdrungen werden in Bezug auf seine Ästhetik und seine Inhalte. Die Bereitschaft, diese immer neu zu hinterfragen und neu zu kontextualisieren, erweist sich als zentrale Aufgabe für Kulturvermittlung. Neben dem Werk und seinem Schaffensprozess kommt im Falle der Musik der Intention und Haltung der Interpreten dabei eine Schlüsselrolle zu. Wird dieser Gedanke konsequent weiter verfolgt, stellt sich die Frage, warum es so schwerfällt, sich von bürgerlichem Musikverständnis und damit dem Missverständnis des romantischen Musikbegriffs zu lösen. Verursacht das Festhalten an einem missverstandenen Autonomiebegriff Hemmungen, Musik als gesellschaftliche Praxis zu verstehen, weil darin zwangsläufig der Verdacht liegt, der Musik ihre Autonomie absprechen zu wollen? Im »Zukunftslabor« wird Musik durch eine multiperspektivische Brille betrachtet. Durch diese Vielfalt an Perspektiven ist sie imstande, Gesellschaft zusammenzuhalten und jedes Individuum in die Lage zu versetzen, einen Beitrag zu diesem Zusammenhalt zu leisten. Mit dem daraus resultierenden, erweiterten Musikbegriff geht ganz selbstverständlich der Beitrag der Kammerphilharmonie zum klassischen Musikbusiness einher. Kern der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen ist und bleibt die Präsentation »klassischer« Musik: Aktivitäten im Bereich kulturelle Bildung stehen nicht mit internationalen Tourneen und CD Produktionen in Konflikt. In diesem Miteinander entsteht eine interpretatorische Qualität, die gerade nicht im abgesicherten Elfenbeinturm entstehen könnte. Das Neu-Interpretieren des Repertoires durch die Musiker aufgrund der Anregungen aus dem Zusammenleben und Arbeiten mit sozialen Gruppen jenseits des Musikbetriebs gibt auch der musikalischen Tätigkeit eine neue Ausdruckskraft. Vo-

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raussetzung dafür ist die Haltung einer selbstbewussten, auch unternehmerisch verantwortlichen, reflexionsfähigen Musikerpersönlichkeit.

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Kindertheater als Modell für partizipative und sozial integrative Vermittlung von Theater Notizen aus der Praxis Stefan Fischer-Fels

In Theaterkreisen besteht heute weitgehend Konsens darüber, dass Kindertheater eine professionelle und ausdifferenzierte Kunstform ist wie jede andere auch. In Text, Dramaturgie, dem Moment der Aufführung, in der Art der Regieführung und schauspielerischer Arbeit ist das Kindertheater eine zeitgenössische Kunst in allen Formen und Inhalten, mit all ihrer Eigengesetzlichkeit, die den Künsten eigen ist. Damit beschreiben wir die Gemeinsamkeiten von Kinder- und Erwachsenentheater, um die Gleichwertigkeit der Kunstformen zu unterstreichen. Dabei gerät ein wenig aus dem Blick, dass Kindertheater aufgrund seiner besonderen Zielgruppe(n) einige Besonderheiten entwickelt hat, was die Aufführung und ihre Vermittlung angeht. Vermittlung als Gesamtkunstwerk zu begreifen und immer mitzudenken, auch das gehört zur DNA des Kindertheaters und kann eventuell auch für das Erwachsenentheater Anregungen bieten. Aus der Arbeitspraxis heraus und ohne Anspruch auf Vollständigkeit notiere ich dazu einige Merkmale.

Kinder als anwesendes Publikum Das Kinder-Publikum hat andere Voraussetzungen als ein erwachsenes. Es hat weniger Lebenserfahrung als die erwachsenen Theatermacher. Es bringt weniger Prägung mit, bezogen auf einen bestimmten Theaterbegriff. Kindertheater ist geprägt von einer verschärften Asymmetrie zwischen den Akteuren auf der Bühne und den Zuschauern. Der Dialog ist zunächst mal noch weniger »gleichberechtigt« als im Erwachsenentheater: Die da auf und hinter der Bühne sind älter, haben ihre Kindheit schon lange hinter sich, sind körperlich viel größer und haben manchmal auch noch pädagogische Hintergedanken. Auf der anderen Seite sitzt mit dem Kinder-Zuschauer ein eher spontaner und sehr aktiver Dialogpartner,

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der die Autoritätsverhältnisse »Ihr da oben – wir da unten« gelegentlich auch anarchistisch umzukehren liebt. Kindertheatermacher reagieren darauf, indem sie versuchen, sich an den Erfahrungen und Lebenswelten ihres Publikums zu orientieren. Sie denken schon in der Vorbereitung einer Stückentwicklung oder einer Inszenierung das Publikum mit. Sie denken mit, dass die Spielvereinbarung zwischen Bühne und Zuschauern geklärt sein muss. Ohne diese Vereinbarungen funktioniert das Theater mit Zuschauern nicht, die – wie Kinder – keine oder wenig Theatererfahrung mitbringen. Anders mag es mit einem Überwältigungstheater aussehen, das als leicht konsumierbare »Fast-Food«-Variante kurzfristig immer funktionieren mag für alle Zielgruppen, um das es hier jedoch nicht geht. Kindertheater denkt mit, dass Kinder, gerade aufgrund ihrer nicht vorhandenen Theatererfahrung, eine potenziell große Offenheit auch für ungewöhnliche Erzählweisen mitbringen, wenn eben diese Spielvereinbarung nachvollziehbar ist und offen liegt. Dadurch kann Kindertheater mutig experimentieren. Solange es die Kinder dabei mitnimmt, solange es »Relevanz« im Leben des Kindes behält. Nicht immer müssen dabei Autor oder Text diese Spielvereinbarung explizit machen, doch das Inszenierungsteam macht sich in der Regel sehr viele Gedanken über die Vermittlung ihres Projekts, die konzeptionell eine Rolle spielen. Denn ein Kindertheatermacher ist per se ein Vermittlungskünstler. Nicht in einem pädagogischen Sinn. Er fragt nicht nur: Versteht das Kind, was ich ihm zeige? Er fordert heraus. Kindertheater soll und darf seine Zuschauer zuweilen überfordern, darf Vervollständigungsleistungen erwarten und es darf mit Komplexität oder der Verweigerung einfacher Antworten provozieren; es darf nur dabei das Kind nicht aus dem Blick verlieren. Die Frage der ästhetischen und inhaltlichen Herausforderung spielt eine große Rolle. Das Zumuten von Komplexität ist ein Balanceakt, dem sich das Kindertheater stellt. Hier ist über die Jahre ein großes Erfahrungswissen gewachsen, das auch in anderen Kontexten abgerufen und diskutiert werden könnte. Oft geschieht die Vermittlung in Form von Recherchen: Themen werden recherchiert, Kinder, Lehrer, Eltern und andere Fachleute werden befragt, es gibt spielerische Workshops, Expertenrunden, Probenbesuche. Kindertheater und seine immer weiter ausgebauten, theaterpädagogischen Abteilungen haben ein ganzes Repertoire an Überprüfungs- und Vermittlungsformaten. Sie stellen eine Art unsichtbares Band her zwischen dem Projekt und dem Publikum. Dramaturgen, Theaterpädagogen, aber auch Autoren, Schauspieler und Regisseure erforschen ihren Gegenstand: Die Idee, den Text – und das Kind. Der Darsteller im Kindertheater ist zudem zu einer bestimmten Durchlässigkeit angehalten, er richtet in aller Regel seine besondere Aufmerksamkeit auf die Kinder als anwesende »Ko-Akteure«, als Zuschaumitspieler. Es kommt im Kindertheater relativ selten vor, dass das Geschehen auf der Bühne so tut, als sei kein Zuschauer anwesend. Die »Vierte Wand« ist im Kindertheater quasi abgeschafft. Mehr noch: Im Moment dieser Herausforderungssituation ist die Ko-Präsenz von Spielenden

Kinder theater als Modell

und Zuschauenden von entscheidender Bedeutung. Denn sie fordert und erlaubt die unmittelbare Reaktion auf die Reaktionen der Kinder im Moment der Aufführung. Beschleunigung, Verzögerung, Kontaktaufnahme oder die Intensivierung von Situationen sind nicht nur möglich, sondern in ästhetisch anspruchsvollen Aufführungen Bestandteil und von der Regie immer mitgedacht. Bei genauerer Betrachtung unterscheidet sich das Kindertheater von anderen Theaterformen also weniger in Fragen der Qualität und der Ästhetik als vielmehr in der Frage der stets bedachten Hinwendung zu seinem Publikum, in der Aufführung und in der Vermittlung. Die Aufführung selbst wird als Vermittlungsleistung gesehen. Auch die Vor- und Nachbereitung einer Produktion spielt eine große Rolle. Kindertheater denkt die Vermittlung von Anfang an mit. Kindertheater sucht den Kontakt und will verstanden werden, gerade auch in seiner Komplexität. Das ist möglicherweise der entscheidende Unterschied zwischen Kindertheater und Erwachsenentheater. Denkbar wäre, dass das Erwachsenentheater Erfahrungen und Überlegungen aus dieser Praxis des Kindertheaters übernimmt und seinen Zuschauer noch intensiver in den Blick nimmt.

Schulen als Kooperationspartner, um alle sozialen Gruppen zu erreichen Kindertheater ist im Kern das Modell eines Theaters für alle Schichten und Kulturen. Das hat damit zu tun, dass Kindertheater heute in erster Linie mit den Schulen zusammenarbeiten, mit denen sie komplexe Kooperationen schmieden, um potenziell alle sozialen Gruppen zu erreichen. Diese Konstruktion ist bedauerlicherweise sehr fragil und immer wieder gefährdet, weil Theater kein Teil des Curriculums ist. Es wird deshalb von den Lehrern und den Schulleitungen zuweilen als zusätzliche Anstrengung angesehen und in der Prioritätenliste nach unten gesetzt. Dennoch: Zu 70 % hängt die Existenz des Kindertheaters an der Vermittlung durch die Schulen, insbesondere durch besonders engagierte Lehrer. Die Anbindung der Lehrer ans Theater, insbesondere die Lehrer-Nachwuchsförderung ist eine vorrangige Aufgabe der Kindertheater. Theaterkompetenz muss Teil der Lehrer- und Referendarsausbildung sein, auch und gerade für Grundschullehrer, und die Theater müssen sich an der Ausbildung der Kompetenz beteiligen und entsprechende Angebote entwickeln. Eine vergleichbare Einrichtung, in der alle Schichten und Kulturen zusammenkommen und kulturelle Bildung zum selbstverständlichen Teil des täglichen Lebens gehört, gibt es im Erwachsenentheater bekanntlich nicht. Kindertheater kann – als Vermittlungsleistung – den Keim zu einer lebenslangen Liebesbeziehung zum Theater pflanzen. Erwachsenentheater erreicht, wenn es nicht auf den Marktplatz zurückgeht, längst nicht mehr alle Teile der Bevölkerung. Es ist in weiten Teilen ein Stadttheater in den Herzen der Städte, aber ohne Volk. Gleichwohl gibt es kaum noch ein Stadttheater, das sich damit abfindet. Fast überall findet Bewegung statt hin zu neuen Zuschauerschichten, was sich jedoch sehr

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viel schwieriger gestaltet, weil nicht allein auf die Kooperation mit Schulen zurückgegriffen werden kann. Kindertheater erreicht die Mehrzahl aller Schülerinnen und Schüler aus allen Schichten und Kulturen der Gesellschaft. Deshalb ist es als Laboratorium so interessant. Kindertheater ist die potenziell perfekte »Audience-Development-Maschine«. In diesem einzigen »magic moment« der Kulturvermittlung ist Theater inklusiv durch diese Art von sanftem »Theaterzwang«. Darüber wäre nachzudenken: Machen wir, auch als gesamte Kulturszene, genug aus diesem Initial? Müssten wir diese »Schule des Sehens« nicht viel länger und ausführlicher anbieten? Wenn die Kinder nicht mehr über ihre Schulen ins Theater gehen, gerät die Maschine ins Stocken. Warum eigentlich? War das Angebot der Kindertheater nicht ausreichend, um langfristig Interesse zu erzeugen? Ist die Lebenswelt der Kinder, werden sie dann Jugendliche, so fern von der Welt des Theaters? Oder ist das Angebot der Erwachsenentheater so anders und knüpft es so wenig an die gemachten Erfahrungen im Kindertheater an, sodass der Übergang erschwert wird? Dieser Übergang zwischen Kinder- und Erwachsenentheater ist das sogenannte »Jugendtheater«. Jugendliche können zum ersten Mal selbstständig entscheiden, wo sie hingehen und wo nicht. Und alle Untersuchungen zeigen, dass in diesem Moment das Theater die Vielfalt seiner Besucher verliert. Für Jugendliche werden andere Interessen und Prägungen wichtiger, Theater spielt nur eine marginale Rolle. Einige wenige haben es, im Jugendclub oder durch eine prägende Aufführung, für sich entdeckt, die Mehrheit beschließt jedoch, das Theater für den Rest ihres Lebens zu meiden. Das gilt nicht nur für die vielleicht 10 – 20 % »Bildungsfernen«, das gilt für weit mehr als 50 % aller Jugendlichen. Hier wäre ein Gedanke über den Transmissionsriemen zwischen Kinder- und Erwachsenentheater angebracht. Die angemessenen Vermittlungsangebote für jugendliche Communities sind extrem verbesserungsbedürftig. Welche Geschichten erzählen wir? Wie werden sie vermittelt? Wer repräsentiert sie auf der Bühne? Wie ist das Setting von Einlass bis Vorstellungsende gestaltet? Werden Jugendkulturen in der Vermittlung mitgedacht? Wird bewusst ein »anderer« Ort kreiert?

Kindertheater als Familientheater Kindertheater haben es gleichzeitig schwerer und leichter, ihr Publikum zu erreichen und zu entwickeln: Sie haben eine klar definierte Zielgruppe von je nach Konzept 0-, 2-, 4- oder 6- bis 12-Jährigen und ihren Begleitern. Sie brauchen die Erwachsenen als Entscheider oder, wie Kinder sagen, als »Bestimmer«. Sie brauchen Anlaufstellen, Anreger oder Multiplikatoren, die die Familien ins Theater einladen. Das Projekt »Theater auf Rezept«, das sich in mehreren deutschen Städten etabliert hat, ist ein gutes Beispiel: Kinder- und Jugendärzte verschreiben bei den Vorsorgeuntersuchungen Theaterbesuche auf Rezept, weil sie von der positiven Wirkung auf die kindliche Seele überzeugt sind. Erfunden wurde dieses Projekt am Düsseldorfer Schauspielhaus, es wurde über mehrere Jahre großzügig

Kinder theater als Modell

unterstützt von der Siemens-Betriebskrankenkasse und von Theatern in München, Berlin u.a. übernommen. Es klingt vielleicht ein wenig verrückt, aber warum sollte man etwas Ähnliches nicht auch im Erwachsenentheater entwickeln? Der Hausarzt empfiehlt Theater als Gesundheitsvorsorge, der Hals-Nasen-Ohrenarzt verschreibt den monatlichen Theaterbesuch unter dem Stichwort »Schule des Sehen und Hörens« und der Psychologe schließt einen Theaterbesuch in seine (Erzähl-)Therapie mit ein … Die Zielgruppe im Kindertheater entscheidet auf jeden Fall nicht selbst. Es entscheiden an ihrer Stelle Lehrer und Eltern. Die zentrale Frage ist also: Wer bildet die Eltern, die Großeltern, die Onkel und Tanten, die großen Geschwister aus, die Lehrer und Erzieher, also alle die, die die Entscheidungen treffen? Kindertheater ist für die Besucher meistens die erst Begegnung mit Theater. Hier entscheidet sich, ob eine lebenslange Liebesbeziehung mit der Kunstform entsteht oder nicht. Kinder-, Jugend- und Erwachsenentheater könnten sich gemeinsam als ein Theater für alle Generationen, Schichten und Kulturen verstehen, indem sie sich abstimmen, Fäden weiterspinnen und Kooperationen schmieden. Warum geschieht das so wenig? Warum gibt es aus meiner Erfahrung doch immer noch mehr Klischees und Vorurteile über das Kindertheater als Neugier, Lernbegierde, Kooperation und Kompetenztransfer? Ganz und gar »vorgestrig« in dieser Frage sind übrigens bis heute viele Schauspielschulen, die ihre Absolventen vor dem Kindertheater regelrecht warnen. Unglaublich angesichts der Tatsache, dass hier ein wachsendes, anerkanntes Arbeitsfeld für Schauspieler entsteht, insbesondere für junge. Kindertheater ist die einzige Sparte, die weiter wächst und die höchsten Zuschauerzahlen zu verzeichnen hat! Der Blick auf das Kindertheater als Kunstform hat sich in den letzten zehn Jahren massiv geändert. Jetzt ist es an der Zeit, die Theater zusammen zu denken und sie zu vernetzen, durch gemeinsame Arbeit fließende Übergänge vom Kindertheater zum Erwachsenentheater zu schaffen. Wie könnte das aussehen? Es gibt ein Sprichwort, dass es ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind zu erziehen. Denn ein Kind benötigt Vertrauen, Geborgenheit, Anregung, Unterstützung, Aufgaben, Muße, aber auch herausfordernde Begegnungen in einem definierten Rahmen mit dem Fremden, Anderen. Das braucht ein Kind – und jeder Erwachsene braucht es auch. Theater als Gesamtkunstwerk und Geschichtenmaschine kann beiden davon etwas geben. Die Notwendigkeit von Kunst und Kultur als Grundnahrungsmittel menschlicher Existenz muss erlernt werden. Also braucht es qualitativ hochwertiges Kindertheater, wenn das Erwachsenentheater hochwertig und anspruchsvoll sein will. Die Erwachsenentheater haben sich in den letzten Jahren bereits stark verändert, indem sie die Frage, was und für wen sie spielen, wieder mehr in den Mittelpunkt gerückt haben. Sie versuchen, sich neu zu erfinden als Zentrum der Debatten einer Stadtgesellschaft. Am Düsseldorfer Schauspielhaus zum Beispiel entwickelt das neue Team um Wilfried Schulz ab der Spielzeit 2016/17 ein Konzept der Theatervermittlung als »Schule der Wahrnehmung«. Geplant ist ein

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spartenübergreifendes Baukastensystem, das sich an alle Altersgruppen wendet: Hier können nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene ohne Bevormundung Kompetenzen erwerben, Zuschaukunst entwickeln, lustvoll die Besonderheiten des jeweiligen Theatervorgangs erkennen und beschreiben lernen. Vermittlungskunst als vergnügliches Entschlüsseln von Theatercodes ist eine generationsübergreifende Aufgabe, denn im Lesen der Theatersprache enthüllen sich gesellschaftliche Mechanismen. Das Erlebnis des Theatermoments wird dann relevant und unvergesslich, wenn sich im Entschlüsseln der Zeichen der Kunst auch die Zeichen der Zeit entschlüsseln. Die in Dresden erfundene und nun für Düsseldorf weiterentwickelte »Bürgerbühne« ist ein anderer, nicht mehr wegzudenkender Baustein einer Theatervermittlungskunst, die bisherige Grenzen überschreitet.

Kindertheater als Modell für Vermittlung Wie aber sieht das Leitbild eines Theaters als wichtiger Player innerhalb der Stadtgesellschaft aus, damit Vermittlung greifen kann? Theater in diesem Sinne muss inklusiv sein für alle Altersgruppen. Es muss die gesamte vielfältige Stadtgesellschaft repräsentieren in ihren Geschichten und in ihrem Personal. Es muss nicht nur »Anpassung« an tradierte, deutsche Theaterkultur fordern, sondern sich selbst ändern. Das gute Zusammenleben in einer Phase der Transformation zum »Einwanderungsland« muss auf allen Ebenen sein Thema sein. Es muss sich deutlich sichtbar eine weltoffene Identität geben, die nicht an ethnische Herkunft und nicht einmal allein an die deutsche Sprache gebunden ist. Nicht die Noch-Nicht-Zuschauer müssen sich integrieren in eine vage deutsche Leitkultur, sondern das Theater selbst muss sich integrieren in die gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse hinein, die seit Jahren heftig im Gange sind. Das Theater muss die »Diversity« feiern und die neuen, riskanten Begegnungen, die daraus resultieren, beschreiben, verdichten, genießen. Die Theater müssen eine »Willkommenskultur« entwickeln, die weit mehr als die Geflüchteten adressiert, diese aber nicht ausschließt; sie müssen freundlich und zugewandt sein, von Anfang an und die Zuschauer mögen. Die Theater müssen die Möglichkeit der Debatte und der Begegnung mit dem Fremden, Anderen zu einer Leitlinie ihrer Arbeit machen. Die Welt sieht anders aus, wenn man sie aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Der Zuschauer soll im Theater über den Tellerrand seiner eigenen Erfahrungen hinaus schauen dürfen. Er soll hier ohne Angst verschieden sein dürfen. Hier ist nicht die letzte Bastion eines sich selbst feiernden Bürgertums, hier ist das Labor einer zukünftigen komplexen Gesellschaft, das Labor für Alternativen in einer »alternativlosen« Gesellschaft. Dafür sollten sich die Theatermacher mehr als bisher als Forschende, Suchende, Fragende in einer Zeitenwende verstehen. Und der Zuschauer müsste eingeladen sein, an den Fragen und Forschungen teilzuhaben. Das Theatererlebnis ist

Kinder theater als Modell

zu verstehen als Forschungsreise mit ungewissem Ausgang. Das Theatererlebnis selbst ist Vermittlungskunst. Kindertheater als Vermittlung von Theater ist also ein Modell dafür, wie das Moment der Vermittlung ins Kunstwerk selber eingeht. Und es ist mehr. Es ist Baustein innerhalb eines zukünftigen Modells. Es bringt seine künstlerische Experimentierfreudigkeit, seine Zugewandtheit zum Publikum und seine Recherche-Erfahrungen ein. Am inklusiven und partizipativen Theater für alle Communities der Stadtgesellschaft muss noch weiter gearbeitet werden. Dabei ist darauf zu achten, dass die Sparten und Formen beginnen, sich gegenseitig zu bereichern. Kollaboration ist das Stichwort für das weitere Vorgehen.

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Outreach

Einladende Interventionen zwischen Spielplatz und Konzertsaal Interaktive Klanginstallationen in öffentlichen Sphären als ästhetische Ermöglichungsräume für kulturelle Bildungsprozesse Jens Schmidt

Mitten in einer Fußgängerzone klingelt ein Telefon. Nicht eines der vielen Smartphones in Jackentaschen, sondern ein altes, grünes Telefon mit Wählscheibe, das auf einem kleinen Tisch mit Lampe neben einem gemütlichen Polstersessel steht. Ein Kind sitzt auf dem Sessel und nimmt sofort ab und lauscht. Wenige Meter weiter spielt eine Gruppe Schulkinder mit einer Kommode, die durch das Öffnen der Schubladen immer neue Klänge von sich gibt. Nebenan hat sich ein Seniorenchor um eine alte Überseetruhe aufgestellt und singt ein kurzes Ständchen. Die Truhe bedankt sich, wiederholt das aufgezeichnete Liedchen, und die Gruppe freut sich über das »Zaubermöbel«. Interaktive Klanginstallationen in öffentlichen Räumen laden unterschiedlichstes Publikum zur Beschäftigung ein, allein dadurch, dass unabhängig vom Milieu oder Alter jede vorbeigehende Person angesprochen werden kann. Dabei können sie zum einen akustisch auf sich aufmerksam machen, zum anderen lädt die Möglichkeit der »Hands on«-Interaktion zu einer Auseinandersetzung ein, wie sie zeitgenössischer Musik nur selten zuteil wird. Das Spektrum reicht dabei von Klangspielplätzen, die zum lauten Toben ermuntern (vgl. Bradke o.J.), bis zu abstrakten Skulpturen, bei denen der Einfluss auf das Klanggeschehen kaum erkennbar wird (vgl. Klein 2006). Die im Folgenden vorgestellten Klanginstallationen nehmen eine Position ein, in der ästhetische Mehrdeutigkeit und spielerische Interaktion zusammentreffen. Hier soll untersucht werden, welchen Einfluss die Möglichkeit der Interaktion auf die Erfahrungen mit ungewohntem Klangmaterial haben können, inwiefern durch eigene Aktivität ästhetische Fremdheit auf andere Weise verarbeitet werden kann und was sich daraus für Kulturvermittlung ableiten lässt. Anstelle eines Vergleichs mit anderen musikalischen Formaten liegt der Fokus deshalb auf einem generellen Modus des Umgangs mit künst-

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lerischen Werken, der von Offenheit und Neugier geprägt sein kann. Zudem wird diskutiert, welche Besonderheiten eine Platzierung in öffentlichen bzw. halböffentlichen Räumen darstellt und wie diese Form des interaktiven Outreach ohne explizit vermittelnde Betreuungsperson einen Impuls für eine sozial inklusive Kulturvermittlung darstellen kann. Im Zentrum der Analyse stehen dabei die Projekte »Ohrentausch« und »Lautmaler«, die unter Mitwirkung des Verfassers entstanden sind. Unter dem Titel »Ohrentausch« wurden im Frühjahr 2015 sechs interaktive Klanginstallationen entwickelt, die auf öffentlichen Plätzen als Jahreskampagne der Musikland Niedersachsen gGmbH eingesetzt wurden. Im darauffolgenden Herbst war die Installation »Lautmaler« Teil des Rahmenprogramms des Folk’n‘Fusion Festivals in Hildesheim. Durch den Vergleich der Projekte sollen verschiedene Arten der Interaktion herausgearbeitet und theoretisch reflektiert werden. Inwiefern sich die Projekte hinsichtlich des Settings, Interaktion und Ästhetik unterscheiden, soll später genauer beschrieben werden. Gemein ist beiden Ansätzen, dass sie Begegnungen mit ungewohntem Klangmaterial herstellen, das tendenziell der sogenannten »Neuen Musik« zugeordnet wird. Dieses kann selbsttätig und interaktiv vom Publikum entdeckt, verarbeitet und angeeignet werden – eine Begegnung, die gleichermaßen von spielerischer Aktion und ästhetisch-passivem Erfahren geprägt sein kann. Um das Potenzial interaktiver Klanginstallationen zu untersuchen, werden folgende Thesen behandelt: 1. Im Vergleich zum regulären Kunstbetrieb wird durch interaktive Klanginstallationen im öffentlichen Raum ein weitaus diverseres Publikum aktivierend angesprochen. 2. Durch Interaktion und Gestaltbarkeit wird ungewohntes Klangmaterial als positiv erfahren, das sonst als unangenehm oder uninteressant wahrgenommen wird. 3. Das installative Format ohne vermittelnde Person sorgt für einen Abbau von Hierarchien in Bezug auf das künstlerische Produkt. Selbsttätige und selbstbestimmte Erfahrungen und Aneignungen werden möglich und neugieriges Verhalten durch akustisches Feedback belohnt. Die erste These, dass ein sehr diverses Publikum angesprochen wird, ist dabei fast als Grundannahme zu sehen. Schließlich werden in öffentlichen und halböffentlichen Räumen zwangsläufig alle Menschen potenziell angesprochen, die sich in diesem Raum bewegen. Interessanter ist allerdings, wie solche Begegnungen im Detail vonstattengehen. Wie entstehen Aufmerksamkeit und Interesse, welche Erfahrungen können gemacht werden und welche Potenziale liegen in derartigen Formaten? Um sich diesen Fragen anzunähern, folgt zunächst eine kurze Beschreibung der Objekte und jeweils eine beispielhafte Beobachtung, die während der Projektzeiträume schriftlich dokumentiert wurde. Eine Deutung dieser Be-

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obachtung soll sich primär an den Begriffen der »Aneignung«, wie sie u.a. von der aktuellen Lerntheorie verwendet wird, und der »(ästhetischen) Erfahrung« orientieren. Es gilt also, das aktive und passive Element derartiger Begegnungen zusammen zu denken und somit einen ästhetischen Ermöglichungsraum von Erfahrung und Aneignung theoretisch beschreibbar zu machen.

D ie O bjek te – »O hrentausch « und »L autmaler « Von den sechs Klanginstallationen des Ohrentausch-Projekts werden hier zwei Objekte detaillierter beschrieben, die für die nachfolgende Beobachtung relevant sind. Die eingangs erwähnte »Hörpipeline« besteht aus einem präparierten Telefon nebst Telefontisch und Sessel. In regelmäßigen Intervallen klingelt dieses Telefon und spielt beim Abheben einen ausgewählten Ortsklang, eine sogenannte Soundscape ab (etwa landwirtschaftliche Geräte, Tiergeräusche oder Fangesänge). Sobald der Hörer aufgelegt wird, klingelt das Telefon erneut und beim Abheben erklingt eine andere Soundscape. Auch im Falle der »Soundscape-Kommode« kommen solche aufgezeichneten Klänge zum Einsatz, allerdings schwerpunktmäßig musikalischer Art, also rhythmische, melodiöse oder flächige Klänge. Ein solcher Klang wird ausgelöst, indem eine Schublade der Kommode geöffnet wird und endet bei ihrem Schließen. Durch das Öffnen verschiedener Schubladen können die Klänge kombiniert und arrangiert werden. Die Installation »Lautmaler« war Teil des Rahmenprogramms des Folk’n‘Fusion Festivals 2015 im frei zugänglichen Bereich des Festivalgeländes, also einem halb-öffentlichen Raum. Dort wurde in einem Waldbereich eine ehemalige Schultafel an einem toten Baum platziert, der quer an einem anderen Baum lehnt. Dieser etwas abgelegene Ort wurde vom Team des Festivals dekoriert und für die Abendzeiten ausgeleuchtet. Das Malen auf dieser Tafel erzeugt synthetische Töne, deren Tonhöhe abhängig von der Position auf der Tafel variiert. Solange nicht aktiv gemalt wird, werden als fernes Echo die letzten »gemalten« Töne wiederholt und ergeben mit einem wabernden Rauschen eine konstante Grundatmosphäre.

B eobachtungen – S zenen der I nter ak tion mit K l anginstall ationen Über den gesamten Zeitraum der Beobachtungen, der neun ganztägige Veranstaltungen umfasste, wurde ersichtlich, dass Menschen unterschiedlicher sozialer Milieus und Alter angesprochen wurden. Besonders beim Einsatz des »Ohrentauschs« im Rahmen des Tag der Niedersachsen in der Hildesheimer Innenstadt wurden nicht nur Kinder und Familien erreicht, auch Seniorengruppen

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zeigten weit mehr Offenheit für die Objekte als im Vorhinein erwartet. Im Falle des Folk’n‘Fusion-Festivals war die Nutzung weitestgehend auf das Publikum des Weltmusik-Festivals beschränkt, auch wenn der Bereich im Außengelände prinzipiell frei zugänglich war. Die folgenden Szenen sind ausgewählte Beispiele, an denen deutlich werden soll, wie eine Interaktion mit den Installationen aussehen kann. Selbstverständlich gab es auch Fälle, in denen keine oder keine tiefere Auseinandersetzung stattfand. Die vorliegenden Beobachtungen stellen aber im Falle eines Einlassens auf die Situation einen typischen Ablauf dar, der auf das Wesentliche reduziert wurde.

Beispiel 1 – »Ohrentausch«, junge Familie, Tag der Niedersachsen in Hildesheim Eine junge Familie mit einem etwa sechsjährigen Mädchen schlendert durch die Fußgängerzone Hildesheims. Als die Telefoninstallation klingelt, bleibt das Kind stehen. Die Eltern lächeln und ermutigen es dazu, den Hörer abzunehmen. Vorsichtig nähert es sich und hebt ab, hört kurz und ruft: »Da sind Enten dran!« Die Mutter übernimmt den Hörer, verbessert, dass das wohl Gänse seien. Sie legt den Hörer auf die Gabel, worauf hin das Telefon gleich wieder klingelt, und das Mädchen sofort wieder abnimmt. Dieser Vorgang wiederholt sich viermal, bis der Vater auf die anderen herumstehenden Möbel aufmerksam macht. Sie treten an die »Soundscape-Kommode«. Der Vater öffnet eine Schublade und errät, dass es sich bei dem nun hörbaren Klang um Glockengeläut handelt. Nacheinander probieren sie alle Schubladen aus und raten, welche Klänge zu hören sind. Als das Mädchen auf dem Boden kniet und die letzte Schublade öffnet, zieht die Mutter auch eine der oberen auf und ruft: »Ah, man kann auch zwei gleichzeitig!« Nun spielen alle drei an den Schubladen und kombinieren die Klänge. Der Vater versucht kurz, das Musizieren anzuleiten, aber das Kind möchte offenbar auf eigene Faust spielen und öffnet etwa alle Schubladen gleichzeitig. Nach zwei Minuten wenden sie sich von der Kommode ab und beschäftigen sich mit den anderen Objekten.

Beispiel 2 – »Lautmaler«, Junge, Folk’n’Fusion Festival Eine Mutter und ihr etwa elfjähriger Sohn betreten das Waldstück, in dem die Installation aufgebaut ist. Ein Mann Mitte zwanzig, der bis dahin gemalt hat, bietet dem Jungen ein Stück Kreide an und zieht sich zurück. Der Junge zögert kurz, dann setzt er an, eine kleine, runde Form zu zeichnen. Der sofort einsetzende Klang lässt ihn stocken, und er wartet bis der Ton verklungen ist. Daraufhin malt er eine weitere Form und lauscht dem erzeugten Klang. Nach der dritten, gleichen Form grinst er und beginnt, größere Bewegungen zu machen, die innerhalb einer Bewegung den Klang weiter variieren lassen. Mit solchen, großen Malbe-

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wegungen bewegt er sich von nun an entlang der Tafel. Die Mutter verabschiedet sich: »Ich hol dich später ab, ja?« Der Junge nickt kurz und fährt fort. Nach etwa sechs Minuten schließt sich der Mann, der vorher gemalt hat, mit einer Freundin an, und die drei malen mal abwechselnd, mal gleichzeitig. Nach weiteren fünf Minuten werden sie von einer gemischten Gruppe weiterer Festivalgäste abgelöst, die dem Spiel zunächst zuhören und dann nachfragen, ob sie auch einmal versuchen dürfen.

A neignung und (ästhe tische) E rfahrung Das Besondere an Begegnungen dieser Art liegt darin, dass sie von einem Wechselspiel von sinnlichem Erleben und handelnder Auseinandersetzung geprägt sind, ohne dass eine explizite Vermittlung stattfindet. Der aktive Anteil soll dabei mit dem Begriff der »Aneignung«, wie in der aktuellen Lernforschung verwendet, beschrieben werden. Das passive Element wird in das Feld der »ästhetischen Erfahrung«, also in kunstwissenschaftliche bzw. philosophische Diskurse, eingeordnet, um schließlich beide Perspektiven anhand des Gegenstands der interaktiven Klanginstallation zusammenzuführen. Mit dem Begriff der »Aneignung« grenzen sich aktuelle Ansätze der Lernforschung vom »Input-Modell« ab, da Lernen nicht als von Lehrenden steuerbarer, zielgerichteter Prozess gesehen wird (vgl. Reich 1997). Anstelle dessen rückt ein Anbieten von Anregungen, die Lernenden ermöglichen, Inhalte, Handlungen oder Kompetenzen individuell anzueignen, also Erfahrungen in ihre subjektiven Deutungsmuster zu integrieren, die sich so transformieren (vgl. Arnold 2015: 2). Damit dieser Prozess »weitreichender, eigener Weltfindung« (Reich 1997: 266) in Gang kommt, sind insbesondere Selbsttätigkeit und Selbstbestimmung der Lernenden notwendig, um individuelle Verbindungen möglich zu machen (vgl. ebd.). Gerade dieses Verständnis von Lernen, das sich nicht auf explizit pädagogische Settings beschränkt, sondern auf Erfahrungen aller Art übertragbar ist (vgl. Spitzer 2007), ist für den Transfer auf ästhetische Konstellationen fruchtbar. Wie essenziell für dieses aneignende Lernen aktives Tun ist, wird mit Rückgriff auf Dewey (1964, ebenso Reich 1997) unterstrichen, der beschreibt, wie nur so Situationen und Material beurteilt werden können, um in einem gegebenen Rahmen eigene Ziele zu erreichen. Als Beispiel nennt Dewey ein Kind, das Schiff spielt: »Die Einbildungskraft verwendet und verwandelt Stühle, Blöcke, Blätter, Spielmarken in jeder erdenkbaren Weise, wenn sie dem Zwecke dienen, die Handlung vorwärtszutragen.« (Dewey 1964: 270) Auf Musik übertragen heißt das, dass Elemente und Abfolgen eines Klangmaterials in ihrer Wirkung gewertet werden können und eine subjektive musikalische Vorstellung entstehen kann, nach der die Klänge kompositorisch angeordnet werden. Eine solche, aneignende Selbsttätigkeit lässt sich auch im Falle der beschriebenen Beispiele beobachten. In beiden Fällen entsteht nach einer kurzen Anre-

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gung eine Beschäftigung aus eigenem Interesse, die kaum geprägt ist von vermittelnden Autoritäten. Der Rückschluss von Aktion auf Reaktion passiert bei den »Ohrentausch«-Installationen sehr schnell, wobei im Falle der Kommode die musikalische Wertung und kreative Verwendung der Klänge nach eigener Wertung erst eintritt, sobald erkannt wird, dass mehrere Schubladen gleichzeitig geöffnet und musikalisch verwendet werden können. Nach der Erfassung der Funktionsweise und der daraus resultierenden Möglichkeiten dauert die Auseinandersetzung noch eine kurze Zeit, bis sich dem nächsten Objekt zugewandt wird. Die Beschäftigung mit dem »Lautmaler« dauert dagegen meist wesentlich länger. Es wird zwar auch hier sofort erkannt, dass ein Zusammenhang vom Malen zum Klang besteht, wie dieser genau beschaffen ist, erschließt sich jedoch schwieriger. Das rätselnde Erforschen nimmt also mehr Zeit in Anspruch, wobei auch ohne gänzliche, kognitive Durchdringung eine Lust am malenden Musizieren deutlich wurde. Dieser sinnliche Affekt lässt sich wiederum mit ästhetischen Ansätzen beschreiben. Eine grundsätzliche »Differenzerfahrung«, wie Dewey (1988) die ästhetische Erfahrung beschreibt, ist bei beiden Installationen zu betrachten. Differenzerfahrung meint dabei ein außerordentliches Erlebnis, das die Routine durchbricht und »den Handelnden zum Fragenden mach[t]« (Kumbruck 2009: 32). In der bewussten Wahrnehmung und Verarbeitung dieses Erlebnisses liegt der Keim dessen, was als »ästhetische Erfahrung« beschrieben wird. Innerhalb der Fußgängerzone hat das klingelnde Telefon den Charakter einer Intervention, die das gewohnte Bild des öffentlichen Raumes stört und hinterfragt. Diese Irritation besteht allerdings nur kurz, bis die Objekte als Teil eines musikalischen Projekts entschlüsselt werden. Anschließend bezieht sich eine erfahrene Differenz zu den bisherigen Deutungsmustern der Spielenden primär auf das verwendete Klangmaterial, das erforscht und mit dem experimentiert wird. Ein situativer, sinnlicher »Überschuss« (vgl. Waldenfels 2010: 128) bleibt beim »Lautmaler« offenbar länger bestehen, da sich die Situation nicht gänzlich aufschlüsseln lässt. Im besten Fall entsteht ein Wechselspiel von passivem Erfahren und daraus folgendem Verhalten, das von Waldenfels auch als »Pathos« und »Response« bezeichnet wird (ebd.). Dass diese »Response« auch als eine aktive Handlung erfolgen kann und nicht rein sinnlich rezipierend bleibt, ist eine Besonderheit interaktiver Formate, was eine Rückwirkung auf die Sinne aber nicht ausschließt. Der Überschuss des Ästhetischen fordert eine Reaktion auf das Erfahrene, es entsteht eine »Verarbeitungsnotwendigkeit« (Iser 2003: 192), die in einer Modellierung der Wahrnehmung mündet (ebd.: 194). Als notwendig dafür wird vermehrt eine Form des Einlassens genannt, Seel beschreibt etwa einen Modus »ästhetischer Wahrnehmung« (Seel 2003: 50), dessen Bedingungen jedoch diskutiert werden können. Ein gewisser Zustand der »Empfänglichkeit für das Überraschende« (Waldenfels 2010: 129) ist jedoch Bedingung, damit Momente der Irritation nicht ignoriert, sondern bewusst wahrgenommen werden.

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Ä sthe tische E rmöglichungsr äume Im Verhältnis von Aneignung und ästhetischer Erfahrung lässt sich nun ein interessantes Wechselspiel erahnen. Als selbsttätige Auseinandersetzung stellt der Prozess der Aneignung einen nachhaltigen und intrinsisch motivierten Modus der Welterschließung dar. Die Initiierung der selbstbestimmten Aneignung kann etwa durch eine Differenzerfahrung und daraus folgenden Verarbeitungsbedarf ausgelöst werden. Umgekehrt bedarf ästhetisches Erfahren eines Modus‹ des sich Einlassens und der Möglichkeit, sich dem sinnlichen Überschuss gegenüber zu verhalten, der schließlich oft genug mit der Phrase »Damit kann ich nichts anfangen« abgetan und verdrängt wird. Dementgegen eröffnet die Möglichkeit der Interaktion und der selbsttätigen Aneignung ein »Antwortregister« (vgl. Waldenfels 1994), eine Möglichkeit, sich der erfahrenen Differenz gegenüber zu verhalten, urteilend Position zu beziehen und damit kreativ und schöpferisch umzugehen. Wenn durch die Interaktionen immer neue Konstellationen mit erneutem Überschuss entstehen, steigert diese simultane Wechselwirkung die eigenmotivierte Vertiefung und Öffnung der Situation gegenüber. In diesem Sinne verstehe ich ästhetische Ermöglichungsräume als Settings, in denen ein sinnlicher Überschuss, eine erlebte Differenz erfahrbar ist, auf die durch intuitives, aktives Verhalten geantwortet werden kann. Im besten Falle entschlüsselt sich die Situation aber nicht vollkommen, sodass Fragen offenbleiben und Sich-Auseinandersetzende auch Fragende bleiben. In welcher Hinsicht bei derartigen Prozessen Deutungsmuster modelliert werden bzw. was konkret angeeignet wird, kann nicht schlussendlich geklärt werden, da Ansätze der Ermöglichung zwar durch aktivierende Situationen anregen wollen, die aber in ihrem Ziel nicht determiniert werden können (Arnold 2015: 2). Bei den beschriebenen Klanginstallationen besteht die Anregung zunächst aus dem Klangmaterial, das zur Verfügung gestellt wird. Wie die Beobachtungen zeigen, wird dieses nicht der schwer zugänglichen, sogenannten »Neuen Musik« zugeordnet, sondern als anregendes Gestaltungsmaterial angesehen, mit dem individueller Ausdruck möglich ist. Das akustische Ergebnis wiederum erinnert stark an Formen der Soundscape-Komposition bzw. der elektro-akustischen Musik, die in Konzertform wohl wenige der Beteiligten angelockt hätten.

R aumbezüge und R aumbeziehungen Neben dem musikalischen Bezug interagieren Installationen in öffentlichen Sphären zwangsläufig mit ihrer Umgebung, verändern Rezeptionsweisen und fördern, zumindest auf der räumlichen Ebene, Zugänglichkeit. Auf die Verortung der Installation »Lautmaler« trifft die Bezeichnung des halb-öffentlichen Raumes zu, da es sich zwar um ein frei zugängliches Waldstück handelt, welches sich aber im Besitz eines Vereins befindet und fast ausschließlich von Festivalgästen betre-

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ten wurde. Da dieses Gelände auch außerhalb des Festivals kaum verwendet wird und speziell für diesen Anlass vorbereitet wurde, handelt es sich hierbei nicht um eine Irritation des Alltäglichen, sondern eher um eine Heterotopie in dem Sinne, dass zeitlich und räumlich begrenzt ein Raum geschaffen wurde, der z.T. im Gegensatz zu sonst geltenden Verhaltensnormen steht (vgl. Foucault 1990). Dies eröffnet die Möglichkeit, alternative, kreative Verhaltensformen anzubieten, die einen Gegenentwurf zur dominanten, konsumorientierten Raumwahrnehmung darstellen. Gleichzeitig besteht eine gewisse Exklusivität, da nur Personen angesprochen werden, die das Festival besuchen und somit grundsätzlich interessiert an kulturellen Veranstaltungen sind. Im Falle öffentlichen, urbanen Raumes sind diese Ausschlussmechanismen weitestgehend aufgehoben und alle Menschen, die sich in diesem Raum bewegen, werden potenziell erreicht. Historisch betrachtet stellen Skulpturen im öffentlichen Raum einen Dispositiv der Geschichtsschreibung dar (vgl. Schröder 1992a: 12), den besonders moderne und postmoderne Künstler/-innen dekonstruieren, indem bewusst mit Kontinuitäten gebrochen wird, um gewohnte Wahrnehmungen ebenso wie bestehende, ästhetische Normen zu irritieren und zu hinterfragen. Richard Serras Installation »Clara, Clara« in Paris unterbricht beispielsweise die Sichtachse der Monumente und stellt sich ihnen entgegen (vgl. Schröder 1992b: 100). Kunst im öffentlichen Raum, wie es sie seit den 1970er Jahren in allen deutschen Großstädten Deutschlands gibt, sollte zum einen die Neu-Wahrnehmung städtischen Raumes als ästhetischen Raum ermöglichen, zum anderen zielten die Programme aber auch darauf, mit Kunst außerhalb der Kunsttempel alle zu erreichen. Viele der abstrakten Kunstwerke, wie sie etwa in zahlreichen Kreisverkehren platziert wurden, erzeugten jedoch gegenteilige Wirkungen und wurden wiederum als elitär und unzugänglich oder mehr noch als Störung öffentlicher Raumgestaltung wahrgenommen, da sie für Menschen ohne künstlerische Expertise kaum dechiffrierbar sind und keinen Zugang bieten (vgl. Lewitzky 2005: 80). Dagegen zielen partizipative Projekte wie »Park Fiction« in Hamburg auf eine »Motivierung der kreativen Potentiale« (ebd.: 114) all derer, die den öffentlichen Raum nutzen, indem Bürger/-innen des Stadtteils eingeladen wurden, gemeinsam über die Gestaltung öffentlicher Plätze zu entscheiden. Eine solche Ermöglichung eigener Gestaltung in gestecktem Rahmen versucht der »Ohrentausch« anzubieten. Wenn auch keine dauerhafte Veränderung des Stadtraumes stattfindet, können doch Impulse für alternative Wahrnehmung und abweichendes Verhalten in Bezug auf die konsumorientierte Urbanität gesetzt werden. Mit de Certeau (1988) kann bei einer solchen Umfunktionierung des Raumes durch Handlungen, die von der dominanten Logik des (Alltags-)Verhaltens abweichen, von einer »Aneignung des Raumes« gesprochen werden, in dem nun eigene, kreative Ziele verfolgt werden. Derartige interventionistische Ansätze, die direkt auf alltägliche Routinen einwirken können, sind in abgegrenzten, institutionellen Räumen schwer denkbar, da Kunstrezeption von einer bestimmten Erwar-

Einladende Inter ventionen zwischen Spielplat z und Konzer tsaal

tungshaltung geprägt ist und die Erfahrung außerhalb des Alltag verortet ist. In urbanen Räumen dagegen tritt Irritation unerwartet auf. Für Interventionen in öffentlichen Sphären, die nicht nur irritieren, sondern auch einladen wollen, ergeben sich allerdings praktische Herausforderungen: Neben der Unterbrechung der Routine muss auch eine konzentrierte und fokussierte Situation geschaffen wird, da die Reizflut sonst schnell zu einer kürzeren Aufmerksamkeitsspanne führt, als sie etwa im abgeschotteten Fall des »Lautmalers« möglich war.

F a zit – E rmöglichung stat t V ermit tlung Abschließend lässt sich aus den Beobachtungen der Interaktion mit den beiden Installationen auf ein sozial inklusives Format schließen, da sehr diverses Publikum gleichermaßen angesprochen wurde. Quer durch alle Altersschichten und Milieus luden die Objekte zur Auseinandersetzung ein, was neben der zugänglichen Platzierung wohl auch auf die sehr intuitive Handhabung zurückzuführen ist. Ein solches Setting als ästhetischer Ermöglichungsraum zielt darauf ab, Routinen zu unterbrechen und Handlungen und Erfahrungen anzuregen, ohne auf eine Vermittlung zurückzugreifen, die dazwischen geht und so neue Hierarchien erzeugt. In der theoretischen Reflexion versuchte ich zu zeigen, dass es sich dabei nicht um eine reine Spielerei handelt, sondern um eine aktive Aushandlung einem künstlerischen Gegenstand gegenüber. Diese aktive Beschäftigung hat ihren Sinn und ihre Wirkung gerade darin, dass Ergebnisse offen bleiben und weder feste Bildungsinhalte noch Marketingabsichten den Spielraum einengen. Die Herausforderungen eines solchen Vorgehens liegen auf der Hand. Es bedarf eines ausgeprägten »Aufforderungscharakters« (vgl. Lewin 1969) der Rahmung, die zu intuitiver Auseinandersetzung einlädt. Dennoch sollte sich die Situation nicht frühzeitig entschlüsseln, sodass der Überschuss und die Widerstandskraft des Ästhetischen erhalten bleibt (vgl. Waldenfels 2010: 132). Zudem muss ein Raum geschaffen werden, der gleichzeitig gut wahrnehmbar einlädt und von zu starken Einflüssen abschirmt, was sich in Innenstädten als herausfordernd erwiesen hat. Ästhetische Ermöglichungsräume sind aus meiner Sicht weit mehr als eine Maßnahme der Publikumsgenerierung. Sie eröffnen eine sinnliche, aktivierende Erfahrung, die in den Alltag einschneiden kann. Durch die Interaktion wird eine Form des Umgangs mit der Fremdheit ästhetischen Materials angeboten, welche die Differenz positiv aufwertet und eine offene Grundhaltung der künstlerischen, mehrdeutigen Erfahrung gegenüber erzeugt. Der bestätigende Effekt des akustischen Feedbacks im Fall der Klanginstallation wird zur Belohnung für Neugier. Als Bedingung für ästhetische Erfahrung wird neugieriges Verhalten also bestärkt und als Handlungsoption über die Situation hinaus angeboten. Zudem können Ermöglichungsräume auch als Experimentierräume gesehen werden, in welchem involvierte Menschen tatsächlich ernst genommen werden und

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die Dauer, Art und Tiefe der ästhetischen Begegnung selbst bestimmen können. Beobachtungen dieser Art können auf bestehende Institutionen, wie den Konzertbetrieb der »Neuen Musik«, rückwirken und Impulse für Ausrichtung und Formatgestaltung geben.

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Einladende Inter ventionen zwischen Spielplat z und Konzer tsaal

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Shopping Culture Istanbul’s shopping malls as spaces for cultural participation and education Özlem Canyürek

The number of shopping malls has been increasing at a rapid pace in Turkey as a result of ambitious neoliberal economic policies of the AKP (Justice and Development Party), the ruling party, since they came into power in 2002. The real estate sector has become the locomotive of economic growth in the country, turning Istanbul into a massive construction site as being the most resourceful city in terms of profit making. Shopping mall development, considered as a highly profitable investment tool, gradually became part of the urban planning scheme in Istanbul and also has been seen as a way of creating a social environment which lacked particularly on the periphery of the city. Istanbul became the most active shopping mall development market in Europe in 2013 (Patel 2014). In 2015, the number of shopping malls rose to 104, representing 30 % of the total malls in Turkey (Sezen 2015). In 2014, approximately 38 % of the shopping malls in Istanbul were offering cultural activities in diverse forms (Canyürek 2014). This article examines the shopping mall phenomena from the cultural participation perspective and discusses their contribution to the cultural vitality in Istanbul. It also aims to illuminate the reasons of shopping malls to organise cultural activities in a city which has the most well-established cultural infrastructure in the country, supplied by both public and private institutions, and to analyse the motivation of the participants to engage in these activities. Today, many shopping malls in Istanbul define themselves as »life centres«, claiming to be an alternative social space where people can spend their leisure time, socialise with friends, use a wide variety of services, participate in cultural and social activities. In the last 10 years, whilst the malls enlarged massively in size, they also widened their services due to the intense competition between them. In 2014, 40 shopping malls out of 104 were providing cultural activities as an added value in order to attract a wider range of customers and to retain the current visitors. Some of these activities are offered as free of charge or at a discount

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such as the plays of theatres, concerts, exhibitions and art workshops for children and adults. Shopping malls are frequently visited not only for the various services they provide, but more importantly the scarcity of leisure places in many areas of the city turns them into indispensable alternative spaces. Istanbul is a highly dense city that suffers from traffic congestion, lack of sufficient public transportation system, decline of open public spaces due to the pressure of the dynamics of the capitalist system. In addition to these challenges, cultural institutions are clustered mainly in several districts in the metropolitan centre of Istanbul. People who live in areas that remain outside these districts have less opportunity to participate sufficiently in cultural life (Ada 2009: 109).

Neoliberal cultural policy and ideological cultural agenda, reducing public responsibility for the cultural funding, leaving it to the private institutions Long before the proliferation of shopping malls as cultural spaces, private sector has been the leading actor in the cultural field. Istanbul owns the development of it’s cultural landscape and recent flourishing contemporary art scene to the private sector, as the culture sphere is not widely perceived as one of the main responsibilities of the state. The early stage of privatisation of culture in Turkey started in the 80s and increased at the end of the 90s with the investments and sponsorships of the top conglomerates and banks. The Ministry of Culture and Tourism (MoCT) enacted two laws in 2004 regarding tax incentives and promotion of sponsorship to encourage the private sector to invest more in arts and culture (Ince 2011: 195). This neoliberal approach gave way to the opening of small and medium-size private museums and art galleries, especially in Istanbul. Since the 2000s, MoCT has been gradually withdrawing from the funding of the cultural field. The budget of MoCT has been chronically low; the biggest proportion of resources is allocated to tourism for branding cities, particularly Istanbul, in order to attract more tourists and foreign investment. This mind-set, however, cannot only be attributed to having inadequate funds, but more crucially it is ideological, aiming to stop public funding for all kinds of classical western European arts and culture as well as avant-garde arts. Starting from the early 2000s municipalities have been taking responsibilities in the cultural sphere as a result of decentralisation efforts of the government in order to increase the efficiency of the public administration at local level. Since then, municipalities have been giving priority to the construction of cultural infrastructure. Today, there have been over 20 cultural centres run by Istanbul Metropolitan Municipality, in addition to the many cultural centres owned by local governments. Since most of these centres are local affiliations of the governing party, people who want to engage in canonised western arts or contemporary forms of art have to go to private art institutions or shopping malls.

Shopping Culture

Shopping malls as »all inclusive« leisure and entertainment centres, offering a wide variety of low barrier cultural activities In the light of the aforementioned difficulties regarding access to culture, shopping malls have begun to appear as informal spaces where people can take part in cultural activities in Istanbul. But what is the motivation of shopping malls to offer cultural activities to their customers? Turkish Council of Shopping Centres, which represents over 60  % of the shopping mall sector, employs professional market research companies on a yearly basis to collect general data on visitors as well as their consumption patterns and expectations from the malls in order to increase the time people spend in malls to proliferate their turnover. Malls position themselves according to their locations and aim to attract people with high economic stratum or simply prefer reaching everyone who has the financial means to purchase any kind of service. The social class (socioeconomic condition) of the locality or the districts in close proximity is one of the main factors determining the content of the cultural schedules of the malls. Thus, the range of the cultural activities are designed based on the assumed needs of these socioeconomic groups (Canyürek 2014). Kanyon, a very upscale shopping mall, has been organising free »jazz on Sunday mornings« sessions around the food court area since it was opened; people listen to live jazz performances while they have their brunch. The same mall hosted an exhibition called »contemporary art at every corner«. This project aims to give visitors the opportunity to meet with the works of young contemporary artists, using various mediums (installation, video and new media), and also provides a space for artists who are in the beginning of their careers. Another mall which seeks to invite socially and economically more diverse groups, Akbatı Mall, at the periphery of Istanbul has a »Life Academy« that provides free lectures on various topics (personal development, parenting, health, beauty etc.) and regularly offers free art workshops for children. The cultural calendar of the centre brings to mind that women and children are the main target visitor groups of this mall. In view of these examples, it can be claimed that malls want to be perceived as places where people find diverse leisure and entertainment activities under one roof, thus their customers do not need to visit such other venues in the city. Many of the most visited shopping malls have marketing and public relations teams in their management departments, some of them outsource the events whereas several coordinate activities on their own. When the variety of activities and their frequencies are considered, one cannot always observe the existence of a concrete strategy, rather irregular activities mostly take place at weekends when more people visit shopping malls. Whether the families are from higher income groups or not, the most common and well-received cultural activities are the free of charge events which are designed for children, ranging from art workshops to theatre. In addition to the free admission activities, private art venues such as performing art centres, art courses or entertainment centres for children where

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interactive social, scientific, educational and cultural activities combined with entertainment operate in shopping malls as well as cinemas. Nevertheless, the pressure to survive in a very competitive market obliges many malls to professionalise their cultural marketing and develop a clear cultural strategy as the newly opened ones have been proceeding in that direction. There has already been a new trend in the mall industry, which is defined as »fourth generation shopping mall« that has multiple functions which accommodates housing and office units, allocate more spaces for entertainment, social and cultural events and hosts art institutions. Considering that 31 shopping malls are under construction in Istanbul, estimated to be completed at the end of 2018, we can expect more malls engaging in arts and cultural events (Sezen 2015). It is clear that in many cases shopping malls are aware of consumer preferences and needs, their leisure habits, and are competent to combine entertainment with cultural activities. Although visitors are purely seen as potential customers, all these efforts indicate that at management level a vision exists which searches new and creative ways to build a more inviting environment.

Shopping malls as free of charge arts education centres for children One of the most common activities in the shopping malls are the art workshops mainly aiming to reach children, which can be interpreted as a sign that the loophole in this area is perceived by the malls‹ managements. Although opportunities to engage in arts for children have been improving in recent years, it is still not prevalent. Art education is almost non-existing in the curriculum of primary and secondary public schools. As art education is not the primary focus of education and cultural policies in Turkey, there is inadequate infrastructure, capacity, equipment and budget problems as well as insufficient number of qualified art teachers (Akın and Ece 2014). In terms of art education, the small size private cultural initiatives, providing music, fine arts and performing arts courses for children can be described as the main supplier whose programming is more up-to-date and introduces various art forms. However, the limited number of art workshops offered by private institutions is not affordable for many middle and low income families. Moreover, these cultural initiatives are not widespread, generally located in the city centre, whereas there is at least one shopping mall in 30 districts out of 39 in Istanbul that provides a wide variety of free art workshops for children. These activities range from painting, colouring, puppet and toy making, creative drama, photography etc. For instance, Zorlu Shopping Mall that opened in 2015 organised free art workshops from January to March 2016 to introduce some of the worldwide painters such as Da Vinci, Picasso, Van Gogh, Monet and Degas. The framework of the workshops based on an art book series for children. The participating children received information on selected works of these artists by arts education professionals. Another intriguing example is a free admission toy exhibition in the Mall of Istanbul, which aspires to exhibit the developments in

Shopping Culture

the toy-making industry in a chronological order. 4000 pieces of antique toys, belonging to a private collector, who owns a toy museum in the Asian part of Istanbul that was amassed from different countries representing various cultures is exhibited for the first time in a shopping mall in Turkey. Given that accessibility is a major problem in the city, the exhibition has the potential to reach more people at the mall who live far from the toy museum. Also, such opportunities allow children to encounter with the arts in an entertaining surrounding which is lacking in many traditional art institutions in Istanbul. The informal environment facilitates children to become part of the experience, not only attending activities, but practising the arts by playing and learning at the same time. Furthermore, a wide usage of technology and interactive learning are not common in classic art institutions as it is in the malls.

E xpectations for cultural activities in shopping malls especially high in those districts with a poor cultural and social infrastructure in deprived districts A survey conducted in the four districts of Istanbul in 2014 which measures the level of cultural consumption in the shopping malls provides interesting insights on how cultural activities are received by the respondents. The research evaluates the similarities and differences in the involvement of activities among the districts which have diverse characteristics in terms of access to cultural facilities and socioeconomic factors. The variety of arts and cultural activities is one of the important reasons going to a shopping mall for almost 60 % of the respondents; this ratio reaches to 72 % in Bayrampaşa, the district that has the lowest access to cultural offerings and the least socially and economically advantaged groups. The finding of the survey indicates that in the case of insufficient cultural infrastructure, expectation for cultural activities from the shopping malls rises. In addition to the cultural activities of the malls, there are three cultural centres in Bayrampaşa, built and managed by the local municipality that stage theatre-plays, organise workshops for the traditional arts and visits to cultural sites for children. The programming of the public cultural centres is designed by the cultural division of the social department of the local government. However, the content of most programmes has a visible emphasis on the promotion of the »national culture« that aims to safeguard and foster traditional values, which is vastly in line with the cultural policy of Turkey. The policy underlines a Turkish and Muslim identity that was neglected for a long time for being traditional, is now in need to be promoted (Ada 2013: 138). Compared to the activities organised by these local administrations that mainly concentrate on the traditional arts, free admission cultural activities of shopping malls have more potential to introduce diverse forms of arts and enhance the engagement levels of children who live in socially and economically deprived districts as malls are frequently visited and seen as leisure spaces.

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Nearly 40 % of the visitors of cultural activities in shopping malls never visit regular arts institutions According to the same survey, the most popular cultural activities in shopping malls among the respondents over 15 years of age are: going to the cinema (81 %), engaging in entertainment activities (40 %), going to the theatre (27 %), going to a concert (24 %) and going to an exhibition (11 %). Respondents also are asked how often they engaged in a cultural activity within the last twelve months prior to the research other than those held in shopping malls. Whilst the ratio of respondents who haven’t participated in a cultural activity in shopping malls is only 14 %, the ratio of non-participation raises to 37  % in arts and cultural institutions in the city other than shopping malls. Considering that most of the survey respondents have high income, educational and occupational levels, it may be argued that the participation level of socioeconomically disadvantaged people assumed to be even lower. For individuals in lower social and economic strata, malls might give an easier access to cultural activities as the personal barrier in these informal places may be felt less since such venues present non-canonised cultural practices that do not require a cultural capital. The data on cultural consumption in Istanbul support the findings of the mentioned research. Istanbul has the richest cultural infrastructure and cultural supply, yet the number of visitors of cultural institutions is not as high as expected from a city that has over 14 million inhabitants. Theatre sets a good example in terms of revealing the low participation levels as it is the most publicly funded art medium in Turkey. Whilst the number of theatre stages in Istanbul was 189 that constituted 27 % of all the theatre halls in the country, only 2.5 million participants attended approximately 13.000 plays in 2013 (TURKSTAT 2013). The last survey conducted by the Turkish Statistical Institute (TURKSTAT) on the engagement levels of cultural activities in 2006 measured the home-based and going out cultural practices. Here, we also see low levels of participation. Most popular going out activities were going to the cinema (8 %) and concerts (3 %) among the population over 15 years of age in Turkey. Watching television (94 %) was stated as the main home-based activity, which also is an important figure in terms of revealing the cultural preferences of the majority of the public.

Conclusion All these cultural data indicate that the relevancy of the cultural venues should be taken into consideration as well as programmes offered by them. Surveys of Eurobarometer conducted in 2013 show a continuous decline in the engagement of activities such as theatre, bale, opera and dance performance in many European countries including Turkey. According to the survey, the two main reasons for not participating in cultural activities are »lack of interest« and »lack of time« (Eurobarometer 2013). It is evident that instead of concentrating only on the im-

Shopping Culture

provement of measures for accessing to classic cultural institutions, informal alternative spaces that bring leisure and artistic/cultural elements together should be considered as a way to reduce barriers such as lack of interest, knowledge or background towards the arts and culture. In the case of Istanbul, shopping malls have gained recognition as informal cultural spaces where the arts are offered out of conventional settings and presented in the form of social experience. In this context, malls of Istanbul can be considered as new cultural milieus that facilitate the enhancement of taking part in arts and culture. However, today the main customers of malls are the individuals with purchasing power. This leads to the question whether the malls are really interested in fostering cultural access to all groups of the population, including low income groups. Within the last two years, there has been a visible increase both in the number and variety of the cultural activities organised by the malls. Currently, we are witnessing a fierce competition in the mall sector, encouraging malls to turn into all-inclusive leisure centres. This strategy seems widely appreciated by the mall users as they are far more frequently visited than publicly funded community arts centres and private cultural organisations. Although shopping is the primary activity in malls, their allure mostly derives from delivering various services in one location and being easily accessible in terms of transportation. It is still too soon to foresee whether more shopping malls will be able to use their potential to act like cultural institutions and to involve more of their visitors with arts and culture. But in the light of existing data, we can argue that shopping malls with a well-structured cultural strategy that welcome diverse socioeconomic groups might become critical actors in the field of arts and culture in the near future.

Notes The Survey mentioned constitutes a section of the author’s Master’s thesis »Shopping Malls as Cultural Spaces«. Face-to-face interviews conducted with 421 people between the ages of 15 and 65, living in the districts of Beşiktaş, Bakırköy, Ümraniye and Bayrampaşa, who had gone at least once to any shopping mall in Istanbul within the previous month prior to the date of the interview.

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Populäre Kultur

Was alle angeht Über die Bedeutung von populärer Kultur als integrative Kulturpraxis Barbara Hornberger

Wen geht was an? »Kultur ist der konstante Prozess, unseren sozialen Erfahrungen Bedeutungen zuzuschreiben und aus ihr Bedeutungen zu produzieren, und solche Bedeutungen schaffen notwendigerweise eine soziale Identität für die Betroffenen.« (Fiske 2003: 15) Kultur ist ein wesentliches Mittel zur Selbstvergewisserung von Gesellschaft, zur Aushandlung von Normen und Werten, zur individuellen und gemeinschaftlichen Sinnstiftung. Sie ist ein Medium von Teilhabe, Aneignung und Transformation. Darum geht Kultur alle an, muss alle angehen. Eigentlich. Schaut man in den institutionalisierten Kulturbetrieb, sieht das allerdings ganz anders aus. Höchstens die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger interessiert sich für diese Angebote, und unter 10 Prozent nutzen sie regelmäßig und intensiv (vgl. Renz in diesem Band). Dabei hat die institutionalisierte Kultur, die noch immer vor allem E-Kultur ist, den Anspruch, für die Gesellschaft relevant zu sein, aktuelle und brisante Themen aufzugreifen und zu verhandeln. Sie will ein Ort für Kritik und neue Entwürfe sein und ein progressives Gegengewicht gerade auch zu kapitalistisch-hegemonialen Strukturen herstellen. Damit erreicht sie allerdings nur eine Minderheit der Bevölkerung, während oft gerade diejenigen, für deren Interessen sie in ihren Programmen und Artefakten eigentlich eintreten möchte, fernbleiben. Dieser Teil der Bevölkerung bevorzugt in der Regel populäre Kultur in allen möglichen Facetten: Populäre Musik verschiedener Genres, Club Culture, TV-Serien (von Daily Soaps bis zu den amerikanischen Qualitäts-Serien), Computerspiele oder einfach Fußball. Nahezu alle diese Formen populärer Kultur sind Teil dessen, was Adorno und Horkheimer »Kulturindustrie« nannten; sie sind, anders als die subventionierten Kulturinstitutionen, auf einen Markt ausgerichtet. Die Artefakte der populären Kultur sind Waren und als solche per se profitorientiert,

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Barbara Hornberger

und zwar auch dann, wenn sie antikapitalistisch auftreten. Tatsächlich kann das Subversive und Widerständige die Attraktivität der Ware sogar erhöhen, wie gerade die Geschichte der populären Musik zeigt: Punk, Grunge, HipHop formulieren kritische Positionen gegenüber hegemonialen Gruppen sowie gegenüber dem Markt und seinen Logiken und erreichen damit ein Publikum, das ihre Positionen teilt und über den Kauf der kulturindustriellen Ware (Tonträger, Download, Konzertkarte oder Merchandising) aneignet und in Zirkulation bringt. Folgt man der kritischen Theorie, ist es aber dieser warenförmige Charakter der kulturindustriellen (populären) Produkte, der sie als Bedeutungsträger und Sinnstifter per se diskreditiert. »Die gesamte Praxis der Kulturindustrie überträgt das Profitmotiv blank auf die geistigen Gebilde. […] Geistige Gebilde kulturindustriellen Stils sind nicht länger auch Waren, sondern sind es durch und durch.« (Adorno 2008: 203) Als Teil des kapitalistischen Systems seien sie jedoch nicht mehr in der Lage, »als Ausdruck von Leiden und Widerspruch die Idee eines richtigen Lebens fest[zu]halten« (ebd.: 206). Diese Vorstellung von Rezipienten wirtschaftlich angebotener »populärer« Kulturformen als Verblendete, die nicht bemerken, dass sie eigentlich einem »Massenbetrug« aufsitzen oder dies hinnehmen, prägt implizit noch immer das Verständnis vieler Kulturschaffender des öffentlichen Kulturbetriebs. Aus der Perspektive derer, die institutionell und öffentlich geförderte Kultur anbieten, sind diese Menschen Nicht-Besucher und als solche werden sie allzu schnell und voreilig auch als »Nicht-Kultur-Nutzer« bezeichnet und damit als kultur- wenn nicht sogar bildungsfern eingeordnet. Diese Einordnung offenbart allerdings weniger eine statistische Wirklichkeit, als vielmehr eine problematische Wahrnehmungsverschiebung seitens der (Hoch-)Kulturanbieter sowie auch der Kulturpolitik: Als Kultur wird vor allem das aufgefasst, was öffentlich und institutionell und in der Regel staatlich subventioniert stattfindet. Was informell, zuhause, individuell, nebenbei und massenmedial rezipiert wird, ist dabei weitgehend ausgeblendet, von Ausnahmen wie etwa Arthouse-Kino abgesehen. Unter Kultur, noch mehr unter »den Künsten«, wird traditionellerweise Hochkultur verstanden, entweder repräsentativ-bürgerlicher oder progressiv-avantgardistischer Prägung. Diese wird, wie z.B. die vom Zentrum für Kulturforschung durchgeführten Kulturbarometer oder die ARD/ZDF-Medienstudie zeigen, vor allem von Menschen aus dem Bildungsbürgertum sowohl betrieben als auch besucht (vgl. Mandel 2012: 23). Insofern definiert sich hier eine eher privilegierte und sozial relativ homogene Gruppe als »kulturinteressiert«, während die anderen, nichtbeteiligten Teile der Gesellschaft nicht nur sprachlich ausgeschlossen, sondern darüber auch marginalisiert werden. Kulturpolitisch bringt gerade dieses Nicht-Erreichen eines breiten Publikums die subventionierten Kulturinstitutionen in Bedrängnis. Theater, Museen, Bibliotheken stehen angesichts knapper kommunaler Kassen selbst dann zur Disposition, wenn sie internationales Renommee besitzen, wie die Schließung des Wuppertaler Schauspielhauses Mitte 2013 zeigt. Vor diesem Hintergrund werden

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schwache Besucherzahlen zu einem Legitimationsproblem, denn wer öffentliches Geld bekommt, muss immer häufiger und genauer sagen, für welche Kultur es ausgegeben wird und wen man damit anspricht. Als Antwort versuchen die Institutionen daher in einem ebenso pädagogischen wie auch kulturpolitischökonomischen Impuls, über Vermittlungsangebote und kulturelle Bildung die Anzahl und die Vielfalt ihrer Besucher zu steigern, sie bemühen sich um »niedrigschwellige« Angebote: Alle sollen teilhaben können. Dabei wird allerdings im Eifer der Konzepte und in der Überzeugung von der Bedeutung des eigenen Tuns vergessen, dass gar nicht alle teilhaben wollen. Die Klage darüber, dass man neue Publikumssegmente nur schwer oder gar nicht erreicht, liest sich regelmäßig wie ein Vorwurf an eben dieses hartnäckig sich verweigernde Publikum, das in diesem Zusammenhang indirekt als defizitär definiert wird und schnell im Verdacht steht, »bildungsfern« zu sein (zu den problematischen bildungspolitischen Implikationen dieses Begriffs siehe auch Reichenbach 2016). In dieser Zuschreibung steckt eine nicht unerhebliche Arroganz: Die Entscheidung für andere Formen von Kultur wird nicht als eigenständig und bewusst respektiert, der damit verbundene Kulturgenuss wird nicht als ästhetische Erfahrung ernstgenommen und die damit einhergehenden Expertisen erfahren keine Wertschätzung. Aus der sicheren hegemonialen Perspektive derer, die den Kulturbegriff definieren, wird denen, die man angeblich gewinnen will, die Fähigkeit zur mündigen Entscheidung zunächst mehr oder weniger abgesprochen. Zur Begründung dessen wird den E-Kultur-Verweigerern häufig ein Mangel an kultureller Kompetenz und Interesse unterstellt: Erst wer auch Angebote der E-Kultur kennengelernt habe, könne wirklich fundiert entscheiden – und etwas ablehnen. Diese Argumentation ist zwar grundsätzlich stichhaltig, wird aber üblicherweise nur in eine Richtung geführt: Shakespeare-Liebhabern wird mangelnde Kompetenz in Sachen Sitcoms kaum zum Vorwurf gemacht, Bach-Hörer müssen sich nicht fehlendes Wissen über HipHop vorwerfen lassen.

Relevanz und Bedeutung Eine andere und produktivere Perspektive auf die Kriterien und Begründungen solch kultureller Geschmacks-Entscheidungen können die Cultural Studies eröffnen, die sich seit den 1960er Jahren vor allem für populäre Kultur und ihren Gebrauch interessieren. Sie fragen danach, was »die Leute« mit der von ihnen ausgewählten Kultur wirklich machen, sie interessieren sich für die Zirkulation der Produkte, den Gebrauch, die Aneignungsmodi sowie die Sinnproduktion durch das Publikum. Die sozialen Erfahrungen, denen mittels Kultur Bedeutung verliehen wird, sind insbesondere geprägt durch die gesellschaftlichen Parameter Race, Class und Gender. Populär sind bzw. werden in den Augen der Cultural Studies gerade die Artefakte, die offen sind für eine diversifizierte, an der eigenen sozialen Situation orientierte Rezeption, die eine Aneignung ermöglichen, in der diesen gesellschaftlichen Parametern Bedeutung verliehen oder sogar etwas

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entgegengesetzt werden kann. Darum sehen die Cultural Studies im Gebrauch populärer Kultur emanzipatives, selbstermächtigendes Potenzial. Dies wird realisiert durch eine eigene, gelegentlich auch eigenwillige Aneignung populärer Artefakte vor dem Hintergrund der sozialen Erfahrungen der Rezipienten. Die Cultural Studies gehen davon aus, dass in den Gegenständen der populären Kultur keine mehr oder weniger anspruchsvoll eingewobene Bedeutung liegt, die mühsam herausgelesen werden muss – anders als es für den Bereich der E-Kultur zuweilen noch angenommen wird. Denn während die Mehrzahl der Kunst- und Kulturschaffenden und die kulturwissenschaftliche Forschung von dieser Vorstellung einer im Werk klar zu identifizierenden Idee weitgehend Abstand genommen haben, sind vor allem im schulischen Kontext, aber auch in anderen Hochkultur-Vermittlungsangeboten, die Vorstellung von der Autonomie und Autorität des Kunstwerks, die Frage nach der Intention der Künstler/-innen sowie das Bedürfnis nach »richtig verstehen« noch sehr präsent. In der populären Kultur aber liegt die Bedeutung nicht vorrangig im Werk: Bedeutungsproduktion mit populärer Kultur meint, dass Rezipient/-innen den kulturellen Gegenstand mit ihrem Leben auf eine ihnen sinnvoll erscheinende Weise verknüpfen. Dies geschieht trotz der weitgehend standardisierten Kulturprodukte ganz individuell. Nur deshalb können hunderte von Paaren über den gleichen Popsong sagen »Schatz, sie spielen unser Lied«, und es alle so meinen. Für diese Form von produktiver Aneignung ist die leichte Zugänglichkeit und relative semiotische Unbestimmtheit der populären Kultur eine wichtige Voraussetzung. Die Popularkultur ist […] voll von Wortspielen, deren Bedeutungen die Normen der sozialen Ordnung vervielfältigen, ihnen entkommen und ihre Disziplin durchbrechen; ihr Exzeß bietet Möglichkeiten für Parodie, Subversion oder Inversion; sie ist offensichtlich und oberflächlich, weigert sich, tiefe, komplex gestaltete Texte zu erzeugen, die ihr Publikum wie ihre gesellschaftlichen Bedeutungen verengen; sie ist geschmacklos und vulgär, da Geschmack soziale Kontrolle und ein Klasseninteresse darstellt, das sich als ein natürliches feineres Empfindungsvermögen ausgibt; sie ist durchzogen von Widersprüchen, da Widersprüche die Produktivität des Lesers benötigen, seinen oder ihren Sinn aus ihnen zu ziehen. Sie ist oftmals eher auf den Körper und seine sinnlichen Wahrnehmungen konzentriert als auf den Geist mit seiner Vernunft, da die körperlichen Lüste karnevaleske, flüchtige und befreiende Praktiken anbieten […]. (Fiske 2003: 19)

Die leichte Zugänglichkeit heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass Unterhaltung nichts mitzuteilen hätte. Gegenstände der populären Kultur stellen Weltbeziehungen her, verhandeln gesellschaftliche Entwicklungs- und Normierungsprozesse und Handlungsoptionen; sie initiieren Kommunikationsprozesse und sind so auf vielfältige Weise Teil des gesellschaftlichen Diskurses und bildungsrelevant. All dies geht aus von der Ästhetik der Artefakte, die in besonderer Weise solche Kommunikations- und Teilhabe-Prozesse initiiert. Damit sich der

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Mitteilungskern auch bei einer weniger intensiven, vielleicht sogar beiläufigen Rezeption erschließt, nutzen populäre Artefakte etablierte Genres und Formate, die einerseits einen Rahmen für die Rezeption vorgeben und andererseits Lücken lassen, deren Schließen eine individuell sinnstiftende Aneignung und Deutung ermöglicht. Unterhaltung zeigt sich also nicht als passives »Sich-Berieseln-Lassen«, sondern als aktiver Prozess, in dem beständig Bedeutungen produziert werden. Der Aneignungsprozess aber findet erst statt, wenn das Produkt überhaupt ausgewählt wird. Dafür muss es Relevanz besitzen, und in diesem Begriff der Relevanz zeigt sich eine wichtige Differenz: In der institutionellen Kultur wird von Relevanz gesprochen, wenn ein Thema verhandelt wird, von dem sich viele einig sind, dass es von hoher gesellschaftlicher Wichtigkeit ist. Der arabische Frühling war relevant, die Krise Europas, das Thema Migration und sozialer Friede sind relevant. Mit dieser Relevanz wird das Aufgreifen dieser Themen in Spielplänen und Projektkonzeptionen begründet – mit dem Nebeneffekt, dass die veranstaltenden Institutionen und ihre Akteure selbst als relevante Sprecher und Gestalter auftreten und dabei kulturpolitisches Kapital erwirtschaften können. Doch wenn diese Form von Relevanz gleich populär wäre, hätten die Kultur-Institutionen reichlich Zulauf. Die Cultural Studies gehen in ihrem Begriff von Relevanz zwar ebenfalls von einem Zusammenhang von Artefakt und Gesellschaft aus: »Relevanz ist die Schnittstelle zwischen dem Textuellen und dem Sozialen.« (Fiske 2003: 19) Doch hier ist das Soziale individuell definiert. Relevanz als Schnittstelle verknüpft Subjekt und Objekt, verbindet das Artefakt mit dem Leben des einzelnen Rezipienten. Weil sie nicht gesellschaftlich, sondern individuell funktionieren, sind Relevanzen in der populären Kultur divergent und zerstreut und gerade nicht zwingend an den großen gesellschaftlichen Themen orientiert. Doch sie sind der Grund, warum Rezipienten sich für einen kulturellen Gegenstand entscheiden und ihn gebrauchen – und einen anderen nicht. Was einen Gegenstand für jemanden relevant macht, ist kaum kalkulierbar. Jemand, der arbeitslos und Migrant und behindert ist, empfindet möglicherweise die auf seine sozialen Schwierigkeiten zugeschnittenen Programme gerade nicht als relevant, sondern findet und produziert Bedeutung in einer Hollywood-Liebesgeschichte oder im Skispringen oder in World of Warcraft.

Populäre Kultur – Teilhabe und Vermittlung Diese Idee vom Gebrauch der Kultur ist emanzipativ geprägt, denn sie geht davon aus, dass die Teilhabe an populärer Kultur auch Teilhabe an gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen bedeutet. Es geht um eine Politik des Alltags, die eher auf der Mikro- als auf der Makroebene stattfindet. [T]rotz jahrhundertelanger rechtlicher, moralischer und ästhetischer Repression […] hat die Alltagskultur der Menschen, oftmals mündlich überliefert, die ausweichenden, widerständigen

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Barbara Hornberger popularen Kräfte aufrechterhalten, ohne die aktivere Widerstände keine Basis und keine Motivation hätten. (Fiske 2003: 22f.)

Für den ebenso lustvollen wie emanzipativen Gebrauch von populärer Kultur ist eine zwischengeschaltete Kulturvermittlungsinstanz freilich überflüssig. Ganz offensichtlich findet das Populäre begeisterte Zuschauer/-innen und Zuhörer/-innen auch ohne eine dritte Instanz. Menschen haben jenseits aller pädagogischen Bemühungen eben nicht nur Zugang zu, sondern vor allem Vergnügen an populärer Kultur. Viele erwerben dafür sowohl Leidenschaft als auch Kennerschaft, investieren Zeit und Geld, nicht anders als begeisterte Theater- oder Museumsgänger. Da es also eine »Kultur für alle« nicht zu geben scheint – große Sportereignisse vielleicht ausgenommen – müsste stärker als bisher von »Kulturen von allen« die Rede sein, die sehr verschiedene Menschen und Gruppen angehen. Kulturvermittlung sollte diese Unterschiede stärker als bisher berücksichtigen, sowohl grundsätzlich in ihrem Verständnis von Kultur als auch in der Vermittlungspraxis. Populäre Kultur benötigt zwar keine Vermittlung, um ihr Publikum zu finden und zu begeistern, aber auch für populäre Kultur ist Vermittlung nicht nur denkbar, sondern – nicht nur unter dem Stichwort Medienkompetenz – auch sinnvoll. Allerdings geht es hierbei nicht darum, bestimmte Formen erst zugänglich zu machen, sondern eher darum, ihre spezifische, meist audiovisuelle Ästhetik zu verstehen, die Bedingungen ihrer Produktion zu kennen und sowohl Wahrnehmungs- als auch Beurteilungskompetenzen zu schulen. Eine kulturelle Bildung im Bereich populärer Kultur kann auch die mit der Rezeption verbundenen informellen Bildungsprozesse als solche sichtbar und verfügbar machen sowie die damit verbundenen Selbstwirksamkeitseffekte. Musikschulen, Jugendkunstschulen oder Theater sind als Institutionen des non-formalen Lernens prädestiniert, Grundkompetenzen und Metastrukturen im Feld populärer Kultur zu vermitteln, die Kulturnutzer/-innen befähigen, eigenständige Lernprozesse in Gang zu setzen und das informell erworbene Wissen als verfügbares Wissen selbst einsetzen und aktualisieren zu können. Für den Bereich Schule ergeben sich sogar besondere Potenziale zur Stiftung von Anerkennungs- und Selbstwirksamkeitserfahrungen (vgl. Hornberger 2015). Entscheidend für das Gelingen dieser Vermittlungsprozesse ist, das Vergnügen als Ausgangspunkt der produktiven Rezeption nicht zu beschädigen, sondern im besten Falle sogar zu differenzieren und zu steigern. Wenn das unreglementierte, selbstbestimmte, individuelle Vergnügen am Populären in intentionale, formale, am Ende vielleicht auch benotete Bildungsarbeit verwandelt wird, besteht durchaus die Gefahr, dass die Vermittler die populäre Kultur kolonialisieren und damit für die Rezipient/-innen entwerten. Es kann also hier nicht um Geschmackserziehung gehen, sondern darum, vertiefte Kenntnisse in Ästhetik sowie in Produktions- und Distributionsprozesse zu vermitteln, ohne die Gegenstände über ihre Funktionalität zu determinieren. Der Verzicht auf einen zu engen und vor allem normativen Kulturbegriff, ein

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wertschätzendes und unhierarchisches Setting und der Verzicht auf Deutungshoheit seitens der Vermittelnden bieten außerdem die Möglichkeit, kognitive Prozesse mit dem sinnlich-affektiven Erleben produktiv zu verbinden, nämlich zu »begreifen, was mich ergreift« (Staiger 1953: 11). Dieser Leitsatz umfasst einen zentralen Zugang zu jeder Form von Kultur, weil er das sinnlich-intuitive Erleben nicht ausklammert, sondern als Ausgangspunkt für einen kognitiven Zugang zu genau diesem Erleben nutzt und anerkennt (vgl. Hornberger 2016). Zu verstehen, wie kulturelle Artefakte strukturiert sind und warum sie einen ergreifen oder eben auch nicht, befähigt zu mündiger Urteilsbildung und diese ist grundlegendes Ziel kultureller Bildung, keineswegs nur für die populäre Kultur. In dieser Zielsetzung kultureller Bildung lässt sich also kaum noch ein plausibler Unterschied zwischen E- und U-Kultur behaupten. Darum und weil über populäre Kultur längst (nicht nur) informelle Bildungsprozesse entstehen, muss sich die Kulturvermittlung auch im Bereich der institutionellen E-Kultur mehr als bisher mit dem Populären auseinandersetzen, wenn sie sich nicht nur als Vermittlungsinstanz einer hegemonial bestimmten bürgerlichen Kultur verstehen, sondern ein breites und aktuelles Kultur- und Bildungsverständnis repräsentieren will. Denn das Populäre ist, mehr als der Kanon der E-Kultur, die eigentlich integrative Kultur der Gegenwart, und das bereits seit über 50 Jahren. Wenn die Praxis von Kulturvermittlung und kultureller Bildung den Herausforderungen einer spätmodernen Mediengesellschaft produktiv begegnen will, muss sie das Populäre integrieren, schon weil es für die meisten Menschen die kulturellen Vorstellungen und Vorlieben mit geprägt hat. Diesen Vorlieben gilt es auf Augenhöhe, mit Respekt zu begegnen und das Wissen zur populären Kultur als legitimes Wissen anzuerkennen. Dazu gehört auch der Verzicht auf die häufig noch implizit wirksame Abwertung der marktabhängigen, populären Kultur gegenüber subventionierter Hochkultur. Die Anerkennung des populären Geschmacks war und ist immer noch ein Prozess von Demokratisierung, der Aufstieg der Massenkultur ist symbolisch verbunden mit einem auch politischen und sozialen Gleichstellungsanspruch (vgl. Maase 1997). Heute ist gerade die vielgescholtene Mainstream-Kultur in der Lage, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Ausrichtung zusammenzubringen, sie ist ein zentrales »gesellschaftliches Lebensund Verständigungsmittel« (Maase 1997: 47). Ein Selbstverständnis von Kulturvermittlung als Förderung von gesellschaftlicher Teilhabe muss daher die sozial und kulturell integrative Kraft populäre Kultur erkennen und das darin enthaltene Potenzial für eine weitere Demokratisierung des Kultur- und Bildungsbegriffs nutzen.

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L iter atur Adorno, Theodor W. (2008): »Résümé über Kulturindustrie«, in: Claus Pias et al. (Hg.): Kursbuch Medien. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Beaudrillard, München, S. 202-208. Fiske, John (1989): Reading the Popular, Boston. Fiske, John (2003): Lesarten des Populären. Cultural Studies Band 1, Wien. Hornberger, Barbara (2015): »Einschließen, ausschließen. Eine Skizze zur Vermittlung populärer Musik vor dem Hintergrund von Honneths Konzept von Anerkennung«, in: Michael Ahlers (Hg.), Popmusikvermittlung. Theorie und Praxis der Musikvermittlung, Berlin u.a., S. 257-275. Hornberger, Barbara (2016): »Bildungspotenziale populärer Kultur. Plädoyer für eine Didaktik des Populären«, in: Tom Braun, Max Fuchs (Hg.), Die Kulturschule und kulturelle Schulentwicklung. Grundlagen, Analysen, Kritik. Band 2, Weinheim, Basel, S. 156-169. Keuchel, Susanne (2014): Kulturelle Interessen der 14- bis 24-Jährigen: Quo Vadis nachhaltige Kulturvermittlung? Aktuelle Ergebnisse aus der Reihe »JugendKulturBarometer«. URL: https://www.kubi-online.de/artikel/kulturelle-inter essen-14-bis-24-jaehrigen-quo-vadis-nachhaltige-kulturvermittlung-aktuelle vom 07.05.2016. Maase, Kaspar (1997): »Massen, Sinn und Sinnlichkeit. Zur Rolle der kommerziellen populären Künste im 20. Jahrhundert«, in: Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung (Hg.), Ästhetik in der kulturellen Bildung. Aufwachsen zwischen Kunst und Kommerz, Remscheid, S. 39-48. Mandel, Birgit (2012): »Audience Development als Aufgabe von Kulturmanagementforschung«, in: Jahrbuch für Kulturmanagement 2012, Hg. im Auftrag des Fachverbandes für Kulturmanagement. Bielefeld, S.  15-27. URL: www. fachverband-kulturmanagement.org/wp-content/uploads/2014/01/02_AudienceDevelopmentAlsAufgabeVonKulturmanagementforschung.pdf vom 07.05.2016. Mandel, Birgit/Renz, Thomas (2010): Nicht-Kulturnutzer. Eine qualitative empirische Annäherung. Online unter www.kulturvermittlung-online.de/pdf/ onlinetext_nicht-besucher__renz-mandel_neueste_version10-04-26.pdf vom 07.05.2016. Müller, Eggo (1993): »›Pleasure and Resistance‹. John Fiskes Beitrag zur Populärkulturtheorie«, in: montage/av, 2,1, S. 52-66. Reichenbach, Roland (2015): »Über Bildungsferne«, in: Merkur 69 (795), 2015, S. 5-15. Staiger, Emil (1953): Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller, Zürich.

Gaming als Blaupause für eine neue partizipative, digitale Kulturvermittlung Christoph Deeg

Das Leben ist eine Shopping-Mall, die Bank ist »Mephisto«. Um Schönheit, Reichtum, Wollust etc. zu erlangen verlangt der Teufel nicht deine Seele, sondern deine Facebook-Freunde. – Dieses Szenario ist Teil von »Being Faust – enter Mephisto«, einer analog-digitalen Spielerfahrung. Das Projekt ist eine Co-Produktion des Goethe-Instituts und des südkoreanischen Unternehmens »Nolgong« rund um den international bekannten Game-Designer Peter Lee. Die Produktion ist ein gutes Beispiel dafür, wie es mittels Gaming bzw. Game-Elementen gelingen kann, kulturelle Inhalte zu vermitteln. Diese werden dabei zwar vereinfacht und in die Sprache des Spiels übersetzt, aber nicht trivialisiert oder in ihrer Komplexität zerstört. Die Vereinfachung geschieht vielmehr im Sinne eines erleichterten Zugangs zu einem komplexen Inhalt wie bspw. Goethes »Faust«. »Nolgong« schafft das über eine Fokussierung auf wenige Kernaspekte des Stücks: 1. Das Treffen von Entscheidungen, 2. das Tragen der Konsequenzen und 3. Verführung wurden als Elemente herausgegriffen und in die digital-analoge Lebensrealität der Zielgruppe übertragen. Der Originaltext in seiner sprachlichen Dichte konnte dabei beibehalten werden. Allerdings geht es in »Being Faust – enter Mephisto« nicht mehr um die Emotionen und Erfahrungen einer dritten Person (Faust), sondern es geht plötzlich um die eigene Lebensrealität als Mitspieler. Es verschmelzen die Grenzen zwischen Spiel und Realität, zwischen analoger und digitaler Erfahrung. Da sich zum einen jeder kulturelle Inhalt mittels Gaming bzw. Gamification vermitteln lässt und da zum anderen Games zur kulturellen Identität und Lebensrealität eines großen Teil der deutschen Bevölkerung gehören (ca. 80 % aller Deutschen unter 24 Jahren spielen regelmäßig Computerspiele [Bitkom 2013]), steckt in diesem Thema großes Potenzial für eine zukunftsorientierte Kulturvermittlung, ja ist es für diese geradezu unverzichtbar, so die Ausgangsthese dieses Artikels. Angefangen bei der Betrachtung des Themas als Element einer neuen, digitalen (Sub-)Kultur, über die Diskussion der sogenannten Killerspiele bis hin zur

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Definition von Spielen als Kulturgut, wurden in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Aspekten im Bereich Gaming/Gamification kontrovers diskutiert. Heute heißt es dann gerne »Computerspiele sind in der Gesellschaft angekommen«, was aber nicht automatisch dazu führt, dass man sich des Themas in seiner Breite annimmt. Man hat sich mit dem Thema arrangiert, es aber nicht in die eigene Arbeit implementiert. Deshalb möchte ich in diesem Beitrag versuchen, das Thema unter der Frage zu beleuchten, welche Handlungsoptionen Kulturvermittlung in traditionellen Kulturinstitutionen in Auseinandersetzung mit der Kultur der digitalen Games gewinnen kann. Mein Vorschlag, Gaming weniger als ein einzelnes Werkzeug, denn vielmehr als Querschnittsfunktion der Kulturvermittlung zu betrachten, könnte neue Möglichkeiten für eine partizipative Kulturvermittlung eröffnen. In diesem Artikel fokussiere ich mich auf die drei Themengebiete, die meiner Meinung nach am wichtigsten für einen umfassenden Ansatz des Gaming sind: 1. Spiel als Kulturtechnik 2. Gaming als digital-analoge Weiterentwicklung des Spiels 3. Games als neue Kunstform und ihre Bedeutung für eine partizipative Kulturvermittlung

1. S piel als K ulturtechnik Das Thema Gaming mag durch die Anbindung an die digitale Welt als junges Thema wahrgenommen werden. Das Spiel – als Grundfunktion des Themas Gaming/Gamification – ist aber eine der ältesten Kulturtechniken überhaupt. Johann Huizinga beschrieb in seinem Buch »Homo Ludens – vom Ursprung der Kultur im Spiel« (Huizinga 2004) seine These, dass die Entstehung von Kultur auf Spielen basiere. Durch Spielen bildeten sich demnach Kulturformen heraus, die sich später verfestigten und zur kulturellen Lebensrealität würden. Spielen sei auf diese Weise ein wichtiges Element menschlicher kultureller Identität. Wenn Spielen eine solch wesentliche Funktion im Entstehungsprozess von Kultur darstellt, liegt es nahe, Spiele auch als wesentliche Dimension von Kulturvermittlung zu nutzen. Der österreichische Autor, Forscher und Spiel-Designer Kontantin Mitgutsch verweist in seinen Vorträgen (vgl. auch Mitgutsch et al. 2010, 2012, 2013) auf drei wesentliche Elemente des Spiels: Spiele seien erstens Systeme, die sehr einfache Dinge sehr kompliziert machen können. Dies könne man z.B. beim Golf-Spiel beobachten: Einen Ball in ein Loch zu befördern sei an sich eine sehr leichte Aufgabe. Ist derjenige, der diese Handlung vollziehen soll, aber dreihundert Meter von dem Loch entfernt und muss die Beförderung des Balls zudem mit einem Schläger durchführen, werde aus einer sehr einfachen Aufgabe ein sehr komplexes System. Zweitens erleichterten Spiele gleichzeitig den Zugang zu komplexen

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Systemen. Auch wenn Spiele nicht die ganze Komplexität von Prozessen abbilden könnten, seien sie in der Lage, komplexe Systeme und Inhalte z.B. durch Simulationen zu vermitteln. Schließlich handele es sich bei Spielen drittens um »AlsOb-Handlungen«. Der Spieler schlüpfe in eine Rolle, in der er die Spielinhalte erfährt. Der Spieler fungiert in diesem Moment also als Rezipient und Vermittler gleichzeitig, indem er sowohl etwas erfährt als auch an der Herstellung dieser Erfahrungen wesentlich beteiligt ist. Einen anderen Erklärungsansatz verfolgt Jane McGonigal in ihrem Buch »Reality is broken – Why Games Make Us Better and How They Can Change the World« (McGonigal 2012). Für sie besteht ein Spiel aus folgenden Elementen: Ein klares Ziel, ein starkes Feedback, klar definierte Regeln sowie freiwillige Teilnahme und Akzeptanz der Ziele, des Feedbacks und der Regeln. Führt man beide Erklärungsmodelle zusammen, kann man sagen, dass Spiele durch eine Kombination aus Regeln, Zielen und Feedback dem Spieler die Möglichkeit geben, in komplexe Systeme einzutauchen und sie so besser zu verstehen. Zentrales Element des Spiels ist Spaß bzw. intrinsische Motivation. Ohne freiwillige Teilnahme funktioniert Spiel nicht. Auch in einer spielbasierten Kulturvermittlung ist also die freiwillige, intrinsisch motivierte Teilnahme eine notwendige Voraussetzung.

2. G aming als digital- analoge W eiterent wicklung des S piels Gaming im Kontext von Computerspielen basiert zunächst auf den gleichen Modellen wie analoge Spiele. Der Unterschied besteht im wesentlichen im Vorhandensein der Maschine. Eli Neiburger, Assistant Director der Ann Arbour District Library beschreibt in seinen Vorträgen zwei wesentliche Auswirkungen:
 1. Die Maschine ermöglicht es, Spielwelten und Spielsysteme als Erfahrungsräume zu erschaffen, die weit über die Kreativitätsleistung des Gehirns eines Menschen hinausgehen. Im analogen Spiel bildet die Fähigkeit, gemeinsam einen Spielraum inklusive Regeln zu definieren, eine natürliche Barriere der Spielerfahrung. Mit der Maschine kann dieser Raum nahezu unendlich erweitert werden. Dies betrifft sowohl Spiele, bei denen der Spieler gegen andere Spieler, als auch Spiele, in denen der Spieler gegen die Maschine spielt (vgl. Neiburger 2013). 2. Die Maschine ermöglicht die gleichzeitige Vernetzung von Millionen von Spielern. Manche Spiele sind riesige digitale Erlebniswelten, in denen tausende Spieler miteinander spielen können, unabhängig vom Ort, an dem sie sich befinden. Die Anzahl der Spieler wird also nicht mehr durch z.B. ein Spielbrett und damit verbunden einen analogen Ort definiert (vgl. ebd.).

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Die Maschine steht aber nicht nur für eine Erweiterung von Spiel-Funktionen. Sie ist ebenso die Schnittstelle zum digitalen Raum. Das Phänomen Gaming insgesamt ist eng mit der allgemeinen Digitalisierung verbunden und die Denk- und Arbeitsmuster des digitalen Raumes sind auch in der Welt des digitalen Spiels zu finden: Die Kultur des Social Web wie des Gamings basiert auf Kooperation, Interaktion, Verlust der Deutungshoheit, Try and Fail etc. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass alle relevanten Aktivitäten und Prozesse, die wir im digitalen Raum beobachten können, auf analoge Konzepte zurückgehen und großteils noch immer von Menschen durchgeführt werden. Umgekehrt lassen sich auch die Prinzipien der Computerspiele in den analogen Raum (zurück-)adaptieren und bspw. für analoge Kulturvermittlung nutzbar machen. Somit schließt sich der Kreis: Gaming entstand in der analogen Welt. Das Spiel ist eine fundamentale Kulturtechnik. Mit den Computern wurde das Spiel in die digitale Welt hinein weiterentwickelt und es entstanden neue Prinzipien, die nun wieder zurückwandern in die analoge Welt und letztlich auf eine Verschmelzung von analoger und digitaler Welt hinauslaufen. Games wirken dabei von sich aus bereits sowohl vermittelnd als auch herausfordernd. Einige Technologien und Plattformen existieren nur, weil es Gaming gibt. Für die Standardnutzung von Smartphones bspw. würde man keine AchtKern-Prozessoren mit großem Arbeitsspeicher und dezidierter Grafikkarte brauchen. Diese technologischen Ressourcen werden in der Breite nur für das Spielen von Games benötigt. Und Angebote wie YouTube oder Twitch.tv wären ohne die Inhalte der Gaming-Kultur nicht ansatzweise so erfolgreich. Während Twitch.tv als Schwesterseite von Justin.tv nur für die Übertragung von Videospielen entwickelt wurde, haben Let’s-Play-Videos einen relevanten Anteil am Gesamtvolumen der Videoaufrufe auf Youtube. Der YouTube-Kanal des Let’s-Play-Video-Produzenten »PewDiePie« ist im Frühjahr 2016 der mit den weltweit meisten Abonnenten. Gleichzeitig wird der Bereich Gaming durch die digitale Welt kontinuierlich weiterentwickelt. Die vielen Let’s-Play-Videos, die Gaming-Communities und viele weitere Angebote haben einen Einfluss auf die Gaming-Kultur, indem sie als komplexe und sich stetig verändernde Reflexionsebene fungieren. In der Gaming-Kultur finden wir also die Inhalte des Werkes (die Games), die miteinander kommunizierenden bzw. interagierenden Communities und die Vermittlung der Spielerfahrung mittels digitaler Angebote wie die besagten Let’s-Play-Videos. Nicht nur das Werk an sich, sondern auch die damit verbundene Spielerfahrung sowie die Gaming-Kultur werden kommuniziert und weiterverarbeitet. Im Gaming-Sektor gibt es also keine Trennung zwischen Kulturvermittlung, kulturellem Schaffensprozess und kultureller Erfahrung. In den digital-analogen Lebensrealitäten, die sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre herausgebildet haben – eine Transformation, die tiefgreifenden Einfluss auf alle Bereiche der Gesellschaft hat und längst nicht abgeschlossen ist –, sind Inhalte, Ideen und Identifikationen in einen kontinuierlichen Prozess des Teilens, neu Verarbeitens und Mischens eingebunden. Basis für diesen Prozess sind Ko-

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operation, Interaktion, Offenheit, Transparenz etc. und diese Elemente stehen im krassen Gegensatz zu so etwas wie einer Deutungshoheit, die wir im klassischen Kultursektor finden können. Der digitale Raum ist zugleich Lebensraum und Bühne, und die von Eli Neiburger angesprochene Vernetzung der Spieler durch die Maschine gilt ebenso für den digitalen Raum als Ganzes. Jede mögliche Deutungshoheit wurde in diesem Raum durch ein beständiges Aushandeln von Bedeutungen ersetzt, eine Kommunikation, an der jeder (Spieler) teilnehmen kann. Im »Cluetrain Manifest«, jenem bis heute aktuellen Standardwerk einer US-amerikanischen Autorengruppe um Rick Levine und David Weinberger, wurde die digitale Herausforderung auf den Punkt gebracht. Das Manifest beginnt mit dem Satz: »Markets are about conversation.« (Levine 2009) Der Gedanke bezieht sich zwar ursprünglich auf die Wirtschaft, trifft aber ebenso auf den gesamten digitalen Raum und auch auf den Kultursektor zu: Es geht darum, ins Gespräch zu kommen.

3. G ames als neue K unstform und ihre B edeutung für eine partizipative K ulturvermit tlung Gaming gehört zu den populärsten kulturellen Tätigkeiten, und die Figuren der Computerspiele sind elementarer Bestandteil unserer Gegenwartskultur. »Super Mario«, »Lara Croft«, die Vögel aus »Angry Bird« – sie alle haben einen hohen Wiedererkennungswert und sie alle werden mit individuellen Erlebnissen verbunden. In aktuellen Filmen, in der Malerei, in der Fotografie – überall können wir Symbole aus Games entdecken, vom inhaltlichen, ästhetisch-visuellen und strukturellen Einfluss auf die Kulturindustrie ganz zu schweigen. Aber es ist nicht nur der quantitative Erfolg, der Computerspiele so interessant für die Kulturvermittlung macht: Vielmehr sind Computerspiele Kunstwerke, die erst dann existieren, wenn sie gespielt werden, die also immer auf Partizipation angelegt sind. In kulturpolitischen und künstlerischen Debatten wurde mit Bezug auf die Kunstfreiheitsgarantie immer wieder darauf verwiesen, dass Kunst keinen Zweck erfüllen müsse. Kunst müsse nicht gefallen, Kunst müsse auch nicht verstanden werden. Kunst dürfe einfach nur Kunst sein. Eine Interaktion mit dem Rezipienten sei möglich, sie sei aber nicht zwingend erforderlich. Auf dieser Basis entstand eine ganz spezielle künstlerische Freiheit und ein Selbstverständnis des Kultursektors, das bis heute prägend ist. Die Computerspiele folgen aber einer komplett anderen Logik. Die Gestalter von Games, nennen wir sie ruhig Künstler, müssen bei der Entwicklung die Interaktion mit dem Rezipienten mitdenken. Der Einstieg in das Werk soll dabei möglichst einfach und zugleich motivierend und spannend sein, andererseits muss sich die Komplexität danach in Abhängigkeit vom Verhalten des Rezipienten bzw. Spielers auch steigern können, um nicht zu langweilen oder zu unterfordern. Alle Elemente eines Computerspiels sind miteinander verbunden und auch so konzi-

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piert, doch existiert es eben erst, wenn es gespielt wird. Dabei können Computerspiele jeden Inhalt erfahrbar machen. Sie schaffen einen Zugang zu Welten, in denen der Spieler aktiv auf das Geschehen einwirken kann, selbst Teil der Geschichte wird und sie verändert, was die Geschichte prinzipiell grenzenlos macht. Diese Grenzenlosigkeit ist spätestes dann erkennbar, wenn die Spieler nicht mehr gegen eine Maschine, also eine künstliche Intelligenz, sondern gegen andere Spieler antreten, wodurch immer neue Muster, Geschichten, Handlungen und Erfahrungen entstehen. Die aus dieser Interaktion entstehende Komplexität können die Künstler, die das Game erschaffen haben, im konkreten Verlauf nicht absehen. Künstlerische Qualität hat hier durch diese, dem Game immanente Interaktion mit dem Rezipienten eine neue, partizipative Komponente bekommen. Welche Bedeutung haben die dargestellten Charakteristika des Spiels im Allgemeinen und der digitalen Spiele im Besonderen für eine partizipative Kulturvermittlung?

Teilhabe an Kultur durch das Spiel Eine zentrale Option besteht darin, Spiele oder Spielprinzipien zu nutzen, um kulturelle Inhalte zu vermitteln. Da sehr viele Menschen mit Computerspielen aufgewachsen und durch Gaming geprägt worden sind, ist der Umgang mit Games den meisten bereits so vertraut, dass die mit dem Gaming verbundenen Denk- und Arbeitsweisen zum Teil schon ganz selbstverständlich in Non-GameKontexte übernommen wurden. Die Nutzung von Games im Kontext der Kulturvermittlung könnte also Bevölkerungsgruppen, die mit den klassischen Vermittlungsformen nichts anzufangen wissen, einen leichteren Zugang zu den für sie neuen kulturellen Inhalten und Formen bieten. Hierfür würde eine »game-based Kulturvermittlung« entwickelt werden. Die zu vermittelnden Werke würden zu Elementen interaktiver und spielerischer, digital-analoger Erfahrungsräume, die an die Lebensrealität der Rezipienten angepasst sind. Durch die Definition von Spielregeln entsteht ein Rahmen, in dem dann die interaktiven und freiwilligen Handlungen der Spieler stattfinden können. Das bedeutet, dass es weniger um zu vermittelnde Informationen, sondern um das Schaffen eines Erfahrungsraumes geht, in dem das jeweilige Werk einen Kontext zum Spieler/Rezipienten bekommt.

Teilhabe am Kulturgut Spiel und der Gaming-Kultur Wie bereits erwähnt, stellen Computerspiele eigene Kunstformen bzw. Kulturgüter dar, nicht nur in Bezug auf ihre ästhetische Gestaltung, sondern auch in Bezug auf die in ihnen verhandelten, zum Teil sehr komplexen Inhalte. Die Gaming-Kultur hat sich in den letzten Jahren stark weiterentwickelt in ihren Ausdrucksformen wie ihrer Nutzerschaft. Es handelt sich längst nicht mehr um eine Nerd- oder Sub-Kultur, sondern um ein Massenphänomen. Und diese Kultur ist über die

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eigentlichen Games hinaus aktiv. Spieler teilen Inhalte aus den Spielen direkt auf Facebook und Co. Andere Spieler nehmen ihr Spielen als Video auf, kommentieren den Prozess des Spielens und veröffentlichen diese Videos auf Plattformen wie YouTube. Mit Cosplay, also der komplexen Darstellung von Figuren aus Mangas und Computerspielen, entsteht möglicherweise eine neue Theater-Form, bei der sowohl der digitale als auch der analoge Raum zur künstlerischen Bühne wird. Was diese Beispiele vereint und für Kulturvermittlung interessant macht, ist, dass hier die Grenze zwischen Produzenten, Rezipienten und Kulturvermittlern verschwimmt. Let’s-Play-Videos oder Instagram-Aktivitäten von Cosplayern sind von den Rezipienten geschaffene Vermittlungsformate, die oft selbst wiederum eine künstlerische Qualität haben. An diesen bereits bestehenden Formaten (die frei sind von pädagogischen Impulsen) und Phänomenen der Gaming-Kultur zu partizipieren, sollte ein Ziel zukunftsorientierter Kulturvermittlung sein. So könnten z.B. die Vermittlungsprozesse als Let’s-Play-Videos stattfinden, die von Gamern erstellt werden und die Inhalte des Werkes sowie weitere Elemente in die Lebensrealität der Rezipienten übersetzen. Die klassischen Kulturvermittler hätten hier die Aufgabe von Beratern und Begleitern. Eine weitere Möglichkeit wäre die Vermischung der verschiedenen Kunstformen. Also warum nicht die Aufführung der Nibelungen mit dem Spielen von »World of Warcraft« verbinden? Ein weiterer, wichtiger Schritt wäre die gemeinsame Suche nach inhaltlichen und kontextuellen Schnittmengen.

F a zit Für die Implementierung des Themas Gaming als Querschnittsfunktion der Kulturvermittlung im Sinne einer »gamifizierten Kulturvermittlung« schlage ich zwei Schritte vor: 1. Entwicklung und Realisierung von Konzepten für Kulturvermittlungsprozesse, die auf Gaming bzw. den damit verbundenen Prinzipien basieren. Das bedeutet nicht, dass nun alle Vermittlungsaktivitäten digital basierte Spiele sein müssen. Vielmehr geht es darum, die Denk- und Handlungsweisen der Games gewinnbringend in die Konzeptionierung von Kulturvermittlung einzubringen. Für einen Großteil der Bevölkerung gehören Games zum kulturellen Alltag. Jane McGonigal weist in »Reality is broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World« auf eine sehr interessante Studie hin, in der man der Frage nachgegangen ist, wer eigentlich intensiv Computerspiele spielt und warum. Die Antwort erregte Aufsehen: Es sind eben nicht nur die Jugendlichen und jungen Erwachsen, sondern die sogenannten »9 to 5 Workers«, die sich intensiv mit Gaming befassen. In den Spielen finden sie laut McGonigal etwas, was ihnen in der realen Welt nicht mehr ermöglicht wird, nämlich Fehler zu machen, neue Wege auszuprobieren, in andere Rollen zu schlüpfen etc. Wenn

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wir also die beschriebenen Game-Prinzipien als Basis für neue Kulturvermittlungskonzepte nehmen, können wir damit eine Schnittstelle zur Lebensrealität weiter Bevölkerungsteile schaffen. Eine wichtige Kompetenz für Kulturvermittler wäre dafür der Erwerb von Basis-Wissen im Bereich Game-Design. Der Fokus sollte dabei nicht nur auf Technologien, sondern ebenso auf Inhalten liegen. 2. Auf bau einen kompatiblen Umfeldes. Ein gutes, spielerisches Angebot kann seine Möglichkeiten nur dann entfalten, wenn auch das Umfeld dazu passt. Es hat wenig Sinn, digital-analoge und auf spielerischen Ansätzen basierende Kulturvermittlung zu realisieren, wenn sich die Institution als Ganzes völlig anders verhält. Kulturinstitutionen müssen auch die in der Gaming-Kultur gelebten Prinzipien von Interaktion, Teilen, Kooperation, Offenheit und Irrtum für sich übernehmen. Das schließt auch ein, Besucher weniger als bloße Rezipienten oder gar Kunden zu betrachten, an die »etwas vermittelt« (oder gar verkauft) wird, sondern als Teilnehmer und Mitspieler, die das Spiel erst machen, indem sie es spielen. Das Thema Gaming stellt für die Kulturvermittlung der Zukunft eine große Chance und eine große Herausforderung dar und geht weit über den Einsatz digitaler Medien für das Marketing oder ein einzelnes Vermittlungstool hinaus. Neben der Bereitschaft, eigene Ziele und Weltauffassungen zu hinterfragen, ist ein kontinuierliches Ausprobieren und vor allem eine starke Vernetzung mit den vorhandenen Gaming-Communities relevant. Wenn dieser Austausch gelingt, ist eine gemeinsame Gestaltung einer zukünftigen Kulturvermittlung möglich, die sich besonders durch neue Formen der Partizipation auszeichnen würde.

L iter atur BITKOM Bundesverband »Gaming in Deutschland« (2013), URL: www.bitkom.org/ files/documents/BITKOM_Praesentation_Gaming_PK_130813 %281 %29.pdf vom 06.05.2015. Levine, Rick et al. (2009): The Cluetrain Manifesto: 10th Anniversary Edition, New York. McGonigal, Jane (2012): Reality is Broken: Why Games Make Us Better and How They Can Change the World, London. Mitgutsch, Konstantin/Klimmt, Christoph/Rosenstingl, Herbert (Hg.) (2010): Exploring the Edges of Gaming. Proceedings of the Vienna Games Conference 2008-2009: Future and Reality of Gaming, Wien. Mitgutsch, Konstantin/Rosenstingl, Herbert/Wimmer, Jeffrey (Hg.) (2012): Applied Playfulness. Proceedings of the Vienna Games Conference 2011: Future and Reality of Gaming, Wien.

Gaming als Blaupause

Mitgutsch, Konstantin et al. (Hg.) (2013): Context Matters! Proceedings of the Vienna Games Conference 2013: Future and Reality of Gaming, Wien. Neiburger, Eli (2013) »Neue Spiele – neues Lernen – neue Bibliotheken«, URL: https://vimeo.com/63184472 vom 06.05.2015.

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4. Community Building durch Kunst und Kultur

Aktiv partizipative Sozialrauminszenierung für kulturelles und künstlerisches Lernen vor Ort 45 Jahre Spielkultur in München Wolfgang Zacharias im Interview mit Birgit Mandel

In einer demokratischen Gesellschaft muss gewährleistet sein, dass möglichst viele Menschen zur Teilnahme an kultureller Produktion und Rezeption befähigt sind. […] Kulturpädagogik kann dazu beitragen, dass die Menschen a) durch die Auseinandersetzung mit der sie umgebenden Kultur ihre eigene Situation besser verstehen lernen und b) durch eigene kulturelle Produktion auf eine Steigerung ihrer Lebensprozesse und auch eine Veränderung ihrer Lebenssituation hinzuwirken in der Lage sind. Das Primat des Pädagogischen in der kulturpädagogischen Arbeit bedingt, dass der Zielgruppe die uneingeschränkte Rolle des Lernsubjekts zukommt und dass der Lerngegenstand Kultur seine normative Funktion verliert, die er im ritualisierten Kulturbetrieb tendenziell hat. […] Es geht also in der Kulturpädagogik nicht darum, von tradierten Formen der Kulturproduktion oder -rezeption auszugehen und Zielgruppen nach Maßgabe dieser Traditionen zu konditionieren. Vielmehr sollen Möglichkeiten geboten werden, die die Zielgruppen zu originären, auf ihre Lebenssituationen zugeschnittenen Formen kultureller Aktivität ermuntern. (Mayrhofer/Zacharias 1977: 309)

So schrieb Wolfgang Zacharias 1976 gemeinsam mit Hans Mayrhofer im »Projektbuch Ästhetisches Lernen« über die Ziele des kulturpädagogischen Arbeitens der von ihnen gegründeten Initiative »Pädagogische Aktion« im Stadtraum Münchens.

Ziele und Umsetzung kultureller Bildung im Vergleich der Anfangsphase in den 1970er Jahren und der Gegenwart Mandel: Seit nunmehr 45 Jahren engagierst Du Dich für Spielkultur im öffentlichen Raum für Kinder und Jugendliche jenseits der formalen, schulischen Bildung und unabhängig von den Angeboten der Kulturinstitutionen. Welche

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wesentlichen Veränderungen siehst Du seit Eurer Pionierarbeit einer sozial inklusiven, partizipativen Kulturpädagogik in den 1970er Jahren? Zacharias: Außerschulische Kunst- und Kulturvermittlung hat sich seit unseren autodidaktischen Anfängen in den 1970er Jahren sehr stark professionalisiert und ausdifferenziert: Es gibt deutlich mehr Stellen für Vermittlung in Kulturinstitutionen und vor allem für Kulturpädagogik in außerschulischen Einrichtungen etwa in Jugendkunstschulen und bei den freien Trägern der Jugendkulturarbeit. Es gibt inzwischen eine Vielzahl an Studiengängen einschließlich einer breiten Forschungslandschaft zur kulturellen Bildung; das Thema steht sowohl auf der kultur- wie der bildungspolitischen Agenda. Bundesweite Programme wie »Kulturagenten für kreative Schulen« und »Kultur macht stark« zeugen von der auch bundespolitischen Anerkennung: »Kulturelle Bildung ist ein wesentlicher Bestandteil allgemeiner Bildung. Sie geht uns alle an«, so schreibt etwa die Bundesministerin für Bildung und Forschung Johanna Wanka in der Zeitung des Deutschen Kulturrates (2014: 17). Das ist ein großer Fortschritt und eine positive Anerkennung für die kulturelle Bildung. Mandel: Was waren damals Ziele Eurer kultur- und spielpädagogischen Arbeit und sind diese inzwischen realisiert? Zacharias: Uns ging es Ende der 1960er Jahre vor allem um ästhetische Freiheit und Vielfalt sowie um die radikale Erweiterung des Kunstbegriffs. Wir wollten die Wirklichkeit in unser künstlerisches und ästhetisches Arbeiten integrieren. Darum haben wir als Kunstlehrer die Schule verlassen und unsere Aktionen auf der Straße, im Stadtraum realisiert mit realen Materialien und mit Kindern und Jugendlichen, die freiwillig dabei waren: Jeder kann mitmachen und es kostet nichts! Mit Spaß und Lust und spielerischen Irritationen sind wir aus den Institutionen raus in den Stadtraum aufgebrochen. Dabei ging es uns, in enger Verbundenheit mit der sich Anfang der 1970er Jahre bildenden »Neuen Kulturpolitik« und der sich daraus gegründeten Kulturpolitischen Gesellschaft, auch um Chancengleichheit und den Zugang von Kindern und Jugendlichen zum »ästhetischen Lernen«, wie wir es damals nannten, unabhängig vom Elternhaus und von der Schule und lebensweltbezogen. Den Begriff »ästhetisches Lernen« haben wir verwendet, um in Abgrenzung zur Schule ein alternatives Verständnis von Lernen zu akzentuieren als einem ästhetischen, emotionalen, lebenslangen, aktiven, erfahrungsbasierten Prozess der Selbstbildung. Mitstreiter waren z.B. Hermann Glaser, Kultur- und Schulreferent in Nürnberg, mit seinem Plädoyer für die Soziokultur und die Überwindung eines affirmativen Kulturbegriffs, um die Kluft zwischen Ästhetik und Politik aufzuheben. Und auch Hilmar Hoffmann (»Kultur für alle«) und Olaf Schwencke (»Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik«) waren wichtige Impulsgeber. Wir erkannten die

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Kommunalpolitik als neuen und entscheidenden Partner für eine Kulturpädagogik, die innovativ und sozialorientiert ist. In den 1970er Jahren wurde die Stadt als Kulturlandschaft und ästhetisches Lernfeld mit vielfältigen Anregungspotenzialen entdeckt. Auch wir wollten den öffentlichen Raum als Spiel- und Lernraum erobern und alle erreichen, die da waren. Dafür haben wir Spielbusse entwickelt, ästhetische Aktionen im öffentlichen Raum durchgeführt, mit Happenings, Filmen, Action Paintings, und auch das noch heute bestehende, groß angelegte Stadtspiel »Mini-München« entwickelt, wo täglich ca. 2.000 Kinder ganz verschiedener sozialer Herkunft gemeinsam vier Wochen lang in den Sommerferien ihre eigene Stadt gestalten, als kostenfreies, weil kommunal finanziertes Angebot. Uns ging es nicht mehr um »musische Erziehung«, sondern um prägende und ermutigende ästhetische Erfahrungen. Alle unsere Aktionen basierten auf einem weiten Kultur- und einem offenen Bildungsverständnis sowie der Lebenswelt als Lernwelt bzw. der Umwelt als Lernraum. Ziel damals war es und ist es auch heute noch, in Anlehnung an Martin Seel (»Ästhetik des Erscheinens«), zum gelingenden Leben und zur »Lebenskunst« des Einzelnen beizutragen, bei dem das Ästhetische eine bedeutsame, weil gestaltende, formgebende und wahrnehmungsqualifizierende Rolle spielt (vgl.  Seel  2000). Viele unserer damaligen Ziele scheinen heute zwar selbstverständlich, aber Chancengleichheit für kulturelle Selbstbildung besteht noch immer nicht. Kulturelle Bildungsangebote haben sich sehr entwickelt, aber müssten noch viel weiter in die Fläche gehen und sozialräumlich sowie strukturell verankert werden, dauerhaft. Ein weiteres Problem ist die noch immer bestehende Kanon-Orientierung der klassischen Kulturinstitutionen und die normative Dominanz der »Hochkultur«, die durch die Hervorhebung der Künste als Medien kultureller Bildung, wie ich es im Fachdiskurs seit einigen Jahren beobachte, eher gestärkt wird. Dabei gibt es ganz unterschiedliche, auch generationenspezifische innovative Kulturformen und ästhetische Ausdrucksformen, die einbezogen werden müssen in die Kulturelle Bildung, etwa im Kontext der digitalen Welten und online-Kommunikation.

Methodische Ansätze einer partizipativen Kultur vermittlung Mandel: Braucht es die »schönen Künste« also gar nicht, um kulturelle Bildungsprozesse zu initiieren? Zacharias: Gut, dass es die Künste gibt, v.a. wenn sie vorwärtsgerichtet sind. Aber sie sind aus meiner Sicht nur der Sonderfall im Kontext ästhetischer Bildung, nicht der primäre Ausgangspunkt, denn das Ästhetische ist nicht identisch mit Kunst. Auch der Umgang mit Alltagsmedien ist ästhetisch und kann besondere Erfahrungen ermöglichen. Da bin ich nicht konform mit vielen meiner Kunstpädagogen-Kollegen. Aus meiner Erfahrung braucht es elementare ästhetische

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Erfahrungen im eigenen Alltagsleben und Umfeld, um überhaupt Interesse für Kunst zu gewinnen, sozusagen als subjektive Basis. Statt Kunstorientierung sollten Vermittler eher vielfältige Kulturformen und Präferenzen akzeptieren, Künste dann natürlich eingeschlossen, insbesondere in ihren je aktuellen Kontexten und Formaten. Mandel: Welche Rolle spielen die digitalen Medien für ästhetische Lernprozesse? Zacharias: Die Medien sind neben dem informellen, alltäglichen Lebensumfeld in Familie, öffentlichem Raum und Gleichaltrigen-Szene sowie dem formalen Umfeld von Kita und Schule der dritte Ort für ästhetische Selbstbildungsprozesse. Die Kultur der jungen Leute, auch die Games, sollte zunächst mal grundsätzlich positiv bewertet werden, statt sie als minderwertig abzuqualifizieren. Dabei gibt sehr gute, digitale Spielkulturen und weniger gute. Man kann sich im Netz einfach nur die Zeit vertreiben, aber es gibt auch hoch aufgeladene Angebote. Die Frage für die Kulturvermittlung lautet: Wie kann ich Situationen schaffen, die passiven Medienkonsum in aktive Mediengestaltung wandeln? Gewinnbringend ist es z.B. aus meiner Beobachtung, wenn Computerspiele gemeinsam mit Freunden an einem öffentlichen Ort stattfinden mit professioneller, medienpädagogischer Anregung. Viele massenmediale Angebote wie etwa bestimmte Filme oder Games sind attraktiv für viele Menschen ganz unterschiedlicher Schichten. Und das ist gut so, entsprechend der kulturpolitischen Programmatik: Kultur für, mit und von allen. Allgemein ist das Spiel als Format des ästhetischen Lernens sehr bedeutsam als Experimentierfeld ohne Ernstfall, es macht Spaß, es schafft Spannung. Es stellt einen Möglichkeitsraum für symbolische Erfahrung dar. Das Spiel weist damit Ähnlichkeiten zur Kunst auf, ist aber nicht kunstidentisch. »Legitimatorisch« lässt sich auch auf Friedrich Schiller verweisen, der den Zusammenhang zwischen Spiel, Erziehung, Ästhetik profund und für um 1800 thematisiert hat. Mandel: Gelingt es z.B. mit dem Stadtspiel »Mini-München« als Format der Kulturvermittlung Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zu erreichen? Zacharias: Seit 1979 führen wir jedes zweite Jahr in den Sommerferien über drei bis vier Wochen »Mini-München« durch. Im Schnitt sind 2.000 Kinder dabei, die aus allen sozialen Schichten kommen, »Mini-München« ist absolut niedrigschwellig, es ist kostenlos für alle, jeder kann kommen und gehen, wann er will, es gibt vielfältige Rollen in dieser »Stadt auf Zeit«: Handwerk, Politik, Polizei, Presse, Taxis, Kunst. Jeder kann da mitmachen, wo er will. Es gibt viele Wahlmöglichkeiten und man kann sich jeden Tag neu entscheiden. Uns ist die größtmögliche Offenheit wichtig, und genau daraus entsteht der symbolische »Ernstfall« als Verbund von Lust und Leistung.

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Wir schaffen einen Riesenrahmen dafür, dass die beteiligten Kinder auf ganz unterschiedliche Weise ästhetisch lernen und gestalten. Alle sind gleichberechtigt und müssen sich gemeinsam auch sozial-kommunikativ organisieren. Die verbindende Erfahrung dabei ist: »Wir sind alle gemeinsam Mini-Münchner, das ist unsere Stadt. Die Erwachsenen sind unsere Helfer.« Wir erreichen die Kinder über Jugendeinrichtungen und Schulen, über die Presse und vor allem über Mund- Propaganda, viele bringen ihre Freunde mit. Auch über die Eltern, denn bei vielen Kindern waren schon die Eltern in ihrer Jugend dabei. Um auch diejenigen zu erreichen, die weniger mobil sind, machen wir »Mini-München« im Münchner Norden, wo die weniger privilegierten Gruppen leben. Die brauchen dann nur über ein paar Straßen zu gehen oder kommen mit dem Fahrrad. Mandel: Warum spielt der Ort für Dich eine solch zentrale Rolle für kulturelle Bildungsprozesse? Zacharias: Die Verteilung der öffentlichen kulturellen Bildungsangebote ist aus meiner Sicht noch sehr ungleich und für viele Kinder und Jugendliche nicht sichtbar bzw. unzugänglich. Es braucht darum zeitlich und räumlich flexible Angebote im direkten Lebensumfeld v.a. in solchen Stadtteilen, in denen die weniger Begünstigten leben, die auch deutlich weniger mobil sind und darum Angebote vor Ort benötigen. Wir nennen das inzwischen ja auch Sozialraumorientierung. Das Bundesprogramm »Kultur macht stark« liefert dafür sehr wertvolle Anstöße, indem es bundesweit professionelle Kooperationen fördert, die ein umfassendes Netz kultureller Mittler für junge Menschen aus einem derzeit eher schwierigen Umfeld etablieren. Mandel: Warum reicht die schulische Kunsterziehung nicht aus als Weg zur kulturellen Bildung für alle? Zacharias: Die Schule lässt eine Expansion kultureller Bildung bezogen auf zeiträumliche Strukturen und Vielfalt nicht zu. Kulturelle Bildung wird in der Regel auf die klassischen Künste reduziert. Zudem ist Kunstunterricht derzeit in Gymnasien sehr viel besser ausgestattet als in anderen Schulformen, sodass auch hier keine echte Chancengleichheit besteht. Wir brauchen also unbedingt die außerschulische Kulturvermittlung, aber wir brauchen auch die Kooperation mit Schulen, um alle Kinder zu erreichen. Spannend und zielführend können Kooperationen mit Schule sein, wenn es dabei gelingt, Freiräume zu schaffen und wenn die Kooperation gleichberechtigt ist sowie temporär die Schulrituale durchbricht. Mandel: Wie können Kulturvermittler in klassischen Kultureinrichtungen dazu beitragen, Kindern und Jugendlichen ästhetisch-künstlerische Anregungen zu ermöglichen?

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Zacharias: Zum einen, indem sie Vermittlung flexibler gestalten und sich nicht nur auf die Angebotspalette ihrer Institution beziehen. Zum anderen, indem sie Vermittlung partizipativ anlegen und die ästhetischen Selbstbildungserfahrungen von jungen Menschen immer in den Mittelpunkt stellen. Wenn es den Einrichtungen nicht gelingt, ihre Schätze und Inhalte durch lebendige, an den Interessen der aktuellen Mediengeneration orientierte Angebote zu vermitteln, ist ihr Bestand bedroht. Die klassischen Kulturinstitutionen sind aus Sicht nachwachsender Generationen mehrheitlich zu langweilig und nicht konkurrenzfähig zu den vielfältigen anderen Angeboten der realen und medialen Welt. Klassische Institutionen brauchen darum veränderte Vermittlungs- und Programmangebote: Am Anfang müssen immer die eigenen ästhetischen, aktiven Erfahrungen stehen, um darüber dann auch Interesse für die rezeptiven Angebote zu gewinnen. Und fest verortete Kultureinrichtungen, etwa Museen, sollten mobil und flexibel auch Angebote in den je spezifischen sozialräumlichen Lebenswelten machen.

Qualitätskriterien einer sozial inklusiven Kultur vermittlung Mandel: Wie definierst Du das Verhältnis von Kulturvermittlung und kultureller Bildung und was sind für Dich Qualitätskriterien von Kulturvermittlung? Zacharias: Kulturvermittlung und kulturelle Bildung sind zwei komplementäre Begriffe: Kulturelle Bildung ist nicht möglich ohne aktive Beteiligung des Subjekts und damit ein partizipativer, kulturell-ästhetischer Selbstbildungsprozess. Kulturvermittlung ist die professionelle, aktivierende Funktion, die Bedingungen für das Gelingen kultureller (Selbst-)Bildung schafft. Qualität wird in der kulturellen Bildung meiner Meinung nach weniger als künstlerisch gestaltete Qualität definiert, als vielmehr durch die Beteiligungsqualität, durch eine aktive, motivierende, inklusive Art der Vermittlung und die Fähigkeit, auf je spezifische Kontexte eingehen und interkulturell agieren zu können. Aber das wird auch im Fachdiskurs der Kulturellen Bildung immer wieder kontrovers verhandelt. Kulturvermittler als Profis brauchen aus meiner Erfahrung drei verschiedene Kompetenzen: Erstens: Künstlerische und mediale Gestaltungskompetenz in einer Sparte. Gute Vermittler können ihr Know-how weitergeben und sie können die Ideen von Kinder und Jugendlichen professionell in Szene setzen bzw. dabei helfen, dies zu unterstützen. Zweitens: Empathie, Kommunikationsfähigkeit und Kompetenz im Umgangs mit anderen in verschiedenen Kontexten und Milieus, gerade im offenen Umgang mit Kindern und Jugendlichen.

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Drittens: Die Fähigkeit, auch im öffentlichen kulturpolitischen Feld pro-aktiv handeln zu können, um Raum und Ressourcen für ästhetische Lernprozesse für alle zu schaffen. Mandel: Was sind die größten Herausforderungen für zukünftige Kulturvermittler? Zacharias: Erstens: Kommunale Bildungslandschaften zu etablieren. Das beinhaltet die Vernetzung der Akteure mit den Orten und Angeboten einer je erreichbaren materiellen und virtuellen Umwelt. Es geht darum, kulturelle Bildungsangebote nicht nur in Sonderprojekten anzubieten, sondern eine stärkere Integration und Angebotskontinuität im Sozialräumlichen hinzukriegen. Eine edle Jugendkunstschule z.B. in das Problemviertel zu setzen, bringt womöglich gar nichts; es braucht dem Kontext angemessene Angebote initiativ vor Ort. Zweitens: Die Frage, wie wir von Einzelfällen zu flächendeckenden Strukturen kommen. Das ist die alles entscheidende Frage für eine chancengerechte, kulturelle Bildung. Es ist eine zentrale, kommunalpolitische Aufgabe, die Geld kostet und die professionelle Kulturpädagogen braucht. Drittens: Die Vernetzung der virtuellen, medialen Welten als gleichwertigen Kulturraum mit den sinnlich realen Angeboten, der Auf bau einer real-digitalen Topografie des kulturell-ästhetischen Lernens unter Einbeziehung aktueller Medialität. Vor dem Hintergrund des zunehmend sichtbaren Bedürfnisses und Revivals körperlich-sinnlicher Erfahrungen geht es darum, spannende, sinnliche, ästhetische Live-Erlebnisse für Selbstbildungsprozesse der Mediengeneration zu schaffen, und zwar vor Ort, in den real existierenden Lern-, Spiel-, Erfahrungstopografien der je eigenen Lebenswelt.

L iter atur Baar, Tanja (2015): Die Gruppe Keks – Auf brüche der Aktionistischen Kulturpädagogik, München. Bockhorst, Hildegard/Reinwand-Weiß, Vanessa/Zacharias, Wolfgang (Hg.) (2012): Handbuch Kulturelle Bildung, München (vgl. auch www.kubi-online. de). Grüneisl, Gerd/Zacharias, Wolfgang (Hg.) (2015): 45 Jahre Kultur & Spiel in München. Kulturpädagogisches Lesebuch 6, München. Mayrhofer, Hans/Zacharias, Wolfgang (1977): Projektbuch Ästhetisches Lernen, Reinbek b. Hamburg. Seel, Martin (2000): Ästhetik des Erscheinens, München. Wanka, Johanna (2014): »Kultur ist stark. Kultur macht stark.«, in: Olaf Zimmermann/Theo Geißler (Hg.), Politik & Kultur – Zeitung des Deutschen Kulturrates, Nr. 2/14, Berlin, S. 17.

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Superdiversity – Steilvorlage für die künstlerische Bildung in globalisierten Stadtteilen Lutz Liffers

Wir haben uns angewöhnt, die Armutsquartiere deutscher Großstädte als »abgehängt«, »marginalisiert« und »benachteiligt« zu bezeichnen, da als Folge des Strukturwandels von der Industrie- zur Wissensgesellschaft in solchen Stadtteilen die »Verlierer« eben dieses Wandels leben. Es scheint, als sei die Entwicklung in den ehemaligen, industriell geprägten Arbeiterstadtteilen und den Wohnsilos aus den 1970er und 1980er Jahren überall stehengeblieben, als sei trotz zahlreicher, öffentlicher Programme die soziale Lage unverändert schlecht, als hätten Dienstleistungs-, High-Tech-, Wissens- und Freizeitindustrie, die Start-Ups der Kreativbranche und IT-Unternehmen einen weiten Bogen um diese verlorenen Quartiere gemacht. Es scheint, als seien diese Quartiere in einen tiefen, postindustriellen Dornröschenschlaf gefallen, unfähig zur Weiterentwicklung und auf immer angewiesen auf Sozialleistungen des Staates. Schaut man sich aber die Entwicklung in den größeren Städten einmal mit Abstand an, wird man unschwer erkennen, dass der Sturm der Globalisierung mitten auch durch diese Quartiere fegt und die vertraute »europäische Stadt« zu einer neuen, für viele beängstigenden, globalen Stadt umformt. Die von Armut und Migration geprägten Quartiere sind also keinesfalls »abgehängt«, sondern mittendrin in den Entwicklungen und sozialen Verwerfungen der globalen Gesellschaft. Immer mehr repräsentieren die Bewohner dieser Quartiere einen Ausschnitt der Weltbevölkerung und verändern im großen Tempo das Gesicht der Vorstädte. Verbreitete, sichtbare Armut ist nur ein Aspekt. Die intensive Nutzung des öffentlichen Raums, ein unüberschaubarer Synkretismus kultureller Codes, Moden, Rituale, Musikstile, vermehrt improvisierte und schnell wechselnde Nutzungen von Ladenlokalen, Zunahme informeller Arbeit und neue Muster lokaler Identität sind weitere sichtbare Aspekte. Dies ist ein Prozess voller Widersprüche und Risiken und er wird soziale Konflikte verschärfen. Der »soziale Zusammenhalt« in den Stadtteilen muss neu

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ge- und erfunden werden. Bildung wird in diesem Zusammenhang als Schlüssel zur Überwindung von prekären Lebensverhältnissen gesehen und der kulturellen Bildung wird häufig die Aufgabe zugewiesen, Grenzen zwischen den Milieus zu überwinden, Gemeinschaft, Sinn und Identität zu stiften. Aber sind das realistische Erwartungen? Welche Qualitäten benötigt eine solche Arbeit und wie müsste sie ausgestattet und mandatiert sein? Meine Perspektive für diesen Beitrag speist sich aus einer fast zwanzigjährigen Kulturarbeit in einem solchen globalen Stadtteil und gleichzeitig aus meiner Tätigkeit als Berater im Bildungs- und Kulturbereich verschiedener Kommunen und Verbände. In diesem Text soll zunächst skizziert werden, wie sich die Rahmenbedingungen in »benachteiligten« Stadtteilen verändert haben, um dann Schlussfolgerungen für die Kulturarbeit und insbesondere für die kulturelle Bildung in solchen Quartieren zu ziehen. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht gelungene Praxisbeispiele, sondern strukturelle Überlegungen zu einer (Neu-)Orientierung der kulturellen Bildungsarbeit in globalisierten Stadtteilen.

D ie G eschichte der M igr ation ist auch eine G eschichte der S tadt teilkultur arbeit Bereits seit Mitte der 1950er Jahre (dem ersten Anwerbevertrag für Arbeitskräfte) bis zum Anwerbestopp 1973 wurden deutsche (Groß-)Städte zu attraktiven Zielen für Arbeitsmigranten aus Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko und Jugoslawien (vgl. Bade 2004). Die Arbeitsmigranten veränderten das Gesicht der Städte. Sprachenvielfalt und größere Vielfalt von Traditionen, Lebensstilen und Werten prägten zunehmend die Stadtgesellschaften. Der Ausländeranteil in der Wohnbevölkerung stieg in dieser Zeit von 1,3 % auf über 5 %. Allerdings stellten die Arbeitsmigranten eine relativ einheitliche, soziale Gruppe dar: Die meisten »Gastarbeiter« waren Industrie- oder Landarbeiter aus südeuropäischen und benachbarten Armutsregionen, die sich in den industriellen Zentren Deutschlands auf Zeit niederließen. Mit dem Familiennachzug ab Mitte der 1970er Jahre veränderte sich für viele Arbeitsmigranten die Perspektive. Deutschland wurde zu einer neuen Heimat. Viele Konzepte der kulturellen Bildung und der soziokulturellen Stadtteilarbeit stammen aus dieser Zeit. Viele Kulturschaffende in den von Zuwanderung geprägten Großstädten verstanden sich als Brückenbauer zwischen »unterschiedlichen Kulturen«. Darunter verstand man vor allem regionale oder nationale Traditionen (Feste, Tänze und Gesänge, Küche, Religion etc.) Kulturelle Stadtteilarbeit räumte den verschiedenen Kulturen innerhalb des Mehrheitsdiskurses einen repräsentativen Ort ein, in den Stadtteilen wurde beispielsweise das kurdische oder iranische Newroz ebenso gefeiert wie das muslimische Şeker Bayramı, Henna-Abende prägten das Angebot ebenso wie Bauchtanzgruppen und Kochkurse. Kein Stadtteilfest ohne Nationalflaggen aus den Herkunftsländern oder

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den Infotischen der zahlreichen politischen Gruppierungen, die sich jeweils auf die konfliktreichen, politischen Zustände ihrer Heimat bezogen. Kulturarbeit in den Stadtteilen orientierte sich weitgehend am Konzept der »Multikulturalität«, d.h. an einer friedlichen Koexistenz verschiedener Kulturen, die durch einen »interkulturellen Dialog« aufgebaut und erhalten werden sollte. Den Orientierungsrahmen für diese Kulturarbeit bildete die Herkunft bzw. »Heimat« der Zugewanderten.

S uperdiversit y struk turiert das kulturelle F eld neu Seit den 1990er Jahren findet eine starke Diversifizierung der Bevölkerung statt, die nichts mehr gemein hat mit der von Arbeitsmigration geprägten, fordistischen Gesellschaft. Nicht mehr die staatlich gelenkte Arbeitsimmigration prägt die Stadtteile, sondern globale Wanderungsbewegungen, die von großer Heterogenität gekennzeichnet sind. Begrifflichkeiten, die sich auf nationale Herkunft beziehen, können diese veränderte Struktur immer weniger fassen. Religiöse, soziale und politische Orientierungen differenzieren sich weiter aus und haben sich längst von nationaler Herkunft entkoppelt. Zahlreiche neue Milieus entstehen mit vielfältigen Werteorientierungen, Familienstrukturen und Lebensstilen. Kulturelle Identitäten speisen sich aus Anleihen unterschiedlicher Kontexte, Abgrenzungen verlaufen quer zu traditionellen Schichten (vgl. SINUS 2012): Eine junge Frau aus dem Performermilieu, deren Großeltern vor 60 Jahren aus Izmir nach Stuttgart eingewandert waren, steht in Lebensstil und Wertevorstellung diesem ursprünglichen, traditionellen Arbeitermilieu der türkischen Gastarbeiter heute distanzierter gegenüber, als ein deutscher Betriebsrat. Diese Auflösung tradierter Milieus, die Vermischung und Rekonstruktion zu neuen kulturellen Gruppen wurde in den Kulturwissenschaften mit dem Modell der »Transkulturalität« beschrieben (vgl. Welsch 2009). Das Modell versteht sich auch als Kritik an einer starren Vorstellung von über ethnische oder nationale Herkunft definierten Kulturen, die vielleicht miteinander kommunizieren können, aber in sich homogen, eindeutig und unveränderbar sind. Transkulturalität beschreibt die Genese kultureller Muster, die Formen und Praktiken der Vermischung, Aneignung, Konstruktion – sie sagt aber wenig über die Rolle der Kultur bei der Herstellung sozialer Ungleichheit aus. Bourdieus Studien zur sozialen Ungleichheit haben dagegen den Fokus auf Kultur als Distinktionsressource gelegt, also als Baustein zur Definition von sozialer Hierarchie, und ermöglichen damit übrigens auch die Institutionen der Kulturarbeit kritisch zu analysieren (vgl. Bourdieu 1987). Vor diesem Hintergrund ergibt es wenig Sinn, Diversität in den Stadtteilen über kulturelle Unterschiede zu beschreiben. Stattdessen ist die soziale Ungleichheit das wesentliche Strukturmerkmal der Stadtteilgesellschaften. Im Unterschied zu den zwar armen, aber sozial relativ homogenen und politisch gut organisierten

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Arbeiterstadtteilen des 19. und 20. Jahrhunderts, haben wir es in den heutigen, globalisierten Stadtteilen mit extremer Ausdifferenzierung der sozialen Lagen innerhalb der ärmeren Milieus zu tun. In unmittelbarer Nachbarschaft wohnen in ihrer Heimat verfolgte Roma neben anerkannten, syrischen Kriegsflüchtlingen, hochqualifizierten, iranischen Asylbewerbern, abwechselnd in Deutschland und Anatolien wohnenden Rentnern, geduldeten, unbegleiteten Afghanen, sich auf dem Absprung befindenden, jungen Akademikerinnen mit türkischen Wurzeln, erfolgreichen Handwerkern, arbeitslosen, spanischen Studentinnen, tariflich abgesicherten Industriearbeiterinnen, prekär arbeitenden, polnischen Saisonarbeitern, unbefristet beschäftigten Angestellten, alleinerziehenden Müttern ohne Ausbildung, Kleinstunternehmern, illegal arbeitenden Prostituierten und Kleinstdealer, Leiharbeitern, … Manche dieser Gruppen verfügen quer zu den nationalen oder regionalen Kontexten über ähnliche Bildungsaspiration, andere über gemeinsame, religiöse Werte, wieder andere verbindet Konsumverhalten oder Improvisationskünste, den Mangel zu verwalten, die Art, das Kopftuch zu binden oder das bevorzugte Familienmodell etc. Sie alle verbindet zwar ein gemeinsamer Wohnort, sie trennt aber die unterschiedlichen Zugänge zu gesellschaftlicher Teilhabe. Entscheidend dafür sind nicht nur die zahlreichen Varianten des aufenthaltsrechtlichen Status, sondern auch Geschlecht, Sprache und Religion, der Migrationsweg, Bildungserfahrung, kulturelle und ethische Werte. Es sind aber auch die Praxis und Kultur der örtlichen Behörden, der staatlichen und kommunalen Einrichtungen, der regionalen Wirtschaft, der handelnden Personen, der politischen Öffentlichkeit und der vorhandenen Netzwerke, die unterschiedliche Teilhabechancen verursachen. Diese Diversität, für die der britische Soziologe Steven Vertovec den Begriff »Superdiversity« geprägt hat, hat nichts mehr gemein mit der fast gemütlich anmutenden Diversität der 1980er Jahre (vgl. Vertovec 2007). Und dennoch ist oftmals diese überholte Vorstellung von »Multikulti« der konzeptionelle Orientierungsrahmen für viele Stadtteileinrichtungen, seien es Kitas, Schulen, Jugend- und auch Kultureinrichtungen.

V on der e thnischen K ultur arbeit zu urban citizenship Superdiversity macht es nicht nur unmöglich, Kulturarbeit an alle jeweiligen Zielgruppen eines Stadtteils zu adressieren, eine Zielgruppenorientierung, etwa entlang ethnischer Konstrukte, würde darüber hinaus die Ungleichheit des gesellschaftlichen Status reproduzieren und verstärken. Ebenso wenig aber hat es Sinn, allgemein »Menschen mit Migrationshintergrund« anzusprechen, da diese Klassifizierung zwar für die meisten Bewohner einer normalen deutschen Vorstadt zutrifft, aber gerade deshalb keine Aussagekraft besitzt und die extreme soziale Heterogenität und Hierarchisierung in der Gruppe der Migrationserfahrenen einebnet.

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Zukunftsträchtige Kulturarbeit in globalisierten Stadtteilen muss, wenn sie soziale Grenzen überwinden will, eine Kernkompetenz der künstlerischen und kulturellen Arbeit ins Zentrum setzen: Ihre Fähigkeit, Individuen Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen zu ermöglichen. Die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz und nach dem Kern menschlicher Gemeinschaften ist dabei sowohl extrem individuell als auch notgedrungen universell. Das bedeutet, dass die Bewohner/-innen eines Stadtteils nicht als »Türken«, »Muslime«, »Flüchtlinge«, »Unbegleitete«, »Roma«, »Alleinerziehende« etc. angesprochen werden, sondern als Bewohner des Stadtteils – allerdings in dem klaren Bewusstsein, dass diese mit sehr unterschiedlichen Zugangsbarrieren zu gesellschaftlicher Teilhabe zu tun haben. Es geht hier also nicht um eine Individualisierung sozialer Konflikte, sondern um die Adressierung einer kollektiven Bürgerschaft, die es durch diese Adressierung erst noch zu entwickeln gilt. Für Kultureinrichtungen kann eine strategische Ausrichtung am Konzept der »urban citizenship« hilfreich sein. Der Begriff entstand schon in den 1990er Jahren, fand Eingang in die kritische Stadtforschung und ist Grundlage nicht nur akademischer Diskurse, sondern auch vieler sozialer Bewegungen wie beispielsweise »Recht auf Stadt« (vgl. bspw. Holm 2011). Der Begriff lässt sich kaum ins Deutsche übertragen, da die mögliche Übersetzung »Stadtbürgerschaft« auf Bürger verengt, die sozial situiert ihre Interessen durchsetzen können. Urban citizenship dagegen geht vom ungleichen Zugang zu sozialen Rechten, Ressourcen und gesellschaftlicher Teilhabe aus und sieht in deren Überwindung die Möglichkeit zum Auf bau einer städtischen Zivilgesellschaft. Die städtische Gemeinschaft entsteht in diesem Konzept nicht über die Beschwörung gemeinsamer Werte, sondern über die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe für alle Bewohner/innen des Stadtteils, unabhängig von aufenthaltsrechtlichen, sozialen oder bildungs- und arbeitsmarktpolitischen Zuschreibungen.

K ulturelle B ildung in superdiversen S tadt teilen Für die kulturelle Bildung ist Superdiversity eine Steilvorlage, denn künstlerisches Arbeiten speist sich aus Widerspruch, Ambivalenz, Heterogenität und Synkretismus. Wenn kulturelle Bildung die Chancen der superdiversen Stadtgesellschaft aufgreift, kann sie gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Sie muss sich dazu grundlegend von gutmeinenden, ethnisierenden Diskursen verabschieden und sich klar unterscheiden von defizitausgleichender Sozialarbeit. Kulturelle Bildung in globalisierten Stadtteilen definiert sich nicht über die Defizite der Individuen, sondern über die Qualität des künstlerischen Prozesses, für den sie Räume, Gelegenheiten und Mittel schafft. Künstlerische Arbeit mit Bewohner/-innen globalisierter Stadtteile kann verstanden werden als ein Beteiligungsprozess, weil sie auf die (Wieder-)Herstellung einer resilienzfähigen Persönlichkeit zielt, die das eigene Leben verstehen und

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beeinflussen kann. Betz et al. nennen drei Komponenten, aus denen sich das dafür notwendige »Kohärenzgefühl« zusammensetzt: »Die Verstehbarkeit der inneren und äußeren Welt, das Gefühl der Handhabbarkeit, also das Ausmaß des Zutrauens in die eigenen Möglichkeiten, unterschiedlichsten Anforderungen begegnen zu können, und die Bedeutsamkeit als ein Maß dafür, für wie sinnvoll man das eigene Leben hält.« (Betz/Gaiser/Pluto 2010: 13) Damit ein solches Kohärenzgefühl – man kann es auch Resilienz nennen – entstehen kann, bedarf es »Konsistenz, […] Balance zwischen Unter- und Überforderung sowie Teilhabe an der Gestaltung von Ereignissen« (Ebd.). Damit sind die Bausteine einer kulturellen Bildung benannt, die nicht über »ethnische« Zuschreibungen die Einzelnen objektiviert, sondern über künstlerische Prozesse Bewohner/-innen eines Stadtteils zu Subjekten der Stadtteilentwicklung macht, weil sie es (jungen) Menschen ermöglicht, »sich positiv mit der wachsenden Komplexität und Vielfalt sozialer Werte und Lebensformen auseinanderzusetzen« (Fuchs 2008: 13), und das, möchte ich ergänzen, ohne dabei auf eine Stereotype reduziert zu werden. Die Institutionen der kulturellen Bildung haben die Aufgabe, die Rahmenbedingungen zu schaffen, um solche Prozesse zu ermöglichen. Die Einrichtung Kultur Vor Ort e.V. in Bremen Gröpelingen adressiert beispielsweise künstlerische Bildung an alle Kinder und Jugendliche des Stadtteils. Dies wird auch durch eine enge Kooperation mit den Kitas und Schulen ermöglicht (die übrigens unterdessen größtenteils Mitglied des Kulturvereins sind). Gleichzeitig hat die Einrichtung systematisch an verschiedenen, zentralen, urbanen Orten des Stadtteils Kunstwerkstätten aufgebaut als Netzwerk außerschulischer, künstlerischer Bildung. Zusätzlich wurde mit weiteren Partnern wie einem Bürgerhaus, der Stadtteilbibliothek, der lokalen VHS und überregionalen Partnern ein Netzwerk der künstlerisch-kulturellen Orte und Angebote gesponnen, das sich durch große soziale Barrierefreiheit auszeichnet. Da dieses Knüpfwerk für alle Altersstufen passende Projekte bereithält, können Kinder im Stadtteil in einem künstlerischen Kontext aufwachsen, der Kunst zu einer dauerhaften, verlässlichen Größe in ihrem Leben werden lässt. Künstlerisch basieren die Projekte auf Individualität und Zeitgenossenschaft. Deshalb arbeiten in den Projektteams nicht nur Kunstpädagog/-innen, sondern auch Künstler/-innen. Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst, etwa durch Projekte begleitend zu aktuellen regionalen und überregionalen Ausstellungen, beflügeln die Kunstproduktion der Kinder und Jugendlichen. Einen wichtigen Schwerpunkt setzen viele Projekte auf Sprache und Sprachenvielfalt, dem wichtigsten Gut des Stadtteils. Für Kinder, Jugendliche und auch ihre Familien ist die Auseinandersetzung mit der Vielsprachigkeit des Stadtteils von hohem Identifikationswert. Sie schafft das Bewusstsein, in einem internationalen Quartier zu leben und respektierter Teil der urban citizenship zu sein. Das vom Verein entwickelte, internationale Erzählfestival »Feuerspuren« ist dabei ein öffentlichkeitswirksamer Transmissionsriemen, gleichsam die Bühne für

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den Stadtteil. Die Arbeit, in denen erste, eigene Bücher entstehen, Bauchladengeschichten entwickelt werden oder Jugendliche »audio guides« produzieren, findet in konzentrierten Workshops in den verschiedenen Ateliers ganzjährig statt und ist der unsichtbare Kern des Projektes. (Zu konkreten Projekten beispielhaft Liffers 2010, 2011, 2013 und www.kultur-vor-ort.com) Für die kulturelle Bildung leiten sich aus meiner Sicht aus diesen Erfahrungen fünf Qualitätskriterien ab:

Qualität der kritischen Selbstreflexion
 Kultureinrichtungen in globalisierten Stadtteilen haben vielfältige Möglichkeiten, Zugangsbarrieren zu überwinden. Dies ist allerdings nicht mit mehrsprachigen Flyern, preisgünstigen Angeboten oder der Behauptung, das Haus stehe allen offen, getan. Es erfordert für die Institutionen eine dauerhafte und ernsthafte, selbstkritische Reflexion ihrer Rolle. Welche sprachlichen und habituellen Barrieren bestehen und müssen abgebaut werden? Wie können Mitarbeiter/-innen für Superdiversity geschult und qualifiziert werden? Wie sieht institutionelle Diskriminierung in Kultureinrichtungen aus und wie kann sie überwunden werden? (Zum Begriff der »institutionellen Diskriminierung« vgl. Gomolla 2009) Das bedeutet: Vor der Erfindung neuer Projekte, Kurse und Kooperationen steht die Auseinandersetzung mit der eigenen Organisation an. Diese selbstkritische Arbeit hat nichts zu tun mit dem Absolvieren eines »interkulturellen Trainings«, sondern ist eine Aufgabe der Organisationsentwicklung mit dem Ziel, die Einrichtung diversitätsfähig zu machen. Die Ergebnisse dieser selbstkritischen Arbeit schlagen sich in klaren Zielen und der Benennung von intendierten Wirkungen nieder, die dann zum konzeptionellen Rahmen der kulturellen Bildung in superdiversen Stadtteilen werden kann.


Qualität der Personalentwicklung
 Aufgrund der notorisch knappen Ressourcen in Kultureinrichtungen kommt die Personalentwicklung meist zu knapp. Dabei ist sie ein unverzichtbares strategisches Instrument, um mehr und bessere Wirkungen zu erzielen und angestrebte Ziele besser zu erreichen. Personalentwicklung besteht auch aus der Qualifizierung der Mitarbeiter/-innen, auch derjenigen, die meist nur stundenweise in Kursen oder über zeitlich befristete Projektverträge angebunden sind. Neben Aneignung von Wissen über Diversität, institutionelle Diskriminierung und gesellschaftliche Entwicklungen sollte die Qualifizierung auch auf einer echten Partizipation der Belegschaft an der Entwicklung von Zielen, Strategien und Konzepten basieren. Ziel der Qualifizierung ist es, Superdiversity zu verstehen und künstlerische und kulturpädagogische Konzepte für die superdiverse Stadtteilgesellschaft zu entwickeln. Eine sprachliche und soziale Diversifizierung der Belegschaft ist mittelfristig notwendig, als alleinige Maßnahme gerät sie aber leicht zur Folklore.


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Qualität der künstlerischen Konzepte
 Kulturelle Bildung in superdiversen Stadtteilen muss den gleichen hohen, künstlerischen Anspruch haben wie jede Form kultureller Bildung. Zu oft tragen Vorstadtprojekte selbst zu einer Ethnisierung bei, etwa durch die immer neue Reproduktion von Stereotypen zum Beispiel durch Rap und Breakdance als angeblich authentische Kunstform von Vorstadtkids. Zu oft werden Kinder und Jugendliche aus Vorstädten systematisch unterfordert, etwa durch Vermeidung konfliktträchtiger, trauer- oder angstbesetzter Themen in der künstlerischen Produktion. Dabei ist Unterforderung ein besonders starker Mechanismus der institutionellen Diskriminierung. Und zu oft werden vor allem Flüchtlinge und Kinder mit Migrationshintergrund auf diesen Aspekt ihres Lebens reduziert, etwa durch Theater- oder Tanzprojekte, die mit »Migrantenkindern« die Themen »Flucht« oder »Heimat« beschwören.
Auch werden immer neue Projekte, oft auch nach tagespolitischer Mode, entwickelt (und die Förderstrukturen der öffentlichen Hand verstärken diesen Effekt). »Es gibt eine Tendenz«, resümiert Bamford, »immer mehr Projekte zu initiieren, statt die bestehende Arbeit zu konsolidieren und sich auf klare Entwicklungswege und gute Rahmenbedingungen für das Monitoring zu konzentrieren.« (Bamford 2010: 192) Es gehe vielmehr darum, »exzellente Angebote zu verbessern und diese zu vernetzen.« (Ebd.)


Qualität der Kooperationen
 Keine Einrichtung alleine kann in einer superdiversen Stadtteilgesellschaft an einer klugen und strapazierfähigen urban citizenship stricken. Deshalb braucht die kulturelle Bildung Partner und die verschiedenen Stadtteileinrichtungen, allen voran Kitas und Schulen, brauchen die kulturelle Bildung. Aber nicht als verlängerter Arm des Unterrichts, sondern als alternative Perspektive für eine ganzheitliche Arbeit mit Kindern, Jugendlichen, Eltern, Familien.
Aus dem aktuellen Bildungsdiskurs kennen wir den Begriff der »lokalen Bildungslandschaft«, der wichtige Hinweise liefert, um was es hier gehen kann. Der Begriff wurde in den vergangenen Jahren, insbesondere im Rahmen des Bundesprogramms »Lernen vor Ort«, präzisiert und in vielerlei Varianten erprobt und erforscht (vgl. Arbeitsgruppe Lernen vor Ort 2016, Bleckmann 2012). Urban citizenship erfordert einen Typus von »Bildungslandschaft«, bei dem ausgehend von einem umfassenden, nicht auf kognitives Lernen reduzierten Bildungs- und Emanzipationsbegriff unterschiedliche Institutionen und zivilgesellschaftliche Akteure ihre Arbeit dauerhaft und systematisch aufeinander beziehen, ihre Kooperationen professionalisieren und geteilte Strategien, Ziele und Haltungen entwickeln. Schule ist dabei ein wichtiger Partner, aber nur einer von vielen, die für die Lebenswelt von Kindern, Jugendlichen und Familien Verantwortung tragen. Zwar gibt es heute schon vielfältige Netzwerkstrukturen in globalisierten Stadtteilen. Es fehlt solchen Netzwerken aber häufig an einer stringenten Verknüpfung der

Superdiversity

unterschiedlichen Prozesse. Gemeint sind damit die heterogenen Handlungsansätze verschiedener Ämter und Förderprogramme. Oft sind Strategien der sozialen Stadtentwicklung, die kommunale Schulentwicklung, Programme der Weiterbildung und Wirtschaftsförderung nicht miteinander abgestimmt. Und die Kooperation zwischen Kommunen und NGOs ist häufig schwierig. Projekte der kulturellen Bildung können hier strukturelle Brücken auf bauen, weil sie zwischen sehr unterschiedlichen Partnern ungewöhnliche Verbindungen knüpfen können. Es gibt heute schon zahlreiche Kulturprojekte, die sich in Schnittfeldern von sozialer Stadtentwicklung, Schule, Flüchtlingsarbeit etc. engagiert verorten. Aber es gibt kaum ein strategisches Gesamtkonzept, das die unterschiedlichen Partner substantiell miteinander verbindet. Dies zu schaffen, wäre der qualitative Quantensprung für lokale Netzwerke.


Qualität der kommunalen Rahmenbedingungen
 Bisher habe ich nur die hohen Anforderungen an die einzelne Kultureinrichtung benannt. Strukturell sind aber die Kultureinrichtungen in den Stadtteilen häufig das schwächste Glied in der Kette. Vergleichen wir den Gehaltsspiegel eines Lehrerkollegiums mit dem einer Kultureinrichtung in der Vorstadt, wird der Unterschied evident. Kita, Schule und Jugendhilfe haben einen gesetzlichen Auftrag, die kulturelle Bildung hingegen darf der Politik leider häufig nur den Stoff für Sonntagsreden und das Bildmaterial für hübsche Broschüren liefern. Wenn kulturelle Bildung einen relevanten Beitrag zum Auf bau einer urban citizenship leisten soll, bedarf es dazu klarer Mandate und entsprechender Ressourcen. Ein kommunaler Rahmenplan »Kulturelle Bildung« ist oft schon ein wichtiger Meilenstein, um überhaupt einmal die Quantität der in einer Kommune vorhandenen kulturellen Bildung systematisch zu zeigen. Die strukturelle Unterstützung von lokalen Bildungslandschaften, in denen die kulturelle Bildung eine von Politik mandatierte und von Verwaltung ausreichend finanzierte Rolle hat, wäre schon fast »high end«.

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Creative Placemaking in the United States Arts and cultural strategies for community revitalization Bill Flood and Eleonora Redaelli

1. Introduction In the United States, issues of audience development and engagement in the arts are intersecting issues of community revitalization. Arts organizations are realizing that they must understand and engage with those they seek to serve. Studies are showing that the engagement with others through attending or participating in an arts event is as important to people as experiencing the art. In fact, between 2006 and 2012 the Wallace Foundation in collaboration with the RAND Corporation, funded 54 organizations arts organizations to develop and test approaches for expanding audiences. The summary report for this important study showed two over-arching themes:1) successful initiatives created meaningful connections with people, and 2) successful initiatives received sustained attention from both leadership and staff. Understanding these motivations of current and potential audiences is important to creating audience development strategies of organizations (Harlow, 2014). In 2012 the National Endowment for the Arts (NEA) conducted the most current national survey of how American adults engage in the arts. The findings show that roughly half of all adults in the U.S. attended or participated in an arts event or activity during the one-year study period. Events and activities measured include visual and performing arts, photography and film-making, electronic media, movie-going, and reading/literature. Especially good news (since the U.S. has a growing non-white population) is that the study noted that non-white and Hispanic Americans saw no declines in arts attendance rates, and actually saw some increases. It is also important to note that this study, along with an increasing number of arts managers and planners, are recognizing the informal ways that people participate in the arts – social dancing, singing in church choirs, belonging to a book club etc. – as significant forms of arts participation (NEA, 2013). Many arts and cultural advocates are finding that the terms art and culture often send an unintended message of exclusivity instead of the desired message of inclusivity.

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The term creative expression is now appearing much more as organizations and communities seek to engage more people with the arts. (Arts Midwest, 2016). Lately, one major engagement effort in developing arts projects has been referred to as creative placemaking. The concept of creative placemaking refers to a variety of community-based practices that draw on local arts and cultural assets to building a stronger community. Creative placemaking has become a popular idea in the arts and cultural sectors, but it is still a concept with various meanings and uses, based on the experiences and goals of the users. Rooted in the scholarly tradition focused on placemaking (Mayar 2014; Schneekloth and Shibley 1995), creative placemaking brings together several fields of knowledge and practice such as urban planning, public art, community development, and social and cultural policy. In this chapter, we would like to articulate the current debate about the ways of improving life in the communities through the idea of creative placemaking. We are a cultural policy scholar and a community cultural development consultant aiming to stimulate deeper understanding and dialogue around creative placemaking in the US. Eleonora studies creative placemaking from a cultural policy perspective highlighting the actions developed by the major arts federal agency, the NEA, around this term; Bill reflects on the ways creative placemaking has been and is currently used within community development practice and discourse. We combined our perspectives because we believe that in order to better understand the cultural sector it is important to bring together multiple sets of knowledge and make sense of a fascinating, but very complex reality (Paquette and Redaelli 2015; Föhl, Wolfram, Robert 2016).

2. Creative placemaking and the NE A In the United States, the major governmental institutions involved in the arts and cultural sector are the NEA at the federal level, state arts agencies, and local organizations at the county and city levels. The NEA was founded in 1965 as an independent agency that offers funding to projects exhibiting artistic excellence through competitive grants. Creative placemaking is a framework introduced to change the usual paradigm of intervention of the NEA, which was focused on providing funding to specific art forms, and instead promotes the cooperation between the arts, urban planning, and community development. This new strategy emerges from one of the federal agency’s goals consisting of fostering engagement with diverse and excellent art to improve livability of places. But what exactly has the NEA done in promoting creative placemaking? Three main action can be identified: (1) the NEA has spread the use of this term among cultural practitioners with the publication of a white paper titled »Creative placemaking;« (2) it offered funding for projects based on the creative placemaking ideas included in the white paper creating the grant »OutTown;« (3) it leveraged funding and spurred collaborations among different sectors to involve multiple actors in the

Creative Placemaking in the United States

implementation of creative placemaking projects and ideas initiating the partnership »Artplace« (Redaelli, 2016). With the release of the white paper »Creative Placemaking« by Ann Markusen and Anne Gadwa, the NEA brought the term creative placemaking to the forefront of how communities can become more livable places by means of arts and culture in 2010. This white paper was commissioned by the Mayor’s Institute of City Design, a leadership initiative of the NEA, with the purpose to assess the role of the arts in the community and provide the framework for a future policy platform. The argument was developed merging scholarly literature on urban revitalization and the role of arts and cultural investment, with empirical studies that scan hundreds of cases and offer in-depth analyses about the local efforts developed through the nation (Landesman 2013). Markusen and Gadwa (2010) state that »in creative placemaking, partners from public, private, nonprofit, and community sectors strategically shape the physical and social character of a neighborhood, town, city, or region around arts and cultural activities« (p. 3). Creative placemaking operates at all geographic scales and mobilizes public will, private support, and secures arts community engagement. This conceptual framework and definition of creative placemaking was the base for the creation of the grant program »Our Town« and the partnership »ArtPlace.« In 2011 through the grant »Our Town« the NEA tried to encourage the development of creative placemaking projects. Between 2011 and 2015, the NEA awarded more than 300 grants totaling almost $26 million. »Our Town« projects focus on arts engagement and cultural planning and grant awards are made to partnerships that consist of at least one private nonprofit arts organization and a local government entity. Moreover, »Our Town« projects also demonstrate how arts and culture can impact a wide range of community priorities, including economic development, environmental resiliency, at-risk youth and entrepreneurship programs, and use of public spaces. For example, in 2012 the Portland arts nonprofit »My story« received a grant to partner with the city and five neighborhood organizations to develop a youth arts and community program. They developed »We are Portland« a mobile portrait studio that gave local youth an opportunity to photograph their families, friends and neighbors. They provided youth photography workshops, festive Family Portrait Days, and citywide art exhibits. Beside creating this new grant category, the NEA initiated a partnership called »ArtPlace« involving six federal agencies along with two White House offices, fifteen leading national and regional foundations, and six of America’s largest banks. ArtPlace was established in 2011 as a ten-year project to strengthen the field and position arts and culture as a core sector of community planning and development. This initiative leveraged a large amount of funding from both the public and private sectors and supported creative placemaking projects with grants throughout the nation, awarding more then 226 projects a total of almost $70 million. One prominent example is the project Time Based Art (TBA) festival funded in 2011 in Portland. This festival is organized by the Portland Institute of Contem-

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porary Art (PICA) and builds on years of itinerant programming throughout the city offering contemporary arts in repurposed buildings. PICA’s festival sparked revitalization in a series of neighborhoods thanks to the support of architecture, developers and contractors partners, while bringing attention to cutting edge contemporary arts projects. Finally, a closer look at these three initiatives of the federal agency – the white paper, the grant »Our Town,« and the partnership »ArtPlace« – highlight how the NEA spurred collaborations among different actors of the public sphere to gain greater support for the idea of creative placemaking. The white paper was commissioned to two renowned scholars, Ann Markusen and Anne Gadwa. This shows an interest from the federal agency to collaborate with academics to develop knowledge in the field. The grant »Our Town« encouraged collaborations requiring arts organizations applying for the grants to cooperate with local governments. Finally, the creation of the partnership »ArtPlace« brought together different federal agencies, banks, and foundations engaging an impressive variety of actors in paying attention to the value of the arts and their contribution to the community. This brief analysis helps to understand how the NEA promoted the idea of creative placemaking in the United States as an investment in projects that contribute to the livability of communities through multiple partnerships that have the arts at their core. Its actions included shaping the conversation, providing a conceptual framework, as well as supporting actions based on these ideas through the provision of funding through a new grant program and the creation of a partnership involving multiple actors from both the private and public sectors. Our next steps will be to better understand how the idea of creative placemaking has been perceived among practitioners active in community development.

3. Creative placemaking and community development Interest in involving people from many different backgrounds in community cultural projects has been a central concern not only for the NEA but also for the practice of community development. Over the years community development practitioners developed a range of approaches for working with local communities and in particular disadvantaged people and the need to mobilize people power to affect social change. In the 1990s, arts practices started to be contextualized in these types of projects that had a larger socioeconomic and political purpose (Hager, 2008). Community development practitioners engaged community members in art making often focused on issues concerned with diversity, democracy, and social justice. How do practitioners in the field perceive the increased popularity of the term creative placemaking? Creative placemaking has received a fragmented and contradictory response among community development practitioners, who mainly struggle with the idea that making a place might mean to disregard its people and its history. In fact, the reception of the term continues to be characterized on the one hand by a series of critiques and struggle on its meaning and on

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the other hand, by its use highlighting a collaborative practice across professional disciplines and recognition of the local culture. Sean Starowitz and Julie Cole (Starowitz and Cole, 2015) in Lumpen Magazine highlight a few aspects that make the use of the term problematic. They claim that the use of the term creative placemaking conceals an assertion that the areas involved in the projects are not already places with physical value or specific cultural roots. Therefore, they are in need of being transformed through creative actions. Underneath this umbrella term is the practice of using public art and other tools of public design to create nicer, cleaner, friendlier public places, generally defined by standards of mainstream culture, instead of engaging those most affected by change in the process of development resulting in processes of placetaking. Starowitz and Cole emphasize the danger of these projects that end up serving the tastes of those who profit from the system and perpetuating inequality. The use of creativity is considered a »magic glue« that brings together places and lives, but in reality it hides the perpetuation of a broken economic system. They presented this argument looking at the latest development of Kansas City, MO that lost historic homes and displaced numerous people. Following these critiques of the term, Jenny Lee and Roberto Bedoya suggest the alternative concept of placekeeping (Bedoya, 2014). Placekeeping is a concept that allows for a greater emphasis on strong connection with, and respect for, the cultural memory of local people. Creative placekeeping is definitely gaining traction with arts organizations engaged in community development. Evidence of this is the webinar »USDAC Citizen Artist Salon: Creative Placemaking, Placekeeping, and Cultural Strategies to Resist Displacement« (U.S. Department of Arts and Culture, 2016) organized by the U.S. Department of Arts and Culture, a grassroots organization engaged in developing an action network of artists and cultural workers mobilizing creativity in the service of social justice. The main idea is the importance of keeping a place through remembering, listening, collaborating, as well as stewardship and collective action, rather than making a place through primarily the tools of urban planners. Bedoya explain this concept claiming that projects should understand how people feel that they belong in a place, before any physical changes are made, in order to keep the agency of people alive. Other practitioners of community development are suggesting directions for creative placemaking emphasizing its multidisciplinary and social justice aspects. Consultant and author Tom Borrup uses the concept to describe »arts and culture as a partner in community revitalization« (Borrup, 2016). Borrup also focuses specifically on betterment of the lives of community members as a primary outcome of creative placemaking. An example of this collaboration between arts and culture and the revitalization is the work of the organization Know Your City (Know Your City, 2016) in Portland, Oregon. This innovative organization engages the public through art and social justice creative placemaking projects. Programs and publications aim to educate people to better know their communities and to empower them to take action toward more just communities. Core programs

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include walking tours, such as A People’s Tour of Portland which explains history from the »bottom up«; Portland books and publications which make history and contemporary issues publicly accessible and utilize local artists, writers, graphic designers, and illustrators; youth programs that get students out of classrooms to interact with civic leaders, inquire how the city of Portland works, and encourage them to conduct interviews and produce media including video or artwork that communicate what they have learned. This quick overview of the reception of the term creative placemaking in the community development discourse illustrates how this term does not have a clear connotation or reception. On one hand, it is sometimes perceived as a fancy idea that ends up perpetuating social inequality. At the same time, there are practitioners and organizations enhancing the role of social justice through creative placemaking projects.

4. Conclusions In this chapter we exposed the current debate in the United States about the ways of revitalizing communities through the idea of creative placemaking. We approached creative placemaking from different perspectives: one highlighting the role of the NEA in framing and supporting the term and another reporting how community development practice is reacting, using, or critiquing the term. This joint investigation made us realize how, besides different opinions on the use of the term, creative placemaking is a concept that is generating a lively conversation between the arts, urban development, arts funding, equity, and social justice: all important ingredients for more livable places. This overview showed also that the debate around the concept of creative placemaking parallels in many respects our introductory comments on audience development and arts participation where emerges the importance of engagement »with« the community. Finally, approaching the term from our different perspectives and professional practices – one of a scholar and one of a consultant – allowed us to realize how a conversation between scholars and practitioners brings different sets of knowledge to the table and is fundamental to articulating the nuances and developing a better understanding of concepts shaping the arts and cultural sectors.

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Partizipative Kulturentwicklungsplanung als Wegbereiter für neue Formen der kulturellen Teilhabe und des Community Building * 1

Patrick S. Föhl und Gernot Wolfram

Vorbemerkung Ein zentrales Element zeitgenössischen Kulturmanagements ist die Weiterentwicklung einer auf Beteiligung von möglichst unterschiedlichen Akteuren am kulturellen Leben orientierten Form der kulturellen Bildung. Kulturelle Bildung wird hier weniger als eine Publikums- oder Marketingausrichtung verstanden, sondern als ein fortschreitender Prozess von wechselseitigem Empowerment diverser Akteure und Institutionen. Empowerment meint in diesem Zusammenhang die Ermutigung, eigene Ziele, Ideen, Erwartungen und Beteiligungsbereitschaften offen und transparent zu formulieren, ohne dabei von bestehenden Elitediskursen eingeschränkt zu werden. Klares Ziel dabei ist das wechselseitige Lernen dieser Akteure und Institutionen. Der Fokus des vorliegenden Beitrags liegt dabei auf dem Instrument der Kulturentwicklungsplanung, das in besonderer Weise dafür geeignet ist, dieses interaktive Verständnis von kultureller Bildung und zivilgesellschaftlicher Beteiligung in die Realität umzusetzen. Kulturpolitik wird hier in starkem Maße als Gesellschaftspolitik (vgl. Baecker 2011) gedacht, d.h. der Beitrag geht auf Basis von Forschungs- und Praxiserkenntnissen davon aus, dass kulturelle Entwicklung sehr viel breiter zivilgesellschaftlich gedacht werden sollte, um wirksamer zu sein, und dass kulturelle Bildung kein Vorschlagsinstrument sein sollte, sondern eine methodisch gestützte Form wechselseitiger Lernprozesse, in denen künstlerische Qualität und kulturelle Teilhabe neue Relevanz erlangen.

*|Bei dem vorliegenden Text handelt es sich zum überwiegenden Teil um Auszüge aus Föhl/ Sievers 2013 und Föhl/Wolfram 2016.

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1. Z unahme von K ulturent wicklungsprozessen Das Thema Kulturentwicklungsplanung erlebt seit gut zehn Jahren in Deutschland – und vielen anderen Ländern – eine Renaissance in ungekanntem Ausmaß. Zahlreiche Städte, Kreise, Regionen und Länder stellen sich den aktuellen Herausforderungen und wollen mittels Analysen sowie Dialogformaten zeitgemäße Schwerpunkte formulieren und damit Bewegung im Kulturbereich erzeugen. Die Kulturentwicklungsplanung in Deutschland hat dabei eine wechselvolle Geschichte. Nach der Auf bruchszeit in den 1970er Jahren war es in den 1980er Jahren vergleichsweise ruhig um dieses neue Planungsfeld geworden, bevor es in den 1990er Jahren im Kontext der kulturpolitischen Transformationsprozesse in den neuen Bundesländern erneut an Aufmerksamkeit gewann. Seitdem ist das Thema in den neuen Ländern mehr oder weniger dauerhaft auf der kulturpolitischen Agenda. Gleiches gilt seit einigen Jahren in ansteigendem Maße für Regionen und Kommunen in den alten Bundesländern.

Auslöser und Themen Bevor jedoch die Muster und Inhalte dieser Verfahren genauer zu beleuchten sind, ist zunächst der Frage nachzugehen, warum die Planungsaktivitäten im Kulturbereich derart ansteigen. Der Hauptgrund dafür liegt vor allem in der hohen Kadenz gesellschaftlicher Herausforderungen wie der Digitalisierung und Pluralisierung. Weiterhin existieren spezifische Problematiken des öffentlichen Kulturbetriebs wie die zunehmende Bewegungsunfähigkeit der Kulturpolitik, ausgelöst durch die vorherrschenden Paradigmen einer additiven und zugleich in der Regel sehr einseitig verteilten Kulturförderung. Diese Entwicklungen haben zu einer sich öffnenden Schere zwischen den tatsächlichen Leistungsmöglichkeiten von Kulturpolitik bzw. -förderung und einem wachsenden Aufgabenvolumen geführt. Gemeinsam wirken sie sich massiv auf die vorhandenen kulturellen Angebote aus und stellen Anforderungen an neue Kulturformate. Während die Kultur(-politik) folglich auf der einen Seite große Aufgaben zu meistern hat und zahlreiche etablierte Kultureinrichtungen durch die Erosion des klassischen Bildungsbürgertums zunehmend um ihre gesellschaftliche Stellung kämpfen müssen, gewinnt Kultur zur gleichen Zeit an anderer Stelle wieder vermehrt an Bedeutung. Diese auf den ersten Blick paradoxe Situation erklärt sich vor allem dadurch, dass Kultur im Aufgabenhorizont anderer Politik- und Entwicklungsfelder (wieder) einen höheren Stellenwert erfährt. Allen voran sind hier die kulturelle Bildung bzw. Teilhabe, der Kulturtourismus, die Kulturwirtschaft sowie die Stadt- und Regionalentwicklung im Allgemeinen zu nennen. Auf den ersten Blick erhöht sich dadurch abermals die gegenwärtige Komplexität von Kulturpolitik, Kulturmanagement und Kulturarbeit. Zugleich stellt sich die Frage, ob Kunst und Kultur nicht mit entsprechenden Anspruchshaltungen überladen werden bzw. diese »Bindestrichzuweisungen« die vorhandenen Syste-

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me mit den sich daraus ergebenden Kooperationsnotwendigkeiten nicht überfordern. Auf den zweiten Blick bieten sich aber auch Chancen. Hierzu zählen die Etablierung neuer Begründungsmuster für Kulturförderung, die Nutzung und dadurch Revitalisierung vorhandener kultureller Infrastruktur für interdisziplinäre Projekte, der Zugang zu anderen Fördermöglichkeiten sowie neuen Zielgruppen und das Auf brechen segmentierter Sicht- und Handlungsweisen im (öffentlichen) Kulturbereich. Zudem können durch Konzepte Schwerpunkte benannt werden, die jeweils das größte Potenzial versprechen. Zusammengenommen entsteht eine Reihe an konkreten Fragen- und Themenstellungen, die gegenwärtig in Kulturentwicklungsplanungen untersucht werden. Grundsätzlich lassen sich dabei drei Untersuchungsfelder differenzieren: • Kulturpolitische Kernfragen (Transparenz und Wirkung von Kulturförderung, Umverteilungsfragen, Transformation vorhandener kultureller Infrastruktur etc). • Querschnittsthemen und -maßnahmen (z.B. Stärkung der kulturellen Bildung und des Kulturtourismus auf Basis gemeinsamen Wissensaustauschs). • Sparten- und Einrichtungsspezifische Fragestellungen (Hier steht häufig die Entwicklung von Museums- und/oder Theaterlandschaften im Mittelpunkt).

Neues Verständnis von kultureller Bildung, Teilhabe und Beteiligung Als nächster Schritt stellt sich die Frage, wie es bei der Aushandlung dieser Themen gelingt, Kulturakteure sowie Bürger/-innen unterschiedlicher Sparten sowie Milieus konkret anzusprechen und einzubinden in Planungen und Entscheidungen über das öffentlich zu fördernde Kulturleben. Zentral hierfür ist zunächst eine veränderte Grundhaltung gegenüber der Gestaltung von Kulturpolitik: Kulturentwicklungsplanungen sind heutzutage bestenfalls keine fixierten Aufstellungen von Erfüllungsplänen, sie sind vielmehr demokratisch fundierte Aushandlungs- und Lernprozesse. Ziel ist es, dass möglichst viele Akteure der Gesellschaft sich daran beteiligen, eine kulturelle Infrastruktur zu erhalten, anders zu denken oder mit neuen Impulsen zu bereichern. Dieser Ansatz betont einen dialogischen Charakter. Das Zusammenspiel von verschiedenen Akteuren, Institutionen und gesellschaftlichen Kräften wird idealiter als besondere Form der kulturellen Bildung und Teilhabe verstanden. Aus dem Kreis der an der Planung Beteiligten können sodann neue Formate, Projektideen, Netzwerkbildungen hervorgehen, die kulturelle Bildung aus dem Geist dieser kooperativen Phase neu bzw. anders denken. Kulturelle Bildung in diesem Kontext wird als demokratischer Lernprozess verstanden, bei dem unterschiedliche Akteure und Institutionen nicht immer neue Angebote formulieren, sondern wechselseitig voneinander lernen, indem bestehende und entstehende Konzepte miteinander vernetzt, diskutiert und reflektiert werden.

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Dialogische Herangehensweise heißt bei Kulturentwicklungsplanungen nicht nur, dass auf methodische Interaktion innerhalb der Planungsprozesse gesetzt wird. Das gesamte Verständnis von kultureller Bildung wird erweitert und neu strukturiert. Wissen entsteht hier durch einen Austausch von Ideen, Meinungen und (Fehler-)Analysen. Dabei – und das ist bei vielen Konzepten der kulturellen Bildung nicht immer selbstverständlich – wird darauf geachtet, dass die Vermittlung von Wissen immer auch an die Aufnahme von Wissen gekoppelt ist. Was heißt das konkret? Aktuelle Projekte, die sich etwa mit der kulturellen Teilhabe von Geflüchteten in Kommunen und Städten beschäftigen, zeigen häufig die Tendenz, Angebote zu formulieren (Tickets, Konzepte, Projekte für Konzerte, Theater, Oper, Museen) ohne die Frage zu stellen, was bei diesen Maßnahmen eigentlich die Institution lernt, die das Angebot macht? Das Berliner Forschungsprojekt »The Moving Network – Kulturelle Teilhabe für Geflüchtete« (vgl. www.the-moving-network.de) konnte zum Beispiel auf der Basis von über neunzig Interviews zeigen, dass auf Seiten der Geflüchteten der Wunsch besteht, selbstständig aktiv zu werden und eigenes Wissen in Projekte einzubringen. Das heißt, wie können Geflüchtete ihre Perspektiven in die Institutionen hineintragen? Welche Möglichkeiten gibt es, von ihren Vorstellungen und Erfahrungen zu lernen? Integriert man also bei Kulturentwicklungsmaßnahmen Konzepte zur Integration von Geflüchteten – ein Zukunftsthema in Deutschland – bedeutet dies, im Sinne von Vermitteln und Selbstlernen zu denken. Nur wenn kulturelle Institutionen verstehen, dass sie durch Prozesse des Weiterlernens und Aufnehmens von neuem Wissen sich weiterentwickeln können, lassen sich längerfristig erfolgreich Formen kultureller Teilhabe etablieren, die sich nicht auf die Bereitstellung immer neuer Angebote verlassen. Dieser Ansatz eines gegenseitigen Lernens gilt freilich nicht nur für Geflüchtete, sondern für alle Formen der Integration und Vernetzung kultureller Angebote. Gerade auch vor dem Hintergrund digitaler Transformation ist Austausch von Wissen zentraler zu sehen als eine fortwährende Angebotsformulierung. Am Ende solcher dialogischen Ansätze stehen im besten Fall neue »Communities«, die zusammengehalten werden durch eine Vielzahl von Interessen. »Communities« können auch als Vertrauensgemeinschaften bezeichnet werden, die auf Basis persönlicher Kontakte und Erfahrungen, gemeinsamer Themenformulierungen und Anliegen einen Zusammenhalt stiften, der nicht sofort wieder zerbricht, wie es häufig bei temporären Projektgruppen im kulturellen Feld üblich ist (vgl. Borwick 2012). Partizipation innerhalb von Kulturentwicklungsprozessen versteht sich also als Prozess des Lernens, der Vermittlung und der thematischen Vertiefung kultureller Fragestellungen von Akteuren, Institutionen und Partnern der Zivilgesellschaft mit dem Ziel, Teilhabe am öffentlichen kulturellen Leben und Dialog zu gewährleisten. Das setzt sich ab von einem Verständnis von kultureller Bildung, das pädagogische Ziele und Maßnahmen vorformuliert statt sie als interaktiven Entwicklungsprozess zu sehen. Der Grund, warum aktuell so viele Städte und Gemeinden in Deutschland und international auf dieses Instrument zurückgrei-

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fen, liegt unter anderem in der Erkenntnis, dass die Komplexität von Ansprüchen, Forderungen, Bedürfnissen sowie einer nach wie vor angespannten Haushaltslage nicht allein durch Bottom-Up-Ansätze oder Akteur-zentrierte Methoden gelöst werden kann, sondern nur durch eine gemeinsame Handlungsbasis zwischen Kulturpolitik und Gesellschaft.

Akteure Wer sollte also in Kulturentwicklungsprozesse einbezogen werden? Diese Frage ist nicht ohne weiteres zu beantworten, sie ist abhängig von Ausgangslage und Fragestellung. Als Grundregel kann jedoch gelten: Je mehr Menschen mitentscheiden bzw. -diskutieren, sich verantwortlich fühlen und Kultur nicht als eine Angelegenheit von kleinen, elitären Gruppen begreifen, desto größer ist die Chance, dem zum Teil drohenden Bedeutungsverlust kultureller Arbeit entgegen zu steuern. Zugleich ist es bedeutsam, wann man wen in einen Prozess einbezieht. So stellt sich die Frage, ob eine zweifelsohne notwendige Bürgerbeteiligung am Anfang eines Entwicklungsverfahrens sinnvoll ist oder eher gegen Ende oder eben beides. Sollen Bürger/-innen als Impulsgeber einbezogen werden, was erfahrungsgemäß umfängliche Wunschlisten nach sich zieht, oder sollen sie erste Ideen aus der Kulturszene kritisch kommentieren? Das alles hängt an den konkreten Situationen und Fragestellungen vor Ort. Wenn z.B. über die zukünftige Entwicklung eines konkreten Kulturortes diskutiert wird, können Bürger/-innen mit ihren Haltungen und Ideen sehr früh gewonnen und einbezogen werden. Geht es zunächst zum das Große und Ganze, dann müssen konkrete Themen und Fragestellungen erst entwickelt werden, um einen konstruktiven Bürgerdialog gestalten zu können. Das alles gilt es abzuwägen und zu bedenken. Die vielen laufenden Kulturplanungsprozesse zeigen hier ein breites Spektrum. Grundsätzlich sollte das Hauptaugenmerk allerdings auf der Einbeziehung möglichst vieler Akteure aus dem genuinen Feld der Kunst und Kultur aus allen Sparten und Sektoren durch exklusive und direkte Ansprache liegen. Sie verfügen über das konkrete Praxiswissen und sind von Kulturentwicklungsverfahren direkt betroffen, sie sollen letztendlich die entwickelten Maßnahmen (mit)umsetzen oder gar selbst formulieren. »Betroffene« zu Mitplaner zu machen setzt aber voraus, dass zunächst die Zielstellung, Möglichkeiten, Spielregeln und auch die Verantwortung für und mit solchen Prozessen thematisiert wird. Andernfalls kann Akteur-Beteiligung auch zum Ausbremsen solcher Prozess führen. Sodann sollte aber auch eine gezielte Ansprache von anderen gesellschaftlichen Akteuren erfolgen, die sich für Kultur interessieren und sich beteiligen wollen. Die Erfahrungen aus vergangenen Kulturentwicklungsplanungen hat u.a. gezeigt, dass häufig Menschen aus anderen Bereichen wie etwa aus dem Sport, der Wirtschaft, der Sozialarbeit oder der Bildung inspirierende Ideen in solche Prozesse einbringen und eben auch einen kritischen, prüfenden Blick auf bestehen-

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de Angebote werfen können. Ihre Beteiligung steht für eine Entgrenzung der Kulturarbeit, die nicht in Beliebigkeit endet, sondern im Sinne einer konkreten Entfaltung neuer Themen funktioniert. Gerade im Bereich der Beteiligung von Jugendlichen – ein Kernthema, vor allem in Gebieten mit starken Bevölkerungsrückgängen – zeigt sich, dass es häufig Themen wie digitale Kompetenz, neue kulturelle Angebotsformate, Interaktivität sind, die Jugendliche zur Beteiligung bewegen und Kulturentwicklungsplanungen durch neue Ansätze bereichern können. Notwendig ist die Bereitschaft von Akteuren, sich innerhalb solcher Prozesse regelmäßig zu treffen und mit konkreten Formen einer zielgerichteten Diskussion zu neuen Ansätzen zu kommen. (Vgl. weiterführend und exemplarisch zu Aspekten der Partizipation und der Beteiligung von unterschiedlichen Interessengruppen bei Kulturentwicklungsprozessen Föhl 2010 und Holtkamp/ Bogumil/Kißler 2006.) Grundsätzlich ist es bedeutsam, dass Kulturentwicklungsprozesse Fenster für eine offene Beteiligung bieten und durch eine Sichtbarkeitsstrategie (Website, Social Media etc.) deutlich wird, wann was wie und mit welchem Ziel geschieht. Transparenz und die Ansprechbarkeit der Verantwortlichen sind zentrale Elemente eines offenen Prozesses, der Wege finden wird, Interessierte direkt zu beteiligen bzw. durch aufsuchende Beteiligung auf spezifische Zielgruppen zuzugehen.

Methoden Die bisherigen Ausführungen zeigen auf, dass es keine einfachen Antworten darauf gibt, wie und mit wem Partizipation gestaltet werden sollte. Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass in Kulturentwicklungsprozessen neben dem »Mit wem?« und »Wann?« ein starker Fokus auf das »Wie?« gelegt wird, also auf zeitgemäße Analyse-, Diskurs- und Beteiligungsansätze. Dabei ist festzustellen, dass der Einsatz eines sequentiellen Methodendesigns zunehmend im Mittelpunkt steht. Durch verschiedene Stufen und Öffnungswinkel sollen schrittweise unterschiedliche Formen der Wissens- und Ideengewinnung, der Vertrauensbildung und der Ermächtigung vollzogen werden. Exemplarisch für einen sequentiell und multiperspektivisch angelegten Analyse- sowie Partizipationsprozess sei auf die Kulturentwicklungsplanung der Landeshauptstadt Düsseldorf verwiesen (vgl. www.kep-duesseldorf.de):

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Abbildung: Vorgehensweise/methodischer Ansatz Kulturentwicklungsplanung der Landeshauptstadt Düsseldorf 2016-2017 (© Patrick S. Föhl)

Der dargestellte Ansatz aus Düsseldorf zeigt verschiedene Ebenen der Beteiligung, die von exklusiver (z.B. leitfadengestützten Experteninterviews), dauerhafter (z.B. KEP-Beirat) bis hin zu großformatiger Beteiligung reichen. Dieses sequentielle Methodendesign bildet alle Analyse- und Beteiligungsschritte ab, die gegenwärtig in Kulturentwicklungsprozessen zum Einsatz kommen. Das betrifft auch die Verwendung von diversen Methoden innerhalb der einzelnen Entwicklungsschritte. So werden im Rahmen der Workshops verschiedene Formate angewendet und spezifisch eingesetzt. Diese reichen von intensiven Arbeitssituationen in World-Cafés, über Diskussionsrunden, Plenumsdiskussionen, Bar Camps bis zu groß angelegten Fishbowl-Diskussionen. Gleichfalls gibt es Workshops an einem zentralen Ort sowie aufsuchende Formate wie zielgruppenspezifische Workshops in Schulen oder Stadtteilzentren.

2. K onkre te A spek te von Tr ansformationsarbeit im R ahmen von K ulturent wicklungsprozessen Im Folgenden werden einige konkrete Aspekte der Transformationsarbeit beleuchtet, die sich bei aktuellen Kulturentwicklungsprozessen als hilfreich erweisen, um strukturelle Veränderungen zu gestalten. Es geht hierbei nicht um wiederverwendbare Lösungsschablonen, sondern vielmehr um Denkansätze.

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Diese Ansätze sehen Transformation und Community Building aktuell als zentrale Kategorien in Veränderungsprozessen im Kulturbereich. Lange Jahre wurde in Deutschland etwa über Fragen des Audience Developments diskutiert, um zu neuen Beteiligungsformen zu finden. In der Praxis hat dieses Konzept jedoch nur teilweise die Hoffnungen erfüllen können, die man in es setzte. Mittlerweile zeichnet sich ab, dass wirksame Veränderungen vor allem in lebendigen bzw. »reaktivierten«, lokalen Gemeinschaften stattfinden. Doug Borwick brachte es auf die griffige Formel »Building Communities, not Audiences« (Borwick 2012), um zu verdeutlichen, dass kulturelle Teilhabe lebendige Netzwerke und in Gemeinschaften engagierte Akteure benötigt. Kulturentwicklungsplanungen können als Inkubatoren und Triebfedern für von Gemeinschaften akzeptierten Wandel verstanden werden. Sie denken Veränderung nicht als Maßgabe, sondern als Entwicklung innerhalb von verschiedenen kooperativen Gruppen und Akteuren. Transformation wird somit als partizipativer Prozess verstanden. Die folgenden Felder verdeutlichen diese Perspektive exemplarisch und beleuchten Handlungsoptionen. Nicht als Rezeptwissen, sondern als Denk- und Handlungsangebot.

Schaffung von Ankereinrichtungen und neuen kooperativen Räumen Viele Städte und Gemeinden verfügen über potenzielle »Ankereinrichtungen«. Das können Theater, Museen, Bibliotheken, Galerien, Volkshochschulen etc. sein. Diese Räume haben häufig zunächst eine tradierte und durchaus auch abgegrenzte Nutzungsbeschreibung, können aber zum Teil in neue kooperative Räume verwandelt werden, wenn sie eine erweiterte oder veränderte Nutzung erfahren. So haben sich beispielsweise viele Stadtbibliotheken in den letzten Jahren »neu erfunden« im Sinne des Wandels zu sozialen Begegnungs- und Veranstaltungsräumen. Gleiches gilt für die Nutzung bereits vorhandener Räume für erweiterte Zwecke. So stellt beispielsweise das Badische Staatstheater in Karlsruhe das tagsüber bislang ungenutzte Foyer für Studenten zur Verfügung, um dort lernen zu können. Dadurch erfährt das Theater eine andere Öffnung und Sichtbarkeit. Im angelsächsischen Raum spricht man in diesem Zusammenhang zunehmend von sogenannten »Makerspaces« oder auch vom »Creative Placemaking«, eine Entwicklung, die sich auch in Deutschland vermehrt nachvollziehen lässt. Ankerinstitutionen beziehen sich aber im besonderen Maße auch auf die Öffnung einer Einrichtung im Hinblick auf die Kooperation und das Teilen eigener immaterieller sowie materieller Ressourcen mit anderen Akteuren aus dem kulturellen Feld zum gegenseitigen Nutzen. Dieser Ansatz geht auch mit der Erkenntnis einher, dass in der Regel – zumeist »historisch gewachsen« – einige wenige Einrichtungen und Projekte einen Großteil der öffentlichen Kulturförderung erhalten. Damit ergibt sich eine zunehmende Mitverantwortung für andere Kulturakteure, die keinen oder nur einen überschaubaren Zugang zu öffentlichen Ressourcen haben, um neue Verantwortungs- und Teilhabestrukturen zu schaf-

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fen, aber auch um Kannibalisierungseffekte in den kulturellen Szenen vorzubeugen. Für die Öffnung klassischer Kultureinrichtungen für neue partizipative und kooperative Produktionsformen gibt es bereits viele Beispiele. Exemplarisch können z.B. das Theater Oberhausen oder die Transformation des Nationaltheaters Koninklijke Vlaamse Schouwburg in Brüssel zu einer städtischen Plattform, unter anderem durch das partielle Auflösen des klassischen Intendanten- bzw. Regisseurmodells hin zu projektbezogenen Teams, die sich aus verschiedenen Disziplinen zusammensetzen, herangeführt werden. Der belgische Theaterwissenschaftler Ivo Kuyl schreibt hierzu: Als städtische Plattform will die KVS nicht länger der Identität nur einer Bevölkerungsgruppe oder sozialen Schicht Ausdruck verleihen. Sie will vielmehr eine Gesellschaft antizipieren, die keine Anpassung an eine homogene kulturelle Tradition aus der Vergangenheit verlangt, sondern die bereit ist, über den kulturellen Dialog, über eine Koproduktion zwischen verschiedenen Kulturen und Hintergründen eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. (Kuyl 2011)

Damit wird nicht nur auf eine inzwischen heterogene, individualisierte, plurale und bunte Gesellschaft reagiert, sondern es werden auch Möglichkeiten geschaffen, diese verschiedenen Erfahrungshorizonte kooperativ in Kunstproduktionen zu vereinen. Hierbei werden Kunst und Kultur wieder zu Räumen gesellschaftlicher Debatten, ohne diese dabei zu überfordern. Eingelöst wird vielmehr der Anspruch nach Dialog und Integration vielfältiger Sicht- und Lebensweisen. Im Ergebnis, so zumindest in Brüssel, führt diese Art der Kunstproduktion auch zu einer gesteigerten Publikumsentwicklung, da sich viele gesellschaftliche Gruppen direkt adressiert und einbezogen fühlen. Die genannten Ansätze bergen allerdings die Gefahr, dass noch mehr Mittel zur Stärkung von Ankereinrichtungen in die bereits »besser gestellten« Einrichtungen fließen. Dies gilt es zu reflektieren und zu vermeiden. Insgesamt geht es um die Diskussion, wie bestehende Kulturräume zukünftig genutzt werden wollen und wie sie sich ggf. öffnen können, ohne ihre Kerninhalte aufzugeben (siehe hierzu exemplarisch die Diskussionen über die Theatersanierung in Augsburg: www.augsburg.de/kultur/theatersanierung/).

Aktivierende Themen für eine kooperative Kulturentwicklung formulieren Die Erfahrung aus vielen Bürgerinitiativen (wie etwa aktuell beim TTIP-Abkommen) zeigt, dass aktive Beteiligung von Bürger/-innen in einer digital ausgerichteten Gesellschaft sich nicht nur als Form des Widerstands oder des Protestes formiert, sondern vielmehr als Wunsch, mitzugestalten, einbezogen zu werden, selbst Verantwortung zu übernehmen. Diese vor allem durch den digitalen Wandel nochmal neu belebte Form der Partizipation ist fast immer thematisch orien-

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tiert. Viele Gemeinden haben sich durch Schwerpunktsetzungen (etwa Donaueschingen durch das Thema »Neue Musik« oder die österreichische Stadt Graz durch das Festival »steirischer herbst«) ein thematisches Profil gegeben, das zur Beteiligung einlädt und sogar zur internationalen Sichtbarkeit beiträgt (vgl. Wolfram 2012). Hierbei geht es nicht immer um eine direkte Beteiligung vieler Bürger/-innen, sondern auch um eine Identifikation mit möglicherweise als »schwierig« empfundenen künstlerischen Formaten innerhalb von Städten und Gemeinden. Dies ist ausdrücklich zu betonen, denn Beteiligung zielt nicht auf die Entwicklung von Massenkompatibilität ab, sondern auf eine stärkere Interaktion zwischen Kulturveranstaltungen und Bevölkerung. Hier können beispielsweise Fürsprecher gestärkt werden, die Vorbehalte gegenüber »Spezialthemen« überwinden helfen. Hierzu gehört aber ein ausgiebiger Dialog über ein Leitthema, der partizipativ und viele Bereiche miteinander verbindend geführt werden muss, damit er fruchtbare Ergebnisse bringt (vgl. Föhl/Pröbstle 2013).

Kulturelle Teilhabe und Bildung als Form von Community Building verstehen Zeitgemäße Kulturentwicklungsplanungsverfahren, wie wir sie gegenwärtig im gesamten Bundesgebiet erleben können, sind vor allem auch durch partizipative Ansätze geprägt. Doch wie lassen sich diffizile Fragestellungen, die sehr viel Wissen (z.B. über Bauten, Politikverfahren) voraussetzen, überhaupt konstruktiv diskutieren und in eine funktionierende Community Building Arbeit übersetzen? Hierzu bedarf es in Deutschland noch sehr viel »Training« und eines kollaborativen Erfahrungsauf baus (vgl. hierzu auch Terkessidis 2015). Kulturentwicklungsplanungsverfahren sind geeignet, hierfür einen Anlass zu schaffen. Zunehmend Bedeutung erfahren aber auch dauerhafte Mitsprache- und Diskursformate wie Kulturbeiräte und Kulturkonferenzen (vgl. Föhl/Künzel 2014). Kulturmanager sind oft geeignete Akteure, um in diesen Zwischenräumen zu moderieren und zu vermitteln (vgl. Föhl/Wolfram/Peper 2016). In Kulturentwicklungsverfahren werden diese Zwischenräume identifiziert und entsprechende Koordinationsbedarfe sichtbar gemacht. Nicht selten ist das Ergebnis einer Kulturplanung die Einrichtung einer Koordinationsstelle für die Realisierung neuer Kooperationen und der Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen. Ähnliches gilt für die Anpassung von Kulturförderverfahren (z.B. über Beiräte) und -schwerpunkten, die vermehrt auf spartenübergreifende, selbstermächtigende sowie interdisziplinäre Effekte zielen (vgl. Institut für Kulturpolitik 2015 und hier exemplarisch besonders Wolfram/Föhl 2015), auch um bisherige Verfahrensweisen aufzubrechen und zu flexibilisieren (Abbau von Omnibusprinzip etc.). Kulturentwicklungsverfahren haben folglich im Idealfall viele direkte und indirekte Transformationseffekte. In den vorne genannten Zwischenräumen können neue Formen von kulturellen Communities entstehen, die auch berücksichtigen, dass Akteure heute nicht mehr monokulturell verstanden werden können (Stichwort »Flüchtlingskrise«).

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So setzen viele zivilgesellschaftlich engagierte NGOs wie etwa der Verein MitOst e.V. (vgl. www.mitost.org) konsequent auf Community Building Projekte im Inund Ausland (etwa im Projekt »Raumformation«), die eine positive Mitgestaltung vieler ihrer Kommunen bzw. ihres Gemeinwohls zur Folge haben. Hierbei geht es darum, verschiedene Akteure eines lokalen Raums dazu zu ermächtigen, sich zu beteiligen, ihre Stimme zu Gehör zu bringen und ihre Arbeit selbstständig zu evaluieren. Ähnliches geschieht auch verstärkt in deutschen Kommunen, wie während der Kulturentwicklungsplanung in Thüringen deutlich wurde. Lokale Vereine wie etwa der südthüringische Verein Schwarzwurzel e.V. setzen ganz bewusst auf breite kulturelle Beteiligungsverfahren. Dieser Ansatz »soll immer mehr Menschen eine Plattform bieten, um ihre eigenen Ideen für kulturelle Aktivitäten in die Tat umzusetzen« (www.schwarzwurzel.net/verein.html). Im Jahr 2011 wurde die Arbeit des Kulturvereins mit dem Preis »Kulturriese 2011« für innovative und basisnahe Kulturprojekte in Thüringen ausgezeichnet. Im Jahr 2012 erhielt der Verein den dritten Preis im bundesweiten Wettbewerb »Land und Leute« der Kulturstiftung Wüstenrot. Aber auch in den deutschen Großstädten finden sich viele vergleichbare Ansätze, die sehr häufig ihren Ursprung in der Freien Szene haben. Exemplarisch sind die Theaterprojekte mit Ingo Toben im Düsseldorfer Forum Freies Theater. Seit 2007 hat sich ein Team von Künstlern aus den Bereichen Musik, Theater, Film und Bildender Kunst auf die Zusammenarbeit mit Düsseldorfer Schülern spezialisiert. Gemeinsam mit Jugendlichen entstehen Aufführungsformate, die Film, Installation und Live-Musik verbinden. Die Projekte kombinieren Realität und Fiktion zu neuen Erzählweisen und öffnen dadurch die künstlerische Arbeit für die Lebenswelt der Jugendlichen. Gleichzeitig verdeutlichen sie die Potenziale spartenübergreifender Kulturarbeit (vgl. www. forum-freies-theater.de/projektemitjugen.html).

Ermächtigungs- und Outreach-Prozesse initiieren Kulturelle Ermächtigung bedeutet, Menschen dazu zu befähigen, sich an gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen zu beteiligen im Sinne eines Lernangebots, bei dem Stück für Stück Verantwortung übertragen wird. Konkret heißt das, vor allem Menschen, die bislang nicht im Fokus der Aufmerksamkeit von kulturellen Einrichtungen und Projekten standen, einzuladen, sich in Vereinsarbeit, Gremien und Entwicklungsprozessen aktiv einzubringen bei gleichzeitiger Hilfestellung, gewachsene Strukturen zu verstehen und zu adaptieren bzw. überhaupt erst einen Zugang zu kulturellen Einrichtungen im Sinne des Outreach-Gedanken zu ermöglichen. Ein Beispiel ist das bereits erwähnte Beteiligungsprojekt »The Moving Network – Empowerment & Participation« (www.the-moving-network.de). Hier werden Geflüchtete als Mitwirkende mit spezifischen Kompetenzen in Forschungsprojekte und konkrete kulturelle Projekte einbezogen (vgl. Wolfram 2015). Das setzt voraus, dass man Schulungen, Trainings und Mentoringprogramme anbietet, die solche Formen der Ermächtigung ermöglichen. Kulturmanagement

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und Kulturvermittlung erfahren hier also eine Entgrenzung, aber nicht im Sinne von Beliebigkeit. Themen der kulturellen Bildung wie etwa Zugänge zu schaffen zum Theater, zur Bildenden Kunst, zum Film, zur Literatur und zu Museen, aber auch zu neuen Angebotsformen im digitalen Bereich und zu künstlerischen Traditionen aus den Heimatländern der Geflüchteten bleiben im Mittelpunkt. Jedoch werden neue Beteiligte fokussiert. Und zentral steht die Bereitschaft von Institutionen, selbst zu lernen und sich zu verändern. Eindrucksvoll hat diesen Ansatz das Deutsche Historische Museum in Berlin unter Beweis gestellt. Bei ihrem kulturellen Bildungsangebot »Multaka: Treffpunkt Museum« führen syrische und irakische Geflüchtete in arabischer Sprache durch die Sammlungen. Insgesamt 19 Geflüchtete aus Syrien und dem Irak wurden im als Museums-Guides fortgebildet, um Landsleute in ihrer Muttersprache durch [die Ausstellungen] führen zu können. Der Titel des Projekts ist programmatisch: ›Multaka‹ bedeutet auf Arabisch ›Treffpunkt‹ und steht für den Austausch verschiedener kultureller und historischer Erfahrungen. Das Deutsche Historische Museum will den Geflüchteten eine Annäherung an die deutsche Kultur und Geschichte mitsamt ihrer Krisen und Erneuerungsbewegungen ermöglichen. Vor allem die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem sich anschließenden Wiederaufbau steht im Zentrum der Führungen. (https://www.dhm.de/bildung-vermittlung/)

Durch einen klugen Trainingsansatz werden Geflüchtete dazu ermächtigt, zu kulturellen Akteuren in Deutschland zu werden und aus ihrer Sicht deutsche Kulturgeschichte zu vermitteln. Das hat auch einen Einfluss auf die Communities, aus denen diese Menschen kommen und zu denen die im Museum gemachten Erfahrungen weiterkommuniziert werden. Dies kann ein erster Schritt sein, über konkrete Faktoren für ein gelingendes Equity-Management nachzudenken, bei dem es um konkrete Jobchancen für Migranten und Geflüchtete geht. Das Ergebnis wäre die Abbildung einer diversen, interkulturellen Gesellschaft in den festen Arbeitsstrukturen kultureller Einrichtungen.

Sichtbarkeit und Partizipation über digitale Plattformen ermöglichen Das Thema Digitalisierung gewinnt immer größere Relevanz im Kulturbereich, da es einerseits starken Einfluss auf die Kunstproduktion sowie -rezeption nimmt und andererseits neue Möglichkeiten der Kulturvermittlung bietet. Besonders in Kulturentwicklungsplanungen zeigen sich fast in jeder Stadt und Kommune ähnlich konkrete Anforderungen. Dabei geht es häufig zunächst und ganz grundsätzlich darum, wie die vielen existierenden physischen (Flyer etc.) und digitalen Informationen einer Region besser über ein Format gebündelt werden können. Des Weiteren existieren viele weitere Möglichkeiten wie die Einbindung von Social Media-Aktivitäten und spezifische Angebote wie die Organisation von Mitfahrgelegenheiten (gerade im ländlichen Raum wichtig) oder von »Mitgehbörsen«, wie sie in Ulm erstmalig in Deutschland erfolgreich realisiert wurde (vgl. https://www.mit

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gehboerse-ulm.de/) (Siehe hierzu auch das im Rahmen von Kulturentwicklungsprozessen in Thüringen (vgl. Föhl/Sievers 2015) entstandene Exposé zum Thema »Kommunikations- und Internetplattform Kultur für den ländlichen Raum«, www. kulturkonzept-hbn-son.de/fileadmin/_migrated/content_uploads/Expose___Kom munikationsplattform_Kultur_KEK-Prozesse_Dez2014_final.pdf). Zudem lassen sich digital sehr viel schneller »Interessen-Communities« aktivieren und für konkrete kulturelle Ziele ansprechen. Dies führt zu einer weiter gefassten Perspektive, auf die etwa der Digitalforscher Ayad Al-Ani in seinen Arbeiten zu digitalen Communities immer wieder hinweist: Es gibt nicht nur soziale und kommunikative Bedürfnisse, die Menschen dazu bringen, sich im Netz zu engagieren, sondern auch der Wunsch nach Sichtbarkeit, Beteiligung, Bedeutung und Sinn, die zu neuen Formen von sozialer und kommunikativer Kreativität, aber auch Solidarität führen (vgl. Al-Ani 2015). Aus Netz-Communities können so reale Gemeinschaften werden, wie etwa im genannten Projekt der Ulmer Mitgehbörse, oder auch auf der Website »art but fair« (www.artbutfair.org), die aus einer facebook-Initiative heraus entstand, Künstler miteinander verbindet, um für faire Gagen in der realen Kulturwelt zu streiten.

3. A usblick In vielen Kommunen und Städten besteht ein Bewusstsein für die Tatsache, dass viele der bisherigen kulturpolitischen Konzepte nicht mehr dafür geeignet sind, eine sich schnell wandelnde Welt mit neuen Formen kultureller Teilhabe zu gestalten. Grundsätzliche Fragen, welche Entgrenzungen der Kulturbegriff erfährt, wie die Verteilung von Kulturfördermitteln zeitgemäßer strukturiert werden kann und auf welche Weise Bürger/-innen hier an Entscheidungsprozessen beteiligt werden können, stehen zentral im Raum. Kulturentwicklungsprozesse können darauf eine demokratische Antwort geben. Je mehr Menschen mitentscheiden bzw. -diskutieren, sich verantwortlich fühlen und Kultur nicht als eine Angelegenheit von kleinen elitären Gruppen begreifen, desto größer ist die Chance, dem zum Teil drohenden Bedeutungsverlust kultureller Arbeit entgegen zu steuern. Angesichts so vieler unterschiedlicher sozialer Milieus innerhalb der deutschen Gesellschaft wäre es fahrlässig, nur auf die Ansprüche von Bildungseliten zu blicken, die häufig politisch wie zivilgesellschaftlich die Diskurse bestimmen. Kann also mit Hilfe von partizipativen Kulturentwicklungsplanungen eine »gerechtere« Verteilung öffentlicher Mittel für Kultur erreicht werden? Können solche Prozesse die demografischen Veränderungen in der Bevölkerung, z.B. durch Migration, berücksichtigen? Lässt sich hier gar von einem kompletten Neuansatz des Begriffes kultureller Bildung sprechen? Der Blick auf die Resultate von Kulturentwicklungsplanungen der vergangenen Jahre lässt ein vorsichtiges Ja auf diese Fragen zu. Herausforderung bleibt dabei, dass solche partizipativen Formate immer noch in gewisser Weise mit kulturpolitischen Traditionen in Deutsch-

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land kollidieren. »Communities« finden häufig andere Antworten, Einschätzungen, Zukunftsvisionen als von Eliten bestimmte Diskurse. Wenn etwa, wie oben beschrieben, Theater zu neuen »Ankerplätzen« werden, heißt das freilich auch, dass sie ihre Funktion als »Hort der Hochkultur« auf brechen. Das birgt immer auch Gefahren. Jedoch sind das reflexionsfähige Gefahren und Veränderungen. Das heißt, sie stehen in der Diskussion. Das Gegenteil davon wäre eine weitere Marginalisierung des Kulturbetriebes. Die hier genannten Aspekte sind, wie schon erwähnt, Schlaglichter auf eine Vielzahl von Maßnahmen, wie sie in Kulturentwicklungsplanungen gemeinsam diskutiert und erarbeitet werden. Es hätte den Rahmen des vorliegenden Beitrages gesprengt, hier auf alle relevanten Aspekte einzugehen. Was jedoch deutlich werden soll, ist die veränderte Perspektive kulturpolitischer Maßnahmen, nämlich nicht mehr nur in segmentierten Entscheidungen für den Kulturbereich zu denken, sondern in einem sehr viel breiteren Maße, »Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik« zu verstehen. Und als Herausforderung, in der Logik neuer Communities zu denken, als auch wieder Streit und Dialog über Veränderungen zuzulassen, der allzu lange in vielen kulturellen Szenen negiert wurde. Gerade in Zeiten neuer populistischer Parolen zur Bedeutung des »Deutschen« und der »Deutschen Kultur« kann eine innovative, auf neue Gruppendynamiken orientierte Kulturpolitik in Deutschland, auf regionaler wie nationaler Ebene, zeigen, dass ein zeitgemäßes Verständnis von kulturellem Leben in diesem Land auf Modellen der Beteiligung, Integration, Weltoffenheit, aber auch eines lebendigen Traditionsbewusstseins fußt. Modelle, die nicht durch Abgrenzung, sondern durch Einbeziehung möglichst vieler Akteure, Institutionen und Partner ihre Attraktivität gewinnen.

L iter atur Al-Ani, Ayad (2013): Widerstand in Organisationen. Organisationen im Widerstand: Virtuelle Plattformen, Edupunks und der nachfolgende Staat, Berlin. Baecker, Dirk (2013): »Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik?«, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2013, Thema: Kulturpolitik und Planung, Bonn/Essen, S. 29-42. Borwick, Doug (2012): Building communities, not audiences. The Future of the Arts in the United States, Winston-Salem. Föhl, Patrick S. (2010): »Gesellschaftliche Mitwirkung und Teilhabe bei Planungs- und Entscheidungsprozessen: Governance-Aspekte einer zeitgemäßen Museumspolitik«, in: Matthias Dreyer/Rolf Wiese (Hg.), Das offene Museum. Rolle und Chancen von Museen in der Bürgergesellschaft, Ehestorf, S. 123-146. Föhl, Patrick S./Künzel, Alexandra (2014): »Kulturbeiräte als Instrument konzeptbasierter und beteiligungsorientierter Kulturpolitik. Formen, Potenziale und

Par tizipative Kulturentwicklungsplanung

Herausforderungen«, in: Friedrich Loock/Oliver Scheytt (Hg.), Handbuch Kulturmanagement und Kulturpolitik, Berlin u.a., Kap. B 1.12. Föhl, Patrick S./Pröbstle, Yvonne (2013): »Co-operation as a central element of cultural tourism: A german perspective«, in: Melanie Smith/Greg Richards (Hg.), The Routledge Handbook of Cultural Tourism, London; New York, S. 75-83. Föhl, Patrick S./Sievers, Norbert (2015): Transformation kooperativ gestalten. Kulturentwicklungsplanung in den Modellregionen Kyff häuserkreis/Landkreis Nordhausen und Landkreis Hildburghausen/Landkreis Sonneberg. Broschüre. Herausgegeben von der Thüringer Staatskanzlei, Erfurt. Föhl, Patrick S./Sievers, Norbert (2013): »Kulturentwicklungsplanung. Zur Renaissance eines alten Themas der Neuen Kulturpolitik«, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2013, Essen/Bonn, S. 63-82. Föhl, Patrick S./Wolfram, Gernot (2016): »Transformation und Community Building. Neue Denk- und Handlungsansätze in der Praxis von Kulturentwicklungsprozessen«, in: Kulturpolitische Mitteilungen, H. 152 (I/2016), S. 30-33. Föhl, Patrick S./Wolfram, Gernot/Peper, Robert (2016): »Cultural Managers as ›Masters of Interspaces‹ in Transformation Processes – a Network Theory Perspective«, in: Journal of Cultural Management. Arts, Economics, Policy, Vol. 2 2016/1, S. 17-49 Holtkamp, Lars/Bogumil, Jörg/Kißler, Leo (2006): Kooperative Demokratie: Das politische Potenzial von Bürgerengagement, Frankfurt a.M. Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.) (2013): Jahrbuch für Kulturpolitik 2013. Thema: Kulturpolitik und Planung, Essen/Bonn. Kuyl, Ivo (2011): »Vom Nationaltheater zur städtischen Plattform«, in: Heiner Goebbels/Josef Mackert/Barbara Mundel (Hg.) (2011), HEART OF THE CITY. Recherchen zum Stadttheater der Zukunft. Arbeitsbuch 2011, Berlin: Theater der Zeit, S. 116-122. Terkessidis, Mark (2015): Kollaboration, Frankfurt a.M. Wolfram, Gernot (Hg.) (2012): Kulturmanagement und Europäische Kulturarbeit, Bielefeld. Wolfram, Gernot (2015): »Audience Empowerment – ein Plädoyer für einen angemessenen Umgang mit der Flüchtlingsthematik im Kulturmanagement«, in: Kultur und Management im Dialog. Das Monatsmagazin von Kulturmanagement Network, Nr. 101 (Mai 2015), S. 5-11. Wolfram, Gernot/Föhl, Patrick S. (2015): »Creative Europe 2014 – 2020. Ökonomisierung von Kultur oder Öffnung neuer Zwischenräume für die Kulturszenen?«, in: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch für Kulturpolitik 2014. Thema: Neue Kulturförderung, Essen/Bonn, S. 295-302.

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Autorinnen und Autoren

Vera Allmanritter ist studierte Politikwissenschaftlerin und Kulturmanagerin. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim und am Jüdischen Museum Berlin sowie selbstständige Kulturmanagerin. Aktuelle Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind (internationales) Kulturmanagement, Audience Development und Kulturbesucherforschung. Sie promoviert an der PH Ludwigsburg zu »Audience Development in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund«. Esther Bishop ist als wissenschaftliche Referentin von Albert Schmitt bei der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen tätig. Einem zunächst künstlerischen Abschluss als Diplom Oboistin folgte die Teilnahme an »Concerto 21«, der Akademie zur Entwicklung innovativer Konzertformate. Sie ergänzte die musikalische Hochschulbildung durch ein Masterstudium in Communication and Cultural Management an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Dort ist sie auch zum jetzigen Zeitpunkt wissenschaftliche Mitarbeiterin von Prof. Martin Tröndle am Würth Chair of Cultural Production. Ihr besonderes Interesse gilt der wissenschaftlichen Evaluation der tertiären Bildung von Musikern. In diesem Zusammenhang berät sie das deutschlandweite Netzwerk Musikhochschulen. Özlem Canyürek graduated from the Sociology department at Istanbul University. She completed her MA at Istanbul Bilgi University on Cultural Management with a thesis on »Shopping Malls as Cultural Spaces«. She is currently a PhD candidate in the Cultural Policy department at Hildesheim University. Her research interests include access to and participation in culture. Christoph Deeg ist ein national und international tätiger Berater und Speaker in den Bereichen Social Media, Gaming/Gamification und Digitale Strategien. Er beschäftigt sich zudem mit der Entwicklung digital-analoger Kulturvermittlungs-Räume, die auf den Mechaniken und Konzepten von Computergames basieren. Er ist Autor des Buches »Gaming und Bibliotheken«, Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim sowie Gründer des Netzwerkes »games4culture«.

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Teilhabeorientier te Kultur vermittlung

Lea Fink ist künstlerisch-pädagogische Leiterin des »Zukunftslabors« der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Ihr besonderes Interesse gilt großangelegten, partizipativen Projekten und der Vermittlung zeitgenössischer Musik. Nach dem Studium von Klavier und Musiktheorie in Rostock, Boston und Wien initiierte sie Musiktheaterproduktionen in der freien Szene, war Stipendiatin der Masterclass on Music Education der Körber-Stiftung und kam dann als »Musikvermittlerin« ans Gewandhaus zu Leipzig. Für Konzerteinführungen und andere interaktive Publikumsformate ist sie regelmäßig bei Festivals und anderen Orchestern zu Gast. Stefan Fischer-Fels studierte Schauspiel, Erziehungswissenschaften, Soziologie und Psychologie. Er war 2011 bis 2016 Künstlerischer Leiter am Grips Theater Berlin und ist seit Sommer 2016 Künstlerischer Leiter des Jungen Schauspiel/ Bürgerbühne am Düsseldorfer Schauspielhaus. Er ist Mitbegründer der Initiative »My right is your right«, das sich für die Rechte geflüchteter Menschen einsetzt. Als stellvertretender Vorsitzender der Assitej Deutschland und Vizepräsident der internationalen Assitej, dem weltweiten Netzwerk der Theater für junges Publikum, engagiert er sich für das Recht von Kindern auf Kunst und kulturelle Beteiligung. Bill Flood is instructor for courses including Community Cultural Development and Arts Participation and Evaluation at the University of Oregon Arts Administration Program (https://aad.uoregon.edu). He is a consultant (www.billflood.org) and has worked with Dr. Patrick S. Föhl and the Netzwerk Kulturberatung (www. netzwerk-kulturberatung.de) on cultural development projects in Germany. Primary areas of expertise: community cultural development, cultural planning, equity, evaluation. Dr. phil. Patrick S. Föhl ist Gründer und Leiter des Netzwerks Kulturberatung in Berlin. Er ist ein international anerkannter Kulturentwicklungsplaner und Kulturmanagement-Trainer. Sein Ansatz zeichnet sich durch die Kombination von partizipativen Ermächtigungsprozessen mit fundierten Analysenverfahren aus. Kulturentwicklungsverfahren verantwortet er unter anderem für die Metropolregion Rhein-Neckar, die KulturRegion Stuttgart, die Landkreise Euskirchen, Ostprignitz-Ruppin, Kyff häuserkreis/Nordhausen, Hildburghausen/Sonneberg, Havelland sowie die Städte Düsseldorf, Ulm, Plovdiv, Potsdam, Dessau-Roßlau und Neuruppin. Zugleich arbeitet er an anderen Transformationsprojekten (z.B. Theaterhybrid Theater Oberhausen/Ringlokschuppen Mülheim, Road-Map nachhaltige Kulturentwicklung in der Ukraine) und Evaluationsverfahren (z.B. Spielstättenprogrammpreis des BKM). Seit 1996 hat er zudem in verschiedenen Kultureinrichtungen gearbeitet oder beraten (u.a. Stiftung Schloss Neuhardenberg, Klassik Stiftung Weimar) (vgl. netzwerk-kulturberatung.de ).

Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Max Fuchs ist Erziehungs- und Kulturwissenschaftler und hat eine Honorarprofessur für Erziehungswissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Er war lange Jahre Direktor der Akademie Remscheid für kulturelle Kinder- und Jugendbildung (1998-2013) sowie Präsident des deutschen Kulturrates (20012013). Aktuelle Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind kulturelle Schulentwicklung und Ästhetik – Moderne – Subjektgenese. Alexander Henschel ist Kunstvermittler in Theorie und Praxis. Von 2008 bis 2010 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, seit 2010 ist er am Institut für Kunst und Visuelle Kultur der Universität Oldenburg beschäftigt. Seit 2011 ist er am Promotionskolleg »Art-Education« als Doktorand beteiligt. Der Begriff der Vermittlung im Kunstkontext sowie Vermittlung als ästhetische Praxis sind dabei Schwerpunkte in Lehre und Forschung. Prof. Dr. Barbara Hornberger ist Kulturwissenschaftlerin mit dem Forschungsschwerpunkt Populäre Kultur und Musik. Sie war von 2006 bis 2016 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur und ist nun Professorin für die Didaktik Populärer Musik an der Hochschule Osnabrück. Ihre aktuellen Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Populäre Musik und ihre Inszenierungen, die Kulturgeschichte des Populären und die Didaktik des Populären. Prof. Dr. Susanne Keuchel ist promovierte Musikwissenschaftlerin, war lange Jahre geschäftsführende Direktorin des Zentrums für Kulturforschung (ZfKf) und ist seit Dezember 2013 Direktorin der Akademie Remscheid für Kulturelle Bildung e.V. Sie ist zudem Honorarprofessorin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim sowie Dozentin an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Hamburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte und Publikationsthemen sind neben der empirischen Kulturbesucherforschung die Anwendung neuer Technologien im Kulturbereich und die kulturelle Bildung. Sie ist unter anderem Mitherausgeberin der Publikationen »Kulturelle Bildung in Deutschland« sowie Autorin des Buches »Kulturelle Bildung in der Ganztagsschule« von 2007. Prof. Ulrich Khuon studierte an der Universität Freiburg und machte dort das Staatsexamen in Jura, Germanistik und Theologie. Ab 1977 arbeitete er zunächst als Theater und Literaturkritiker bei der Badischen Zeitung. Seine Theaterarbeit begann er 1980 als Chefdramaturg und ab 1988 als Intendant am Stadttheater Konstanz. 1993 wechselte Ulrich Khuon an das Niedersächsische Staatsschauspiel Hannover und wurde 1997 zum Professor an der Hochschule für Musik und Theater Hannover ernannt. Seit 1998 ist er Jurymitglied für den Else-Lasker-Schüler-Preis, seit 1999 Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste. Mit Beginn der Spielzeit 2000/01 wechselte er als Intendant an das Thalia

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Teilhabeorientier te Kultur vermittlung

Theater Hamburg. Ulrich Khuon ist seit 2011 Vorsitzender der Intendantengruppe im Deutschen Bühnenverein. Seit September 2009 ist er Intendant des Deutschen Theaters Berlin und seit 2013 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Darstellende Kunst. Im Oktober 2013 wurde ihm von der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger der Max-Reinhardt-Ring verliehen. Barrie Kosky ist in Melbourne geboren und aufgewachsen. Er ist seit 2012 Intendant und Chefregisseur an der Komischen Oper Berlin sowie Schauspiel- und Musiktheaterregisseur. So inszenierte er u.a. an der Bayerischen Staatsoper in München, der Oper Frankfurt, der English National Opera London und dem Opernhaus Amsterdam sowie an Schauspielhäusern wie dem Deutschen Theater Berlin und dem Schauspiel Frankfurt. 1996 war er Künstlerischer Leiter des Adelaide Festivals, von 2001 bis 2005 Ko-Direktor des Wiener Schauspielhauses. Für seine Inszenierung von »Aus einem Totenhaus« an der Staatsoper Hannover erhielt er 2009 den Theaterpreis »Der Faust«, für seine Inszenierung von »Castor und Pollux« an der English National Opera 2011 den »Laurence Olivier Award«. Miriam Kremer hat in Heidelberg Klassische Archäologie und Kunstgeschichte studiert und anschließend ein Auf baustudium im Bereich Kulturmanagement am Institut für Kultur- und Medienmanagement Berlin absolviert. Seit 2010 ist Miriam Kremer als Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei KulturLeben Berlin tätig. Birgit Lengers studierte Theater-, Film-, Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis in Köln und Hildesheim. Von 1997 bis 2002 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hildesheim. Nach sechsjähriger Zusammenarbeit mit dem Regisseur Thorsten Lensing (THEATER T1) arbeitete sie als Dramaturgin bei German Theater Abroad (GTA), wo sie u.a. transatlantische Festivals und Theaterprojekte wie »Stadttheater New York« (New York) und »Road Theater USA« (USA/Berliner Festspiele/Heidelberger Stückemarkt/Düsseldorfer Schauspielhaus) konzeptionierte und realisierte. Sie ist Gastdozentin an der Universität der Künste in Berlin und an weiteren Hochschulen, außerdem Moderatorin beim Theatertreffen der Berliner Festspiele sowie Jurorin beim Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin und beim Heidelberger Stückemarkt. Sie veröffentlichte Beiträge u.a. in »Text + Kritik«, »Theater der Zeit«, »Die Deutsche Bühne« und »Korrespondenzen«. Birgit Lengers ist stellvertretende Vorsitzende der Dramaturgischen Gesellschaft (dg). Seit der Spielzeit 2009/10 leitet sie das Junge DT in Berlin. Dr. Lutz Liffers ist Soziologe, Kultur- und Bildungsmanager. Er ist Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Einrichtung Kultur Vor Ort e.V., die seit zwanzig Jahren in Bremen-Gröpelingen im Schnittfeld von Kulturarbeit, Stadtentwicklung und Stadtteilmarketing kulturelle Bildung als Entwicklungsressource für den internationalen Stadtteil betreibt. Zurzeit leitet er bei der Deutschen Kinder- und

Autorinnen und Autoren

Jugendstiftung (Berlin) die Transferagentur für Großstädte, die Kommunalverwaltungen beim Aufbau einer systematischen und kohärenten kommunalen Bildungslandschaft berät. Prof. Dr. Birgit Mandel leitet den Studienbereich Kulturvermittlung und Kulturmanagement im Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim sowie den Masterstudiengang Kulturvermittlung. Sie verantwortet Forschungsprojekte in den Bereichen Kulturnutzerforschung, Audience Development, Kulturvermittlung, Kultur-PR, (internationales) Kulturmanagement und Kulturpolitik. Birgit Mandel ist Vize-Präsidentin der Kulturpolitischen Gesellschaft, Gründungsmitglied des Fachverbands für Kulturmanagement in Forschung und Lehre Deutschland, Österreich und Schweiz, Kuratoriumsmitglied der Commerzbank-Stiftung, Aufsichtsratsmitglied der Kulturprojekte Berlin, Beiratsmitglied der Publikationsreihe zur kulturellen Bildung im KopädVerlag (u.a. Handbuch Kulturelle Bildung). Sie ist Herausgeberin der Forschungsplattform kulturvermittlung-online.de sowie Autorin zahlreicher Publikationen u.a. »Interkulturelles Audience Development« (Bielefeld 2013), »Tourismus und kulturelle Bildung« (München 2012), »PR für Kunst und Kultur« (Bielefeld 2012), »Jahrbuch für Kulturmanagement« (im Auftrag des Fachverbandes für Kulturmanagement, Bielefeld 2009-2013), »Audience Development, Kulturmanagement, Kulturelle Bildung. Konzeptionen und Handlungsfelder der Kulturvermittlung« (München 2008). Angela Meyenburg hat Kommunikations- und Medienwissenschaften in Bologna und Hamburg studiert. 2005-2007 war sie für Discovery Channel und Antenna Audio GmbH international als Projektleitung in den Bereichen (multi-)mediale Kulturvermittlung und Organisations-/Personalentwicklung tätig. 2010 gründete sie KulturLeben Berlin (unter altem Namen) und ist bis heute Geschäftsführerin des gemeinnützigen Vereins. Eleonora Redaelli is assistant professor at University of Oregon. After working for public and private institutions in the cultural sector in Italy, she received her PhD at The Ohio State University and taught in the Arts Management program at University of Wisconsin-Stevens Point. She specializes in cultural policy, cultural planning, and arts management education. Her works appear in International Journal of the Arts in Society, City, Culture and Society, Urban Affairs Review, Cultural Trends and Journal of Arts Management, Law and Society, Journal of Planning Education and Research, and Urban Geography. In 2015, Palgrave published her book »Arts Management and Cultural Policy Research,« co-authored with Jonathan Paquette. Dr. phil. Thomas Renz ist Kultur- und Sozialwissenschaftler und Musiker. Er lehrt und forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturpolitik

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Teilhabeorientier te Kultur vermittlung

der Universität Hildesheim und befasst sich schwerpunktmäßig mit empirischer Kulturforschung, besonders mit Besuchern öffentlich geförderter Kultureinrichtungen in Deutschland. Nach Abschluss seiner Promotion bei Birgit Mandel und Max Fuchs über kulturelle Teilhabe und Nicht-Besucherforschung hat er in der »jazzstudie2016« erstmalig die Arbeitsbedingungen von Jazzmusikern in Deutschland empirisch untersucht. Zudem ist er Mitherausgeber des »Reports Kirche und Musik«, einer empirischen Studie zur Situation und Zukunft von Kirchenmusikern. Neben zahlreichen Veröffentlichungen zu kulturmanagerialen und kulturpolitischen Fragen ist er Mitherausgeber der Forschungsplattform kulturvermittlung-online.de sowie der Begleitforschung zum Programm »Kulturagenten für kreative Schulen«. Jens Schmidt  ist Klangkünstler und Student der Kulturvermittlung und Musik (MA) an der Universität Hildesheim. Seit 2014 entwickelt er interaktive Klanginstallationen, die Klangkunst und Musikvermittlung miteinander verbinden u.a. in Kooperation mit dem Musikland Niedersachsen, dem Gürzenichorchester Köln, dem Nikolaisaal Potsdam und diversen Musikfestivals. Im Rahmen des Masters forscht er an interaktiven Musikformaten unterschiedlicher Art. Neben musikalischen Workshops experimentiert er auch in klanglich-intermedialen Performances mit der Rolle und Aktivität des Publikums. Albert Schmitt, Manager, Musiker, Referent und Autor, ist seit 1999 Managing Director der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Unter seiner Leitung erfolgte die strategische Neuausrichtung der Kammerphilharmonie und der Aufstieg in die Weltspitze. Den Erfolg belegen zahlreiche Preise u.a. der Ehrenund Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik, diverse »Echo Klassik«, der »Deutsche Gründerpreis« in der Kategorie »Sonderpreis für besondere unternehmerische Leistungen« und der »zukunfts|award«. Als Co-Autor des Buches »Hochleistung braucht Dissonanz«, ist er ein gefragter Referent und berät neben namhaften Orchestern im In- und Ausland, auch Institutionen aus Wirtschaft, Politik, Bildungswesen, Kirche sowie Wissenschaft. Anne Torreggiani ist seit zehn Jahren geschäftsführende Direktorin und Gründerin von The Audience Agency (TAA), eine nationale Nonprofit-Organisation, die den Arts Council England dabei unterstützt, eine größere und vielfältigere Publikumsbeteiligung zu entwickeln. TAA ist eine Agentur, die Forschung, Beratung und Training im Feld des Audience Developments durchführt für Kunstund Kulturinstitutionen aller Sparten. Dabei ist sie v.a. spezialisiert auf das Erreichen neuer Zielgruppen für kulturelle Angebote. Anne Torreggiani verfügt über 20-jährige Erfahrung im Bereich Kulturvermittlung als Marketingleitung verschiedener Kulturinstitutionen (u.a. Stratford East, West Yorks Playhouse und LIFT) sowie als Beraterin von Kulturinstitutionen und Kulturpolitik. Der Arts Council England unterstützt die von ihm geförderten Kultureinrichtungen mit

Autorinnen und Autoren

Fortbildungen und Beratungen und kooperiert dabei mit diversen Audience Development Agenturen. Darüber hinaus führt der Arts Council immer wieder Modell-Programme durch, die Kultureinrichtungen unterstützen und neue Wege der Publikumsgewinnung erproben. Prof. Dr. phil. Gernot Wolfram ist Professor für Medien- und Kulturmanagement an der Hochschule Macromedia Berlin. Er war an vielen Kulturentwicklungsplanungen unter Leitung von Dr. Patrick S. Föhl beteiligt. Seine Expertise liegt vor allem auf Konzepten der kulturellen Teilhabe von Geflüchteten, Minderheitengruppen und digitaler Partizipation. Er ist Leiter des Forschungsprojektes »The Moving Network – Kulturelle Teilhabe für Geflüchtete«, Vorsitzender des Vereins Board of Participation – Verein für kulturelle Bildung und Partizipation e.V. und seit 2000 ständiger Fachreferent für Kultur und Interkulturalität an der Bundeszentrale für politische Bildung Berlin. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zum internationalen Kulturmanagement und Ermächtigungsprozessen innerhalb der kulturellen Bildung soweit seit 2009 externer Fachreferent für Kultur und Interkulturalität im Team Europe der Europäischen Kommission in Deutschland. Er hat zahlreiche Lehraufträge im In- und Ausland. Mehr Infos zur Fragen neuer Formen der kulturellen Bildung auf the-moving-network.de und boardofparticipation.de Prof. Dr. Wolfgang Zacharias, geb. 1941, ist Kunst- und Kulturpädagoge. Nach einigen Jahren Schulpraxis im Auftrag der Stadt München und im Kontext der Initiative »Pädagogische Aktion« wirkte er mit beim Auf- und Ausbau kulturpädagogischer kommunaler Infrastrukturen, vom Spielmobil bis Kindermuseum. Er war viele Jahre Vorstandsmitglied des Bundesverbands Jugendkunstschulen (BJKE), der Kulturpolitische Gesellschaft (KUPOGE), der Bundesvereinigung kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) u.a. Er ist Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen z.B. Mitherausgeber »Handbuch Kulturelle Bildung«, kopaed München 2012. Seit 2006 ist er im Unruhestand.

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Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Patrick S. Föhl, Patrick Glogner Kulturmanagement als Wissenschaft Überblick – Methoden – Arbeitsweisen. Einführung für Studium und Praxis März 2017, ca. 150 Seiten, kart., ca. 14,99 €, ISBN 978-3-8376-1164-9

Armin Klein, Yvonne Pröbstle, Thomas Schmidt-Ott (Hg.) Kulturtourismus für alle? Neue Strategien für einen Wachstumsmarkt März 2017, ca. 330 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3528-7

Carl Christian Müller, Michael Truckenbrodt Handbuch Urheberrecht im Museum Praxiswissen für Museen, Ausstellungen, Sammlungen und Archive Januar 2017, ca. 200 Seiten, kart., ca. 25,99 €, ISBN 978-3-8376-1291-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Martin Tröndle Die reflexive Kulturorganisation Theorie und Praxis des integrierten Kulturmanagements (unter Mitarbeit von Julian Stahl) Dezember 2016, ca. 220 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2918-7

Andrea Hausmann (Hg.) Handbuch Kunstmarkt Akteure, Management und Vermittlung 2014, 480 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2297-3

Ina Roß Wie überlebe ich als Künstler? Eine Werkzeugkiste für alle, die sich selbst vermarkten wollen 2013, 192 Seiten, kart., zahlr. Abb., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2304-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement Carsten Baumgarth, Berit Sandberg (Hg.) Handbuch Kunst-UnternehmensKooperationen Februar 2016, 476 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3026-8

Simon A. Frank Kulturmanagement und Social Media Neue interdisziplinäre Perspektiven auf eine User-generated Culture im Kulturbetrieb 2015, 286 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3375-7

Thomas Renz Nicht-Besucherforschung Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development 2015, 324 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3356-6

Nora Wegner Publikumsmagnet Sonderausstellung – Stiefkind Dauerausstellung? Erfolgsfaktoren einer zielgruppenorientierten Museumsarbeit 2015, 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3229-3

Siglinde Lang Partizipatives Kulturmanagement Interdisziplinäre Verhandlungen zwischen Kunst, Kultur und Öffentlichkeit 2015, 242 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3083-1

Reinhold Knopp, Karin Nell (Hg.) Keywork4 Ein Konzept zur Förderung von Partizipation und Selbstorganisation in der Kultur-, Sozial- und Bildungsarbeit 2014, 350 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2679-7

Susan Kamel, Christine Gerbich (Hg.) Experimentierfeld Museum Internationale Perspektiven auf Museum, Islam und Inklusion 2014, 482 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2380-2

Klaus Georg Koch Innovation in Kulturorganisationen Die Entfaltung unternehmerischen Handelns und die Kunst des Überlebens 2014, 398 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2621-6

Christiane Schrübbers (Hg.) Moderieren im Museum Theorie und Praxis der dialogischen Besucherführung 2013, 256 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2161-7

Lorraine Bluche, Christine Gerbich, Susan Kamel, Susanne Lanwerd, Frauke Miera (Hg.) NeuZugänge Museen, Sammlungen und Migration. Eine Laborausstellung 2013, 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2381-9

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis bei transcript Maren Ziese, Caroline Gritschke (Hg.)

Geflüchtete und Kulturelle Bildung Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld

Oktober 2016, 448 S., kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3453-2 E-Book: 26,99 € Wie können Menschen, die auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung, Hunger und wirtschaftlicher Not in Deutschland ankommen, ihre Rechte auf Bildung und gesellschaftliche Teilhabe wahrnehmen? Was sind geeignete Formate der Kulturellen Bildung, um auf die Realität der Geflüchteten aufmerksam zu machen und um Vernetzung und Solidarisierung herzustellen? Die Beiträge des Bandes gehen diesen Fragen nach und zeigen: Die Kulturelle Bildung ist ein Feld, in dem viele ambitionierte Projekte mit Geflüchteten realisiert werden. Das Phänomen Flucht bietet so Möglichkeiten für eine macht- und differenzsensible Veränderung von Kultur- und Bildungsinstitutionen und eröffnet Chancen für die Revision etablierter Handlungsroutinen.

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