Selber machen: Diskurse und Praktiken des »Do it yourself« 9783839433508

`Do it yourself'? - DIY is a practice with shifting conjunctures and slogans. This volume attempts to provide a cri

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German Pages 352 Year 2017

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Selber machen: Diskurse und Praktiken des »Do it yourself«
 9783839433508

Table of contents :
Inhalt
Do it! Yourself?
Zeitpunkte und -
Anleitung zum Selbermachen
Die Axt im Haus
Handarbeits-
Die Wiener Handarbeit als nationales Leitbild
Die Wiederentdeckung(en) der Handspinnerei
Eigenbau-
Das Ausbleiben einer Revolution
Computerclubs und Flüchtlingslager
Vorgelagerte Selbstermächtigung
Nischen-
Agrarlust in der Stadt
Historisches Wissen als Ressource
Vieldeutiges Selbermachen im Bergtal
DIY-
Do it … with Rubbish
Perspektivierungen
Bei Bedarf und nach Lust und Laune
›Weibliches‹ Handarbeiten – (anti-
Autorinnen und Autoren

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Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.) Selber machen

Edition Kulturwissenschaft | Band 90

2017-03-01 13-10-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0209454736702040|(S.

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4) TIT3350.p 454736702048

2017-03-01 13-10-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0209454736702040|(S.

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Nikola Langreiter, Klara Löffler (Hg.)

Selber machen Diskurse und Praktiken des »Do it yourself«

2017-03-01 13-10-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0209454736702040|(S.

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4) TIT3350.p 454736702048

Mit freundlicher Unterstützung von:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

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2017-03-01 13-10-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0209454736702040|(S.

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Inhalt  

Do  it!  Yourself?     Fragen  zu  (Forschungs-­)Praktiken  des  Selbermachens   Nikola Langreiter und Klara Löffler | 7      

ZEITPUNKTE  UND  -­LINIEN   Anleitung  zum  Selbermachen.  Do  it  yourself,  Normen     und  soziale  Ordnungsvorstellungen  in  der  Industriemoderne   Reinhild Kreis | 17 Die  Axt  im  Haus.  Heimwerken  –  die  ›Verbürgerlichung‹     des  Selbermachens  in  den  1960er  Jahren   Jonathan Voges | 35

HANDARBEITS-­/TECHNIKEN    

 

Die  Wiener  Handarbeit  als  nationales  Leitbild   Lisbeth Freiß | 59 Die  Wiederentdeckung(en)  der  Handspinnerei.   Verhandlungen  von  Geschichte  und  Geschlecht Ines Peper | 81 Eigenbau-­Musikinstrumente  als  Elemente  der  Selbstdarstellung   Bernhard Fuchs | 107 Das  Ausbleiben  einer  Revolution.  Anmerkungen  zum  Verhältnis   von  Maker  Movement  und  Do-­it-­yourself-­Praktiken     anhand  des  3D-­Druckers   Christian Schönholz | 131

  Computerclubs  und  Flüchtlingslager.     Ein  Diskussionsbeitrag  zur  Forschungs-­  und  Bildungsarbeit     aus  praxistheoretischer  Perspektive Oliver Stickel, Konstantin Aal, Marén Schorch, Dominik Hornung, Alexander Boden, Volker Wulf und Volkmar Pipek | 149

Vorgelagerte  Selbstermächtigung.   Autoethnografie  einer  dinglich-­digitalen  Bastelübung     Benjamin Eugster und Richard Schwarz | 171

NISCHEN-­/ÖKONOMIEN   Agrarlust  in  der  Stadt.   Praxen  und  Selbstdeutungen  im  Kontext  von  Urban  Farming   Peter F. N. Hörz | 197 Historisches  Wissen  als  Ressource.  Wie  das  urbane  Kreativmilieu  mit   Vergangenheit  Zukunft  (selbst-­)macht   Michaela Fenske | 221 Vieldeutiges  Selbermachen  im  Bergtal.  Kulturelle,  ökonomische     und  individuelle  Praktiken  des  Maskenschnitzens     Konrad Kuhn und Werner Bellwald | 245 DIY-­Möbel.  Designstrategien  zwischen     alternativen  Lebensstilen  und  Warenästhetik   Sebastian Hackenschmidt | 269 Do  it  ...  with  Rubbish.   Zum  Wechselverhältnis  von  Do  it  yourself  und  Abfall(-­diskurs)   Sonja Windmüller | 287

PERSPEKTIVIERUNGEN   Bei  Bedarf  und  nach  Lust  und  Laune.   Das  Selbermachen  in  den  Relationen  der  Lebensführung   Klara Löffler | 309 ›Weibliches‹  Handarbeiten  –  (anti-­)feministisch!?   Nikola Langreiter | 329 Autorinnen  und  Autoren    |  347  

Do  it!  Yourself?   Fragen  zu  (Forschungs-­)Praktiken  des  Selbermachens   N IKOLA L ANGREITER UND K LARA L ÖFFLER

Satzzeichen, so mahnt Theodor W. Adorno, sind Verkehrssignale. Ausrufezeichen – rund um Selbermachen und DIY gegenwärtig besonders beliebt – sind fragwürdig, da mit diesen »der Schriftsteller [dazu zählen auch wissenschaftliche Schreiberinnen und Schreiber] von außen her einen Nachdruck zu setzen versucht, den die Sache selbst nicht ausübt«.1 Wir halten es dagegen mit dem Fragezeichen. Schon die im Frühjahr 2015 veranstaltete Tagung »Do it! Yourself? Fragen zu (Forschungs-)Praktiken des Selbermachens«2 stand unter diesem Vorzeichen. Unser Ausgangspunkt war die kritische Revision zum einen die von Mythologisierungen des derzeit in so vielen unterschiedlichen diskursiven Feldern so intensiv wie indifferent besprochenen Phänomens, zum anderen der bisherigen Forschung zum Thema – mit dem Ziel, Fragen und Perspektiven, Methoden und Theorien zu erweitern, um bislang eher vernachlässigte Aspekte des Selbermachens empirisch fundiert analysieren und in ihrer Vielfalt und Vieldeutigkeit interpretieren zu können. Dabei wollten und wollen wir das Thema DIY als heuristische Chance verstanden wissen, denn in der konkreten, sozial differenzierenden Betrachtung der spezifischen Praktiken, die auch die historische Dimension und ökonomische Si-

1

Adorno, Theodor W.: Satzzeichen [1956]. In: Ders.: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 2003 (8. Aufl.), S. 106–113, 108.

2

5.–7.3.2015, Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien; mit Unterstützung des Dekanats der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7) sowie der MA 57 – Frauenförderung und Koordinierung von Frauenangelegenheiten der Stadt Wien.

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tuation einbezieht, zeigt sich meist rasch die Fragwürdigkeit der in Zusammenhang des Selbermachens gängigen binären Oppositionen wie Arbeit und Freizeit, Hand- und Kopfarbeit, formeller und informeller Ökonomie, privat und öffentlich, funktional und ästhetisch und vor allem männlich und weiblich. Der vorliegende Band setzt sich aus Tagungsbeiträgen und ergänzenden Texten zusammen. Sie alle stehen für die systematische Nachfrage und für erfreulich uneindeutige, vielschichtige Ergebnisse dieses Fragens. Dabei ist der Radius des Blicks der jeweiligen, aus verschiedenen Disziplinen kommenden, AutorInnen sehr unterschiedlich. Ihre Perspektivierungen und Zugangsweisen variieren – gerade deshalb sind die hier versammelten Beiträge sehr gut geeignet, die wissenschaftliche und allgemeiner: die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf Erscheinungen des Handarbeitens, Haus- und Landwirtschaftens, Selberbauens und Konstruierens in (zuvorderst oder auch zunächst) nichtprofessionellen und nichtkommerziellen Formen auf die Wechselbeziehungen zwischen kulturellen Techniken und Ordnungen und sozialen Lebenswelten sowie auf die Interdependenzen zwischen Diskursen und Praktiken zu lenken. Eine solche Bestandsaufnahme liegt quer zu den (markt-)gängigen Texten und Bildern zu DIY. Der bislang bevorzugte kultur- und sozialwissenschaftliche Zugang ist diskursanalytisch, die bevorzugten Forschungsfelder sind sichtbar, expressiv. Nicht selten analysieren und kommentieren gerade auch WissenschaftlerInnen, die in der Kunst- und Medienszene selbst als Craftistas aktiv sind, jene Diskurse die sie als wissenschaftliche wie journalistische AutorInnen und KuratorInnen selbst erzeugen und popularisieren. DIY ist Praxis und Forschungsgegenstand in einer Schnittmenge zahlreicher Interessen und dementsprechend auch vielfältiger Praktiken – sowohl der Aneignung und Produktion wie der Forschung und Reflexion. So wenig sich Phänomene des Selbermachens entweder als Diskurse oder als Praktiken klassifizieren lassen, so wenig lassen sich die einzelnen Beiträge dieses Bandes und deren Thesen in eine einsinnige Ordnung bringen. Wir haben, angeregt von Adornos Überlegungen zu Satzzeichen, eine provisorische Ordnung vorgenommen, in der die Kombination von Binde- und Schrägstrichen auf Mehrdeutigkeiten, auf Trennungen ebenso wie auf Zusammenhänge verweist.

D IE   B EITRÄGE  DIESES   B ANDES   Es ist die Auseinandersetzung um den »richtigen Gebrauch« von Zeit, so Reinhild Kreis in ihrem Beitrag, der der historischen Pädagogisierung des Selbermachens im deutschsprachigen Raum nachgeht. Entlang der Analysen von Programmen

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und Anleitungen unterschiedlicher institutioneller und medialer Ebenen arbeitet die Historikerin heraus, dass es gerade die Reformen der Arbeitswelten und die Erweiterung von Freizeiten im ausgehenden 19. Jahrhundert bis hinein in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert sind, die dazu führten, dass das Heimwerken von Jungen und Männern wie das Kochen von Mädchen und Frauen zum Instrument pädagogischer Bemühungen um die Disziplinierung zu einem sinnvollen Umgang mit Zeit wurde. Praktiken des Selbermachens zuhause, im Kreis der Familie, und deren Ergebnisse sollten eine solche Sinnstiftung garantieren. Auch für Jonathan Voges stehen Aspekte der gesellschaftlichen Indienstnahme des Selbermachens im Vordergrund seiner Studie über das DIY der 1960er Jahre in Deutschland: Der Historiker zeigt Beispielen auf, wie im Zusammenspiel von ersten DIYZeitschriften, Herstellern und Anbietern von Werkzeugen und Materialien und Pädagogen über das Heimwerken der bürgerliche Tugendkanon – gegen Freizeitpraktiken der Zerstreuung und zugunsten eines harmonischen Familienlebens – durchgesetzt werden sollte. Insbesondere vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer und pädagogischer Bemühungen werden Handarbeit und Technologie als konträre Formen des Gestaltens definiert. Die Beiträge im zweiten Abschnitt des Bandes führen demgegenüber an exemplarisch ausgewählten spezifischen Techniken vor, in welch engen Wechselbeziehungen diese zueinanderstehen, gerade auch dann, wenn solche Interdependenzen in bestimmten historischen und politischen Konstellationen strategisch ausgeblendet werden. So skizziert die Mode- und Medienhistorikerin Lisbeth Freiss in ihren Betrachtungen über die Installierung der Marke »Wiener Handarbeit«, wie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unter dem Einsatz von Medienformaten wie Weltausstellungen und Modezeitschriften in der Habsburger Monarchie von als bäuerliche Praxis vorgeführten Formen weiblichen Handarbeitens als Beispiele des guten, nationalen Geschmacks propagiert wurden. Die Modernisierung der politischen Landschaft (wie auch der textilen Produktion) sollte durch Rückgriffe auf und Empfehlungen für bestimmte Handarbeitspraktiken im häuslichen Bereich vor allem auch bürgerlicher Milieus gestützt werden Wiederentdeckungen – wenngleich unter gänzlich anderen Vorzeichen – sind es auch, die Ines Peper diskutiert. Die Historikerin konzentriert sich auf das jüngste Phänomen in der Geschichte von mehrfachen Revivals der Basistechnologie Spinnen und durchkreuzt mithilfe der Analyse von aktuellen Webseiten, Blogs, Podcasts und Plattformen Typisierungen: denn gerade die versierte und partizipative Nutzung neuester Technologien ermöglicht die erweiterte Recherche und den Rückgriff auf alte Techniken des Spinnens – beim großen Teil der Nutzerinnen in reflektierender Distanz zum mit Weiblichkeitsmythen aufgeladenen Spinnstubentopos nostalgischer Prägung. Auf ein weiteres Feld und zugleich allgemein auf Mechanismen

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der Mythenbildung rund um DIY verweist Bernhard Fuchs mit einer (Auto-)Ethnografie zur kommunikativen Funktion des Selbstbaus von Musikinstrumenten. Eingebettet in die Darstellung der vielfältigen gesellschaftlichen und individuellen Dimensionen, die dieses Selbermachen prägt, arbeitet der Europäische Ethnologe am Fallbeispiel der Volksmusikszene Österreichs heraus, wie sich Selbsterzählung – über den Eigenbau einer Geige mit einfachsten Mitteln – und Fremdbeschreibung – unter Beteiligung der Volksmusikforschung und deren Netzwerken – zu einem stabilen und populären Narrativ verschränken. Solche Verdichtungen lassen sich auch rund um Diskurse und Praktiken des Selbermachens mit Mitteln neuester Technologien beobachten: Es gibt wohl nur wenige, die noch nicht von den Verheißungen des 3D-Drucks gehört haben, und sicherlich sehr viele, die weder wissen, wie dieser funktioniert noch je mit Erzeugnissen aus dessen Anwendung Kontakt hatten. Christian Schönholz widmet seinen Beitrag dieser Eigentümlichkeit. Er stellt heraus, wie sich zwar das Narrativ um die Segnungen des 3D-Drucks verselbständigen konnte, das Verfahren jedoch kaum in die Praktiken des Selbermachens Eingang gefunden hat, ja: finden konnte. Denn, wie der Kulturwissenschaftler am Beispiel des HIFI-Selbstbaus vorführt, besteht auch in webaffinen und neuen Technologien sehr aufgeschlossenen Szenen der Reiz des Selbermachens in der handwerklichen Dimension, in Fertigkeiten und Materialitäten, also Charakteristika, die dem 3D-Druck fehlen. Der kritische Blick auf oftmals sehr optimistische Vorstellungen, was alles diese Technologie zu leisten imstande ist, bestimmt auch die Ausführungen des interdisziplinären Teams Oliver Stickel, Konstantin Aal, Marén Schorch, Dominik Hornung, Alexander Boden, Volker Wulf und Volkmar Pipek. Die ForscherInnengruppe unterzieht das eigene, 2014 durchgeführte Forschungsprojekt in einem Palästinensischen Flüchtlingslager der West Bank einer umfassenden Revision. Im Rahmen des Projekts sollte Kindern die spielerische Aneignung von 3D-Druck-Technologie ermöglicht und so Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit nicht zuletzt zwischen Jungen und Mädchen verbessert werden. Nicht nur die Ergebnisse stellen sie damit zur Diskussion, sondern auch die Prozesse des Forschens, die sozialen Implikationen eines temporären, unweigerlich durch Machtgefälle geprägten Forschungssettings und damit die Grenzen der Forschungs- und Bildungsarbeit in hochsensiblen Kontexten. Wie die Faszination von Selbstermächtigung und die Pädagogik von Tutorials zusammenspielen, dies führten Benjamin Eugster und Richard Schwarz auf der Tagung vor, indem sie deren TeilnehmerInnen erfolgreich dazu animierten, an drei Experimenten mit einem vor ihren Augen zusammengebastelten Einplatinencomputer mitzuwirken. Die durchgeführte Bastelübung mit technologisch hochkomplexen Selbstbausystemen verdeutlichte den Reiz der Gegenständlichkeit des Machens – auch von elektronischen Sachen –

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ebenso wie die Abhängigkeiten und Grenzen emanzipierten Tuns; am Ende brachte das Publikum begeistert mit Mobiltelefonen eine LED-Lampe zum Blinken. Die Autoren haben ihre Versuchsanordnung in einen Text mit zwei Ebenen übersetzt: die eines idealtypisch aufgebauten Tutorials und die eines (auto-)ethnografisch fundierten Kommentars zu Kommunikationsstil und Ethos dieses, für das Verständnis von Diskursen und Praktiken des DIY so zentralen, Formats. Auch wenn in einschlägigen Publikationen Selbermachen und DIY vor allem anderen als subversive gegenkulturelle Aktionen dargestellt werden, so ist es um Intentionen und Motivlagen, Handlungsmuster und Praktiken doch sehr unterschiedlich bestellt. Im dritten Abschnitt des Bandes sind Texte versammelt, die deren Variabilität in Abhängigkeit von ökonomischen, ökologischen, räumlichen und auf professionellen Zusammenhängen aufzeigen. Phänomene agrarischen Handelns in Städten und deren Randgebieten, gefasst in Begriffen wie Urban Gardening oder Urban Farming scheinen einer reflexiven Moderne und bestimmten, ökologisch-partizipativ orientierten und politisch aktiver Milieus zuordenbar zu sein. Solche medial perpetuierten Zuschreibungen konfrontiert Peter F. N. Hörz mit ethnografisch fundierten Fallanalysen, die eine enorme Bandbreite aufweisen: von einem individualistischen Modell der Selbstversorgung einer einzelnen Person, über aus pragmatischen Gründen entwickelte Nachbarschaftsgruppen, den Anbau von Lebensmitteln jenseits marktgängiger Angebote bis hin zu Projekten, deren Protagonisten zwar gesellschaftskritisch argumentieren, doch ohne Ehrgeiz in eine öffentliche Resonanz ihres Handelns zu setzen. Weiterreichende politische Visionen, so macht der Kulturwissenschaftler nachvollziehbar, können, müssen aber keineswegs mit solchen Aktivitäten verbunden sein. Anders liegt der Fall des Zeidlerns, das heute als ›wesensgemäße‹ Imkerei vor allem von Angehörigen urbaner Mittelschichten in Kursen erlernt wird und als Outdoor-Praxis viele männliche Anhänger gefunden hat. Diese Form der Waldbienenwirtschaft ist Gegenstand des Beitrags von Michaela Fenske, verfasst auf Basis ihres umfassenden Forschungsprojekts zu urbaner Imkerei. In Zusammenhang mit der Wiederentdeckung der Zeidlerei wird von bestimmten, privilegierten Milieus nicht nur historisches Wissen, sondern werden auch der ländliche Raum und der richtige Umgang mit Natur offensiv verhandelt und Vorstellungen nachhaltigen und moralischen Handelns absolut gesetzt: In der Revitalisierung historischen Wissens sieht man Lösungsmodelle aktueller Krisen. Es können solche politisch-ökologische aber auch ökonomische Hintergründe und Interessenlagen sein, aufgrund derer Aktivitäten des Selbermachens in den Fokus von Werthaltungen oder sogar in das Zentrum der Lebensführung rücken, etwa, wenn sich aus einer zeitweiligen (Freizeit-)Beschäftigung eine Verdienstmöglichkeit oder ein Hauptberuf entwickelt.

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Doch sind die Chancen dazu von kulturellen und lokalen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen abhängig. Konrad Kuhn und Werner Bellwald rekonstruieren derartig Figurationen am Beispiel des touristisch früh erschlossenen Schweizer Lötschentals und der dortigen Konjunkturen des Maskenschnitzens seit 1900. Am deren Beginn standen von Autodidakten hergestellte Fastnachtsmasken, entdeckt durch die Volkskunde; nach einer Hochphase einer professionell massengefertigten, gleichwohl als regionaltypisch geltenden Produktion, führte der Entwicklungszyklus wieder zurück zur handwerklich und exklusiv geschnitzten Maske. Wie sich in qualitativen Befragungen und aus intensiven Kontakten mit AkteurInnen ergab, wird jene Phase der Geschichte des Maskenschnitzens im Tal, in der der Verkauf von Masken etlichen Familien eine ökonomische Basis bot und durchaus marktorientiert betrieben wurde, weitgehend tabuisiert. Die als Gesprächspartner von den regionalen Medien nachgefragten und in der Selbsterzählung versierten Schnitzer erklären ihr Tun als wichtiges Moment der Selbsterfahrung und verankern sich gleichzeitig in der lokalen Tradition des Maskenschnitzens. Solche Pendelbewegungen in den Praktiken des Selbermachens – als Freizeitvergnügen, als Form der Selbstermächtigung, als Teilzeitarbeit in einer Nischenökonomie, als professionalisierte Massenproduktion – lassen sich auch im zeitgenössischen Eigenbau von Möbeln feststellen. Sebastian Hackenschmidt beschreibt die Etablierung eines Anleitungsmarktes für Laien und widmet sich dann aktuellen Vorschlägen durch Konzeptkünstler und Designer, die Möglichkeiten neuester Technologien und industrieller Produktionsweisen zur Kreation und Herstellung einfach handzuhabender und preiswerter Selbstbaumodule zu nutzen. Projekte wie etwa »Hartz IV Moebel.com« von Van Bo Le-Mentzel greifen Prinzipien jener Bewegungen auf, die sich als Prosumer-Kulturen verstehen. Doch finden, so stellt der Kunsthistoriker fest, solche Möbelentwürfe zum einen vor allem in spezifischen, urbanen Milieus Interesse, zum anderen werden die Ideen umgehend von Möbel- und Baumarktkonzernen aufgegriffen und der Warenästhetik der Gegenwart angeglichen. Vorhandene Materialien und fertige Dinge, wie sie in diesen Möbelentwürfen Ausgangspunkte sind, stehen auch im Zentrum des Beitrags von Sonja Windmüller. Sie nähert sich dem Phänomen Selbermachen über die Analyse des Umgangs mit Abfall: Gerade die Nutzlosigkeit ist es, erläutert die Kulturanthropologin, die frische Zugänge zu Dingen und Materialien eröffnet und sie für Praktiken des Selbermachens ebenso wie als Gegenstand sozialkritischer Programme und moralischer Aufladungen prädestiniert. Auch die den Band abschließenden Beiträge der Herausgeberinnen verstehen sich als systematische Aufforderung, gängige Perspektiven auf Selbermachen und

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DIY als ein in hohem Maß mediatisiertes und gerade auch unter wissenschaftlicher Mitwirkung mythologisiertes Spielfeld zu hinterfragen und zu erweitern. Klara Löffler biografisiert gewissermaßen Aktivitäten des Selbermachens, indem sie an einzelnen lebensgeschichtlichen Stationen und Phasen, abhängig von den jeweiligen sozialen Konstellationen und individuellen Möglichkeiten und zeigt, dass Selbermachen selten eindeutig und ausschließlich Freiraum der Selbstermächtigung, sondern genauso gut und gleichzeitig Notwendigkeit und leidige Pflicht, Erziehungsarbeit, Freizeitvergnügen bedeuten kann. Nikola Langreiter lotet rezente Formen der politischen Indienstnahme sogenannten ›weiblichen‹ Handarbeitens aus. Material dazu liefern – medial vielbeachtete und intensiv begleitete – feministische Debatten um das neue Selbermachen. Die vehement geführten und emotional aufgeladenen Auseinandersetzungen mündeten in eine anhaltend ideologische Kontroverse zwischen frauenbewegten Frauen und (jüngeren) (Post-)Feministinnen. Im Mittelpunkt stehen die dabei lancierten Bewertungen von Praktiken des textilen Handarbeitens sowie die damit verknüpften Genderkonzepte. »Jedes Leben ist eine Enzyklopädie, eine Bibliothek, ein Inventar von Objekten, eine Musterkollektion von Stilen, worin alles jederzeit auf jede mögliche Weise neu gemischt und neu geordnet werden kann.«3 Und, so lässt sich Italo Calvino ergänzen, »neu befragt werden kann«. Wenn der vorliegende Band und dessen Beiträge Anregungen, ja sogar Anstöße dazu geben kann, wäre ein wichtiges Ziel wissenschaftlicher Arbeit erreicht. Die Herausgeberinnen danken den AutorInnen für ihre Inputs zur Tagung und deren Ausarbeitung zu den hier abgedruckten Beiträgen. Die Wiener Veranstaltung wurde von einem nicht nur zahlreich anwesenden, sondern auch sehr kritischen und diskussionswilligen Publikum begleitet – viele der geäußerten Fragen, Gedanken und Anregungen haben sich in den Texten niedergeschlagen. Aus Kostengründen hat auch der nun vorliegende Band über die Maße mit DIY zu tun – so ist dem transcript Verlag nicht nur für die Aufnahme dieser Publikation in sein Programm und für deren geduldige Begleitung durch Anke Poppen zu danken, sondern auch für das Bereitstellen der Druckvorlage als Selbstbausatz. Schließlich gilt unser Dank dem Dekanat der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und der Kulturabteilung der Stadt Wien, die durch ihre finanzielle Unterstützung die Publikation ermöglicht haben.

3

Calvino, Italo: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Harvard-Vorlesungen. Aus dem Ital. von Burkhart Kroeber. Frankfurt a. M. 1995 (Orig. 1991), S. 165.

Zeitpunkte  und  -­linien  

Anleitung  zum  Selbermachen   Do  it  yourself,  Normen  und  soziale  Ordnungsvorstellungen     in  der  Industriemoderne   R EINHILD K REIS

A BSTRACT :   D O  IT  YOURSELF  INSTRUCTIONS .     D O  IT  YOURSELF ,  NORMS ,  AND  SOCIAL  ORDER     IN   20 TH  CENTURY   G ERMANY     While Do it yourself (DIY) activities are often regarded as creative, rebellious, and emancipating, this paper discusses its disciplinary aspects as a usually neglected counter-narrative to such interpretations. Throughout the age of high modernity between the late 19th and the late 20th centuries, pedagogues, social reformers, politicians, and others repeatedly attempted to use DIY to enforce social norms. Using examples such as manual training for boys, the education of housewives, home improvement, and state-driven programs to encourage DIY activities, the paper interprets such attempts as confronting strategies with rapid changes in the work environments, family life, patterns of consumption, and uses of time.

Die Freiheit trägt in der einen Hand einen Vorschlaghammer, in der anderen eine Schraubzwinge. Diese Werkzeuge versinnbildlichen Do it yourself (DIY) als die »Mitmach-Revolution«, deren Dimensionen so gewaltig zu sein scheinen, dass nur eine Ikone der Revolutionsmotivik, Eugène Delacroix’ Liberté, sie angemessen symbolisieren kann. Vor orangefarbenem Hintergrund ist diese Figur auf dem Katalog zur Ausstellung »DIY. Die Mitmach-Revolution« aus dem Jahr 2011 zu

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sehen.1 Wenige Jahre zuvor veröffentlichten Holm Friebe und Thomas Ramge das Buch »Marke Eigenbau«. Mit dem Untertitel »Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion« erklärten sie »die Rebellion des Selbermachens gegen eine anonyme industrielle Massenproduktion« zum Signum des frühen 21. Jahrhunderts.2 Und bereits 1980 hatte der amerikanische Futurologe Alvin Toffler den »Prosumenten« als Leitfigur einer neuen Epoche identifiziert. Wie einst die agrarische Gesellschaft durch die Industrialisierung hinweggefegt worden sei, rolle nun die »dritte Welle« in der Menschheitsgeschichte heran, in der die strikte Trennung zwischen Konsum und Produktion des Industriezeitalters wieder aufgehoben werde. Der Neologismus »Prosument« steht für diese Verschmelzung von Produzent und Konsument und für die Erwartung neuer Arbeits-, Produktions- und Lebensverhältnisse, bei denen Menschen sehr viel stärker als bisher in den Produktionsprozess einbezogen würden.3 Ist Selbermachen Subversion, die »ultimative Form der Rebellion«, der Weg zu Freiheit und Unabhängigkeit?4 In Forschung und Medienberichterstattung gelten Praktiken des Selbermachens zu Recht häufig als Ausdruck von Selbstverwirklichung, Kreativität und Individualität, als Möglichkeit zur Gestaltung nach eigenen Vorstellungen, gegenwärtig oft auch als subversive Tätigkeiten. Selbst in Darstellungen zu Mangel- und Notzeiten sind diese Funktionen präsent. Selbermachen wird als Ausdruck von Gestaltungswillen interpretiert, als Reduktion der Abhängigkeit von Märkten und von anderen. Entsprechende Fertigkeiten und Kenntnisse eröffneten Freiheiten, wo andere ausharren und abwarten mussten.5

1

Gold, Helmut u. a. (Hg.): DIY. Die Mitmach-Revolution (= Kataloge der Museumsstiftung Post und Telekommunikation 29). Mainz 2011. Das Titelbild basiert auf dem Gemälde »Die Freiheit führt das Volk« von Eugène Delacroix aus dem Jahr 1830, das die Französische Revolution thematisiert.

2

Friebe, Holm/Ramge, Thomas: Marke Eigenbau. Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion. Frankfurt a. M. 2008.

3

Toffler, Alvin: Die Zukunftschance. Von der Industriegesellschaft zu einer humaneren Zivilisation. München 1980. Toffler verweist zwar darauf, dass viele Elemente der »dritten Welle« an die vorindustrielle Zeit erinnerten und insofern Vorläufer hatten. Auf der Basis einer hochtechnologisierten Gesellschaft bedeute die »dritte Welle« jedoch keine Rückkehr zu diesem Zustand, sondern etwas Neues.

4

Friebe/Ramge: Marke Eigenbau 2008, S. 24.

5

Merkel, Ina: Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR. Köln 1999, S. 281; Flagmeier, Renate: Selbstbau in der Not. In: Gold u. a.: Do It Yourself 2011, S. 60–65; Grashoff, Udo: Schwarzwohnen. Die Unterwanderung der staatlichen Wohnraumlenkung in der DDR. Göttingen 2011, S. 55.

A NLEITUNG  ZUM   S ELBERMACHEN   |   19  

Selbermachen bedeutet, etwas zu tun, was auch delegiert werden könnte – sei es an professionelle Dienstleister, Fabriken oder andere Individuen. Warum also Selbermachen? Verstanden als optionale Tätigkeiten spiegeln Diskurse und Praktiken des Selbermachens Präferenzen im Umgang mit Zeit, Geld und Ressourcen.6 Die dahinterstehenden Überzeugungen und Werte drücken jedoch nicht nur persönliche Vorlieben, sondern auch gesellschaftliche Normen aus. Von bestimmten sozialen Gruppen oder in bestimmten Kontexten wird Selbermachen eher erwartet als von beziehungsweise in anderen. Neben das Narrativ der subversiven, kreativen, alternativen und befreienden Praktiken des Selbermachens tritt jenes der Disziplinierung durch Selbermachen, das im Zentrum dieses Beitrags steht: gesellschaftliche, kulturelle oder politische Versuche, bestimmte Bevölkerungsgruppen entsprechend gesellschaftlicher Normen zum Selbermachen zu erziehen. Disziplinierende Erziehungsversuche dieser Art setzen die Pädagogisierung des Selbermachens und eine Definition des zu erreichenden Zieles voraus, denn nur so konnten entsprechende Praktiken systematisch angeleitet und forciert werden.7 Diese Form der Erziehung oder Anleitung zum Selbermachen gewann besondere Bedeutung, als Alternativen aufkamen, die das Selbermachen zu einer von mehreren Optionen machten. Zwar war es zu allen Zeiten möglich, bestimmte Tätigkeiten anderen zu überlassen, also etwas nicht selbst zu machen, doch mit dem Anbruch des Maschinenzeitalters und der industriellen Massenfertigung erreichte das Ausmaß solcher Alternativen eine neue Qualität. Dabei veränderten sich nicht notwendigerweise die Aktivitäten wie Nähen, Bauen oder Kochen, wohl aber ihre Bedeutung: Sie wurden vom ›Machen‹ zum ›Selbermachen‹. Diese Entwicklung eröffnete neue Spiel- und Entscheidungsräume, wenn es um den Gebrauch von Zeit ging. »Make or buy« – diese Entscheidung konnten und mussten Haushalte zunehmend treffen, wenn es um den Erwerb von Kleidung, Möbeln oder Nahrungsmitteln ging.8 Angesichts der wachsenden Wahlmöglichkeiten zwischen Selbermachen und dem Kauf von Dienstleistungen, gebrauchsfertigen Waren und Halbfertigprodukten war keine dieser Optionen selbstverständlich, sondern stets legitimierungsbedürftig.

6

Ausgeklammert bleibt in diesem Beitrag Selbermachen aus existenzieller Not.

7

Dies gilt auch für andere Zusammenhänge, in denen Anleitungen zum Selbermachen eine Rolle spielen, die in diesem Beitrag jedoch nicht behandelt werden, beispielsweise Erziehung zum Selbermachen in emanzipatorischer oder konsumkritischer Absicht.

8

Wicks, John H./Reardon, James/McCorkle, Denny E.: An examination of the antecedents of the consumer make-or-buy decision. In: Journal of Marketing Theory and Practice 13 (2005), H. 1, S. 26–39.

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Dieser Beitrag untersucht Anleitungen zum Selbermachen als Teil der Auseinandersetzungen über veränderte Konsummöglichkeiten und Formen des Zeitgebrauchs in der Industriemoderne. Sie gehörten zum Arsenal vor allem bürgerlicher Mittelschichten, die Herausforderungen zu bewältigen, die mit der Entwicklung hin zu einer Industriegesellschaft sowie deren Ausgestaltung in Deutschland einhergingen.9 Der Beitrag beleuchtet schlaglichtartig verschiedene Diskurse des späten 19. und des 20. Jahrhunderts, in denen Formen des Selbermachens in disziplinierender und kontrollierender Absicht intensiv verhandelt wurden. Praktiken des Selbermachens lassen sich als Modi der »Fremd- und Selbstführung« diskutieren, die auf Körper und Geist einwirken, um sie zu disziplinieren.10 In dieser Perspektive zielten Auseinandersetzungen um das Selbermachen darauf, solche Praktiken als »Technologien des Selbst« (Foucault) zu etablieren.11 Das Kompositum ›Selbermachen‹ verweist auf dieses doppelte Machen: Der Einzelne ›machte‹ etwas im Sinne eines materiellen Herstellungsprozesses, gleichzeitig wirkte das Subjekt auf sich selbst ein und ›machte‹ sich selbst entsprechend eigener Vorlieben und gesellschaftlicher Normen zum ›guten‹ Elternteil, Bürger, Jugendlichen, zur Umweltaktivistin oder zum Erfinder. Idealerweise verinnerlichten die entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die jeweiligen Praktiken des Selbermachens, sodass sie zu einer Selbstverständlichkeit wurden, die keiner weiteren Anleitung von außen bedurften. Im Folgenden geht es um Legitimationsstrategien bei der Anleitung und Erziehung zum Selbermachen im Zusammenhang mit der Pädagogisierung solcher Praktiken und mit Blick auf die Kontrolle und Disziplinierung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Zwei Funktionen des Selbermachens stehen dabei im Mittelpunkt: erstens gesellschaftliche Ansprüche, den Zeitgebrauch bestimmter sozialer Gruppen zu kontrollieren, und zweitens die Ausbildung nützlicher Fertigkeiten als Ziel solcher Anleitungen. Eng miteinander verschränkt und in wechselnden

9

Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014, S. 17.

10 Möhring, Maren: Die Regierung der Körper. »Gouvernementalität« und »Techniken des Selbst«. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, OnlineAusgabe 3 (2006), H. 2, http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2006/id=4604 (Zugriff: 2.11.2016). 11 Foucault betonte, dass »Selbsttechniken nicht auf Herrschaftstechniken zu reduzieren seien, sondern vielmehr eine Machtform darstellten, die diesen auch zuwiderlaufen könne«, wie die Historikerin Maren Möhring darlegt. Möhring: Regierung 2006. Vgl. auch Foucault, Michel: Technologien des Selbst. In: Martin, Luther H./Gutman, Huck/Hutton, Patrick H. (Hg.): Technologien des Selbst. Frankfurt a. M. 1993, S. 24– 62, S. 26.

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Kontexten greifbar, blieben sie vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis heute maßgeblich, wenn es um die Forcierung des Selbermachens ging.

K ONTROLLIERTER   Z EITGEBRAUCH   Wann immer sich Formen des Zeitgebrauchs veränderten und die frei verfügbare Zeit für eine Bevölkerungsgruppe – etwa Jugendliche, Frauen oder Arbeitnehmer – zunahm, hatten Praktiken des Selbermachens Konjunktur. Selbermachen bindet Zeit und Aufmerksamkeit. Wer repariert, strickt, tapeziert oder bäckt, dessen Körper ist räumlich zumindest für diesen Zeitraum an einen Ort gebunden. Das Endprodukt des Selbermachens – das reparierte Radio, die tapezierte Wand, die Strümpfe, der Kuchen – legen sichtbares Zeugnis über diesen Zeitgebrauch ab. Dieses Kennzeichen des Selbermachens machte entsprechende Praktiken attraktiv für diejenigen, die den Zeitgebrauch anderer in kontrollierte, gesellschaftlichen Normen entsprechende Bahnen lenken wollten.12 Mit der Industrialisierung veränderte sich der Zeitgebrauch zunehmender Teile der Bevölkerung. Die Arbeitszeiten in der Industrie bedingten neue Strukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und schufen neue Kategorisierungen wie die des Feierabends oder der Erwerbslosigkeit.13 Diese Entwicklung war begleitet von wiederkehrenden Diskussionen, wie Zeiträume gestaltet werden sollten. Ein besonderes Augenmerk galt der »Jugend«. Erst um die Jahrhundertwende wurde Jugend allmählich als eigener Lebensabschnitt gedacht. Auf sie richteten sich große Hoffnungen, aber auch viele Befürchtungen.14 Praktiken des Selberma-

12 Das schließt nicht aus, dass unter den Bedingungen des angeleiteten, pädagogisierten und auf Disziplinierung angelegten Selbermachens trotzdem ›eigensinniges‹ Handeln möglich wäre; vgl. Lindenberger, Thomas: Eigen-Sinn, Herrschaft und kein Widerstand, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte (2.9.2014), http://docupedia.de/zg/ Eigensinn?oldid=106407; Wiede, Wiebke: Subjekt und Subjektivierung, Version: 1.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte (10.12.2014), http://docupedia.de/zg/ Subjekt_und_Sub jektivierung?oldid=106476 (Zugriff auf beide Seiten: 2.11.2016). 13 Borscheid, Peter: Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung. Frankfurt a. M. 2004; Zimmermann, Benedicte: Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zur Entstehung einer sozialen Kategorie. Frankfurt a. M. 2006. 14 Maase, Kaspar: Die Kinder der Massenkultur. Kontroversen um Schmutz und Schund seit dem Kaiserreich. Frankfurt a. M. 2012.

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chens schienen geeignet, Jugendliche zu tugendhaften Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen und ihren Zeitgebrauch zu kontrollieren. Vor allem männliche Jugendliche rückten nun in den Fokus. Ein Vertreter solcher neuen Erziehungsansätze war der 1886 gegründete Deutsche Verein für Knabenhandarbeit. In einer Gemengelage aus pädagogischen, wirtschafts- und sozialpolitischen Motiven forderten seine Vertreter Werkstattunterricht für Jungen zuerst im Anschluss an die Schule, bald auch als Schulfach oder schulisches Unterrichtsprinzip.15 Jungen sollten lernen, mit Holz, Metall, Pappe und anderen Materialien zu arbeiten und Gebrauchsartikel sowie Materialien für ihren Schulunterricht herzustellen – Gegenstände mithin, die als handwerklich oder bereits industriell gefertigte Waren erhältlich waren. Emil von Schenckendorff, Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses für die Nationalliberale Partei und einer der Begründer des Deutschen Vereins für Knabenhandarbeit, formulierte eine weit verbreitete Grundannahme, wenn er betonte, vielerorts sei die Jugend nach Schulschluss unbeaufsichtigt. Insbesondere in Arbeiterhaushalten, in denen beide Elternteile in die Fabrik gingen, drohe Verwahrlosung, der durch Schülerwerkstätten vorgebeugt werden könne.16 Schülerwerkstätten galten Ende des 19. Jahrhunderts als probates Mittel, den Zeitgebrauch und die Tätigkeiten Jugendlicher zu überwachen und anzuleiten. So bat etwa ein Hamburger Knabenhort 1888 um Spenden für eine Werkstätte: »Hier sollen die Knaben in nützlicher Weise beschäftigt und dadurch von dem schädlichen Umhertreiben auf den Straßen zurückgehalten werden. Wie manches Kind, dem zu Hause die nöthige Aufsicht fehlt, ist dadurch schon sittlich verdorben und eine Plage für die Eltern und die Einwohner unserer Stadt geworden, während es bei richtiger Anleitung in Fleiß und Geschicklichkeit und bei liebevollem Umgang ein tüchtiger Mensch hätte werden können.«

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15 Heller, Dieter: Die Entwicklung des Werkens und seiner Didaktik. Zur Verflechtung von Kunsterziehung und Arbeitsschule. Bad Heilbrunn/Obb. 1990; Kreis, Reinhild: Mechanisierung als pädagogisches Argument. Schule, Arbeit und Konsum um 1900. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 20 (2015), S. 199–217. 16 Schenckendorff, Emil von: Über die Ziele des Deutschen Vereins für Knabenhandarbeit. Rede gehalten vor der Polytechnischen Gesellschaft in Frankfurt, 11.1.1892, S. 12, Stadtarchiv Leipzig, Deutscher Verein für Werkunterricht/Lehrerseminar, Nr. 213. Vgl. ähnlich auch Die Schülerwerkstätten und die Pädagogik. In: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 33 (1881), H. 10, S. 81–84, S. 81 f. 17 Aufruf vom Januar 1888, Stadtarchiv Leipzig, Deutscher Verein für Werkunterricht/Lehrerseminar, Nr. 214.

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Aus solchen Warnungen sprachen bürgerliche Ängste vor einem gesellschaftsund ordnungsgefährdenden Kultur- und Sittenverfall durch unbeaufsichtigte Zeiträume.18 Schenckendorff ging noch einen Schritt weiter. Durch Handarbeit gewinne auch die »Familie eine neue Anziehung«, denn der Vater bliebe zuhause, um den männlichen Nachwuchs anzuleiten.19 Auch Zeitgebrauch und Aktionsradius der Väter bedurften also der Kontrolle. Dahinter stand die weit verbreitete Befürchtung, männliche Arbeiter würden statt nach Hause ins Wirtshaus gehen, dort ihren Lohn vertrinken oder in Kontakt mit der Sozialdemokratie geraten. Handwerkliche Tätigkeiten, idealerweise generationenübergreifend, banden Väter und Söhne hingegen an die Wohnung und beugten dem gefährlichen Müßiggang vor.20 Die noch junge Industriegesellschaft begann einerseits, Produkte in Massenfertigung herzustellen. Da mit der Industrialisierung auch neue zeitliche Freiräume nach Schulschluss und Feierabend einhergingen, die in der Perspektive von Politik, Medien und Gesellschaft vielfältige ›Gefahren‹ im urbanen Milieu bargen, entstand andererseits und parallel dazu eine Bewegung, die vorindustrielle Herstellungstechniken zu popularisieren suchte, um den Zeitgebrauch solcher Bevölkerungsgruppen zu kontrollieren, die als potenziell gefährdet oder gefährlich galten, wie eben männliche Jugendliche und junge Männer. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschwand dieser Aspekt weitgehend aus den Diskussionen um die Knabenhandarbeit. Nun gerieten Knabenhandarbeit beziehungsweise Werkunterricht als schulisches Unterrichtsfach, als allgemeines (arbeitsschulisches) Unterrichtsprinzip sowie als Instrument zur Förderung der volkswirtschaftlichen Leistungskraft, der Charakter- und der Geschmacksbildung in den Mittelpunkt. Rund sechzig Jahre später standen handwerkliche Tätigkeiten durch Laien erneut im Fokus der medialen Öffentlichkeit, und wieder diente der Zeitgebrauch als wichtiges Argument. Seit Mitte der 1950er Jahre diskutierten Medien und

18 Vgl. hierzu Maase: Kinder 2012; Peukert, Detlev: Grenzen der Sozialdisziplinierung. Aufstieg und Krise der deutschen Jugendfürsorge von 1878 bis 1932. Köln 1986, S. 54– 56, S. 59, S. 62–67. 19 Schenckendorff: Ziele 1892, S. 12. 20 Protokoll der Vorstands-Sitzung des Deutschen Vereins für Knabenhandarbeit vom 15./16. Oktober 1906, Stadtarchiv Leipzig, Deutscher Verein für Werkunterricht/Lehrerseminar, Nr. 6; Pabst, Alwin: Die Knabenhandarbeit in der heutigen Erziehung. Leipzig 1907, S. 71. Zur argumentativen Verknüpfung zwischen praktischen Tätigkeiten und der Eindämmung des Alkoholkonsums vgl. auch Walder, Fernande: Der Schulgarten in seiner Bedeutung für Unterricht und Erziehung. Deutsche Schulgartenbestrebungen vom Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus. Bad Heilbrunn/Obb. 2002, S. 171 f.

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Wirtschaftswissenschaftler handwerkliche Tätigkeiten in den eigenen vier Wänden und den Verzicht auf die Dienste professioneller Handwerker unter den Schlagworten ›Do it yourself‹ und ›Heimwerken‹. Beschrieben als ein neues Hobby für Männer, das in den USA und in Großbritannien bereits weit verbreitet war, musste die bundesdeutsche Bevölkerung das Konzept des Heimwerkens als Freizeitaktivität erst kennenlernen. Auch zuvor hatten Privatleute entsprechende Tätigkeiten ausgeführt, doch erst im Verlauf der 1950er Jahre fasste ›Heimwerken‹ ein Bündel an Tätigkeiten zusammen, die als Hobby galten und die mit den älteren Begriffen des Reparierens oder Bastelns nicht angemessen zu beschreiben waren. Zusammen mit dem neuen Freizeitbereich entstand ein schnell wachsender Markt für Heimwerker-Zeitschriften, Bücher, Materialien und Werkzeuge.21 1958 berichtete die Zeitschrift »Selbst ist der Mann« im Editorial, die Einführung der Fünf-Tage-Woche habe zur Idee geführt, ein Do-it-yourself-Magazin zu gründen. Denn die neu gewonnene Freizeit eines langen Wochenendes müsse »sinnvoll ausgefüllt« werden.22 Ähnlich wie in den Jahren um 1900 ging es um die Gefahren unkontrollierter freier Zeit bei Männern und bei Jugendlichen, und wie um die Jahrhundertwende dienten aktuelle Ängste dazu, das neue Hobby zu legitimieren. Als abschreckendes Beispiel für die mit zu viel Freizeit verbundenen Gefahren dienten die in den Medien als ›Straßenterror‹ gebrandmarkten Verhaltensweisen der ›Halbstarken‹, die in den 1950er Jahren als Inbegriff devianter Jugendlicher galten und häufig kriminalisiert wurden.23 Im Urteil von »Selbst ist der Mann«: »Wir wollen nun nicht behaupten, dass man derartigen Krawallmachern nur Hammer und Säge in die Hand zu drücken brauchte, um sie zu beruhigen. Wir wissen jedoch, dass der

21 Voges, Jonathan: Vom Handwerk zum Heimwerk? Zur Diffusion professionellen Wissens in den Haushalten im Zuge der Do-it-yourself-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Ferrum 86 (2014), S. 89–96; vgl. auch seinen Beitrag in diesem Band. 22 Das Dutzend ist voll. In: Selbst ist der Mann 2 (1958), H. 10, S. 3. Ähnlich Hinweise in: Den Nagel auf den Kopf getroffen. In: Selbst ist der Mann 1 (1957), H. 2, S. 87; eingelegtes Schreiben in: Selbst ist der Mann 2 (1958), H. 1. Zu den Debatten um die Einführung der Fünf-Tage-Woche vgl. Herrmann-Stojanov, Irmgard: Die Entstehung einer neuen Zeitinstitution. II. Der gesellschaftliche Diskurs über den Samstag in seiner Entstehungsphase. In: Fürstenberg, Friedrich/Herrmann-Stojanov, Irmgard/Rinderspacher, Jürgen P. (Hg.): Der Samstag. Über Entstehung und Wandel einer modernen Zeitinstitution. Berlin 1999, S. 101–163. 23 Kurme, Sebastian: Halbstarke. Jugendprotest in den 1950er Jahren in Deutschland und den USA. Frankfurt a. M. 2006.

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als Heimwerken oder Basteln bezeichnete Umgang mit Hammer und Säge ausgezeichnet geeignet ist, die Freizeit des berufstätigen Menschen schöpferisch auszufüllen.«

Die Zeitschrift regte sogar an, »Behörden und Ämter« sollten prüfen, ob »sich eine von den Erwachsenen vielfach vernachlässigte Jugend nicht gerade durch das Werken wieder zu vernünftigem Wirken führen ließe«.24 Mit dieser Ansicht stand »Selbst ist der Mann« nicht allein. Auch Publikationen zum Werkunterricht empfahlen die handwerkliche Betätigung als wirksames Mittel gegen das »müßige[n] Eckenstehen«.25 Dahinter standen weder ein ausgefeiltes pädagogisches Programm noch eine Lobbygruppe wie im Falle der Knabenhandarbeit mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor, doch auch hier wird deutlich, dass es in diesem Diskurszusammenhang weniger um die Ergebnisse des Heimwerkens ging, als darum, durch Selbermachen Kräfte zu binden und einen möglichst großen Teil der frei zur Verfügung stehenden Zeit zu kontrollieren und zu kanalisieren. Dies entsprach dem Zeitgeist der 1950er Jahre, Jugendliche von allen Orten und Tätigkeiten fernzuhalten, an denen sie mit den Gefahren der Großstadt in Berührung kommen konnten, und an die Aufsichtspflicht der Eltern zu appellieren, die hier vor allem als Kontrollpflicht erschien.26 Auch mit Blick auf erwachsene Familienväter blieb die Kontrolle des männlichen Aktionsradius Thema, doch ohne die moralische Aufladung, die bei der Diskussion über den Zeitgebrauch von Frauen und Jugendlichen oft mitschwang. Das Heimwerken hielt auch den Mann im Haus, verband dabei aber Männlichkeit mit Häuslichkeit zu einer neuen Form der »domestic masculinity«.27 Medien und Werbung entwarfen in den 1950er und 1960er Jahren ein Bild des Heimwerkens als einer nützlichen, gesunden Tätigkeit, mit der die Familie idealerweise viel Geld sparen konnte. Gleichzeitig knüpften Heimwerker-Zeitschriften und Hersteller von Heimwerkergeräten an latente Befürchtungen über den männlichen Zeitgebrauch an. Die Firma AEG warb Mitte der 1960er Jahre für ihre Produkte mit dem Slogan:

24 Das Dutzend ist voll. In: Selbst ist der Mann 2 (1958), H. 10, S. 3. 25 Steger, Georg: Grundlegung des Werkunterrichts. Ansbach 1952, S. 15. 26 Kurme: Halbstarke 2006, S. 105–108, S. 249–253. 27 Diesen Ausdruck hat Steven Gelber für die USA geprägt, wo Heimwerken bereits einige Jahre früher zum Hobby der Mittelschichten wurde. Gelber, Steven M.: Do-ityourself. Constructing, repairing and maintaining domestic masculinity. In: American Quarterly 49 (1997), H. 1, S. 66–112.

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»Vati macht die tollsten Sachen … zu Hause«.28 Der Werbespruch impliziert, dass der Nachwuchs den Vater für seine Fertigkeiten bewunderte, aber eben auch ganz genau wusste, was Vati in seiner freien Zeit tat. »Heimwerker-Brevier« der Firma Wolfcraft, ca. 1967

Die Firma Wolfcraft nutzte einen ganz ähnlichen Spruch in ihrem »HeimwerkerBrevier« und setzte die Szene ins Bild: Vati bediente die Geräte; direkt am Werktisch standen die beiden Söhne und verfolgten aufmerksam und mit ernsten Gesichtern das Geschehen.29 Zwar hob die Broschüre durchaus den materiellen Nutzen des Heimwerkens hervor, wie der Titel »Anleitung für ein nützliches Hobby« zeigt. Doch im Zentrum stand die bildliche Darstellung, deren unterschwellige Botschaft lautete, dass Stolz und Bewunderung ihren Preis hatten, nämlich die Beobachtung durch die Familie. Knapp sei ein drittes Beispiel skizziert. Als zu Beginn der 1980er Jahre in West-Berlin der Kampf um besetzte Häuser tobte, begann der Senat versuchsweise einige Projekte zu fördern, in denen Punks und obdachlose Jugendliche leerstehende Häuser unter professioneller Anleitung eigenhändig instand setzten, um

28 Do-it-yourself – Eine Bewegung ohne Fahnen. Kurzfassung Referat Horst Herold, 21.1. 1965, Deutsches Technikmuseum Berlin, I.2.060, Ordner ohne Signatur »PresseInformation. AEG-Fabrik für Elektrowerkzeuge Winnenden, 19./20. Januar 1965«. 29 Wolfcraft: Heimwerker-Brevier. Dillenburg o. J. [Mitte der 1960er Jahre].

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später dort zu wohnen.30 Dabei ging es nicht nur um wirtschaftliche Überlegungen, denn die Jugendlichen mussten intensiv betreut werden und ihre Arbeitsleistung war kaum mit jener ausgebildeter Handwerker vergleichbar. Das Selbermachen verfolgte vielmehr auch soziale Zwecke und diente unter anderem dazu, ›Aussteiger‹ wieder in die Gesellschaft zu integrieren, sie von der Straße zu holen und an geregelte Wohn- und Arbeitsformen zu gewöhnen.31 Der Psychoanalytiker HansJürgen Wirth konstatierte in einer Studie, die das Zentrum für Psychosomatische Medizin der Universität Gießen im Auftrag des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit durchgeführt hatte, die Punks bekämen durch die eigenhändige Tätigkeit »eine andere Einstellung zu ihrer unmittelbaren Umgebung, zu materiellen Dingen überhaupt und zu ihrer eigenen Arbeitsfähigkeit«.32 Durch die handwerkliche Betätigung sollten sich die Punks gewissermaßen eigenhändig in gesellschaftskonforme Bürger (zurück-)verwandeln. Kontrolle und Disziplinierung beschreiben nur einen Teil der Motive, die in Diskursen über das Selbermachen thematisiert wurden und die entsprechenden Praktiken zugrunde lagen. Stets ging es in den hier skizzierten Zusammenhängen auch um Faktoren wie den Spaß an solchen Arbeiten, um Geldersparnis, um Distinktion oder den Ausgleich zur Berufsarbeit beziehungsweise Schule. Dennoch bleibt die Verbindung von freier Zeit, Kontroll- und Disziplinierungsversuchen mit Praktiken des Selbermachens auffällig. Zugespitzt gesagt: In den bisher vorgestellten Zusammenhängen ging es weniger um Fertigkeiten als um Kontrolle; das Selbstgemachte war weniger als Gegenstand oder Ausweis von Können relevant denn als materieller Nachweis über ›sinnvoll‹ und ›richtig‹ verbrachte Zeit.

 

30 Ellenbeck, Horst/Kuckuck, Anke/Wohlers, Heide: Selbsthilfe. Ansichten und Aussichten. Berlin 1990, S. 61–66. 31 Dazu demnächst Kreis, Reinhild: Heimwerken als Protest. Instandbesetzer und Wohnungsbaupolitik in West-Berlin während der 1980er Jahre. In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History (im Erscheinen). 32 Wirth, Hans-Jürgen: Trotz und Träume – alles Schäume? Ein Blick zurück auf die Jugendrevolte am Beispiel der Berliner »Scene«. In: Bock, Marlene u. a.: Zwischen Resignation und Gewalt. Jugendprotest in den achtziger Jahren. Opladen 1989, S. 81–93, S. 92.

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N ÜTZLICHE   F ERTIGKEITEN   Daneben standen Anleitungen zum Selbermachen, die primär oder zumindest teilweise auf den Erwerb von Fertigkeiten und den eigenständigen Wert des Selbstgemachten ausgerichtet waren. Diese Ergebnisse des Selbermachens waren als Gegenstände nützlich, nicht nur als Nachweis der ›sinnvoll‹ verbrachten Zeit und der geglückten (Selbst-)Erziehung. Dennoch waren solche auf den materiellen Gegenstand bezogene Nützlichkeitserwägungen vielfach eng verbunden mit Versuchen, den Zeitgebrauch anderer zu lenken. Die Historikerin Bärbel EhrmannKöpke hat beispielsweise gezeigt, wie weibliche Handarbeiten bürgerlicher Frauen und Töchter im 19. Jahrhundert einerseits der Disziplinierung dienten, indem sie Frauen ans Haus banden, andererseits aber häufig auch Fertigkeiten vermittelten, mit denen Mädchen und Frauen einen wichtigen Beitrag zum Haushaltseinkommen leisteten.33 Diese materielle und soziale Doppelfunktion wird auch an den Diskussionen um selbst zubereitete Familienmahlzeiten sichtbar. Die vielfältigen Bestrebungen des späten 19. und 20. Jahrhunderts, selbstgekochte Mahlzeiten als Standard zu bewahren oder zu etablieren, richteten sich darauf, den Zeitgebrauch von Frauen und jungen Mädchen zu lenken: Ende des 19. Jahrhunderts strebten bürgerliche Frauenvereine, Sozialreformer und Politiker danach, Arbeiterfrauen und -mädchen in Kochkursen oder schulischem Haushaltsunterricht zu ›guten Hausfrauen‹ entsprechend bürgerlicher Normen zu erziehen. Sie sollten nicht in der Fabrik erwerbstätig sein, sondern sich Haushalt und Kindererziehung widmen. Damit verbunden waren Vorstellungen des ›richtigen‹, also sparsamen Wirtschaftens und einer gesunden Ernährung.34 Selbst zu kochen verpflichtete die Frau auch moralisch auf die Hausarbeit, galten doch selbst zubereitete Mahlzeiten als gesünder, sowohl für die einzelnen

33 Ehrmann-Köpke, Bärbel: »Demonstrativer Müßiggang« oder »rastlose Tätigkeit«? Handarbeitende Frauen im hansestädtischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Münster 2010. 34 Lesniczak, Peter: Derbe bäuerliche Kost und feine städtische Küche. Zur Verbürgerlichung der Ernährungsgewohnheiten zwischen 1880–1930. In: Teuteberg, Hans Jürgen (Hg.): Die Revolution am Esstisch. Neue Studien zur Nahrungskultur im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2004, S. 129–147, S. 137 f.; Allen, Keith R.: Von der Volksküche zum fast food. Essen außer Haus im wilhelminischen Deutschland. In: Werkstatt Geschichte 31 (2002), S. 5–25, S. 22 f.; Reagin, Nancy R.: A German women’s movement. Class and gender in Hanover, 1880–1933. Chapel Hill 1995, S. 58–97.

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Familienmitglieder als auch im übertragenen Sinne für die Gesellschaft als Ganzes, als deren Nukleus die Familie und der ›heimische Herd‹ betrachtet wurden. Diese Maßgabe galt bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Angesichts der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen in der Nachkriegszeit, insbesondere von Ehefrauen und Müttern, beschwor der Pädagoge Otto Speck 1956 den »Erziehungsnotstand«.35 Dabei wies Speck, der maßgeblich zur Verbreitung des negativ konnotierten Begriffes »Schlüsselkind« in Deutschland beitrug, den von der Mutter selbst zubereiteten Mahlzeiten eine zentrale Rolle zu. Für seine Studie »Kinder erwerbstätiger Mütter. Ein soziologisch-pädagogisches Gegenwartsproblem« befragte er Kinder, die mittags im Hort aßen, weil ihre Mütter nicht zuhause waren: »Worüber die Kinder erwerbstätiger Mütter in ihren Aufsätzen am meisten klagen, ist die Art und Weise ihrer Ernährung. Die meisten sich selbst überlassenen Kinder haben sich oder ihren Geschwistern das von der Mutter vorbereitete Essen aufzuwärmen […] Die […] körperliche, vor allem seelische Unbehaglichkeit hat ihren Grund in der mangelnden im Essen dargebotenen ›Wärme‹, die sich eben ein Kind nicht selbst geben kann etwa durch ›Aufwärmen‹. Das von der Mutter selbst bereitete und dargereichte Essen hat für das Kind eine psychologische Bedeutung, die sich etwa aus der grundlegenden Bedeutung des Stillens durch die Mutter ermessen lässt.«36

Das selbstgekochte Essen erscheint sowohl als sichtbarer Ausweis der körperlichen Anwesenheit als auch als Garant der ›guten‹ Entwicklung der Kinder und damit der Gesundheit der Familien und der Gesellschaft. Denn war die Mutter nicht zuhause, drohten Speck zufolge Verwahrlosung und sittliche Gefährdung der Erwachsenen von morgen.37 Die Mahlzeit war hier nicht nur Nachweis eines gesellschaftlich sanktionierten Zeitgebrauchs, sondern in ihrer Materialität Voraussetzung für das Gelingen von Familie und Gesellschaft. Das Produkt der mütterlichen Tätigkeit, das Essen, hatte einen hohen Wert. Es überrascht nicht, dass Speck dafür plädierte, Frauen die entsprechenden Fertigkeiten und Wissensbestände wieder verstärkt zu vermitteln.38

35 Kuller, Christiane: Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949–1975. München 2004, S. 60 f.; Speck, Otto: Kinder erwerbstätiger Mütter. Ein soziologisch-pädagogisches Gegenwartsproblem. Stuttgart 1956. 36 Ebd. S. 54 f. 37 Ebd. S. 56 f. 38 Ebd. S. 132.

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Während die bisherigen Beispiele Diskurse um das Selbermachen im Zusammenhang mit wachsenden Freizeitbudgets und Wahlmöglichkeiten im Zeitgebrauch und bei der Erlangung von Gütern thematisiert haben, werden abschließend Notund Mangelzeiten in den Blick genommen. Wer selbst nähen, backen, technische Reparaturen durchführen oder etwas bauen konnte, konnte solche Phasen besser überstehen.39 Moralisch aufgeladene Legitimationsstrategien des Selbermachens waren hier besonders eng mit materiellen Erwägungen verbunden. Schon in Zeiten des Wohlstands galt es, auf mögliche Notzeiten vorbereitet zu sein. Typisch für diese Ansicht ist die Geschichte »Sie hat es nicht nötig«, die 1895 in der Zeitschrift »Dies Blatt gehört der Hausfrau« erschien. Sie handelte von einem Mädchen aus wohlhabendem Hause, das nur unzureichende Kenntnisse der Haushaltsführung besaß. Das Mädchen und seine Mutter gingen davon aus, dass sie reich heiraten würde und es »nicht nötig« haben würde, zu kochen oder zu nähen. Doch wenige Jahre nach der Heirat ging der Ehemann bankrott, und nun zeigte sich, dass die junge Frau nichts zum Unterhalt der Familie beitragen konnte. Weder konnte sie in ihrem eigenen Haushalt sparsam wirtschaften noch eine Stellung annehmen, denn alle Stellenangebote setzten hauswirtschaftliche Kenntnisse voraus. Mangels Kochkenntnissen konnte sie nicht einmal einen Kosttisch in ihrem eigenen Haus anbieten. Bald erkrankte sie schwer und – so endet die Geschichte – starb nach einem »langwierigen und qualvollen Leiden«. Sie hätte es eben doch nötig gehabt, so lautet die Moral der Geschichte, die Mütter und Töchter gleichermaßen dazu anhielt, die entsprechenden Fertigkeiten zu erwerben beziehungsweise zu vermitteln.40 Insbesondere in Kriegs- und Nachkriegszeiten halfen Praktiken des Selbermachens, Mangel zu überwinden oder zumindest zu lindern. Dies galt für den Einzelnen ebenso wie für den Staat, der ebenfalls entlastet wurde, wenn BürgerInnen selbst tätig wurden und der daher großes Interesse daran hatte, entsprechende Fertigkeiten zu fördern und zu fordern. Zwar gab es durchaus gegenläufige Entwicklungen, etwa die Verlagerung der Mahlzeiten aus dem Haus in Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung, wie sie etwa während des Nationalsozialismus aus

39 Vgl. beispielsweise Flick-Werk. Reparieren und Umnutzen in der Alltagskultur. Begleitheft zur Ausstellung im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart, 15.10.– 15.12.1983. Stuttgart 1983; Prinz, Michael: Der Sozialstaat hinter dem Haus. Wirtschaftliche Zukunftserwartungen, Selbstversorgung und regionale Vorbilder. Westfalen und Südwestdeutschland 1920–1960. Paderborn 2012, S. 93, S. 176, S. 230; Novy, Klaus/Förster, Wolfgang: Einfach bauen. Genossenschaftliche Selbsthilfe nach der Jahrhundertwende. Zur Rekonstruktion der Wiener Siedlerbewegung. Wien 1985, S. 56. 40 Sie hat es nicht nötig. In: Dies Blatt gehört der Hausfrau 9 (1895), H. 28, S. 581 f.

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Gründen der Sparsamkeit und der Rationalisierung propagiert wurden.41 Doch in vielen Bereichen forderten staatliche Organe und Medien verstärkt zum Selbermachen auf. So machte eine Radiosendung vom Februar 1944 die Unterhaltung zweier junger Männer, Klaus und Werner, über die schlecht funktionierenden Schubladen und Türen an Klaus’ Möbeln zum Gegenstand. Werner erklärte ihm Schritt für Schritt, was er zu tun habe und schloss mit der Bemerkung: »Das sind doch alles Kleinigkeiten, die jeder selbst machen kann. Und dass es heute im Kriege dem Tischler nur angenehm ist, wenn wir ihn mit solchen Sachen nicht belästigen, ist doch selbstverständlich. Er hat so schon genug Arbeit, die vor allem doch kriegswichtigen Charakter trägt. Und ob dein Schrank nun gut oder schlecht schließt, das ist bestimmt nicht kriegswichtig.«

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Damit waren Klaus und die Zuhörer in doppelter Hinsicht belehrt: zum einen ganz praktisch darüber, wie Schränke und Kommoden in Eigenregie zu reparieren seien, zum anderen über die moralische Pflicht als guter Bürger, solche Arbeiten auch tatsächlich selbst auszuführen und nicht die eigene Bequemlichkeit über die Bedürfnisse der Kriegsgesellschaft zu stellen. Auch die DDR versuchte ihre Bürger zum Heimwerken im gesellschaftlichen Interesse zu engagieren, seit 1967 sogar in Form eines jährlich neu aufgelegten Wettbewerbs. Unter dem Motto »Schöner unsere Städte und Gemeinden – Mach mit!« hielt die Nationale Front, der Zusammenschluss der Parteien und Massenorganisationen in der DDR, alle EinwohnerInnen und Betriebe dazu an, die »volkseigenen Wohnungen« in Eigenleistung instand zu halten, zu renovieren und zu modernisieren sowie neuen Wohnraum zu schaffen.43 Angesichts der notorischen Wohnungsnot sowie des schlechten Zustands vieler Wohnungen in der DDR war dem Staat sehr daran gelegen, Renovierungs-, Modernisierungs- und Erschließungsaufgaben an die Bevölkerung zu delegieren, um schneller Abhilfe zu schaffen. Die Nationale Front appellierte an den Gemeinsinn der BürgerInnen.

41 Cole, Mark B.: »Fort mit der Stullenwirtschaft!« Food and industrial discipline in Nazi Germany. In: Bluma, Lars/Uhl, Karsten (Hg.): Kontrollierte Arbeit – Disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert. Bielefeld 2012, S. 397–423, S. 404–414. 42 Heimwerker, Sendung vom 19.2.1944, Deutsches Rundfunkarchiv, Frankfurt a. M. (ohne Archivnummer). 43 Palmowski, Jan: Inventing a socialist nation. Heimat and the politics of everyday life in the GDR, 1945–1990. Cambridge 2009, S. 149–185.

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Deren Aktivitäten erschienen in den offiziellen Darstellungen nie als Kompensation für die mangelhafte Versorgung durch den Staat, sondern als Beweis für das Engagement und die Verantwortungsbereitschaft der ganzen Gesellschaft bei der Verwirklichung des Sozialismus.44 Wer sich hier nicht engagierte, war folgerichtig keine gute BürgerIn und SozialistIn. Mit »Schöner unsere Städte und Gemeinden – Mach mit!« setzte die Regierung der DDR flächendeckend eine bereits bestehende Politik fort. Um handwerkliche Tätigkeit der BürgerInnen zu ermöglichen und zu erleichtern, gaben die »Reparaturstützpunkte«, die von den Kommunalen Wohnungsverwaltungen unterhalten wurden, nicht nur Materialien aus, sondern sollten die Mieter auch durch fachmännische Anleitung für verschiedene handwerkliche Tätigkeiten unterstützen. Auch in Kursen außerhalb der »Reparaturstützpunkte« sollten die DDR-Bürger fit für das eigenständige Heimwerken gemacht werden.45 Im Idealfall verbanden sich mit der Selbsthilfe, so das Kalkül, die Interessen der Bewohner der staatlichen Mietshäuser mit jenen der Behörden. Die eigenhändige handwerkliche Arbeit der Bevölkerung sollte die Wohnbedingungen des Einzelnen verbessern, dem Staat materielle, personelle und finanzielle Kosten ersparen und die Identifikation der BürgerInnen mit der DDR stärken.

  A NLEITUNG  ZUM  RICHTIGEN   L EBEN   Die Schlaglichter auf Anleitungen zum Selbermachen zeigen, wie eng zumindest auf der diskursiven Ebene moralisch aufgeladene Kontroll- und Lenkungsbestrebungen mit der Erziehung zu bestimmten Praktiken des Selbermachens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zusammenhingen. Diese Ansätze waren jeweils hoch umstritten und in der Praxis waren sie nicht von den emanzipatorischen und subversiven Potenzialen des Selbermachens zu trennen. In der DDR beispielsweise halfen Heimwerker nicht nur, die staatlichen Wohnblöcke instand zu halten, sondern einige lösten ihre Wohnungsprobleme durch illegales ›Schwarzwohnen‹,

44 Ebd., S. 150 f. 45 Mut, Material und tausend Wünsche. In: das bauwerk (1961), H. 7, S. 204–207, S. 205; In Pankow beginnt ein Schulungsprogramm für Heimwerker. In: Berliner Zeitung, 2.10. 1975, S. 12; Zu den Aufgaben der Reparatur- und Beratungsstützpunkte. In: Nationalrat der Deutschen Front der Deutschen Demokratischen Republik (Hg.): Information (1973), H. 12, S. 22–23. Hauptstaatsarchiv Weimar, 6-62-0001 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Erfurt, Nr. 2326; Heimwerker auf der Schulbank. In: Berliner Zeitung, 28.1. 1976, S. 8.

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also den Einzug in eine Wohnung ohne eine entsprechende Wohnungszuweisung der Behörden, die Bedingung für ein Mietverhältnis war. Diese Hausbesetzer zogen heimlich in leer stehende, häufig verfallene Gebäude ein und machten die Räumlichkeiten wieder bewohnbar.46 Ein anderes Beispiel für die Nähe von Kontrolle und Disziplinierung einerseits und Emanzipation andererseits sind die Aussagen von Vertretern praktischer Schulfächer wie Handarbeiten oder Werkunterricht, die seit dem frühen 20. Jahrhundert ihre Fächer als Schulung für künftige Konsumenten verstanden und daran ausrichteten.47 Die Verfügbarkeit billiger industrieller Massenware setzte diese Fächer unter Legitimationsdruck. Lange bevor Verbrauchererziehung zu einem Schlagwort wurde, begannen einzelne Pädagogen, auf den Zusammenhang zwischen Praktiken des Selbermachens, Waren- und Materialkunde, Geschmackssicherheit und informierte Konsumentscheidungen hinzuweisen.48 Selbermachen sollte zur Heranbildung mündiger, informierter Kunden dienen und das Machtgefälle zwischen ProduzentInnen und KonsumentInnen ausgleichen. Angesichts der tiefgreifenden Umbrüche in der Arbeits- und Konsumwelt diskutierten jedoch Vertreter aus Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur im Verlauf des späten 19. und 20. Jahrhunderts Praktiken des Selbermachens immer wieder neu als Strategie, um den Zeitgebrauch sowie die Aneignung von Fertigkeiten verschiedener sozialer Gruppen zu beeinflussen. Die Liste der Beispiele ließe sich mühelos fortsetzen, etwa mit Blick auf die Umweltbewegung oder den Kreativitätsimperativ des späten 20. Jahrhunderts.49 Die moralische Aufladung dieser Diskurse diente dazu, die mit dem Selbermachen verbundenen Ansprüche zu legitimieren, die an den Einzelnen und an soziale Gruppen gestellt wurden. Anleitungen zum Selbermachen waren so gesehen stets auch normativ aufgeladene Anleitungen zur ›richtigen‹ Lebensführung im Kontext sich wandelnder Zeitregimes, Wertvorstellungen und Konsummöglichkeiten.

46 Grashoff: Schwarzwohnen 2011. 47 Während die Diskussionen über Handarbeitsunterricht für Mädchen um dessen Fortführung und den Ausbau kreisten, ging es beim Werk- bzw. Handfertigkeitsunterricht für Knaben um dessen Einführung; vgl. dazu Kreis: Mechanisierung 2015. 48 Ebd., S. 208–211. 49 Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012; Doernach, Rudolf: Handbuch für bessere Zeiten, Bd. 1: Bauen + Wohnen – Kleidung – Heimwerk – Wasser; Bd. 2: Nahrung – Tiere – Energie – Bio-Mobile. Stuttgart 1983.

Die  Axt  im  Haus   Heimwerken  –  die  ›Verbürgerlichung‹  des  Selbermachens     in  den  1960er  Jahren   J ONATHAN V OGES

     

A BSTRACT :   T HE   A XE  AT   H OME .   T HE   ›G ENTRIFICATION ‹   OF   DIY  IN  THE   1960 S

 

The first reports on do it yourself in the USA, which appeared in the beginning of the 1950s in the Federal Republic of Germany, were full of astonishment. Why, the commentators asked, are the members of an »affluent society« (John K. Galbraith) so keen to do things on their own, even though specialised handymen could have been engaged instead? Even though these early correspondents were sure that something similar would never happen in Germany, only a few years later the West Germans became part of the so-called »do it yourself-movement« as well. One way to enforce doing something by oneself was that it could be adapted to the German middle-class mentality which was especially strong in the first half of the 1960s. Three quite different groups of historical characters were part of this ›gentrification‹ of do it yourself: authors of DIY-publications in Germany firstly, secondly producers of DIY-equipment and thirdly pedagogues concentrating on the »problem of leisure time«.

   

 

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D O  IT  YOURSELF   –  EINE   E RFINDUNG     DER   W EIMARER   K LASSIK ?   Im Grunde sei das Do it yourself eine deutsche Erfindung, proklamierte der Stuttgarter Bürgermeister Manfred Rommel zur Eröffnung der »DIY 1978«, der dritten Heimwerkermesse, die in Deutschland vor allem auf Bestreben der Betreiber von Heimwerkermärkten hin veranstaltet wurde. Urheber des DIY sei niemand Geringerer als einer der beiden Hauptprotagonisten der Weimarer Klassik: »Der Mann ist Friedrich von Schiller, und das Wort lautet: Die Axt im Haus erspart den Zimmermann. Tell 3. Akt, 1. Szene«.1 Rommel war nicht der einzige, der meinte, auf das Wilhelm-Tell-Zitat zurückgreifen zu müssen, um den Deutschen erklären zu können, worum es beim DIY ging. Eine Titelgeschichte des Magazins »Der Spiegel« von 1965 bediente sich ebenso der Wendung (allerdings leicht abgewandelt),2 wie eines der am weitest verbreiteten DIY-Bücher, das seit Mitte der 1950er immer wieder aufgelegt und an die sich wandelnden Anforderungen der bundesrepublikanischen Heimwerker angepasst wurde.3 Schon Ende der 1960er Jahre, also am Endpunkt des im Folgenden im Fokus stehenden Jahrzehnts,4 ging Theodor W. Adorno in seinen äußerst kritischen Bemerkungen zur »Freizeit« auch auf das DIY ein. In dessen Rahmen, so der Philosoph und Soziologe, würden inzwischen viele Menschen veranlasst, »subalterne Tätigkeiten auszuüben, die früher delegiert waren«.5 Auch wenn sich sicher – insbesondere aus der Perspektive der historischen Akteure6 – über die ablehnende

1

Rommel, Manfred: Auszüge aus der Eröffnungsrede der DIY 1978. In: Heimwerkermarkt (1978), H. 10, S. 10.

2

N. N.: Do it yourself. Die Axt im Koffer. In: Der Spiegel (1965), H. 17, S. 47–59.

3

Vgl. Werkmeister, Otto: Die Axt im Haus. Ein Handbuch für Geschickte und Ungeschickte. München 1966 (2. Aufl.).

4

Die Ausführungen dieses Aufsatzes basieren auf den Recherchen zu meiner Anfang 2016 verteidigten Dissertation am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Diese behandelte das DIY bzw. das Heimwerken von den 1950er bis in die 1980er Jahre und untersuchte das Phänomen aus sozial-, kultur- und unternehmenshistorischer Perspektive.

5

Adorno, Theodor W.: Freizeit. In: Ders.: Stichworte. Kritische Modelle, Bd. 2. Frankfurt a. M 1978 (4. Aufl.), S. 57–67, S. 63.

6

Die männliche Form wird in diesem Fall bewusst gewählt, da Adressaten der Heimwerkerliteratur, Handbücher und Zeitschriften, die hier untersucht werden, nicht nur vorrangig, sondern im Grunde ausschließlich Männer waren. Das änderte sich erst mit den

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Einschätzung der Heimwerkertätigkeiten durch den intellektuellen Beobachter streiten lässt, so machte Adorno in seiner kritischen Perspektive auf das Heimwerken unter Bezugnahme auf Schiller doch auf dessen soziale Zuordnung aufmerksam: »Wilhelm Tell, das abscheuliche Urbild einer knorrigen Persönlichkeit, verkündet, dass die Axt im Haus den Zimmermann erspart, wie denn aus Schillers Maximen eine ganze Ontologie des bürgerlichen Bewusstseins sich kompilieren ließe.«7 Gerade die Beschreibung des Heimwerkens als bürgerliche Praxis erscheint erklärungsbedürftig, insbesondere wenn man bedenkt, dass das DIY seit Mitte der 1950er Jahre in Westdeutschland als genuin amerikanischer Import beschrieben wurde und bundesrepublikanische BeobachterInnen zunächst nicht müde wurden, es allein durch die Inferiorität amerikanischer Handwerkerleistungen und das mangelnde Qualitätsbewusstsein der US-BürgerInnen zu erklären.8 Wie aus einer belächelten sozialen Praxis eine – auch für die »gut-bürgerliche Gesellschaft« der Bundesrepublik9 »legitime« – Freizeitaktivität10 werden konnte, soll in diesem Beitrag diskutiert werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass insbesondere auch das Schiller-Zitat eine nicht unwichtige Rolle bei diesem Prozess spielte, diente es doch sowohl dazu, die eigene bürgerliche Bildung qua Belesenheit unter Beweis zu stellen und zeigte es zugleich die Unabhängigkeit von handwerklichen Dienstleistungen – ohne, und auf diese Unterscheidung legten sowohl die Heimwerker selbst als auch die Urheber von Heimwerkerratgebern und -zeitschriften besonderen Wert, dass materielle Not dazu führte, dass man sich die Beschäftigung des professionellen Handwerkers nicht leisten konnte.11

1970er Jahren, wo zum einen Frauen in den entsprechenden Beiträgen eine größere Beachtung zukam und zum anderen auch statistisch nachgewiesen wurde, dass Heimwerkerinnen eine immer größere Rolle im häuslichen DIY spielten. 7

Ebd., S. 64.

8

Vgl. z. B. Klein, Heinrich: »Do it yourself« – auch bei uns? In: Deutsches Handwerksblatt 8 (1956), S. 73 f., S. 73.

9

Vgl. zu dieser Einschätzung Conze, Eckart: Eine bürgerliche Republik? Bürgertum und Bürgerlichkeit in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. In: Geschichte und Gesellschaft 30 (2004), H. 3, S. 527–542, S. 533.

10 Mit der Kennzeichnung von Freizeitaktivitäten als »legitim« lehne ich mich an die Charakterisierungen unterschiedlicher Geschmacksformen in Bezug auf Kunstwerke bei Bourdieu an und übertrage sie auf soziale Praktiken. Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1987, S. 36. 11 Dies wird vor allem auch daran deutlich, dass sich westliche Heimwerker massiv von Formen des Selbermachens z. B. in der sogenannten ›Dritten Welt‹ abzusetzen versuchten. Vgl. Törnqvist, Gunnar: Diskussion zu »Do-it-yourself« in Gegenwart und Zukunft

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Drei Akteursgruppen dieser Durchsetzung des Heimwerkens in den 1960er Jahren sollen hier im Vordergrund stehen: Zunächst die seit den späten 1950er Jahren massiv wachsende Heimwerkerpublizistik in Form von Anleitungsbüchern und Zeitschriften, die neben konkreten Ratschlägen zur Bewältigung anstehender DIY-Aufgaben immer auch Legitimationen, Deutungen und Sinnstiftungen des Heimwerkens mitlieferten und in der Gesellschaft zu verankern suchten (und damit durchaus erfolgreich waren). Hinzu kommen die allgemeinen Medien, die zur selben Zeit das Thema DIY für sich entdeckten und die Form der Berichterstattung über das zunächst noch neue Phänomen abwandelten. Zwar blieb insbesondere in den High-brow-Medien eine ironische Distanz zum Selbermachen bestehen, doch von der konsequenten Ablehnung beziehungsweise dem massiven Unverständnis, das noch in den 1950er Jahren die Berichterstattung prägte, fehlte schon Anfang der 1960er Jahre jegliche Spur. Zweitens sollen in diesem Text Akteure12 mit einem dezidiert ökonomischen Interesse am Heimwerken thematisiert werden. Neben den Herstellern von Elektrowerkzeugen und Heimwerkermaterialien waren dies vor allem Groß- und Einzelhändler im baunahen Handel, die sich eine neue Kundengruppe erschlossen und diese zu erweitern suchten. Drittens war die Freizeitpädagogik in ihrem unermüdlichen Bemühen um ›sinnvolle Freizeitaktivitäten‹ auf das Heimwerken aufmerksam geworden und pries es als willkommene Alternative zu Medienkonsum und anderen Formen der ›Zerstreuung‹. Diese normativ aufgeladenen Befunde der Freizeitpädagogik gilt es dabei insoweit zu dekonstruieren, als dass ihre (zum Teil) unausgesprochenen Wertmaßstäbe kenntlich werden, auf deren Grundlage das DIY als wünschenswert klassifiziert wurde. Dabei wird deutlich, wie stark sich die entsprechenden Wissenschaftler aus dem »bürgerlichen Wertehimmel«13 des 19. Jahrhunderts bedienten und wie sie einzelnen Versatzstücken daraus durch das Heimwerken und so in einer zeitgemäßeren Form zum Durchbruch zu verhelfen suchten. Diese Koalition der Verbürgerlichung des DIY in den 1960er Jahren führte zu einer breiten Akzeptanz des Heimwerkens in der bundesrepublikanischen Gesellschaft; die Zahl derer, die sich selbstbewusst zu Heimwerkern erklärten, wuchs kontinuierlich. Der Appell an das bürgerliche Arbeitsethos auch in der Freizeit, das

am 10. Juli 1958. In: Brinkmann, Donald (Hg.): »Do-it-yourself« und der Handel (= Schriftenreihe der Stiftung »Im Grüene« 10). Rüschlikon 1958, S. 45–56, S. 55. 12 Wie die Gruppe der Heimwerker war auch die Heimwerkerbranche zu dieser Zeit noch ausschließlich männlich geprägt. 13 Zur theoretischen Begründung vgl. Hettling, Manfred/Hoffmann, Stefan-Ludwig: Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 333–359.

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DIY – ›frohe Freizeit‹ für den bürgerlichen ›Hausherren‹

Cover der Zeitschrift »Selbst ist der Mann« 8 (1964), H. 6.

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so geradezu zu einem »Freizeitethos« mutierte, fruchtete und wurde zu einer erfolgreichen bürgerlich konnotierten Vergesellschaftungspraxis.14 Grundlage der folgenden Ausführungen sind auf der einen Seite zeitgenössische Medienberichte zum DIY beziehungsweise zum Heimwerken. Ging es diesen Beiträgen vorrangig um die Berichterstattung über ein als neu wahrgenommenes Phänomen, arbeiteten sie doch gleichzeitig auch daran mit, es in bestimmter Weise zu konturieren. Weitaus offensiver arbeiteten die Anbieter von Heimwerkerwerkzeugen und -materialien daran, die mit ihren Produkten verbundenen Praktiken zu einer schichtenübergreifend akzeptierten Freizeitgestaltung zu machen. Der Popularität alles Bürgerlichen in der Bundesrepublik der 1960er Jahre entsprechend, zielten ihre Veröffentlichungen, die sich neben konkreten Hilfestellungen bei der Verwendung der Rohstoffe und Werkzeuge immer auch um die proto-philosophische Ausdeutung der damit verbundenen Praktiken annahm, darauf ab, DIY und Heimwerken als genuin bürgerliche Aktivitäten zu charakterisieren. Ebenso sahen es auch die angesprochenen Freizeitpädagogen in ihren Arbeiten zum DIY: Ihnen ging es nicht allein darum, das Heimwerken als soziale Praxis zu beschreiben und die Selbstdeutungen der Heimwerker zu analysieren. Vielmehr sahen sie es auch als angebracht an, für das Heimwerken zu werben – und das von ihnen am häufigsten zitierte Argument für das DIY war der Hinweis darauf, dass sich dadurch eine praktisch gewordene Aktualisierung bürgerlicher Werte erreichen lasse.   V OM   DIY  ZUM   H EIMWERKEN ?   Anfang der 1950er Jahre waren sich der USA-Korrespondent der Wochenzeitschrift »Die Zeit«, Peter von Zahn, und der Vertreter des organisierten Handwerks in Westdeutschland, Heinrich Klein, einig: Das, was sie bei amerikanischen Selbermachern beobachten konnten, war nichts, was auch nur entfernt für die Bundesrepublik zu erwarten stand. Mit selbstgewissem Überlegenheitsdünkel tat man DIY als unverständliche Praxis einer »Gesellschaft im Überfluss«,15 als typische »US-Verrücktheit« ab.16 Viel zu ausgeprägt sei das deutsche Qualitätsstreben, als

14 Zu dieser Begrifflichkeit vgl. Auer, Alfons: Ethos der Freizeit. Düsseldorf 1972. 15 Vgl. dazu die (nicht ganz korrekte, deshalb aber nur umso breiter rezipierte) deutsche Übersetzung des Titels von Galbraith, John Kenneth: Gesellschaft im Überfluss. München 1959 (Orig. Boston 1958: The affluent society). 16 Vgl. Klein: »Do-it-yourself« 1955, S. 74.

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dass man hier bereit wäre, auf die Arbeit professioneller Handwerker zu verzichten. In Westdeutschland interessiere man sich für antike Stiche oder antiquarische Bücher, nicht aber für die neueste Heimwerkertechnik, führte von Zahn die bildungsbürgerlich begründete Kritik am nordamerikanischen Selbermachen fort. Als gleichsam alltagsethnologischer Einblick in die Lebenswelt der Durchschnittsamerikaner seien Berichte über deren DIY-Aktivitäten durchaus von Interesse – nicht aber als Vorbild für deutsche Freizeitgestaltung, so das Fazit dieser (und vieler weiterer) Berichte.17 Während man beim Vertreter des Handwerks ein gutes Maß an wishful thinking annehmen kann, das schon allein aus ökonomischem Interesse dazu führte, dem DIY für die Bundesrepublik keine Chancen zu attestieren,18 lässt sich von Zahns Kritik als spezifischer Ausdruck einer amerikakritischen Haltung insbesondere des deutschen Bürgertums der 1950er Jahre lesen.19 Doch blieb der Diskurs – und mit diesem verknüpft auch die Praktiken – um das DIY nicht bei dieser ablehnenden Haltung stehen. Was in den Folgejahren zu beobachten war, war eine langsame Überführung des DIY weg von einer kritikwürdigen Aktivität hin zu einer Praxis, die sich nicht nur in den ›bürgerlichen Wertehimmel‹ einpassen ließ, sondern diesen geradezu kongenial zu repräsentieren schien. Diese Umdeutung fand ihren sprechenden Ausdruck in der Begriffsprägung des altartig anmutenden Kompositums ›Heimwerken‹, das seit Beginn der 1960er Jahre zwar das anglophone DIY nicht ersetzte, aber doch als gleichberechtigte und synonym verwendete Variante gebraucht wurde. Insbesondere der ›Werk‹-Begriff appellierte dabei an ein bürgerliches, vorindustrielles und nicht bürokratisiertes Verständnis von Arbeit,20 in dem sich die zunehmend als bürgerlich charakterisierten Trägerschichten des DIY wiederfinden konnten. Diese Umdeutung wird auch in dem schon angesprochenen Artikel im »Spiegel« deutlich. Der Artikel basierte zum einen auf der Sekundärauswertung früherer sozialwissenschaftlicher Studien zur wachsenden Beliebtheit des DIY in der

17 Vgl. Zahn, Peter von: Selbstgemacht in USA. In: Die Zeit, 27.10.1955; ders.: Fremde Freunde. Bericht aus der Neuen Welt. Hamburg 1953 (2. Aufl.), S. 217. 18 Auf das nicht immer konfliktfreie Verhältnis von Handwerk und Heimwerken gehe ich in meiner Dissertation genauer ein. 19 Vgl. dazu Nolan, Mary: The Transatlantic century. Europe and America 1890–2010. New York 2012, S. 266; Stephan, Alexander: A special case of cultural Americanization. In: Ders. (Hg.): The Americanization of Europe. Culture, diplomacy, and antiAmericanism after 1945. New York/Oxford 2006, S. 69–88, S. 83. 20 Vgl. Pudelek, Jan-Peter: Werk. In: Barch, Karlheinz (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 6. Stuttgart/Weimar 2005, S. 520–588, S. 523.

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Bundesrepublik. Zum anderen griff der Autor auf Interviews mit einflussreichen Akteuren der Heimwerkerbranche zurück – vom Betreiber eines »Bastlerheims« bis zu Emil Lux, einem Werkzeugimporteur und späteren Mitbegründer des OBIBaumarkt-Franchisesystems, über den Sprecher der Elektrogerätesparte der Robert Bosch GmbH bis zu einem vormaligen Maler, der sich nun als überaus erfolgreicher Anbieter von Maler-Kursen für heimwerkende Laien verdingte (und als Experte fürs Anstreichen und Tapezieren auch in DIY-Zeitschriften publizierte). Zwar beschrieb der Journalist die Zusammensetzung der bundesdeutschen Heimwerker als maßgeblich durch Arbeiter geprägt21 – nur spielte eben diese größte Gruppe der DIY-Akteure im Artikel keine weitere Rolle. Worauf es dem Autor vielmehr ankam, war auszuloten, warum auch Personen, die sich qua Berufsbezeichnung als Angehörige des Bürgertums zu erkennen gaben, nicht nur keine Probleme damit hatten, selbst heimwerkend tätig zu werden (obwohl sie es doch eigentlich nicht nötig zu haben schienen), sondern dies auch noch gerne taten. Die gegebenen Begründungen zielten dabei vor allem auf eine zunehmende Unzufriedenheit mit der eigenen Berufssituation, in der kein Wert auf die Handarbeit gelegt werde, bei der man sich nicht ›ganzheitlicher‹ Tätigkeiten erfreuen konnte und die allgemein als Arbeit gekennzeichnet wurde, bei der man nicht von der Planung bis zum Abschluss an einem Produkt arbeiten könne. Der Verlust der »Arbeitsfreude« – nicht erst im Rahmen der Humanisierung der Arbeitswelt in den 1970er Jahren ausführlich thematisiert,22 sondern auch schon in den 1950er und 1960er Jahren breit diskutiert – könne so zumindest in der Freizeit kompensiert werden.23 Dieses Erklärungsmuster diente jedoch nicht nur JournalistInnen (und SozialwissenschaftlerInnen) dazu, die schichtenübergreifende Popularität des DIY in der Bundesrepublik zu deuten. Gleichzeitig wurde eine vergleichbare Rhetorik von interessierten Kreisen auch dazu verwendet, um für das Heimwerken zu werben, dem

21 So seien 1965 nahezu die Hälfte der westdeutschen Heimwerker Arbeiter (49 %), Beamte und Selbstständige machten jeweils nur ein Zehntel der Selbermacher aus, Angestellte immerhin knapp ein Fünftel (19 %); vgl. N. N.: Axt 1965, S. 53. 22 Vgl. Seibring, Anne: Die Humanisierung des Arbeitslebens in den 1970er Jahren. Forschungsstand und Forschungsperspektiven. In: Andresen, Knud/Bitzegeio, Ursula/Mittag, Jürgen (Hg.): Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten. Bonn 2011, S. 107–126. 23 So seien »Hunderttausende von Wohlstandsmenschen, denen daran gelegen ist, in ihrer Freizeit etwas zu tun, das sie von ihren gewohnten Geschäften ablenkt«, die eigentliche Trägerschicht der DIY-Bewegung: »[E]iner Bewegung ohne Fahnen und ohne Mitgliedsbuch, die sich in wenigen Jahren zu einem neuen Wirtschaftsfaktor entwickelte.« N. N.: Do it yourself 1965, S. 47 f.

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man durch den Hinweis auf die ›Erfüllung im Werken‹ jeglichen Verdacht einer aus der Not geborenen Praxis nehmen wollte. Dies geschah durch die im erwähnten »Spiegel«-Artikel wie auch allgegenwärtig Aufzählung mehr oder weniger prominenter Heimwerker aus den unterschiedlichsten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – von Fernsehstars über das »Hörzu«-Maskottchen Mecki bis hin zu Politikern. Diese heimwerkende Starparade diente vorrangig der Visualisierung des im DIY praktisch gewordenen Appells an die bürgerliche Arbeitsethik.24 Schon die erste Ausgabe der wohl bedeutendsten DIY-Zeitschrift in der Bundesrepublik Deutschland mit dem sprechenden Titel »Selbst ist der Mann« hob auf diesen Zusammenhang ab.25 Auch wenn man die Vorreiterrolle der USA im Bereich des DIY anzuerkennen bereit war, zitierte man zugleich die unterschiedlichsten antiamerikanischen Klischees von der allzu großen Rationalitätsgläubigkeit über die Automatisierung immer größerer Lebensbereiche bis zur kritisch beäugten Massenproduktion und hielt diesen »das muntere Heimwerken – die Freude an der eigenen Leistung« entgegen. Das Ziel des DIY, so die HeimwerkerJournalisten, seien »lebensfrohe Menschen«,26 genauer wohl »lebensfrohe Männer«, denn das Magazin adressierte explizit Männer, was immer wieder zu Verwicklungen mit ebenfalls heimwerkenden Frauen führte.27 Lebensfreude, so die Botschaft, sei nur dann gewährleistet, wenn der in seinem Beruf nicht mehr ausgefüllte Mann eine ausgleichende Beschäftigung in der Freizeit finde.

24 Zur Bedeutung von Prominenten als Katalysatoren bestimmter Lebensstilmuster vgl. Seegers, Lu: Prominentenimages und Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland (1950–1980). In: Dies./Daniela Münkel (Hg.): Medien und Imagepolitik im 20. Jahrhundert. Deutschland, Europa, USA. Frankfurt a. M. 2008, S. 207–227. 25 »Selbst ist der Mann« gehört in den großen Pool der Publikumszeitschriften zu den unterschiedlichsten Themen, die bislang zeithistorisch noch immer viel zu wenig untersucht worden sind; vgl. Frei, Norbert: Die Presse. In: Benz, Wolfgang (Hg.): Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4: Kultur. Frankfurt a. M. 1989, S. 370– 416. Anfang der 1960er Jahre gab gut die Hälfte der in der ersten Erhebung zum bundesrepublikanischen DIY befragten Heimwerker an, derartige Zeitschriften zu lesen. Und ihre Zahl nahm in der Folgezeit noch zu; vgl. William Wilkens Wirtschaftswerbung KG: Do it yourself – ein Markt mit Zukunft. Berlin 1961, S. 28. 26 N. N.: Herzlich Willkommen. In: Selbst ist der Mann 1 (1957), H. 1, S. 3. 27 Auf die geschlechtergeschichtlichen Implikationen des westdeutschen DIY gehe ich in meiner Dissertation genauer ein.

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Wie der durchschnittliche Bundesbürger streicht auch Mecki sein Heim

Postkartenserie, Verlag für Kunstfreunde, Salzburg o. J.

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Es verwundert deshalb auch nicht, dass das DIY in den 1950er und 1960er Jahren als Heilmittel gegen die insbesondere das Bürgertum der westdeutschen Aufbaugeneration betreffende Krankheit par excellence, die sogenannte »Managerkrankheit«, angepriesen wurde.28 Ärzte ließen sich mit ihren Einschätzungen zur positiven Wirkung des Heimwerkens für stressgeplagte Bundesbürger zitieren,29 ominöse amerikanische Studien hätten auch den Zusammenhang von Seelenheil und DIY-Aktivität empirisch ermittelt.30 Sicher lässt sich über derartige, aus einem medizinischen Standpunkt unbedingt diskussionswürdige Thesen streiten; was hier viel mehr interessiert, ist die mit solchen Anamnesen und empfohlenen Kuren mitschwingende Einschätzung des DIY als Möglichkeit, verlorene Lebensfreude wiederzuerlangen – und das über ein Verlagern des bürgerlichen Arbeitsethos von der Berufsarbeit in die Freizeit. Geht man mit dem Zeithistoriker Eckart Conze davon aus, dass es sich bei der bundesrepublikanischen Gesellschaft um eine dezidiert bürgerliche »Mittelstandsgesellschaft« gehandelt habe – und zwar nicht im Schelsky’schen Sinne aufgrund einer statistischen Angleichung der Lebensverhältnisse, sondern aus einer eher kulturgeschichtlichen Perspektive vor allem infolge der Durchsetzung einer »gut-bürgerlichen« Mentalität31 – so fand diese in Bezug auf das Verständnis von Arbeit ihren sinnbildhaften Ausdruck im Heimwerken. Dies wird auch daran deutlich, dass zeitgleich mit den medial verbreiteten Beschreibungen und in der Heimwerkerpresse explizit bürgerlichen Argumentationsmustern auch Arbeiter auf ähnliche Erklärungsmuster zurückgriffen, um ihre heimwerklichen Aktivitäten zu kennzeichnen. Bei ihrer Befragung ostfriesischer Werftarbeiter in den frühen 1980er Jahren konnten SozialwissenschaftlerInnen um Johann Jessen und Walter Siebel eine signifikante Zäsur um das Jahr 1965 ausmachen; es fand ein Übergang »vom bewohnbaren Haus zum wohnlichen Haus« statt und nicht nur die Bewertung des Ergebnisses wandelte sich, sondern auch die Beschreibung der »Arbeit nach der Arbeit« (so der Titel der Studie). Vergleichbar den in den Medien immer wieder reproduzierten Erklärungsmustern sprachen sie nun davon, dass ihnen bei ihrer

28 Zur Diskursgeschichte der »Managerkrankheit« vgl. Kury, Patrick: Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout. Frankfurt a. M./New York 2012, S. 118–124. 29 Vgl. Wendt, Dr. med.: Hier schreibt der Leser. In: Selbst ist der Mann 2 (1958), H. 3, S. 172. 30 Vgl. Mertznich, E.: »Do it yourself!« Die immer griffbereite Medizin. In: Selbst ist der Mann 1 (1957), H. 1, S. 5. 31 Vgl. Conze: Republik 2004, S. 533.

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Arbeit auf der Werft die Erfüllung fehle, die ihnen die Arbeit am eigenen Haus verschaffe. Sie stellten zu diesem Zeitpunkt vermehrt die »Freude am Bauen« heraus.32

V OM   H ANDWERK  ZUM   H EIMWERK ?   Bis zum Ende der 1950er Jahre hatte sich der deutsche Chemieriese Henkel noch unbedingt handwerkertreu gegeben; die Produkte der Klebstoffsparte waren ausschließlich über den handwerksnahen Fachhandel und in Gebinden vertrieben worden, die professionellen Tapezierern entgegenkamen, nicht aber dem Privatkundenbedarf entsprach. Das betraf etwa den Tapetenkleister »Metylan«: Fünfoder Zehn-Kilo-Eimer des Kleisters waren auch für den unermüdlichsten Selbermacher Quantitäten, die er nicht verbrauchen konnte. Mitte der 1960er Jahre lässt sich jedoch ein fundamentales Umdenken der Klebstoffsparte des Chemiekonzerns beobachten. Das Unternehmen veranstaltete Tagungen wie der DIY-Markt zu erschließen sei, lud prominente Referenten aus der entstehenden DIY-Branche zu Vorträgen ein (so einen Betreiber eines Heimwerkergeschäfts und vor allem auch den unermüdlichen DIY-Propagandisten Emil Lux, der selbst einen Versandservice für amerikanisches DIY-Werkzeug über die westdeutschen Eisenwarenhandlungen betrieb) und stellte sich auch in Mengen und Verpackungseinheiten auf die Bedürfnisse der Heimwerker ein: »Metylan« wurde in 250-Gramm-Packungen abgefüllt, »Pattex« nicht mehr nur in Eimern, sondern auch in Tuben angeboten und darüber hinaus weitete das Unternehmen die Vertriebswege aus und belieferte zunehmend auch den auf die Heimwerker zugeschnittenen Einzelhandel – eine mehr als erfolgreiche Diversifikationsstrategie, die sich auch bei Unternehmen anderer Branchen und vor allem bei den Herstellern von Elektrowerkzeugen beobachten lässt.

32 Jessen, Johann/Siebel, Walter: Arbeit nach der Arbeit. Schattenwirtschaft, Wertewandel und Industriearbeit. Opladen 1988, S. 33. Die Autoren der Studie verorteten ihre Arbeit im sozialwissenschaftlichen Wertewandeldiskurs der 1980er Jahre. Um den angenommenen Wertewandel bezogen auf die Bewertung von Arbeit empirisch zu fassen, war es ihnen vor allem wichtig, bei ihren Befragungen von ostfriesischen Werftarbeitern nicht nur deren Einstellungen zu ihrer Berufsarbeit, sondern auch zu »außerbetrieblichen produktiven Tätigkeiten« zu erheben und die Einstellungen zu beiden Formen von Arbeit zu vergleichen. DIY ist einer der wichtigsten Bereiche dieser produktiven Tätigkeiten jenseits des Berufs; vgl. ebd., S. 171–173.

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Doch ging es diesen Unternehmen nicht allein darum, die Heimwerkernachfrage zu bedienen und durch geringfügige Produktinnovationen ihre Produkte so aufzubereiten, dass sie nicht allein vom Handwerker, sondern auch vom Heimwerker verwendet werden konnten. Dafür sorgten neben den erwähnten kleineren Verpackungseinheiten simplifizierte und in ihrer Leistung reduzierter Maschinen, zusehends didaktisierte Anleitungen und Produktinnovationen wie die nichttropfende Wandfarbe, die das Ausmalen einer Wohnung auch für den nicht ausgebildeten Heimwerker nicht zu einem Fiasko geraten ließ.33 Gleichzeitig war ihnen – aus naheliegenden ökonomischen Interessen – daran gelegen, nicht nur ihre Waren, sondern auch die Idee des Heimwerkens an sich zu bewerben. Wenngleich die These, wonach der Begriff ›Heimwerken‹ der Marketingabteilung der AEG entstammt, der empirischen Überprüfung wohl nicht standhält, so war sie doch derart plausibel, dass sie auch noch in den 2000er Jahren unhinterfragt reproduziert werden konnte.34 Dieser Aufbau eines Heimwerkermarktes geschah zum einen durch eher klassische Marketingmaßnahmen, vor allem durch Werbeanzeigen, die darauf abzielten, den auch von der DIY-Illustrierten und Heimwerkerratgebern propagierten und von der medialen Berichterstattung aufgenommenen Aspekt der besonderen Arbeitsfreude beim Heimwerken eigens herauszustellen. Weitaus interessanter als diese konservativen Formen der Werbung sind jedoch die Grenzbereiche zwischen Werbung und Information, in denen sich sowohl die Hersteller von Werkzeugen wie auch die Produzenten von Heimwerkerchemie (insbesondere im Bereich von Klebstoffen und Leimen vor allem Henkel) und anderen Materialien (so zum Beispiel die Fischer-Werke mit einem Dübel-Handbuch) hervortaten. In den

33 Zu diesem Prozess vgl. Voges, Jonathan: Vom Handwerk zum Heimwerk? Zur Diffusion professionellen Wissens in den Haushalten im Zuge der DIY-Bewegung in der Bundesrepublik Deutschland. In: Ferrum 86 (2014), S. 89–96. Diese Innovationen bestanden nicht nur darin, die Produkte zu verbessern, sondern vor allem darin, sie für einen neuen Verwendungskontext brauchbar zu machen; vgl. Ulrich Wengenroth: Technischer Fortschritt, Deindustrialisierung und Konsum. Eine Herausforderung für die Technikgeschichte. In. Technikgeschichte 64 (1997), S. 1–18. 34 Vgl. Brombach, Karoline: Der Baumarkt. Standortstruktur und Morphologie eines Bautyps zwischen den Zentren und Ansätze zu seiner Qualifizierung. Detmold 2010, S. 29. Allein die Verwendung des Begriffs »Heimwerken« im zitierten Willkommensgruß der Zeitschrift »Selbst ist der Mann« (1957) lässt diese These fragwürdig erscheinen.

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Nichttropfende Wandfarbe

Anzeige für die Compactfarbe Glemadur, in: Selbst ist der Mann 9 (1965), H. 9.

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1960er Jahren begannen sie damit, ihren Produkten nicht mehr allein Anleitungen und Hinweise zur Verwendung beizulegen, sondern auch selbst Heimwerkerbücher zu publizieren. Diese stellten zwar immer noch das eigene Produkt in den Mittelpunkt, versprachen zugleich aber sowohl eine praktische wie auch eine legitimatorische Hinführung zum Heimwerken. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für diese Literaturgattung ist das in den späten 1960er Jahren von Peter Fellner herausgegebene Büchlein »Liebe auf den zweiten Blick … Heimwerken.«35 Zwar, so Fellner, hätten viele Heimwerker mit dem DIY begonnen, weil »der dringend benötigte Handwerker erst nach Wochen und Monaten kommen kann« und dann für die geleisteten Arbeiten »oft unverhältnismäßig hohe Preise berechnen müßte«. Doch aus dieser Notwendigkeit folge die »Liebe« zur Arbeit in der Freizeit, mit »dem ersten Gelingen kommt das Vergnügen, kommt der Ehrgeiz, größere Aufgaben zu bewältigen.« Das Besondere an diesen Arbeiten sei, dass es sich um »interessante, wechselnde Aufgaben« handele, »wie sie für viele von uns im Einerlei des beruflichen Alltags vielleicht gar nicht vorkommen.« Sowohl textlich als auch in der bildlichen Repräsentation innerhalb der Publikation wird die Vorstellung der bürgerlichen Kernfamilie bemüht; insbesondere dem »Filius« könne im Heimwerken eine Anschauung von Arbeit vermittelt werden; »was Vater kann«, so der normativ auf bürgerliche Geschlechterzuordnungen anspielende Text, könne so zum performativen Vorbild für den eigenen – freilich ausschließlich den männlichen – Nachwuchs werden.36 Erst nachdem Fellner diesen Begründungszusammenhang für die Legitimität des Heimwerkens auch und vor allem für den bürgerlichen Haushalt (ja, im Grunde für den bürgerlichen Mann allein) dargelegt hat, kommt er auf das Werkzeug (und damit auf die Auftraggeberin, die AEG) seiner Publikation zu sprechen. Arbeitsfreude, so der nun wenig überraschende Schluss, könne sich nur einstellen, »wenn die Arbeit mit gut durchdachten Werkzeugen leicht von der Hand geht und so sauber gelingt wie sonst nur in der Tischlerwerkstatt«. Schon der Hinweis auf die Qualität (und damit auch implizit auf den Preis) der verwendeten Werkzeuge, macht wiederum deutlich, dass der mit dem Heimwerken zu erzielende Spareffekt

35 Abgesehen von dieser Publikation ist Peter Fellner nicht weiter in Erscheinung getreten. Ähnlich erging es auch anderen Autoren von Heimwerkerliteratur wie Alexander Giel (Schneller, besser, selbst gemacht mit Bosch. München 1977), Rudolf Wollmann (Selbermachen aber wie? Das große Werkbuch zum AEG Heimwerker-Programm. München 1976) oder Otto Werkmeister (Mach es selber. Reparaturen und Neues in Haus und Garten. Ravensburg 1959), dessen Buch immerhin bis heute – optisch angepasst an die jeweiligen Moden der Zeit – in immer neuen Auflagen erschien. 36 Fellner, Peter: Liebe auf den zweiten Blick … Heimwerken. Winnenden o. J., S. 7.

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Arbeitsteilung im bürgerlichen Haushalt

Emil Lux (Hg.), Selbst ist der Mann. Das Werkbuch zum Wolf-Cub-Vielzweck-Elektrowerkzeug. Remscheid o. J.

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nur im Sinne eines allgemeinen Appells an bürgerliche Tugenden zu verstehen ist – für nichts Geld auszugeben, was man auch selber machen kann. Dass dafür durchaus ein nicht unbeträchtliches Maß an ökonomischem Kapital aufgewandt werden musste, um sich das soziale Kapital des kompetenten, familien- und qualitätsbewussten heimwerkenden Fachmanns zu verschaffen, war Grundlage des Geschäftserfolges der AEG und anderer Anbieter von DIY-Produkten.37 Der Adressatenkreis dieser hier beispielhaft analysierten Publikation rekrutierte sich dementsprechend aus einem ausgesprochen bürgerlichen (bzw. in Conzes Verständnis verbürgerlichten) Milieu – was nicht zuletzt daran deutlich wird, dass das Eigenheim mit Garten quasi als gegeben vorausgesetzt wurde beim Interessenten einer DIY-Publikation und damit beim potenziellen Kunden von elektrischen Heimwerkzeugen.38

K AMPF  DER   Z ERSTREUUNG   –   H EIMWERKEN   Während renommierte Sozialwissenschaftler und Sozialphilosophen wie Jürgen Habermas die seit Mitte der 1950er Jahre auftretende DIY-Begeisterung westdeutscher Männer (»So zimmern wir den Tisch, statt ihn an der nächsten Ecke besser und billiger zu kaufen«39) noch im Rahmen der These eines grundlegenden Unbehagens der Menschen in einer bürokratisierten und automatisierten Berufssphäre ausdeuteten, gingen zeitgleich Pädagogen daran, die Potenziale des Heimwerkens für eine ›sinnvolle‹ Freizeitgestaltung auszuloten – und es schließlich als wünschenswerte Beschäftigung zu propagieren. Der Unterschied zwischen kritischen Sozialphilosophen (Adorno und Habermas wurden schon angeführt), empirisch arbeitenden Sozialwissenschaftlern (hier wären vor allem Erwin K. Scheuch und René König zu nennen, denen es zunächst um eine Erhebung der tatsächlichen Freizeitgewohnheiten ging40) und normativ argumentierender Pädagogik ist in Be-

37 Ebd., S. 8. Zu den hier verwendeten Kapitalsorten vgl. Bourdieu: Unterschiede 1987. 38 Vgl. Fellner: Liebe o. J., S. 8. 39 Habermas, Jürgen: Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit. In: Funke, Gerhard (Hg.): Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker. Bonn 1958, S. 219–231, S. 226. 40 Vgl. Scheuch, Erwin K.: Soziologie der Freizeit. In: König, René (Hg.): Handbuch der Empirischen Sozialforschung, Bd. 2. Stuttgart 1969, S. 735–833, S. 789–793; König, René: Freizeit als sozial-kulturelles Problem. In: Ders.: Soziologische Orientierungen. Vorträge und Aufsätze. Köln/Berlin 1965, S. 294–303.

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zug auf das DIY in den 1960er Jahren besonders evident. In ständiger Sorge darum, dass die BundesbürgerInnen mit ihrer durch Arbeitszeitverkürzungen seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre einsetzenden Verlängerung der Freizeit nichts anzufangen wüssten, dass sie sich rein ›materiellen Gelüsten‹ ergeben und sich bloß dem passiven Konsum medialer Produkte (hier vor allem die zu dieser Zeit einsetzende Kritik am Fernsehen, zuvor lässt sich Ähnliches aber auch schon für das Radio und das Kino beobachten) widmen würden, widersprach fundamental den normativen Vorgaben der bildungsbürgerlichen Beobachter der westdeutschen Freizeit. Entsprechend dem gesellschaftspolitischen Selbstverständnis dieser Freizeitforschung, machten sie selbst auch Vorschläge, wie der – aus ihrer Warte konstatierten – Freizeitmisere abzuhelfen, wie also das diagnostizierte »Freizeitproblem« zu lösen wäre. E. A. Schill, Oberregierungsrat im baden-württembergischen Arbeitsministerium, krönte seine normativ argumentiere Suada gegen Großstadt, Kino und die »Überbewertung des Materiellen« mit der Forderung, vor allem der Jugend »eine sinnvolle Freizeit zu vermitteln«.41 »Schöpferische Muße« war für ihn das Zauberwort, auf das es ankam, und dies bedeutete für ihn vor allem auch Basteln und »Werkarbeiten nach dem aus den Vereinigten Staaten auch bei uns Eingang gefundenen Grundsatze ›do it yourself‹.« Diesen Appell zu »Freizeitbeschäftigungen im eigenen Heim« schloss er mit dem auch in der Publizistik und bei den Anbietern von Heimwerkermaterialien und -werkzeugen gängigen Hinweis auf ein bürgerliches Familienidyll in der eigenen Immobilie: »Pflege der Familie und des Eigentums dürften heute zwei wesentliche Fundamente für ein zweckvoll ausgerichtetes Freizeitverhalten darstellen. Aber nicht nur das, sie vermögen auch zu einer weitgehenden Harmonisierung des persönlichen Lebensbereichs und Sicherstellung eines Höchstmaßes an wirtschaftlicher Unabhängigkeit beizutragen.«42

Eindeutiger konnte die Verbürgerlichung des DIY in den 1960er Jahren argumentativ nicht vollzogen werden. Neben dem Hinweis darauf, dass Zweckfreiheit von Aktivitäten dem bürgerlichen Arbeitsethos entgegenstünde und dem Hinweis auf die (Kern-)Familie und das Eigenheim, berührte Schill vor allem auch durch die Bemerkung zur persönlichen Unabhängigkeit eines der zentralen Elemente des

41 Schill, E. A.: Das Freizeitproblem. In: Studium Generale 14 (1961), H. 5, S. 277–284, S. 282. 42 Ebd., S. 283.

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›bürgerlichen Wertehimmels‹, der sich nun – in der Form gewandelt – auch durch das Heimwerken realisieren ließ.43 Der Pädagoge Erich Weber blies ungefähr zeitgleich und ebenfalls unter dem Titel »Das Freizeitproblem« in dasselbe Horn; auf Buchlänge ausgedehnt und mit einem wissenschaftlichen Anmerkungsapparat versehen, wiederholte er im Grunde die schon bei Schill anklingende Kritik am Freizeitverhalten der BundesbürgerInnen. Und auch ihm galt das DIY als zu fördernde Freizeitaktivität, Bastelkurse seien auszubauen und dem Werkunterricht ein größeres Interesse entgegenzubringen. Die Begründung für die Wertschätzung des Heimwerkens Anfang der 1960er Jahre spricht für sich selbst: »Dabei [bei der Schulung in Heimwerkeraufgaben, Anm. J. V.] käme es neben der Einführung in bestimmte Arbeitstechniken vor allem darauf an, formale Arbeitstugenden wie Genauigkeit, Gründlichkeit, Vollendungsbereitschaft usw. anzuerziehen«.44 Die Erziehung zum Heimwerken sollte somit nichts weniger sein als eine Erziehung hin zum bürgerlichen Arbeitsethos – wohlgemerkt sollte dies nun auch und vor allem in der Freizeit wirksam werden. Weber wies allerdings durchaus auch auf die »Gefahren« hin, die mit dem DIY (und anderen Hobbys) verbunden sein könnten. Neben dem Hinweis, dass man darüber weder den Beruf noch die Schule vernachlässigen dürfe, ging es ihm dabei vor allem um die Ökonomisierung des Heimwerkens durch den »Freizeitmarkt«, der sich auch dem DIY »mit finanziellem Gewinn angenommen« habe.45 Wies Jürgen Habermas Mitte der 1950er Jahre noch äußerst ironisch auf die Dialektik des Markts für Heimwerkerprodukte hin,46 so sah sich Weber vor allem in der Rolle des Mahners: »Man bringt Handbücher und periodische Zeitschriften mit entsprechender Reklame heraus, die stets das ›Neueste‹ und ›Praktischste‹ anpreisen, das ›man‹ haben muß, nach dessen Anschaffung jedoch gerade wieder jener alte Zustand – den man überwinden will – herbeigeführt wird, in dem die eigene handwerkliche Praxis immer mehr von der Industrie verdrängt wird.«47

43 Vgl. zur Bedeutung von Unabhängigkeit und Selbstständigkeit im bürgerlichen Wertegerüst Hettling, Manfred: Die persönliche Selbstständigkeit. Der archimedische Punkt bürgerlicher Lebensführung. In: Ders./Hoffmann, Stefan-Ludwig (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Göttingen 2000, S. 57–78. 44 Weber, Erich: Das Freizeitproblem. Anthropologisch-pädagogische Untersuchung. München 1963, S. 268. 45 Ebd., S. 266. 46 Vgl. Habermas: Notizen 1958, S. 226. 47 Weber: Freizeitproblem 1963, S. 266.

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Dass sich sowohl die gescholtene ›Industrie‹ ebenso wie die kritisierten Bücher und Periodika ähnlicher Deutungsmuster bedienten wie der Pädagoge, um das Heimwerken in der Bundesrepublik als legitime Freizeitpraxis durchzusetzen, dass Freizeitpädagogik, Heimwerkermarkt und DIY-Publizistik sich quasi in einer Koalition der DIY-Propagandisten wiederfanden, in der sie zuweilen mit unterschiedlichen Interessen durchaus am selben Ziel – einer steigenden Akzeptanz für das DIY in der Bundesrepublik – arbeiteten, ist nur eine der zahlreichen Paradoxien der DIY-Geschichte. Dass diese Werbung für das DIY vor allem auch über den Hinweis auf die ›Bürgerlichkeit‹ der sozialen Praxis erfolgte, lässt sich wiederum aus der Wertschätzung alles ›Gutbürgerlichen‹ in der ersten Hälfte der 1960er Jahre erklären.

H EIMWERKEN  ZWISCHEN  BÜRGERLICHEM  UND   ANTIBÜRGERLICHEM   L EBENSSTIL   »Weniges gleicht dem Glück, das eine mit eigenen Händen sauber getane Arbeit gewährt. Mit welchem Stolz zeigt man sie vor bei Familie, Freunden, Nachbarn. […] Und um wieviel schöner und angenehmer lebt es sich in einem Haushalt, in dem alles blitzsauber ist, alles funktioniert; in einem Heim, das Zweckmäßigkeit, solide Beständigkeit und freudige Farbigkeit ausstrahlt.«48

Dieses Bekenntnis zur bürgerlichen Heimeligkeit stellte Otto Werkmeister seinem populären DIY-Ratgeber Mitte der 1960er Jahre voran – als Appell an den »Hausvater« selbst aktiv zu werden. Wie in der Analyse der unterschiedlichen Veröffentlichungen verschiedenster Kommentatoren – von Journalisten über Marketing-Fachleute bis hin zu Pädagogen – deutlich wurde, war er damit zu dieser Zeit nicht allein. War das DIY ein schon in der Namensgebung erkennbarer Import aus dem anglophonen Sprachraum, so suchten deutsche Kommentatoren und Propagandisten nach Möglichkeiten, es auch für bundesrepublikanische, latent amerikakritische Rezipienten attraktiv zu machen. Dies geschah, wie sich aus den Quellen ergab, vor allem durch die Ausdeutung des Selbermachens als genuin als bürgerlich zu klassifizierende Tätigkeit.49

48 Werkmeister: Axt 1966, S. 12. 49 Der Ansatz Doering-Manteuffels für die Ideen- und Politikgeschichte der »Westernisierung« nach 1945, nicht allein auf die lange Zeit vorherrschende These der Amerikanisierung zu schauen, sondern immer auch nach den Aneignungen und Anverwandlungen zu fragen, denen diese Amerikanismen in Westdeutschland unterworfen waren,

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Mit dem Ende der 1960er Jahre wandelte sich allerdings das Bild; moralisierende Begründungen zum Heimwerken waren immer weniger notwendig, die Praxis des DIY war derart ›normalisiert‹,50 dass es keiner langatmigen und geistesgeschichtlich weit ausholenden (und sich zum Beispiel bei Schiller bedienenden) Begründungen mehr bedurfte, um zum Heimwerken zu animieren. Waren die 1960er Jahre die Hochzeit einer bewusst im Sinne der bundesrepublikanischen mittelständischen Mentalität51 ausgedeuteten Heimwerkerpraxis, so konnte man in den 1970er Jahren auf derartige Begründungen verzichten. Das lässt sich schon aus den Vorworten der Heimwerkerpublizistik ablesen: statt der Erklärung, warum es nicht nur legitim, sondern sogar wünschenswert sei, sich heimwerkend zu betätigen, trat nun immer offensiver die Botschaft, dass es immer einfacher sei, zum Heimwerker zu werden und auch immer großformatigere Projekte anzugehen, in den Vordergrund. Dass sich zeitgleich zum Heimwerkerboom in der Bundesrepublik auch alternative Milieus des Heimwerkens annahmen, das DIY geradezu einer »dissidenten Kaperung«52 unterzogen, um es so in den eigenen, betont »antibürgerlichen« Lebensstil zu integrieren,53 verdeutlicht aufs Neue die zahlreichen Möglichkeiten, das Selbermachen auf die verschiedensten Arten – und zum Teil mit geradezu gegensätzlichen Begründungen – für sich selbst zu interpretieren.

sollte sich auch im Bereich der Kulturgeschichte durchsetzen. Vgl. Doering-Manteuffel, Anselm: Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert. Göttingen 1999. 50 Zur langsamen »Normalisierung« des DIY vgl. Shove, Elizabeth/Watson, Matthew/ Hand, Martin/Ingram, Jack: The design of everyday life. Oxford/New York 2007, S. 49. Anders als die AutorInnen nehme ich allerdings nicht an, dass diese »Normalisierung« erst mit dem verstärkten Vorkommen von DIY-Fernsehsendungen und dem Internet, sondern schon durch die Zunahme an Heimwerkerpublizistik und Berichten über das DIY seit den späten 1960er Jahren erfolgt ist. 51 Vgl. Conze: Republik 2004, S. 532. 52 Zur Begrifflichkeit vgl. Engels, Jens-Ivo: Umweltschutz in der Bundesrepublik. Von der Unwahrscheinlichkeit einer Alternativbewegung. In: Reichardt, Sven/Siegfried, Detlef (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa 1968–1983. Göttingen 2010, S. 405– 422, S. 413. 53 Vgl. dazu Reichardt, Sven/Siegfried, Detlef: Das Alternative Milieu. Konturen einer Lebensform. In: Dies. (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa 1968–1983. Göttingen 2010, S. 9–24.

Handarbeits-­/Techniken  

Die  Wiener  Handarbeit  als  nationales  Leitbild   L ISBETH F REISS

      A BSTRACT :   V IENNA   N EEDLEWORK  AND     THE   › SELF -­ MADE ‹   N ATION     Filling a critical gap this contribution offers a new reading of female practise of needlework at the end of the 19th century in the Austro-Hungarian Monarchy. The article provides an overview of the process, which emerges »Vienna Needlework« to create a statement of national interest, which homogenizes the multi-ethnic society in the Habsburgian Monarchy. It focuses the historical role of Do it yourself by national appropriation, subsuming the social and ethnical diverse field of female producers, from bourgeois needlework, folk art and oriental techniques, under Vienna’s hegemony.

In den Bemühungen um Modernisierung der textilen Produktion adressieren die Reformen des Geschmacks in der Habsburger Monarchie auch das weibliche Selbermachen. In den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erlangen vorindustrielle textile Handarbeitstechniken und insbesondere Erzeugnisse ländlich, bäuerlicher Produzentinnen aus den Kronländern die Aufmerksamkeit von Kunst, Industrie, Mode und Bildungseinrichtungen. Die angestrebte Modernisierung und ästhetische Erneuerung zielt darauf, Hausfleiß und Hausindustrie nicht nur nationalökonomisch nutzbar zu machen. Im Sinne einer zentralistischen Politik streben

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die Metropole Wien und ihre bürgerlichen Schichten die Entwicklung einer Wiener Handarbeit1 an: Praktiken der weiblichen Handarbeit sollen als Leitbild für ein national vereinheitlichendes, österreichisches Identifikationsmuster fungieren. Die Reformbestrebungen aus Kunst, Technik und Industrie zur Aufwertung der textilen Handarbeit implizieren zunächst ein emanzipatorisches Moment, das Frauen – wenn auch beschränkt – den Zugang zu höherer Bildung ermöglicht und den Arbeiten der Bäuerinnen der abgelegenen Regionen in den Kronländern Sichtbarkeit in der Metropole und Aufmerksamkeit, auch seitens der Wissenschaft, einräumt. Von der räumlichen und sozialen Marginalisierung der Produzentinnen und den divergierenden Produktionsverhältnissen zwischen Stadt und Land ausgehend, bemühen sich VertreterInnen der gebildeten, kunstsinnigen Elite Wiens um die ästhetische Erneuerung und um die (haus-)industrielle Verwertbarkeit der weiblichen Handarbeit. Die künstlerisch, wissenschaftlich, technisch und volkswirtschaftlich perspektivierten Initiativen zur Neukonzeption vorindustrieller Praktiken der textilen Produktion etablieren gleichzeitig ein nationalstaatliches Deutungsmuster. Dieses dominiert die soziale und ethnische Kategorisierung, in der auf die Diversität der Akteurinnen und ihrer Artefakte hingewiesen wird. Emanzipatorische Ansätze, die sich im Zuge der Präsenz und Debatte dieser weiblichen Terrains eröffnet haben, werden durch die nationalstaatliche Indienstnahme handarbeitender Frauen in den Hintergrund gedrängt. Textile Handarbeit wurde in der patriarchalen Politik des 19. Jahrhunderts zum Instrument der Konstruktion von Weiblichkeit – ungeachtet sozialer Differenzen – und sollte wiederum in die Konstruktion einer homogenen Nation integriert werden. Um die Schritte dieser nationalen Vereinnahmung, deren hegemoniale und vereinheitlichende Mechanik fassen zu können, wird hier zunächst das sozial, ethnisch und ästhetisch diverse Feld von Handarbeiten und deren Produzentinnen ab den 1870er Jahren offengelegt. Dies ermöglicht mir aufzuzeigen, wie die Wiener Handarbeit eine Dachfunktion herausbildet. Als Leitbild für eine österreichische Handarbeit ist Wiener Handarbeit die Klammer, die neben den Praktiken der textilen Eigenproduktion – auch imperiale Elitenbildung und nationalstaatliche Bestrebungen im Vielvölkerstaat einschließt. Strategien und Programmatik der Entwicklung der Wiener Handarbeit stützen den imperialen Status des habsburgischen Staates, der ein schwach integriertes Vielvölkerreich darstellt. Nach den Deutsch-Österreichern dominieren mit der 1867 neu geschaffenen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn die Magyaren. Infolge von Gebietserweiterungen, etwa

1

Aufgrund der im Folgenden skizzierten Diskurse und einer Verdichtung im Sprachgebrauch wird der Begriff kursiv gesetzt.

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der Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878, stören zudem knapp zwei Millionen Südslawen das Gleichgewicht der Nationalitäten.2 Mit der Frage nach der Wiener Handarbeit und ihrer Funktion als nationales, homogenisierendes Leitbild lenkt der Aufsatz den Fokus auf die nationalstaatlich motivierte und durch Institutionen und Massenmedien beförderte Vereinnahmung der im Vielvölkerstaat häkelnden, strickenden, stickenden, nähenden oder Spitzen klöppelnden Frauen. Wie wird die Handarbeit von Frauen für die Herstellung eines nationalen Identifikationsmusters nutzbar gemacht? Welche Bedeutung hat in diesen Prozessen eine auf nationale Homogenisierung abzielende Politik des habsburgischen Vielvölkerstaates? An Beispielen des Wiener Ausstellungsgeschehens, das die weibliche Handarbeit und deren Artefakte dem internationalen und nationalen Vergleich unterzieht, sowie der Etablierung einer Wiener Modepresse zur massenmedialen Verbreitung der Handarbeit ab der Mitte des 19. Jahrhunderts soll die Genese einer Wiener Handarbeit konkretisiert werden. Handarbeitslehrerinnen, Kunstwissenschaftler, Verleger und Moderedactricen werden als VertreterInnen des Wiener Bürgertums und als AkteurInnen vorgestellt, wie sie für die Forderung nach einer ästhetischen Erneuerung der weiblichen Handarbeit und ihrer Artefakte eintreten: Sie erklären die textile Handarbeit zum Gegenstand von Publikationen, bereiten Handarbeitsanleitungen für die massenmediale Verbreitung durch die Wiener Modepresse auf und initiieren staatliche Förderungsprogramme. Dieser Diskurs bildet die Grundlage, um am Beispiel der Wiener Handarbeit weibliches Selbermachen aus der Perspektive nationalisierender Politiken aufzuzeigen.

K ONKURRENZEN  ZWISCHEN   »D ILETTANTENHÄNDEN « 3   4 UND   » NATIONALEN   H ÄNDEN «     Den Auftakt zur Modernisierung und industriellen Förderung der textilen Handarbeit liefert der internationale Vergleich durch die Wiener Weltausstellung 1873. In einem gesonderten Pavillon5 zeigt die Schau neben technischen und industriellen Errungenschaften der Nationen die Frauenarbeit – die Jacob von Falke, Kunst-

2

Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. München 2009, S. 624.

3

Falke, Jacob: Einleitung. In: Specialausstellung weiblicher Handarbeiten im K. K. Österr. Museum für Kunst und Industrie (März, April, Mai 1886). Führer und Bericht. Wien 1886, S. 3–8, S. 7.

4

Ebd., S. 5.

5

Ebd., S. 3.

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und Kulturhistoriker, Kurator und späterer Direktor des K. K. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie6 als »das regellos erfundene, undefinierbare Gebilde«7 denunziert. Reduziert auf Artefakte aus weiblicher Handarbeit werden die Exponate geografisch, institutionell (Schulen, Strafanstalten) und sozial geordnet. Mit den ›Dilettantinnen‹ sind auch Arbeiten von Bürgerinnen und Aristokratinnen und ihre sogenannte laienhafte, weil häusliche Produktion vertreten. Weibliche Hausarbeit und Hausindustrie werden als eine nationale Errungenschaft der k. k. Monarchie arrangiert.8 Entgegen dieser Betonung der Vielfalt von Formen der ausgestellten Frauenarbeiten berichtet Aglaia Enderes, Sekretärin des Wiener Frauen-Erwerb-Vereines9 und offiziell Wiener Weltausstellungsbeauftragte (mit dem Referat Frauenarbeit),10 dem Unterrichtsminister von der Beeinflussung ländlicher Hausindustrie durch modische Handarbeitstechniken. Die Autorin betont, dass »die meisten Weissstickereien und die Buntstickereien nicht minder – […] in den Ländern wie Mähren und Schlesien und Steiermark wie die Arbeiten von Städterinnen aus[sehen]«.11 Diese Beobachtung widerspricht Falkes12 Definition der nationalen Hausindustrie, womit dieser Gegenstände bezeichnet, welche im Volk oder aus dem Volk für den Gebrauch des Volkes eigentümlich geschaffen werden. Nach Falke ist Hausindustrie

6

Vgl. http://www.mak.at/das_mak/geschichte (Zugriff: 19.9.2016). Jacob von Falke leitet von 1885–1895 als Direktor das K. K. Österreichische Museum für Kunst und Industrie; ebd.

7

Enderes, Aglaia v.: Die Frauenarbeit. In: Lützow, Karl von (Hg.): Kunst und Kunstgewerbe auf der Wiener Weltausstellung 1873. Leipzig 1875, S. 181–261, S. 181.

8

Enderes, Aglaia v.: Die österreichische Spezial-Ausstellung der Frauenarbeiten auf der Wiener Weltausstellung. Bericht an den Minister des Unterrichts Dr. K. v. Stremayer Exc. Wien 1874.

9

Der Verein wurde 1866 zum Zwecke der Ausbildung und Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen gegründet und stellt u. a. auch unentgeltlich eine Nähstube zur Verfügung; vgl. http:/www.onb.ac.at/ariadne/vfb/fv_wfev.htm (Zugriff: 19.9.2016).

10 Vgl. Österreichische Nationalbibliothek: Ariadne. Frauen in Bewegung. Biographie Enderes, Aglaia v. (geb. Podhaisky); vgl. http:/www.onb.ac.at/ariadne/vfb/bio_enderes.htm (Zugriff: 19.9.2016). 11 Enderes: Spezial-Ausstellung 1874, S. 43. 12 Falke, Jacob v.: Die nationale Hausindustrie. In: Zur Cultur und Kunst. Wien 1878, S. 285–322.

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»von der Nationalität in diesem Sinne völlig unabhängig […]; was sie unterscheidet, das ist der Gegensatz gegen die Mode, das ist das Bleibende im Gegensatz zum Wechsel, zum ewig Neuen, das ist das Eigentümliche der unteren Klassen, insbesondere des Landvolks und zwar jene Gegenden, in welche die moderne Zivilisation und mit ihr die Mode wenig oder gar nicht gedrungen ist«. 13

»Im Sinne des Volkstümlichen, des volkstümlich Originellen«14 unterscheide sich die nationale Hausindustrie von den großen Nationen der »Kulturstaaten« und deren Industrien. Alois Riegl, Kunsthistoriker und von 1897–1909 Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte an der Universität Wien,15 interpretiert in »Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie« die Verwendung des Begriffes Hausindustrie als irreführend, weil er die technische Vereinnahmung bäuerlicher Produktion organisiere. 16 Seine Abhandlung zentriert auf die Frage »Wo hört die Volkskunst auf und beginnt das Reich der internationalen Kunst?«, die von der Mode überformt sei und die sich nicht mit der Begründung einer Erzeugung innerhalb des städtischen Gemeinwesens beantworten lasse.17 Als ausschlaggebend erachtet Riegl die Art der wirtschaftlichen Produktion, also ob ein Erzeugnis durch Hausfleiß, in Lohnarbeit 18 oder als importierte Handelsware entstanden ist. Das Dilemma, das in solchen, dem nationalen Hausfleiß zugeordneten Exponaten sichtbar werde, so Enderes, bestehe darin, dass sich die hausindustriellen Produkte nicht als Handelsartikel eigneten, und »dass es eben mit dieser Industrie zu Ende geht«.19 Auch Falke attestiert den Erzeugnissen von sogenannten Dilettantinnen und Schülerinnen den Niedergang und ortet hierin: »Mangel an Zeichnung, Mangel an Farbsinn, Mangel an Technik, kurz Mangel an Geschmack und Kunst, auf der anderen, d. h. auf der orientalischen Seite, Zeichnung und kunstvolles Arrangement, Schönheit in Farbe und Ornament, Reichtum des Effektes und

13 Falke: Cultur 1878, S. 287 f. 14 Ebd. 15 Vgl. Universität Wien: Institut für Kunstgeschichte. Geschichte des Instituts. Unter: https://kunstgeschichte.univie.ac.at/institut/geschichte-des-instituts/ (Zugriff: 19.9.2016). 16 Riegl, Alois: Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie. Berlin 1894, S. 57 f. 17 Ebd., S. 3. 18 Ebd., S. 48. 19 Enderes: Spezial-Ausstellung 1874, S. 43.

64   |  L ISBETH   F REISS   der Manieren, richtiges Gefühl für das Schickliche und Angemessene, alles, was Herz und Verstand nur wünschen kann.«20

Im internationalen Wetteifer erweise sich das Andere, die Schönheit und Qualität der Arbeiten des Orients, »die Stickereien von Indien, China, Japan, aus der Türkei, Persien und von Steppen Hoch- und Mittelasiens«, zu denen die »Arbeiten der Bäuerinnen aus näher liegenden Völkerschaften, die man sich als barbarisch oder halbbarbarisch zu denken gewöhnt hat, aus Slawonien, aus Russland oder selbst Lappland« hinzukämen, als richtungsweisend für die ästhetische und handarbeitstechnische Erneuerung. »Man hatte viel an allem zu bewundern.«21 Auch Enderes unterbreitet in ihrem Bericht an den Minister den Vorschlag, »eigentümlich orientalische Techniken der Stickerei für die moderne Industrie zu erhalten und von Frauenhand nachzumachen«.22 Paradoxerweise setzt die Modernisierung der textilen Produktion in der Vielvölkermonarchie auf technisch antiquierte, zeitaufwändige Verfahren und spricht diesen Formen der weiblichen Handarbeit eine »hohe nationalökonomische Bedeutung«23 zu. Gleichzeitig entdecken ExpertInnen aus Kunstwissenschaft und Kulturgeschichte die weibliche Handarbeit als Forschungsgegenstand. Unterstützt vom Staat ergreifen sie Maßnahmen, um insbesondere die Stickerei zu reformieren, deren Erzeugnisse nicht nur zur »Verzierung der Wohnung und ihre[r] Ausstattung«,24 sondern auch (haus-)industrielle Bedeutung und wirtschaftlichen Erfolg versprächen. Mit Unterstützung des Handelsministeriums gründet die Journalistin, spätere Fachschullehrerin und Directrice Emilie Bach25 1874 in Wien die K. K. Fachschule für Kunststickerei,26 um Berufsstickerinnen und Lehrerinnen auszubilden.

20 Falke: Zur Cultur 1878, S. 250. 21 Ebd. 22 Enderes: Spezial-Ausstellung 1874, S. 43. 23 Enderes: Frauenarbeit 1875, S. 182. 24 Falke: Einleitung 1886, S. 5. 25 Vgl. Österreichische Nationalbibliothek: Ariadne. Frauen in Bewegung. Biographie Bach, Emilie (geb. Kohn); vgl. www.onb.ac.at/ariadne/vfb/bio_bachemilie.htm (Zugriff: 19.9.2016). 26 Vgl. Winkler, Leopoldine: Austria-Spitze. Gammelby 2004, S. 5; heute: Schulzentrum Die Herbststraße. Mode und Kunst. Bevor das Schulgesetz vom 14. Mai 1869, erlassen von Kaiser Franz Josef, den Handarbeitsunterricht zum Pflichtgegenstand in der Volksschule erklärt (vgl. Nigg, Marianne: Österreichs Handarbeit. Korneuburg 1894, S. 20)

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In Agram, Graz, Laibach, Prag und Brünn werden Schulen nach dem Wiener Vorbild eingerichtet, deren Lehrerinnen kommen meist aus dem Kreis der Absolventinnen in Wien und werden, von der ›Mutterinstitution‹ ausgestattet mit Mustern und Techniken, in die Kronländer entsendet.27 Die moderne Wiener Lehre eignet sich als orientalisch und national definierte Methoden an und beruft sich auf Kunstverständnis und Zeichenunterricht, um »die stickende Hand zuerst zu einer zeichnenden [zu] machen«.28 Um die Spitzenfabrikation, die in der Wiener Fachschule für Kunststickerei nur eine marginale Rolle spielt, als eigenständigen Industriezweig und als Einkommensmöglichkeit ärmerer Regionen in der k. k. Monarchie zu etablieren, wird »unter Hofrath Storck’s Leitung durch die Regierung«29 der »Zentralspitzenkurs« gegründet. Dieser besteht aus zwei Abteilungen: Die Abteilung für Musterentwurf agiert in enger Anbindung an die Kunstgewerbeschule des K. K. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie.30 Die zweite Abteilung, geleitet von der Lehrerin für Spitzennähen Franziska Pleyer,31 holt »locale Spitzenarbeiterinnen«32 aus den Kronländern zur Ausbildung und Ausführung der Entwürfe in die Metropole Wien. Die Absolventinnen dieses staatlich subventionierten Kurses werden dann »mit einer Fülle von neuen Mustern versehen in die Heimat zur Lehre und zur Ausübung ihrer Kunst«33 zurückgeschickt. Die Spitzenfabrikation wird gewissermaßen von Wien aus angeleitet. Dem »Zentralspitzenkurs« obliegt jedoch nicht

und in den Jahren 1870/71 der unentgeltliche Unterricht in den weiblichen Handarbeiten an den öffentlichen Volksschulen eingeführt wird (vgl. Enderes: Bericht 1874, S. 25), erteilen Frauen-Wohltätigkeitsvereine Unterricht in textilen Handarbeitstechniken; vgl. Seidel, Ludwig Wilhelm (Hg.): Erster Jahresbericht über Entstehen, Geist und Wirken des Frauen-Wohltätigkeitsvereines in Wien seit seiner Gründung im Jahre 1848 bis zum Schlusse des Jahres 1849. Wien 1850. 27 Falke: Einleitung 1886, S. 3. 28 Ebd., S. 5. 29 Ebd., S. 6. 30 1867 werden theoretische und praktische Ausbildung in der Gründung der Kunstgewerbeschule vereint (heute: Universität für Angewandte Kunst Wien); vgl. http://www.mak.at/ das_mak/geschichte (Zugriff: 31.1.2015). 31 Vgl. Eckhel, Nerina u. a.: Zentralspitzenkurs in Wien. History, work and reception in the countries of the Austro-Hungarian Monarchy. Lepoglava 2002, S. 15. 32 Falke: Einleitung 1886, S. 6. 33 Ebd.

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nur das Ausbildungsprogramm, er hält auch das Verlagsmonopol34 für den Spitzenhandel der gesamten, in Verbindung mit dem Kurs stehenden Produktion. Die einzelnen Exposituren35 binden ihre Heimarbeiterinnen mit Rohmaterialien, Klöppelbriefen, fachlicher Expertise und geringfügig höherer Entlohnung. Diese Praxis dezimiert das freie Verlagswesen und treibt zugleich die Monopolisierung des Spitzenhandels der gesamten k. k. Monarchie voran.36 Im Jahre 1886 prüft die »Special-Ausstellung weiblicher Handarbeiten«, gezeigt im K. K. österr. Museum für Kunst und Industrie, den Erfolg der Bemühungen um die Aufwertung der weiblichen Handarbeit als Gemeingut mit nationalökonomischer Verwertbarkeit. Mit Verweisen auf »nationale Hände«37 und »Dilettantinnenhände«38 wird die nationalstaatliche Indienstnahme der Staatsbürgerinnen eine totale, über die Arbeit auch die körperlichen Dimensionen umfassende Vereinnahmung. In Anknüpfung an den internationalen Wettstreit der Wiener Weltausstellung von 1873 erklärt Falke: »Solche Gegenstände einmal wieder aus der ganzen österreich-ungarischen Monarchie vereinigt«39 zu sehen, ermögliche das Aufzeigen von Geschmacksveränderungen. Die Beiträge im »Führer und Bericht« über die »Special-Ausstellungweiblicher Handarbeiten«, verfasst von ExpertInnen40 aus Kulturgeschichte, Kunstwissenschaft und Bildung, beurteilen die

34 Vgl. Cronbach, Else: Die Österreichische Spitzenhausindustrie. Wien-Leipzig 1907. Cronbach thematisiert die Forderung, dass die soziale Versicherung auf die hausindustrielle Arbeiterschaft genauso ausgedehnt werden müsse, wie Maßnahmen des Arbeiterschutzes und gesetzliche Mindestlöhne; vgl. ebd., S. 5 f. Da Heimarbeit als unselbstständige Arbeit ausgewiesen ist, zielt die Forderung auf die Beseitigung der Unterschiede zwischen Werkstattarbeit und Heimarbeit. Wird Heimarbeit der selbstständigen Arbeit zugeordnet, fordert Cronbach Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch den Zusammenschluss in Produktivgenossenschaften. 35 Falke nennt Gossengrün im Erzgebirge, Zakopane in Galizien, Hotzenplotz in Schlesien, im Süden Proveis, Malé, Idria, Luserna, Isola, Predazzo usw.; vgl. Falke, Jacob v.: Der Spitzencurs und die Fachschulen für Spitzenindustrie. In: Special-Ausstellung weiblicher Handarbeiten im K. K. Öster. Museum für Kunst und Industrie. Führer und Bericht. Wien 1886, S. 9–12, S. 9. 36 Vgl. Cronbach: Spitzenhausindustrie 1907. 37 Falke: Einleitung 1886, S. 5. 38 Ebd., S. 7. 39 Ebd., S. 3. 40 Jakob v. Falke, Kurator am K. K. Museum für Kunst und Industrie, verfasst die Einleitung (In: Special-Ausstellung 1886, S. 3–8) und ebd. den Beitrag: Der Spitzenkurs und

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Zusammenschau und ästhetischen Entwicklungen positiv. Emilie Bach etwa listet die vielfältigen, ästhetisch ansprechenden Arbeiten der »nationalen Hände« auf, betont ihr »eminentes Stylgefühl«, den »naiv, gesunden Kunstsinn«41 sowie die Eignung als modernes Industrieerzeugnis.42 Die Handarbeiten von Wienerinnen und sogenannter Dilettantinnen aus anderen Städten hingegen könnten die ästhetischen Anforderungen nicht erfüllen und zeigten, dass die Reform hin zum modernen Geschmack weder bis in die Häuser der Bürgerinnen noch bis in die Schulen vorgedrungen sei. Der Manierismus der ›schönen‹ Handarbeit halte dem Vergleich mit der »schweren Hand der Bäuerin«, die es verstehe »mit einfachen Mitteln Effekte zu erzielen«,43 nicht stand. Bach betont die unerwartete Homogenität sämtlicher Ausstellungsstücke aus nationaler Hausindustrie, die »aus beiden Reichshälften einheitlich und harmonisch, obgleich kein Stück der aus verschiedenen Kronländern eingesandten entfernt worden ist«.44 Darüber hinaus beobachtet Bach am Beispiel von Exponaten aus der mährisch-ländlichen Hausindustrie die Annäherung zwischen Peripherie und Zentrum, die dazu beitrage, die räumlich sozialen und ethnischen Unterschiede zu verwischen. Der national ausgerichtete Vergleich lenkt die Aufmerksamkeit auf bäuerliche Praktiken, um sie den »Dilettantinnenhänden«45 der Wiener Bürgerinnen näherzubringen: »Wem war es bekannt, dass in einem benachbarten Kronlande, so nahe dem Zentrum des Reiches, eine so eigenartige, mannigfaltige und echt künstlerische Hausindustrie heimisch ist oder vielmehr in früheren Zeiten heimisch gewesen ist?«46 Der nationale Impetus ignoriert Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie und unterwirft die Vielfalt der Praktiken einer nationalstaatlich homogenisierenden Programmatik. Der museale, künstlerische Kontext implementiert zudem

die Fachschulen für Spitzenindustrie, S. 9–12. Emilie Bach, Leiterin der K. K. Fachschule für Kunststickerei ist Autorin des Beitrages: Die nationale Haus-Industrie, ebd., S. 23–31). Die Zusammenarbeit von Falke und Bach schließt auch Theresa Mirani, K. u. K. Kammerkunststickerin, erste Lehrerin und auf Emilie Bach folgende Direktorin der K. K. Fachschule für Kunststickerei mit ein; vgl. Nigg, Marianne: Biografien der österreichischen Dichterinnen und Schriftstellerinnen. Korneuburg 1893, S. 38. Mirani widmet ihren Beitrag den »Stickereischulen, Damenarbeiten, Arbeiten der Sticker und Stickerinnen von Beruf«; vgl. Mirani, Therese: In: Special-Ausstellung 1886, S. 13–22. 41 Bach: Haus-Industrie 1886, S. 23. 42 Ebd. 43 Falke: Einleitung 1886, S. 5. 44 Bach: Haus-Industrie 1886, S. 24. 45 Falke: Einleitung 1886, S. 5. 46 Bach: Haus-Industrie 1886, S. 29.

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ein wissenschaftsbasiertes Moment. Die angestrebte Synthese aus den Handarbeiten von Aristokratinnen, Bürgersfrauen und Bäuerinnen sowie die Entdeckung der Nähe Wiens zu seinem Hinterland verwischen die Grenzen und nobilitieren die Erzeugnisse aus »nationaler Hand«.47 Nach Bachs Expertise halten aus der Bukowina stammende Perlbordüren sogar dem Vergleich mit den ägyptischen Perlenarbeiten im Pariser Louvre stand.48 Der Vergleich mit Paris, die Ähnlichkeit der Arbeiten mit Exponaten antiker Hochkultur und ihre Eignung für die moderne Hausindustrie nobilitieren die ›nationale Hand‹ und stützen gleichzeitig die Bedeutung der Wiener Handarbeit als Leitbild einer österreichischen Handarbeit.49

D IE   V ERSTOFFLICHUNG  DER  NATIONALEN   I MAGINATION   Der Intention der Wiener Weltausstellung entsprechend, die »Technik in Produkten der Industrie und des Gewerbes […] Gemeingut von Tausenden Menschen werden«50 zu lassen, wird die Aufmerksamkeit auch auf die weibliche Handarbeit gelenkt. In einem Pavillon51 werden bürgerliche und ländlich bäuerliche Handarbeiten gezeigt. Mit diesem Modus der Präsentation werden nicht nur Weiblichkeit und textile Handarbeit als Einheit, sondern auch sehr unterschiedliche Praktiken und Artefakte als einheitlich national vorgestellt. Diese nationalstaatliche Vereinnahmung dominiert über soziale, räumliche und ethnische Differenzen der einzelnen Produzentinnen und ihrer Artefakte. Die Zusammenschau der Exponate befördert die Entwicklung einer homogenen und somit österreichischen Handarbeit, die textiles Handarbeiten einem nationalstaatlichen Identifikationsmuster unterwirft. Die Formierung einer österreichischen Handarbeit stabilisiert gleichzeitig dieses Identifikationsmuster. In der

47 Falke: Einleitung 1886, S. 5. 48 Bach: Haus-Industrie 1886, S. 28 f. 49 Marianne Nigg, Volkschullehrerin und Herausgeberin der österreichischen Zeitschrift »Frauen-Werke« veröffentlicht 1894 (Korneuburg) die Monografie »Österreichs Handarbeit«. 50 Enderes: Frauenarbeit 1875, S. 181 f. 51 »Die verschiedenen Länder hatten der Frauenarbeit sehr verschiedenen Raum in ihren Ausstellungen zugewiesen. Einzelne, wie Österreich, Schweden, haben ihr eigene Gebäude gewidmet, andere haben sie mitten unter anderen Produkten des Landes, zerstreut und vereinsamt gebracht«; ebd., S. 183.

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Praxis weiblichen Selbermachens und den verfertigten textilen Artefakten realisiert sich die »Erfindung der Nation«52 wie sie sich nach Benedict Anderson aus einer imaginierten Gemeinschaft herleitet.53 Entlang der Handarbeiten generiert das Ausstellungsdisplay eine nationale Landschaft, in der sich die Nadelarbeiten von Bäuerinnen, Bürgerinnen und Aristokratinnen zu einer »Gesellschaftsgeografie«54 formieren. Die Vereinheitlichung der sozialen und räumlichen Unterschiede sowie ethnisch und sozial bedingter Eigentümlichkeiten, die auf der Diversität ihrer Erzeugerinnen basieren, ermöglicht es, die einzelnen Details ländlicher und städtischer Praxen und Erzeugnisse zu einer allgemeinen Agenda, zur österreichischen Handarbeit, zu verbinden. Dank deren Verstofflichung und Sichtbarkeit unterstützen die Handarbeiten den Transfer vom imaginären Moment, von der bloßen Vorstellung von Nation, hin zu einer allgemein gültigen Handlungsweise mit nationaler Bedeutung. Die Artefakte, gefertigt mit Nadel und Faden vergegenständlichen die Auffassung von Nation als Gemeinschaft und stehen für die »Gewissheit, dass die vorgestellte Welt sichtbar im Alltagsleben verwurzelt ist«.55 Für ein national homogenisierendes Handlungs- und Identifikationsmuster, das zugleich die manieristisch überzeichnete Modeströmung der sogenannten »Dilettantin«56 und ihre »künstliche Modernisierung«57 in Richtung einer zentralistischen Politik reformiert, tritt die Wiener Handarbeit auf. Die gesellschaftliche, nationalstaatliche Hegemonie der Stadt Wien bleibt bewahrt und organisiert sich im Zugriff auf das ästhetisch Fremde, auf vermeintliche Charakteristika des Landvolkes und des Orients und deren Techniken neu.

52 Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Frankfurt a. M. 1996 (Orig. London 1983, dt. 1986). 53 Die Nation findet in der »›nationalen Vorstellung‹ [ihren Ausdruck,] in der Reise durch die gesellschaftliche Landschaft«, in der die imaginierte Welt mit der »äußeren Welt verschmilzt«; vgl. Anderson: Nation 1996, S. 30–42. 54 Ebd, S. 38. 55 Ebd., S. 41, vgl. S. 39. 56 Figürliche Darstellungen, Riesenbouquets im Kreuzstich und verwandter Techniken mit Berliner Wolle scheidet die Jury aus; Falke: Einleitung 1886, S. 3. 57 Textilarbeiten bilden eine zentrale Kategorie in Falkes Kapitel über den nationalen Hausfleiß. Im Gegensatz zur »künstlichen Modernisierung« (Falke: Cultur 1878, S. 312), die der Eigentümlichkeit der Arbeiten – die er dem nationalen Hausfleiß zuzuordnen versucht – widerstrebt, erklärt Falke Musterbücher des 16. Jahrhunderts, mittelalterliche und antike Vorlagen und Techniken zur Referenz für Richtigkeit, Urwüchsigkeit und Originalität. Vielerorts sei dem nationalen Hausfleiß dieser Bezug jedoch bereits verlorengegangen.

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D IE   W IENERISCH -­Ö STERREICHISCHE   M ODEPRESSE   Neben dem Wiener Ausstellungsgeschehen und den Ausbildungsprogrammen rund um textiles Handarbeiten, ist die Modepresse ein wichtiger Faktor in der Konstruktion einer Wiener Handarbeit und Mitproduzentin der nationalen Landschaft. Die Tatsache, dass Erzeugnisse der ausländischen Konkurrenz, insbesondere in der Seidenweberei schon vor Jahrhunderten den qualitativen Niedergang auf dem Gebiet der Stickerei in Haus und Gewerbe eingeleitet hatten, verstärkt die Bedeutung des Massenmediums und seine Aufgabe, dem ästhetisch funktionalen Dilemma der ›schönen‹ Handarbeit zur textilen Ausstattung des Hauses entgegenzuwirken.58 Die auf textile Techniken beschränkte Eigenproduktion, die der Bürgerin angetragen wird, verfolgt am wenigsten Maßstäbe von Nützlichkeit oder Funktionalität, Aspekte wie Zweckmäßigkeit von Materialien und Herstellungstechniken bleiben ausgespart. Die ›schöne‹ Handarbeit gerät zur Manie.59 Verglichen mit dem Aufruf an die Wiener Bürgerin zur Produktion und Einkleidung nach einer Wiener Mode durch das »Wiener Moden-Journal für das Jahr 1805«, verzögert sich der massenmediale Appell, in der schönen Handarbeit tätig zu werden. Dies ist nur zum Teil technischen Entwicklungen geschuldet, die den Druck von Text und Bild auf einer Seite erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichen60 und damit die Voraussetzungen zum Boom der textilen Handarbeit schaffen. Johann Winckler, stellvertretender Sekretär der K. K. Direktion für Administrative Statistik, beschreibt in seiner historisch-statistischen Studie über »Die periodische Presse Oesterreichs«61 von 1875 die heimische Modepresse als wenig entwickelt. Die zehn österreichischen Modeblätter, darunter auch die »NationalModenzeitung«62 oder die »Wiener Elegante«,63 »die im Jahre 1872 […] ein kümmerliches Dasein [fristeten]«, hätten »zusammen nicht mehr als 3580 Abnehmer, eine armselige Anhängerschaft gegenüber den 165.000 Abonnenten der Berliner ›Modewelt‹ und den 140.000 Leserinnen des ›Bazars‹«.64 Auf »dem Gebiete, auf

58 Ebd., S. 246. 59 Vgl. Freiss, Lisbeth: Handarbeitsanleitungen und Massenmedien. »D. I. Y« und Weiblichkeit im 19. Jahrhundert. In: critical crafting circle (Hg.): craftista! Handarbeit als Aktivismus. Mainz 2011, S. 29–42. 60 Vgl. Rosenbrock, Edith: Die Anfänge des Modebildes in der deutschen Zeitschrift. Berlin 1942, S. 129–132. 61 Winckler, Johann: Die periodische Presse Österreichs. Wien 1875. 62 Beilschütz, Franz (Hg.): Nationalmodenzeitung. Dresden/Wien 1849–1858. 63 Kratochwill, Franz (Hg.): Die Wiener Elegante. Original Modeblatt. Wien 1842–1872. 64 Winckler: Presse 1875, S. 212.

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welchem Österreich der ausländischen Presse noch tributär ist«65 ist »die Mode eben ein Gebiet […] auf dem selbst die sechste Großmacht nicht viel mehr als eine Null ist«,66 berichtet Winckler in der Studie.67 Der Mangel zwinge die Leserinnen aus der k. k. Monarchie, sich dem ästhetischen und funktionalen Sammelsurium, das die zum Manierismus verkommenen Handarbeitsanleitungen deutscher Modeblätter propagierten, zu unterwerfen. Das Berliner Mode- und Handarbeitsjournal »Der Bazar«68 unterbreite unzählige Vorschläge zur »Verzierung von unnützen Nebendingen« wie »Geldbörsen, Zigarrentaschen, Tabakskasten, Wandkasten, Etageren, Lampenteller, Kissen und was dergleichen mehr ist«.69 Die Medienwissenschaftlerin Erna Lehmann zeigt in »Die Entwicklung und Bedeutung der modernen deutschen Modepresse«70 schon früh nicht nur die Beeinflussung der KonsumentInnen durch die deutsche Modepresse auf, sondern untersucht auch deren soziale Wirkungsmacht. Ihre Studie kommt zu dem Schluss, dass »es vor allem der Mittelstand ist, der an dem, was die Modezeitung an Beeinflussungsmitteln anbietet, am intensivsten partizipiert, d. h. es sind in der Hauptsache die Angehörigen des Mittelstandes, die sowohl auf die Zeitung abonnieren, als auch Schnittmuster zur Eigenschneiderei beziehen«.71 Die wohlhabenden, oberen Gesellschaftsschichten würden die Modezeitschriften lesen, um sich über die Mode zu informieren und die in ihrem Auftrag arbeitenden Schneiderinnen anweisen zu können.72 Lehmann bestätigt die Macht der Modepresse, die als Medium der Mode »auf alle Schichten der Bevölkerung [einwirkt] und so ein Hauptfaktor geworden ist zur Umwandlung der Mode zum Massenphänomen«.73 Insbesondere ab den 1870er Jahren stellen die strukturellen Entwicklungen hin zur Monopolisierung der Verlage von Modezeitschriften »das geeignete Mittel zur absoluten Verproletarisierung der Mode«74 dar.

65 Ebd., S. 120. 66 Ebd. 67 Winckler erhebt die Anzahl der Exemplare von Modezeitungen für die Jahre 1855 und 1861. Sind es 1855 2.800 Exemplare, so steigt die Zahl 1861 auf 7.500 an; ebd., S. 100. 68 Der Bazar. Berliner illustrierte Damenzeitung. Berlin 1855–1937. 69 Falke: Cultur 1878, S. 246. 70 Lehmann, Erna: Die Entwicklung und Bedeutung der modernen deutschen Modepresse. Mannheim [vermutlich 1913]. 71 Ebd., S. 47 f. 72 Vgl. ebd., S. 48. 73 Vgl. ebd., S. 49. 74 Vgl. ebd.

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I N   P RINTMEDIEN :   D AS   I DEAL  EINER   W IENER   H ANDARBEIT   Eine Reihe von Titelabänderungen des in Wien erscheinenden »Pariser Moden Journals«,75 die bereits das Revolutionsjahr 1848 einleitet, zeigt den Ehrgeiz der Habsburgermonarchie in der Etablierung und Verdichtung einer nationalen, von Wien ausgehenden Modeproduktion, die eng mit der Anwendung von Handarbeitstechniken und Näharbeiten verbunden ist. Der Wiener Verleger und Herausgeber F. Beilschütz produziert 1848 die ersten vier Ausgaben des »Pariser Moden Journals« noch unter diesem Titel. Danach wird das seit 1842 erscheinende Journal von der »Deutschen National Modenzeitung« übernommen; 1849 ändert sich der Titel in »National-Modenzeitung«. In einer weiteren Titelabänderung wird die Metropole selbst zum nationalen Zentrum der Modeproduktion gemacht und die »Wiener-National-Moden-Zeitung« kreiert. Nach jahrelanger Unterbrechung infolge der schlechten wirtschaftlichen Lage des Gewerbes wird das Zentralorgan gewerblicher Vertreter des Bekleidungsfaches für die Herrenmode 1871 als »Internationale Moden Zeitung«76 in Wien neu aufgelegt. F. A. Hofmann, Eigentümer, Herausgeber und Redakteur des in Wien erscheinenden, deutschsprachigen »Central-Organ Europäischer Herren-Moden mit ›Wiener‹ und ›Pariser‹ OriginalModen-Bildern«, erklärt Wien zum internationalen Zentrum der Herrenmode. Er stellt den gewerbetreibenden Abonnenten Modelle und Anleitungen für die technische Erzeugung zur Verfügung und kündigt sein Engagement im Zusammenhang eines »gemeinnützigen Bestrebens« an, das Wien zum alleinigen Zentrum der »›Europäischen Moden‹« machen soll.77 Titelpolitiken solcherart konstituieren das Medium als nationales.

75 Vgl. Beilschütz, Franz (Hg.): Pariser Moden Journal, Wien 1842–1848; ders. (Hg.): Deutsche National Moden Zeitung. Dresden/Wien 1848–1849; ders. (Hg.): NationalModenzeitung. Wien 1849–1852; ders. (Hg.): National=Moden-Zeitung. Dresden/Wien 1852–1856; ders. (Hg.): Wiener-National-Moden-Zeitung. Mit deutschen, französischen und englischen Original=Modekupfern und Schnitt=Tafeln aus der Europäischen Moden=Zeitung für Herrengarderobe, technischem Organ der allgemeinen deutschen Bekleidungs-Akademie. Dresden/Wien 1856–1858. 76 Hoffmann, F. A. (Hg.): Internationale Moden Zeitung. Central-Organ Europäischer Herren-Moden mit »Wiener« und »Pariser« Original-Moden-Bildern. Wien 1871–1934. Die großformatigen Modekupfer weisen Bezeichnungen in deutscher, französischer und englischer Sprache aus; vgl. Internationale Moden Zeitung 2 (1872), H. 3. 77 Internationale Moden Zeitung 2 (1872), H. 1, o. S.

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Dennoch bleibt – wie Winklers Studie bestätigt – die gewünschte massenhafte Wirksamkeit in Hinblick auf die Wiener Modeproduktion aus. Die neuen Titelbezeichnungen unterstreichen vielmehr die Forderung des Verlegers und weiter Teile des Gewerbes nach einer zentralistisch angeleiteten Ein- respektive Umkleidung der Staatsbürger. Manuale und technische Beilagen stellen Modelle samt Schnittmuster zur ihrer Verfertigung zur Verfügung. Die Wiener Modepresse ermöglicht »den fachlichen Gebrauch des Schneiders und der Schneiderin oder […] den praktischen Gebrauch der Masse«.78 Die massenmediale Vereinnahmung der Nadelarbeiten von Frauen aber auch der gewerblichen Produktion widmet sich aber auch der Damenmode sowie der Herstellung textiler Accessoires für den Wohnbereich. Das Modejournal »Wiener Elegante« wird zum Organ des in der Metropole 1859 gegründeten Wiener Moden-Vereines zur Hebung der inländischen Industrie.79 Im wöchentlichen Rhythmus gehen die Ausgaben an alle in der k. u. k. Monarchie zum Vereinsbeitritt verpflichteten Gewerbetreibenden und Industriellen.80 Auf Bestellung versendet der Verlag darüber hinaus auch an nicht gewerblich Produzierende, etwa an sogenannte Dilettantinnen, in das gesamte Gebiet der Monarchie. Die veröffentlichten Modeberichte und Illustrationen zur Wiener sowie Pariser Mode, Handarbeitsanleitungen und industrielle Beilagen der »Wiener Eleganten« fungieren als Regulativ nationalstaatlicher Geschmacksbildung. Der moderne, technologisch angeleitete grafische Modus von Anleitungen zur textilen Produktion aktiviert sowohl nationalökonomische Interessen als auch ein, was den Kleidungsstil anlangt, homogenisierendes Leitbild, um die (gewerbliche) Eigenproduktion nach dem Muster der »Wiener Eleganten« als nationalstaatliches Identifikationsmuster zu initiieren. Die grafischen Anleitungen übersetzen die Handgriffe für einzelne Produktionsschritte in Symbole und zeichenhafte Kürzel. Gewerbetreibenden, aber auch in der Handarbeit und Schneiderei geübten, nicht-deutschsprachigen ›Dilettantinnen‹ geben die Abbildungen und die grafische Aufbereitung Anleitung und Werkzeug zum Selbststudium und zum Selbermachen an die Hand. Die zeichenhafte Codierung kommt dem Sprachengemisch im k. k. Vielvölkerstaat besonders entgegen. Um einzelne Modelle verfertigen zu können und um als ProduzentIn an der Wiener Mode und der Wiener Handarbeit teil zu haben, genügen minimale Deutschkenntnisse zur Übersetzung der beigefügten Legende in die eigene Spra-

78 Krempel, Lore: Die deutsche Modezeitschrift. Coburg 1935, S. 90. 79 Statuten des Wiener Moden-Vereines zur Hebung inländischer Industrie. Wien 1860. 80 Ebd.

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che. Vereinzelt erprobt die »Wiener Elegante« mit zweisprachigen Texten die Integration der deutschen und ungarischen Teile der Nation.81 Die Aufnahme der ungarischen Sprache überwindet die sprachliche Barrieren, um auch abseits der größtenteils deutschsprechenden Bevölkerung Budapests82 eine Ungarisch sprechende LeserInnenschaft für die Eigenanfertigung nach den Wiener Vorgaben gewinnen zu können.

I N  DER   »W IENER   M ODE «:   H ANDARBEITSANLEITUNGEN   ALS  KOLONIALE   S TRATEGIE     Ab 1888 erscheint das Modejournal »Wiener Mode«.83 In dem Artikel »Touristen alter Zeiten über die Wiener Mode«84 behauptet das Blatt eine das Ausland übertrumpfende, wienerische Tradition von Handarbeit und Mode. Begleitet von Musterpatronen für Stickereien im Kreuzstich, berichtet der Beitrag über »fremde Beobachter«, die bereits im 17. Jahrhundert »die Wiener Modeerzeugnisse« lobten und »ihnen ausdrücklich den Vorzug vor den ausländischen«85 gegeben hätten. Im 14-tägigen Rhythmus veröffentlicht die »Wiener Mode« zahlreiche Modelle. Muster und Anregungen zur Handarbeit findet die Leserin bereits im Heft Nummer eins vom 1. Jänner 1888, beispielsweise im »Wiener Wäschebericht«86 oder in der fünfseitigen Rubrik »Handarbeit«.87 In der zweiten Ausgabe vom 15. Jänner

81 Vgl. Die Wiener Elegante. Original Modeblatt (1859), H. 4, Modekupfer und Musterpatrone, industrielle Beilage. 82 Vgl. Ujvári, Hedvig: Zwischen Bazar und Weltpolitik. Berlin 2011, S. 24 f. »1851 gab es mehr als 40 Prozent deutschsprachige Einwohner in Pest, fast 70 Prozent in Ofen«; ebd., S. 25. Ungarn erkennt die Wiener Mode nicht an und verlegt eigene Modejournale (in deutscher Sprache). Als Beispiel gilt die ungarische Zeitschrift »Der Spiegel. Zeitschrift für Literatur, Kunst, Eleganz und Mode« (1825–1852). 83 Wiener Mode. Offizielles Organ des Hauses der Mode. Wien 1888–1945. 84 Radics v. P.: Touristen alter Zeiten über die Wiener Mode. In: Wiener Mode 1 (1888), H. 5, S. 19 f. 85 Ebd., S. 20. 86 »Auf der Hauswäsche findet man auffallend viele Handstickereien; besonders fleißige Damen schmücken sogar die Ränder der Betttücher mit breiten Guirlanden«; Wiener Mode 1 (1888), H. 1, S. 10. 87 Wiener Mode 1 (1888), H. 2, S. 16–20.

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Mode und Handarbeit aus Wien

Titelblatt, Wiener Mode 5 [1891], S. 1.

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1888 erscheint diese Rubrik bereits in der Umbenennung als »Wiener Handarbeit«.88 Redigiert wird sie von Marie Bergmann,89 Redakteurin der »Wiener Mode«, die nicht nur im Bereich der weiblichen Handarbeiten publiziert, sondern auch als Lehrerin den Stickereikurs des Wiener Frauen-Erwerb-Vereines, der 1866 in Wien zur Förderung der Ausbildung von Frauen und Mädchen gegründet wurde, leitet. Bergmanns Rubrik »Wiener Handarbeit« fordert die Leserin zudem auf, brieflich mit der »Wiener Mode« in Kontakt zu treten, um durch Einsendungen gelungener Handarbeiten die massenmediale Produktion der Wiener Handarbeit anzuregen: »Ganz besonders soll es uns erwünscht sein, wenn Damen auf dem Gebiete der Handarbeit selbstschöpferisch tätig sind, uns die Erzeugnisse ihres Kunstfleißes zum Zwecke der Abbildung und Besprechung leihweise überlassen werden; wir streben dadurch jenen innigen Kontakt zwischen der Zeitung und ihrem Leserkreise an, welcher notwendig ist, wenn Gutes 90

und Nützliches geschaffen werden soll.«

Eine Vielzahl an Artefakten, Techniken, Mustern und Materialien reiht das Modejournal unter Wiener Handarbeit: beispielsweise das »Rückenkissen im japanischen Geschmack«, das im »schrägen Flachstich ausgeführt« dem »Ornament Leben und Farbenpracht verleiht«,91 genauso wie »weißes, russisches Leinen«, das mit »Holbein, Platt- und Sternchenstich«92 den Speisetisch dekorieren soll, das

88 Ebd., S. 17. 89 Vgl. Österreichische Nationalbibliothek: Ariadne. Frauen in Bewegung. Biographie Bergmann, Marie; vgl. www.onb.ac.at/ariadne/vfb/bio_bergmannmarie.htm (Zugriff: 12.9.2016). 90 Wiener Mode 1 (1888), H. 1, S. 16. Beispielsweise verweist die Handarbeitsanleitung für einen Tischläufer in Rothstickerei auf den Frauen-Erwerb-Verein als Einsender; ebd., Abb. Nr. 55. Ein weiteres Beispiel für die rege Einsendetätigkeit und Zusammenarbeit des Frauen-Erwerb-Vereins mit der »Wiener Mode« stellt die Anleitung zu einer Schreibmappe in Applikationsstickerei dar; vgl. Wiener Mode 1 (1888), H. 5, S. 16, Abb. Nr. 53. Marie Bergmann redigiert Auswahl und Veröffentlichung der Einsendungen. Ihre Tätigkeiten als Redakteurin und als Lehrerin unterstützte die Zusammenarbeit zwischen dem Modejournal und den Mitgliedern des Frauen-Erwerb-Vereins. 91 Ulmann, Regine: Wiener Wäschebericht. In: Wiener Mode 1 (1888), H. 5, S. 14–20, S. 19, Abb. Nr. 67. 92 Ebd., S. 19, Abb. Nr. 67, S. 16, Abb. Nr. 55.

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Kreuzstichmuster für Monogramme93 oder Tischwäsche wie die »Smyrna-Imitation«94 für einen Bettvorleger. So werden in der Abwandlung für die Wiener Handarbeit die »echten Smyrna Teppiche«95 und deren fremde Ästhetik vereinfacht und vereinnahmt. Originalität verleiht der Wiener Handarbeit in der Frühlingssaison 1888 zudem »die bunte Wäsche, die außerdem noch mit grell kontrastierenden Schleifen und Bändchen geschmückt ist«.96 Das Leitbild der Wiener Handarbeit, deren Techniken, Muster, Materialien und Farbigkeit reaktivieren ästhetische Charakteristika, die noch wenige Jahre zuvor als bäuerlich oder als orientalisch galten und nun zweifach kolonialisiert werden: als nationale Stickerei, »die lineare Formen, geometrische Ornamente nur für Technik nach abgezähltem Faden« und für »Voluten und gerundete Formen [dagegen die] freie biegsame Technik«97 verwendet und zugleich als Wiener Handarbeit. Fabrikate aus der Hausindustrie werden zum Wiener Modeartikel. Luise Schinnerer, Lehrerin an der K. K. Fachschule für Kunststickerei in Wien und Textilhistorikerin,98 konzipiert einen »Lehrkurs der Weißstickerei« als Fortsetzungsreihe,99 damit diese nach den Unterrichtsregeln der Wiener Handarbeit erlernt werden kann. Die Klöppelspitze100 wird genauso wie das »Slavische Muster in Kreuzstich nebst Farbangabe für Decken, Handtücher etc.«101 der Hegemonie der Wiener Handarbeit und deren modischer Produktion mit Nadel und Faden unterstellt.

93

Bergmann, Marie: Wiener Handarbeit. In: Wiener Mode 1 (1888), H. 8, S. 16–20, S. 16, Abb. Nr. 65, S. 17, Abb. Nr. 70.

94

Wiener Mode 1 (1888), H. 9, S. 17, Abb. Nr. 77.

95

Wiener Mode 1 (1888), H. 9, S. 16, Abb. Nr. 77.

96

Wiener Wäschebericht. In: Wiener Mode 1 (1888), H. 8, S. 14 f., S. 14.

97

Bach: Haus-Industrie 1886, S. 25.

98

Die »Wiener Mode« zertifiziert den als Fortsetzungsreihe aufgebauten Lehrkurs durch die ergänzende Angabe zur Autorin Luise Schinnerer: »Lehrerin an der k. k. Fachschule für Kunststickerei«; Wiener Mode 3 (1889), H. 1, S. 20. Darüber hinaus qualifiziert Schinnerer die Zusammenarbeit mit Alois Riegl, dem Leiter der Textilsammlung des K. K. österreichischen Museums für Kunst und Industrie. Er verfasst die historische Einleitung ihrer Studie über »Antike Handarbeiten«; Riegl Alois: Einleitung. In: Schinnerer Luise: Antike Handarbeiten. Waldheim/Wien 1891, S. 1–2.

99

Wiener Mode 3 (1889), H. 1, S. 20. Der Kurs findet z. B. in 3 (1889), H. 3, S. 98, und 3 (1889), H. 6, S. 203, seine Fortsetzung.

100

Abb. 65. Klöppelbrief zum Einsatz Nr. 64. In: Wiener Mode 1 (1888), H. 12, S. 12.

101

Bergmann, Marie: Wiener Handarbeit. In: Wiener Mode, 3 (1890), H. 7, S. 241–246, S. 245, Abb. Nr. 54.

78   |  L ISBETH   F REISS  

Für den Erfolg, unter dem Dach einer Wiener Handarbeit ein österreichisches Leitbild durchzusetzen, steht beispielsweise die Musterbezeichnung »Austriaspitze«,102 ein Artefakt des Wiener Jugendstils, das seit der Jahrhundertwende bis in die 1920er Jahre hausindustriell gefertigt wird. Klöppelbrief einer Austriaspitze (1904)

Winkler, Leopoldine: Austria-Spitze. Gammelby 2004, S. 8.

Der Modebericht der Redakteurin der »Wiener Mode«, Jenny Ris-Neumann,103 bringt die koloniale Strategie der Wiener Modemedien, ihrer Verleger und Autorinnen auf den Punkt: »Eine gute Idee, woher ihr [der Wienerin] dieselbe gebracht werde, regt sie schaffensfreudig an, allein sie modelt so lange daran, bis sie dieselbe ihren Geschmack zugelegt hat, bis das fremde Kind gut wienerisch geworden ist.«104 Spezialwörterbücher,105 die das zur Handarbeit gebräuchliche Fachvokabular auflisten, sichern die Durchführung im Sinne der Wiener Handarbeitsund Nähanleitungen. Sie richten sich an Serbokroatisch und Slowenisch sprechende Leserinnen und Nutzerinnen, um deren Näh- und Handarbeitspraxis mit der der Wiener Handarbeit zu standardisieren. Die Abbildung im Beitrag »Ein Boudoir unserer Kronprinzessin«106 der »Wiener Mode« zeigt eine manierierte Raumgestaltung mit drapierten kroatischen Stickereien. Den Anlass für den Bericht gibt der Besuch der Schutzherrin der Wiener Handarbeit, Kronprinzessin Erzherzogin Stephanie, in der kroatischen Hauptstadt

102

Winkler: Austria-Spitze 2004, S. 8.

103

Pataky, Sophie: Lexikon deutscher Frauen der Feder. Hofenberg 2014, S. 505.

104

Neumann, Jenny: Wiener Modebericht. In: Wiener Mode 1 (1888), H. 1, S. 25.

105

Renzenberg, Paula Edle: Zenska rocna dela [Frauenhandarbeiten. Hilfsbuch für die Lehrerinnen]. Laibach 1897; Belovic-Bernadzikowski, Jelica: Gradja za tehnoloski rjecnik zenskog rucnog rada [Materialien für ein technologisches Wörterbuch für Handarbeiten der Frauen]. Sarajevo 1906.

106

Ein Boudoir unserer Kronprinzessin. In: Wiener Mode 1 (1888), H. 17, S. 15.

D IE W IENER   H ANDARBEIT   |   79  

Agram. Die stilistische Überzeichnung preist der Verfasser paradoxerweise als »Einheit des nationalen Styls«.107 Im Interesse der Vermarktung der Marke Wiener Mode, erscheint dies als implizites Zugeständnis an die ›nationalen Hände‹. Die Leserin erfährt, dass sie »mit ausschließlich heimischen, kroatischen Industrieartikeln ein den höchsten Anforderungen entsprechendes luxuriöses Ganzes schaffen könne«.108 Das Boudoir der Erzherzogin Stefanie im kroatischen Stil (Agram, 1888)

Wiener Mode 1 (1888), H. 17, S. 15.

Unter der Schutzherrschaft durch das Haus Habsburg ruft das Blatt zur Verfertigung von Mode und Handarbeit nach Wiener Muster auf. Das Konsumverhalten der Kronprinzessin, die – wie verlautet wird – einen großen Teil der Erzeugnisse aus der kroatischen Hausindustrie kauft,109 wird der Leserin als nachahmenswertes Vorbild vorgeführt. Eine solche Schirmherrschaft, die an das einstige mittelalterliche Vorrecht adeliger Damen zur feinen Handarbeit anknüpft, autorisiert die Wiener Handarbeit als staatspolitische Agenda. Die Ausgabe Nummer acht vom 16. April 1888 bekräftigt mit der Abbildung einer kostbaren, aufwendig gearbeiteten Alba-Spitze, gespendet für Papst Leo XIII., »von allerhöchsten und hohen

107

Ebd.

108

Ebd.

109

Ebd.

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Damen Wiens, an deren Spitze Ihre Majestät die Kaiserin und Königin von Österreich-Ungarn und die Durchlauchteste Frau Kronprinzessin Stefanie« steht, den Status der Wiener Handarbeit als habsburgische Agenda, die ihr ausgehend von der Spitzenproduktion zukünftig staatspolitischen Rang110 verleihen soll. Die kaiserliche Schutzherrschaft bildet das Finale in der Programmatik zur staats- und nationalpolitischen Vereinnahmung der weiblichen Handarbeit durch die Habsburgermonarchie. Der Erste Weltkrieg und Zerfall der k. k. Monarchie bereiten der auf Homogenisierung des Vielvölkerstaates ausgerichteten Strategie durch die Wiener Eliten, Techniken und Praktiken des textilen Selbermachens national aufzuladen, ein Ende. Ungeachtet solcher Versuche der Instrumentalisierung der Staatsbürgerinnen, die über ihre Alltagspraxen einen Beitrag zur nationalen Identitätsfindung leisten sollen, erfolgt deren Ausübung handwerklicher Praktiken anderen, pragmatischeren Motiven: Als Produktionstechnik stellt textiles Handarbeiten nicht nur eine Verdienstmöglichkeit dar, sondern das Selbermachen von Dingen des täglichen Bedarfs ist in ärmeren Schichten die oft einzige Möglichkeit zumal in Kriegszeiten, Waren zu beschaffen. Die zerfallende Monarchie hinterlässt jenseits aller nationalpolitischen Bemühungen ein Vermächtnis, das vornehmlich die weibliche Bevölkerung Österreich-Ungarns mit einem breiten Spektrum an Fähigkeiten des Selbermachens für die textile Produktion ausstattet.

110

Wiener Mode 1 (1888), H. 8, S. 20, Abb. Nr. 79. Der Entwurf für diese Alba-Spitze stammt von Hofrat Josef Storck, Direktor und Professor an der Kunstgewerbeschule des K. K. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie; ausgeführt wurde sie durch Franz Bollarth, k. k. österreichischer und spanischer Hoflieferant; vgl. ebd.

Die  Wiederentdeckung(en)  der  Handspinnerei   Verhandlungen  von  Geschichte  und  Geschlecht   I NES P EPER

      A BSTRACT :   T HE   R EVIVAL ( S )  OF   H AND  SPINNING .   N EGOTIATIONS  ON   H ISTORY  AND   G ENDER     Spinning fiber into thread is a prerequisite for making textiles and thus a fundamental cultural technique. Due to the early industrialization of textile production, hand spinning (spinning with a spindle or spinning wheel) has long ago begun to be viewed as a relic of a remote past located somewhere between historiography’s Middle Ages and a fairy tale’s ›once upon a time‹. But hand spinning as a necessary everyday pursuit was outdated at quite different times for different places and social classes. Neither was this a strictly linear development as women whose mothers and grandmothers had not spun any more repeatedly took it up again as a hobby, a statement or a way to make or save money. This essay looks into hand spinning-revivals beginning from the 17th century up to the most recent one which has emerged since the late 1990’s as a niche phenomenon within the new thriving digital knitting communities. Based on a sample of 44 websites, blogs and podcasts gathered around the Ravelry group »Podcasting auf Deutsch«, the essay will focus on how participants of this predominantly female DIY scene discuss, construct or dismiss notions of history and gender in connection with a practice as rich in historical, mythological and ideological associations as is spinning.

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H ANDSPINNEN  ALS   K ULTURTECHNIK     Spinnen, also das Verdrehen von Fasern zu einem Faden, ist Voraussetzung jeder Textilherstellung und damit eine der grundlegendsten Kulturtechniken. Die Handspinnerei – das Spinnen mit Spindel oder Spinnrad – nimmt bereits seit Jahrtausenden breiten Raum im Alltag verschiedenster Kulturen ein. Für die europäische Geschichte kann die Bedeutung des Spinnens angesichts des kühlen Klimas und der Rolle von Textilien als Gebrauchs- wie Luxusgüter und Handelswaren kaum überschätzt werden. Die Anwendungsbereiche gingen weit über Bekleidung hinaus, wenn man etwa an die Segel frühneuzeitlicher Flotten oder die textilreiche höfische Innenraumgestaltung denkt. Nicht zuletzt nahmen arbeitsökonomische und technische Neuerungen im Bereich der Spinnerei eine Schlüsselrolle für die Industrialisierung ein. Gerade deshalb wurde die Handspinnerei in Europa aber auch schon früh als dezidiert ›historisches‹ Phänomen wahrgenommen, als Zeugnis einer sowohl fremd als auch märchenhaft vertraut wirkenden Vergangenheit. Seit wann dies so ist, lässt sich allerdings nicht einfach an der Erfindung der »Spinning Jenny« durch den Engländer James Hargreaves in den 1760er Jahren festmachen: Denn es dauerte bis in die 1840er Jahre, bis alle kommerziell relevanten Garnqualitäten industriell hergestellt werden konnten und entsprechende Anlagen auch außerhalb Englands breite Verwendung fanden,1 zudem hielt sich in ländlichen Gebieten die Handspinnerei oft bis ins 20. Jahrhundert hinein.2 Andererseits hatten sich die

1

Zur schleppenden Mechanisierung der Flachsspinnerei in der Habsburgermonarchie und Frankreich vgl. Long, Dwight C.: Philippe de Girard and the introduction of mechanical flax spinning in Austria. In: The Journal of Economic History 14 (1954), H. 1, S. 21−34; zur mangelnden Rentabilität früher Spinnmaschinen in Niedriglohnländern vgl. Allen, Robert C.: The industrial revolution in miniature: The Spinning Jenny in Britain, France, and India. In: The Journal of Economic History 69 (2009), H. 4, S. 901−927.

2

Dies belegen etwa um 1900 durchgeführte statistische Erhebungen oder die bis in die 1920er Jahre nachweisbare Nachfrage nach Spinnrädern in der Bauart ihrer Herkunftsländer durch deutsche und skandinavische US-Immigrantinnen; vgl. Drescher, Karl: Die Wiederbelebung der Handspinnerei in Baden. Karlsruhe 1904, S. 28−82; Hilts, Victor L./Hilts, Patricia A.: Not for pioneers only: The story of Wisconsin’s spinning wheels. In: The Wisconsin Magazine of History 66 (1982), H. 1, S. 2−24, S. 17−23. Die hauchfeinen Garne für die berühmten Spitzenstrickereien aus dem russischen Orenburg oder von den Shetlandinseln wurden auch weiterhin mit Handspindeln gesponnen; vgl. Khmeleva, Galina/Noble, Carol R.: Gossamer webs. The history and techniques of Orenburg lace shawls. Loveland, Col. 1998, S. 47.

W IEDERENTDECKUNG ( EN )  DER   H ANDSPINNEREI   |   83  

Frauen der europäischen Eliten bereits im Lauf des Mittelalters luxuriöseren und mehr gestaltungs- als produktionsorientierten textilen Arbeiten wie der Stickerei zugewandt. Komplementär zu diesem räumlich und sozial sehr ungleichzeitigen ›Veralten‹ der Handspinnerei wurde diese aber auch immer wieder neu ›entdeckt‹ – von Frauen, deren Mütter und Großmütter bereits nicht mehr gesponnen hatten. Dieser Beitrag stellt die deutschsprachige Handspinnszene, die seit Ende der 1990er Jahre ausgehend von den USA als Nischenkultur der digital vernetzten StrickerInnen-Szenen entstanden ist, früheren Spinn-Revivals gegenüber und fragt nach den jeweils mit diesen Wiederentdeckungen verknüpften Geschichtsbildern. Ausgehend von der im größten sozialen Netzwerk für StrickerInnen, Ravelry, angesiedelten Forengruppe »Podcasting auf Deutsch« wurde ein Sample von 44 Webseiten, Blogs und Podcasts (oft von AmateurInnen produzierte digitale Audios oder Videos) zusammengestellt. Diese geben Einblick in eine vorwiegend weibliche deutschsprachige DIY-Szene rund um die an historischen, mythologischen und ideologischen Assoziationen reiche Praxis der Handspinnerei. Besonders eindringlich stellt sich dabei die Frage nach mit dem Spinnen verbundenen Geschlechterkonstruktionen, da das Spinnen im europäischen Kontext traditionell so sehr Weiblichkeit schlechthin repräsentierte, dass in älteren deutschen Rechtsquellen die ›Kunkelseite‹ – im Gegensatz zur männlichen ›Schwertseite‹ – synonym für die weibliche Abstammungslinie stand und die frühneuzeitliche Satiregattung der ›Rockenevangelien‹ beziehungsweise ›Rockenphilosophien‹ schon im Titel ihre misogyne Stoßrichtung deklarierte.3

 

3

Kunkel oder Rocken bezeichnet die stabförmige Halterung des Faservorrats, die insbesondere für das Verspinnen von Flachs benötigt wird. Zur Kunkelseite (auch Kunkellehen, Kunkeladel etc.) vgl. Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart […]. Wien 1811, Bd. 2, Sp. 1830; Grimm, Jacob/ Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1873, Bd. 11, Sp. 2654; zu Rockenevangelien vgl. Gössmann, Elisabeth: Philosophie am Spinnrocken. Spinnen und Weben als weibliches Wirken − ein ambivalentes Thema. In: Dies. (Hg.): Weisheit − eine schöne Rose auf dem Dornenstrauche (= Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung 8). München 2004, S. 9−35, S. 23−34.

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S PINNRENAISSANCEN     VOM   17.  BIS  INS  FRÜHE   20.   J AHRHUNDERT     Diese symbolische Aufladung des Spinnens trug wesentlich zu den wiederholten ›Neuentdeckungen‹ der Handspinnerei bei: Schon für die im 17. Jahrhundert häufigen Darstellungen niederländischer Bürgerfrauen am Spinnrad wird vermutet, dass es sich hier mehr um eine Tugend und häuslichen Fleiß symbolisierende Bildinszenierung als um eine im Leben von Frauen dieser Gesellschaftsschicht notwendige Tätigkeit handelte; Vorbilder für diese Genrebilder und Porträts lassen sich in spätmittelalterlichen Darstellungen der Madonna am Spinnrad finden.4 Im 18. Jahrhundert stieg das Bildmotiv ›Dame mit Spinnrad‹ in veränderter Form in die aristokratische Sphäre auf: Tischspinnrädchen aus Edelhölzern, Gold und Silber, die heute noch in größerer Zahl im antiquarischen Handel kursieren,5 finden sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer wieder auf Porträts adeliger Frauen. Diese Darstellungen werden dem von der niederländischen Genremalerei beeinflussten Typus des ›privaten‹ höfischen Porträts zugerechnet;6 bei Fürstinnen könnte, trotz der Kostbarkeit des Geräts, auch eine Demonstration aufgeklärter Volksnähe intendiert gewesen sein.7 Es gibt Zeugnisse dafür, dass damit zumindest gelegentlich auch gesponnen wurde.8 Eventuell handelte es sich sogar um eine

4

Sawday, Jonathan: Engines of the imagination: Renaissance culture and the rise of the machine. New York 2007, S. 129; Bischoff, Cordula: Die handarbeitende Fürstin − zur Entstehung eines Typs des höfischen Privatporträts. In: Dies./Baumbach, Gabriele (Hg.): Frau und Bildnis 1600−1750. Barocke Repräsentationskultur an europäischen Fürstenhöfen. Kassel 2003, S. 245−272, S. 247 f.

5

Etwa unter Bezeichnungen wie Damenspinnrad, rouet de table oder boudoir spinning wheel. Es handelte sich um handbetriebene Spindelräder.

6

Bischoff: Fürstin 2003, S. 245.

7

Blisniewski, Thomas: Frauen, die den Faden in der Hand halten. Handarbeitende Damen, Bürgersmädchen und Landfrauen von Rubens bis Hopper. München 2009, S. 54.

8

Eine zeitgenössische Darstellung, auf der das Tischspinnrad tatsächlich benutzt wird, ist etwa das Selbstporträt von Erzherzogin Marie Christine (undatiert, Wien Kunsthistorisches Museum). Prinzessin Wilhelmine von Preußen notierte im September 1757: »La princesse de Darmstadt a passé la matinée chez moi, elle m'a fait present d'un petit rouet de Paris qu'on met sur la table, et j'ai appris à y filer ce qui m'amuse beaucoup.« Zit. nach: Berner, Ernst/Volz, Gustav Berthold (Hg.): Aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges. Tagebuchblätter und Briefe (= Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hauses Hohenzollern 9). Berlin 1908, S. 42.

W IEDERENTDECKUNG ( EN )  DER   H ANDSPINNEREI   |   85  

Erzherzogin Marie Christine (1742–1798) am Tischspinnrad, Selbstporträt, undatiert

Kunsthistorisches Museum/Museumsverband.

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regelrechte höfische Spinnmode,9 bei der die an sich nicht standesgemäße Tätigkeit des Spinnens durch den Einsatz offensichtlich wenig produktiver Geräte den Charakter eines Spiels annahm. In ländlichen Haushalten, Manufakturen, Zucht- und Arbeitshäusern wurde im 18. Jahrhundert jedenfalls immer mehr gesponnen, um den Garnbedarf der stetig wachsenden Textilproduktion zu befriedigen. Allerdings bedarf die Annahme einer linearen Entwicklung von häuslicher Selbstversorgung hin zu professionalisierter und dann industrieller Textilherstellung wohl einiger Einschränkung: Die Historikerin Laurel Ulrich etwa zeigt, dass neuenglische Frauen im 18. Jahrhundert zwar einerseits immer mehr aus Europa importierte Textilien kauften, gleichzeitig aber zur vielfach bereits im vorangehenden Jahrhundert aufgegebenen Handspinnerei zurückkehrten und zusätzlich die zuvor von männlichen Handwerkern berufsmäßig betriebene Weberei übernahmen.10 Mit der Produktion für den Eigenbedarf entlasteten sie die Familienvermögen von einem Teil der Aussteuerkosten und setzten Geldressourcen für andere Konsumgüter frei. Diese innerhalb des Hauses verrichtete Arbeit brachte den Frauen zwar weder Zugang zum qualifizierten Arbeitsmarkt, noch ein unabhängiges Einkommen, intensivierte aber über Zusammenarbeit und Tauschgeschäfte ihre persönlichen und ökonomischen Beziehungen zu anderen Frauen und stellte einen wichtigen Beitrag zum Unterhalt ihrer Familien dar. Im Lauf des 19. Jahrhunderts entwickelten sich Rocken und Spinnrad zu Leitobjekten eines – zunehmend als nationales Erbe aufgefassten – vormodernen Volkslebens und seiner nostalgisch beschworenen Wirtschafts- und Geschlechterverhältnisse. Dabei behielt die Handspinnerei weiterhin überall dort ihre alltagspraktische Bedeutung, wo industrielles Garn nicht erhältlich oder zu teuer war. So führte der amerikanische Bürgerkrieg in den Nordstaaten der USA durch den plötzlichen Ausfall der Baumwollimporte aus dem Süden zu sprunghaft steigenden Stoffpreisen und in der Folge zu einer neuerlichen Blüte der Produktion von Spindelrädern des Great-Wheel-Typs; diese stehend mit der Hand betriebenen Räder wurden nun über die Vertriebsnetze der neuen Landwirtschaftsmaschinen vor allem an Farmerhaushalte verkauft.11 Parallel begann das Spinnrad zu dieser Zeit

9

Eine Spinnmode um 1780 unter Damen der englischen höheren Gesellschaftsschichten, ebenfalls mit besonders eleganten, allerdings größeren und mit Pedal und Spinnflügel ausgerüsteten Spinnrädern, konstatiert Brears, Peter: The York spinning wheel makers. In: Furniture History 14 (1978), S. 19−22.

10 Ulrich, Laurel Thatcher: Wheels, looms, and the gender division of labor in eighteenthcentury New England. In: The William and Mary Quarterly 55 (1998), H. 1, S. 3−38. 11 Hilts/Hilts: Pioneers 1982, S. 3−15.

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seine Karriere als Requisit sogenannter Colonial-Kitchen-Inszenierungen, mit denen auf großbürgerlichen Fundraising-Veranstaltungen zugunsten der Armee an die frugalen Ursprünge Neuenglands erinnert wurde.12 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden in deutschen ›Industrieschulen‹, Mädchen und auch Jungen aus ländlichen Unterschichten im Spinnen, Weben, Stricken und Klöppeln unterrichtet, um später damit ihren Unterhalt zu verdienen.13 Dagegen fehlte die Handspinnerei im Handarbeitsprogramm von Schulen für bürgerliche Töchter bereits um 1800,14 was jedoch nicht ausschloss, dass Spinnräder ihren Weg in bürgerliche Haushalte fanden: Die Historikerin Rebekka Habermas berichtet etwa von einem Inserat für »Spinnunterricht für gebildete Personen« in einer Nürnberger Zeitung von 1830 und zeitgleichen Handarbeitsrunden bürgerlicher Frauen, in denen unter anderem gesponnen wurde.15 Eingang in den schulischen Handarbeitsunterricht fand das Spinnen jedoch nicht mehr. Die Lehrerin Rosalie Schallenfeld nannte 1861 in ihrem einflussreichen Werk zum Handarbeitsunterricht in Volks- und Mädchenschulen als »nothwendige« Unterrichtsgegenstände: Stricken, Häkeln, Stopfen, Ausbessern und »Zeichnen«, also Etikettieren.16 Die »weiblichen Handarbeiten« definierte sie als Tätigkeiten, zu deren Ausführung nur Nadel und Schere nötig seien;17 ihre Anleitungen setzten die Verwendung industriell hergestellter Garne und Stoffe als selbstverständlich voraus.

12 Gordon, Beverly: Spinning wheels, samplers, and the modern Priscilla: The images and paradoxes of colonial revival needlework. In: Winterthur Portfolio 33 (1998), H. 2/3, S. 163−194, S. 166 f. 13 Ladj-Teichmann, Dagmar: Erziehung zur Weiblichkeit durch Textilarbeiten. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Frauenarbeit im 19. Jahrhundert. Weinheim/Basel 1983, S. 66−80. 14 Ebd., S. 103−106; Schmid, Pia: »Weibliche Arbeiten«. Zur Geschichte von Handarbeiten. In: Dies./Hoff, Walburga/Kleinau, Elke (Hg.): Gender-Geschichte/n. Ergebnisse bildungshistorischer Frauen- und Geschlechterforschung (= Beiträge zur historischen Bildungsforschung 37). Köln u. a 2008, S. 49−71, S. 57. 15 Habermas, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750−1850). Göttingen 2000, S. 55−57. 16 Schallenfeld, Rosalie: Der Handarbeits-Unterricht in Schulen. Werth, Inhalt, Lehrgang und Methode desselben. Frankfurt a. M. 1861, S. 18; vgl. Schmid: »Weibliche Arbeiten« 2008. 17 Schallenfeld: Handarbeits-Unterricht 1861, S. 16.

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An der Wende zum 20. Jahrhundert erlebte das Spinnen dann jedoch eine neuerliche Konjunktur, die sich unter anderem in einer Flut einschlägiger Postkartenmotive niederschlug.18 Ein beliebtes Motiv waren ethnografische Aufnahmen von Spinnerinnen aus jeweils genau bezeichneten ländlichen Regionen in Europa oder kolonialisierten Ländern; ein weiteres Motiv zeigte junge Frauen, die (meist ersichtlich frei von Spinnkenntnissen) mehr oder weniger neckisch hinter einem Spinnrad posierten. Beide Sujets konstruierten das Spinnen als ein historisches Phänomen und als Baustein des zeitgenössischen Doing Gender. Vor dem Hintergrund dieser Mode führte der »Badische Frauenverein« mit großzügiger Unterstützung der Landesregierung des Großherzogtums Baden eine regelrechte Spinnkampagne durch.19 Neben Spinnfesten, Spinnwettbewerben und örtlichen Spinngruppen wurde 1903 auch eine Spinnereiausstellung in Karlsruhe organisiert; begleitend führte das statistische Zentralamt umfangreiche Erhebungen zu Leinenanbau und gegenwärtiger Verbreitung der Handspinnerei in ländlichen Regionen Badens durch. Als Ergebnis kam 1904 das Buch »Die Wiederbelebung der Handspinnerei im Großherzogtum Baden« des Bonner Germanisten Karl Drescher heraus. Drescher begann seine Ausführungen mit einem historischen Abriss, ausgehend von den »ältesten Völkern der europäisch-asiatischen Kulturgemeinschaften«.20 Deren Hochschätzung des Spinnens habe sich in Religion und Mythologie gespiegelt; auch die germanische Freya habe als Schutzherrin über die Spinnerei gewacht. Obwohl Drescher die Namen der den Schicksalsfaden spinnenden Nornen (Wurt, Werdandi und Skult) als »das Gewordene, das, was im Werden ist, und das, was erst werden soll«21 erläuterte und sie (ähnlich wie die griechischen Moiren und die römischen Parzen) damit implizit als mythische Urheberinnen der Zeit auswies,

18 Abbildungen derartiger Postkarten finden sich unter http://www.ak-ansichtskarten.de/ ak/90-Ansichtskarten-Motive-Thematik/18548-Spinnrad (Zugriff: 26.8.2016); Nutz, Beatrix: Kleine Spindeltypologie oder Die Menschen spinnen – weltweit. Online-Publikation vom September 2012 im Rahmen der Arbeitsgruppe »Bekleidung und textile Techniken« an der Universität Innsbruck, https://www.uibk.ac.at/urgeschichte/projek te_forschung/abt/spindeltypologie/index.html.de (Zugriff: 28.8.2016). 19 Der Verein verfolgte keine feministischen Anliegen, trug jedoch durch die Einrichtung von Kinderbetreuungsanstalten und von Ausbildungsstätten für Frauenberufe zur Verbreitung weiblicher Berufstätigkeit bei; http://www.landeskunde-baden-wuerttemberg.de/ 7833.html (Zugriff: 26.8.2016). 20 Drescher: Wiederbelebung 1904, S. 1. 21 Ebd., S. 2.

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überdeckte in seinen Ausführungen doch immer der hausmütterlich-heimelige Aspekt die in diesen Bildern angelegte Symbolik von weiblicher Schöpfungsmacht. Einige der 500 an der Spinnereiausstellung in Karlsruhe 1903 beteiligten Frauen

Foto: Generallandesarchiv Karlsruhe 69 Baden, Sammlung 1995 F1 Nr. 117, 24, Bild 1.

Für die soziale Verortung des Spinnens verwies Drescher zunächst auf den Spinnund Webdienst höriger Bauerntöchter, deren Tätigkeit die reiche höfische Textilkultur des Hochmittelalters erst ermöglicht habe. Dass die Spinnerei sich auch später nicht zu einem Zunfthandwerk entwickelte, erklärte er damit, dass »die weiblichen Arbeitskräfte so reichlich vorhanden und somit so billig waren« und schloss daraus: »Der Überschuß weiblicher Kräfte fand eben hier eine höchst glückliche Verwendung«.22 Genau dies, so meinte Drescher, entspreche auch dem gegenwärtigen »nationalökonomischen« Ziel der Spinnkampagne: Nämlich in denjenigen ländlichen Gebieten Badens, die für die Einrichtung von Fabriken un-

22 Ebd., S. 7.

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geeignet schienen, überschüssige weibliche Arbeitskraft im Rahmen einer traditionellen Hausindustrie der ökonomischen Strukturbelebung nutzbar zu machen.23 Interessanterweise überging Drescher die seiner Zielsetzung eigentlich eng verwandten staatlichen Bemühungen im 18. Jahrhundert, möglichst viele (und damals durchaus auch männliche) Untertanenhände konjunkturfördernd in der Spinnerei einzusetzen − sei es in Form bezahlter Heim- und Manufakturarbeit, sei es als Zwangsarbeit in Armen-, Arbeits- und Spinnhäusern.24 Diese Organisationsformen des Spinnens als ganztägige Arbeit widersprachen jedoch Dreschers zweitem Anliegen, nämlich mit dem Spinnen auch die Spinnstube als kulturelle Institution wiederaufleben zu lassen. Spinnstuben, in denen sich die Dorffrauen an langen Winterabenden zum gemeinsamen Spinnen trafen, waren in Dreschers Vorstellung nicht nur Schauplätze der Geselligkeit und der Brautwerbung, sondern auch Brennpunkte der mündlichen Überlieferung von Volksdichtung, Märchen, Liedern und Sagen – also desjenigen Schatzes der nationalen Tradition, aus dem auch die Brüder Grimm ihre Sammlungen geschöpft hätten.25 Die Blüte der Spinnstube setzte Drescher für das 16. und 17. Jahrhundert an. Im 18. Jahrhundert sei es dagegen zu Verfallserscheinungen gekommen, indem die bislang strengen Bräuchen folgende Geselligkeit der Spinnstuben vielerorts zu skandalösen Gelagen ausartete, sodass sogar behördliche Verbote erlassen wurden. Die Spinnstube als Treffpunkt der sittenlosen Jugend stellte jedoch tatsächlich bereits im 16. Jahrhundert ein verbreitetes satirisches Sujet dar − Drescher glättete hier die widersprüchlichen Überlieferungsstränge zu einer linearen Verfallsgeschichte.

23 Ebd. S. 24−26. 24 Vgl. Komlosy, Andrea: Stube und Websaal. Waldviertler Textilindustrie im Spannungsfeld zwischen Verlagswesen, Heim- und Fabriksarbeit. In: Dies. (Hg.): Spinnen – Spulen – Weben. Leben und Arbeiten im Waldviertel und anderen ländlichen Textilregionen (= Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 32). Krems/Horn 1991, S. 120−127; zu spinnenden Männern vgl. Mitterauer, Michael: »Als Adam grub und Eva spann«. Zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in vorindustrieller Zeit. In: Ders./BologneseLeuchtenmüller, Brigitte (Hg.): Frauen-Arbeitswelten. Zur historischen Genese gegenwärtiger Probleme (= Beiträge zur historischen Sozialkunde Beiheft 3). Wien 1993, S. 17−42, S. 30. 25 Drescher: Wiederbelebung 1904, S. 19 f.; vgl. zur Spinnstube ebd. S. 15−23.

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Vom öffentlichen Spinnen adeliger und großbürgerlicher Damen, wie es im Rahmen der Aktivitäten des »Badischen Frauenvereins« wiederholt stattfand,26 erhoffte Drescher eine Vorbildwirkung für die eigentlich intendierte Trägerinnenschicht des propagierten Spinn-Revivals, nämlich Frauen aus bäuerlichen und unterbäuerlichen Schichten. Sie waren es ja, die spinnend zur ländlichen Wirtschaftsleistung beitragen und dabei gleichzeitig eine imaginierte deutsche Volkskultur wiederaufleben lassen sollten. Auf die Perspektive dieser Frauen ging Drescher allerdings nicht ein; nicht einmal ihre allfälligen Verdienst- oder Ersparnismöglichkeiten durch das Spinnen kamen zur Sprache.

H ANDSPINNEREI   2.0:   W IE  VOR  HUNDERT   J AHREN ?     Erst mit der Ökologiebewegung der 1980er Jahre erwachte im deutschsprachigen Raum neues Interesse an der Handspinnerei; erste kleine Spinnzirkel blieben jedoch zu isoliert, um eine wirkliche Szene zu bilden.27 Im angloamerikanischen Raum formierte sich dann im Rahmen der jungen StrickerInnenszenen der 1990er Jahre ein regelrechtes Spinn-Revival. Dieses stützte sich medial einerseits auf Fachzeitschriften,28 bald jedoch noch viel mehr auf die neuen digitalen Vernetzungsmöglichkeiten. In den frühen 2000er Jahren erreichte dieser Trend den deutschsprachigen Raum, wobei die Vorbildwirkung der angloamerikanischen Spinnszene bis heute spürbar geblieben ist. Die Spinnpraxis hat sich im Zuge dieses Revivals in mehreren Aspekten von den historischen Gepflogenheiten entfernt: Die ehemals im deutschsprachigen Raum vorrangige Herstellung von Leinenwebgarnen spielt praktisch keine Rolle

26 Abbildungen elitärer Spinnzirkel finden sich auch außerhalb Badens, wie etwa ein Foto der mit ihren Hofdamen spinnenden bayrischen Königin Maria in: Kobell, Luise von: König Ludwig II. von Bayern und die Kunst. Hamburg 2014 (Orig. 1900), S. 5. 27 Ein Anleitungsbüchlein aus dieser Zeit, das auch Fotos von (aus Frauen bestehenden) Spinnrunden enthält, ist Diekmann, Christel/Diekmann, Heinz: Garne spinnen zum Häkeln, Stricken und Weben. Stuttgart 1983. Nur gelegentlich werden über digitale Medien kontinuierlich seit dieser Zeit Spinnende erfassbar, z. B. http://www.handspinnen. de/spinnen/anlass.html (Zugriff: 23.8.2016). 28 Die vierteljährlich erscheinende Zeitschrift »Spin off« wird bereits seit 1995 mit einer deutschsprachigen Textbeilage unter dem Titel »Spinn los« vom Webknoten-Verlag auch in Deutschland vertrieben (http://www.webknoten.net/spinoff/); heute ebenfalls in Deutschland erhältlich ist das »Ply Magazin« (http://www.spinnertundgewollt.de/ index.php?cat=c93_PLY-MAGAZINE-PLY-MAGAZINE.html, Zugriff: 18.8.2016).

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mehr und mit dem Flachs verschwand auch der Spinnrocken. Es werden ganz überwiegend Strickgarne aus Wolle gesponnen. Dabei wird weiße Wolle abweichend von der historischen Praxis oft bereits vor dem Spinnen gefärbt, was es ermöglicht, bunte Garne zu spinnen, die in Textur und Farbigkeit sorgfältig komponierte Unikate darstellen. Damit wird das Spinnen zu einem kreativen Gestaltungsprozess, bei dem die Freude am Spiel mit Farbe und Haptik des Materials im Vordergrund steht. Als weitere Neuerung werden heute oft Daten wie Gewicht, Lauflänge, Garnstärke und -typ (z. B. Kamm- oder Streichgarn, Zwirntechnik etc.) in zuvor nur im kommerziellen Bereich üblicher Präzision ausgewiesen. Wenn im Folgenden die gegenwärtige Spinnrenaissance mit ihren historischen Vorläuferinnen im Hinblick auf die damit verbundenen Geschichts- und Geschlechterkonstruktionen verglichen wird, geht es dabei vor allem um drei Aspekte: Wird schon das Stricken oft mit Sehnsucht nach der scheinbaren Sicherheit althergebrachter Genderstereotypen und dem Rückzug einer (angeblich) apolitischen jungen Generation ins Private, kurz: mit einem Trend zur »Neuen Häuslichkeit« in Verbindung gebracht,29 so liegt es nahe, diese Frage angesichts der althergebrachten ideologischen Aufladung von Rocken, Spinnrad und Spinnstube auch an das Spinnen heranzutragen. Andererseits könnte jedoch gerade diese traditionell besonders dezidierte Besetzung als ›weiblich‹ das Spinnen attraktiv für subversive Umdeutungsstrategien machen, wie sie unter Titeln wie Craftivism, Guerilla Knitting oder Subversive Cross Stitch bereits seit den 1990ern zum Repertoire feministischer AktivistInnen und KünstlerInnen gehören. Drittens stellt sich das Spinnen in Hinblick auf das dem Selbermachen oft zugeschriebene30 emanzipatorische Potenzial als eine Tätigkeit dar, bei der der DIY-Gedanke etwa gegenüber dem Stricken mit industriell hergestellten Garnen noch eine Stufe weiter getrieben wird, indem die Produktion theoretisch vom Schaf bis zum fertigen Pullover ganz in die eigenen Hände genommen werden kann.31

29 Einen Zusammenhang zwischen Entpolitisierung, Rückzug von Frauen aus Öffentlichkeit und qualifizierter Erwerbstätigkeit und dem Wiederaufleben textiler und häuslicher DIY-Tätigkeiten konstatierte besonders öffentlichkeitswirksam: Matchar, Emily: Homeward bound: Why women are embracing the new domesticity. New York 2013; vgl. dazu auch den Beitrag von Nikola Langreiter in diesem Band. 30 Gauntlett, David: Making is connecting. The social meaning of creativity, from DIY and knitting to YouTube and Web 2.0. Cambridge, Mass. 2011; Ax, Christine: Die Könnensgesellschaft. Mit guter Arbeit aus der Krise. Berlin 2009. 31 Tatsächlich verarbeiten manche SpinnerInnen ihre Wolle vom frischgeschorenen Vlies an selbst; üblicher ist es jedoch, über Online-Shops oder auf Handwerksmärkten bereits gewaschene, maschinell kardierte bzw. gekämmte Fasern zu beziehen.

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Prägend auch für die deutschsprachige Spinnszene ist das 2007 gegründete soziale Netzwerk für StrickerInnen Ravelry, das derzeit weltweit etwa sechs Millionen Mitglieder zählt und neben Vernetzung und Wissensaustausch Möglichkeiten zur Recherche von Strickmustern und -garnen sowie zur Dokumentation eigener Strickprojekte bietet.32 Nachdem sich bereits zuvor zahlreiche Unterforen und Gruppen zu Spinnthemen gebildet hatten, wurden 2013 auch eigene Funktionen dafür eingerichtet. Seither können die Mitglieder auch ihre Spinnvorhaben und handgesponnenen »finished objects« mit Fotos und Erläuterungen vor der durch Passwort und Pseudonyme geschützten Halböffentlichkeit des sozialen Netzwerks präsentieren. Daneben organisiert sich die deutschsprachige digitale Spinnszene über Blogs, Podcasts, spezialisierte Foren sowie innerhalb der allgemeineren sozialen Netzwerke. Die Übergänge zu Offline-Veranstaltungen wie lokalen Strickund Spinngruppen, Wollfesten, Kunsthandwerksmärkten und Workshops sind fließend. Die folgenden Ausführungen gehen wie eingangs angesprochen von der Ravelry-Gruppe »Podcasting auf Deutsch« aus. Solche Podcasts – also digitale, häufig von Laien produzierte Audio- und Videosendungen, die meist gratis zum öffentlichen Download angeboten werden – gibt es seit 2005.33 Sie erscheinen deshalb als Zugang zu dieser Szene gut geeignet, weil viele StrickerInnen und SpinnerInnen während der Ausübung ihres Hobbys einschlägige Podcasts anhören und auf Blogs und Foren ein intensiver Austausch dazu stattfindet. Eine systematische Unterscheidung von ProduzentInnen und Publikum ist dabei nicht möglich, da laufend HörerInnen und LeserInnen eigene Podcasts oder Blogs beginnen und in diesen ständig auf andere Podcasts, Blogs, Kommentare und Forenbeiträge Bezug

32 www.ravelry.com (Zugriff 18.8.2016); zur Rolle von Ravelry für die gegenwärtige Strickszene vgl. Orton-Johnson, Kate: Knit, purl and upload: new technologies, digital mediations and the experience of leisure. In: Leisure Studies 33 (2014), H. 3, S. 305−321. 33 Die Bezeichnung setzt sich zusammen aus broadcast und (I-)pod; Madsen, Virginia M.: Voices-cast: A report on the new audiosphere of podcasting with specific insights for public broadcasting. In: Iandoli, Luca/Klein, Mark/Zolla, Giuseppe (Hg.): Communication, creativity and global citizenship (= ANZCA09 Conference Proceedings). Brisbane 2009, S. 1191−1210; Heise, Nele: On the shoulders of giants? How audio podcasters adopt, transform and re-invent radio storytelling. In: MOOC transnational radio stories. Freier Online-Kurs des Masterstudiengangs Onlineradio an der Uni Halle/Saale, https://hamburgergarnele.files.wordpress.com/2014/09/podcasts_heise_public.pdf (Zugriff: 18.8.2016).

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genommen wird, also ein ausgesprochen partizipativer Mediengebrauch vorherrscht.34 Folgende methodische und ethische Vorentscheidungen wurden für die Quellenauswertung getroffen: Passwortgeschützte Einträge (inklusive Ravelry-Forenposts) wurden als nichtöffentliche Äußerungen nicht herangezogen, frei zugängliche Podcasts, Blogs und Homepages wurden dagegen im Prinzip als zitierbare Veröffentlichungen angesehen. Mit Rücksicht auf den nur begrenzt öffentlichen Charakter vieler Blogs wurden auf derartigen Seiten angegebene persönliche Daten (bürgerlicher Name, Beruf, Familienstand, sexuelle Orientierung, Bildungsweg, Nationalität etc.) jedoch bewusst nicht ausgewertet.35 Es handelt sich daher um eine thematisch eng begrenzte Textanalyse einer Anzahl online frei zugänglicher Texte als erste Annäherung an eine bisher wenig erforschte Szene. Bei der Suche nach Charakteristika dieser Szene fällt zunächst auf, dass das Spinnen ebenso wie das Stricken im Allgemeinen als ›Hobby‹ und als Ausdruck individueller Kreativität aufgefasst wird. Das zweite übergreifende Anliegen stellt die Gemeinschaftlichkeit dar, die viele TeilnehmerInnen dieser Szene als wichtige Motivation ihres Tuns nennen.36 Hier scheint sich zu bestätigen, was der Medienwissenschaftler David Gauntlett der Crafting Community – im Gegensatz etwa zur Kunstszene der Galerien – zuschreibt,37 nämlich eine auf Zusammenarbeit, freundlichen Austausch und die Vermeidung von Konkurrenz ausgerichtete Atmosphäre: Im Vordergrund stehen der informelle Wissensaustausch und das Teilen von Projektfotos. Bei Veranstaltungen wie der jährlich auf Ravelry parallel zur »Tour de France« abgehaltenen »Tour de Fleece« geht es darum, persönliche

34 Zur Diskussion des Zusammenhangs realer und virtueller Räume vgl. Orgad, Shani: How can researchers make sense of the issues involved in collecting and interpreting online and offline data? In: Markham, Annette/Baym, Nancy (Hg.): Internet inquiry: conversations about method. Thousand Oaks, Cal. 2009, S. 33−53, http://eprints.lse.ac.uk/23979/ (Zugriff: 17.8.2016), S. 5−9 (Paginierung des PDF weicht von der Printausgabe ab). Viele Foren weisen einen hohen Prozentsatz ›stiller‹ Mitglieder auf, deren Teilnahme sich auf das Lesen beschränkt; auch soziale Netzwerke können mehr oder weniger passiv genützt werden; vgl. ebd., S. 11−13. 35 Vgl. Heise, Nele: Big Data − small problems? Ethische Dimensionen der Forschung mit Online-Kommunikationsspuren. In: Maireder, Axel u. a. (Hg.): Digitale Methoden in der Kommunikationswissenschaft. Berlin 2015, S. 39−58. 36 Besonders ausführlich wird die Funktion von Ravelry und insbesondere der Gruppe »Podcasting auf Deutsch« als »mein wolliges Zuhause« etwa im Podcast Fiberthermometer in Folge 16 beschrieben, http://fiberthermometer.de/ (Zugriff: 18.8.2016). 37 Gauntlett: Making 2011, S. 65.

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Spinn-Herausforderungen zu meistern und sich dafür im Team gegenseitig zu motivieren, nicht jedoch um einen klassischen Wettbewerb – die Preise werden am Ende unter denjenigen verlost, die ihr selbstgesetztes Ziel erreicht haben. Über Blogs und Podcasts werden Wichtel- und Tauschaktionen und Themenschwerpunkte wie der ›faserverrückte Jahresrückblick‹ organisiert; Spinntreffen, ›Wollwechsel‹ und Wollfeste intensivieren die persönlichen Beziehungen. Sucht man nach Bezügen zur Geschichte des Spinnens, so zeigt sich rasch, dass viele der untersuchten Seiten gar kein historisches Interesse spiegeln. Immerhin wählen einige BetreiberInnen einschlägiger Kleinunternehmen Firmennamen, die auf Historisches oder Mythologisches anspielen, wie etwa Alte Künste, Spinnstube, Spinnwebstube, Spinnstuuv, Dornröschenwolle, Holles Wollfärberei oder Handspinnerey; ein besonders einflussreicher Podcast nennt sich Urbane Spinnstube.38 Keine dieser Seiten reproduziert jedoch den klassischen Spinnstubentopos: Weder die Spinnstube als Ort der Pflege einer mehr oder weniger national definierten Volkskultur noch die Zuschreibung von weiblicher Tugend tauchen auf, ebenso wenig die zu Besuch kommenden Dorfburschen. Sowohl von Shop-BetreiberInnen als auch von BloggerInnen und PodcasterInnen wird das Spinnen öfter als ›altes Handwerk‹ definiert, etwa bei Wollhandwerk: »Im Mittelpunkt steht bei Wollhandwerk, altes textiles Handwerk und dessen individuelle Möglichkeiten modernisiert wieder zu beleben.«39 Bei Alte Künste wird Wolle nach historischen Rezepten gefärbt;40 die Betreiberin von Holles Wollfärberei erinnert sich auf ihrer Vorstellungsseite an ihre spinnende Großmutter und stellt damit einen persönlichen Vergangenheitsbezug her. Bei Altes Handwerk wird in einer kurzen Abhandlung zur Geschichte der ›alten Kunst‹ Spinnen ein Bogen von der Urgeschichte bis zur außereuropäischen Handspinnerei gespannt; die europäische Spinnstube kommt dabei nicht vor, dafür ein Hinweis auf spinnende Männer in Peru oder Ladakh.41 Ein weiterer Shop nennt das

38 www.altekuenste.eu; www.die-spinnstube.de; http://www.spinnwebstube.ch; www.spinn stuuv-bergedorf.de; http://www.dornroeschen-wolle.de; www.holles-wollfaerberei.de; http://chantimanou.de/; https://urbanespinnstube.wordpress.com (Zugriff: 17.8.2016). 39 www.wollhandwerk.at/index.php?option=com_content&view=featured&Itemid=55 (Zugriff: 17.8.2016). Dieses und die beiden folgenden Zitate finden sich jeweils auf der Start- oder Vorstellungsseite, es folgen dann jedoch keine weiteren Ausführungen zur Geschichte. 40 http://www.altekuenste.eu/thiki7vhgi1hih/ueber_alte_kuenste.html (Zugriff: 21.8.2016). 41 http://www.altes-handwerk.ch/spinnen-mit-handspindel-und-spinnrad/ (Zugriff: 20.8. 2016).

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Spinnen »eine Jahrtausende Jahre alte Technik« und verweist geschlechtsneutral auf einst an Winterabenden surrende Spinnräder.42 Die Podcasts Fiberthermometer und Wollwirrwar berichten mehrfach vom Besuch von Handwerksmärkten (etwa »Bad Meinberg spinnt« oder dem »Krefelder Flachsmarkt«), Museen (etwa dem vom »Heimatverein Wegberg-Beek« betriebenen Flachsmuseum oder dem Archäologieprojekt Campus Galli), über alte Schafrassen oder die Bedeutung von Wolle für Kleidung und Schiffbau der Wikinger.43 Interesse an historischer Wollverarbeitung wird auch auf einigen Blogs dokumentiert, etwa bei Wollstash der Besuch eines Handwerkerfests im Färbedorf Neckenroda.44 Systematische Ausführungen zur Geschichte des Spinnens finden sich jedoch nur auf Blogs und Webseiten, deren BetreiberInnen entweder als DarstellerInnen auf Mittelalterfesten und -märkten oder im Rahmen von Museumsvereinen spinnen. Im Forum des Spinnradclub gibt es einen Geschichte-Thread, dessen Beiträge vorwiegend von UserInnen stammen, die durch Links oder Signaturen eines dieser beiden Interessensgebiete erkennen lassen. Hier geht es ausführlich um die Datierung und Funktionsweise historischer Bauformen von Spindeln und Spinnrädern, wobei Frauen implizit als die (vorrangigen) Benutzerinnen dieser Geräte angenommen werden.45 Auf der Mittelalterszene zuzurechnenden Blogs liegt der Schwerpunkt ebenfalls auf den technischen Entwicklungen, während sich die soziale und kulturelle Verortung auf die Zuordnung zu einer nicht näher befragten ›weiblichen‹ Sphäre beschränkt: »Das Spinnen war bereits sehr früh eine Tätigkeit, die von allen Frauen, egal welchen Standes, ausgeführt wurde.«46 Oder: »Das Spinnen war eine tägliche Tätigkeit, die von den Frauen immer getan wurde, wenn sie zwei Hände frei hatten, zum Beispiel auf dem Markt, abends am Feuer und sogar beim Tragen von Dingen wie Holz, Wasser, Gemüse. Auch beim Ziegenhüten, Kochen und Feilbieten der Ware konnten die Frauen die Zeit produktiv nutzen.«47 Diese Ausführungen werden durch zwei daneben abgebildete mittelalter-

42 http://www.echt-michele.de/epages/64531928.sf/de_DE/?ObjectPath=/Shops/64531928/ Categories/Category1 (Zugriff 26.8.2016). 43 http://fiberthermometer.de, Folgen 10, 11, 13, 15 (Zugriff: 18.8.2016); http://wollwirr warr.podspot.de, Folgen 6, 7 (Zugriff: 18.8.2016). 44 http://www.wollstash.com/tag/farben/ (Zugriff: 21.8.2016). 45 www.scforum.spinnradclub.de/viewtopic.php?f=4&t=24384 (Zugriff: 19.8.2016). 46 www.flinkhand.de/index.php?spinnen&print=1 (Zugriff: 19.8.2016). 47 www.die-spinnstube.de/geschichte.html (Zugriff: 19.8.2016). Nahe am klassischen Spinnstubentopos bleiben dagegen die historischen Ausführungen des »Vereins für

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liche Illustrationen unterstützt, die eine auf dem Weg zum Gemüsegarten spinnende Frau beziehungsweise spinnende Marktfrauen zeigen.48 Das Spinnen wird hier – anders als bei Drescher oder auf unzähligen Postkarten seiner Zeit – weder national noch regional verortet. Dies passt zu den Ergebnissen einer Studie der Historikerin Theresa Lörincz, der zufolge in der österreichischen Mittelalterszene zwar ein stark von der Romantik geprägtes Mittelalterbild vorherrsche, jedoch ohne die bislang oft mit einem romantischen Geschichtsverständnis verbundenen patriotischen bis nationalistischen Anklänge.49 Stattdessen konstatiert die Autorin bei den von ihr interviewten TeilnehmerInnen von Mittelalterveranstaltungen fließende Übergänge zur Kunsthandwerks- und Fantasy-Szene und ein durchaus vorhandenes Bewusstsein für den utopischen Charakter der eigenen Geschichtsinszenierungen.50

V ERSUCHE  DER   E INORDNUNG   Zur theoretischen Verortung der verbreiteten neuen Begeisterung für ›altes Handwerk‹ zwischen rückwärtsgewandter Nostalgie und innovativem Potenzial,51 können hier nur exemplarisch einige konträre Positionen kurz angesprochen werden: So analysierten die Sozial- und Wirtschaftshistoriker Rainer Gries, Volker Ilgen und Dirk Schindelbeck die steigende Beliebtheit von Handwerksvorführungen und Handwerksmärkten bereits 1989 als nostalgische Abwendung von der Moderne: »Handwerkliche Arbeit hat […] auch die Funktion, als Medium einer zu

Pflege und Verbreitung der Wollspinnkunst in Tirol«: http://www.spinnstubn.at/ geschichte_des_spinnens.htm (Zugriff: 21.8.2016). Spinngruppen im Rahmen von heimatkundlichen Vereinen wurden hier jedoch als deutlich distinkte und über digitale Medien wenig erschließbare Szene nicht untersucht. 48 Die erste der beiden Illustrationen stammt aus der aus dem 14. Jahrhundert stammenden Tacuinium Sanitatis-Handschrift der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, Cod. ser. n. 2644, fol. 27r; die zweite, anscheinend ein Druck aus dem 15. Jahrhundert, konnte nicht identifiziert werden. 49 Lörincz, Theresa: Authentizität oder Atmosphäre? Zur Entstehung von Mittelalterbildern zwischen Humanismus und Romantik und ihrer Rezeption und (Re-)Produktion auf heutigen Mittelalterfesten. Diplomarb. Wien 2009, S. 95. 50 Ebd., S. 89−96. 51 Zu kritischen, progressiven Potentialen nostalgischer Geschichtskonstruktionen vgl. Atia, Nadia/Davies, Jeremy: Nostalgia and the shapes of history. In: Memory Studies 3 (2010), S. 181−186.

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erstrebenden Gegenwelt zu dienen, die mit aus der Vergangenheit hervorgeholten Lösungsangeboten Zukunft weisen will«.52 Dahinter stünden »Sehnsüchte nach Selbstverwirklichung durch eigene schöpferische Handarbeit [in] einer Welt, in der die Kreativität der Hände, volkswirtschaftlich gesehen, als ›schmückendes Beiwerk‹ lediglich privaten Charakter haben kann« und nach »Einbindung […] in eine überschaubare, da ständisch korporierte Gesellschaftsordnung [… in der] jeder um seinen Platz wußte«, im Gegensatz zur »egalisierende[n] Anonymität einer Dienstleistungsgesellschaft«.53 Die Kunst- und Medienwissenschaftlerin Verena Kuni unterscheidet zwischen Zugängen zu textilen Handarbeitstechniken, die bewusst auf subversive politische oder künstlerische Interventionen abzielen, und einer »traditionellen Auffassung von Handarbeit«, die sie ähnlich wie Gries und seine Mitautoren als Ausdruck sozialkonservativer gesellschaftlicher Tendenzen interpretiert: So würden auch die vielbeschworenen »neuen Maschen« vielfach »alte Muster« transportieren, sowohl, was überkommene Geschlechterkonstruktionen, als auch, was die Einbettung der entstehenden DIY-Ökonomien in neoliberale Verwertungslogiken betreffe.54 Demgegenüber vertreten DIY-ProgrammatikerInnen wie David Gauntlett oder die Philosophin und Ökonomin Christine Ax die Auffassung, dass die Rückbesinnung auf handwerkliche Selbstermächtigung, kleine Wirtschaftskreisläufe und darauf aufbauende soziale Netzwerke einen auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht demokratisierenden, progressiven Ausweg aus der gegenwärtigen ökonomischen und ökologischen Krise weisen könnte.55 Wurzeln dieser Theorien liegen in der Arts-and-Crafts-Bewegung des 19. Jahrhunderts und in Gandhis Programm zum Aufbau dekolonialisierter lokaler Handwerksökonomien, in dem der Wiederverbreitung des indischen Handspinnrads eine zentrale Rolle zukam.56 Von einem

52 Gries, Rainer/Ilgen, Volker/Schindelbeck, Dirk: Gestylte Geschichte. Vom alltäglichen Umgang mit Geschichtsbildern. Münster 1989, S. 46. 53 Ebd., S. 47. 54 Kuni, Verena: »Not your Granny’s Craft«? Neue Maschen, alte Muster – Ästhetiken und Politiken von Nadelarbeit zwischen Neokonservativismus, »New Craftivism« und Kunst. In: John, Jennifer/Schade, Sigrid (Hg.): Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechterkonstruktionen. Bielefeld 2008, S. 169−191, S. 181. 55 Gauntlett: Making 2011; Ax: Könnensgesellschaft 2009. 56 Vgl. Lütt, Jürgen: Mahatma Gandhis Kritik an der modernen Zivilisation. In: Saeculum 37 (1986), H. 1, S. 96−112, S. 108−110 und Brown, Rebecca M.: Gandhi’s spinning wheel and the making of India. London 2010.

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geschlechterpolitischen Standpunkt aus argumentiert etwa die Literaturwissenschaftlerin Caroline Porter, die Teilnahme an digital vernetzten DIY-Szenen rund um ›häusliche‹ Themen eröffne vielen Frauen neue Möglichkeiten zur Vernetzung und öffentlichen Teilhabe.57 In der historischen Forschung wurde in den letzten Jahren das Verhältnis zwischen Frauen und textilen Handarbeiten zunehmend auch unter dem Blickwinkel damit verbundener sozialer und kultureller Handlungsspielräume analysiert.58 Nur ein Teil der hier untersuchten Webseiten aktiver SpinnerInnen gehen auf ökonomische oder ökologische Aspekte des Selbermachens ein.59 Besonders intensiv wird dieser Themenkreis im Podcast Urbane Spinnstube behandelt, der ja schon im Titel einen Bezug zwischen historisch-ländlicher Subsistenzproduktion und aktuellen Konzepten alternativwirtschaftlicher Urbanität herstellt. Im Themensegment60 ›urbane Selbstversorgung‹ wird hier über Berliner Gemeinschaftsgärten, die KleinbäuerInnenbewegung »La Via Campesina« oder Fahrradfahren in der Großstadt berichtet. Die Betreiberin des Blogs Ringelmiez bedauert unter dem Titel »Und was ist jetzt an Crafting bitte schön politisch?«, dass zu viele Handarbeitsblogs Politik als zu kontrovers aussparen würden und kommt zu dem Schluss: »Das Private ist politisch. Dinge selbst zu machen, kann eine Form von politischem Aktivismus sein. Es kann stolzer Ausdruck eines Lebensstils sein, der

57 Caroline Porter: Women’s domestic blogs. The digital spread of neo-domesticity among the American religious right and liberal left. In: Soziale Technik 4 (2014), S. 18−20. 58 Für das 20. Jahrhundert vgl. Hackney, Fiona: Quiet activism and the new amateur. In: Design and Culture 5 (2013). H. 2, S. 169−193; für die Neuzeit: Frye, Susan: Pens and needles. Women’s textualities in early modern England. Oxford 2010; Daly Goggin, Mauree/Fawkes Tobin, Beth (Hg.): Women and the material culture of needlework and textiles. Farnham 2009. 59 So etwa die Podcasts Jademond (http://jademond.de/selbstbild); Fiberthermometer (s. o.), Urbane Spinnstube (s. o.); die Blogs Ringelmiez (www.ringelmiez.de) und Knitting Anarchist (www.knittinganarchist.de); die Webshops Wollhandwerk (s. o.), Küstenspinnerin (http://www.diekuestenspinnerin.de) und Die Spindel (http://www.spindel. at/wollviertel.html; Zugriff auf sämtliche Seiten: 26.8.2016). 60 Podcasts verfügen ähnlich wie herkömmliche Radiosendungen oft über wiederkehrende Themensegmente mit eigenen Titeln. Die Rubriken »urbane Selbstversorgung« und »Politschwafel« sind in der Urbanen Spinnstube ausdrücklich deshalb jeweils im hinteren Teil der Sendung angesiedelt, damit HörerInnen, die sich nur für die Handarbeitsthemen interessieren, das Anhören früher beenden können. Tatsächlich führen jedoch gerade diese beiden Themengebiete immer wieder zu ausführlichen Diskussionen in der Ravelry-Gruppe »Podcasting auf Deutsch«.

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sich von Konsumorientierung weg- und zur Selbstversorgung hin orientieren möchte.« Diese Formulierung ist auch insofern interessant, als sie weniger auf eine absolute Dichotomie von Kaufen versus Selbermachen abzielt als auf eine graduelle Veränderung ökonomischer Orientierungen durch DIY. Eine der Kommentatorinnen zu diesem Blogeintrag vermutet, dass viele Handarbeitende unter anderem ökologisch motiviert seien: »Mal abgesehen von denen, die auf den neuen Trend aufspringen wollen, möchten vermutlich alle nähenden, strickenden usw. Menschelein ein wenig ihren Konsum eingrenzen.«61 »Dieses Rad läuft, obwohl sehr traditionell in der optischen Ausführung, technisch unheimlich modern und ausgewogen und absolut flüsterleise«62

Foto: N. Ahlers.

61 http://ringelmiez.de/2014/07/11/und-was-ist-jetzt-an-handarbeiten-und-crafting-bittepolitisch/ (Zugriff: 21.8.2016). 62 Blogeintrag »Ein neues Spinnrad in der Herde«, http://gestaltungsweise.blogspot.co.at, 17.2.2015.

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Wie in anderen DIY-Bereichen sind die Übergänge zwischen Hobby, Existenzgründung und Selbstversorgung auch im Zusammenhang mit der Spinnerei, in deren Umfeld eine Anzahl von Kleinunternehmen wie Handfärbereien, KursanbieterInnen, Spinnrad- oder Spindelwerkstätten entstanden ist, ausgesprochen fließend. Der Handel mit Spinnbedarf erfolgt derzeit vorwiegend über Onlineversand und Marktfahrerei. Damit bedeutet das Spinnen oft auch, an einem stark von persönlichen Beziehungen geprägten Handelssystem teilzunehmen; für manche KleinanbieterInnen von Spinnbedarf ist die aktive Präsenz in einschlägigen digitalen Netzwerken eine wichtige Marketingstrategie. Aus dieser Überschneidung von persönlichen und Geschäftsbeziehungen resultierende Widersprüche werden gelegentlich in Podcasts angesprochen − etwa, ob Produktmängel wie fehlende Farbechtheit bei Erzeugnissen solcher Kleinunternehmen öffentlich kritisiert oder lieber persönlich mit den GeschäftsinhaberInnen geklärt werden sollten.63 Textiles  Handarbeiten  als  emanzipatorische  Praxis   Für künstlerischen oder politischen Aktionismus wurde das Spinnen bisher nicht genützt, jedoch beteiligten sich einzelne SpinnerInnen im Umkreis der Gruppe »Podcasting auf Deutsch« an Strick-Graffiti-Aktionen etwa gegen Heteronormativität; einige berichten über Engagement in feministischen Netzwerken.64 Reflexionen über die Besetzung textiler Handarbeiten als ›weiblich‹ finden sich aber auch in vielen anderen Blogs und Podcasts. Ein Artikel von der Journalistin Heide Fuhljahn in der Zeitschrift »Brigitte«, der im Oktober 2014 unter dem Titel »Hilfe, ein Häkeldiplom!«65 den neuen HandarbeiterInnen Flucht in unemanzipierte Häuslichkeit vorwarf, löste breiten Widerspruch aus. Allgemein wurde jede klischeehafte ideologische Vereinnahmung textiler Handarbeiten abgelehnt,66 beson-

63 www.urbanespinnstube.wordpress.com, Folge 103 (Zugriff 18.8.2016). 64 Über Strickgraffiti berichten vor allem die Urbanen Spinnstube (s. o.), der Blog Eidechse (http://eidechse.twoday.net, Zugriff: 23.8.2016) und der inzwischen eingestellte Podcast Handmade Fantasy; feministische Themen besprechen regelmäßig: dies., Ringelmiez (s. o.), Queerer Rant- und Strickpodcast (www.wurzelfrau.de, Zugriff: 22.8. 2016). 65 http://www.brigitte.de/frauen/stimmen/diy-trend-1216100/ (Zugriff: 22.8.2016). 66 Stellungnahmen von 35 HandarbeitsbloggerInnen finden sich hier: https://daswoll schaf.wordpress.com/2014/10/07/die-verstrickte-dienstagsfrage-402014/ (Zugriff: 22. 8.2016). Aus dem hier ausgewählten Sample gingen insbesondere die Podcasts Fiberthermometer (s. o., Folge 3), Urbane Spinnstube, Folge 101, http://distel.twoday.net/sto

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ders pointiert im Blog Ringelmiez, wo es heißt, die Geringschätzung von Handarbeiten als anspruchslos und unvereinbar mit politischem oder beruflichem Engagement sei »soooo 20. Jahrhundert«.67 Die ehemalige Podcasterin von Handmade Fantasy veröffentlichte auf dem von ihr mitgegründeten Gemeinschaftsblog Der k_eine Unterschied einen Artikel zum Thema »Die Angst vor der neuen Häuslichkeit«, in dem sie zu dem Schluss kommt: »DIY kann eine emanzipatorische Praxis sein, genau wie das öffentliche Schreiben darüber und das Raumeinnehmen mit als ›weiblich‹ gelabeltem Tun. Ich wünsche mir deshalb weniger Vorurteile gegenüber Handarbeit an sich und weniger Geringschätzung von Personen, 68

die handarbeiten – besonders, wenn sie nicht cis-männlich, weiß und hetero sind.«

Sie verweist nicht nur auf das Erbe der Riot-Grrrls und darauf, dass etwa die Geringerschätzung von »Handarbeit« gegenüber »Handwerk« bloße »Weiblichkeitsfeindlichkeit« sei, sondern auch auf die Aufhebung der Dichotomie von Häuslichkeit und Öffentlichkeit durch das Internet: »Solange wir Zugang zum Netz haben, können wir jederzeit und unabhängig von unserem Aufenthaltsort an Politik teilhaben«.69 Ein Kommentator dieses Artikels steuert seine Erfahrung bei, als in der Öffentlichkeit häkelnder Mann immer wieder Anfeindungen zu begegnen.70 Die Bloggerin von Wollstash stimmt ebenfalls mit einem persönlichen Beispiel zu: »Der große Sohn liebt violette Kleidung, trägt sie aber nicht gern in der Schule, weil dies dort in Verbindung mit seinen langen Haaren Hänseleien hervorruft. Das ist sehr schade. Mit selbst geschneiderten Shirts, die violett enthalten und trotzdem ›Monster‹ schreien, fühlt

ries/1022218599/ (Zugriff: 22.8.2016) und der Blog Ringelmiez (s. o.) auf den Artikel ein, zusätzlich kam es im Ravelry-Forum »Queer-feministisches Faserkombinat« zu einer intensiven Diskussion. 67 http://ringelmiez.de/2014/10/07/warum-man-handarbeit-moegen-und-trotzdem-einecoole-sau-sein-kann-ein-rant-auf-den-diy-feindlichen-text-von-heide-fuhljahn/ (Zugriff: 22.8.2016). 68 http://www.derkeineunterschied.de/diy-als-emanzipatorische-praxis sowie http://www.derkeine unterschied.de/die-angst-vor-der-neuen-haeuslichkeit/#comment4482 (Zugriff jeweils: 22.8.2016). 69 Ebd. 70 Den dazugehörigen Eintrag auf seinem Häkel- und Strick-Blog Maschenbart bezeichnet er als den »mit Abstand meist gelesenen hier«, https://maschenbart.wordpress.com/ 2013/10/20/die-hakelnde-gefahr (Zugriff: 23.8.2016).

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er sich aber wohl. Diese Möglichkeiten sind Empowerment! Natürlich ist Handarbeit und Handwerk emanzipatorisch!«71

Dass die symbolische Besetzung als ›weiblich‹ zu einer gesellschaftlichen Abwertung textiler Handarbeiten führe, bedauert auch die Bloggerin von Ringelmiez und hält entgegen: »Handarbeiten sind weder unwichtig noch anspruchslos, sie sind Handwerk und ein Fachgebiet, eine Tradition, in der ein vielfältiges Fachwissen weitergegeben wird. Und jede Person jedes möglichen und unmöglichen Geschlechts kann sie für sich entdecken.«72 Sie schließt: »Handarbeit hat keine Geschlechtlichkeit. Weil ich möchte, dass sich alle Besucher_innen meines Blogs hier willkommen fühlen, bemühe ich mich um eine sensible Sprache und verwende Gender_Gaps und Trans-Sternchen.« Ausdrückliche Bemühung um einen wirklich offenen Raum ohne implizite heteronormative, rassistische oder ableistische (behinderte Menschen diskriminierende) Ausschlussmechanismen wird auch auf bei der Urbanen Spinnstube, dem Queeren Rant- und Strickpodcast, und im Blog Eidechse als zentrales Anliegen formuliert, dessen sprachliche Umsetzung jedoch auch zu Auseinandersetzungen führen kann.73 Die Podcasterin des Fiberthermometer beschreibt, wie viel mehr Anerkennung sie für ihre technikaffinen Hobbies Fotografieren und Programmieren im Vergleich zum Spinnen und Stricken in ihrem Umfeld erfährt; sie erklärt dies mit dem geringeren Ansehen als ›weiblich‹ konnotierter Tätigkeiten im Vergleich zur ›männlich‹ besetzten Technik.74 Die weitgehend fehlende Wahrnehmung von Handarbeits-Podcasts innerhalb der deutschen Podcast-Szene hat sie (ebenso wie

71 http://www.wollstash.com/2015/06/04/ueber-handarbeiten-feminismus-die-neuehaeuslichkeit-und-warum-diy-so-wunderbar-sein-kann/ (Zugriff: 24.8.2016). 72 http://ringelmiez.de/2014/07/11/und-was-ist-jetzt-an-handarbeiten-und-crafting-bittepolitisch/ (Zugriff: 21.8.2016). Dabei handelt es sich um ein Zitat aus dem Einleitungstext der Ravelry-Gruppe »Queerfeministisches Faserkombinat«. 73 Eine entsprechende Diskussion innerhalb der Ravelry-Gruppe »Podcasting auf Deutsch« fand etwa in den Podcasts Wollwirrwarr, Folge 11 (s. o.) und Angiies Wollplaudereien, Folge 95 (https://angiie1971.wordpress.com, Zugriff: 26.8.2016) einen Niederschlag. 74 Fiberthermometer, Folge 9, Folge 3 (s. o.). Zur Geschichte der Besetzung von Technik als ›männlich‹ vgl. Sawday: Engines 2007, S. 148 f., der diese bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgt und mit dem militärischen Hintergrund des Konzepts ›Maschine‹ erklärt. Dieser Zusammenhang sei bereits in der Renaissance so fest etabliert gewesen, dass Spinnräder in Publikationen über Maschinen nicht vorkamen, obwohl sie zu den fortschrittlichsten mechanischen Geräten der Zeit gehörten.

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KollegInnen) wiederholt beschäftigt und zu einem Vortrag auf der PodcastingKonferenz »Subscribe 7« geführt.75 Darin stellte sie das soziale Netzwerk Ravelry und das dort zentrierte »parallele Podcastuniversum« rund ums Stricken und Spinnen vor und plädierte für mehr gegenseitige Kontaktaufnahme zwischen dieser weit überwiegend weiblichen Nischenkultur und der nach wie vor zu über 80 Prozent76 männlichen deutschen Podcast-Szene.

F AZIT     Spinnen ist im europäischen Kontext bereits viel länger als etwa das Stricken oder Nähen mit der Konstruktion geradezu archetypischer Weiblichkeit verknüpft. Die Besetzung textiler Handarbeiten als ›weiblich‹ scheint bis heute weitgehend ungebrochen; wie dies aber zu bewerten sei, wird innerhalb der hier vorgestellten digitalen Strick- und Spinnszene intensiv reflektiert und diskutiert. Der althergebrachte Spinnstubentopos ist zwar nicht ganz vergessen, jedoch seiner ehemaligen ideologischen Aufladung weitgehend entkleidet; Vorgaben für gegenwärtige Geschlechterverhältnisse werden nicht daraus abgeleitet. Im Gegenteil scheint das Spinnen gerade für manche besonders aktiv in aktuelle feministische und DIYDiskurse involvierte BlogerInnen und PodcasterInnen attraktiv zu sein. Podcasts wie die Urbane Spinnstube und das Fiberthermometer tragen diese Diskurse in einen deutlich über deren übliche Reichweite hinausgehenden HörerInnenkreis. Für die TeilnehmerInnen der hier vorgestellten Szene stellt das Spinnen einen Anlass dar, sich digital außerhalb ihres sonstigen Bekanntenkreises zu vernetzen und damit neuen Ideen und Blickwinkeln zu begegnen, mit Blogs, Podcasts und Anleitungsvideos eine überwiegend ›weibliche‹ Öffentlichkeit zu erreichen und zu Veranstaltungen zu reisen, bei denen sie andere, nach Herkunft und Lebensumständen recht diverse ›Faserverrückte‹ treffen. Im Umkreis der Ravelry-Gruppe »Podcasting auf Deutsch« entsteht damit ein sozialer Raum, der seine Qualität als

75 Andreä, Monika: Das parallele Podcastuniversum. Ein Einblick in die Podcast-Szene der DIY- und Kreativ-Ecke. Vortrag auf der Podcaster-Konferenz Subscribe 7, Berlin 6.–8.5.2016), https://www.youtube.com/watch?v=3g5YvE4ifn0 (Zugriff: 22.8.2016). 76 Heise, Nele: Podcasting Women. Vortrag auf nebenan. Freundliche Internet-Konferenz, Hamburg 6.6.2015, https://www.youtube.com/watch?v=ky66n54HCtc (Zugriff: 22.8. 2016); von ihr stammt auch ein Verzeichnis deutschsprachiger Podcasts von Frauen: https://docs.google.com/spreadsheets/d/1GZSUxqcLiACs94UqeDDB6t07VtvodwGqt 9rMaoKsB10/edit?pli=1#gid=0 (Zugriff: 22.8.2016).

W IEDERENTDECKUNG ( EN )  DER   H ANDSPINNEREI   |   105  

»contact zone«77 vielleicht auch ein Stück weit der gängigen Vorstellung vom ›weiblichen‹ Charakter textiler Handarbeiten verdankt, die es teilnehmenden Frauen erlaubt, sich in ihm als sozusagen ›immer schon‹ zu Hause zu fühlen. So ist es womöglich kein Zufall, dass es gerade hier zu einer recht breiten Reflexion über die Grenzen binärer Geschlechtermodelle kommt und dass rund um Strickund Spinnpodcasts eine überwiegend von Frauen getragene Nischenkultur innerhalb der männlich dominierten deutschsprachigen Podcasting-Szene entstanden ist, von der auch Vorstöße in Richtung einer stärkeren Integration dieser neuen digitalen Öffentlichkeiten ausgehen.

77 Die Anwendung dieses 1991 von Mary Louise Pratt geprägten theoretischen Konzepts auf die überwiegend von Frauen geprägte amerikanische Bloggo-Sphäre rund um häusliche Themen schlägt Caroline Porter vor; vgl. Porter: Women’s Domestic Blogs 2014, S. 20.

Eigenbau-­Musikinstrumente     als  Elemente  der  Selbstdarstellung   B ERNHARD F UCHS

A BSTRACT :   D O  IT  YOURSELF   M USICAL   I NSTRUMENTS     AS   E LEMENTS  OF   S ELF -­ REPRESENTATION   This contribution analyses the non-professional production of musical instruments from a semiotic perspective as a form of popular myth-production. Material-musical culture represents different identities and varies from an ethnic, national or ecological symbol to a signifier of individual musicality. Diverse contexts of instrument-building like pedagogy, therapy, social work, heritage, performance art are discussed. The paper focusses on the relevance of Do it yourself musical instruments (DIYMI) for – particularly applied – ethnomusicology. Scientific practice is explained not only as the co-production of knowledge but also of myth. This idea is highlighted with the example of the story of the famous Austrian folkfiddler Alois Blamberger who is said to have built his first violin as a twelve-yearold child. This case study is combined with methodological reflections in the field of Material Culture Studies.

Volksmusikinstrumente werden in Mythen und Sagen thematisiert und im Zuge der Modernisierung zu nationalen Ikonen gemacht, die heute offizielle Anerkennung als nationales Kulturerbe finden: Alphorn, Cajón, Fujara, Kantele, Maultrommel, Ratschen, Steelpan und andere. Das Feld des Instrumentenbaus prägen Alltagsmythen: Die Verehrung der klassischen Geigenbauer verleiht diesen alten Meistern mythische Qualität, die das gegenwärtige Handwerk zu einem Schattendasein verurteilt.

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Die Ideologie des Do it yourself (DIY) lehnt sich gegen Elitismus und Handwerksgeheimnisse auf und propagiert das Teilen von Ressourcen.1 »Musik ist zu wichtig, um sie den Profis zu überlassen. Wir müssen sie ins Leben, in den Alltag integrieren«, formulierte der Gründer der »Klangwerkstatt« Christoph Löcherbach.2 Nichtsdestotrotz – oder gerade infolge der Demokratisierung – impliziert Instrumentenbau in unserer Zeit performatives, narratives und symbolisches Handeln, mitunter als ein – erst nachträglich hinzukommendes – Nebenprodukt. Anderseits kann Selbstdarstellung sogar die ursprüngliche Motivation sein. Der Fokus meiner Überlegungen liegt auf dieser semiotischen Dimension musikalisch-materieller Kultur, auf ihrem Potenzial für Mythenbastelei.3 Die Signifikanz von EigenbauInstrumenten beschränkt sich keineswegs auf deren Produktion, sondern beruht auf ihrer kommunikativen Einbettung. Ethnografische Analysen können bereits beim Instrumentenbau als Kommunikationszusammenhang ansetzen.4 Der vorliegende Beitrag widmet sich hingegen der Untersuchung objektgestützter Selbsterzählungen sowie der Erfassung dynamischer Objektbedeutungen.5 Mein Zugang konzentriert sich auf die kommunikative Bedeutung der Eigenbau-Instrumente. Ich schlage vor, amateurhaften Instrumentenbau als ein Element autobiografischen Erzählens beziehungsweise der Performanz von Identität zu betrachten. Narrative Inszenierungen selbsterzeugter Objekte sind in performativen und medialen Zusammenhängen anzutreffen; hier konzentriere ich mich auf ein

1

Friebe, Holm/Ramge, Thomas: Marke Eigenbau. Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion. Frankfurt a. M. 2008; weiters: Die DIY (do it yourself) Bewegung. Maker Austria, http://www.makeraustria.at/mehr-informationen/die-diy-do-it-yourselfbewegung (Zugriff auf sämtliche zitierte Webseiten: 31.3.2016).

2

Frieder, Eva-Maria: Ein Wallfahrtsort für Musikanten. In: Augsburger Allgemeine, 25.5. 2010, http://www.augsburger-allgemeine.de/mindelheim/Ein-Wallfahrtsort-fuer-Musi kanten-id7888516.html

3

Zu Alltagsmythen und »Mythenbastelei« vgl. Korff, Gottfried: Hase Co. Zehn Annotationen zur niederen Mythologie des Bürgertums. In: Gyr, Ueli (Hg.): Soll und Haben: Alltag und Lebensformen bürgerlicher Kultur. Zürich 1995, S. 77–95; Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Berlin 2010 (Orig. 1957).

4

Vgl. Merriam, Alan P.: The ethnographic experience: Drum-making among the Bala (Basongye). In: Ethnomusicology 13 (1969), H. 1, S. 74–100.

5

Vgl. Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin 2005, bes. S. 113– 161; vgl. weiters Riggins, Stephen Harold (Hg.): The socialness of things. Essays on the socio-semiotics of objects (= Approaches to semiotics, 115). Berlin/New York 1994; Keane, Webb: Semiotics and the social analysis of material things. In: Language and Communication 23 (2003), S. 409–425.

E IGENBAU -­M USIKINSTRUMENTE   |   109  

Fallbeispiel aus der österreichischen Volksmusikforschung, welches das Zusammenwirken von Wissenschaft und »Gewährsleuten« in Deutungsprozessen veranschaulicht. Methodologische Bemühungen im Sinn einer Verknüpfung von Autoethnografie, Diskursanalyse und Forschung zu materieller Kultur zielen darauf ab, einen mythisch überhöhten Gegenstand durch Multiperspektivität aus der etablierten Festschreibung zu befreien, und die ethnografische Imagination in historischer und sozialer Hinsicht zu dynamisieren.

D IMENSIONEN  DES   E IGENBAUS     VON   M USIKINSTRUMENTEN     Unter Eigenbau-Musikinstrumenten verstehe ich Klangwerkzeuge, die von Laien und Autodidakt_innen hergestellt werden. Meist handelt es sich um Produktion für den Eigengebrauch, oft auch um das Anfertigen persönlicher Geschenke. Dieses Feld ist vielfältig und reicht vom einfachen Kinderspiel mit klingenden und lärmenden Gegenständen bis zur Herstellung komplexer Musikinstrumente, reicht von der Imitation, Simplifikation und Reduktion bis zur innovativen Weiterentwicklung. Die Übergänge zum Handwerk sind fließend; Wartung, Reparaturen, Restaurierungen, Kopien und Rekonstruktionen führen verbreitet zum Einstieg in das Metier. Häufig wirken erfahrene Handwerker_innen anleitend und helfend an Projekten mit. Oder Autodidakt_innen entwickeln sich zu Multiplikator_innen und leiten selbst Workshops. Einige gründen Initiativen und offene Werkstätten und machen Instrumentenbaukurse für Dilettant_innen zu ihrem Beruf.6 Manchmal wechseln Bastler_innen ins professionelle Handwerk, nachdem sie Investitionen getätigt und Spezialwissen erworben haben. Als Profis verstehen sich unterschiedlichste Akteur_innen – von amateurhaften Bastler_innen bis hin zu beruflichen Performance-Künstler_innen.7 Der Bereich des professionellen Handwerks

6

Beispiele für Initiativen: »Klangwerkstatt« (gegründet 1973, http://www.klangwerkstatt. de/), »KlangHütte« (gegründet in Dresden, 1998, http://www.klanghuette.de/), »KlangHolz« (gegründet 1996 in Berlin/Spandau, http://www.klang-holz.de/), »Klang-Werkstatt« (ein Verein in St. Gallen, www.klangwerkstatt.info).

7

Der Musiker Hans Tschiritsch etwa erklärte Erfindung und Präsentation origineller Musikinstrumente zu seiner Profession. Er bietet auch Instrumentenbau-Workshops an. Das Spielen auf seinem Instrumentarium propagiert er dezidiert nicht – er will verhindern, dass andere darauf schlecht spielen. Lampert, Ulrike: Grenzenlose Kreativität: Hans Tschiritsch. In: Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, (April 2012), https://www.musikverein.at/monatszeitung/monatszeitungvoll.php?idx=1477

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hingegen ist rechtlich klar abgegrenzt; beispielsweise können viele spezielle Produkte des Instrumentenbaus nur mit einer Gewerbeberechtigung erworben werden. Direkte Konkurrenz kommt selten vor, da sich der Eigenbau vorrangig vom Handwerk vernachlässigter Nischen annimmt.8 Der bedeutendste Bereich des Eigenbaus ist die Pädagogik. Instrumentenbau ist ein Bestandteil des Elementaren Musizierens. Ein Großteil der Kursangebote adressiert Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter. Vielfältige sinnliche Erfahrungen und individuelle Gestaltung sollen einen niedrigschwelligen Zugang zum Musizieren und eine Identifikation mit dem selbstgeschaffenen Instrumentarium ermöglichen. In der spielerischen Aneignung der klingenden Welt ist ein Ursprung der Eigenbau-Instrumente zu sehen, ganz allgemein entspringt Musik der Verbindung von akustischer Aufmerksamkeit und spielerischer Kreativität. Sachbücher thematisieren primär die Arbeit mit Kindern9 und Bastelbücher für Kinder enthalten oft einfache Musikinstrumente. Dabei sollen nicht nur ästhetische Fähigkeiten geschult und musikalische Kompetenzen vermittelt werden, sondern auch motorische, organisatorische, technische und soziale – wie ökologisches und kulturgeschichtliches Wissen. Verbreitet ist der Eigenbau im Bereich der Volksmusik und der Alten Musik, wo ein Bedarf an Instrumenten besteht (oder durch die Pflege erzeugt wird), der durch das übliche Angebot des Handels nicht abgedeckt wird. Historisch war es in der Volksmusik üblich, dass Laien ihre Klangwerkzeuge selbst angefertigten, oft als ein Element von Bräuchen.10 Volkskundliche Publikationen enthalten detaillierte Beschreibungen und sogar Bauanleitungen.11 Seit den 1970er Jahren wurde ein Revival zahlreicher Bordun-Instrumente12

8

Der Architekt und Hobbygeigenbauer Klaus Andrees verschenkt seine hochwertigen Instrumente (http://issuu.com/svenadolph/docs/instrumente_von_klaus_andrees).

9

Nur z. B. Quoos, Hans Jürgen/Ausländer, Peter: Bau einfacher Instrumente und erstes Zusammenspiel. Wien 1980; Martini, Ulrich: Musikinstrument – erfinden, bauen, spielen. Anleitungen und Vorschläge für die pädagogische Arbeit. Stuttgart/Dresden 1995; Maierhofer, Lorenz/Kern, Walter/Kern, Renate: Sim Sala Sing. Das Liederbuch für die Volksschule. Rum b. Innsbruck/Esslingen 2010 (4. Aufl.).

10 Vgl. Ehrenwerth, Manfrid: Teufelsgeige und ländliche Musikkapellen in Westfalen (= Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 79). Münster 1992; Linthouth, Kurt van: Das Ratschen im niederösterreichischen Marchfeld. Diplomarb. Wien 1990. 11 Vgl. etwa Bachmann-Geiser, Brigitte: Das Alphorn. Vom Lock- zum Rockinstrument. Bern u. a. 1999; Hirschmugl, Anton: Die Okarina (= Sätze und Gegensätze 8). Gnas 1998; Seeger, Peter: Steel drums – how to play them and make them. New York 1964; sowie die Reihe Handbuch der Europäischen Volksmusikinstrumente. Leipzig 1967 ff. 12 Dies sind Instrumente mit integriertem Halteton wie Drehleier und Sackpfeife.

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initiiert, im Zuge dessen regionale Varianten mitunter erst (re-)konstruiert wurden. Meist steckt hinter derartigen Aktivitäten die Suche nach alternativen Klangwelten (und auch Lebensweisen) wie im Bereich der Obertonmusik, des Schamanismus, der Weltmusik- und Mittelalterszene. Die international vernetzte Volksmusikpflege, bedeutete meinen ersten Kontakt zum Thema, erst nach und nach erschlossen sich mir andere Szenen. Ein weiteres Anwendungsfeld des Laien-Instrumentenbaus ist die Therapie. Hier besteht eine Nähe zu esoterischen Bewegungen, aber ebenso zu den wissenschaftlichen Ansätzen der Akustischen Ökologie, der Ethnomusikologie und der Musikarchäologie – Disziplinen, für die Instrumentenbau einen Forschungsgegenstand darstellt oder zum methodologischen Repertoire gehört (wie in der experimentellen Archäologie).13 Jedoch nicht nur um traditionelle und exotische Instrumente gruppieren sich vielfältige Bastler-Szenen, der Eigenbau von E-Gitarren und Synthesizern ist ähnlich beliebt. Teilweise bestehen überregionale Verbindungen zwischen den vielfältigen Akteuren und Werkstätten; manchmal existieren sie unabhängig voneinander. Eigenbau-Musikinstrumente werden zu einem Element autobiografischen Erzählens sowie zu einem Aufhänger für kollektive Identitäten gemacht. Den Kontext für derartige Selbstdarstellungen können reale und virtuelle Bühnen, Medien und Online-Plattformen oder auch wissenschaftliche Foren darstellen; es kann sich ebenso um private Zusammenhänge handeln. Diesen Gedanken einer DIY-gestützten Identitätskonstruktion arbeite ich im Folgenden am Beispiel eines für die österreichische Volksmusikforschung bedeutsamen Eigenbau-Musikinstruments – der »Zigarrenkisten-Geige« des Alois Blamberger – heraus. Oft setzen autobiografische Erzählungen bereits bei der Kindheit an. Ein für Musiker_innenbiografien typisches Motiv ist der musische Drang, der sich auch in materiellem Gestalten artikuliert: vom kindlichen Spiel mit den Drähten des Eierschneiders zum virtuosen Harfenspiel, vom Zupfen auf Gummiringen zum Cello … Wer hat nicht schon mit Essbesteck und Gläsern geklimpert. Dass jemand trotz aller Widerstände nicht aufgibt, ist ein bewährtes Erzählmuster bei Musiker_innen. Sonische Sensibilität ist Bestandteil von Mythen, gleichwohl nicht weniger reale Eigenschaft. Ungewöhnliche Eigenbauinstrumente verschaffen einen

13 Vgl. Musikarchäologie. Unter: Archäologie online, http://www.archaeologie-online.de/ magazin/thema/musikarchaeologie/ Zur Ethnologie des Instrumentenbaus vgl. Connor, Will: The role of the instrument maker in popular music studies. In: Ethnomusicology Review, (15.10.2013), http://ethnomusicologyreview.ucla.edu/content/role-instrumentmaker-popular-music-studies-will-connor

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Vorteil in der Ökonomie der Aufmerksamkeit.14 Wichtig ist das Spektakuläre vor allem für die Straßenmusik. So erregte ein Duo aus E-Bass und E-Gitarre in der Wiener Kärntnerstraße allein durch den Umstand Aufsehen, dass die Instrumente aus gewöhnlichem Werkzeug – Besen und Schaufel – bestanden. Auch bei Auftritten in Casting-Shows kommt Eigenbau strategisch zum Einsatz, bisweilen sogar in Echtzeit: Beispielsweise hat der Musiklehrer Hubert Waldner in der österreichischen Talentshow »Die große Chance« (2012) eine Flöte aus einem PVCRohr binnen einer Minute live angefertigt und sogleich musikalisch eingesetzt.15 Bei Eigenbau-Projekten ist die Verwendung moderner alltäglicher (Abfall-) Materialien wie Aludosen, Müllsäcke und Sanitärrohre üblich. Tibor Ehlers (1917–2001) konnte innerhalb von Sekunden eine leere Getränkedose in ein Mirindaphon transformieren, um anschließend auf dieser von ihm erfundenen Gefäßflöte gleich einige einfache Melodien vorzuspielen. Ehlers war und ist im volksmusikalischen Bereich überragende Leitfigur und Pionier des Eigenbaus, der viele Projekte in Deutschland, Österreich und der Schweiz inspirierte.16 Der Pädagoge gehörte nicht zu den konservativen Materialpuristen – für didaktische Zwecke setzte er gern ›moderne‹ Materialien ein und auch beim Dudelsackbau benützte er Autoschläuche für den Balg und Tintenpatronenhülsen für das Rohrblatt. Die erste Fidel baute er aus einer Munitionskiste. Seine Gamben hingegen sind aus erlesenem Klangholz. Die Semiotik von Musikinstrumenten ist häufig bereits im Material angelegt, sei es ein Element von Natur und lokalem Ökosystem (wenn etwa auf den Eisplatten des Baikalsees musiziert wird) oder Abfall, der recycelt wird: Berühmt ist ein Projekt in Paraguay, wo Kindern in den Slums aus Müll gebaute Instrumente zur Verfügung gestellt werden.17

14 Wie im Fall des schon erwähnten Performance-Künstlers Tschiritsch, der sein Publikum mit skurrilen Klangobjekten überrascht. 15 https://www.youtube.com/watch?v=O--GW31zf8g 16 Tibor-Ehlers-Medaille. Unter: Schwaben-Kultur (http://www.schwaben-kultur.de/home/ seminare/ehrungen/ehlers.htm); Stingl, Manfred/Zimmermann, Hans Georg: Leier, Gambe, Dudelsack. Der Instrumentenbauer Tibor Ehlers. Balingen 2003; Zeidler, Hatto: Tibor. Sachliches und Poetisches über Gamben und Tibor Ehlers. Ulm 2002. Vorläufer des Instrumenten-Eigenbaus könnten auch die Wandervogel-Bewegung (mit ihrem Streben nach einfachem Leben und der Demokratisierung von Musik) und Peter Harlans instrumentenbauliche Aktivitäten sein; vgl. Martius, Klaus: Peter Harlan als Restaurator alter Musikinstrumente. In: Concerto. Das Magazin für Alte Musik (2008), H. 221, S. 23–28. 17 http://www.recycledorchestracateura.com/

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Musikinstrumente werden oft ethnisiert. Im Migrationskontext besitzt Kulturtransfer Signifikanz als ein Akt kultureller Rekonstruktion: Der britisch-asiatische Perkussionist Johnny Kalsi rühmt sich, als erster die Dhol importiert und sie zugleich mittels instrumentenbaulicher Innovationen für das englische Klima adaptiert zu haben. Seine mit abenteuerlichen Elementen ausgeschmückten Erzählungen deutet die Musikethnologin Laura Leante als »urbanen Mythos«.18 Die Musikethnologinnen Ursula Hemetek und Sofija Bajrektarević wiederum dokumentierten den Bau einer bosnischen Saz in Wien und die Schwierigkeiten dieser Arbeit in einem normalen Haushalt ohne Werkraum.19 Dem Flüchtling Himzo Tulić symbolisierte das Instrument ein Stück Heimat.20 Musik besitzt vor allem in der afghanischen Diaspora einen hohen Stellenwert, nicht zuletzt weil Instrumentenmacher und Musiker von den Taliban verfolgt wurden. Ein schlichtes YouTube-Video dokumentiert stolz den Bau einer Sarinda in Kanada. Die Kommentare zum Film belegen die Vorbildwirkung einer solchen Präsentation.21 Musikalisch-materielle Kultur kann zum kollektiven Symbol von Auflehnung gegen koloniale Unterdrückung werden, wie beispielsweise das in der afro-peruanischen Kultur entwickelte Perkussionsinstrument Cajón oder die in Trinidad entstandenen Steelpans.22 Für beide Instrumente liegt der Ursprung(smythos) im Umgehen von Musikverboten. Nachdem der Gebrauch von Musikinstrumenten verfolgt wurde, benützte man leere Obstkisten und Ölfässer.23 Längst wurden diese Instrumente in neue Kontexte überführt. Videos im Internet erläutern die Herstellung von Recycling-Steelpans.24 Unter den zahlreichen Instrumentenbau-

18 Leante, Laura: Urban myth: Bhangra and the dhol craze in the UK. In: Clausen, Bernd/Hemetek, Ursula/Saether, Eva (Hg.): Music in motion. Diversity and dialogue in Europe. Bielefeld 2009, S. 191–207. 19 Hemetek, Ursula/Bajrektarević, Sofija: klanglese, Bd. 1: Bosnische Musik in Österreich. Klänge einer bedrohten Harmonie. Wien 2000, bes. S. 58–83. 20 In der musikalischen Praxis bewährte sich dieses symbolisch bedeutsame Instrument aber nicht; es wurde eine »Fliegensaz« – wie Tulić Instrumente nennt, die nur als Wandschmuck dienen können. Er unternahm bereits vor seiner Flucht instrumentenbauliche Versuche. 21 Making of Sarinda. YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=apaBejwqYKM 22 Feldman, Heidi: Black rhythms of Peru. Middletown, CT 2006; Stuempfle, Stephen: The steelband movement. The forging of a national art in Trinidad and Tobago. Philadelphia 1995. 23 Kronman, Ulf: The pan page. A forum for the steel pan instrument, http://stockholm steelband.se/pan/tuning/preface.php#history 24 Tankdrum Bauanleitung. YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=fYqBhYirsBM

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Videos sticht ein ironisches heraus: »How not to make a Hang drum« des Schauspielers Damian Baldet parodiert dieses von Erfolgsgeschichten dominierte Genre.25

I NSTRUMENTENBAU  ALS   I DENTITÄTSARBEIT   Besonders in Verbindung mit nichtprofessionellem Instrumentenbau gewinnen Kreativität und materielles Handeln Potenzial zur mythisierenden Identitätskonstruktion. Vielfältige semiotische Netzwerke werden produziert: Komplexe Bedeutungsgeflechte, die vielfältige Konnotationen des Werkstücks evozieren, soziale Relationen markieren, Werte symbolisieren und gleichzeitig auf die herstellende Person verweisen. Nicht zuletzt, weil die Routine und Kompetenz des Handwerks fehlen, kann das Werk für Überraschung sorgen und selbst seine_n Urheber_in in Erstaunen versetzen. Tendenziell ist beim Hobby die Bindung an ein Werk intensiver als bei Handwerker_innen, da das Produkt in der Regel nicht für den Verkauf bestimmt ist. Instrumentenbau illustriert eindrucksvoll die Metamorphose von natürlichen oder synthetischen Materialien, von Abfall oder neuwertigen Werkstoffen durch die Herstellung musikalischer Artefakte. Die materielle Arbeit und das klingende Produkt erzeugen dabei eine unverwechselbare Identität des Herstellers, die sich für selbstbewusste Erzählungen und individuelle Mythisierungen anbietet. DIY lässt sich als eine populäre Form der Mythenbastelei betrachten, die auf der Ebene materieller Kultur angesiedelt ist. Wenn durch die kontrastive Betonung des dilettantisch Selbstgemachten das Ideal des Homo faber in einer von professioneller Spezialisierung, industrieller Produktion, Hightech, Konsumismus und Kapitalismus geprägten Lebenswelt hochgehalten wird, so handelt es sich freilich ebenso um einen Mythos. Die Kritik am passiven Homo consumens, welcher undurchschaubarer Technik hilflos ausgeliefert ist, die Entdeckung der Langsamkeit, und die Förderung von Achtsamkeit, bedächtiger Aktivität und Naturnähe sind dominante Diskurse des Eigenbaus.26 Treffender als Homo faber beschreibt jedoch der Begriff Homo fabricatus die Wirklichkeit: Auch das Selbst des »Makers« wird im Prozess seiner Arbeit generiert.27 Das kreative Individuum ist dabei stets ein Teil eines Netzwerks. Die

25 Baldet, Damian: How not to make a Hang drum. YouTube, https://www.youtube.com/ watch? v=HPNe8oQXM_E 26 Vgl. Schmidbauer, Wolfgang: Die einfachen Dinge. München 2003. 27 Latour, Bruno: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Moderne. Berlin 2014 (Orig. 2012), S. 327 f.

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menschliche Identität entsteht generell im Tun und wird nicht erst nachträglich materialisiert; sie beruht auf Assemblagen menschlicher und nicht-menschlicher Entitäten, wie sie beispielsweise in einer Werkstatt anzutreffen sind. Was der Soziologe und Philosoph Bruno Latour allgemein über technische und handwerkliche Prozesse sagt, charakterisiert ganz besonders treffend auch das DIY: Die Performanz tritt bereits vor der Kompetenz in Erscheinung.28 Im DIY wird die Priorität der Performanz gegenüber der Kompetenz demonstriert, der Mut zu praktischem Tun auch ohne professionelle Qualifikation. Fertigkeiten können nur durch Praxis erworben werden (und erst in ihr werden sie sichtbar). Im Kontext von Kursen und offenen Werkstätten findet das kreative Schaffen quasi in einer Aufführungssituation statt. Aufgrund des wechselseitigen Interesses und fast permanenter Beobachtung erlangt die Produktion den Charakter einer darstellerischen Geste, sodass sogar von Performanz im engeren Sinn gesprochen werden kann.29 Während Handwerker_innen ihre Produkte und Fähigkeiten durch die Vielzahl ihrer Versuche laufend weiterentwickeln können, geht aus dem autodidaktischen und amateurhaften Schaffen oft nur ein einziges Instrument hervor, etwa wenn es sich um ein zeitaufwändiges und anspruchsvolles Projekt handelt, wie zum Beispiel eine Violine. Oft ist mehrmaliger Umbau erforderlich, um die Qualität eines Instruments zu verbessern, nach Latour sind derartige Umwege ein typisches Merkmal von Technik.30 Einfache Klangwerkzeuge entstehen hingegen in wenigen Stunden, sogar in ein paar Minuten. Manchmal genügt es, bereits vorhandene Dinge umzufunktionieren. Eigenbau wird oft von einer Sehnsucht nach einfachen Dingen motiviert. Die Hinwendung zu soundscapes geht häufig einher mit dem Streben nach Naturverbundenheit. Das schließt allerdings elektronische und technisch anspruchsvolle Geräte wie Synthesizer keineswegs generell aus. Denn umgekehrt streben viele Bastler_innen danach, zu immer komplexeren Formen vorzudringen. Die angestrebte Einfachheit liegt in der Verständlichkeit und der Möglichkeit selbstbestimmten Eingreifens. Dagegen präsentieren sich heute viele Alltagsdinge als Black Boxes im Hochglanz-Design, die keinerlei autonomen Eingriff mehr erlauben. Wir sind diesen Dingen ausgeliefert. Der Psychoanalytiker Wolfgang

28 Ebd., S. 327. 29 Die Diskussion über das Verhältnis von Kompetenz und Performanz entstammt ursprünglich dem Kontext der Linguistik, wird aber davon angeregt auch in anderen Kulturwissenschaften geführt; vgl. Erpenbeck, John: Kompetenz und Performanz im Bild moderner Selbstorganisationstheorie. Bonn 2002, http://www.forschungsnetzwerk.at/ downloadpub/erpenbeck_03_4_2002.pdf 30 Latour: Existenzweisen 2014, S. 308 f.

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Schmidbauer spricht von »klugen« und »dummen« Dingen, wobei sich letztlich ausgerechnet diejenigen Dinge als »dumm« erweisen, in die so viel Intelligenz investiert wurde, dass sie die Benützer_innen aufgrund ihrer Unzugänglichkeit ›verdummen‹ lassen.31 Latour bewertet die Entlastung menschlicher Akteure durch die Delegation an nicht-menschliche Wesen positiver; letztere bieten Sicherheit und Komfort und sind zuverlässiger und sogar moralischer als die Menschen.32 Der Komplexitätsgrad eines Gegenstandes steigt mit der Zahl der Entitäten, die zu seiner Herstellung – mit Latour formuliert – »versammelt« beziehungsweise »rekrutiert« werden müssen.33 Dem Herstellen von Eigenbau-Instrumenten geht heute für gewöhnlich die Teilnahme an Workshops voraus, wo Expert_innen ihr Knowhow weitergeben und nicht selten vorgefertigte Bausätze bereitstellen.34 Auch die Industrie reagierte – beispielsweise mit dem Angebot von SynthesizerBausätzen.35 Der mediatisierte Wissenstransfer im Internet stellt heute eine wichtige Grundlage für Projekte sowie eine Plattform für Kommunikation und Selbstpräsentation dar. Unzählige mehr oder weniger kompetente Bastler stellen ihre Anleitungen auf die Video-Plattform YouTube. Überzeugend und gleichzeitig unterhaltsam ist der Webauftritt des ägyptisch-deutschen Flötenbauers Marwan Hassan, der beispielsweise in Echtzeit die Herstellung einer Kawala erklärt und seine Kunstfertigkeit eindrucksvoll mit dem erst grob ausgearbeiteten Instrument vorführt. In vergleichbaren Videos kommt die musikalische Demonstration häufig zu kurz. Hassan verkauft Lehrbücher zum Selbstbau von Flöten, aber auch das Produkt selbst. Der

31 Einfache Form als selbstbestimmte Tätigkeit vgl. Slow Work Kulturwerkstatt. Aschach an der Donau, 1.–5.8.2012, http://slowork.net/visionen.html 32 Latour, Bruno: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. Berlin 1996 (Orig. 1991). 33 Vgl. Belliger, Andrea/Krieger, David J. (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld 2006; Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a. M. 2010 (Orig. 2005). 34 Fast würde hier die rein männliche Form eher der Realität entsprechen, doch gibt es im Bereich des DIY einzelne Instrumentenbauerinnen wie Christina Baudenbacher, Monochordia (http://www.monochordia.de/index.php/instrumentenbau). 35 Schluenzen, Ralf: Synthesizer im Eigenbau, Teil 1. Unter: Bonedo. Das Musikerportal, http://www.bonedo.de/artikel/einzelansicht/teil-1-synthesizer-im-eigenbau.html; Techmeier, Ingo: Gewusst wie: Synths selber bauen! In: Amazona. Musiker Magazin, https://www.amazona.de/workshop-diy-modulare-synthesizer-selbst-bauen/

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Eigenbau stellt in vielerlei Hinsicht einen Marktsektor dar: Bücher und Pläne, Werkzeuge, Materialien, Seminare bis hin zum Instrumentenbau-Urlaub, und nicht zuletzt auch die Eigenbau-Instrumente selbst werden vermarktet. Bruno Latour schreibt vehement gegen eine Soziologie an, die seiner Ansicht nach ein Bild von Gesellschaft unter Ausblendung nicht-menschlicher Aktanten zeichne. In der Europäischen Ethnologie und ihrer Vorgängerdisziplin war Sachkultur lange vor dem in den 1980er Jahren einsetzenden »Material Turn« der Kulturwissenschaften ein zentrales Thema.36 »Den Menschen durch die Dinge und in seiner Beziehung zu den Dingen zu erkennen, ist das Anliegen der Volkskunde«, formulierte Richard Weiss bereits 1959.37 Die Anwendung derartiger Ansätze zu Mensch-Ding-Beziehungen auf das Feld der Instrumentalmusik ist naheliegend. Die enge Verflochtenheit von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten lässt sich in der Musik eindrucksvoll belegen. Der Mensch wird durch seine Instrumente transformiert. Der Musikethnologe und Komponist Felix Hoerburger betonte die Wechselwirkung zwischen Musik und Instrumentenbau, wonach mitunter auch außermusikalische Faktoren bestimmend werden für die Entwicklung der Musik.38 Instrumentenbau fasziniert als eine Metamorphose, die toten Dingen Leben einhaucht (manchmal nachdem zuvor Leben gewaltsam ausgelöscht wurde – man denke an Darmsaiten und Trommelfelle). In Rajasthan wird der Einzug der Seele in ein neues Musikinstrument, wenn es mit Saiten bespannt wird, rituell begangen. Aber man muss gar nicht erst exotische Beispiele bemühen: Geigenbauer nennen den Stimmstock »Anima«, die Seele des Instruments. In Selbstbau-Workshops ist Namensgebung, etwa für die neue Harfe, als ein profanes Ritual verbreitet.39 Umgekehrt wird die

36 Vgl. Bräunlein, Peter J.: Material Turn. In: Georg-­‐August-­‐Universität Göttingen (Hg.): Dinge des Wissens. Die Sammlungen, Museen und Gärten der Universität Göttingen. Göttingen 2012, S. 30–44. 37 Weiss, Richard: Häuser und Landschaften der Schweiz. Erlenbach b. Zürich 1959, S. 292; vgl. auch das Konzept einer »Dingbeseelung« bei Kramer, Karl-Sigismund: Zum Verhältnis zwischen Mensch und Ding. Probleme der volkskundlichen Terminologie. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 58 (1969), S. 91–101. 38 Hoerburger, Felix: Musica vulgaris. Lebensgesetze der instrumentalen Volksmusik. Erlangen 1966. 39 Frieder: Wallfahrtsort 2010.

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»fehlende Seele« von im Supermarkt angebotenen Billig-Instrumenten als ein Motiv für den Eigenbau benannt.40 Zu den sinnlichen Erfahrungen des Instrumentenbaus gehört die körperliche Dimension der tastenden, formenden, fühlenden, und nicht selten schmerzenden Hände (wovon besonders Anfänger betroffen sind). Gleichzeitig ist mit Haptik eine spezifische Form des räumlichen und materiellen Denkens verknüpft. Das Ding schreibt sich in den Körper ein, während es aus den gestaltenden Händen und dem schöpferischen Geist hervorgeht. Die Inskription in den Gegenstand realisiert das auktoriale Dokument des Zettels, der ins Innere des Korpus geklebt, oder als Metallplatte mit Produzentennamen, Datum und Seriennummer an E-Gitarren angebracht wird. Mit dieser Signatur verewigt sich der selbstbewusste Produzent, eine symbolische Praxis, auf die auch viele Laien Wert legen. Historisch war dies ein Privileg der Zünfte. Musikliebhaber finden heute ein reiches Angebot an qualitativ hochwertigen Musikinstrumenten vor – neben Massenware minderer Qualität. Der Eigenbau entspringt gegenwärtig kaum einer Notwendigkeit, sondern eher bewusster Erfahrungssuche und dem Streben nach Selbstverwirklichung. Anders in politisch abgeschotteten Ökonomien oder vormodernen Mangelwirtschaften.41 Für manche traditionelle Instrumente existierte niemals ein kommerzielles Angebot. In vielen Ländern bauten Musikant_innen oder handwerklich begabte Laien ihre Klangwerkzeuge eigenhändig, auch weil sie sich käufliche Ware nicht hätten leisten können. Gegenwärtig ist der Eigenbau kaum ökonomisch motiviert; frühe Eigenbau-Synthesizer waren preislich günstiger als fertige Modelle, dies ist längst nicht mehr der Fall. Traditioneller Eigenbau ging oft mit der Produktion einfacherer Formen einher. Anderseits gab es dörfliche Instrumentenbauer, die sich am Standard handwerklicher Produkte orientierten und bestrebt waren, diesen so gut wie möglich zu imitieren.42

40 Salecker, Ralf: Trommelbau in Spandau mit dem Instrumentenbauverein Klang-Holz. In: Unterwegs in Spandau, 16.7.2012, http://www.unterwegs-in-spandau.de/trommel bau-in-spandau-mit-dem-instrumentenbauverein-klang-holz/ 41 In der DDR oder im Indien vor der Liberalisierung bauten Musiker_innen notgedrungen ihre E-Gitarren selbst. Auch durch nationale Grenzziehung und Vertreibung können Musiker von ihren traditionellen Netzwerken abgeschnitten werden. Die ManganiyarMusiker in Rajasthan verloren 1947 durch die Teilung des indischen Subkontinents ihre Instrumentenbauer, weshalb sie selbst Tischler anlernen mussten; vgl. Website von »Amrass Records« (http://www.amarrass.com/amarrass-society/amarrass-society). 42 Vgl. Elschek: Volksmusikinstrumente 1983, S. 108.

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Obwohl viele Musikanten ihre Instrumente selbst bauten, besaßen dennoch besonders begabte Personen einen Ruf als Meister dieser Kunst.43 Spezialisierung und Professionalisierung folgte häufig aus neuen Formen des Zusammenspiels, meist ein Effekt der symbolischen (›folkloristischen‹) Aufladung regionaler Volksmusikinstrumente und der Pflege von Volkskultur. Während differente Stimmungen im Einzelspiel kaum störten, stellte das neue Ensemblespiel (etwa von Alphorn, Fujara oder Steelpan) hohe Ansprüche – nicht nur an die Spieler, sondern auch an die instrumentenbauliche Perfektion. Handwerkliche Spezialisierung wurde unumgänglich.44

D E -­K ONSTRUKTION  EINES   M YTHOS :   A LOIS   B LAMBERGER   UND  SEINE  SELBSTGEBAUTE   K INDERGEIGE     In meinem Büro befindet sich eine vom Sonnenlicht ausgebleichte Fotografie des Ischler Tanzgeigers Alois Blamberger, vulgo Blån Lois (1912–1989), die mich seit vielen Jahren immer wieder zur Beschäftigung mit der Ethnomusikologie inspiriert. Für mich repräsentiert dieses Bild eine großartige musikalische Kultur, die damit verbundene Forschung und Traditionspflege – und nicht zuletzt diesen eindrucksvollen Menschen.45 Er war eine der berühmtesten Gewährspersonen der österreichischen Volksmusikforschung, der idealisierte Musikant und Traditionsträger, ein wichtiger Partner der Volksmusikpflege, zu der er sich gelegentlich auch kritisch äußerte.46 Die Fotografie erinnert mich an eine Zeit, als ich intensiv in dieses Milieu eintauchte; wie auf Musikantenwochen in Großrußbach in den 1980er Jahren, die auch mit Instrumentenbau-Workshops unter der Leitung von Christoph Löcherbach und Tibor Ehlers verknüpft waren. In diesem Rahmen baute Blamberger 1986 eine Bassgeige. Er war ein begnadeter Musiker und eine charismatische Persönlichkeit. Aufgrund seines Unterhaltungstalents trat er als der Sprecher der Goiserer »Simon Geigenmusi« auf, deren Mitglied er seit 1962 war. Der Wiener (Extrem-)Schrammelmusiker Roland Neuwirth schrieb über ihn:

43 Hier wurde bewusst auf die genderneutrale Formulierung verzichtet. 44 Vgl. Bachmann-Geiser: Alphorn 1999; Hoerburger: Musica 1966, S. 94 f.; Garaj, Bernard: The Fujara – A symbol of Slovak folk musik and new ways of its usage. In: Studia Instrumentorum Musicae Popularis 8 (2006), S. 86–94, http://www.llti.lt/failai/10%20 Garaj.pdf 45 Das Bild war ein Geschenk von Rudolf Pietsch. 46 Vgl. Haid, Gerlinde. Alois Blamberger zum Gedenken. In: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 38 (1989), S. 210 f., S. 210.

120   |  B ERNHARD   F UCHS   »Vielleicht lernen wir […] noch, was ein echter Musikant ist: Der sich aus einem inneren musikalischen Drang heraus seine erste Geige aus einem Zigarrenkistl selbst baut, um spielen zu können. So einer nämlich braucht keinen Lehrer, der ihm sagt, wo die richtigen Töne sind, denn die spürt er.«47

1974 hielt Blamberger einen autobiografischen Vortrag im Rahmen einer Tagung auf Schloss Puchberg bei Wels, der 1982 in einer Festschrift zu seinem 70. Geburtstag in der wissenschaftlichen Reihe »Schriften zur Volksmusik« mit einer Skizze des Instruments publiziert wurde.48 Eine CD mit Ausschnitten aus diesem Referat erschien 1999.49 Im Jahr 2004 wurde der Mythos von der selbstgebauten Kindergeige in der Volksmusikzeitschrift »Vierzeiler« wiederholt.50 Die Geschichte ist auch aktuell auf der Webseite des Österreichischen Volksliedwerks nachzulesen.51 1989 schrieb die Ethnomusikologin Gerlinde Haid in einem Nachruf auf Alois Blamberger: »Als er 12 war, baute er sich selbst aus einer Zigarrenschachtel eine Geige, um diesen Musikanten nachzueifern. Als er viel später begann, Geigen zu sammeln und zu reparieren und eine wahre Leidenschaft für dieses Instrument entwickelte, hob er dieses sein erstes Werkstück immer noch auf und hielt es in Ehren.«52

47 Neuwirth, Roland: Ein Musikant aus Wien über Lois Blamberger. In: Deutsch, Walter/Haid, Gerlinde/Blöchl, Arnold (Hg.): Beiträge zur Volksmusik in Oberösterreich (= Schriften zur Volksmusik, Band 6). Wien 1982, S. 38. Neuwirths Ensemble trägt den Namen »Extremschrammeln«. 48 Blamberger, Lois: Mein Leben als Musikant. In: Deutsch, Walter/Haid, Gerlinde/Blöchl, Arnold (Hg.): Beiträge zur Volksmusik in Oberösterreich (= Schriften zur Volksmusik 6). Wien 1982, S. 19–34. 49 Austro Mechana: Lois Blamberger vulgo Blå Lois. Unsterbliche Musikanten (CD). Bschoad 46–311. Wien 1999. 50 Pietsch, Rudolf: Handwerk mit goldenem Bogen. In: Der Vierzeiler. Zeitschrift für Musik, Kultur und Volksleben (2004), H. 1, S. 5–9. 51 Binder, Karoline/Frana, Zea: Alois Blamberger (1912–1989). Österreichisches Volksliedwerk, http://www.volksliedwerk.at/default.asp?id=10&id2=161&id3=172 52 Haid: Alois Blamberger 1989, S. 210.

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Christoph Löcherbach und Alois Blamberger beim Bau einer Bassgeige, Großrußbach 1986; unten: Blamberger mit dem fertigen »Bassettl«

Fotos: Mit freundlicher Genehmigung von Rudolf Pietsch.

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Mein Zugang zu dieser (nach einer Zigarrenmarke benannten) Amarillo-Geige ist ein Beispiel für die Verflechtung wissenschaftlicher Forschung mit persönlicher Erfahrung. Zufällige Zusammenhänge des außerwissenschaftlichen Alltagslebens können relevantes Wissen liefern, wenngleich dies mit Schwierigkeiten in der Darstellung verbunden sein mag. Zu Alois Blamberger hatte ich zwar kein Naheverhältnis, der Altersunterschied war zu groß, ein wenig hinderlich war sogar meine große Bewunderung. Der Zufall wollte es aber, dass ich seit einiger Zeit gemeinsam mit Ludwig Blamberger, dem Sohn des von der Volksmusikforschung gefeierten Geigers Blån Lois, musiziere. Wir spielen beide die nepalesische Sarangi. Genaugenommen hatte uns der Musikethnologe und Geiger Rudolf Pietsch zusammengebracht, dessen verstorbene Frau Franziska meine Geigenlehrerin war. Blån Lois war ein volksmusikalischer Lehrmeister für Pietsch gewesen, »der – als klassisch ausgebildeter Geiger – seinen Stil studierte, übernahm und weitergab«.53 Ich kannte die Geschichte von der selbstgebauten Zigarrenkisten-Geige und wollte sie im Kontext von DIY thematisieren. Die Popularität dieses Mythos war mir geläufig: Ein Musikantenfreund zitierte regelmäßig aus dem legendären Vortrag Blambergers. Genauso hätte wohl auch ich nur die bekannte Geschichte wiedergegeben. Als ich Ludwig Blamberger darauf ansprach, erzählte er über seinen Vater und dieses Instrument: »Das war ja eigentlich ein Faschingsscherz. Es wurden zwei Geigen für einen Auftritt bei einem Faschingsfest gebaut. Für den Vortrag 1974 holte er eines dieser Instrumente wieder vom Dachboden. Es müsste noch irgendwo eine zweite geben. Er hat die Geige damals umgebaut, ursprünglich hatte sie Gitarrenwirbel, dann machte er sie mehr geigenähnlich. Er überlegte sich eine Geschichte, wie er das Instrument in seinen Vortrag einbinden könnte. Er war ein Perfektionist und probte für diesen Vortrag mit dem Kassettenrekorder.«

Blamberger junior fasste die Begeisterung der Volksmusikforschung für die Legende vom im Alter von zwölf Jahren selbstgebauten Kinderinstrument zusammen: »Auf de G’schicht san’s total åbg’foan.« Alois Blambergers autobiografische Erzählung berichtet davon, dass sein Vater den braveren Bruder Franz bevorzugt habe, weil er sich außerstande sah, allen Kindern einen Geigenunterricht zu finanzieren. Sein leidenschaftlicher Wunsch, zu musizieren, ließ Alois aber das Instrument des Bruders ausprobieren. Der Lektion des Lehrmeisters folgend, klemmte auch er einen Teller unter die Achsel, um

53 Ebd.

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einen besseren Strich zu bekommen. Der Teller zerbrach sogleich; bei einem weiteren Versuch riss eine Saite, sodass der Vater ein ausdrückliches Geigenverbot erteilte. »Ålso: i de(r)f die Geign neama in d’Händt nehma, weil då gengand die gånzen Soatn drauf. Nå hiaztn, meiliawa, hån is aber nit aufgebn. Hån i ma denkt: wås tuast? Lois! Måchst dar a Geign! Hån i ma denkt: Und wånns gråd a Brettl is, gråd dar i a wenig Griff le(r)na kånn, nit? D’Melodie hån i scho(n) a so ghåbt, und åft hå (n) i ma tåtsächlig a Geign gmåcht. Då bi(n) i eppan zwö(l)f Jåhr ålt gwen, und die Geign, die zoag i enk, die lebt nu! Netta nit gånz original is neama, in Krågn hå(n) i ma amål scho(n) verbessert, den hån i gråd aufignåglt ghåbt, und dås is die Geign. Siagst, ausra Zigarrenschåchtl – drei Soatn hån i gråd obn ghåbt, jå, dås [der Saitenhalter, Anm. BF] is vo(n) an hirschboanern Knopf gewn, a Dråht, als zsammgnagü(l)t!«54

Alois Blamberger pries den Vorteil, dass er durch die kürzere Mensur gerissene Saiten wiederverwerten konnte. Die Geige ist für Erwachsene schlecht spielbar. Wahrscheinlich baute Blamberger die Amarillo-Geige als Tischlerlehrling, also wohl erst nach 1927 und nicht schon 1924. Im Grunde weicht die Erzählung, was die zeitliche Einordnung betrifft, gar nicht allzu sehr von der Einschätzung seines Sohns ab. Die vorgenommenen Verbesserungen räumte Alois Blamberger selbst ein. Sie sind deutlich zu erkennen, wenn man das Objekt in Augenschein nimmt. Dass das Instrument ursprünglich einfach genagelt worden war, spricht wiederum gegen die Arbeit eines fortgeschrittenen Tischlerlehrlings, es sei denn, dieser Primitivismus hätte zum Faschingsscherz gehört. In diesem Punkt unterscheiden sich diese beiden Geschichten doch wesentlich: Handelte es sich lediglich um einen Scherz oder um das beeindruckende Zeichen einer Berufung? Die bekannte offizielle Version favorisiert letzteres. Der mächtige Mythos provozierte allerdings auch subversive Gegenmythen: So wurde sogar kolportiert, Blamberger hätte das Instrument erst im Alter von 62 Jahren eigens für seinen Vortrag angefertigt.55 Je nachdem, welcher Auffassung man sich anschließt, ändert sich der Charakter des Gegenstandes grundlegend. Jedenfalls deuten die Spuren auf dem Instrument zweifellos auf ihr höheres Alter: Der Dame auf dem aufgeklebten Papierbild wurden die roten Lippen ausgekratzt und in Blockschrift wurde mehrfach der Name »Ludwig« auf die Decke und den Boden geschrieben (daneben noch andere Kritzeleien). Ludwig Blamberger (Jg. 1943) erinnert sich, als Kind mit diesem

54 Blamberger: Leben 1982, S. 21. 55 Darüber berichteten mir Ludwig Blamberger und auch Rudolf Pietsch.

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Instrument gespielt, allerdings keinen Bogen dazu besessen zu haben. Geigen hätte es im Haus genug gegeben, da sei er nicht auf dieses Instrument angewiesen gewesen. Sein Vater sammelte und reparierte Geigen; seit seiner Tischlerlehre besaß er das nötige Werkzeug. Ludwig Blamberger spielt auf der Amarillo-Geige. Eine Aufnahme aus dem Feld, dem Wohnzimmer des Verfassers, Wien 2015

Foto: Bernhard Fuchs

Das Instrument, in dem sich angeblich die kindliche Sehnsucht des Geigers Blån Lois artikulierte und das für die selbstgebaute Geige gehalten wird, auf der er als Kind autodidaktisch lernte, war ein Kinderspielzeug für dessen Sohn Ludwig. Im Kontrast zu dieser Entzauberung wurde mir deutlich, wie enorm mein Respekt vor dem großen Blån Lois und meine Begeisterung für die symbolische Bedeutung dieses Gegenstands waren, als ich das Ding erstmals in Händen hielt. Während ich mit großer Lust darauf zu spielen begann, empfand ich Ehrfurcht und ein wenig Schuld: Sollte man dieses historische Objekt nicht besser mit Samthandschuhen anfassen? Gleichzeitig beeindruckten mich die überdeutlichen kindlichen Gebrauchsspuren, die mir zumindest für eine grobe Datierung einen Anhaltspunkt geben. Aufgrund dieser Spuren lässt sich der in radikalen Gegenmythen erhobene

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Vorwurf einer vollkommenen Fälschung ausräumen. Aus der Verbindung materieller Zeichen und mündlicher Informationen durch Ludwig Blamberger ergab sich eine neue Perspektive. So wuchs mein Interesse an der Objektbiografie der Amarillo-Geige. Aufgrund der Spuren auf dem von der Volksmusikforschung gefeierten Objekt gerät der Sohn ins Blickfeld. Interessanterweise wurde diesen auffälligen Zeichen bislang keine Aufmerksamkeit geschenkt und somit das weitere Geschick des Instruments nach der Herstellung ignoriert. Im Zentrum stand einzig der Mythos von der selbstgebauten Kindergeige als dem Zeugnis außergewöhnlicher Musikalität, wonach der Eigenbau einem existenziellen Bedürfnis entspringen würde. Dagegen berichtet der Sohn von einem Faschingsfest als gänzlich anderem – scherzhaft, rituellen – Entstehungskontext. Seinem Bericht gemäß handelt es sich auch um kein Unikat. Das Aufspüren historischer Fakten, die Rekonstruktion einer Objektbiografie und die kulturwissenschaftliche Analyse konkurrierender Narrative sind gleichermaßen wichtig für das Verständnis des Gegenstands. Hier wird deutlich, dass die mit einem Eigenbau-Musikinstrument verknüpfte Identitätsproduktion keineswegs auf dessen ursprüngliche Herstellung und die daran unmittelbar beteiligten Personen beschränkt bleibt. Auch nach Jahrzehnten können neue Interpretationen hinzutreten und die Qualität des Objekts entscheidend prägen. Der Gegenstand wird in unterschiedliche Kommunikationszusammenhänge eingebettet. In Bezug auf das Alter von zwölf Jahren deutet das »eppan« in Alois Blambergers Erzählung ja eigentlich schon an, dass es sich um eine ungenaue Angabe handelt. Er machte sich also bloß ein wenig jünger; tatsächlich war er als Tischlerlehrling vielleicht 16 oder 17 Jahre alt, als er die Amarillo-Geige baute. Was seine Geschichte – unabhängig von Fragen nach der Datierung – jedenfalls zum Ausdruck bringt, ist das unstillbare Verlangen zu musizieren und die Lust darüber zu erzählen. Das Eigenbau-Musikinstrument wird zu einem materiellen Symbol der Narration einer leidenschaftlichen Hingabe an die Musik. Die Identität eines Musikanten ist ein Image, das es auch zu konstruieren und zu inszenieren gilt. Ein wenig Übertreibung, öffentlicher Performanz geschuldet, ist durchaus nachvollziehbar. Dass Alois Blamberger seine erste Geige im Alter von zwölf Jahren selbst baute, um damit das Violinspiel zu erlernen, bestreitet also sein Sohn, der überzeugt ist, dass andere Personen ebenso über diese »Fälschung« informiert waren. Es ist also durchaus wahrscheinlich, dass der Erzähler bei irgendeiner Gelegenheit selbst eingeräumt hatte, dass er mit seiner Geschichte frei umgegangen war. Beim Beschreiben dieses Falls entsteht das Bedürfnis, weiter zu forschen über »die Wahrheit der Amarillo-Geige«. Aber warum insistiere ich überhaupt so auf

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diese Details? Womöglich engagierte ich mich zu sehr für eine kleine Richtigstellung.56 Im Grunde war ich selbst überrascht, als ich hörte, dass es sich bei der Eigenbau-Geige nicht um das erste Instrument von Blån Lois handelt, und ebenso sehr verblüffte mich später die Beunruhigung seines Sohnes über seine Zerstörung des Mythos; ein ›Ikonoklasmus‹, an dem ich als Kulturwissenschaftler beteiligt bin, obwohl ich noch vor kurzem selbst ein Fan der Amarillo-Story war. Ich befand mich vorübergehend sogar in der irrigen Auffassung, ich hätte dieses Instrument bereits vor Jahren im Stadtmuseum von Bad Ischl gesehen – ein klarer Hinweis auf meine hohe Wertschätzung.57 Dass Alois Blamberger die Amarillo-Geige für seinen Vortrag vom Dachboden holte, charakterisiert eine entscheidende Wendung in der Geschichte dieses Objekts. Es folgten der Umbau und die narrative Inszenierung. Niemand würde einem Dr. Kurt Ostbahn, einer Conchita Wurst oder einem Ziggy Stardust mangelnde Authentizität vorwerfen oder die Performanz mit der realen Person der Künstler verwechseln. Auch ein ›Volksmusikant‹ weist Züge einer Kunstfigur auf. Das war Musikwissenschaftler_innen, die sich für Blån Lois interessierten und ihn als Performer und Entertainer bewunderten, durchaus bewusst. Die Fiktionalität kultureller Erscheinungen sollte deren Bedeutung keineswegs schmälern.58 Bemerkenswert ist jedenfalls, dass in diesem Fall die Volksmusikforschung in hohem Maß den Individualkünstler betont (obzwar dieser gleichzeitig das Salzkammergut repräsentiert). Umgekehrt ließe sich aber vielleicht auch die Einmaligkeit dieser Erscheinung etwas relativieren. Zumindest in

56 Konsequenterweise sollten umgekehrt auch Aussagen von Ludwig Blamberger kritisch geprüft werden. 57 Dieser Irrtum folgte daraus, dass dort tatsächlich eine Geige aus der Sammlung-Blamberger gezeigt wird, allerdings kein Eigenbau-Instrument. Der Aufbewahrungsort signalisiert die Stellung eines Objektes in der Symbolhierarchie; die Präsentation im Museum gilt in unserer Gesellschaft als höchste Auszeichnung; vgl. Aka, Christine: Wegwerfen tabu? Zeichen katholischer Sinnwelten im Säkularisierungsprozeß. In: Rolf Wilhelm Brednich/Heinz Schmitt (Hg.), Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. 30. Deutscher Volkskundekongreß in Karlsruhe 1995. Münster u. a., S. 427–434, S. 433. 58 Zur Kritik an der »Gemachtheit« siehe Latour, der darauf Wert legt, zu beachten, um welches Genre es sich handelt, und entsprechend die Qualität des Gemachten zu beurteilen. Er prägte den Begriff »faitiches«, um die Verflechtung von Fakten und Fetischen auszudrücken; vgl. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt a. M. 2002 (5. Aufl., Orig. 1999), S. 330–339.

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anderen Regionen bestand eine gewaltige Formenvielfalt an (teils sogar selbstgebauten) Kindergeigen, wobei beispielsweise aus der Slowakei ähnliche Instrumente (in einem Fall sogar ebenfalls mit einem Saitenhalter aus Hirschhorn dokumentiert sind).59 Die Amarillo-Geige sollte jedoch nicht nur als Kinderinstrument, sondern vielmehr auch im Kontext der Fastnacht betrachtet werden. Weil es sich um einen starken Mythos handelt (dem ich viele Jahre selbst anhing), müssen mich die Umstände von dessen Konstruktion interessieren – keineswegs, um damit die Bedeutung dieses Musikanten zu schmälern und auch nicht um Kritik zu üben an Ethnomusikolog_innen, die zur Verbreitung dieser Legende beigetragen haben. Es wäre ein Irrtum, ihnen Naivität vorwerfen. Sie ertrugen die Spannung zwischen einer schönen Geschichte und dem Bewusstsein, dass diese nicht völlig der Wahrheit entsprach (ganz erlogen war sie ja ohnehin nicht). Dieses Dilemma erscheint mir erklärbar aufgrund der Tatsache, dass Wissenschaftler_innen zwar der Wahrheit verpflichtet aber als Feldforscher ebenso ihren ›Gewährsleuten‹ eng verbunden sind. Feldforschung in meinem Verständnis bedeutet die Vermittlung und Übersetzung zwischen unterschiedlichen Existenzweisen und Präsentationsstilen. Der Auftritt eines Musikanten und Laienschauspielers folgt einer anderen Logik als eine wissenschaftliche Präsentation (obschon sich fallweise die Genres sogar annähern). Die künstlerisch vermittelte Wahrheit besitzt jedenfalls eine andere Qualität als die Realität strenger Wissenschaft. Werden jedoch beide vermengt, so handelt es sich um einen problematischen Kategorienfehler.60 Manchmal läuft die Wissenschaft Gefahr, gefällige ›Lügengeschichten‹ wortwörtlich zu nehmen. Diese Geschichten wären an sich nicht einmal moralisch verwerflich, werden aber durch wissenschaftliche Weihe in fragwürdiger Weise autorisiert.

59 Elschek, Oskar: Die Volksmusikinstrumente der Tschechoslowakei, Teil 2: Die slowakischen Volksmusikinstrumente (= Handbuch der Europäischen Volksmusikinstrumente I, 2). Leipzig 1983, S. 83, S. 85, S. 91, S. 99 f. Dörfliche Laien-Instrumentenbauer »lernten die Geigenherstellung bereits als Kinder kennen, wenn sie sich ihre Kinderinstr [sic!] anfertigten oder wenn sie dem Vater oder einem Verwandten bei der Geigenherstellung zusahen.« Ebda., S. 108. Beispiele für Instrumente aus Zigarrenkisten Quoos, H. Jürgen: Vorbemerkung. In: Quoos/Ausländer: Bau. Wien 1980, S. 4–5, S. 4; auch Yonas Heyn (E-Gitarre), Klang-Holz e. V. Unter: YouTube, https://www.youtube. com/watch?v=AO_WLEY1RTY 60 Zur Genre-Abhängigkeit von »Wahrheit« vgl. Ellis, Carolyn/Adams, Tony E./Bochner, Arthur P.: Autoethnography: An overview. In: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 36 (2011), H. 4, S. 273–290, S. 282.

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Konrad Köstlin setzte sich schon 1980 kritisch mit der Verquickung von populären Fiktionen und Wissenschaft auseinander, wobei er betonte: »Auch gegenständliche Traditionen […] können solche Lügengeschichten sein«.61 Während er in diesem frühen Text den überragenden Einfluss wissenschaftlicher Deutungseliten auf die Folklorisierung von Biografien hervorhob, unterstrich er jüngst in der mündlichen Diskussion über die Amarillo-Geige stärker Autonomie und Klugheit der Gewährspersonen und stellte fest, Leute wie Blån Lois wüssten ganz genau, was die Volkskundler gerne hören wollten. In ihrem Nachruf auf Alois Blamberger beschreibt Gerlinde Haid ihre Beziehung zu dem Gewährsmann: Anfangs habe er ihre Fragen nicht verstanden und vieles erst auf genaues Nachfragen hin erzählt. »Aber mehr und mehr verstand er, was ich wissen wollte, und begann oft schon von selbst zu erzählen. […] Weil er ein richtiges Erzähltalent war, ließ ich ihn gewähren, vergaß nach und nach meinen Fragebogen und vertraute mich ganz der Führung seiner blutvollen, farbigen, plastischen Darstellungsweise an.«62

1988 schrieb Gerlinde Haid über »neue Bräuche der Musikantenszene in Österreich« und konzentriert sich dabei auf eine spezifische »Clique«, den Freundeskreis rund um die »Steirischen Tanzgeiger« (das Ensemble von Rudi Pietsch), und sie betont auch hier die Leitfigur Blån Lois. Sie beschreibt Accessoires (wie Aufkleber und selbstgestrickte Pullover mit Musiksymbolen) als emblematische Zeichen. Eigenbau-Instrumente ließen sich hier ergänzen.63 Dieses Netzwerk war gleichzeitig Gerlinde Haids persönlicher Freundeskreis, dem ich als junger »Musikanten-Lehrling« ebenso angehörte. Meine persönliche Verstrickung ist von methodologischem Interesse: Einbindung in soziale Netzwerke bietet Zugang zu Insiderinformationen und ist ein Schlüssel zum Verständnis, birgt aber Risiken und wirft ethische Fragen auf, wenn der vertraute Gesprächspartner sich wieder in die Position des distanziert interpretierenden Wissenschaftlers begibt. Wer will Dinge, die einem lieb sind, einer kritischen Demontage preisgeben? Wissenschaftliche Kritik – getragen von Respekt und Verständnis – sollte aber möglich sein.

61 Konrad Köstlin: Folklore in der Biographie: Lügengeschichten? In: Zeitschrift für Volkskunde 76 (1980), S. 58–73, S. 69. 62 Haid: Alois Blamberger 1989, S. 211. 63 In anderen Szenen wird musikalische Identität beispielsweise auch durch Tätowierungen zur Schau gestellt. Zur Wiener Musikantenszene vgl. Schönegger, Angelika: Musikantenstammtische in Wien am Beispiel des Musikantenstammtisches in der Josef Mnozil’s Gastwirtschaft. Diplomarb. Wien 2009.

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»Der Kritiker ist nicht der, der dem naiven Gläubigen den Boden unter den Füssen wegzieht, sondern der, der den Teilnehmern Arenen bietet, wo sie sich versammeln können […,] derjenige, für den, was konstruiert wird, zerbrechlich ist und der Pflege und der Vorsicht bedarf.«64

Erst in der De-Konstruktion des Mythos erkannte ich, wie sehr dieser auch mein Denken bestimmte, und welchen Widerstand die kritische Analyse hervorruft.65 Eingeweihte zögern trotz besseren Wissens, an der offiziellen Wahrheit zu rütteln, weil die Berichtigung vielleicht als skandalös empfunden werden könnte. Die Kraft dieses Mythos resultiert auch aus seiner wissenschaftlichen Legitimation. Den Rücklauf, die Rezeption und Reproduktion popularisierter Kulturwissenschaft, gilt es zu thematisieren, aber vor allem auch die Koproduktion populärer Mythen durch wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Akteur_innen. Die Verbindung zwischen Forschung und Feld erweist sich immer wieder als eine riskante Nahtstelle, an der sorgfältige Übersetzungsarbeit geleistet werden muss. Die Wissenschaft ist (in unterschiedlichem Ausmaß) ein Bestandteil der erforschten Assemblagen. Das Verständnis von Eigenbau-Musikinstrumenten als Mythenbasteleien erfordert die reflexive Analyse semiotischer und gleichzeitig materieller und praktischer Netzwerke.

64 Vgl. Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Berlin 2007 (Orig. 2004), S. 55. 65 Der Transfer korrigierender Informationen aus dem privaten Kontext in den einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit löste Verunsicherung aus. Schließlich zeigte sich jedoch auch Ludwig Blamberger erleichtert über diese Klarstellung. Die intergenerationale Betroffenheit in diesem Fall gibt Anlass zu umfassenderen Überlegungen, welch weitreichenden Einfluss Forschung auf das Feld und die Angehörigen von Kontaktpersonen ausübt.

Das  Ausbleiben  einer  Revolution   Anmerkungen  zum  Verhältnis  von  Maker  Movement     und  Do-­it-­yourself-­Praktiken  anhand  des  3D-­Druckers   C HRISTIAN S CHÖNHOLZ

    A BSTRACT :   T HE   A BSENCE  OF  A   R EVOLUTION .   O BSERVATIONS  ON  THE   R ELATIONSHIP  OF  THE   M AKER   M OVEMENT  AND   D O  IT   Y OURSELF   P RACTICES   U SING     THE   3D   P RINTER   From different aspects 3D printing characterizes the potential to revolutionize the field of do it yourself practices and raise it to the next level. The essay is concerned with this phenomenon, asking for the consequences of technical promises of salvation, with which 3D printing is often associated with. The argument is developed in five stages: It starts with a general description of 3D printing as an item between art and business application. What follows is a specification of the maker movement, that is closely linked with the media hype about 3D printing. For this purpose it is helpful to take a look at the self-images and concepts of makers, which famous protagonists like Dale Dougherty or Chris Anderson offer to the movement. The established narrative of ›Not yet, but soon‹ makes 3D printing further explicable as a utopia of production and distribution, which feeds on his own excitement. This leads to the short example of the hi-fi DIY community and their estimate of the phenomenon. The author finally suggests six reasons for the absence of the DIY revolution via 3D printing.

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Löten, Schrauben, Dübeln, Schweißen, Stricken, Nähen, Kleben, Furnieren, Hobeln, Polieren, Schneiden, Lackieren, Besprühen, Fräsen, Sägen, Laminieren, Weben, Re- und Upcycling, Bohren, Verputzen, Reparieren, Züchten, Ernten ... All das kann man mit einem 3D-Drucker nicht. Einen 3D-Drucker dazu zu bringen, ein Objekt zu erzeugen, ist auch keine der aufgezählten, dezidiert handwerklichen Fähigkeiten, wie sie in den äußerst heterogenen DIY-Communities praktiziert werden; vielmehr handelt es sich um eine technische User-Kompetenz.1 Dennoch lässt sich ein Phänomen feststellen, dergestalt, dass dem 3D-Druck das Potenzial zugeschrieben wird, den DIY-Sektor maßgeblich zu revolutionieren und auf eine neue Stufe zu heben.2 Der Beitrag spürt diesem Phänomen nach und fragt dabei nach den spezifischen kulturellen Implikationen, Bedeutungen und Sinnzuschreibungen durch die daran beteiligten AkteurInnen. Nach einigen grundlegenden Aspekten zur Entstehung und Verortung des 3D-Drucks zwischen Technologie und Kunst wird dafür das eng damit verknüpfte Maker Movement über Selbstpositionierungen von DIY-Communities ein Stück weit zu differenzieren sein; dies ist umso wichtiger, nachdem die Begriffe Maker Movement und DIY häufig synonym gesetzt werden. Des Weiteren lässt sich ein stetig wiederkehrendes, leitendes Narrativ bestimmen, das sich im Zusammenhang mit 3D-Druck etabliert hat. Abschließend werden die so herausgestellten Idealvorstellungen an einer exemplarischen Untersuchung im Bereich des DIY-HiFi relativiert.

3D-­D RUCK  IM   S PANNUNGSFELD  VON   K UNST     UND   T ECHNOLOGIE   3D-Drucker sind ein technisches Faszinosum unserer Zeit. In den letzten Jahren überschlagen sich die Meldungen, was nun auch im 3D-Druckverfahren realisierbar ist. Waren es zu Beginn der Euphorie um dieses Gerät noch recht simple und kleinteilige Kunststoffobjekte, denen die mediale Aufmerksamkeit galt, so müssen heute zumindest ein komplettes Haus, ein Auto, eine Schusswaffe, sogar or-

1

Ich verwende im weiteren Verlauf die gängige Abkürzung DIY für Do-it-yourself-Verfahren.

2

Beispielhaft hierfür: »Perspektivisch werden 3D-Drucker die dezentrale Produktion von Dingen außerhalb der großen Industriestrukturen ermöglichen.« Baier, Andrea/ Müller, Christa/Werner, Karin: Stadt der Commonisten. Neue urbane Räume des Do it yourself. Bielefeld 2013, S. 86 (Lemma »3D-Druck«).

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ganische Substanzen oder Nahrungsmittel aufgeboten werden, um eine entsprechende Meldung zu rechtfertigen.3 Schaut man zurück auf die Entstehung von 3DDruck-Verfahren fällt jedoch auf, dass diese Fertigungstechnik um einiges älter ist als gemeinhin suggeriert wird. Das erste Patent meldete bereits 1986 der USamerikanische Erfinder und Unternehmer Chuck Hall an, wobei das Prinzip der Stereolithografie bis heute die Grundlage der allermeisten 3D-Drucker bildet.4 Diese arbeiten mit aushärtenden Kunststoffen, Kunstharzen, Metallen oder Keramik oder auch mit mehreren Werkstoffen gleichzeitig, wobei außerhalb professioneller und industrieller Anwendungen nur Kunststoffe als Ausgangsmaterial dienen – alles andere ist zu teuer und zu aufwendig.5 Somit sind 3D-Drucker schon längst massenhaft im Einsatz, allerdings nicht als Haushaltsgeräte, sondern als Industriewerkzeuge. Es ist so auch in erster Linie die Fantasie, die durch 3D-DruckVerfahren angeregt wird: Zentrale Aspekte von Science-Fiction rücken ein Stück näher in die Realität, wenn dreidimensionale Objekte ›auf Knopfdruck‹, wie es häufig heißt, entstehen und prinzipiell unendlich wiederholbar sind. Walter Benjamin konnte eine solche digitale Reproduzierbarkeit kaum im Sinn gehabt haben, doch in seinem Kunstwerk-Aufsatz heißt es auch für heutige Technologien zutreffend: »Um neunzehnhundert hatte die technische Reproduktion einen Standard erreicht, auf dem sie nicht nur die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke zu ihrem Objekt zu machen

3

Vgl. hierzu exemplarisch die Beiträge und Meldungen von Bergt, Svenja: Konsumgut 3D-Drucker – Vom Copyshop zur Minifabrik (2014), www.taz.de/!5046855/; Vonmont, Anita: Delikatessen aus dem 3D-Drucker schon bald in aller Munde? 2015, www.srf.ch/wissen/technik/delikatessen-aus-dem-3d-drucker-schon-bald-in-allermunde; Lengemann, Maria: 3D-Drucker: BKA warnt vor gedruckten Schusswaffen (2013), www.pcgames.de/3D-Thema-234522/GNews/3-D-Drucker-BKA-warnt-vorgedruckten-Schusswaffen-1071733/ (für alle im Beitrag angeführten Online-Ressourcen gilt: letzter Zugriff am 25.10.2016).

4

Knabel, Jakob: Charles »Chuck« Hall – 3D-Druck – Wie alles begann ... (2014), https://3druck.com/featured/charles-chuck-hull-wie-alles-begann-3621576/

5

In der Industrie kommen 3D-Druck-Verfahren schon seit vielen Jahren zur Anwendung, insbesondere für die Herstellung von Prototypen und Designstudien. Wenigstens kurz anzuführen ist die Peripherie der 3D-Drucker, wozu neben der benötigten CADSoftware auch 3D-Scanner gehören, die es erlauben, durch das sensorische Abtasten vorhandener Objekte eine entsprechende Vorlage zu erzeugen.

134   |  C HRISTIAN   S CHÖNHOLZ   und deren Wirkung den tiefsten Veränderungen zu unterwerfen begann, sondern sich einen 6

eigenen Platz unter den künstlerischen Verfahrungsweisen eroberte.«

Um technische Reproduktion handelt es sich auch beim 3D-Druck, allerdings mit einer exakten Entsprechung wie sie nur auf Basis von digitalen Vorlagen möglich ist. Wie bei Benjamin ist es ein dezidiert künstlerischer Kontext, der auch den 3DDruck dominiert und ihn so anschlussfähig für Produktions- und Verteilungsutopien macht. Die überwiegende Mehrheit der heutigen 3D-Druck-Anwendungen hat daher auch mit alltäglicher und privater Techniknutzung äußerst wenig zu tun, sondern findet sich auf dem Feld der Kunst- und Designstudien: NutzerInnen spielen mit technischen Möglichkeiten, die für die Alltagsbewältigung und Alltagsgestaltung weitestgehend irrelevant sind und erfreuen sich an der eigenen Faszination darüber, dass derartiges mit einem 3D-Drucker machbar ist. Aus diesem Bereich der künstlerischen Nutzung und der Manipulation von Verfahrensweisen stammt auch das bereits 2012 realisierte Projekt »3D printed record« der USamerikanischen Künstlerin und Mitarbeiterin am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Amanda Ghassaei; die Intention dahinter fasst sie wie folgt zusammen: »In order to explore the current limits of 3D printing, I’ve created a technique for converting digital audio files into 3D-printable, 33rpm records that play on ordinary turntables. Though the audio quality is low, the audio output is still easily recognizable.«7 Unabhängig vom hörbaren Resultat ist der Ansatz, ausgerechnet eine Schallplatte – den Inbegriff einer analogen Renaissance in der populären Musikkultur – im 3D-Druck-Verfahren herzustellen, als erhellend und äußerst kreativ anzusehen, um die derzeit noch bestehenden Grenzen der Machbarkeit dieser Reproduktionstechnologie auszuloten. Gerade durch den anachronistisch anmutenden Versuch, ein längst für tot erklärtes Medium durch modernste 3D-Replikation wieder zum Leben zu erwecken, werden Überhöhungen dieser Technologie und der musikalischen Vorzüge eines analogen Originals sicht- und hörbar. Damit ist eine zentrale Funktion von Kunst an der Schnittstelle von als innovativ verstandener Technik und Gesellschaft erfüllt: Das zu machen, was man machen kann, darüber ein Stück hinaus zu gehen, zu manipulieren und über das Ergebnis Irritation zu erzeugen.

6

Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (dritte, autorisierte letzte Fassung 1939). In: Ders.: Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a. M. 1996, S. 7–45, S. 11.

7

Ghassaei, Amanda: 3D printed record (2012), www.amandaghassaei.com/projects/ 3D_printed_record/

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C HARAKTERISTIKA  UND   H INTERGRÜNDE     DES   M AKER   M OVEMENT     Hall sieht neben der künstlerischen Nutzung noch mindestens zwei andere wichtige Bewegungen, die dieser Technologie gegenwärtig zu so viel Aufmerksamkeit verhelfen: »Well, it’s really blossomed just in the last few years – in the sense of really rapid growth and recognition. There's a lots of things that contributed to that, I think: a lot of the medical applications catch peoples’ imagination; certainly the maker movement, with low-cost machines getting hobbyists interested in inventing and building using 3D printing.«

8

Besonders diese beiden hier angesprochenen Felder sind anschlussfähig an bestehende Diskussionen und Kompetenzen kulturwissenschaftlicher Forschung: Zum einen wirft die Möglichkeit, Proteine und Zellstrukturen im sogenannten Bioprinting zu organischen Ersatzteilen und demnächst vielleicht kompletten Organen verarbeiten zu können, zentrale anthropologische Fragen auf, die auch für die Science and Technology Studies ein fruchtbares Feld bieten. Zum anderen spricht Hall hier das Maker Movement an, das maßgeblich zur Popularisierung von 3DDruckern beigetragen hat. Das Maker Movement grenzt sich, abgesehen von der sprachlichen Unterscheidung von make und do, der nicht allzu große Bedeutung beizumessen ist, vom klassischen DIY nicht immer dezidiert ab. Dafür wird jedoch sehr deutlich der Einsatz und die kreative Nutzung von digitalen Technologien, allen voran in Form des 3D-Drucks, als Merkmal der Bewegung bestimmt, womit DIY zum einen als eine Art kultureller und historischer Vorläufer beschrieben, zum anderen (etwas verkürzt) das Maker Movement als ein digitales DIY umschrieben wird.9 Weiterhin fällt der Anspruch der Maker auf, von Beginn an eine soziale Bewegung darzustellen. Wie jede soziale Bewegung haben auch die Maker prominente Protagonisten.

8

Ponsford, Matthew/Glass, Nick: The night I invented 3D-printing (2014), edition.cnn. com/2014/02/13/tech/innovation/the-night-i-invented-3d-printing-chuck-hall/

9

Mittlerweile hat sich auch der Terminus Digitales DIY als Bezeichnung eines spezielleren und eigenständigen Feldes etabliert: »Digital Do-It-Yourself (DiDIY) is a new socio-technological phenomenon which stems from the widespread availability of digital devices that support the convergence of physical (›atoms‹) and informational (›bits‹) components (ABC), as well as the growing accessibility of related knowledge and data through open online communities.« https://wikip2pfoundation.net/DigitalDo-It-Yourself/

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Eine Art institutioneller Startschuss war die Gründung des Magazins »Make« 2005 durch Dale Dougherty, der ein Jahr später auch die erste »Maker Fair« in San Mateo, Kalifornien initiierte, eine Art Messe als Community-Meeting. Dougherty ist ebenfalls Mitbegründer der von Tim O’Reilly gegründeten O’Reilly Media, dem wohl einflussreichsten Verlagshaus in der IT-Branche. Auf die Verlagspolitik von O’Reilly Media geht der (zumindest zeitweise) immense Erfolg des Terminus Web2.0 zurück, wenngleich der Begriff selbst nicht aus dem unmittelbaren Kontext des Unternehmens stammt und heute zugunsten des Begriffs Social Media deutlich an Bedeutung verliert.10 Relevant sind diese Verbindungen aus mehreren Gründen: Es irritiert, dass zwei für unser heutiges Verständnis der Zusammenhänge von Kommunikationstechnologien und ihren alltäglichen Anwendungen so bedeutungsvolle Begrifflichkeiten und Kampagnen wie Web2.0 und Maker Movement von ein und demselben Verlagshaus gezielt platziert und propagiert wurden und werden. Es ist darauf hinzuweisen, dass das gleiche Verlagshaus mit der Verbreitung von entsprechender Fachliteratur und der Ausrichtung der Fachmessen einen Großteil seines Umsatzes bestreitet. Das wäre als geschickte Medienpolitik anzuerkennen, wären es nicht die Protagonisten von O’Reilly Media und dem »Make«-Magazin, die gleichzeitig auf eine große öffentliche Resonanz stoßen, wenn sie ihre Vorstellungen von Demokratisierung und Revolutionierung von Produktionsprozessen und Vermarktungsketten präsentieren. Sie selbst profitieren davon allerdings in einem recht traditionellen Verständnis von Ökonomie, nämlich durch den Verkauf von Bausätzen, Anleitungen, Büchern, Konzepten und durch Eintrittsgelder auf Messen. Folgt man den schriftlichen und verbalen Äußerungen von Dougherty zum Selbstverständnis des Maker Movement, so fällt auf, dass er sich in die Kontinuität und Tradition eines dezidiert US-amerikanischen Verständnisses von Wirtschaftlichkeit, Produktivität und Technologie stellt, die er vor allem im Großraum Detroit ab den 1960er Jahren verortet. Die Schlagworte in diesem Zusammenhang lauten Stahl, Automobilität und die Wertschätzung von Arbeit mit den Händen.11

10 Die erste Erwähnung von Web2.0 in einer Publikation geht auf Eric Knorr zurück, der den Begriff allerdings bei Scott Dietzen entlehnt: »An increase of outsourcing with web services is nothing less than the start of what Scott Dietzen, CTO of BEA Systems, calls the Web 2.0, where the Web becomes a universal, standards-based integration platform.« Eric Knorr: The Year of web services. In: CIO (= Chief Information Officer) v. 15.12.2003. 11 Dougherty, Dale: The Maker Movement. In: innovations 7 (2012), H. 3, S. 11–14, http://www.mitpressjournals.org/toc/itgg/7/3

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Hier erfährt die klassische Fabrik eine romantische Idealisierung als Ort von Kreativität, handwerklicher Präzision und Einfallsreichtum, der sie allerdings für die einzelnen FabrikarbeiterInnen im Detroit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur sehr bedingt gewesen sein dürfte. Gleichzeitig positioniert Dougherty sich und das Maker Movement in engem Konnex zu einer traditionellen Auffassung von Fließband-Produktivität und Wohlstand, über die sich positive und ein Stück weit auch patriotische Assoziationen abrufen lassen. – Das erscheint vor dem Hintergrund der Deindustrialisierung, die gerade Detroit in den letzten Jahrzehnten auf das Bitterste erfahren musste, nahezu zynisch. Weitere Vorläufer für das Maker Movement sieht er in der Bastler- und Tüftlerszene, die Tinkerer, die im US-amerikanischen Raum vor allem durch Magazine wie »Popular Mechanics« (seit 1902) oder »Popular Science« (seit 1872) auf eine lange Tradition zurückblicken können.12 Mit derartigen Selbstverortungen reagiert Dougherty auf eine latent vorhandene öffentliche Skepsis gegenüber Hacker- und Computer-Clubs, diese machen nämlich in der Maker-Szene einen beträchtlichen Anteil aus. Dem allumfassenden ›Machen‹ gibt er eine konkrete Wendung, wenn es um den Einsatz digitaler Technologien geht: »The maker movement has come about in part because of people’s need to engage passionately with objects in ways that make them more than just consumers. But other influences are in play as well, many of which closely align the maker movement with new technologies and digital tools. Makers at their core are enthusiasts, such as those engaged in the early days of the computer industry in Silicon Valley.«13

Hier ist zunächst eine Idealvorstellung angesprochen, die O’Reilly Media mit der Web2.0-These schon vor zehn Jahren erfolgreich verbreiten konnte: Menschen sollen im Umgang mit Dingen mehr sein als Konsumenten! Dieses ›Mehr‹ meint dann in aller Regel, sie sollen ProduzentInnen und GestalterInnen werden. Mit der Analogie zu den Pionieren des Silicon Valley wird das Selbstverständnis der ›Makers‹ als Speerspitze und Avantgarde eines neuen digitalen Maker-Zeitalters unterstrichen, wenngleich man sich von den im Silicon Valley entstandenen Konzernstrukturen und ihrem Monopolcharakter dezidiert abzugrenzen versucht – Google, Microsoft und Apple sind häufig erklärte Feindbilder kleinerer MakerStartups. So speist sich das Selbstverständnis mit dem Verweis auf Detroit zum

12 Ebd., S. 11; auf diese Tinkerer als Vorläufer verweisen auch Stangler, Dane/Maxwell, Kate: DIY producer society. In: innovations 7 (2012), H. 3, S. 3–10, S. 6. 13 Dougherty: The Maker Movement 2012, S. 12.

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einen aus einer erklärten Tradition zur US-amerikanischen Industriegeschichte, zum anderen aus der Verbindung zu den Anfängen des Computerzeitalters. Neben Dougherty, der als Organisator und Verleger der wichtigsten Institutionen der Maker-Bewegung agiert, spielt vor allem Chris Anderson die zentrale Rolle. Er verbindet die Positionen von Dougherty noch deutlicher als dieser mit Visionen von neuen Produktionszusammenhängen und Unternehmenskulturen.14 Diese liegen seiner Ansicht nach für ErfinderInnen und TüftlerInnen vor allem in der bezahlbaren Realisierung von Kleinserien durch 3D-Drucker, in der Finanzierung durch Crowdfunding und in den Möglichkeiten der Vermarktung auf Portalen wie Kickstarter und Etsy. Eindrücklich wird diese Vorstellung auf dem Cover der deutschen Version seines Buches visualisiert: Ein Computernutzer programmiert am Bildschirm die Vorlage für eine Brille, die sogleich in der angedeuteten Fabrik vom Band geht. Die Fabrik steht dabei für den 3D-Drucker, der sich aber nicht so griffig visualisieren lässt wie eine Ikone der Industrie-Moderne, dem allseits bekannten Fabrikgebäude mit dem rauchenden Schornstein und dem Fließband; hier ist die Metapher der Heimfabrik bildlich umgesetzt.15 Anderson ist ebenso wie Dougherty nicht nur Journalist und Autor (er war 2001–2012 Chefredakteur des Magazins »Wired«), sondern auch Unternehmer, der von den Trends, die er selbst beschreibt und letztlich auch initiiert, profitiert.16 Was bei den genannten Initiativen, Magazinen, Firmen, Veranstaltungen und Publikationen irritiert, ist die Inkonsequenz im Umgang mit den propagierten Revolutionen in den Bereichen Produktion und Distribution. Hier ist nach wie vor ein sehr klassisches ökonomisches Modell tragend und leitend, das auf Expansion und den Verkauf über Handelsketten setzt, anstatt sich an alternativen, reduktiven und nachhaltigen Konzepten zu orientieren, wie sie etwa in der Sharing Economy verfolgt werden.17 So sollen Kunden zwar gleichzeitig ProduzentInnen werden, zuvor aber müssen sie diverse Artikel aus dem Sortiment der genannten Firmen

14 V. a. in Anderson, Chris: Makers: The new industrial revolution. New York 2012. 15 Vgl. das Cover der deutschen Ausgabe von Anderson, Chris: Makers. Das Internet der Dinge. Die nächste industrielle Revolution. München 2013. 16 So ist er Gründer der Firma DIY-Drones Geschäftsführer bei 3D-Robotics – beide bieten Bausätze für DIY-Drohnen an und erwirtschaften damit Jahresumsätze in zweistelliger Millionenhöhe. Aus diesem Kreis der Gründer und ›Gurus‹ weiterhin zu nennen ist Hatch, Mark: The Maker Movement Manifesto. Rules for innovation in the new world of crafters, hackers and tinkerers. New York 2013. 17 Eine gute Übersicht über wachstumskritische Modelle bietet Welzer, Harald: Zukunftspolitik. In: Ders./Giesecke, Dana/Tremel, Luise (Hg.): FUTURZWEI. Zukunftsalmanach 2015/16. Geschichten vom guten Umgang mit der Welt. Frankfurt a. M. 2014, S. 13–38.

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erwerben, Eintrittsgelder bezahlen, 3D-Drucker oder Bausätze kaufen. Das lässt ein tatsächliches Anders-Denken und Anders-Handeln nicht erkennen, auch wenn die Repräsentationen dieser Unternehmen das suggerieren sollen. Ein weiteres Standbein und Aushängeschild des Maker Movement sind FabLabs und Repair-Cafés. Ein deutsches Beispiel hierfür ist die Dingfabrik in Köln, die sich der gemeinsamen Nutzung von Werkzeugen verschrieben und mit einiger öffentlicher Aufmerksamkeit das Konzept der FabLabs in Deutschland umgesetzt hat.18 Dabei ist insbesondere der Ansatz des Reparierens von Vorhandenem hervorzuheben, durch den der Versuch unternommen wird, der gesteigerten Geschwindigkeit von Produktzyklen entgegenzuwirken, in denen KonsumentInnen fast nur noch als Relaisstation zwischen Produktion und Entsorgung fungieren. In diesem Engagement für die Errichtung offener Werkstätten liegt auch ein weiterer Unterschied zu älteren, etablierten Formen des DIY oder des früheren Heimwerkens. Diese waren von ihrer räumlichen Bestimmung her tendenziell auf das Private ausgerichtet, fanden in Kellern, Garagen oder am Küchentisch statt.19 Maker zu sein bedeutet nach Dougherty jedoch in erster Linie, Teil einer Community zu sein, sich öffentlich einzubringen und teilen zu wollen – eine Öffnung, von deren Wertschöpfung dann nicht nur die Maker selbst, sondern auch Konzerne profitieren können.

18 Zur Selbstverortung der Dingfabrik als Fablab siehe Speckmann, Alexander: Lohnt sich Aufmerksamkeit? Netzwerken, Mitmachen, Öffentlich sein. Dingfabrik. In: Rüssel, Marcus/Second Attempt e. V. (Hg.): Phase 0 – How to make some action. Berlin 2012, S. 51–64. Das Einfach Machen steht zwar ebenfalls im Zentrum der Denkfabrik, ein konkreter Bezug zum Maker Movement als Vorbild wird aber nicht artikuliert. Mittlerweile starten auch in vielen Kleinstädten sogenannte offene Werkstätten. Einen Überblick bietet der Verbund Offener Werkstätten – Freiraum zum Selbermachen auf seiner Website www.offene-werkstaetten.org 19 Gegen diese Vereinzelung plädiert der Ansatz des Don’t do it yourself, der insbesondere die angehäuften Maschinenparks in Privatkellern moniert, die zumeist nur von Einzelpersonen genutzt werden; vgl. hierzu den Beitrag von Auerbach, Lisa Anne: Don’t do it yourself (= Studienhefte problemorientiertes Design 2). Hamburg 2013. In die gleiche Richtung zielt der ebenfalls gängige Terminus Do-it-with-Others (DIWO) – beides wird häufig angepriesen als ›das neue DIY‹ im Sinne einer Weiterentwicklung in Richtung des kollaborativen Arbeitens.

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3D-­D RUCK  ALS   T RAUMMASCHINE   –     D AS   N ARRATIV   ›N OCH  NICHT ,  ABER  BALD ‹     Das zentrale Werkzeug und eine Art Markenzeichen, über das sich das Maker Movement definiert, ist der 3D-Drucker. Die mediale Aufmerksamkeit, die derartigen Verfahren entgegengebracht wird, ist zu einem großen Teil auf geschickte Marketingstrategien seitens bestimmter Protagonisten des Maker Movement zurückzuführen. Sie ist also nicht etwa in seiner immensen alltäglichen Verbreitung begründet. Unabhängig von verschiedenen Prognosen, die mal mehr, mal weniger enthusiastisch die weitere Entwicklung von 3D-Druckern beschwören, wurden im Jahr 2015 nur ungefähr 245.000 Stück weltweit verkauft.20 Für eine Technologie, die bereits seit mehreren Jahrzehnten zum Einsatz kommt, bedeutet das weder einen Durchbruch noch eine industrielle Revolution. Besonders auffällig ist zudem, dass die meisten Geräte gar nicht in Privathaushalten stehen, wo die Hersteller sie gerne sehen würden, sondern eben in offenen Werkstätten und bei Dienstleistern, die im Kundenauftrag Einzelstücke herstellen. Dennoch dominiert im Zusammenhang mit dem 3D-Druck ein ungeheurer Optimismus, der auf ein Glücksversprechen zurückgeht, das in der Technikgeschichte nahezu einzigartig ist. Das gilt insbesondere für die Medienkanäle der Maker-Bewegung selbst, über die aus genannten Gründen und eigenen Interessen heraus eine dritte industrielle Revolution oder eine »Industrie 4.0« propagiert werden, wie sie besonders Jeremy Rifkin diagnostiziert und prognostiziert.21 3D-Druck hat sich so zu einem Sammelbegriff entwickelt, der durchweg positive Erwartungen und Assoziationen abrufen kann: für Güterproduktion, Verteilung, Vermarktung, schnellen Profit ohne große Konzerne, Freisetzung von Kreativität, günstige und risikofreie Unternehmensgründungen und dergleichen mehr – quasi die ultimative Revolution bestehender Marktgesetze. Dabei argumentiert der Großteil der visionären AutorInnen mit dem immer gleichen Narrativ: ›Noch

20 Das geht aus der aktuellen Studie des Marktforschungsunternehmens Gartner hervor, die außerdem den Trend des 3D-Drucks neben unternehmerischen Anwendungen v. a. in Schulen und Universitäten verortet und eben nicht in Privathaushalten; vgl. den Eintrag von Krämer, Andreas: Gartner rechnet mit Verdoppelung der 3D-Drucker-Auslieferungen in 2016 (2015), www.3d-grenzenlos.de/magazin/marktforschung/prognoseverkaufter-3d-drucker-2016-27132213.html 21 Vgl. hierzu v. a. Rifkin, Jeremy: Die Dritte Industrielle Revolution. Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter. Frankfurt a. M. 2014; ders.: Die Null-GrenzkostenGesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Frankfurt a. M. 2014.

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nicht, aber bald.‹ Sinngemäß beinhaltet dieses Narrativ: Bislang gibt es nur einzelne Projekte und Beispiele, die schon dieses oder jenes realisieren können (und daher als gelungenes Beispiel mit Vorbildfunktion herangezogen werden), aber bald schon werden diese Einzelbeispiele technischer Durchbrüche Realität und Standard für alle werden und dann wird alles anders. Natürlich besser. Einen besonders eindrücklichen, weil so euphorisch und naiv-faszinierten Beitrag liefert in diesem Zusammenhang der britische Journalist Jack Roberts: »Es tauchen Unternehmungen auf, die ohne Lager auskommen, sofortigen Profit abwerfen, ökonomisch ohne Risiko sind und hochqualitative Güter zu niedrigen Kosten herstellen können, sogar bei geringen Stückzahlen. So etwas hat es noch nie gegeben.«22 Man ist geneigt zu entgegnen: So etwas wird und kann es auch nicht geben – es handelt sich vielmehr um utopisches Wunschdenken eines Unternehmertums, das sich selbst außerhalb des realen Risikomanagements verorten möchte. Erstaunlich und kulturwissenschaftlich relevant am 3D-Druck ist meines Erachtens daher nicht so sehr der technische Akt der Herstellung eines Kunststoffobjekts (der übrigens keineswegs per Knopfdruck vor sich geht), sondern der sich anschließende unhinterfragte und prospektive Machbarkeitsdiskurs, der zwar nicht ohne historisches Vorbild ist, in der hier zu beobachtenden Resonanz jedoch außergewöhnlich. Einzig die Bemühungen um die zivile Nutzung der Kernenergie konnten in der Nachkriegszeit in ähnlicher Weise Allheilmittel-Fantasien beflügeln, die dann sehr reale Folgen in der staatlichen Wirtschaftsförderung hatten und zu konsequenten Ausblendungen in der Technikfolgenabschätzung führten.23 Es klafft somit eine eklatante Lücke zwischen der bisher recht erfolgreich behaupteten und kaum hinterfragten Revolution durch den 3D-Druck, die schon eine lange Zeit ausbleibt, und den tatsächlichen Praktiken der DIY-Communities. Das lässt sich exemplarisch an der HiFi-Selbstbauszene nachvollziehen.

22 Roberts, Jack: Lasst uns eine neue Wirtschaft drucken! In: Achermann, Simone u. a. (Red.): Machen ist Macht. Zum Aufstieg der Do-it-yourself-Kultur (= Abstrakt 8). Zürich 2012, S. 23–33, S. 29. Dieser Beitrag von Roberts (u. a. Gründer von Good Publishing und dem Magazin »Bad Idea«) steht stellvertretend für eine unüberschaubare Fülle an euphorischen, kritik- und distanzlosen journalistischen Einschätzungen zum Thema 3D-Druck und die sich daran angeblich anknüpfenden wirtschaftlichen Revolutionen und gesellschaftlichen Umbrüche. 23 Vgl. hierzu immer noch in seiner Analyse führend Radkau, Joachim: Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse. Reinbek b. Hamburg 1983.

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3D-­D RUCK  IM   H I F I -­S ELBSTBAU   Im deutschsprachigen Raum hat sich über die letzten Jahrzehnte eine lebhafte und zum Teil semi-professionelle HiFi-Selbstbauszene etabliert. Zwar ist der Lautsprecher-Selbstbau die häufigste Betätigung, vielleicht auch, weil dieser technisch am einfachsten realisierbar ist, allerdings gibt es eigentlich kein Gerät in diesem Bereich, welches EnthusiastInnen nicht auch in Eigenarbeit herstellen.24 Entsprechend breit gefächert sind auch die handwerklichen und technischen Anforderungen. Als besonders geeignet für die empirische Forschung rund um den 3D-Druck erscheint die Szene deshalb, weil ihre Protagonisten (und sehr vereinzelt auch Protagonistinnen) zwar beim Hören in der Mehrzahl auf analoge Geräte, also die Schallplatte und Röhrenverstärker schwören, sich beim Einsatz neuer Technologien jedoch überraschend offen und neugierig zeigen – solange damit nicht Musik gehört werden muss. Wie schätzen aktive Personen aus dieser Szene den 3DDruck ein? Was gilt ihnen als aktuell machbar? Wohin kann die Entwicklung aus ihrer Sicht gehen? Mit derartigen Fragen konfrontierte ich mehrere Personen in unterschiedlichen Kontexten.25 Die Antworten fielen im Hinblick auf meine Erwartungen größtenteils recht ernüchternd aus, denn ich ging davon aus, dass hier der 3D-Druck bereits zur etablierten Praxis gehört. Jedoch: Entweder war 3DDruck lediglich aus Printmedien bekannt und eine Anwendung für eigene DIYProjekte wurde per se ausgeschlossen, oder es bestand eine rudimentäre Erfahrung mit 3D-Druckern, durch die dann konkrete Unzulänglichkeiten benannt werden konnten, die ein weiteres Arbeiten damit als nicht sehr wahrscheinlich erscheinen ließen. Drei Einschätzungen mögen die Grundtendenz der Aussagen illustrieren:

24 Die Bandbreite reicht von Verstärkern, Schallplattenspielern, Tonarmen, Möbeln bis hin zu CD-Laufwerken aus alten »Playstations«. Auch das Reparieren, Umbauen und Restaurieren von vorhandenen Geräten und die Wertschätzung und Erhaltung von Vintage-HiFi spielen eine wichtige Rolle. 25 Folgende Kontakte und Zugänge zur Selbstbau-Community wurden gewählt, in denen zwischen 2012 und 2014 zahlreiche Gespräche um das Thema 3D-Druck im HiFiSelbstbau geführt wurden: AAA – Analogue Audio Association e. V., gegr. 1990, Ausrichter des jährlichen »Analog-Forums« Krefeld (Fachmesse mit Werkstätten, LPBörse, Herstellern und Anbietern, Besuche im Herbst 2012 und 2014); Kontakt zum lokalen Stammtisch der AAA in Wetzlar, Hessen im Vinylcafé; Sichtung der Fachzeitschriften »Klang und Ton« (seit 1986), des »LP-Magazins« (Fachmagazin für VinylKultur, seit 2005); diverse Anfragen zum Thema 3D-Druck in Online-Foren (www.diyhifi-forum.eu; www.klangundton.forum.de; www.analog-forum.de).

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»Also 3D Drucker finde ich sehr interessant, aber aufgrund der doch noch recht hohen Preise für die Plastikspulen pro Kilogramm nicht für den Normalverbraucher zum Gehäusebau zu verwenden.«26 »Diese ›Hobby‹-PLA-Schichtendrucker haben auch recht große Einschränkungen. Für meinen Fall: Dimensionen des Teils maximal 230 x 225 x 205 mm. [...] Größere oder präzisere Teile brauchen schon mal > 15 Stunden bis sie gedruckt sind. Die x-y-Präzision bei normaler Druckgeschwindigkeit ist bei Durchmessern nicht so toll, wie man es erwarten könnte und vor allem hängt sie von vielen Faktoren ab. [...] Die mechanischen Eigenschaften des fertigen Teils sind (mir) unbekannt. Man (Ich) muss also testen und hoffen, dass nichts kaputtgeht. Insgesamt braucht es einige Erfahrung, bis man einigermaßen effizient saubere Teile drucken kann.«27 »Im Gegensatz beispielsweise zum Modellbau [...] sehe ich für den Durchschnittsanwender im DIY-HiFi nur einen sehr schwachen Bedarf.«28

Zusammengefasst sind es mehrere Punkte, die den 3D-Druck für den HiFi-Selbstbau so wenig attraktiv machen: 1. Der bisher kaum thematisierte hohe und kostenintensive Verbrauch von Rohmaterial durch Spulen, aus denen der Drucker die programmierten Objekte produziert. Für größere Projekte, etwa im Lautsprecherbau, ist das wenig sinnvoll, besonders, wenn man einen gewissen Ausschuss durch Fehlversuche mit einkalkuliert. 2. Die physischen Dimensionen der realisierbaren Objekte sind sehr eingeschränkt, solange man keinen Industriedrucker besitzt. 3. Es dauert sehr lange, bis ein komplexer Druckvorgang abgeschlossen ist – Zeitersparnis bringt das Verfahren also nicht mit sich. 4. Die Unkenntnis über die Materialeigenschaften und deren langfristige Haltbarkeit schafft Unsicherheit – da greift man doch lieber zur bewährten und günstigen MDF-Platte aus dem Baumarkt.

26 User Catweasel im »DIY-HiFi-Forum«, 18.1.2015. 27 User Alic im »DIY-HiFi-Forum«, 19.1.2015. PLA (Polylactide, das sind synthetische Polymere, auch bekannt als Polymilchsäuren) ist ein Filament/Fasermaterial, das als Druckmaterial dient, entsprechend sind PLA-Schichtendrucker Geräte, die Schicht für Schicht dieses PLA-Filament auftragen. Die X-Y-Präzision (X = links/rechts, Y = vorne/hinten bei den Maschinenachsen) bezeichnet die Genauigkeit, mit der ein Gerät diese beiden Achsen druckt bzw. aufträgt – je höher diese Genauigkeit, umso besser. Hier wird also bemängelt, dass die günstigen PLA-Geräte zu ungenau drucken und sie daher für die Ansprüche im HiFi-Selbstbau nicht zu gebrauchen sind. 28 User F.A.Bi.A.N. im »DIY-HiFi-Forum«, 18.1.2015.

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So bleibt festzustellen, dass eine technikaffine und äußerst bastelfreudige Community wie der HiFi-Selbstbau nur sehr marginale Notiz vom medialen 3DDruck-Hype nimmt und es bei vereinzelten Versuchen der Anwendung bleibt. Es ist dabei auch anzuerkennen, dass gerade lange etablierte und erfahrene DIYCommunities wie der HiFi-Selbstbau über ein immenses tradiertes Repertoire an handwerklichen und materiellen Fähigkeiten verfügen, das den Einsatz eines 3DDruckers überflüssig macht. Es besteht hier schlichtweg keine Notwendigkeit dafür.

S ECHS   G RÜNDE  FÜR  DAS   A USBLEIBEN     DER   3D-­R EVOLUTION  IM   DIY   Der DIY-Sektor und die 3D-Druck-Technologie weisen in der Praxis deutlich weniger Überschneidungen auf als man zunächst vermuten könnte oder als es einschlägige Handbücher behaupten.29 In einer kulturwissenschaftlichen Perspektive geht es darum, sich den Gründen für das Ausbleiben einer Veralltäglichung des 3D-Drucks und der damit einhergehenden, angekündigten Revolution von Produktionsverhältnissen anzunähern. Der Umstand, dass DIY-Communities sehr gut ohne 3D-Druck auskommen, sagt vieles über deren kulturelles Selbstverständnis aus. Zunächst ist in Rechnung zu stellen, dass das Maker Movement äußerst erfolgreiche Strategien des viralen Marketings nutzt,30 die insbesondere auf vorhandene Technikbegeisterung und mediale Verbreitung setzen. Die unzähligen Meldungen von sensationellen Druck-Erzeugnissen appellieren an eine Faszination des Realwerdens technologischer Utopien, der man sich nur schwer entziehen kann. Aus dem weiten Feld des DIY werden im folgenden gemeinsame Merkmale und kulturelle Positionierungen herausgearbeitet, um sie mit der kulturellen Praxis des 3D-Drucks zu kontrastieren. Die Suche nach den kleinsten gemeinsamen Nennern, die DIY-AkteurInnen in ihren sehr heterogenen Communities, mit ihren Produkten und kulturellen Praktiken fassbar und verstehbar machen können, bringt

29 So beispielsweise Horsch, Florian: 3D-Druck für alle. Der Do-it-yourself-Guide. München 2014 (2. Aufl.); Hagl, Richard: Das 3D-Druck-Kompedium. Leitfaden für Unternehmer, Berater und Innovationstreiber. Wiesbaden 2015 (2. Aufl.). 30 Virales Marketing meint im Kern die Verbreitung (bzw. im wörtlichen Sinne die virale Infizierung) von Kampagnen und Botschaften mittels gezielter Platzierung in sozialen Medien und Netzwerken.

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freilich stets eine Verkürzung der individuellen Ansätze und Sinnzuschreibungen mit sich. Dennoch lassen sich heuristisch motiviert Motivationen und handlungsleitende Logiken benennen, die das Phänomen DIY kennzeichnen und die in unterschiedlicher Gewichtung für die AkteurInnen eine Rolle spielen. 1. Verzicht und Ablehnung fertiger Produkte: Wer etwas selber macht, verhält sich nicht wie ein Konsument, der ein fertiges Produkt kauft. Die Motivationen hierfür können sehr unterschiedlich sein. Im Bereich des HiFi-Selbstbaus etwa werden Unzufriedenheit mit erhältlichen Produkten genannt oder die zum Teil zu hohen Kosten der Anschaffung. In jedem Fall entschied man sich bewusst gegen einen Kauf. 2. Anspruch, etwas selbst herzustellen: Das ist sportlich zu verstehen und hat auch Wettbewerbscharakter. Schaffe ich es, ein komplexes Gerät selbst, eventuell auch ohne fremde Hilfe herzustellen? Das Erreichen des selbst gesteckten Ziels, das Gelingen verspricht Zufriedenheit und unterscheidet das Selbermachen als sinnhaften Akt vom Kauf. 3. Vermarktung ist nicht das primäre Ziel: Das bedeutet auch, dass ökonomische Überlegungen zum eigenen Produkt eine untergeordnete Rolle spielen. Mitunter sind DIY-Projekte ganz und gar nicht finanziell günstiger, insbesondere, wenn man Zeitaufwand und Materialkosten zusammenrechnet. Allerdings gibt es einige Beispiele, die zeigen, dass gelungene Produkte auch AbnehmerInnen finden können, etwa über Foren oder Messen. Dass sich eine weitergehende Vermarktung anschließen kann, widerspricht jedoch nicht der These, dass diese zu Beginn nicht das primäre Ziel einschlägiger Aktivitäten ist. DIY-AkteurInnen handeln demnach nicht nach unternehmerischer Logik. 4. Nachhaltigkeit und ökologisches Bilanzieren: Das Bewusstsein für schonenden Ressourceneinsatz und die Möglichkeiten der Wiederverwertung oder des Reparierens spielen in vielen DIY-Communities eine immer größere Rolle. Den industriellen Produkten wird dabei attestiert, ökologische Kontexte nicht ausreichend zu berücksichtigen; es werden mitunter auch gesundheitliche Argumente angeführt (etwa beim Gärtnern oder der Produktion von Textilien). In diesen Zusammenhang gehört auch das bereits erwähnte Don’t-do-it-yourself-Konzept, das unter anderem dafür sensibilisiert, dass die kollektive Nutzung von Ressourcen eine ökologisch nachhaltigere Bilanz aufweist als etwa die ›Kann-man-eventuellnoch-gebrauchen‹-Lager in klassischen Hobbykellern, in denen häufig Reste von Projekten ohne Weiternutzung verstauben oder im Fall chemischer Substanzen das Haltbarkeitsdatum überschreiten. 5. Intensivere Produkt-Rezeption: Dieses Charakteristikum erschließt sich nur über Umwege, denn häufig ist es den DIY-AkteurInnen gar nicht bewusst, dass sie zu einem Produkt, an dessen Entstehung sie maßgeblich beteiligt waren oder

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das sie sogar komplett in Eigenarbeit hergestellt haben, eine intensivere Objektbeziehung eingehen. Im Fall des HiFi-Selbstbaus ist das dahingehend belegbar, dass dem Musikhören mit Lautsprechern, die man selbst gebaut hat, eine höhere musikalische Qualität zugesprochen wird als man sie mit einem qualitativ vergleichbaren Produkt eines namhaften Herstellers erreichen würde. Hier spielt der von Michael I. Norton beobachtete »Ikea-Effekt« eine maßgebliche Rolle. Dieser besagt, dass die Wertschätzung eines Produktes durch die Beteiligung der KonsumentInnen an dessen Entstehung deutlich zunimmt.31 6. Originale schaffen: Dieser letzte Punkt wirft eine Reihe an weiteren Fragen auf. Im DIY werden Produkte hergestellt, die es so nicht ein weiteres Mal gibt. Das bedeutet, etwas Einzigartiges geschaffen zu haben und zu besitzen – eine Qualität, die man nur Unikaten, also den eigentlichen, unwiederholbaren Originalen zuspricht.32 Industrielle Produkte, mögen sie objektiv betrachtet auch qualitativ höherwertig oder ausgereifter sein, sind allesamt Kopien und serielle Erzeugnisse, die sich nicht voneinander unterscheiden lassen. Hier zeichnet sich eine Sehnsucht nach dem Original ab, die in der Moderne durch Kopien und Praktiken des Sekundären eingedämmt und zurückgedrängt schien. Die Ambivalenzen dieser Faszination für das Original zeigen sich auch darin, dass manche heute sogar der Kopie einen Originalstatus zusprechen wollen, wenn sie denn kreativ ist.33 Durch den Status von DIY-Erzeugnissen als Originale erklärt sich auch der in bestimmten Kontexten festzustellende Wandel im Umgang mit der sogenannten ›Marke Eigenbau‹. War diese etwa zu Kriegs- und Nachkriegszeiten Zeichen provisorischer Mangelwirtschaft, gilt sie heute – insbesondere im DIY – tendenziell als ›beste Marke‹ überhaupt.34

 

31 Norton, Michael I./Mochon, Daniel/Ariely, Dan: The IKEA effect. When labor leads to love. In: Journal of Consumer Psychology (2012), H. 22, S. 453–460. 32 Zum Verhältnis von Original und Kopie siehe auch Schönholz, Christian: »Jede Kopie ein Original!« Aspekte eines kulturellen Größenverhältnisses. In: Koch, Gertraud (Hg.): Digitalisierung. Theorien und Konzepte für die empirische Kulturforschung. Konstanz (im Erscheinen). 33 So etwa Gehlen, Dirk von: Mashup. Lob der Kopie. Frankfurt a. M. 2011. 34 Zum Status der Marke Eigenbau siehe Friebe, Holm: Marke Eigenbau – Die wertvollste Marke der Welt. In: Gold, Helmut u. a. (Hg.): Do it yourself. Die Mitmach-Revolution (= Kataloge Museumsstiftung Post und Telekommunikation 29). Mainz 2011, S. 80–87.

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F AZIT   Diese Merkmale veranschaulichen, dass der 3D-Druck nicht deshalb eine so marginale Rolle im DIY spielt, weil er technisch unterentwickelt wäre oder teuer in der Anschaffung – beides trifft schon längere Zeit nicht mehr zu. Vielmehr widerspricht er ungeachtet aller Glücksversprechungen, die diese Technik begleiten, auf entscheidenden Ebenen den Ansprüchen an DIY-Praktiken: Die serielle Wiederholung einer Objektrealisierung, mit der 3D-Druck-Verfahren wie kaum eine andere Technologie assoziiert werden, steht auf das Deutlichste der Sinnhaftigkeit von DIY entgegen. Replikation ist ein klarer Widerspruch zum bewussten Konsumverzicht und dem Anspruch, etwas selbst gemacht zu haben. Für Startup-Unternehmen und Kleinserien-Produktionen in Eigenregie mag der 3D-Druck neue unternehmerische Möglichkeiten eröffnen, letztere sind im DIY aber nicht leitendes Ziel. Die Bedeutung von Handarbeit nimmt im 3D-Druck ab, während die Programmierung am Rechner mit wenigen Handgriffen in den Vordergrund tritt. Über die ökologischen und energetischen Bilanzen des dreidimensionalen Druckens lässt sich nur mutmaßen, werden doch in vielen Fällen ein immenser Ressourcenverbrauch und hoher Ausschuss durch Fehlversuche billigend in Kauf genommen, um ein eigenes Unikat herzustellen. Das gilt sowohl für technisch aufwendige DIY-Praktiken als auch für das Experimentieren mit 3D-Druckern. Was den erwähnten »Ikea-Effekt« angeht, so erscheint es zumindest fragwürdig wie intensiv dieser sich bei der Nutzung von 3D-Druck-Technologie einstellt, nachdem hier die eingangs angeführten, in vielen Feldern des DIY nach wie vor zentralen, handwerklichen Techniken nicht oder nur sehr bedingt zum Einsatz kommen. Damit stellen sich DIY-Praktiken – und auch die neueren, sich abgrenzenden oder ergänzenden Konzepte (Don’t DIY, Digitales DIY, Maker Movement, Crafting, Commoning etc.) – auch als eine imaginierte Zeitblase dar, in der Qualitäten in der Produktion und der Aneignung von Objekten aufrechterhalten oder wiederentdeckt werden, die es in der industriellen und seriellen Fertigung von Alltagsund Konsumartikeln immer weniger gibt. Das mag man als regressive Sehnsucht nach einer guten, vergangenen Zeit mit den guten alten Dingen interpretieren (mit der auch große Versandhäuser werben), oder als visionäre Speerspitze einer neuen reduktiven, auf Verzichten und Teilen aufbauenden Gesellschaftsordnung, die auf die katastrophalen Auswirkungen von 150 Jahren industrieller Produktion zu reagieren versucht. Der 3D-Druck wird, so die hier angebotene Prognose, in den künftigen Entwicklungen einer postindustriellen und nachhaltigeren Produktion nur eine marginale Rolle spielen. Dennoch bleibt eine kuriose Erkenntnis festzuhalten: 3D-Drucker sind Mainstream, ohne (bislang) alltäglich zu sein.

Computerclubs  und  Flüchtlingslager   Ein  Diskussionsbeitrag  zur  Forschungs-­  und  Bildungsarbeit   aus  praxistheoretischer  Perspektive   O LIVER S TICKEL , K ONSTANTIN A AL , M ARÉN S CHORCH , D OMINIK H ORNUNG , A LEXANDER B ODEN , V OLKER W ULF UND V OLKMAR P IPEK 1

    A BSTRACT :   C OMPUTER  CLUBS  AND  REFUGEE  CAMPS :     A  CONTRIBUTION  TO  THE  DISCUSSION  IN  RESEARCH  AND   EDUCATION  FROM   A   P RACTICE   T HEORY   P ERSPECTIVE   Based on a 2014 case study on 3D-printing in Palestinian refugee camps in the West Bank, we reflect on more general issues regarding research activities in ›developmental‹ contexts. To this end, we draw upon discussions about and critique of our own work as well as critical discourses from the field of Information and Communication Technologies/Human Computer Interaction for Development (ICT4D/HCI4D). Leading up to those reflections, we illustrate the background of our case study within the research project »come_IN« as well as its position within a stream of practice-theory-motivated research on socio-technical systems. We hope to be able to present a useful, empirically grounded and illustrated contri-

1

Wir bedanken uns für die sowohl persönlich als auch wissenschaftlich bereichernde Zusammenarbeit bei George Yerousis und allen weiteren palästinensischen KollegInnen und FreundInnen.

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bution towards the evolution of a more pluralistic, balanced and effective understanding of research in contexts of political unrest, instability and rapidly developing societal changes.

R AHMUNG   In diesem Artikel reflektieren wir Erfahrungen aus unserer Forschungsarbeit zum Aufbau von Computerclubs in Flüchtlingslagern. Die zugrundeliegende Fallstudie befasst sich mit 3D-Druck im Kontext von Computerclubs für Kinder und wurde 2014 durchgeführt.2 Unsere interdisziplinäre Forschungsgruppe3 arbeitet seit mehreren Jahren in zwei Flüchtlingslagern im Westjordanland im Rahmen des Projektes »come_IN«.4 Die empirischen Resultate der Studie wurden bereits an anderer Stelle publiziert, wir gehen im Abschnitt »Ergebnisse« nur kurz darauf ein. Hingegen möchten wir im Rahmen dieses Beitrages Fragen zur Methodik, zur Verortung und zum Forschungsdiskurs aufgreifen und reflektieren.5 Zu diesem Zweck weichen wir von der herkömmlichen Struktur eines wissenschaftlichen Aufsatzes ab und werden im Folgenden in den Abschnitten »Come_IN Computerclubs: Konzept und Zielsetzung«, »Forschungssetting«, »Methodik« und »Ergebnisse« zunächst die Fallstudie, ihre Hintergründe und die verwendete Methodik noch einmal zusammenfassend vorstellen, um dann auf unser Verständnis von »Praxistheorie« einzugehen. Sie stellt den zentralen wissenschaftlichen Referenzrahmen unserer Forschungsgruppe und der Fallstudie dar. Im Anschluss daran widmen wir

2

Der Einsatz von 3D-Druck und anderen Technologien in nichttraditionellen, insbesondere transdisziplinären, Feldern wird in jüngster Zeit in zahlreichen explorativen Arbeiten thematisiert. Einen breit aufgestellten, aktuellen Einblick in die Thematik bieten Connor, Andy M./Marks, Stefan: Creative technologies for multidisciplinary applications. IGI Global 2016.

3

Schwerpunkte dieser Kooperation sind eine praxistheoretisch fundierte Wirtschaftsinformatik, Bereiche der Mensch-Computer Interaktion (HCI) und die Computerunterstützte Gruppenarbeit (CSCW).

4

Vgl. http://come-in.cc (Zugriff: 1.6.2016).

5

In besonderem Maße fußen die aufgegriffenen Aspekte auf Diskussionen im Rahmen der Tagungen »Do it! Yourself? Fragen zu (Forschungs-)Praktiken des Selbermachens« (Wien 2015), der »European conferences on computer supported cooperative work« (Heidelberg, 2015 bzw. Oslo, 2016) und der »Participatory innovation conference« (Den Haag, 2015).

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uns der übergeordneten Zielsetzung unserer Forschungsarbeit (»Bildungsgerechtigkeit und Bildungschancen«), diskutieren die Frage ›kolonialer‹ Vorgangsweisen (»Machtverteilung: Bungee Research und Koloniale Vorgangsweisen«) sowie die Rolle von Forschenden in sensiblen Forschungsfeldern. Damit soll das Beforschen und Gestalten soziotechnischer Systeme anhand des Fallbeispiels unserer Studie und aus praxistheoretisch geprägter Perspektive reflektiert werden.

C OME _IN   C OMPUTERCLUBS :     K ONZEPT  UND   Z IELSETZUNG     Während der letzten zehn Jahre wurde unter maßgeblicher Beteiligung unserer Forschungsgruppe ein Netzwerk an Computerclubs für Kinder aufgebaut, das sich come_IN nennt. Ziel der Clubs ist es, Kindern, Jugendlichen und auch Eltern einen freien und sicheren Raum zu schaffen, in dem sie einander treffen, sich austauschen, spielen, insbesondere aber spielerisch lernen können. Der Fokus liegt hierbei zwar auf digitalen Technologien als Werkzeug und Medium, ist aber nicht darauf beschränkt.6 Vorbild der Clubs sind die in den 1990er Jahren durch das Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA eingerichteten »Computer Club Houses«,7 die von unserer Gruppe konzeptionell weiterentwickelt und an die Rahmenbedingungen in Deutschland sowie jüngst an jene des Westjordanlands angepasst wurden. Es existieren derzeit sechs solcher Clubs in Deutschland, einer befindet sich in den USA und zwei gibt es im Westjordanland, in den Flüchtlingslagern al-Am’ari und Jalazone. Sämtlichen dieser come_IN-Clubs liegt die Lerntheorie des »Konstruktionismus« zugrunde, welche ihren Schwerpunkt auf Lernen durch das eigenständige Erforschen der Welt, vor allem aber das Bauen – Konstruieren – von Artefakten mit individueller Bedeutung legt.8 Die Lernforscher Yasmin Kafai und Mitchell Resnick fassen den Kern der Theorie wie folgt prägnant zusammen:

6

Vgl. Weibert, Anne u. a.: How come IN Computer Clubs may foster collaboration in an intercultural neighborhood. In: Workshop on culture and technologies for social interaction at INTERACT 2009; Stevens, Gunnar/Veith, Michael/Wulf, Volker: Bridging among ethnic communities by cross-cultural communities of practice. In: Bresselaar, Peter van den u. a. (Hg.): Communities and technologies 2005. Proceedings of the second communities and technologies conference, Milano 2005. Berlin u. a. 2005, S. 377–396.

7

Vgl. http://www.computerclubhouse.org (Zugriff 10.7.2016).

8

Vgl. Harel, Idit/Papert, Seymour: Constructionism. Norwood, NJ 1991.

152   |  O LIVER   S TICKEL  UND  ANDERE   »Constructionism suggests that learners are particularly likely to make new ideas when they are actively engaged in making some type of external artifact – be it a robot, a poem, a sand castle, or a computer program – which they can reflect upon and share with others. Thus, constructionism involves two intertwined types of construction: the construction of knowledge in the context of building personally meaningful artifacts.«9

Etwas selbst herzustellen ist hier also zentraler Bestandteil der Lerntheorie. Besondere Bedeutung wird Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) als Werkzeug und Medium zugemessen, denn diese ermöglichen das freie Konstruieren fast beliebiger virtueller Artefakte und stellenweise auch deren Verknüpfung mit der materiellen Welt.10 Nach diesen Prinzipien arbeitet auch come_IN – allerdings mit speziellem Fokus auf sozial problematische Kontexte, in Deutschland zum Beispiel in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und problematischem Bildungszugang. Der Hintergrund dieser Ausrichtung ist das Ziel, Handlungsmöglichkeiten zum Herstellen von Bildungsgerechtigkeit zu erforschen, insbesondere zum Abbau der digitalen Kluft und den damit verbundenen soziopolitischen und sozioökonomischen Spannungen, wie sie insbesondere in solchen Kontexten immer mehr entstehen.11 Die ungewöhnlich lange Laufzeit des Projekts von mittlerweile über zehn Jahren erlaubte die Entwicklung eines tief im Feld verankerten und partizipativ entwickelten Konzepts für come_IN-Clubs; zentral sind eine lokale Hochschule als Forschungspartner, eine Gastgeber-Einrichtung für den Club (Schulen, Jugendzentren oder Ähnliches) mit deren jeweiligen VertreterInnen (LehrerInnen, SozialarbeiterInnen) sowie freiwilligen HelferInnen, die sich als TutorInnen in den Clubs engagieren. Die Clubs stehen in regelmäßigen Abständen – meist wöchentlich – Kindern, Jugendlichen, Eltern, TutorInnen, ForscherInnen und durchaus auch andere AkteurInnen offen und erlauben das Entwickeln und Durchführen von

9

Vgl. Kafai, Yasmin/Resnick, Mitchell (Hg.): Constructionism in practice. Designing, thinking, and learning in a digital world. New York/London 2011. Empfehlenswert für eine Abgrenzung zu Piagets möglicherweise bekannterem Konstruktivismus ist auch Ackermann, Edith: Piaget’s constructivism, Papert’s constructionism: What’s the difference? (2001), http://learning.media.mit.edu/content/publications/EA.Piaget%20_% 20Papert.pdf (Zugriff: 10.7.2016).

10 Hier werden frei programmierbare Lego-Roboter (Mindstorms) häufig als Beispiel genannt, allerdings ermöglichen insbesondere in jüngster Zeit gerade auch digitale Fabrikationsmaschinen wie z. B. 3D-Drucker oder -Scanner den Übergang vom virtuellen in den materiellen Raum. 11 Vgl. Whitte, James/Mannon, Susan E.: The internet and social inequality. New York 2010.

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(Gruppen-)Projekten, insbesondere auf IKT-Basis. Es gibt dabei keinerlei Vorgaben, etwa den Einsatz bestimmter Technologien betreffend. Mit Formaten wie etwa dem ›Runden Tisch‹ wird versucht, gemeinsame Interessen zu bestimmen und sich gemeinschaftlich neue, gegebenenfalls auch größere Projekte vorzunehmen. Kinder in einem come_IN-Club in Deutschland (links) und Palästina (rechts)

Fotos: Konstantin Aal, Dominik Hornung.

Nach mehrjähriger Forschung und Weiterentwicklung rund um come_IN entstand 2010 die Idee, das lokal erfolgreiche Projekt auf internationale Kontexte auszuweiten. Die Wahl fiel auf das Westjordanland, nachdem lokale AkteurInnen starkes Interesse zeigten. Die Flüchtlingslager im eigenen Land, in denen geflohene oder vertriebene PalästinenserInnen seit nunmehr über sechzig Jahren leben, sind ein sozial in höchstem Maße problematisches Feld, in dem insbesondere Bildungschancen (auch, aber bei weitem nicht ausschließlich, mit Blick auf IKT) und vor allem das Herstellen von Bildungsgerechtigkeit von zentraler Bedeutung sind. Das Schema der come_IN-Clubs wurde im Rahmen mehrerer Besuche und in enger Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren auf die Verhältnisse vor Ort angepasst, was zu Gründung und zum bis heute bestehenden Betrieb von zwei Clubs in palästinensischen Flüchtlingslagern führte.12

12 Die Hintergründe, Herausforderungen und kontextbezogenen Anpassungen sind in Aal, Konstantin u. a.: Come_in@Palestine: Adapting a German computer club concept to a Palestinian refugee camp. In: Proceedings of the 5th ACM international conference on collaboration across boundaries: Culture, distance and technology. Kyoto, Japan 2014, S. 111–120, detailliert beschrieben. Umfassende ethnografische Arbeiten zur Lage und den Problemen im Kontext palästinensischer Flüchtlingslager finden sich auch in Petet, Julie: Landscape of hope and despair: Palestinian refugee camps. Philadelphia 2005.

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Trotz der sehr unterschiedlichen Kontexte in denen die come_IN-Clubs weltweit arbeiten zeigte sich, dass das grundlegende Interesse an IKT, die Motivation von Kindern und Jugendlichen ebenso wie die Ausrichtung ihrer Projekte und die Abläufe in den Clubs sich durchaus ähneln. Die vorhandenen Unterschiede beziehen sich auf religiöse Aspekte, ökonomische Faktoren, die sich beispielsweise aus Lebensumständen im Flüchtlingslager ergeben, und insbesondere auf die Konfliktsituation der Region.13 Für die palästinensischen come_IN-Clubs übernimmt ein lokaler Koordinator an der University of Birzeit in der Nähe von Ramallah die Organisation; ehrenamtliche TutorInnen sind im Regelfall Studierende dieser Universität. Besonders hervorzuheben ist, dass mehrere dieser TutorInnen selbst ursprünglich aus den Flüchtlingslagern stammen, in denen sich die örtlichen Clubs befinden, und andere vor ihrem Kontakt zu come_IN noch nie eines der Lager betreten hatten. Die come_IN-Clubs in Palästina werden weitgehend lokal verwaltet. Unsere Forschungsgruppe in Deutschland hat eher die Rolle eines externen Partners inne, mit dem regelmäßiger gegenseitiger Austausch über Konzepte, Methoden, Erkenntnisse und konkrete Projekte stattfindet.14 Wie in jedem come_IN-Club entstehen auch in Palästina die Club-Aktivitäten auf Basis der Interessens- und Motivationslage von TeilnehmerInnen und TutorInnen, wobei manchmal auch Club-übergreifende Ideen entwickelt werden: in Deutschland beispielsweise in Form gemeinsamer Ausflüge oder in Palästina die Idee eines ›Über mich‹-Projektes, das Kindern die Chance geben soll, BesucherInnen anderer Clubs – auch international – besser kennenzulernen. Solche Konzepte entstehen entweder kollaborativ oder werden zumindest mit allen (potenziell) Beteiligten diskutiert und gemeinschaftlich beschlossen. Die Arbeit mit multimedialen Inhalten und das Selbermachen sind selbstverständliche Elemente von come_IN. In den letzten Jahren wurden zunehmend interessante Technologien verfügbar – aus dem Kontext der Maker-Szene und ähnlichen DIY-Kulturen kommend. Der 3D-Druck ist ein gutes Beispiel dafür, wie eine ehemals industrielle Fertigungstechnik für Prototypen in nichtprofessionellen/nichtkommerziellen Communities (weiter-)entwickelt wurde und Aneignung

13 Einige der Besonderheiten zeigen wir am Beispiel konkreter Gruppenprojekte auf in: Stickel, Oliver u. a.: 3D printing as a means for participation in developmental Settings. A field study. In: Valkenburg, Rianne/Dekkers, Coen/Sluijs, Janneke (Hg.): Proceedings of the 4th participatory innovation conference 2015. Den Haag 2015, S. 368–375. 14 Vgl. Yerousis, George u. a.: Computer-enabled project spaces: Connecting with Palestinian refugees across camp boundaries. In: Proceedings of the 33rd annual ACM conference on human factors in computing systems. New York 2015, S. 3749–3758.

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in verschiedensten Kontexten erfuhr beziehungsweise erfährt.15 Mittlerweile sind extrem günstige 3D-Drucker auf dem Massenmarkt verfügbar, deren Preise sich auf dem Niveau haushaltsüblicher Geräte (wie Fernseher oder Spielekonsolen) bewegen. Die Potenziale der Technologie im Rahmen der Bildungsarbeit16 machen die Drucker für come_IN interessant, da sie (als Systeme aus Software, Vernetzung und NutzerInnen) die Materialisierung virtuell konstruierter Artefakte ermöglichen und sich so gut in die konstruktionistische Orientierung der Clubs fügen. Mit damals noch unhandlicheren und komplexeren 3D-Druck-Technologien und dem Computerspiel »Minecraft«,17 das eine spielerische Form der 3D-Modellierung in einer gemeinsamen virtuellen Welt ermöglicht, wurden in den deutschen come_IN-Clubs ab 2011 erste explorative Arbeiten durchgeführt, die unter anderem auch 3D-Druck beinhalteten.18 Interesse und Motivation der Kinder und Jugendlichen waren beachtlich und ihre 3D-Druck-Projekte vielfältig. Im Rahmen des oben kurz dargestellten regelmäßigen Austausches zwischen den internationalen come_IN-Teams wurden auch die Arbeiten zu 3D-Druck thematisiert. Im Zuge mehrerer virtueller Konferenzen und E-Mails wurde offensichtlich, dass beiderseitig Interesse an der Technologie und ihren Einsatzmöglichkeiten bestand, was durchaus auch mit der damals schon intensivierten Berichterstattung über 3D-Druck in den Medien zusammenhing. Gemeinsam wurde ein Besuch zweier

15 Dies ist nicht als prognostische Aussage im Sinne eines Potenzials für die ›nächste industrielle Revolution‹ oder Ähnlichem zu verstehen, wie sie derzeit vielerorts – auch in Christian Schönholz’ Beitrag in diesem Tagungsband – kritisch diskutiert wird, sondern lediglich als neutrale Beobachtung von Markt- und Community-Entwicklungen der letzten Jahre gedacht. Das marktbezogene ›revolutionäre‹ Potenzial – und die Ausdeutung des Begriffs ›Revolution‹ – sind nicht unbedingt zentrale Kriterien für den bildungsbezogenen Einsatz von digitalen Fabrikationstechnologien. 16 Vgl. auch Blikstein, Paulo: Digital fabrication and »making« in education: The democratization of invention. In: FabLabs: Of machines, makers and inventors. Bielefeld 2013, S. 203–322. 17 Vgl. https://minecraft.net (Zugriff: 22.7.2016). 18 Vgl. von Rekowski, Thomas u. a.: Playful, collaborative approaches to 3D modeling and 3D printing. In: Koch, Michael/Butz, Andreas/Schlichter, Johann (Hg.): Mensch und Computer – 2014 Tagungsband. 14. Fachübergreifende Konferenz für Interaktive und Kooperative Medien: Interaktiv unterwegs – Freiräume gestalten. Oldenbourg 2014, S. 363–366.

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Siegener Forscher19 in Palästina beschlossen, die einen handlichen 3D-Drucker im Rahmen einer Fallstudie einsetzen und eruieren sollten, ob und inwiefern solche Technologien auch im Kontext der palästinensischen Clubs sinnvoll verwendbar wären.

F ORSCHUNGSKONTEXT   Das Westjordanland ist Teil des palästinensischen Gebiets, das der Staat Israel während des Sechs-Tage-Krieges 1967 besetzt hat. Seitdem steht das Gebiet unter israelischer Militärkontrolle. Durch das Osloer Abkommen von 1993 werden Teile der Westbank heute von der Autonomiebehörde (Palestinian Authority, PA) verwaltet. Im Laufe der letzten 65 Jahre haben sich die Flüchtlingslager der vertriebenen Palästinenser im Westjordanland selbst sowie den umliegenden Ländern von 1948 an zu größeren marginalisierten Wohnstätten mit Populationen von Tausenden bis Zehntausenden Einwohnern entwickelt. Seither wurden von der UN humanitäre Dienste bereitgestellt, was jedoch nicht den ständigen Zustand der Isolation, Ausgrenzung und Armut unter den Flüchtlingen gelindert hat. Während die Autonomiebehörde die Rechtsstaatlichkeit in den Städten aufrechterhält, bleiben die Flüchtlingslager ohne durchsetzbare Gesetze und Verordnungen und werden manchmal als Orte der Unrechtmäßigkeit angesehen. Die Gemeinden der Flüchtlingslager verlassen sich oft auf ihre eigenen internen Akteure, um Probleme und Konflikte zu lösen.20 PalästinenserInnen außerhalb der Lager antizipieren häufig negative Interaktionen mit den BewohnerInnen der Lager aufgrund verschiedener Vorstellungen hinsichtlich Verhalten, moralischer Werte und Gesinnungen.21 Als Ergebnis werden die Flüchtlingslager vielfach als feindselige Orte angesehen.

19 Oliver Stickel und Dominik Hornung, daher ab hier stellenweise Verwendung der maskulinen Form aufgrund der unmittelbaren Bezugnahme auf die genannten Personen. 20 Waren diese Flüchtlingslager zunächst nur für kurze Zeiträume eingerichtet worden, haben sie über die vielen Jahrzehnte eine Verstetigung erfahren und eigene Strukturen ausgebildet; vgl. zu derartigen Prozessen und dem Entstehen von »accidental cities« aus Flüchtlingslagern exemplarisch Janson, Bram J.: Two decades of ordering refugees. In: Disaster, conflict and society in crises: Everyday politics of crisis response. London 2013, S. 114–131. Weitere Perspektiven auf Flüchtlingslager als »spezifischer Fall von auf Dauer gestellter institutioneller, organisatorischer und kultureller Heterogenität« bietet Inhetveen, Katharina: Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers. Bielefeld 2010. 21 Vgl. Aal: Adapting 2014.

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M ETHODIK     Ein 3D-Drucker war bis 2014 nicht Bestandteil der Arbeit in den Clubs im Westjordanland; für die Studie musste also – wie bei vielen Projekten, die sich in come_IN-Clubs entwickeln – etwas Neues eingeführt werden, konkret der 3DDrucker einschließlich der Vermittlung der Fähigkeiten zum gekonnten Umgang damit. Dies machte es erforderlich, dass die Forscher aktiver Teil des Projekts sein würden, um die Einführung in die Technologie und eventuelle Reparaturen gewährleisten zu können. Ein weiterer Grund war, dass die persönliche Interaktion vor Ort vor dem Hintergrund des schwierigen Kontextes eines Flüchtlingslagers persönliches Engagement und Teilhabe sowie Kollaboration ermöglicht, die als wichtige Bestandteile respektvoller und vertrauensvoller Arbeit gesehen werden müssen.22 Kinder beim 3D-Modellieren (links) und beim Beobachten des 3D-Druckvorganges (rechts)

Fotos: Dominik Hornung.

Als methodischer Rahmen für unsere Forschungsaktivitäten wurde Participatory Action Research, kurz PAR, ausgewählt, welche Handlungen (action) – hier die

22 Rohde, Markus: Find what binds. Building social capital in an Iranian NGO community system. In: Huysman, Marleen/Wulf, Volker (Hg.): Social capital and information technology. Cambridge 2004, S. 75–112.

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Einführung des 3D-Druckers – unter aktiver Beteiligung von Forschenden einsetzt, um die systematische und empirisch fundierte Analyse von im Feld durchgeführten Interventionen zu ermöglichen.23 Konkret übernahmen die Siegener Forscher über einen Studienzeitraum von fünf Wochen an sechs Club-Terminen in al-Am’ari und Jalazone gemeinsam mit den TutorInnen die Moderation, wobei ihre Rolle insbesondere in der Demonstration des Druckers24 und der Einführung in das Werkzeug für die 3D-Modellierung25 bestand. Nach möglichst kurzen, gestenreichen26 Einführungen in die Funktionsweise der Drucker und in die 3D-Modellierung durften die Kinder grundsätzlich frei Projekte nach eigenem Ermessen durchführen, wobei die TutorInnen und die Forscher für Unterstützung, Feedback und andere Hilfe bereitstanden. Anzumerken ist, dass beim 3D-Druck – infolge der Verletzungsgefahr durch heiße und sich bewegende Bauteile sowie der relativ komplexen Software für den eigentlichen Druckvorgang – deutlich mehr Unterstützung und Aufsicht notwendig ist als bei der 3D-Modellierung. Meist fanden sich die Kinder in Gruppen von zwei bis vier Personen zusammen; insgesamt waren zirka 20 Kinder zwischen acht und 14 Jahren beteiligt; die Geschlechterverteilung war in etwa paritätisch. Wie bei allen come_IN-Aktivitäten war die Teilnahme freiwillig und wurde nicht entlohnt oder durch anderweitige Anreize unterstützt. Die Forscher führten neben den Aktivitäten in den Clubs auch informelle Interviews mit den TutorInnen, stellten in situ

23 Vgl. McTaggart, Robin: Principles for participatory action research. In: Adult Education Quarterly 41 (1991), H. 3, S. 168–187. 24 Verwendetes Modell: Printrbot Simple Maker’s Kit, ein einfacher und gut zu wartender 3D-Drucker, der Artefakte per Schmelzschichtung (oft finden sich hierfür auch Begriffe wie FFF oder FDM) aus einem Plastikdraht als Rohmaterial aufbaut. Es handelt sich hierbei um nur eines von vielen verschiedenen 3D-Druckverfahren, allerdings um jenes, auf dem faktisch alle Drucker ›für den Hausgebrauch‹ zum Studienzeitpunkt aufbauten. 25 Angesichts der guten Erfahrungen mit dem Computerspiel »Minecraft« in den deutschen come_IN-Clubs wurde beschlossen, »cubeteam.com« zu verwenden, da in diesem ebenfalls 3D-Modelle aus ›Bauklötzen‹ Lego-ähnlich und vor allem kollaborativ (also mit mehreren Personen in einer geteilten virtuellen Welt am gleichen Modell) erstellt werden können, es aber anders als »Minecraft« geringen Wartungsaufwand notwendig machte und kostenlos war. 26 Primär wurde mit Hilfe der Übersetzung von Freiwilligen aus dem come_IN-Kontext sowie mit Gestik und Mimik kommuniziert, da beide Feldforscher kein Arabisch sprachen und professionelle DolmetscherInnen nicht zur Verfügung standen.

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Rückfragen an die Kinder und führten in einem separaten Workshop, der auf besonderen Wunsch der TutorInnen organisiert wurde, auch die beteiligten Erwachsenen in den 3D-Druck ein. Die Forscher beobachteten die Aktivitäten, machten Foto- und vereinzelt Videoaufzeichnungen27 und verfassten Feldnotizen. Die Analyse dieser Notizen begann unmittelbar danach, insbesondere in Form erster gemeinsamer Inhaltsanalysen (Codierungen) und dem Anfertigen von Memos. Vor allem aber tauschten die Forscher täglich ihre Notizen aus und trugen damit der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit28 und der reflektierten Subjektivität als Forscher Rechnung.29 Auf zweiter und dritter Ebene wurden während der Studie mehrere virtuelle AnalyseSessions mit nicht an der Feldforschung beteiligten ForscherInnen an der Universität Siegen durchgeführt und diese Analysearbeit nach der Heimkehr fortgesetzt beziehungsweise erweitert. Darüber hinaus wurden noch im Feld sowie im Verlauf der späteren Analyse Rückfragen an die lokalen TutorInnen und den lokalen Koordinator des Projektes gerichtet und Ergebnisse sowie Interpretationen gemeinsam reflektiert und diskutiert – auch auf Basis von Beobachtungen der lokalen TutorInnen, die nach Abreise der Siegener Forscher durchgeführt wurden (beispielsweise zum weiteren Einsatz des 3D-Druckers). Alles in allem verstehen wir unsere Vorgehensweise bei der Datenanalyse als eine Form der (erweiterten) Thematischen Analyse (TA).30 Elemente des Grounded Theory-Forschungsparadigmas, auf dem auch die TA beruht, wurden für das Forschungsdesign sowie als epistemologischer Hintergrund verwendet (Forschungshaltung, interaktives und feldgetriebenes Vorgehen, Fallauswahl, Vergleiche etc.).31

27 Aus forschungsethischen Gründen wurden erst kaum Fotos und Videos aufgenommen; die Forscher passten sich den Praktiken der lokalen AkteurInnen an: Das Aufnehmen (vieler) Bilder und Videos (und häufig das Veröffentlichen und Teilen etwa über Facebook) war zum Zeitpunkt der Studie vor Ort eine übliche Praxis. 28 Diese bezieht sich auf den gesamten Forschungsprozess wie auf das Anwenden kodifizierter Auswertungsverfahren und die Arbeit in gemeinschaftlichen Analyseteams. 29 Vgl. hierzu u. a. Steinke, Ines: Gütekriterien qualitativer Forschung. In: Dies./Flick, Uwe/Kardorff, Ernst von (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek b. Hamburg 2010 (9. Aufl.), S. 319–331. 30 Braun, Virginia/Clarke, Victoria: Using thematic analysis in psychology. In: Qualitative Research in Psychology 3 (2006), H. 2, S. 77–101. 31 Vgl. Glaser, Barney G./Strauss, Anselm L.: The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative research. Aldine 1967; Strübing, Jörg: Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung eine pragmatistischen Forschungsstils. Wiesbaden 2014 (3., überarb. u. erw. Aufl.).

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E RGEBNISSE   Die Ergebnisse unserer Fallstudie wurden bisher in erster Line vor dem Hintergrund von Forschungsfragen aus Sicht der Computerunterstützten Gruppenarbeit (CSCW) und der Mensch-Computer Interaktion (HCI) interpretiert.32 Dies beinhaltete insbesondere Fragen nach den Auswirkungen der Aneignung technischer Artefakte auf kooperatives Handeln sowie die Ableitung entsprechender Gestaltungsprinzipien.33 In diesen Kernfeldern unserer Forschungsgruppe konnten wir auf Basis der Studie bereits erste Indikatoren dafür identifizieren und beschreiben, wie zukünftige Systeme für die 3D-Modellierung und den 3D-Druck möglichst nutzerfreundlich und lernfördernd zu gestalten sind und wie der 3D-Druck in Diskurse unserer jeweiligen Disziplinen einzuordnen wäre. Weiters haben wir ein besonderes Augenmerk auf die Analyse der konkreten Bildungsarbeit in Konfliktzonen gelegt (»3D printing as a means for participation in developmental settings«).34 Im Zuge dessen sind besonders Hinweise im Datenmaterial darauf relevant, dass im 3D-Druck gerade für die Arbeit mit Kindern Potenziale im Bereich des Selbst-Ausdrucks sowie des Erzählens und Aufarbeitens von Geschichten bestehen. Hierbei ist besonders die große Bedeutung von Individualisierung und Materialisierung – damit auch die Unabhängigkeit von Internet und anderen Technologien bezogen auf das kreierte Artefakt – in Kontexten mit problematischer Infrastruktur hervorzuheben. Zwar ließen sich funktional-industrielle Projekte (man denke etwa an das Ausdrucken von Prothesen oder Ersatzteilen wie sie im Kontext der Maker-/DIYKultur oft beschrieben werden) im unmittelbaren Kontext unserer Studie zunächst nicht beobachten. Das Interesse an solchen Projekten, insbesondere zur Ersatzteileversorgung in den Flüchtlingslagern, wurde jedoch explizit geäußert und auch nach Abreise der Siegener Forscher wurde weiter mit dem Drucker experimentiert, der im Lager verblieben war. 2015 haben sich mit come_IN bekannte und an Zusammenarbeit interessierte AktivistInnen vor Ort zusammengetan, um selbst

32 Wichtige Konferenzen aus unseren Disziplinen sind vor allem die internationale ACM SIGCHI conference on human factors in computing systems (CHI, www.sigchi.org/) sowie die European conference on computer-supported cooperative work (ECSCW, http://www.ecscw.org/, Zugriff: 15.7.2016). 33 Stickel, Oliver u. a.: 3D printing with marginalized children – An exploration in a Palestinian refugee camp. In: Boulus-Rødje u. a. (Hg.): ECSCW 2015: Proceedings of the 14th European conference on computer supported cooperative work. Heidelberg 2015, S. 83–10. 34 Stickel u. a.: 3D printing 2015, S. 368–375.

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einen Hackspace35 zu gründen und mittlerweile gibt es erste Aktivitäten, um DIYProthesen zu realisieren.

P RAXISTHEORIE  IM   Z USCHNITT  DER   F ALLSTUDIE   Im Folgenden konzentrieren wir uns auf rahmengebende Aspekte, denen in unserem Projekt bisweilen nur wenig Platz eingeräumt worden ist. Die für come_IN und unsere Studie maßgebliche Denkrichtung ist eine praxistheoretisch geprägte Perspektive auf die Erforschung und Gestaltung von Technologien, die unsere Kollegen Markus Rohde, Peter Brödner, Gunnar Stevens, Matthias Betz und Volker Wulf unter dem Begriff Grounded Design zusammengefasst und beschrieben haben: »While tools and techniques may support social practices, their purposively shaped functions need to be adopted and activated by the actors to become effective in practice.«36 Demnach ist jede technologische Entwicklung stets im Zusammenhang mit den sozialen Praktiken im jeweiligen Feld zu sehen (und folglich zu beschreiben und zu analysieren), die durch die Einführung von Technik irritiert, verändert oder gar neu erzeugt werden. Da im alltäglichen Rollenverständnis meist zwischen denjenigen, die eine Technologie gestalten (hierzu gehören auch Forschung und Entwicklung) und denjenigen, die sie letztlich benutzen, unterschieden wird, kommt insbesondere in der Nutzung (sozio-)technischer Systeme häufig ein Widerspruch auf: Die Praktiken, die Lebens- und Gedankenwelt der Gestaltenden sind nicht deckungsgleich mit denen der (Be-)Nutzenden und das Ergebnis sind möglicherweise unbeabsichtigte negative technische und soziale Auswirkungen.37 Diese Rollendefinitionen greifen also zu kurz beziehungsweise generalisieren zu stark. Gestalter- und Anwender- sowie Laien- und Expertenwissen können sich durchaus unterschiedlich gestalten, unterliegen mit zunehmender Praxis und gerade im eigenen kreativen Gestalten dynamischen Veränderungen, weshalb hier als alternativer Zugang das Grounded Design vorgeschlagen und verfolgt wird:

35 Dies ist meist ein offener, gemeinschaftlich gestalteter Raum, den come_IN-Clubs prinzipiell nicht unähnlich, in dem mit Technologie und Kreativität aller Art experimentiert wird, häufig zusammenhängend mit Bestrebungen nach Autonomie/Freiheit in dem jeweiligen Umfeld. 36 Rohde, Markus u. a.: Grounded design – a praxeological IS research perspective. In: Journal of Information Technology (2016). doi:10.1057/jit.2016.5, http://link.springer. com/article/10.1057/jit.2016.5 37 Ebd.

162   |  O LIVER   S TICKEL  UND  ANDERE   »Grounded Design is applied in case studies which conceptually reconstruct the social practices observed before and during the design and appropriation of innovative IT artifacts. It reassembles well established research methods such as ethnographical field studies, participatory design, and action research. To support the transferability of its situated findings, Grounded Design suggests building an extendible knowledge base by documenting increasing numbers of design case studies. Such design case studies depict how certain design and appropriation achievements work under specific context conditions and can guide IT design.«38

Wie aus dem Zitat hervorgeht, sind hier ausdrücklich auch Forschungsmethoden vorgesehen, die Mehrfachrollen erlauben, beispielsweise als aktiv ›im Feld‹ agierende und gleichzeitig forschend tätige Person, wie in unserer Fallstudie geschehen. Dies leitet sich letztlich aus der Kritik an vorgeblich klaren Rollentrennungen im Gestaltungsprozess soziotechnischer Systeme her.39 Mehrfachrollen führen jedoch auch zu Einschränkungen hinsichtlich Gültigkeit und Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse. Um den Bogen zu den nun folgenden Diskussionspunkten zu spannen, sei erwähnt, dass in kritischen Diskursen aus der Forschung im Bereich ICT4D (Information and Communication Technology for Development) immer wieder auf die große Bedeutung einer engen, partizipativen Zusammenarbeit von Forschenden und ›Beforschten‹ hingewiesen wird.40 Unter praxistheoretischem Blickwinkel wird nicht von ›ICT‹ gesprochen, sondern von soziotechnischen Systemen; folglich betrachten wir come_IN und unsere Fallstudie auch nicht unbedingt als ICT4D-Projekt. Weitere Perspektiven, auch aus der (kritischen) ICT4D, werden wir in den folgenden Abschnitten mit Aspekten der Diskussion unserer Fallstudie – mit KollegInnen, aber explizit auch mit Nicht-AkademikerInnen – zusammenbringen.41

38 Ebd. 39 Ebd. 40 Vgl. z. B. Winschiers-Theophilus, Heike/Zaman, Tariq/Yeo, Alvin: Reducing »white elephant« ICT4D projects: A community-researcher engagement. In: Avram, Gabriela/ De Cindio, Fiorella/Pipek, Volkmar (Hg.): Proceedings of the 7th international conference on communities and technologies. New York 2015, S. 99–107. 41 Wir beziehen uns in unserer Kritik in erster Linie auf Inhalte des Workshops »Researching for change in a globalising asymmetric world« (Aarhus, 2015), der den nach unserem derzeitigen Kenntnisstand aktuellsten Versuch darstellt, einen globalen Überblick über kritische Positionen zu ICT4D und anderen ›4D‹-Aktivitäten zu gewinnen.

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B ILDUNGSGERECHTIGKEIT  UND   E NTWICKLUNGSCHANCEN   Wie die ICT4D-Forscherin Dorothea Kleine kritisiert,42 bleibt das ›D‹ in »ICT4D«, also das Entwicklungsziel, häufig zu eindimensional fokussiert auf das ›T‹, also auf Technologien. Kleine fordert holistischere und partizipative Ansätze und schlägt Amartya Sens Capability Approach (Befähigungsansatz) als Leitbild für ICT4D-Aktivitäten vor. Sens Zugangsweise definiert den Wohlstand eines Individuums oder einer Gesellschaft über mehrere Dimensionen von Verwirklichungschancen wie politische Freiheit oder soziale Chancen wie Bildung. Diese sollen letztlich dazu führen, eine grundlegende Freiheit im Sinne eines selbstbestimmten Lebens zu ermöglichen. Deutlich grenzt sich der Capability Approach hier von simpleren Modellen ab, in denen der Wohlstand in erster Linie über das Einkommen definiert wird.43 Ähnliche Aspekte, nämlich die Kritik an einer (zu) technikfokussierten Herangehensweise sowie Unklarheiten darüber, was genau denn nun das ›D‹ sei, wurden auch im Kontext unserer Fallstudie thematisiert. Zunächst kann festgestellt werden, dass das übergeordnete Ziel in come_IN grundsätzlich darin besteht, zu erforschen, wie Bildungsgerechtigkeit verstanden und möglicherweise hergestellt werden kann. Die Mittel der Wahl haben häufig etwas mit Informationstechnologien zu tun, was vor allem an deren vielschichtigem Potenzial im Kontext ›Bildung‹ liegt und keinesfalls eine dogmatische Beschränkung darstellt. In unserer Untersuchung fanden beispielsweise Stift und Papier und andere nicht computerisierte Werkzeuge Anwendung für Skizzen, zur Ideenfindung oder später zur Modifizierung und weiteren Individualisierung der Projekte. Sowohl das Forschungsziel als auch unsere offene Methodik, die sich maßgeblich aus den Grundprinzipien des Grounded Design ableitet, ist nach Maßgabe zeitgemäßer Modelle zur Beurteilung des gesellschaftlichen Wohlstandes dazu geeignet, Bildungsgerechtigkeit und Verwirklichungschancen nachhaltig zu verbessern. Da Entwicklungsziele holistisch betrachtet werden müssen, ergab und ergibt sich eine Vielzahl verwandter Anliegen, die eigene Wichtigkeit erhalten und die

Ziel ist nicht, einen vollständigen Überblick über die Diskurse in ICT4D zu geben, sondern einzelne Aspekte dieser Diskurse, die für unsere Fallstudie relevant sind, aufzugreifen. 42 Kleine, Dorothea: People-focus, sustainability, diversity and respect: For a better ICT4D research field. Researching for change in a globalising asymmetric world: A workshop at the critical alternatives conference (Aarhus, 2015), https://sites.google.com/site/reframing ictd/my-documents (Zugriff: 1.1.2016). 43 Vgl. Sen, Amartya: Development as freedom. Oxford 1999.

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ebenfalls soweit wie möglich in die Forschungsarbeit aufgenommen werden: Der Aufbau neuer Clubs ist ein Beispiel auf der Infrastrukturebene, ein weiteres stellt das Aufheben der Geschlechtertrennung dar, die am Anfang in den palästinensischen Clubs von ProjektpartnerInnen, aber auch TutorInnen gefordert und umgesetzt wurde. Im Laufe der Zeit und im Rahmen der Projektarbeit erodierte diese ›Ordnung‹ vor allem dank der Freude und der Motivation der Kinder, die sich nicht einschränken lassen wollten – auch nicht durch Top-down-Eingriffe, die mit hoher Wahrscheinlichkeit gescheitert wären: Anfangs waren die Club-Treffen zweigeteilt, der erste Zeitabschnitt war männlichen Teilnehmern vorbehalten, während der zweite für die weiblichen vorgesehen war. Die meisten Teilnehmer waren in die individuelle und gemeinsame Projektarbeit so vertieft, dass die Kinder des ersten Termins länger blieben, um ihre Projekte weiterzuführen. Nach einiger Zeit wurde die – auf diese Weise aufgeweichte – Zweiteilung sukzessive aufgegeben und schließlich fand nur noch eine gemeinsame Session für beide Geschlechter statt, die nicht mehr nur einstündig war, sondern um eine halbe Stunde verlängert wurde. Diese überraschende Entwicklung wurde von ProjektpartnerInnen und TutorInnen positiv aufgenommen und für zukünftige Club-Treffen als neue Form akzeptiert. Die wissenschaftliche Reflexion solcher Phänomene ist Teil des Selbstverständnisses von come_IN und ergibt sich letztlich aus den ausgeführten Prinzipien von Grounded Design.

M ACHTVERTEILUNG :   B UNGEE   R ESEARCH     UND  KOLONIALE   V ORGEHENSWEISEN   Bungee Research44 ist eine der möglichen Bezeichnungen für das Anreisen externer Forscher zur Klärung bestimmter Forschungsfragen und ihre Abreise unmittelbar nach Abschluss der Forschungsarbeit. In bestimmten ›Entwicklungskontexten‹ haben sich in diesem Zusammenhang spezifische Praktiken und teilweise auch (ökonomische) Abhängigkeitsverhältnisse ausgebildet. In jedem Falle aber sind solche Vorgehensweisen problematisch für die Akzeptanz, das Vertrauen und Verstehen ›im Feld‹. Wichtiger Bestandteil unseres Projektes war daher, auch unsere eigenen Aktivitäten – eine fünfwöchige Studie zweier Forscher zu Gast in Palästina – aus dieser Perspektive kritisch zu reflektieren. Wie die Computerwissenschaftlerin und Projektentwicklerin Shikoh Gitau und andere herausstellen,

44 Vgl. Dearden, Andy/Tucker, William D.: The ethical limits of bungee research in ICTD. In: IEEE International symposium on technology and society. Dublin 2015, S. 1–6.

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sind problematische Faktoren der extrem privilegierte Status der externen Forscher, deren Konzentration auf kurze Fallstudien ohne längerfristiges Engagement sowie der eklatante Mangel an Integration lokaler Forschender in den weiteren wissenschaftlichen Prozess.45 Unter Verweis auf die Erläuterungen zu come_IN sowie zur praxistheoretischen Verankerung sollte deutlich werden, wie sehr wir dieser Kritik an Bungee Research zustimmen: Langfristige Zusammenarbeit und das partizipative Abstecken von Erkenntnisinteressen sind nicht nur aus zwischenmenschlicher Sicht angemessen, sondern entsprechen auch unserer Forschungshaltung, insbesondere im Kontext der Entwicklung soziotechnischer Systeme. Forschungsreisen im Rahmen von come_IN sind von gegenseitigem Respekt geprägt und finden vor allem nicht nur in eine Richtung statt. Wann immer finanziell und organisatorisch (sowie gegebenenfalls politisch) möglich und entsprechend des jeweiligen Forschungszusammenhanges zielführend, kommen auch Gäste aus Palästina nach Deutschland.46 Die mangelnde Integration lokal Forschender in die Analyse und Publikation von Bungee-Fallstudien ist ein Problem, das sich auch uns stellt. Die gängigen

45 Gitau, Shikoh u. a.: African ICTD research (or the lack thereof). In: Researching for change in a globalising asymmetric world: A workshop at the critical alternatives conference (Aarhus, 2015), https://sites.google.com/site/reframingictd/my-documents (Zugriff: 1.1.2016). 46 Nicht zuletzt auf Basis der Fallstudie zum 3D-Druck und dem gegenseitigen Interesse an weiteren Aktivitäten rund um die Maker-Kultur und DIY wurde gemeinschaftlich ein – mittlerweile bewilligtes – Anschlussprojekt aufgesetzt. Es beinhaltet einen Studierendenaustausch zwischen den Universitäten von Birzeit und Siegen sowie eine reflexive Begleitung dieses Austausches und der entstehenden Studierendenprojekte. Im Rahmen der bereits durchgeführten ersten Austauschphase in Palästina haben die Studierenden in international gemischten Teams eigenständig lokale Zustände und Gegebenheiten in Ramallah und der näheren Umgebung analysiert und in – nicht zwangsweise IT-basierten – lokalen Interventionen umgesetzt. Diese Interventionen umfassen beispielsweise ein Urban-Gardening-Projekt direkt neben einem der Clubs im Flüchtlingslager und das Experimentieren mit essbarem Besteck, hergestellt unter Zuhilfenahme von 3D-Druck-Technologien. In der kommenden Austauschphase in Deutschland werden die Studierenden wiederum die lokalen Gegebenheiten in Siegen und Umgebung als Ausgangspunkt für ihre nächsten Projekte nutzen, wodurch das Verhältnis von externen und lokalen ForscherInnen bzw. ForscherInnen und im Forschungskontext Lebenden verschoben wird. Auch dieses Projekt ist ein weiterer Baustein in den Bemühungen um langfristige Strukturen und einer Kommunikation auf Augenhöhe.

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Formate der Forschungsförderung stehen einer paritätischen Machtverteilung üblicherweise entgegen und internationale Konferenzen sowie andere wissenschaftliche Foren zum Austausch und zur Wissensbildung sind oftmals teuer und somit vor allem für die PartnerInnen aus Palästina kaum zugänglich. In unserem Falle aber sind in mehreren Veröffentlichungen im Kontext von come_IN internationale AkteurInnen Haupt- oder MitautorInnen und dementsprechend auch auf Konferenzen vertreten.47 Auch an den Analysen und Reflexionen sind grundsätzlich lokale AkteurInnen beteiligt. Darüber hinaus findet vor Ort in den palästinensischen Clubs Forschung statt, ohne dass deutsche Forschende direkt daran beteiligt wären (die dann aber gegebenenfalls wiederum für Analyse und Reflexion herangezogen werden). Wir möchten dies explizit nicht als ideale Situation darstellen – allein durch die größere Zahl wissenschaftlichen Personals in Deutschland ist eine deutliche Ungleichverteilung gegeben. Wir versuchen aktiv, dies durch die Etablierung weiterer internationaler Clubs und das Initiieren von Forschungspartnerschaften auszugleichen, allerdings schätzen wir unseren Bottom-up-Ansatz als notwendigerweise sehr langfristige Unternehmung ein. Ein schnellerer Ausgleich solcher Machtverhältnisse wäre nur dann möglich, wenn sich Praktiken in der Forschungsförderung, insbesondere aber auch in den etablierten Strukturen wissenschaftlicher Meinungsbildung – Review-Verfahren, Rankings, Konferenzorganisation und -formate, finanzielle und organisatorische Gepflogenheiten – substanziell ändern würden, wofür sich kaum Anzeichen erkennen lassen. Fragen und Kritik rund um Kolonialismus und Kapitalismus48 werden im Bereich ICT4D immer wieder thematisiert – einschlägige Kritik wurde auch im Umfeld unserer Fallstudie geäußert. Zu Recht werden Forschende kritisiert, die sozioökonomisch und soziopolitisch problematische Kontexte für die Forschung instrumentalisieren. Die Vorstellung vom mildtätigen, aber klar überlegenen Teil der Welt, der bedürftigen und ebenso klar unterentwickelten Menschen hilft, ›weiterzukommen‹ – wie sie sich am inzwischen glücklicherweise abgelösten Begriff ›Entwicklungshilfe‹ kondensierte –, wird ebenso berechtigt kritisiert. Hierzu ist

47 So z. B. im Falle von Yerousis, George/Aal, Konstantin/von Rekowski, Thomas/Randall, Dave/Rohde, Markus/Wulf, Volker. Computer-enabled project spaces: Connecting with Palestinian refugees across camp boundaries. In: Begole, Bo u. a. (Hg.): CHI 15: Proceedings of the 33rd Annual ACM conference on human factors in computing systems. Seoul 2015, S. 3749–3758. 48 Stellenweise ist möglicherweise auch Kritik an einem (ausufernden) Korporatismus gemeint, also dem Einbezug gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Organisationen in die politische Willensbildung.

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festzustellen, dass eine praxistheoretische Forschungsperspektive und derlei abwertende Vorstellungen einander gegenseitig ausschließen. Grounded Design macht sehr deutlich, dass die Generalisierung soziotechnischer Entwicklungen ein nichttriviales und multidimensionales Problem darstellt. Jeder Kontext ist spezifisch und Generalisierungen sind nur ausgesprochen vorsichtig auf Basis systematisch aufgebauter Fallstudien möglich. Mit Blick auf die beschriebene Fallstudie ist beispielsweise einer der soziopolitischen Kontextfaktoren, dass die einzigen Schulen in den Flüchtlingslagern UNfinanzierte und deutlich überlastete Einrichtungen sind, die wegen Ressourcenmangels und einem engen, politisch und bürokratisch eingeschränkten Handlungsraum de facto keine Chance haben, experimentelle Lehrformate und -inhalte auszuprobieren. Sie sind also üblicherweise beschränkt auf konservativ strukturierte Unterrichtsformate und -inhalte, die möglicherweise nicht optimal für die Ausbildung kritischer, gegenüber kolonialistischen und anderweitigen Übergriffen resilienter Selbstverständnisse und Fähigkeiten bei den Lernenden sind. Demgegenüber bietet come_IN eine Plattform für pluralistische Herangehensweisen. Die Clubs wurden beispielsweise während Streiks in den UN-Schulen von Kindern in Eigeninitiative als alternativer Ort des Lernens aufgesucht, was ein gutes Beispiel für eigenständige, im Kern antikolonialistische Praktiken darstellt.

R ESÜMEE   Abschließend möchten wir kurz resümieren und in diesem Zusammenhang auch die Potenziale und Grenzen gestaltungsorientierter Forschung herausstellen. Etwa taucht die Frage nach den Auswirkungen von technischen Interventionen an verschiedenen Stellen in den Diskursen um ICT4D immer wieder auf und wird deshalb hier nochmals aufgegriffen.49 Dabei ist eine Vielzahl von Faktoren zu beachten, wie etwa das Anerkennen der Wirkmächtigkeit bestehender Strukturen im Vergleich zu – eher als prophetisch denn als revolutionär zu beschreibenden – technikbasierten Interventionen50 oder aber die Tatsache, dass Forschungs- und Gestaltungsarbeit in sensiblen, soziopolitisch instabilen Regionen auch methodisch sehr herausfordernd ist. Festhalten können wir nach derzeitigem Stand unserer Forschung, dass eine praxistheoretisch motivierte, qualitativ gestützte Herangehensweise an Interventionen mittels technologischer Komponenten nachhaltiger und zielführender ist als eine solche, die beispielsweise primär autoritativ top

49 Z. B. in Kleine: Position paper 2015. 50 Ebd.

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down angelegt ist. Gleichzeitig sehen wir es auch als realistisch an, dass (Computer-)Technologien großes Potenzial im Hinblick auf Bildungsgerechtigkeit bieten, vielleicht sogar grundsätzlich hinsichtlich einer fairen Gestaltung von Verwirklichungschancen. Damit gibt es – im Sinne von Modellen wie dem Capability Approach – auch politisch-ethische Gründe, die entsprechenden, sich bildenden soziotechnischen Systeme in realen Kontexten zu beforschen. Die Arbeit an und mit ihren Möglichkeiten ist in der Realität unserer Lebenswelt jedoch häufig von Machtungleichgewichten geprägt, die sich an den unterschiedlichsten Stellen manifestieren. Einige dieser Ungleichgewichte wurden im Vorangegangenen thematisiert – nochmals erwähnt sei hier nur beispielsweise der hochgradig problematische häufige Mangel an Beteiligung Forschender aus dem Umfeld der Forschungsfelder. Die Machtungleichgewichte führen nicht zuletzt zur Verzerrung der Perspektive auf das Ziel von Forschungsaktivitäten, wie die Genderforscherin Tigist Shewarega Hussen formuliert: »And this unequal power relation sustain the mindsets that the research is only meant to benefit the ›poor‹ and the ›vulnerable‹.«51 Mit dem come_IN-Modell sowie der zugrundeliegenden praxistheoretischen Forschungshaltung hat unser Forschungsteam ein Vorgehen entwickelt, das vielen dieser Probleme konstruktiv und kontextsensible begegnet. Probleme werden dabei nicht aufgelöst – selbst bezogen auf den Kontext von Forschungsaktivitäten nicht –, aber zumindest lassen sich auf dieser Basis einige Kritikpunkte im Kontext internationaler soziotechnischer Aktivitäten adressieren. Bezüglich einer realistischen Sicht muss jedoch noch angemerkt werden, dass im Rückblick Grounded Design und dessen Vorläufer eher im Rahmen längerfristiger (Forschungs-) Vorhaben erfolgreich sind. In schnellzyklischen Markt- und Projektrealitäten sind Langfristigkeit und Nachhaltigkeit leider häufig keine zentralen Kriterien, wenngleich es Ausnahmen gibt (z. B. Fair Trade etc.). Man findet diese Problematik auch in Palästina vor: Durch ›Entwicklungszusammenarbeit‹ und private InvestorInnen angestoßen, lässt sich aktuell beispielsweise wie an vielen Orten der Welt ein Fokus auf die Startup-Kultur nach Silicon-Valley-Schema beobachten. Am Vorbild dieser Bewegungen in den USA und Westeuropa orientieren sich leider auch häufig genau die (zu) stark technikfokussierten und simplifizierten oder schlichtweg instrumentalisierten Konzepte zu ICT4D. Grounded Design – zur Erinnerung: als allgemeine, praxistheoretisch motivierte Sichtweise auf Mensch und Technik als soziotechnische Systeme – bietet eine empirisch fundierte Perspektive zur Kritik an solchen Unzulänglichkeiten, ohne dabei fortschrittshemmend zu wirken. Diese Position ist robust genug, um nicht nur als reiner Denk-, sondern auch

51 Hussen: On clustering 2015.

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als Aktionsrahmen in verschiedensten Kontexten zu fungieren und ist schlussendlich auch von einer gewissen Bescheidenheit bezüglich der Wirkmächtigkeit von Technologie und Begrenztheit ihrer Übertragbarkeit geprägt. Grounded Design kann keinen moralischen Referenzrahmen oder ein sozioökonomisches, ausdifferenziertes Modell zur Einordnung von Entwicklung und Wohlstand ersetzen. Allerdings gibt es in anderen Bereichen unserer Forschung bereits Versuche, ethische Fragen direkter in Technikentwicklung zu integrieren und im Hinblick auf gegenseitige Interdependenzen zwischen gesellschaftlichen Referenzrahmen und den Einflüssen auf sowie durch technische Innovationen zu untersuchen. Dabei geht es insbesondere um Fragen nach der Explizierbarkeit von ethischen Aspekten im Rahmen der Technikentwicklung sowie der Herstellung und Einbeziehung von Öffentlichkeit bei gestaltungsorientierten Forschungsprojekten.52 Auch die hier vorgestellte Fallstudie ist grundsätzlich mit Ansätzen wie dem oben zitierten Capability Approach kompatibel und kann aus unserer Sicht deren Perspektive und Anwendungsfeld in nützlicher Weise für konkrete instrumentelle Freiheiten im Zusammenhang soziotechnischer Systeme öffnen und reflektieren.

52 Vgl. Liegl, Michael u. a.: Designing for ethical innovation: A case study on ELSI codesign in emergency. In: International Journal of Human-Computer Studies (2016), http://eprints.lancs.ac.uk/id/eprint/79097 (Zugriff: 22.7.2016).

Vorgelagerte  Selbstermächtigung   Autoethnografie  einer  dinglich-­digitalen  Bastelübung   B ENJAMIN E UGSTER UND R ICHARD S CHWARZ

    A BSTRACT :   R EADY -­ MADE   S ELF -­E FFICACY :   A UTOETHNOGRAPHIC  APPROACHES  TO  A   M ATERIAL -­ DIGITAL   E XERCISE  IN   A DVANCED   T INKERING   This article is aiming at a praxeological reflection of technologically demanding DIY practices. The article introduces and reflects on three small experiments involving a RaspberryPi and an Arduino microcontroller. These experiments were an integral part of the presentation at the conference preceding this book. In order to retain this interactive mode of presentation, the article takes on the shape of a tutorial as one of the most common ways of passing on technological and cultural knowledge on the web. The three experiments are all highlighting chances and limits of self-efficacy in the design of one’s own digital DIY project. Starting with a simple blinking LED lamp, the tutorial will advance to an arrangement that seeks to put the academic audience in control of the LED lamp via their own mobile devices. A critical reflection of our own doing accompanies the unfolding of the whole tutorial. This combination of factual description and the sometimes opposing view of these apparently simple steps bring a key component of digital DIY practices to the fore: rather than doing it yourself, complex digital infrastructures enable one’s own feeling of self-efficacy by »doing it for you«. Hence, the article shows how the material and technological premises largely outweigh our own involvement in the production. By doing so, this interactive tutorial will hopefully convey the unique blend of this ready-made self-efficacy and our actual shaping of technologies that is essential for digital DIY practices.

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R EADME . TXT   Dieser Beitrag versteht das Akronym DIY als methodischen Aufruf zum Selbermachen als einem Bestandteil des wissenschaftlichen Selbstverständnisses: Do it yourself bedeutet aus methodischer Sicht konkret, die analysierten Tätigkeiten selbst mitzuerleben, um sie beschreiben zu können. Die Einstiegshürden zu bestimmten Praktiken setzen bereits einen ersten Erkenntnisprozess in Gang: Um sich für etwas so sehr zu interessieren, dass man es selbst gestalten möchte, ist ein hochgradig spezifisches Wissen notwendig, das auf Anfänger und Außenstehende schnell abschreckend wirken kann. Abseits von diesen erforderlichen Wissensbeständen, die zur Findung eines eigenen Projektes notwendig sind, kommt das objektiv schwer fassbare implizite Wissen im Selbermachen zum Ausdruck. Für das Hervorlocken und Beschreiben dieses impliziten Wissens (tacit knowledge) eignet sich eine autoethnografische Herangehensweise besonders gut.1 Obwohl sich Autoethnografien in den meisten Fällen sowohl mit einer längeren Dauer der Beobachtung als auch mit umfassenden Lebensbereichen beschäftigen,2 kann gerade die Reflexivität und die sinnliche Dimension des autoethnografischen Forschungsprozesses für das Verständnis von kulturellen Praktiken der Digitalisierung nutzbar gemacht werden. Die EthnografInnen Tony Adams, Stacy Jones und Carolyn Ellis formulieren sechs wesentliche Eigenschaften des autoethnografischen Forschungsdesigns, die – mit den Fragen nach der Selbstbezüglichkeit und der Praxeologie von DIY – zwei zentralen Forschungsdesideraten in der DIY-Forschung zugeordnet werden können. Zum einen sind das Hervorheben von persönlicher Erfahrung (1.), das Illustrieren von Praktiken der Sinnstiftung (2.) und das Nutzen und Zeigen von Reflexivität (3.) Mittel, um das selbstbezügliche Handeln und Denken zu verstehen, welches das ›Selber‹ im Selbermachen ausmacht (Desiderat I). Zum anderen kann dieser Selbstbezug zwischen den materiellen Praktiken und den übergeordneten kognitiven und sozialen Praxen des Selbermachens nachvollzogen werden (Desiderat II), indem Insiderwissen von kulturellen Phänomenen und Erfahrungen

1

Vgl. Potenzial der autoethnografischen Erforschung von tacit knowledge bei Antony, Alexander: Tacit knowledge and analytic autoethnography. Methodological reflections on the sociological translation of self-experience. In: Adloff, Frank/Gerund, Katharina/ Kaldewey, David (Hg.): Revealing Tacit Knowledge. Embodiment and Explication. Bielefeld 2015, S. 139–167; Etherington, Kim: Becoming a reflexive researcher – using our selves in research. London 2004, S. 178.

2

Zum Vergleich zwischen Autobiografie und Autoethnografie Reed-Danahay, Deborah: Auto/ethnography. Rewriting the self and the social. Oxford/New York 1997, S. 8 f.

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illustriert (4.), kulturelle Praktiken beschrieben (5.) und eine Reaktion der Leserschaft gesucht (6.) werden.3 Mit diesem reflexiven Vorgehen der Autoethnografie versuchen wir nicht nur der technologischen Komplexität des Machens, sondern auch der sozialen Konstituierung des Selbermachens gerecht zu werden. Die Unterscheidung zwischen Praxis und Praktik ist hier zentral im Verständnis, inwiefern sich dieses Selbermachen von anderen Formen des Machens unterscheidet. Die unterschiedlichen Ebenen des Selbermachens teilen sich in dieser Beschreibung auf in die einzelnen Praktiken des Machens, die mit tausend technischen Details verbunden sind, und der übergeordneten sozial konnotierten Praxis des betonten Selber-Machens. Wie sehr diese Ebenen von unterschiedlichen Formen der sprachlichen und damit auch sozialen Normierung geprägt sind, zeigt der schwedische Ethnologe Billy Ehn in seiner autoethnografischen Erforschung von Heimwerkerarbeiten. An einer konkreten Situation – dem Selberbauen eines Lattenrosts für das Bad – führt er drei unterschiedliche Modi des Schreibens über die eigenhändig ausgeführte Tätigkeit aus: eine spezifische Beschreibung, die sich den rein technischen Abläufen widmet, eine informelle Beschreibung, die Handlungen teilweise auch in ihrer Banalität zu erfassen weiß, und eine akademische Schreibweise, die die analytische Einordnung von situationsspezifischen, einzelnen Handlungsschritten in größere Sinnzusammenhänge zulässt.4 Dadurch fungiert diese Vielschichtigkeit als Bindeglied zwischen einer auf Einzelhandlungen fokussierten Handlungstheorie und der Praxistheorie, die in größeren Sinnzusammenhängen verhaftet ist.5 Dieser Ansatz wird sich im Folgenden auch auf die Art des Schreibens sowie den Prozess des Lesens auswirken, indem die formale Beschreibung des technischen Vorgehens eng verflochten wird mit der Reflexion des sozialen und technologischen Handelns. Mit der Textsorte des Tutorials haben wir eine Form der Tradierung von DIY-Praktiken gewählt, die charakteristisch für das Selbermachen als einer mehrfach mediatisierten Praxis ist. Dies zeigt sich bereits bei Manifesten als diskursive Medien, in denen sich die einzelnen Bestandteile eines DIY-Ethos verdichten. 6 So wird das Weitergeben von eigenem Wissen und eigenen Erfahrungen

3

Adams, Tony/Jones, Stacy/Ellis, Carolyn: Autoethnography. An Overview. Oxford u. a. 2015, S. 26.

4

Ehn, Billy: Doing-It-Yourself. Autoethnography of manual work. In: Ethnologia Europaea 41 (2011), H. 1, S. 53–63, S. 55 f.

5

Vgl. Schulz-Schaeffer, Ingo: Praxis, handlungstheoretisch betrachtet. In: Zeitschrift für Soziologie 39 (2010), H. 4, S. 319–336, S. 326.

6

Neben dem »Maker Movement Manifesto« erweisen sich auch folgende Manifeste als aussagekräftige Quellen des mediatisierten DIY-Ethos: Lisa Anne Auerbach: Don’t do

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prominent als zweiter Punkt des »Maker Movement Manifesto« postuliert: »Sharing what you have made and what you know about making with others is the method by which a maker’s feeling of wholeness is achieved. You cannot make and not share.«7 Die Kommunikation des eigenen Handelns nimmt auf allen drei von Ehn beschriebenen Ebenen (also der spezifischen, der informellen und der akademischen) eine elementare Rolle ein, das Selbermachen von dem einfachen Machen abzuheben. Dabei ist es unerheblich, ob dies nun auf der spezifischen Ebene das detaillierte Festhalten von Arbeitsschritten, das diskursive Inszenieren des eigenen Selbstverständnisses auf der informellen Ebene oder aber auf der akademischen Ebene die intellektuelle Legitimation des eigenen Tuns mittels Anleihen aus Diskursen über gegenkulturelle Phänomene erfolgt: Das Selbermachen lässt sich nicht von seinem medialen und mediatisierten Kontext lösen. Der Prozess der Mediatisierung dieser Praktiken ist daher nicht nur bezeichnend für technologisch komplexere Formen der Selbstermächtigung – wie die erste Kapitelüberschrift dieses Beitrags suggeriert8 –, sondern er gilt allgemein für Praktiken, die sich zur Kommunikation und Dokumentation des eigenen Machens medialer Infrastrukturen bedienen. Im Folgenden beschreiben wir eine Experimentalanordnung, die anlässlich der Wiener Tagung »Do it! Yourself? Fragen zu (Forschungs-)Praktiken des Selbstmachens« die Wanderung auf dem schmalen Grat zwischen inszenierter und tatsächlicher Selbstwirksamkeit versucht hatte. In Anlehnung an den Stil populärer Tutorial-Plattformen, wie zum Beispiel Adafruit Learning System9 oder Instructables,10 geben wir dem folgenden Tutorial mit »Connecting a LED to an academic audience is easier than you think!« einen Titel, der unserer Absicht entspricht, die komplexe Verflechtung von rhetorisch sowie technologisch bestimmten Formen der Selbstermächtigungen mit dem ›tatsächlichen‹11 Selbermachen

it yourself! (= Studienhefte Problemorientiertes Design 2). Hamburg 2012 (Orig. 2008);   Faythe Levine: Handmade nation. The rise of DIY, art, craft, and design. Princeton 2008, »Craftifesto«. 7

Hatch, Mark: The maker movement manifesto: Rules for innovation in the new world of crafters, hackers, and tinkerers. New York/London 2013, S. 1.

8

»Readme.txt« ist eine Textdatei, die vielen Installationsdateien als digitale Packungsbeilage beiliegt und dokumentiert, wie das Programm ohne unerwünschte Nebenwirkungen installiert werden kann.

9

https://learn.adafruit.com/ (Zugriff: 20.9.2016).

10 http://www.instructables.com/ (Zugriff: 20.9.2016). 11 Dem Verständnis von DIY geht ein seltsam positivistisches Verständnis von Praktiken voraus, das insofern nicht selten Ähnlichkeiten mit empirischen Forschungsparadigmen

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nachvollziehbar zu machen. Neben der technischen Spezifizierung des anvisierten elektronischen Unterfangens wird von Erstellern der Tutorials die Eingängigkeit der Anweisungen betont – was sich, gemessen am Grad der Komplexität, als bloße Farce erweisen kann. Wir greifen dieses Versprechen der Leichtigkeit auf, das mitunter als Aufforderung wirksam wird, und wollen demgegenüber zum Selbermachen und Selbstbeobachten einladen. Dabei betonte die interpassive Versuchsanordnung die Potenzialität des Handelns, indem die ZuschauerInnen sich innerhalb der von uns inszenierten Bastelübung über das Fernsteuern eines Gerätes der Technik selbst ermächtigen konnten. 12 Um die Verbindung zwischen dem akademischen Publikum und einer Leuchtdiode (LED) herzustellen, hatten wir ein Arduino Board und ein RaspberryPi ausgewählt. Diese beiden elektronischen Artefakte13 sind seit den ersten Produktserien – Arduino 2005 und RaspberryPi 2012 – in vieler Munde und haben über die Popularisierungen in Magazinen wie »Make« oder »Wired«14 etlichen die Welt

aufweist, als sich beide aus der ›Eigentlichkeit‹ des betont individuellen Handelns und der ›Tatsächlichkeit‹ des untersuchten oder hervorgebrachten Materials zusammensetzen. 12 Das Beobachten von Prozessen des Selbermachens entspricht Robert Pfallers philosphischem Konzept der Interpassivität, einem Handlungspotenzial, das weder passiv noch interaktiv in dem Sinne ist, dass die eigentliche Tätigkeit direkt ausgeübt würde. Insofern ist das Betrachten der Bastelübung, die man theoretisch zu einem späteren Zeitpunkt nachspielen könnte, vergleichbar mit dem Film, den man aufzeichnet, aber vielleicht nie ansehen wird. Vgl. Pfaller, Robert: Ästhetik der Interpassivität. Hamburg 2008, S. 17; Kwastek, Katja: Aesthetics of interaction in digital art. Cambridge, Mass./ London 2013, S. 96. 13 Die Dinglichkeit der digitalen Artefakte nimmt in der praktischen Auseinandersetzung einen zentralen Stellenwert ein, da mit den eigenen Händen die Vorstellung einer rein virtuellen Digitalität dekonstruiert werden kann. Eine ausführliche Diskussion dieser Form der »material agency« in Bezug auf digitale Gestaltungsprozesse ist zu finden in: Sauer, Sabrina: Material agency in user-centred design. High school students improvising (with) smart sensor prototypes. In: Digital Culture & Society 1 (2015), H. 1, S. 187–210. 14 2006 titelte die Online-Plattform der Zeitschrift »Make« »PC to real world interfacing USB board« und brachte damit die eigentliche Neuerung der Microcontroller so auf den Punkt, dass sie eine Verbindung zwischen der vermeintlich virtuellen Welt der Software und Programmskripte mit der »echten Welt« der Dinge herstellen können. Im darauffolgenden Jahr betonte das Technologie-Magazin »Wired« dieselbe Fähigkeit von Arduino, in die reale Welt der (bisher) unbelebten Dinge einzugreifen und Dinge wortwörtlich »zum Reden zu bringen«. Baichtal, John: GeekDad Review: Making Things

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der Schaltkreise und Transistoren etwas zugänglicher gemacht. Ein Arduino Board15 ist ein programmierbarer Mikrocontroller. Mit dessen Hilfe lassen sich Sensoren auslesen, Motoren schalten und komplexere Schaltkreise entwickeln. Populär ist das elektronische Werkzeug in Feldern, in denen Personen diese Elektronik für ihr Metier oder einfach für sich entdecken, wie zum Beispiel im Design, in der Kunst oder in der Werkstatt zu Hause. Der RaspberryPi ist ein Einplatinenrechner und im Grunde das, was bei einem Smartphone durch das Display versteckt wird. Wegen seiner geringen Kosten von rund 30 Euro, kommt er unter anderem in Schulen zur Anwendung, um Kindern die Annäherung an den Computer als ›Werkzeug‹ zu ermöglichen und das Programmieren einzuüben. Die Auseinandersetzung mit diesen beiden ›Dingen‹, der Arduino Community16 aus Tutorial-Schreibern, Ratsuchenden in Foren, Präsentatoren der eigenen Werke auf Plattformen und das Lesen und teilweise Nachvollziehen dieser Beiträge führte zur folgenden Versuchsanordnung, die nicht auf die Lösung eines Alltagsproblems abzielt,17 sondern unter maximalem Eigenaufwand einen minimalen aber doch bemerkenswerten Effekt erzeugt. Den Prozess hin zum Ergebnis präsentierten wir den TeilnehmerInnen der Tagung, indem die Schritte der Bastelübung kommentiert, teilweise mit zeitlicher Raffung durch die vorgelagerte

Talk. In: Wired online (11.8.2007), http://www.wired.com/2007/11/geekdad-review-5 (Zugriff: 12.9.2016). 15 Obwohl das Arduino Board als Open Hardware online zugänglich ist und selbst gebaut werden könnte, ist die Herstellung der Boards ein Thema für kommerzielle Unternehmen (mit einer Vielzahl an Produktnamen); siehe dazu: Senese, Mike: Arduino announces new brand, Genuino, manufacturing partnership with Adafruit (16.5.2015). In: Make: We are all Makers, http://makezine.com/2015/05/16/arduino-adafruit-manufacturinggenuino/ (Zugriff: 1.1.2016). Ungeachtet dessen verwenden wir die Bezeichnungen »das Arduino Board« oder »das Arduino«. 16 Zur Verbreitung von Arduino-PraktikerInnen als »community of practice« innerhalb der »DIY/hobbyist community« siehe: Löwgren, Jonas/Reimer, Bo: Collaborative media. Production, consumption, and design interventions. Cambridge, Mass./London 2013, S. 113 f. 17 Im Überblick der Aufgaben, die sich Tutorials stellen, scheint der Fokus auf Problemlösungen gerichtet, die der Alltag selten fordert. Das ›Alltägliche‹ der Lebensführung (Dübel setzen, Socken stopfen, Teig kneten …) scheint nicht berichtenswert, in der Menge der Suchergebnisse untergegangen oder erfolgreich ausgelagert.

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Selbstdokumentation18 mitverfolgt und die LED letztlich vom Publikum über dessen eigenes Zutun via Smartphones oder Laptops ein- und ausgeschaltet werden konnte. Die Präsentation stellte das eigene Tun und die Auseinandersetzung mit DIYPraktiken aus: das Hantieren mit ›Dingen‹, das Lesen von Handlungsanweisungen, das Entdecken von Zusammenhängen, das Beantworten von Fragen (durch einen selbst oder durch andere), das Gefühl der Selbstwirksamkeit und in erster Linie aber auch die Frage danach: Was mache ich da eigentlich? Auch dieser Text widmet sich diesem Prozess auf der Ebene seiner Ausführung. Ähnlich dem Vortrag, in dem eine Kombination aus digitalen und analogen Alternativen zu Power Point mittels Webcam, Notizblättern und einem eigens eingerichteten WLAN-Netzwerk der Kommunikation des eigenen Handelns dienten, versuchen wir im Folgenden, die Möglichkeiten des Mediums Text auszuschöpfen: Das Tutorial beschreibt die handwerklichen Aspekte, wie die Realisierung gelingen kann. In den eingeschobenen Kommentaren skizzieren wir die Gedanken und Überlegungen, die aus dem Tun entstanden – und in der Kombination dieser beiden Textebenen vermittelt sich vielleicht auch beim Lesen ein kleines bisschen DIY-Stimmung …19

18 Diese ist ein elementarer Bestandteil von Tutorials. Allerdings wird das Scheitern ebenso wie die aufgewandte Zeit dabei selten mitdokumentiert. Im Zweifelsfall führt die große Wahrscheinlichkeit des Scheiterns in einem der Arbeitsschritte zur einzig pragmatischen Lösungsstrategie: Gehe zurück auf null. 19 DIY-Ethos wird schon bei der Lektüre dieses Textes verlangt, wie man beim Hin- und Herwechseln zwischen Tutorial (grau hinterlegt) und Kommentaren wohl merken wird. Bei einem zusätzlichen Nachspielen des geschilderten Szenarios beschränkt sich der Aufwand dann nicht nur auf die Komponente Zeit, sondern umfasst zwingend ebenso die kognitive Verarbeitung der Informationen sowie das Beschaffen allerlei kleiner Einzelteile, die im Folgenden verwendet werden. Sämtliche Abbildungen stammen von den Autoren.

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T UTORIAL :   C ONNECTING  A   LED  TO  AN  ACADEMIC   AUDIENCE  IS  EASIER  THAN  YOU  THINK !   Dieses   Turorial   wird   Dir   zeigen,   wie   Du   mit   einem   Arduino   in   Kombination   mit   einem   RaspberryPi   eine   LED   (Leuchtdiode)   per   Website   aus-­   und   einschalten   kannst.  

Die direkte Ansprache meint Dich. Da hilft kein Umherblicken – Du bist gemeint und aufgefordert zum Tun. Zudem kommt über die direkte Ansprache sowie über den Einsatz einer sehr unmittelbaren Sprache eine erste Verschwisterung zwischen den Verfassern des Tutorials und den lesenden Personen zu Stande. Das Tutorial, das sich als Kommunikationsstil in sozial vermittelten DIY-Praktiken durchgesetzt hat, versteht sich in dem Sinne nie nur als eine technische Anleitung oder Gebrauchsanweisung, sondern stellt das Tutoring als Akt des Teilens von Expertise in den Vordergrund. Schritt  für  Schritt  werden  die  nötigen  Handgriffe  samt  nötiger  Hard-­  und  Software   präsentiert,  

Für EinsteigerInnen ist das strikte Befolgen der einzelnen Handgriffe in einer bestimmten Reihenfolge unabdingbar für das Gelingen von ersten Projekten. Dieser Imperativ zum Nachmachen stellt für viele – zu denen sich zumindest einer der Autoren zählt – eine erste Hürde beim Kreativwerden dar. Bereits an diesem Punkt gehört zum erfolgreichen Absolvieren eines Tutorials eine gewisse Bescheidenheit. Denn die eigenen Hände kopieren in erster Linie Routinen, die sich, wenn nicht durch ein bestimmtes Tutorial, so doch durch die technische Struktur des vorliegenden komplexen Systems aus Prozessoren und Kreisläufen an klare Regeln zu halten haben. Abweichungen und zu hohe Erwartungen an die eigene Wirksamkeit werden auf diesem Niveau nicht selten mit dem Frust über einen Haufen Elektroschrott oder dem beißenden Geruch eines durchgebrannten Transistors bestraft.   die  Dich  dieses  Projekt  eigenhändig  umsetzen  lassen.  

Ein Projekt zu haben, scheint wichtig in der ›Community‹; allerdings stellt sich die Frage, von wessen ›Projekt‹ im Falle der Umsetzung einer Anweisung genau die Rede ist? Zweifelsohne haften der Vorstellung eines eigenen Projektes aufklärerische Ideale hinsichtlich des Individuums an. Dies brachte der englische Schriftsteller Daniel Defoe 1697 über die Qualität von Projekten folgendermaßen zum Ausdruck: »Ein ehrenhafter Projektemacher ist jedoch der, welcher

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seine Idee nach den klaren und deutlichen Grundsätzen des gesunden Menschenverstandes, der Ehrlichkeit und Klugheit in angemessener Weise ins Werk setzt, darlegt, worauf er hinaus will, nicht in fremde Taschen greift, sein Projekt selbst ausführt und sich mit dem wirklichen Erzeugnis als Gewinn seiner Erfindung begnügt.«20 Für   die   Nutzung   des   Tutorials   empfiehlt   sich   die   permanente   Verbindung   zum   Internet,  da  im  Verlauf  der  Präsentation  auf  unterschiedliche  Ressourcen  verwie-­ sen  wird.  Um  sich  die  Eingabe  des  Codes  zu  erleichtern,  kann  das  Tutorial  (ohne   Kommentare)  aufgefunden  werden  unter:   http://islandrabe.com/sammlungen/tutorial/led-­and-­academic-­audience.html  

*blink*  oder:  Vom  Auspacken  der  Blackbox   »This   example   shows   the   simplest   thing   you  can  do  with  an  Arduino  or  Genuino  to   see  physical  output:  it  blinks  an  LED.«  

Der Untertitel des Tutorials https://www.arduino.cc/en/Tutorial/Blink verspricht ein physisches Ergebnis im Sinne einer Verbindung zur »echten Welt« oder zum technischen Artefakt als Ding.21   Als  Hardware  benötigst  Du:     •   ein  Arduino  Board   •   eine  LED   •   einen  220  Ω  Widerstand   •   ein  USB-­Kabel  (Typ  B  auf  Typ  A)  

Die Materialanschaffung dürfte für einen durchschnittlichen Haushalt bereits die erste Schwierigkeit bedeuten: LED? 220 Ω Widerstand? Der Imperativ des Selbermachens geht vielfach mit einem großen Ressourcenaufwand und damit (indirekt) mit einer Kaufaufforderung einher. Darauf weist auch die Künstlerin Lisa Anne Auerbach in ihrem Text »Don’t do it yourself!« hin, unter anderem mit der Ermahnung, dass es besser sei, »in Menschen nicht in Material zu investieren«.22

20 Defoe, Daniel: Ein Essay über Projekte. Wien/New York 2006 (Orig. London 1697), 21

S. 112. Siehe Anmerkungen 14–16.

22 Auerbach: Don’t do it yourself! 2012, S. 17.

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Die  benötigte  Hardware  für  Teil  I  im  Überblick.  Der  zusätzlich  nötige  PC  ist  nicht   abgebildet  

Als  erstes  installiere  die  Arduino-­Entwicklungsumgebung  (das  »Integrated  Deve-­ lopment   Environment   [IDE]«   ist   ein   Texteditor,   der   den   Arduino   einfacher   pro-­ grammierbar  macht)  Deinem  Betriebssystem  entsprechend  nach  den  Anweisun-­ gen  unter:  https://www.arduino.cc/en/Main/Software.  

Der Download und die Installation des gesamten funktionierenden Softwarepakets, das ohne Verständnis über den Inhalt übernommen wird, ermöglichen den Einstieg auf hohem Niveau, sodass das Arduino nicht nur weiß, wie seine einzelnen Teile zu kommunizieren haben, sondern auch, wie es einen physischen Output generieren kann. Damit ergibt die Hardware zusammen mit dem komplexen Software-System eine »black box«, die nach Bruno Latour dadurch geschlossen wird, dass sich mehrere Elemente als ein einziges Element verhalten und man über die einzelnen Elemente kein Wissen hat.23 Nun  zur  ›Hardware‹:  

23 Latour, Bruno: Science in action. How to follow scientists and engineers through society. Cambridge 1987, S. 131.

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Auch was die Hardware betrifft, liegt der Start kurz vor dem Ziel. Da auf dem Arduino eine LED verbaut ist, reicht es im Grunde, über USB den Strom anzulegen und es blinkt. Doch das alleine übt zu wenig Faszination aus und wir wollen zumindest eine LED mit einem Widerstand verbauen. Wenn einem ein Licht aufgeht, sollte dem doch etwas mehr Selbstwirksamkeit vorangehen. Nimm  den  Widerstand  und  verbinde  ihn  mit  einem  Bein  der  LED.  

Ein nächster Punkt, an dem sich die Grenzen der Möglichkeiten zeigen und die Improvisationsfähigkeit getestet wird. Da nicht immer ein Lötkolben vorgeheizt zur Verfügung steht, empfehlen wir, die beiden Drähte zusammenzudrehen; komplexere Schaltungen lassen sich so aber nur schwer realisieren … Vorzugsweise  mit  dem  kürzeren,  der  die  Anode  ist,  der  Kontakt  geht  somit  auf   den  Minuspol  der  Stromquelle.  

Mit dem »somit« wird hier etwas Grundwissen in Elektrotechnik oder Alt-Griechisch vorausgesetzt. Damit wird auch eine Grenze gezogen, wer adressiert ist und wer nicht. Der Künstler, Filmemacher und Berater Johannes Grenzfurthner beschreibt in seinem Vortrag »Sorry, we are closed« das Problem von elitären ›offenen‹ Gemeinschaften, die sich primär über ihr Wissen definieren. Wir haben es ›somit‹ zur Kenntnis genommen und hoffen, dass es auch ohne Detailkenntnisse leuchten wird.24 Praktischerweise   bietet   das   Arduino   einen   Pin   (Steckplatz)   dafür,   der   mit   GND   bezeichnet  ist.  Verbinde  also  das  freie  Bein  des  Widerstands  mit  GND  und  das   freie  Bein  der  LED  mit  dem  Pin  13.  Damit  ist  der  Hardwareaufbau  abgeschlossen   und  Du  kannst  das  Arduino-­Board  per  USB-­Kabel  mit  dem  PC  verbinden.  

Das Arduino wirkt an diesem Punkt noch eher wie ein angehängtes Gadget, dessen Innenleben uns unbekannt ist und das keine sichtbare Schnittstelle zur Ansteuerung bietet. Im Folgenden wird diese Vorstellung der Blackbox, die die Funktionsweise von Technik verbirgt, Schritt für Schritt entdeckt. In  der  Arduino-­Entwicklungsumgebung  öffnen  wir  nun  im  Menüpunkt  ›Beispiele‹   das  Programmskript  »blink«.  

24 Grenzfurthner, Johannes: Sorry, we are closed. Keynote zu Paraflows 7 (2013). In: Artist Talk. On New Media & Contemporary Art, http://www.artisttalk.eu/johannes-grenzfurthner/ (Zugriff: 1.1.2016).

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»Blink« oder »Blinkin’ LED« sind geflügelte Wörter unter Arduino-NutzerInnen für das Minimum eines sichtbaren Effektes: den physischen Output. Die Metapher, dass einem ein Licht aufgeht, scheint nicht fern. Gegenstände – die LED, der Widerstand, … die ›Dinge‹ – scheinen wichtig; der Baukasten kommt einem in den Sinn. All das scheint mit diesem kleinen Aufbau verbunden, der AnfängerInnen über die Arduino-Entwicklungsumgebung und die ArduinoWebsite nahegelegt wird. Screenshot der Arduino-Entwicklungsumgebung mit dem Code des »Blink«Beispiels

Der  Code  steht  somit  fertig  geschrieben  auf  dem  Bildschirm  und  mittels  »Upload«   (dem  runden  Button  oben  links  in  der  IDE  mit  dem  Pfeil  nach  rechts)  kannst  Du   das  Programm  direkt  auf  das  Arduino  laden.  

Kurze Zeichen brauchen selbst zur Einführung lange Erklärungen, eine selbsterklärende Gestaltung und Beschriftung der Oberflächen ist oft nicht gegeben. Dies legt den Verdacht nahe, dass das Ganze doch schwieriger zu durchschauen ist, als es die vielfach eingestreuten Beteuerungen »simple«, »simpler« und »the simplest« andeuten; doch bewusst macht dies erst das eigene Tun: Es mögen die Handgriffe einfach sein, nicht aber das Prinzip und die gedankliche Erschließung als deren Voraussetzung.

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Die  LED  beginnt  im  Takt  einer  Sekunde  zu  blinken.    

Das Ergebnis von Teil I: Die LED blinkt nach den eigenen Vorgaben

Nun   kann   die   Zeit   im   Code   adaptiert   werden;;   ersetzen   wir   »delay(1000);;«   mit   »delay(500);;«,  uploaden  das  Programm  erneut  und  die  LED  wird  schneller  blin-­ ken.    

Das Einsteiger-Beispiel soll vor allem das hervorrufen, was der Künstler Ralf Schreiber als die Reaktion eines »vom Schrecken befreiten Frankenstein« beschreibt: »Diese minimale Reaktion, dieser kleine Wink bedeutet: Ich funktioniere, bin da! Das weckt sofort Emotionen, Stolz und Freude und auch die Sorge, weiteres Löten könnte den kleinen Roboter schon wieder beschädigen«.25 So  kann  man  selbst  den  Takt  angeben.  

Wohlgemerkt bewegt sich die Selbstwirksamkeit im Rahmen der Abänderung einer Zahl und ist damit eng begrenzt auf die Variation der Blinkzeit; doch für ein Entzücken ob der eigenen Wirkmächtigkeit reicht es vorerst. Durch das eigene Tun hat sich hier ein Schaltkreis geschlossen und ein Spielraum der eigenen Selbstwirksamkeit erschlossen. Die Elektronik und der Code vor einem, liefern

25 Schreiber, Ralf: DIY-Solarroboter-Workshops. Autonome und eigensinnige Elektronik. In: Lüth, Nanna u. a. (Hg.): Medienkunst vermitteln. Berlin 2011, S. 52–55, S. 54.

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ein Ergebnis, das man sich selbst erklären kann. Das fasziniert! Weil dadurch ein Aspekt der Welt selbst erschlossen wurde? Wir  können  die  LED  so  blinken  lassen,  wie  auch  immer  Du  das  willst.  

Das Verhältnis zwischen den Tutorial-Verfassern und den LeserInnen ist noch nicht ganz geklärt. Neben der direkten und ermächtigenden Anrede und Handlungsaufforderung über das »Du«, taucht in performativen Tutorials (wie VideoTutorials oder wie im gegebenen Fall einer Live-Demonstration) wiederholt die »Wir«-Form auf. Diese Identifikation der Autoren mit der (potenziell) ausführenden Person schwankt zwischen Verschwisterung im gemeinsamen Tun und einer Bevormundung, mit der besonders bei komplexeren Handlungszusammenhängen betont wird, wer diese strukturiert hat. Hello  World!     Der Medienwissenschaftler David Gauntlett schreibt kreativen DIY-Praktiken neben einer hedonistischen und sozialen Funktion vor allem die Absicht zu, sich die Welt anzueignen: »Making your mark, and making the world your own.«26 Diese Vorstellung spiegelt sich in der stereotypen Kodierzeile »Hello World!«, die den ersten Kontakt eines selbst geschriebenen Programms mit der Außenwelt markiert.   oder:  Und  sie  kommuniziert  doch!     »This  is  essentially  going  to  be  the  simplest   Express  app  you  can  create.«27  

Der Untertitel des Tutorials »This is essentially going to be the simplest Express app you can create« – verspricht ein selbst geschaffenes Programm. Das  Arduino  samt  Elektronik  legst  Du  zur  Seite.  Für  diesen  Teil  brauchst  Du:   •   RaspberryPi   •   Netzteil  5V/700mA  (wird  meist  in  Kombination  angeboten)   •   eine  SD-­Karte  (Minimum  4GB)   •   Netzwerkkabel   •   HDMI-­Kabel    

26 Gauntlett, David: Making is connecting the social meaning of creativity, from DIY and knitting to YouTube and Web 2.0. Cambridge 2011, S. 224–226. 27 http://expressjs.com/en/starter/hello-world.html (Zugriff: 1.1.2016).

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Immer wieder trifft man auf vorgefertigte DIY-Pakete und stößt sich gleichzeitig an dem Widerspruch zwischen Gefühlen von Autonomie und Fremdsteuerung. Auch weil die Aufforderung zum Selbermachen den zeitgenössischen Forderungen nach der (Kosten-)Optimierung und (Zeit-)Effizienz entspricht, ist es alles andere als frei von fremden Interessen. Man denke bloß an selbstverwaltete Bankkonten, Fahrkartenschalter etc. – Du kannst es selbst machen! Wir haben da eine tolle App für dich! Die  benötigte  Hardware  für  Teil  II  im  Überblick.  Bildschirm  und  Tastatur,  die   zusätzlich  nötig  sind,  sind  nicht  abgebildet  

Zuerst  richten  wir  ein  Betriebssystem  auf  dem  Einplatinenrechner  ein.  Folge  den   Anweisungen   unter   http://archlinuxarm.org/platforms/armv6/raspberry-­pi,   um     ArchLinux  zu  installieren.

Wenn DIY an die eigenen Grenzen stößt: Ein kleiner Link, der gut und gerne einen Tag kosten kann. Es ist trügerisch, wenn eine als leicht beworbene Aufgabe eine A4-Seite nicht ganz ausfüllt, aber die Links gedruckt ganze Bände ergeben würden. Wo könnte hier eine Grenzziehung stattfinden, die einen davor bewahrt, die dargebotenen Möglichkeiten in Konflikt mit den eigenen vorhandenen Ressourcen zu bringen?

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ArchLinux  bietet  das  Minimum,  das  ein  PC  zum  Laufen  braucht.  Nun  verbinden   wir   alle   Komponenten   –   Bildschirm,   Tastatur   und   Netzwerk   –,   stecken   die   SD-­ Karte  in  den  Schacht  an  der  Unterseite  des  RaspberryPi  und  versorgen  ihn  mit   Strom.  Die  LEDs  auf  der  Platine  beginnen  zu  leuchten  und  Textzeilen  erscheinen   auf  dem  Bildschirm.   Um  Dich  anzumelden,  gib  für  den  »default  user«  »alarm«  und  für  das  »password«   ebenfalls  »alarm«  ein.  

Benutzername und Passwort sind voreingestellt. Dies ist unser erster Berührungspunkt mit dem komplexen System, das wir auf dem RaspberryPi installiert haben, das nun läuft und sich hinter der Eingabeoberfläche versteckt.  

Screenshot der Kommandozeile nach dem Anmelden. Der im Folgenden benötigte Befehl ist bereits eingegeben

  Als  erstes  benötigst  Du  dazu  das  Softwarepaket  Node.js.  

Die Software Node.js bietet als sogenanntes »Framework« (eine Art Umgebung zum Ausführen von Programmcode einer bestimmten Programmiersprache) die Rahmenbedingungen, um ›einfache‹ Webanwendungen programmieren zu können.28 Populäre Frameworks, wie Node.js, finden großzügige Unterstützung von namhaften IT-Konzernen,29 die durch Infrastruktur wie Websites mit Dokumentationen und Tutorials in großer Dichte oder auch auf weltweit abgehaltenen Kongressen eine eigene Community of Practice entstehen lassen, die sich über den

28 https://nodejs.org/en/about/ (Zugriff: 20.9.2016). 29 https://nodejs.org/en/foundation/members/ (Zugriff: 20.9.2016).

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Austausch über Projekte am Gegebenen abarbeiten; und damit die Software ›weiterentwickelt‹. Der  Installationsvorgang  erfolgt  per  Kommandozeile:  Melde  Dich  zuerst  als  »root«   (Administrator)  an.  Dies  geschieht  mittels  Befehl  »su  root«  und  ENTER.  Die  Frage   nach  dem  Passwort  beantworte  mit  »root«.  Nun  gib  in  die  Kommandozeile  den   Befehl  »pacman  -­S  base-­devel«  ein  und  bestätige  ihn  mit  ENTER.  

Kryptisch geben sich diese kurzen und knappen Handlungsanweisungen. Ein wenig Vertrauen in die Verfasser des Tutorials ist notwendig (z. B. in Hinblick auf die fahrlässige Verwendung der voreingestellten Standardpasswörter) – aber kann man jemandem böse sein, der einem bei DIY hilft? Woher diese grundsätzlich positive Haltung? Immerhin drücken wir noch selbst die Eingabetaste. Die  nötigen  Pakete  der  Software  werden  nun  automatisch  installiert.  Die  weißen   Zeilen  und  Statusbalken  geben  Dir  darüber  Auskunft,  was  geschieht.  

Was geschieht da nun genau? Ist das nicht ein Beispiel für die Gefühlslage angesichts der Automatisierung, die der digitalen Technologie inhärent ist? Die automatischen Installationsprozesse sind nur mit viel Erfahrung und Recherche nachvollziehbar. Die Vorgänge entziehen sich uns und vermitteln uns nur den Schein, unter (unserer) Kontrolle zu sein. Ironischerweise setzten wir uns aber diesen weißen Zeilen aus, wohl mit der Hoffnung, doch etwas zu durchblicken. Der Status während des Ausführens des Befehls »pacman -S base-devel« als Textausgabe

Mit  einem  weiteren  Befehl  installierst  Du  Node.js:  »pacman-­S  nodejs  npm«  wie   unter  https://nodejs.org/en/download/package-­manager/#arch-­linux  zu  finden.    

188   |  B ENJAMIN   E UGSTER  UND   R ICHARD   S CHWARZ     Auch  hier  werden  die  nötigen  Pakete  wieder  automatisch  heruntergeladen  und   installiert.  Nachdem  auch  dies  erfolgreich  abgeschlossen  wurde,  melde  Dich  mit   »exit«  als  »root«  wieder  ab.    

Ab und zu schließen sich solche Installationsprozesse aus den unterschiedlichsten Gründen leider nicht erfolgreich ab. Mit einer kryptischen Fehlermeldung allein gelassen, beginnt eine neue Ebene des DIY: Die Suche nach Lösungen abseits der vorgegebenen Wege. Wir machen trotzdem selber weiter. Als  nächstes  lege  den  Ordner  und  die  Dateien  des  Webservers  an  und  folge  dafür   den   Schritten   unter   http://expressjs.com/en/starter/installing.html,   die   erneut   ein-­ fach  in  die  Kommandozeile  eingegeben  werden.     Danach  erzeuge  mit  dem  Befehl  »nano  index.js«  die  Datei  für  das  Node.js-­Script,   das  den  Webserver  zum  Laufen  bringen  wird.  Es  öffnet  sich  ein  Texteditor  und  hier   gib  Weiß  auf  Schwarz  den  Code  des  Tutorials  http://expressjs.com/en/starter/hello-­ world.html  ein  und  speichere  das  Ganze  mittels  »STRG-­O«.    

Der einfache Texteditor »nano« mit dem Code-Schnipsel des »Hello World«-Tutorials

Hier zeigt sich ein Nachteil eines möglichst einfach gestalteten Tutorials, das vielfach keine guten Lösungen bietet; solche entstehen durch längere Auseinandersetzung mit der Materie. Das Abtippen von einem Rechner in den anderen ist eine umständliche Vereinfachung – einfach für die Verfasser der Anleitung und umständlich für die Ausführenden. Andere Lösungen bräuchten zwar ausführlichere Erklärungen, wären aber technisch sinnvoll und für die Bewältigung künftiger Aufgaben nützlich. Ein solches Tutorial ist also weniger auf einen nachhaltigen Lerneffekt ausgerichtet, sondern auf das situative Wirksamwerden.

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Mit  »STRG-­X«  gelangst  Du  zurück  zur  Kommandozeile  und  kannst  nun  den  Webs-­ erver  starten:  Einfach  »nodejs  index.js«  ausführen.   Um  den  Webserver  zu  testen,  verwende  den  Befehl  »ifconfig«,  um  die  IP-­Adresse   des   RaspberryPi   auszulesen.   In   der   Ausgabe   findet   sich   im   Absatz   »eth...«   die     »inet  addr«,  eine  Zahl  nach  dem  Muster  »192.0.2.42«,  wobei  die  letzte  Zahl  »42«,   den  RaspberryPi  im  Netzwerk  adressiert.   Gib   nun   diese   Zahl   samt   Doppelpunkt   und   Port-­Nummer   des   Beispiels   in   die   Adressleiste  des  Browsers  auf  Deinem  Laptop  oder  PC  ein.  In  unserem  Fall  ist  dies   192.0.2.42:3000  –  ENTER  und  es  erscheint  eine  blanke  Seite  mit  dem  Text  »Hello   World!«.  Dein  Webserver  läuft.  

Die Betrachtung der Website und der Webserver laufen im lokalen Netzwerk ohne Verbindung (hoffentlich, bei den verwendeten Standardpasswörtern ...) zur Welt: In Zeiten der globalen Vernetzung ist diese lokale Potenzialität der Vernetzung (also einem leeren, nicht verbundenen Webserver, der direkt vor einem steht) eine faszinierend. Doch mit dem erfolgreichen Öffnen der selbst zusammengestückelten Website kommen Möglichkeiten in den Sinn, die im ersten Moment mit dem nunmehr angeeigneten Wissen in Verbindung zu stehen scheinen. Das erzeugt eine Euphorie. »Ich kann ...«, denkt man sich, auch wenn das Vollzogene dem Trinken eines Glases Wasser gleicht, das einem in die Hand gedrückt wurde; aber vermutlich staunte man beim ersten Mal auch über diese Leistung. Hello  *blink*  oder:  Zwischen  Copy  Paste  und  Community   Die  Hardware für Teil III. Das Material von Teil I und II wird nun kombiniert  

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Das  bisher  Erreichte  wird  nun  zusammengefügt  und  zu  einer  per  Website  schalt-­ baren  LED  ausgebaut.  Als  erstes  müssen  sich  Arduino  Board  und  RaspberryPi  ver-­ stehen.  Dafür  geht  es  zurück  zur  Kommandozeile  des  RaspberryPi,  mit  der  Du  nun   vertraut  bist.  

Gefühlte zehn Befehle einzugeben, kann eigentlich nicht genug Vertrautheit erzeugen; aber es reicht, um sagen zu können: »Kommandozeile? – Klar, kenn’ ich.« Was den Idealen und Diskursen einer Wissensgesellschaft entsprechend eventuell schon ausreicht, mag in der Praxis dieser Wissensgesellschaft womöglich nicht allzu weit führen. Füge  den  Nutzer  »alarm«  den  Gruppen  »uucp«,  »lock«  und  »tty«  hinzu,  damit  die   beiden   Devices   (Dinge)   per   USB   kommunizieren   können.   Dies   geschieht   mittels   der  drei  Befehle  »gpasswd  -­a  alarm  uucp«,  »gpasswd  -­a  alarm  lock«  und  »gpasswd   -­a  alarm  tty«.   Nun  bereiten  wir  das  Arduino  Board  auf  seine  Aufgabe  vor,  die  vom  RaspberryPi   eingehenden  Signale  zu  verarbeiten.  Öffne  die  Arduino  IDE  und  verbinde  das  Ardu-­ ino  Board  mit  dem  Rechner.  Es  erscheint  ein  neues  Fenster  für  ein  neues  Projekt   und  hier  fügen  wir  den  Code  von  Teil  I  ein,  um  davon  auszugehen.  Ändere  ihn  wie   folgt:     Code  für  das  Arduino  Board  

  Um  zu  überprüfen,  ob  das  Programm  nach  dem  Upload  (siehe  Teil  I)  auf  dem  Ardu-­ ino  Board  läuft,  öffne  den  »Serial  Monitor«  über  den  Button  in  der  IDE  rechts  oben.    

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  Im  erscheinenden  Fenster  kontrolliere  zur  Vorsicht,  ob  unten  rechts  »9600  Baud«   als  Geschwindigkeit  für  die  Kommunikation  eingestellt  ist.  Passt  dies,  tippe  ein  »e«   in  die  Zeile  oben.  Die  LED  leuchtet  nun.  Tippe  ein  »a«,  um  sie  wieder  auszuschal-­ ten.  Klappt  dies,  so  widmen  wir  uns  dem  RaspberryPi.   Um   die   Verbindung   zwischen   Website-­Input   und   Arduino   Board   herzustellen,   in-­ stallieren  wir  zwei  weitere  Softwarepakete  auf  dem  RaspberryPi:   •   »socket.io«  übersetzt  den  Input  auf  einer  Website  in  eine  Funktion.  Installiert   wird  es,  analog  zu  »expressjs«  in  Teil  II,  mit  dem  Befehl  »npm  install  socket.io«.   •   Auf  gleiche  Weise  installiere  das  Paket  »serialport«,  »npm  install  serialport«,   das  die  serielle  Kommunikation  zwischen  RaspberryPi  und  Arduino  Board  über-­ nimmt.  

Hinsichtlich dieser Schritte gibt es seitens der Tutorial-Schreiber wenig zu kommentieren. Denn der Arbeitsprozess wird geleitet von einem Flow vergleichbarer Handgriffe des Kopierens. Das weitere Vorgehen geht Schlag auf Schlag und im Wesentlichen ist die Fähigkeit gefordert, zwischen unterschiedlichen vorgefertigten Skripten unterschiedlicher Herkunft zu navigieren. Den  Dokumentationen  von  https://github.com/socketio/socket.io  und  https://github.   com/voodootikigod/node-­serialport   folgend,   können   wir   den   Code   in   index.js   (mit   »nano  index.js«  öffnen)  folgendermaßen  bearbeiten:   Code  der  Datei  index.js  

192   |  B ENJAMIN   E UGSTER  UND   R ICHARD   S CHWARZ     Nun   fehlt   noch   die   im   Code   erwähnte   Datei   »schalter.html«.   Diese   legen   wir   mit   »nano   schalter.html«   an   und   verwenden   für   das   Websitegerüst   die   Vorlage   von   http://www.w3schools.com/html/html_basic.asp.   Diese   veränderst   Du   aber   so,   dass  die  Website  zwei  Buttons  anzeigen  wird,  die  zum  Bedienen  der  LED  dienen:     Der  html-­Code  für  den  Online-­Lichtschalter,  jedoch  ohne  den  Code     für  die  Hintergrundgrafik  

Damit  hast  Du  alle  nötigen  Bestandteile  angelegt  und  kannst  Deinen  Online-­Licht-­ schalter  mittels  des  bekannten  »nodejs  index.js«  starten,  über  einen  anderen  Rech-­ ner  im  Netzwerk  zugreifen,  wie  am  Ende  von  Teil  II  gezeigt,  und  die  LED  aus-­  und   einschalten.     Selbst  tätig  werden  und  per  Button  die  LED  ausschalten:  »Undo  it!«  

 

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R UN  IT   Mit dieser Berührung der Bildschirmoberfläche ist das Tutorial abgeschlossen. Etwas selbst gemacht zu haben, ist faszinierend. Alleine die eigene Wirksamkeit durch Drücken eines Buttons zu erfahren, fasziniert. Dementsprechend ist unser Tutorial stellenweise durch eine hoffentlich beim Lesen spürbare Euphorie geprägt, die mit dem Abstand zur Materie gewiss seltsam anmutet. Dennoch mag ein derart großer Umweg über die inszenierte Einfachheit und ausgeführte Komplexität von digitaler Technik die (Wieder-)Bewusstmachung dieser Faszination begünstigen. Dass sich diese Empfindung interpassiv übertragen lässt, hatte sich bereits während der Demonstration bei der Tagung an der Reaktion der TeilnehmerInnen gezeigt, als die LED plötzlich vom eigenen Sitzplatz aus ein- und ausgeschaltet werden konnte. Diese äußerte sich in einer Mischung aus Überraschung, dass es tatsächlich auch vom eigenen Gerät aus funktioniert, und dem Belächeln dieser eigenen Begeisterung, sich ungeachtet des Mitwissens hinsichtlich der intensiven Vorarbeit selbst wirksam zu fühlen. Durch das Nachstellen und Dokumentieren eines DIY-Prozesses begaben wir uns auf die Spur der Stimmung des Selbermachens. Dadurch vermochten wir hoffentlich das Augenmerk auf Aspekte zu richten, die mittels sachlicher Beschreibung schwer vermittelbar sind. Auch Billy Ehn betont diese Problematik der Versprachlichung vieler Praktiken des Selbermachens und nennt als Beispiel, dass man jemandem das Fahrradfahren, Schwimmen oder Tanzen auch nicht mittels Vortrag beibringen könne.30 Dasselbe gilt zweifelsohne auch für die Detailarbeit im Zusammenlöten von Widerständen und das Zusammenkopieren von Codes. Im DIY scheint ein (fühlbarer) Kern zu stecken, der sich einer nüchternen Beschreibung entzieht. Denn wer würde den Bau eines Online-Lichtschalters für sinnvoll erachten, mit dem man das Licht im Raum schalten kann, ohne anwesend zu sein? Doch ihn selbst zu bauen, ist etwas anderes. Eine Ahnung davon zu geben, was dieses etwas sein könnte, war Ziel dieses Textes. Verwendete  Tutorials  (Zugriff  jeweils  22.9.2016)   https://www.arduino.cc/en/Tutorial/Blink http://expressjs.com/en/starter/hello-world.html http://www.w3schools.com/html/html_basic.asp

30 Vgl. Ehn 2011, S. 58.

Nischen-­/Ökonomien  

Agrarlust  in  der  Stadt   Praxen  und  Selbstdeutungen  im  Kontext  von  Urban  Farming   P ETER F. N. H ÖRZ

    A BSTRACT :   H USBANDRY  IN  THE   C ITY .   P RACTICES  AND   S ELF -­I MAGES  IN   U RBAN   F ARMING   Careful observers of the media have long known: Urban gardening or urban farming are currently on the raise. This has been documented in numerous articles in magazines and newspapers as well as in a growing number of illustrated books and in both, radio and TV-reports. Being frequently described as an upcoming trend the phenomenon of urban farming has also attracted the attention of historians and social scientists, who are interpreting the activities of urban gardeners and poultry keepers as reactions to various aspects of social crises. In their discussions however both, scientific as well as journalistic observers, are largely focusing certain spectacular projects such as the Prinzessinnengarten (Berlin) or Annalinde (Leipzig), which are promoting political, social and economic changes, while other less spectacular gardeners and farmers are frequently overlooked. At a closer look however one may not only discover more urban farmers than expected but also discover that husbandry in urban contexts is more diverse and multi-variant than expected and not always necessarily related to the claim of political and social change.

L ANDLUST  UND   K OMPOSTWIRTSCHAFT   Schaut man sich dieser Tage in der Zeitschriftenabteilung der Buchhandlung Wittwer am Stuttgarter Schlossplatz aufmerksam um und begreift die Stapelhöhe der

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einzelnen Zeitschriften als Signal dafür, was die Menschen der Stadt gerne lesen, so belegen in der Kategorie ›Hobby/Special Interest‹ die Titel »Landlust«, »Landidee« und »Liebes Land« Spitzenplätze.1 Keine dieser Zeitschriften erscheint in einer Auflage unter 250.000 Exemplaren, und folgt man den Mediadaten der »Landlust«, so wird das zweimonatlich im Deutschen Landwirtschaftsverlag erscheinende Magazin in Deutschland von viereinhalb Millionen Menschen gelesen.2 Sieht man von Beiträgen zu Landhausmode und zu ›ländlichem‹ Bauen und Wohnen ab, so vermitteln diese Zeitschriften vor allem eine Botschaft: Selbstgepflanztes und Selbstgekochtes, Selbsteingemachtes und Selbstgetrocknetes, Selbstgepflücktes und Selbstgesammeltes hat einen höheren Wert! Und auf dass das Selbermachen auf allen Ebenen der Nahrungsmittelerzeugung – von der Aussaat bis zur Zubereitung – nicht am agrar- und hauswirtschaftlichen Unvermögen ihrer urbanen Leserinnen und Leser scheitern möge, liefern diese Magazine nicht nur delikate Fotostrecken aus Garten und Küche, sondern auch Tipps zum Dörren von Birnenschnitzen und zur Vermeidung von Kraut- und Fruchtfäule beim Tomatenanbau. Ob diese Tipps für die Leserinnen und Leser praxisrelevant sind, sei dahingestellt. Knapp sieben Kilometer von der Buchhandlung entfernt, steht der Bungalow der zum Zeitpunkt unserer Begegnungen 82-jährigen Veronika,3 die nach eigenem Bekunden »immer draußen« ist und damit einerseits das beachtliche Gartengrund-

1

Die konkrete Beobachtung bezieht sich auf den 28.2.2015, könnte aber auch aktuell jederzeit wiederholt werden – nicht nur bei Wittwer.

2

Damit ist die »Landlust« der erfolgreichste Zeitschriftentitel des Verlags. Die auf der Internetpräsenz der Zeitschrift 2016 veröffentlichten Daten verweisen auf eine Auflage von 850.000 Exemplaren und auf »4,5 Mio. Leser«, http://media.landlust.de/fileadmin/ pdf/mediadaten/LL_Mediadaten_2016.pdf (Zugriff: 30.12.2015).

3

Sämtliche in diesem Text genannten Namen von Akteurinnen und Akteuren wurden geändert. Die narrativen, meist von Vorführungen von Gärten, Ställen und Freigehegen begleiteten oder unterbrochenen, Interviews wurden größtenteils in Feldnotizen dokumentiert; einzelne Originaltöne wurden mitgeschrieben. Das zweite Gespräch mit Veronika sowie die Gespräche mit Dean, Johanna, Thomas, Barbara und Rainer wurden mitgeschnitten (Ton). Zunächst vor allem auf ein agrarisches DIY fokussiert, wie es aktuell große mediale Aufmerksamkeit genießt, habe ich einen Teil meiner Gesprächspartnerinnen und -partner über einschlägige Medien gesucht und gefunden. Den Zugang zu einem größeren Teil der Akteurinnen und Akteure verdanke ich indessen der zufälligen Entdeckung ihrer Gärten und Tiere bzw. Hinweisen von Menschen, mit welchen ich über mein Forschungsinteresse gesprochen habe.

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stück meint, das ihren Bungalow umgibt, andererseits ihr gepachtetes »Grabeland«.4 Mit der Bewirtschaftung dieser beiden Grundstücke strebt Veronika »Autarkie« hinsichtlich der Gemüse- und Beerenobstversorgung an und hält überdies sechs Hausperlhühner. In ihrem Leben habe die grazile Frau, wie sie sagt, »alles ausprobiert«, was ein Mensch ihrer Generation habe ausprobieren können: Nach dem Zweiten Weltkrieg flirtete sie mit der radikalen westdeutschen Linken und glaubte »allen Ernstes daran [...], dass die Sowjetunion ein Vorbild für uns sein könnte«. Später, nach einem Aufenthalt an der US-amerikanischen Westküste, war sie beeindruckt von den Achtundsechzigern und deren »freiem Lebensstil«. In den 1980er Jahren interessierte sie sich für fernöstliche Spiritualität, außerdem für die Kosmologie Rudolf Steiners und praktizierte an den Stränden der Ägäis, wo sie seinerzeit wiederholt »überwintert« habe, Eurythmie. Der Gedanke, was »jeder Einzelne dafür tun kann, dass die Erde für die kommenden Generationen erhalten bleibt«, prägt Veronikas Leben als »bäuerliche Rentnerin«, denn alles, was die ehemalige leitende Angestellte eines Stuttgarter Textileinzelhandels auf ihren Grundstücken unternimmt, wird bestimmt von einer Philosophie, in der die Begriffe »Werden« und »Vergehen« eine zentrale Bedeutung haben. Mehrfach beruft sich Veronika auf den Apple-Gründer Steve Jobs, der die Welt mehr als Marx und Lenin verändert und den Tod als beste Erfindung des Lebens bezeichnet habe.5 Denn der Tod schaffe Platz für Neues, im menschlichen Leben wie in der biologischen Landwirtschaft. Noch öfter als Jobs indessen zitiert und paraphrasiert Veronika Alwin Seifert, den Theoretiker und Praktiker der Kompostwirtschaft und Vordenker einer ›Landwirtschaft ohne Gift‹. Nach dessen Anleitungen6 bereitet sie Kompost aus dem Hühnermist und auch aus allen anderen organischen Abfällen ihrer städtischen Land- und Hauswirtschaft, denn Seifert habe verstanden, dass die Erde nur durch eine auf Kompost beruhende Kreislaufwirtschaft bewahrt werden könne. Vor allem wegen der Philosophie der Kompostwirtschaft und der Idee des Stoffkreislaufs hält die Ovo-Lacto-Vegetarierin Veronika ihre

4

Meine Begegnungen mit Veronika fanden am 28.6. und 8.7.2012 statt.

5

Jobs sagte in einer Rede an der Universität Stanford: »Und das ist so, wie es sein sollte, denn der Tod ist höchstwahrscheinlich die beste Erfindung des Lebens. Er bewirkt den Wandel. Er entrümpelt das Alte, um Platz zu machen für das Neue.« Pitzke, Marc: Steve Jobs: Tod eines Weltverbesserers, 6.10.2011, http://www.spiegel.de/netzwelt/web/ steve-jobs-tod-eines-weltverbesserers-a-790187.html (Zugriff: 30.12.2015).

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Seifert, Alwin: Der Kompost im Garten ohne Gifte. Fibel für kleine und große Gärtner. München 1964, ders.: Gärtnern, Ackern ohne Gift. München 1971.

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sechs Hausperlhühner.7 Deren Mist mache sie unabhängig von den Lieferanten biologischer Düngemittel, was es ihr erlaube, sich auch auf diesem Gebiet zumindest ein Stück weit aus der von ihr als »Grundübel« bezeichneten Geldwirtschaft auszuklinken und zu sein, was sie gerne sein möchte: unabhängig von den Strukturen einer Ökonomie, die ihr nicht gefallen und die kein Mensch mehr überblicken könne. Dass der seit einigen Jahren anhaltende ›Bio‹-Boom in Deutschland dazu geführt habe, dass nunmehr Tausende Tonnen tierischen Düngers aus dem Ausland per Lastwagen ins Land verfrachtet würden, weil hier gar nicht genug ›biologische‹ Düngemittel vorhanden seien, hält die selbstbewusste ›Stadtbäuerin‹ für »verrückt«, und schon dies sei Grund genug, selbst agrarisch aktiv zu werden und lokale Stoffkreisläufe in Gang zu setzen. Dass der in unseren Gesprächen allgegenwärtige Alwin Seifert, der als ›Reichslandschaftsanwalt‹ unter anderem für eine landschaftsgerechte Trassenführung der Reichsautobahnen verantwortlich war, von Historikern zum »grünen Flügel« der NSDAP gezählt wird,8 wie ich vorsichtig andeutete, irritierte Veronika nur kurz und wurde von ihr mit dem Argument gekontert, dass die Erkenntnis der »Gesetze des Lebens« über politischen Positionierungen und Ideologien stehe.9

7

In Alwin Seiferts Konzept der Kompostwirtschaft ist die Tierhaltung zwar nicht notwendigerweise als Teil des Stoffkreislaufs vorgesehen, wohl aber bei der von Rudolf Steiner begründeten biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise, wobei der Tierproduktion selbst weniger Bedeutung zugemessen wird als der Verwendung von kompostiertem Mist als Düngemittel. Sattler, Friedrich/Wistinghausen, Eckard von: Der landwirtschaftliche Betrieb – biologisch-dynamisch. Stuttgart 1985.

8

Staudenmaier, Peter: Fascist ecology: The ›green wing‹ of the Nazi party and its historical antecedents. In: Biehl, Janet/Staudenmaier, Peter (Hg.): Ecofascism revisited. Lessons from the German Experience. Porsgrunn 2011 (2. Aufl.), S. 13–42.

9

Dass sich die Vorstellung von den »Gesetze[n] des Lebens« bereits selbst als Ideologem verstehen lässt, dass diese Gesetze nicht einfach per se existieren und sich demnach nicht einfach im Sinne einer ›Entdeckung‹ ›erkennen‹ lassen und überdies bereits Teil einer politischen Positionierung sind, habe ich mit Veronika schon deshalb nicht erörtert, weil narrative Interviews nicht der Ort erkenntnistheoretischer Belehrungen sein können. Ebenfalls nicht mit Veronika erörtert habe ich den mir damals noch nicht bekannten Umstand, dass sich auf dieses Ideologem auch schon Reichsbauernführer und Landwirtschaftsminister Richard Walther Darré berief, als er – nachdem er die biodynamische Wirtschaftsweise in den 1930er Jahren noch abgelehnt hatte – zu einem Verfechter derselben mutiert war und von einer »Landwirtschaft nach den Gesetzen des Lebens« sprach. Damit sei Veronika nicht unterstellt, wissentlich die Nähe zum Natio-

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Für die eingangs genannten Lifestyle-Gazetten hat Veronika nur ein schallendes Lachen übrig. Diese Magazine, so sagt sie, seien etwas für »Wannabes«, die das Landleben glorifizieren und vom Gutshof träumen, beim Gärtnern indessen »die Erde nur mit Gummihandschuhen anfassen«. Zudem seien die Anleitungen für das gärtnerische Handeln oft fehlerhaft und primär an einem auf die Angebote der Garten-Freizeit-Industrie ausgerichteten Gärtnern ausgerichtet. Sieht man sich auf Veronikas beiden Grundstücken um, so wird offensichtlich, dass abgesehen von der liebevoll arrangierten Sitzgruppe auf der Terrasse des Bungalows, auf der wir weite Teile unserer Gespräche geführt haben, nichts, aber auch gar nichts, dem Bild entspricht, das »Landlust« und die anderen Lifestyle-Magazine vom Selbermachen von Nahrungsmitteln vermitteln. Denn auf diesen Grundstücken herrscht mehr ›organisches Chaos‹ als Designer-Ästhetik: Hier wird recycelt und improvisiert und mitunter werden Kaffee- oder Teesatz, auf Spaziergängen aufgesammelte »Rossbollen« und anderes organisches Material einfach auf Beeten ausgekippt, weil dies die Aktivitäten der Regenwürmer, der »natürlichsten Verbündeten des Gärtners«, anrege. Vor diesem Hintergrund besteht wenig Zweifel, dass Veronikas städtische Agrarwirtschaft auch dann nicht in einem Bildband wie jenem über »Neue urbane Räume des Do it yourself«10 porträtiert würde, wenn die umtriebige Frau dies gestattete. Denn was in diesem Bildband ästhetisiert wird, ist ein landwirtschaftliches DIY, das zwar auch an Recycling und Improvisation orientiert ist, letztlich aber doch ein ›designtes‹ und repräsentationsfähiges alternativkreatives Chaos ist. Veronikas Chaos indessen ist nicht ›vorzeigbar‹ und würde vermutlich den wenigsten Betrachterinnen und Betrachtern eines Bildbandes ein positives Bild von Urban Farming vermitteln. Veronikas Nachbarn – »Kleingeister, die nichts, aber auch gar nichts verstanden haben« – haben ohnehin kein positives Bild von ihr, ihrem Kompost und schon gar nicht von den Hühnern.

nalsozialismus zu suchen. Wohl aber sei auf die Karrierewege bestimmter Vorstellungen von ›richtiger‹ Landwirtschafts- und Ernährungsweise hingewiesen, die aktuell als Antworten auf gesellschaftliche Problemstellungen neu aufgelegt werden. Zu Darrés Formulierung vgl. Staudenmaier, Peter: Anthroposophy and ecofascism (undat.), http://www.openwaldorf.com/anthroposophyandecofascism.pdf, S. 14 (Zugriff: 30.12. 2015); vgl. auch Bramwell, Anna: Blood and soil. Walther Darré and Hitler’s Green Party. Bourne End 1985. 10 Dieses Buch stellt zwar zentrale Begriffe des gärtnerisch-agrarischen DIY – von »Allmende-Kontor« bis »Zwischennutzung« – vor, konzentriert sich aber hauptsächlich auf die fotografische Ästhetisierung gemeinschaftlich betriebener urban-agrarischer Praxen; Baier, Andreas/Müller, Christa/Werner, Karin: Stadt der Commonisten. Neue urbane Räume des Do it yourself. Bielefeld 2012.

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A GRARISCHES   D O  IT  YOURSELF  UND   K RISE   Deutlich wird am Beispiel von Veronika, dass es auch jenseits einiger Vorzeigeprojekte, etwa den Prinzessinnengärten in Berlin-Kreuzberg, in welchen unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit ein »soziales Gärtnern« betrieben wird,11 urbane Praxen eines agrarisch ausgerichteten Do it yourself (DIY) gibt. Deutlich wird, dass die Praxisbeispiele des agrarischen Selbermachens mitunter signifikant von den Bildern abweichen können, die in opulenten Bildbändern, in Presse und Fernsehen12 von Urban Gardening und Urban Farming seit einigen Jahren vermittelt und nicht zuletzt von Prominenten wie der US First Lady Michelle Obama begeistert verbreitet werden.13 Deutlich wird, dass die Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln im urbanen Kontext mit einer Suche nach Alternativen zu ›konventionellen‹ Prinzipien der Lebensmittelproduktion und -konsumption verbunden ist. Deutlich wird auch, dass sich die Praxis des landwirtschaftlichen DIY zusammen mit entsprechenden Ideologemen14 als Antwort auf das subjektive Erleben gesellschaftlicher Krisenzustände begreifen lässt, seien diese nun ökonomischer, ökologischer, ernährungsphilosophischer oder geistig-spiritueller Natur. Auf diesen Zusammenhang zwischen Krise und Agrarlust haben bereits die Kuratorinnen und Kuratoren der Wiener Ausstellung »Hands-on-Urbanism: Vom Recht auf Grün« hingewiesen und aufgezeigt, dass offenbar weltweit auf jeweils unterschiedlich gelagerte Krisenzustände mit agrarisch ausgerichteten DIYStrategien reagiert wird. Die Ausstellung wie auch der umfangreiche Katalog15

11 Näheres unter http://prinzessinnengarten.net/ (Zugriff: 30.12.2015). 12 Sehenswert ist z. B.: Herrmann, Broka: Ach du grüne Neune: Die neue Lust am Gärtnern. ZDF-Reportage. TV-Produktion, Deutschland 2012, auf YouTube verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=AbSGQai9-TQ (Zugriff: 30.12.2012). 13 Zu Michelle Obamas gärtnerischen Aktivitäten, ihrem Engagement für Urban Farming und dem von ihr verfassten Gartenbuch siehe Higgins, Adrian: Michelle Obama champions vegetable gardens and healthy food in ›American Grown‹. In: The Washington Post, 2.8.2012. Obamas opulent illustriertes Buch berichtet über ihre eigenen gärtnerischen Erfahrungen, thematisiert Nutzpflanzenanbau und Bienenzucht und will eine pädagogische Wirkung im Blick auf die Anlage von Schulgärten in den USA entfalten. Obama, Michelle: American grown: The story of the White House Kitchen Garden and gardens across America. New York 2012. 14 Verstanden im Sinne von (Teil-)Elementen von insgesamt größeren Ideologiegebäuden. 15 Krasny, Elke (Hg.): Hands-on Urbanism 1850–2012: Vom Recht auf Grün. Wien 2012. Informationen zur Ausstellung im Wiener Architekturzentrum (15.3.–25.6.2012) unter http://www.azw.at/event.php?event_id=1202 (Zugriff: 30.12.2015).

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schlagen weite historische und geografische Bögen – von der aus materieller Not heraus entstandenen ›Wiener Siedlerbewegung‹ der Zwischenkriegszeit bis zu den jüngst angelegten Gemüsegärten im öffentlichen Raum des mangelhaft versorgten Havanna und weiter zur urbanen Landwirtschaft im deindustrialisierten Detroit. Die ›Krise‹ wird dabei durchaus positiv als Chance begriffen und das Handeln der jeweiligen Akteurinnen und Akteure als Ausdruck ihrer Emanzipation.16 Ähnlich sieht das auch die Soziologin und geschäftsführende Gesellschafterin der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis,17 Christa Müller, die sich in einem von ihr herausgegebenen Sammelband dem (gärtnerischen) DIY widmet: Für Müller »könnte einiges darauf hindeuten«, dass der urbane Garten das »Modell einer besseren Gesellschaft« repräsentiert, und dass die »in ihm gelebten [...] Tugenden wie Kooperation, Gelassenheit, handwerkliches Können, Lebendigkeit, Empathie und Großzügigkeit, aber auch die Kunst des ›einfachen Lebens‹, das Arrangement mit dem, was vorhanden ist, richtungsweisend für die vor uns stehenden Transformationsprozesse« sei.18 Transformationsprozesse, die durch die gärtnernden Akteurinnen und Akteure als Reaktion auf die globale »Nahrungsmittel- und Ressourcenkrise«19, die »Zeitkrise von heute«20 und die »Ökonomisierung der Gesellschaft«21 ausgelöst werden. Die Gärtnerinnen und Gärtner werden dabei als eine Avantgarde verstanden, die die Zeichen der Zeit schon verstanden hat, denn: »Sie gärtnern, um praktisch zu zeigen, wie es besser laufen könnte mit der Lebensmittelproduktion«.22 Und nicht nur das: Weil der Garten »weit mehr [ist] als ein Ort des Säens und Erntens«, ist der »Gemüseanbau [...] auch Ausgangspunkt politischen Handelns für die, die den ungehinderten und ungenierten Zugriff auf die

16 Bohn, Katrin/Viljoen, André: Laboratorien der urbanen Landwirtschaft: Von Havanna bis Milwaukee. In: Krasny: Hands-on Urbanism 2012, S. 226–235. Einen Einblick in das urban-landwirtschaftliche Geschehen in Detroit vermittelt der Dokumentarfilm »Urban Roots«, in dem die ›Krise‹ der Stadt vor allem unter dem Gesichtspunkt der damit verbundenen ›Chance‹ für ihren Wiederaufstieg abgehandelt wird; Urban Roots: When everything collapses plant your field of dreams. Dokumentarfilm, Tree Media, USA 2011, Regie: Marc McInnis. 17 Im Internet präsent unter http://www.anstiftung.de (Zugriff: 20.10.2016). 18 Müller, Christa: Urban Gardening. Grüne Signaturen neuer urbaner Zivilisation. In: Dies. (Hg.): Urban Gardening: Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München 2011, S. 22–53, S. 24. 19 Ebd. 20 Ebd., S. 30. 21 Ebd., S. 29, S. 49. 22 Ebd., S. 25.

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Ressourcen der Welt in Frage stellen«23. Dementsprechend zählt die Autorin in ihren Beispielen für Urban Gardening auch ausschließlich Gärten auf, die exakt dieser Vorstellung – und jener vom partizipativ-gemeinschaftsorientierten Gärtnern – entsprechen: »Guerilla Gardening«, »Frauengärten«, »Generationengärten« und »Studierendengärten«, »Tafelgärten« und (da sie auch hierüber publiziert hat24) natürlich »Interkulturelle Gärten«.25 Die eigenwillige Veronika könnte hier allenfalls dann ihren Platz finden, wenn sie ihre Grundstücke wenigstens in »Nachbarschaftsgärten« umwandelte – auch wenn ihre Kompost-Kosmologie durchaus mit Müllers Bildern von Urban Gardening kompatibel wäre. In dessen aktueller Verfassung allerdings dürfte Müller Veronikas Anwesen als ein solches begreifen, das »erholungsuchenden Großstadtbewohnern der gehobenen Einkommensklasse ein weltabgewandtes Refugium im Privaten« bietet.26 Dem freilich liegt eine exklusive Sichtweise zugrunde, die das urban-agrarische Handeln nur dann anerkennt, wenn es im sozialen und ökologischen Sinne ›Projektcharakter‹ hat – eine Sichtweise, die ich nicht unbedingt teile, denn den Versuch, durch eigenständiges agrarisches Handeln zur Nahrungsmittelselbstversorgung zu gelangen, erkenne ich nicht nur in ›Projekten‹ partizipativgemeinschaftsorientierten Gärtnerns, sondern eben auch bei Veronika und bei den im Folgenden noch vorzustellenden Akteurinnen und Akteuren, gleich ob diese bestimmte Kriterien ›biologischen‹ Wirtschaftens erfüllen oder nicht und gleich ob diese nun eingefriedete oder gemeinschaftsorientiert Grundstücke ohne Einfriedung bewirtschaften. In dem von Müller herausgegebenen Buch unterscheidet die Soziologin Cordula Kropp zwischen Stadtgärtnerinnen und -gärtnern der »Industriemoderne« und solchen, die »Städtische Gärten der Reflexiven Moderne« bewirtschaften. Den ›traditionellen‹ Klein- und Schrebergärtnerinnen und -gärtnern werden dabei die neu-urbanen Gärtnerinnen und Gärtner, insbesondere solche mit integrativem Anspruch und/oder ›Guerilla‹-Attitüde, entgegengesetzt. Von Letzteren verspricht sich die Autorin, ähnlich wie Müller, viel. Solche Gärten nämlich »unterlaufen industriemoderne Unterscheidungen und stellen sie reflexiv in Frage: Mal steht die eigensinnige Begrünung und Nutzung von Flächen, deren Wert die Stadtplanung

23 Ebd. 24 Müller, Christa: Wurzeln schlagen in der Fremde. Die Internationalen Gärten und ihre Bedeutung für Integrationsprozesse. München 2002. 25 Müller: Urban Gardening 2011, S. 31–36. 26 Ebd., S. 9–18, S. 9.

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verkennt oder unterschlägt, im Zentrum, mal eine gewitzte Geschäftsidee der Peer-Economy im Kontext alles erdrückender Arbeitslosigkeit. Dabei sind Gemeinschaftsdachgärten, nomadische Gärten, mobile Landwirtschaften und ihre liebevoll angebotenen Bio- und Alternativprodukte weder als Stadtflucht noch als soziale Fürsorgeprojekte misszuverstehen, denn sie gründen in urbaner Eigeninitiative und einem durchaus selbstbewussten, teils auch gegenkulturellen Anspruch, das Städtische und seine Natur neu zu definieren und sich entwickeln zu lassen.«

27

Bei aller Sympathie für eigensinnige Landnahmen im städtischen Raum, für smarte Ideen im Kontext von Mikroökonomien, nomadische Gärten, gemeinschaftlich bewirtschaftete Grünräume auf Dächern und (mobile) Landwirtschaften mit ›alternativem‹ Anspruch drängt sich hier der Eindruck auf, dass die politisch reflektiert handelnden Akteurinnen und Akteure gegen die (scheinbar) unpolitisch agierenden traditionellen Kleingärtnerinnen und -gärtner ausgespielt werden, ohne dass letztere in ihrem Tun und ihren Ideologemen in die Betrachtung einbezogen würden. Weiter stellt sich die Frage, ob sich »urbane Eigeninitiative« und das Bemühen um eine Neudefinition städtischer Natur durch ein auf Selbstversorgung abzielendes agrarisches Handeln nicht auch dort verorten lässt, wo sich ›Gegenkultur‹ nicht aus einem Anspruch heraus, sondern aus einem Agieren unter gegebenen Umständen entwickelt. Hinterfragt werden könnte schließlich auch, ob man im verengten Blick auf agrarisch aktive »Urban Hipster«28 nicht auch die Chance verpasst, das zu entdecken, was verschiedenste agrarische DIYPraktikerinnen und -Praktiker am Ende doch eint, nämlich ein Hands-on Activism, der aus der verbreiteten Vorstellung resultiert, dass die Politik (alleine) die als Krisen verstandenen Verhältnisse nicht ändern werde. Ein Handeln, das auch dann politisch ist, wenn es sich unpolitisch gibt, und das sich als hemdsärmelige Variante dessen beschreiben lässt, was der australische Politikwissenschaftler Simon Tormey als »unterirdische Politik« bezeichnet, die an den klassischen Wegen der politischen Repräsentation vorbei die Geschicke selbst in die Hände nehmen will.29

27 Kropp, Cordula: Gärtner(n) ohne Grenzen: Eine neue Politik des ›Sowohl-als-auch‹ urbaner Gärten. In: Müller: Urban Gardening 2011, S. 76–87, S. 83. 28 Müller verwendet, indem sie die Überraschung über die Hinwendung dieser Gruppe zu gärtnerischen Aktivitäten zum Ausdruck bringt, diesen Begriff; Müller: Urban Gardening 2011, S. 22. 29 Mit »unterirdischer Politik« meint Tormey ein direktes, zeitlich unmittelbares Handeln, wobei er als Beispiele u. a. den Arabischen Frühling, die Occupy-Bewegung, Sit-ins und Produktboykotte anführt und dahingehend argumentiert, dass diese Politikform zur

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Angestoßen von den in der Wiener Ausstellung gesammelten Eindrücken und den im zugehörigen Katalog präsentierten Beispielen urbanen Gärtnerns habe ich mir 2012 zunächst ohne konkrete Zielsetzung, verschiedene ›Vorzeigeprojekte‹ urbanen Gärtnerns angesehen, ehe ich über einen Beitrag in der »Zeit«, in dem über den Trend der Hühnerhaltung in nordamerikanischen Großstädten berichtet worden ist,30 mein Interesse auf solche urbane Landwirtschaften fokussiert habe, in welchen Nutzpflanzenanbau mit Geflügelhaltung verbunden wird.31 Und wiewohl ich selbst nicht von einem ›Trend‹ zur urbanen Geflügelzucht sprechen würde, habe ich im Laufe der Jahre 2012 und 2013 eine Reihe von Stadtbäuerinnen und -bauern ausfindig gemacht, habe mit jenen, die dazu bereit waren, Gespräche geführt und mir im Großraum Stuttgart, in Freiburg im Breisgau, in Heilbronn und Leipzig unterschiedlich strukturierte städtische ›Bauernhöfe‹ vorführen und erläutern lassen. Gezeigt hat sich dabei, dass sich die DIY-Praxen – entgegen dem von Medien und Wissenschaften vermittelten Bild – nicht auf bestimmte Altersgruppen beschränken lassen, dass sie nicht nur von weißen, nicht-migrantischen und höher qualifizierten Bevölkerungsschichten ausgeübt werden, und dass es zwar gelegentlich, aber durchaus nicht immer, darum geht, ›bewusst‹ eine alternative Stadtentwicklung auf den Weg zu bringen.

    D AS   ›A LLMEND ‹-­N ETZWERK   Ohne eine politische Programmatik zu formulieren und ohne missionarischen Anspruch agiert ein Netzwerk suburbaner Freizeitlandwirtinnen und -landwirte im Großraum Stuttgart.32 Sämtliche Akteurinnen und Akteure – von den insgesamt neun Beteiligten habe ich sechs kennengelernt und mit fünf von ihnen (Rainer und die Ehepaare Johanna/Dean und Barbara/Thomas, alle 60 bis 69 Jahre alt) längere Gespräche geführt – haben Grundstücke gepachtet oder erworben, die entweder

Überwindung der Krise der politischen Repräsentation führe; Tormey, Simon: Vom Ende der repräsentativen Politik. Hamburg 2015. 30 Seifert, Leonie: Hühner im Hinterhof: Die Stadtfarmer kommen. In: Die Zeit, 2.4.2010, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-04/new-york-huehner-ernaehrung (Zugriff: 30.12.2015). 31 Vgl. Hörz, Peter F. N.: Wenn der Garten zum Hof wird: Hühnerhaltung in der Stadt. In: Hirschfelder, Gunther u. a. (Hg.): Was der Mensch essen darf: Ökonomischer Zwang, ökologisches Gewissen und globale Konflikte. Wiesbaden 2015, S. 193–209. 32 Vgl. Feldnotizen, 16.8., 17.8., 28.12.2012.

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direkt aneinander grenzen oder nur wenige Minuten Fußweg voneinander entfernt liegen. Man gärtnert, pflanzt Gemüse und kultiviert (Beeren-)Obst und fast alle halten Hühner. Darüber hinaus haben Thomas und Dean auch Ziegen und Puten, wobei Letzterem die Haltung von Tieren – gemäß dem mit der Stadtgemeinde abgeschlossenen Pachtvertrag – eigentlich untersagt wäre. Ein Teil der Akteurinnen und Akteure hat Migrationshintergrund (Johanna und Dean stammen aus dem ehemaligen Jugoslawien), niemand verfügt über ein höheres Einkommen oder kann als ›höher qualifiziert‹ bezeichnet werden. In der Tierhaltung vertritt man sich wechselseitig bei Krankheit oder urlaubsbedingter Abwesenheit und bildet im Austausch von allerhand Materialien und Werkzeugen sowie hinsichtlich der Auslaufflächen für das Federvieh eine Art informelle posttraditionale ›Allmendwirtschaft‹. Zwar gibt es innerhalb dieses Netzwerks kein Gemeinschaftseigentum an Flächen oder Produktionsmitteln und es existieren auch keine schriftlich niedergelegten Absprachen zur gemeinschaftlichen Nutzung von Flächen oder landwirtschaftlichen ›Betriebsmitteln‹. Gemeinschaftlich gewirtschaftet wird gleichwohl: In der Praxis heißt dies etwa, dass einer der Akteure, der einen Autoanhänger besitzt, Stroh für alle Beteiligten kauft und dieses entweder in bar vergütet bekommt oder die Ware zum Beispiel gegen Rindenmulch tauscht. Hütten, Ställe, Frühbeete und Gewächshäuser werden oft aus Materialien vom Sperrmüll oder von Abbruchhäusern gebaut oder es werden Materialien gegen Hühner oder Eier eingetauscht. Zudem zieht Dean auf einem Fensterbrett im Flur seines Wohnhauses in ausgedienten Joghurtbechern Tomatenpflanzen, die wiederum von mehreren Beteiligten auf deren Grundstücken ins Freiland gesetzt werden.33 Unprätentiös und ohne vertiefte Kenntnisse professioneller Methoden des Gartenbaus und der Tierhaltung arbeiten die Mitglieder des Netzwerks auf ihren Grundstücken an einer zumindest teilweisen Subsistenz. In der Arbeit in Gärten und Ställen bezieht man sich weder auf Steiner noch auf Seifert, sondern vielmehr – wie im Falle von Johanna und Dean – auf Alltagswissen, das in der Jugend oder

33 Diese Vorgehensweisen erinnern an ökonomische Praxen, die in der DDR gang und gäbe waren und in den ostdeutschen Bundesländern mitunter auch heute noch eine Rolle spielen; vgl. Nebelung, Christine: Erwerbslos aber nicht arbeitslos: Chancen und Grenzen von Eigenarbeit aus der Perspektive ostdeutscher Landbewohner. In: Herlyn, Gerrit/Müske, Johannes/Schönberger, Klaus (Hg.): Arbeit und Nicht-Arbeit: Entgrenzung und Begrenzung von Lebensbereichen und Praxen. München/Mering 2009, S. 265–281; Hörz, Peter F. N./Richter, Marcus: Old know-how for new challenges: East Germans and collective creativity? Two anthropological case studies. In: Fischer, Gerhard/ Vassen, Florian (Hg.): Collective creativity. Collaborative work in the sciences, literature and the arts. Amsterdam/New York 2011, S. 59–69.

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im Zuge eines learning by doing erworben worden ist. Fokussiert auf die Tierzucht freilich kann dies gelegentlich auch bedeuten, »dass man ’mal ein Huhn verliert« oder »eine Pute den Herzschlag kriegt« (Thomas). Methodische Korrektheit im Sinne von Lehrbüchern zu Gartenbau und Geflügelhaltung ist nicht unbedingt die Sache dieser Akteurinnen und Akteure. Dementsprechend läuft auch die Frage nach der Bedeutung von ›bio‹ und ›alternativen‹ Methoden der Landwirtschaft ins Leere. Denn mit diesem »neumodischen Kram« (Thomas) haben die Beforschten wenig im Sinn. Vielmehr ist davon die Rede, dass »das, was meine Frau und ich hier tun, [...] sowieso ›bio‹ ist«, und zwar »auch dann, wenn ich mich nicht an irgendwelche überkandidelten pseudowissenschaftlichen Regeln aus Büchern halte« (Thomas). Das einzige Gartenbuch, das er jemals gelesen habe, so Thomas, sei eines, das »gleich nach dem Krieg erschienen ist« und Antwort gäbe auf die Frage, »wie kriege ich das ganze Jahr mein eigenes Gemüse?«34 Dabei ist gerade die Bezugnahme auf dieses Buch und die Betonung von dessen zentralem Aspekt, der ganzjährigen unabhängigen Gemüseversorgung, ein Beleg dafür, worauf es Thomas ankommt: die Entkoppelung von (Markt-)Abhängigkeiten und die selbstständige Versorgung gemäß selbst aufgestellter und überwiegend aus der Erfahrung erworbener Regeln und Methoden. Nach den Motiven ihres Tuns befragt, sprachen Dean wie auch Johanna, Thomas und Barbara zunächst vor allem vom gesundheitlichen Wert körperlicher Arbeit im Freien und davon, dass das »hier draußen längst mein Zuhause ist« (Barbara).35 In weiteren Gesprächen jedoch war auch von der »Qualität« selbsterzeugter Brombeeren, Suppenhühner und Eier die Rede, ohne dass diese Qualität genauer definiert worden wäre. Diese »Qualität« besteht weder in der makellosen äußeren Erscheinung der erzeugten Lebensmittel – »klar, die Pfirsiche sehen nicht so [gut] aus wie auf dem [Wochen-]Markt« (Barbara) –, noch in deren ›Natürlichkeit‹ im Sinne einer konsequent angewandten ›biologischen‹ Anbau- beziehungsweise Tierzuchtmethode. Solchen Methoden steht man indifferent (Dean und Johanna), zurückhaltend (»das ist doch hauptsächlich Marketing« [Rainer]) oder ablehnend (Thomas) gegenüber und setzt auf den Beeten gelegentlich auch das eine

34 Die deutschsprachige Ausgabe eines Buches, das der Königliche Gartenbau-Verband in Großbritannien bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Rahmen der Aktion »Grabt für den Sieg« in großer Stückzahl distribuiert hat, um die Bevölkerung zur ganzjährigen Selbstversorgung anzuleiten; N. N.: Vorwort. In: Kabierske, Lothar (Bearb.): Frisches Gemüse im ganzen Jahr: Ein Berater für Kleingärtner und Anfänger. Norden, Ostfr. 1947, loses Einlageblatt. 35 Barbara sprach wiederholt davon, dass sie sich auf ihrem Grundstück wohler fühle als in ihrer »Stadtwohnung« und sofort dort wohnen würde, wäre dies möglich.

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oder andere wasserlösliche Düngemittel ein, »wenn ich vom Reitstall gerade ’mal keinen Pferdemist bekomme« (Thomas). Dean indessen hat es gerne ein wenig natürlicher und verlässt sich auf die Düngewirkung von Geflügelmist. Erst bei meinem letzten Besuch, Ende Dezember 2012, genau zu jener Zeit, als in den deutschen Medien eine Debatte über die als Tierquälerei definierte betäubungslose Kastration von Ferkeln in der industriellen Landwirtschaft geführt und dieses Thema auch im Kreis der Akteurinnen und Akteure beim Kaffee diskutiert wurde, wurde deutlich, dass es nicht nur die gesundheitsfördernde Wirkung der Gartenarbeit ist, die zum agrarischen Handeln motiviert. Vielmehr gehe es gerade auch bei der Tierhaltung darum, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und selbst zu bestimmen, wie Geflügel oder Ziegen zu behandeln seien, ob man bei Tiererkrankungen gegebenenfalls einen Veterinär hinzuzieht oder lieber – wie Dean – ein altes Hausmittel aus getrockneten Brennnesseln zur Anwendung bringt. Und wie Thomas unter breiter Zustimmung der präsenten NachbarschaftsNetzwerkmitglieder auf den Punkt bringt, komme es »überhaupt nicht darauf an, ob ich das [Gartenbau und Geflügelhaltung] jetzt biologisch-dynamisch mache [...], sondern es kommt darauf an, dass ich weiß, was ich tue, und dass ich nachher [bei der Ernte oder beim Verzehr des Selbsterzeugten] weiß, was ich getan habe, also, dass ich weiß, was drin ist«. Dass die Selbstversorgung in Gestalt von Urban Farming derzeit im Trend liegt, dass auch mitten in Großstädten Gemüsebeete angelegt und – zumindest vereinzelt – Hühnerställe gebaut werden, hat ein Teil der Netzwerk-Akteurinnen und -akteure zur Kenntnis genommen. Thomas hat sich anlässlich einer Berlinreise auch die Prinzessinnengärten angeschaut und sich zu diesem Thema eine Meinung gebildet: Einerseits sei die Handlungsweise »diese[r] Leute« verständlich, denn Selbstversorgung wollten ja viele Menschen. Andererseits, so Thomas, »gehen mir die mit ihrem Weltverbesserungsgehabe auch auf den Wecker«. In Summe aber habe er natürlich nichts gegen die Urban Farming-Aktivistinnen und -Aktivisten, »aber nur deshalb, weil die ihren Mangold in alten Säcken und in Plastikboxen anbauen, werden die die Welt auch nicht verbessern. [...] Und nur weil ich mein Gemüse selber anbaue, lauf’ ich ja auch nicht dauernd mit ’nem Heiligenschein durch den Garten!«

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Annalinde-Hühnerauslauf unter hohen Bäumen für die Waldvögel Hühner

»Gegen den Trend gebürstet«: Huhn und Hahn als Teil der urbanen Farm Annalinde

Fotos: Peter F. N. Hörz.

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C HINESISCHE   L AUFENTEN  UND   K ARTOFFELKISTE   Sehr gepflegt sieht der Garten von Frau Huong und Herr Vinh aus,36 die in den 1980er Jahren aus Vietnam nach Deutschland eingewandert sind und in einer Stadt im Großraum Stuttgart leben. Huong und Vinh arbeiten als Pflegekräfte in einem Behindertenheim, leben in einem Reihen-Eckhaus und streben bei Gemüse und Kräutern Selbstversorgung an, weshalb sie ihren Garten fast komplett mit solchen bepflanzt und sich somit über die von der Wohnbaugenossenschaft festgelegte Beschränkung auf einen »Ziergarten ohne Tiere« bislang erfolgreich hinweggesetzt haben. Allerdings, so sagt Vinh verschmitzt lachend, arbeite er hart daran, dass das Gepflanzte »aussieht wie ein Ziergarten«, und schon mehrfach habe er für die äußere Erscheinung seines Gartens Komplimente von den Nachbarn erhalten. Tatsächlich wäre ein Foto der Gemüsepflanzungen von Houng und Vinh eine Zierde für die Titelseite der »Landlust«, wobei dieses Bildmotiv – ethnobotanisch betrachtet – die Beschränkung der Zeitschrift auf traditionell-mitteleuropäische Gartenverhältnisse sprengen würde. Etliches, was das Ehepaar pflanzt, ist in den hiesigen Nutzgärten nur selten zu finden. Da eine Reihe von Gemüsen und Kräutern, die für die vietnamesische Küche gebraucht würden, entweder nur schwer und überteuert oder aber nur in mangelhafter Qualität in ihrer Stadt erhältlich sei, habe sie, erklärt Huong, mit ihrem Mann den Weg des Eigenanbaus beschritten. Überdies fürchtet das Ehepaar, dass Agrarwaren, die aus Südostasien nach Europa geliefert werden, von Pflanzenschutzmittelrückständen belastet seien. Das Ehepaar betreibt den giftfreien Anbau von Bittergurken; die Schneckenbekämpfung bleibt zwei chinesischen Laufenten überlassen. Von ›biologisch-dynamischen‹ oder ›biologisch-organischen‹ Landwirtschaftsphilosophien haben die Eheleute nur vage Vorstellungen. Wohl aber legen sie Wert auf organische Düngeund Pflanzenschutzmittel, die sie in den Gartenfachmärkten der Region zukaufen. Allerdings bereiten auch Huong und Vinh auf ihrem Grundstück, aus den eigenen organischen Haushaltsabfällen Kompost in zwei 530-Liter-Thermokompostern. Huong zitiert in diesem Zusammenhang die in der Kleingarten-Ratgeberliteratur oft proklamierte Formel, wonach »der Kompost [...] die Sparkasse des Gärtners« sei, was auf den ersten Blick irritierend ist, weil diese Kunststoffbehältnisse nicht ganz billig sind. Der Begriff der »Sparkasse« bezieht sich hier allerdings nicht auf einen sparsamen Umgang mit Geld, sondern auf einen sorgsamen Umgang mit ›Ressourcen‹, zu welchen auch der Satz des in diesem Haushalt reichlich konsumierten vietnamesischen Kaffees gezählt wird.

36 Vgl. Feldnotizen, 8.8.2014, 20.6.2015.

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Dass sie ungeachtet dieses sorgfältigen Umgangs mit ›Ressourcen‹ mit ihrem DIY mehr Geld ausgeben dürften, als bei einer Beschaffung asiatischer Grünwaren in einem Stuttgarter Delikatessengeschäft, ist dem Ehepaar bewusst, doch dies »spielt keine Rolle«, denn in ihrem Tun vereinigten sich »Hobby und Lebensmittelerzeugung«. Ginge er in ein Fitnessstudio oder praktizierte eine Sportart wie »zum Beispiel Tennis«, so Vinh, gäbe er schließlich auch Geld aus, allerdings ohne, dass er am Ende Kräuter und Gemüse habe. Die Wertigkeit des Selbstgepflanzten ergibt sich demnach daraus, dass Huong und Vinh die Entstehung ihres Gemüses selbst unter Kontrolle haben. Dass die Enten in diesem stadtbäuerlichen Kontext vor allem Maskottchen sind, räumen die Eheleute ein – für die Schlachtung vorgesehen sei keines der Tiere. Nützlich seien diese aber allemal, weil sie Schädlinge »natürlich« vernichten und »wertvollen« Dung liefern. Den angeblich sorglosen Umgang mit Pflanzenschutzmitteln in (Südost-) Asien sieht das Ehepaar kritisch und erklärt, dass dort heute Fehler gemacht würden, die in den »USA mit DDT viel früher schon gemacht«37 worden seien, dass der Umgang mit diesen Präparaten in Asien »unprofessionell« sei und Schutzvorschriften nicht eingehalten würden.38 Dabei gäbe es in Asien viele positive Ansätze für eine »gesunde« Landwirtschaft. Ein solches Modell, die Kartoffelkiste, hat mir Vinh bei meinem letzten Besuch präsentiert: In einer, aus »unbehandelten« Brettern zusammengenagelten Holzkiste werden in einer dünnen Schicht Humus Saatkartoffeln gesetzt. Kommen Triebe ans Licht, wird Erde nachgefüllt, bis die Kiste im Hochsommer randvoll ist – mit dem Effekt, so Vinh, dass die Pflanzen ein umfangreiches Wurzelwerk mit zahlreichen Knollen bilden und auf kleinstem Raum ein hoher Ertrag zu erzielen sei.

37 DDT steht für Dichloridphenyltrichlorethan, ein in den 1940er Jahren entwickeltes Insektizid, heute in zahlreichen Staaten verboten. 38 Inwieweit diese Sichtweise durch die fortschreitende Sozialisation des Ehepaars im Kontext der deutschen Mittelschichtgesellschaft bestimmt ist und ob hier durch eine ›deutsche‹ Mittelschicht-Brille auf Südostasien geblickt wird oder eine besonders ›konservative‹, das agrarkulturelle ›Erbe‹ glorifizierende ›vietnamesische‹ Sichtweise zum Tragen kommt, vermag ich nicht zu beurteilen. Vinh bezog sich im Gespräch explizit auf vietnamesische »Tradition«. Allerdings muss die Frage offen bleiben, ob er diese erst aufgrund der Wertmaßstäbe zu schätzen gelernt hat, die in seinem baden-württembergischen Mittelschichtkontext Gültigkeit haben; vgl. dazu Hörz, Peter F. N.: »Fünfzig Euro ist besser als fünfzig Mal anrufen«. Einige ethnografische Notizen über Geschäftsstellen von Geldtransfer-Serviceunternehmen und ihre Kunden. In: Bricolage. Innsbrucker Zeitschrift für Europäische Ethnologie 7 (2014), S. 207–240.

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A NNALINDE ,  DAS   ›P ROJEKT ‹  UND     DIE   S TADTFARM  VON   M ATTHIAS   Die Kartoffelkiste würde vermutlich auch den Beteiligten des Leipziger Gemeinschaftsgartenprojektes Annnalinde gefallen: Ihre Eignung für den urbanen Raum kann der ›Kiste‹ nicht abgesprochen werden, und sie würde – ihrem Konstruktionsprinzip nach – nicht nur gut zu den »mobilen Hochbeeten« passen, in welchen hier Gemüse gezogen wird, sondern auch zum praktizierten »vertikalen [Kartoffel-]Anbau in Säcken«.39 Überhaupt lassen sich im praktischen Handeln wie auch bei den diesem zugrundeliegenden Ideologemen bei Annalinde auf der einen, bei Huong und Vinh, Veronika und den ›Allmend‹-Akteurinnen und Akteuren auf der anderen Seite durchaus Schnittmengen ausmachen – auch wenn dies einige der Angesprochenen vermutlich nicht so sehen wollten. Im Unterschied zu allen soweit vorgestellten Akteurinnen und Akteuren jedoch agieren die Leute von Annalinde stets vorsätzlich gemeinschaftlich.40 Zudem hat das Projekt, das zum Zeitpunkt meiner Erhebungen ein Vorhaben der Initiative für zeitgenössische Stadtentwicklung e. V. war und heute als »gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung« verfasst ist, seine handlungsleitende Philosophie ausformuliert und kommuniziert diese offensiv nach außen: Im Jahre 2013 war auf der Website des Projektes zu lesen, dass man ökologisch wirtschafte, dass es im Gemeinschaftsgarten kein Privateigentum an Beeten gäbe, und dass die Zielsetzung des Gartens darin bestehe, »mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, Nachbarn und passionierten Gärtnern [gemeinsam zu lernen], wie man lokal Lebensmittel herstellt und einen Ort urbanen Lebens schafft«.41 Angebaut werden im Gemeinschaftsgarten Gemüse und Beerenobst, wobei man angesichts einer nicht auf Dauer sichergestellten Verortung des Gartens vor allem in mobilen »Hochbeeten aus recycelten Bäckerkisten oder Palettenboxen« anpflanzt,42 die sich bei einer allfälligen Übersiedlung translozieren ließen. Entsprechend den Zielsetzungen des Projektes ist der Garten in seiner Anlage auf in-

39 Vgl. http://annalinde-leipzig.de/projects/projekthistorie/ (Zugriff: 4.2.2016). 40 Im Folgenden beziehe ich mich bei Annalinde auf den Status quo vom Sommer 2013. Das Gespräch mit zwei Akteuren des Projektes fand am 30.8.2013 statt. Die zwischenzeitlichen Veränderungen sind aber eher evolutionärer denn revolutionärer Natur, http://www.annalinde-leipzig.de (Zugriff: 4.2.2016). 41 IFZS: Garten Annalinde, http://ifzs.de/annalinde (Zugriff: 5.9.2013, inzwischen offline). 42 Ebd.

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teressierte Besucherinnen und Besucher ausgerichtet und zielt – wie auch die Informationsmedien des Vereins – darauf ab, die nachhaltige urbane Lebensmittelproduktion zu propagieren. Mit einigem Recht ließe sich somit urteilen, dass es sich bei Annalinde um eines jener Projekte handelt, die aktuell in den Medien wie auch bei Müller und Kropp als ›neu‹ dargestellt werden, und es ist sicher nicht falsch, die Akteurinnen und Akteure von Annalinde als Trendsetter zu begreifen.43 Jonas, mit dem ich bei Annalinde am meisten gesprochen habe, meint indessen, dass Projekte wie dieses »ja eigentlich gegen den Trend gebürstet« seien. Denn hier »halten ein Paar Freaks ihre eigenen Hühner«, um sich selbst zu versorgen und der Stadtentwicklung den Weg in Richtung Subsistenz zu weisen, während sich allgemein das Prinzip der Massentierhaltung in immer größeren Dimensionen durchsetze und Kulturgut – etwa in Gestalt des Wissens über landwirtschaftliche Techniken und »Zusammenhänge« – verloren ginge.44 Der Garten, der als »urbane Farm« zu begreifen sei, bilde somit die »Blaupause zu einem Selbstversorgergarten, in dem Kulturtechniken« (einschließlich der Hühnerzucht) gepflegt würden, »um die sich sonst keiner mehr kümmert«. Dabei ist es dem Gartenarchitekten Jonas wichtig zu erwähnen, dass Hühner, evolutionsgeschichtlich betrachtet, eigentlich Waldvögel seien und deshalb nicht nur eines Auslaufs, sondern auch hoher Bäume bedürften, in deren Schutz sie sich aufhalten könnten – und die gäbe es nicht einmal »bei bio«. Solche grundsätzlichen konzeptionellen Überlegungen, gepaart mit der täglichen Arbeit mit Pflanzen und Tieren, sind für Jonas körperliche und geistige Herausforderungen, die »einen zu einem anderen Menschen machen, als wenn du nur acht Stunden Geld verdienst und konsumierst«. Noch einen Schritt weiter in der gesellschaftskritischen Argumentation geht Matthias, der in Freiburg im Breisgau eine in seiner Nachbarschaft nicht unumstrittene »Stadtfarm« betreibt, bislang aber hartnäckig alle Versuche ihrer Besei-

43 Nicht umsonst zeigt der bereits erwähnte Bildband »Stadt der Commonisten« auf 28 Seiten zahlreiche Bilder des Gemeinschaftsgartens; Baier/Müller/Werner: Stadt 2012, S. 7–35. 44 An Jonas’ Verweis darauf, dass das Projekt »gegen den Trend« gerichtet sei, knüpft sich ein Bündel von Fragen, denn einerseits erweckt die erstaunliche Zahl von Medien, die sich der Thematik urbaner Landwirtschaft annehmen, den Eindruck, dass dieses sehr wohl im Trend liege und tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Projekten, die im Sinne eines urbanen agrarischen DIY etwas tun, was es in dieser Form bislang nicht gab. Andererseits sind diese Projekte wiederum (noch) selten genug, dass sie die mediale und wissenschaftliche Aufmerksamkeit wecken und als neues Stadtphänomen vorgestellt werden können.

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tigung abwehren konnte: »Es geht darum, herauszutreten aus einer passiven Haltung und nur alle vier oder fünf Jahre ein Kreuzchen auf einem Wahlzettel zu machen, das ja doch nicht viel ändert.«45 Im gärtnerischen und tierzüchterischen Handeln indessen – Mathias baut Gemüse an (»die einzigen Freiland-Artischocken Deutschlands«) und hält ein halbes Dutzend Hühner und einen Hahn – ändere sich Vieles. Zuerst bei den handelnden Personen selbst, weil die Lebensmittel von besserer Qualität seien und der Bezug zum Produkt wiederhergestellt werde; in der Folge aber auch in der Agrarindustrie und in »der Wirtschaft überhaupt«, da Aldi, Lidl und die industrielle Landwirtschaft ja irgendwann merkten, dass ihnen die Kunden abhandenkämen. Damit begreift Matthias die stadtagrarische Aktivität als eine notwendige Ergänzung zu politischer Arbeit; die Politik alleine gilt ihm als zu schwach, um die Verhältnisse in einer kapitalistischen Gesellschaft zum Guten zu verändern, »weil eine Angie oder ein Kretsch im Vergleich zu den multinational aufgestellten Konzernen ja gar nicht viel zu sagen hat«.46 Es ginge demnach darum, durch agrarische »Selbstversorgung der Industrie das Wasser abzugraben« und sie solcherart »dahin zu lenken, wo sie ihren Platz haben muss, als Diener und nicht als Beherrscher des Menschen«. Und während Matthias auf einem Gaskocher eine Kanne Wasser erhitzt, um frische Minze aufzubrühen, fährt er fort: »Die Welt zu verändern ist gar nicht so schwer, du brauchst einfach nur ein paar Beutel Samen, zwei Hände und eine Hacke«. Die ganze Menschheitsgeschichte, so höre ich weiter, habe sich durch Ackerbau und die Domestizierung von Tieren verändert, sodass niemand sagen solle, man könne die Welt nicht mit ganz einfachen Aktivitäten verändern. »Also das, was ich da mache, also die Selbstversorgung [...] Weißt du, dieser Ansatz steht schon bei Marx, und auch Gandhi hat selbst gesponnen, und der hat ja nun wirklich die Welt verändert.«

45 Vgl. Interview sowie Feldnotizen, 26.9.2014. 46 Mit »Angie« ist die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) gemeint, mit »Kretsch« der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen).

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Mangold-Anbau in recycelten Kunststoffsäcken bei Annalinde in Leipzig

Hochbeete aus Bäckerkisten und Paletten ebendort – bei Übersiedlung leicht zu translozieren

Fotos: Peter F. N. Hörz.

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I DEOLOGEME  UND   P RAXEN  IM   K ONTEXT     DES   U RBAN   F ARMING   –  EIN   F AZIT   Die skizzierten Beispiele eines agrarischen DIY in der Stadt repräsentieren unterschiedliche soziale Schichten, unterschiedliche Bildungsniveaus und Altersgruppen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie mit ihrem Handeln mehr oder minder weitgehende Selbstversorgung praktizieren und damit zumindest ein Stück weit einer auf marktvermitteltem Konsum basierenden Ernährungsweise zu entkommen versuchen. Im Detail freilich unterscheiden sich die Akteurinnen und Akteure durchaus: Während Veronika auf Basis der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise, allein auf sich gestellt, eine Subsistenz auf dem Feld der Ernährung anstrebt und dieses Tun – ähnlich wie auch Jonas und Matthias – als bewusste Absage an ökonomische, soziale und ökologische Verhältnisse begreift, die sie als Missstände definiert, agiert das ›Allmend‹-Netzwerk pragmatisch, an Erfahrungswissen orientiert und – zumindest teilweise (Thomas) – nicht (vollständig) entkoppelt von den Methoden ›konventioneller‹ Landwirtschaft. Diesen Pragmatismus teilen sie mit Huong und Vinh, die sich auch keiner bestimmten Richtung der Landwirtschaft im Sinne von Lehrbuchtreue verpflichtet sehen, anders als die ›Allmend‹Akteurinnen und Akteure jedoch sehr wohl auf ›konventionelle‹ Düngemittel und ›konventionelle‹ Pflanzenschutzmittel verzichten und verschiedene noch in Vietnam erlernte gärtnerische Kulturtechniken mit learning by doing und den ›biologischen‹ Hilfsmitteln der Freizeitgartenindustrie verbinden. Ähnlich sind sich diese beiden Gruppen auch in ihrem Verzicht auf ein missionarisches Selbstverständnis, was sie von Annalinde ebenso trennt wie von Veronika. Die ›Allmend‹-Akteurinnen und Akteure wie auch Huong und Vinh haben vor allem die Selbstversorgung im Sinn. Huong und Vinh heben sich wiederum durch ihren ästhetischen Anspruch an die Gestaltung ihres Gartens ab. Dennoch widersetzen sie sich Regeln nicht weniger als Dean, demgemäß Pachtvertrag die Tierhaltung generell untersagt wäre. Dean und das aus Vietnam zugewanderte Ehepaar nutzen und gestalten ihren Grund nach eigenen Vorstellungen – wiewohl sie weit davon entfernt sind, sich selbst als Guerilla Gardener zu verstehen oder von Müller und Kropp als solche verstanden zu werden. Mit diesem Nutzen und Gestalten kann eine elaborierte Vision zur Veränderung der Stadt (und der Welt) verbunden sein, wie es bei Annalinde, Veronika und Matthias der Fall ist, muss es aber nicht. Verändert wird die Stadt aber allemal, weil das agrarische DIY – reflektiert oder nicht – die Gestalt des urbanen Raumes prägt. Beeinflusst werden durch die Subsistenzstrategien darüber hinaus auch Wirtschaft, Gesellschaft und Ökosystem, weil alles, was selbst erzeugt, nicht ge-

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kauft wird. Auch das Recyclingprinzip, das bei Annalinde selbstbewusst nach außen kommuniziert und in der einschlägigen Literatur als wichtige Ressource der urbanen Landwirtschaft herausgestellt wird,47 muss nicht notwendigerweise Teil eines ökologischen Konzepts sein, sondern kann – wie bei Dean und den von ihm für die Anzucht von Tomatenpflanzen genutzten Joghurtbechern – schlichtweg ein Weg sein, zu billigen Pflanzgefäßen zu kommen. Damit ist das, was Dean tut, sicherlich nicht nur gut für seinen Geldbeutel, sondern auch für die Umweltbilanz seines Handelns; Akzeptanz als Urban Farmer fände er gleichwohl weder innerhalb jener Gruppen, die sich selbst als Teil der Urban Gardening-Szene begreift, noch von jenen, welche diese ›Szene‹ aktuell portraitieren und analysieren. Denn was Dean tut, tut er nicht mit jenem Bewusstsein, das etwa Müller für die Protagonistinnen und Protagonisten des Urban Farming und Kropp für das Gärtnern in den »Städtische[n] Gärten der Reflexiven Moderne« für konstitutiv halten. Ebenso wenig können in dieser Perspektive Huong und Vinh als reflektiert-reflexive Urban Farmers gelten, weil sie zwar ›biologisch‹ wirtschaften, aber in ihrem auf sich selbst beschränkten Tun der industriellen ›ersten‹ Moderne verhaftet sind, und überdies – wiewohl sie mit ihrer Gartengestaltung die Anerkennung ihrer Nachbarn haben – ›einfach so‹ und nicht im Rahmen eines Gartenprojekts wirtschaften. So gesehen wären von den von mir vorgestellten Akteurinnen und Akteuren am Ende nur die Annalinde-Gärtnerinnen und Gärtner ›richtige‹, weil mit dem entsprechenden Bewusstsein partizipativ und reflexiv handelnde Urban Farmers. Diese Zuspitzung allerdings wirft die Frage auf, inwieweit die eng geführte Definition von Müller und die zwischen zwei Idealtypen gezogene Trennlinie zwischen Gärten der industriellen Moderne auf der einen und solchen der reflexiven Moderne auf der anderen Seite für ein Verständnis der gesamten Bandbreite agrarischer DIY-Praxen und Ideologeme überhaupt tragfähig ist. Weiter darf gefragt werden, ob nicht Müller und Kropp und mit ihnen vereint die Erzeugerinnen und Erzeuger von Bildbänden und anderen Medien, die das ›neue‹ urbane Gärtnern thematisieren, bestimmte agrarisch aktive soziale Gruppen (tendenziell jünger, höher qualifiziert und mit dem ›richtigen‹ politischen Bewusstsein ausgestattet), als Avantgarde und Elite aufgewertet, ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und zugleich jene abgewertet und unbeachtet gelassen werden, die – unprätentiös und scheinbar weniger ›bewusst‹ und ›reflexiv‹ – agrarisch aktiv sind. Dabei handeln auch diese wenig beachteten Akteurinnen und Akteure (tendenziell älter, geringer qualifiziert und vordergründig apolitisch) mit Bezug auf ›Krisen‹ auf die sich auch die ›hippen‹ urbanen Gärtnerinnen und Gärtner beziehen. Denn wenn

47 Unter Bezugnahme auf die Prinzessinnengärten etwa bei Müller: Urban Gardening 2011, S. 38.

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auch Rainer, Dean und Johanna, Thomas und Barbara, Huong und Vinh nicht so elaboriert argumentieren wie Jonas von Annalinde, Veronika und Matthias, so eint sie ihr Misstrauen gegenüber der industriellen Landwirtschaft. Wie die im ›Allmend‹-Netzwerk geführte Diskussion über die ›richtige‹ Tierhaltung gezeigt hat, machen sich nicht nur höher qualifizierte ›Projekt‹-Bäuerinnen und Bauern Gedanken über das ›Wie‹ der Produktion von Eiern und Fleisch. Genauso lässt sich für die Akteurinnen und Akteure des ›Allmend‹-Netzwerks – nicht weniger als für jene durch den Projektcharakter ihres Handelns geadelten – reklamieren, dass sie vor dem Hintergrund aktueller Diskurse das Verhältnis zwischen Kultur und Natur neu verhandeln. Ob sie das in »vielversprechender Weise« tun, wie es Müller ›ihren‹ Urban Gardeners attestiert, ist am Ende eine Frage des Standpunktes derer oder dessen, die oder der dieses Urteil fällt.48 Aus den gängigen Diskursen über die mangelhafte Qualität der Nahrungsmittel und die Knappheit der Ressourcen, über Klimawandel und Tierschutz – aus den Einsichten in diese ›Wirklichkeiten‹ und aus einem mehr oder weniger klar benennbaren Gefühl der »Entfremdung«.49 ziehen die beforschten Akteurinnen und Akteure ihre praktischen Konsequenzen, indem sie Wege ins agrarische DIY beschreiten, wobei sie jeweils nach bestem Gewissen und Wissen Ideologeme entwickeln, in die das Praxishandeln eingebunden ist. Somit lässt sich allen Akteurinnen und Akteuren – seien diese nun reflektiert oder nicht – etwas attestieren, das man als eine unmittelbare, eine ›mit aufgekrempelten Ärmeln‹ selbst in die Hand genommene Form der Krisenbewältigung verstehen lässt. »Das Gärtnerische«, so schreibt Elke Krasny in ihrer Einleitung zum Ausstellungskatalog von »Hands-on Urbanism«, sei »Seismograf der Krisenbewältigung, der Widerstandsfähigkeit [und] Robustheit«.50 Dies würde ich im Blick auf die von mir angesprochenen Beispiele eines agrarischen DIY uneingeschränkt gelten lassen. Allerdings würde ich noch hinzufügen wollen, dass Urban Farming auch Seismograf eines Gestaltungswillens ist, der im Agrarischen manifest wird, weil den klassischen politischen Instanzen die Veränderung der als problematisch verstandenen Verhältnisse nicht mehr zugetraut wird.

48 Ebd., S. 22. 49 Als Verlust von unmittelbaren Erfahrungen; vgl. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 2003 (14. Aufl.). 50 Krasny, Elke: Hands-on Urbanism 1850–2012. Vom Recht auf Grün. In: Dies.: Handson Urbanism 2012, S. 8–37, S. 36.

Historisches  Wissen  als  Ressource   Wie  das  urbane  Kreativmilieu  mit  Vergangenheit     Zukunft  (selbst-­)macht   M ICHAELA F ENSKE

A BSTRACT :   H ISTORICAL  KNOWLEDGE  AS  A  RESOURCE .   H OW  THE  CREATIVE  URBAN  MILIEU   ( SELF -­) DEVELOPS     ITS  FUTURE  WITH  THE  PAST     Tree beekeeping has recently returned as a practice of new (urban) beekeeping in the global north. From the perspective of the discipline of European ethnology, the present article analyzes the revitalizing of this medieval practice of beekeeping in the context of the Do it yourself movement. Within this social movement, the historical knowledge of tree beekeeping is defined and used as a resource. This resource is used to develop new social, economic and political agendas in order to solve the multiple crises of the 21st millennium (and especially to solve the urgent problem of the mass extinction of European honeybees). Similar to other practices within the Do it yourself movement tree beekeeping also opens up special areas of doing, exploring and feeling. These special areas include reconnecting oneself to the environment and rediscovering nature, enjoying special mixtures of theoretical, practical and apprenticeship learning within new »communities of practice« and developing new moral economies. In exploring these areas, the new urban beekeepers also develop also new (hi-)stories which document their aims and aspirations. Although tree beekeepers regard themselves as part of a utopian movement that aims for a better life, a close analysis reveals some restrictions of this movement.

 

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H ISTORISCHE   D IMENSIONEN  IM  SPÄTMODERNEN   A LLTAG   Unter den neuen Imker_innen der deutschen Hauptstadt Berlin wird seit kurzem eine bislang weitgehend vergessene Praxis des Imkerns erprobt: die Zeidlerei.1 Insbesondere im Kreis sogenannter ›wesensgemäßer‹2 Imker_innen kursiert zunehmend Werbung für Kurse, in denen diese Art der Bienenhaltung erlernt werden kann. Die Mitglieder dieser Gruppierungen rekrutieren sich in Berlin vornehmlich aus der gebildeten urbanen Mittelschicht, die – allem Anschein nach – die soziale Bewegung des Do it yourself (DIY) insgesamt dominiert.3 Die Zeidlerei ist eine in Mitteleuropa bereits im 19. Jahrhundert abgelegte Praxis des Imkerns. Ihre Wiederentdeckung ist Teil der seit einigen Jahren verbreiteten Revitalisierung historischen Wissens im Zusammenhang der grünen Bewegung des DIY. Ursprünglich im handwerklich-bäuerlichen Milieu angewandtes Erfahrungs- und Praxiswissen

1

Unter »neuen Imker_innen« werden hier jene Akteur_innen verstanden, die im Zusammenhang der seit etwa 2010 auch in Deutschland einsetzenden Begeisterung für das Imkern in den Städten angefangen haben, zu imkern. Daneben gibt es in Städten wie Berlin eine seit dem 19. Jahrhundert gewachsene urbane Imkerschaft. Obgleich sich die Milieus der »alten« und »neuen« Imker_innen teils sozial unterscheiden (etwa hinsichtlich ihres Alters, ihrer sozialen Herkunft, ihres Bildungsstandes, ihres Geschlechts), gibt es zunehmend Austausch zwischen ihnen.

2

Die wesensgemäße Imkerei versteht sich als eine Alternative zu der konventionellen bzw. – im Sprachgebrauch der in dieser Betriebsweise Imkernden – ›klassischen Imkerei‹. Inspiriert durch die Lehren Rudolf Steiners orientiert sich die wesensgemäße Betriebsweise selbsterklärtermaßen an den Bedürfnissen und dem Wesen der Biene. Charakteristisch sind bei dieser Betriebsweise u. a. die Bewahrung der Integrität des Brutnestes, die Unterstützung der tierlichen Instinkte (etwa des Schwarmtriebs) und eine bewusst im Sinne der Gesunderhaltung des Bienenvolks schonende Abschöpfung der Produktion, vor allem des Honigs; vgl. z. B. https://www.mellifera.de/ (Zugriff: 25.7.2016).

3

Diese soziale Zugehörigkeit zur ökonomisch und sozial vergleichsweise gut gestellten akademischen Mittelschicht gilt meinem Eindruck nach (es liegen keine quantitativen Erhebungen vor) vor allem für die sogenannten neuen Imker_innen. Im Kontext des urbanen Gärtnerns wird demgegenüber sowohl dem Anspruch als auch der Umsetzung nach eine breite soziale Verankerung behauptet. Vgl. z. B. Gärtnern als (Sozial-)Politik. Im Gespräch mit der Stadtfarmerin Elisabeth Meyer-Renschhausen. In: Bendix, Regina F./Fenske, Michaela (Hg.): Politische Mahlzeiten/Political meals. Berlin 2014, S. 33–42.

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wird vornehmlich in den Städten des globalen Nordens4 neu eingeübt: Man baut wieder Lehmwände, pflanzt alte Gemüsesorten, hält alte Rassen von Haushühnern, Ziegen oder Schweinen und zunehmend auch (Honig-)Bienen. Das frisch Geerntete wird selbst gekocht und in Weckgläsern konserviert. Es wird repariert, ›gebaustelt‹ (das ist eine Wortneuschöpfung von basteln und bauen) und ›gecraftet‹ (eine Bezeichnung für Handarbeiten im öffentlichen Raum).5 »Zeo2«, das »neue Magazin für Umwelt, Politik und Neue Wirtschaft« der Tageszeitung »taz«, bezeichnete den Trend zum Selbermachen im Lebensmittelbereich als »OmaPrinzip« und verortete die neu belebten Praktiken damit in der Lebenszeit der Großelterngeneration der heutigen urbanen Gärtner_innen.6 Ob der historische Rückgriff nun bis in die Vormoderne reicht oder nur bis zu Praktiken aus der jeweiligen »Oma-Generation« − der postmoderne urbane Alltag erhält durch die geschilderten wie auch durch weitere ähnliche Praktiken vielfältige historische Dimensionierungen. Doch wozu ist das gut? Warum greifen immer mehr Städter_innen zu Spaten, Hammer und Smoker? Was sollen diese Praktiken, und was bewirken sie? Die Antworten, die derzeit auf diese Fragen in öffentlichen Räumen wie urbanen Gärten, Versammlungsräumen verschiedener Vereine beziehungsweise sozialer Gruppen oder (neuen) Medien kursieren, sind kontrovers. Die Akteur_innen selbst verstehen ihre Retro-Orientierung gemäß den Selbstverlautbarungen ihrer akademischen Wortführenden auf (fast) vergessene Wissenspraktiken als »kulturelle Antwort auf die Fetischisierung des Neuen im Konsumkapitalismus«.7 Mit historischen Praktiken begegne man der Vielfachkrise des 21. Jahrhunderts, die −

4

In internationalen Verhandlungen hat sich der Begriff »Global North« etabliert, insbesondere um die Spannung zwischen industrialisierten Staaten und überstaatlichen Wirtschaftsverbünden und bislang sogenannten Entwicklungsländern, auch mit »Global South« bezeichnet, darzustellen; vgl. z. B. Groth, Stefan: Negotiating tradition. The pragmatics of international deliberations on cultural property. Göttingen 2012, S. 186– 187, S. 45.

5

Baier, Andrea/Müller, Christa/Werner, Karin: Stadt der Commonisten. Neue Räume des Do it yourself. Bielefeld 2013, S. 41, S. 49.

6

Zeo2, das neue Magazin für Umwelt, Politik und Neue Wirtschaft 1 (2014), Cover.

7

Baier/Müller/Werner: Commonisten 2013, S. 173. Das dem Begriff Wissenspraktiken zu Grunde gelegte Konzept orientiert sich an dem offenen und weiten Wissensbegriff kulturanthropologischer Wissensforschung; vgl. z. B. Davidovic-Walther, Antonia/ Fenske, Michaela/Keller-Drescher, Lioba: Explorationen volkskundlicher Wissensproduktionen. In: Berliner Blätter 50 (2009), S. 6–14.

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je nach Standpunkt der jeweiligen Krisendiagnostiker_innen − unter anderem Klimawandel, das beschleunigte und massenhafte Aussterben von Tier- und Pflanzenarten (darunter fällt auch die Gefährdung der europäischen Honigbiene), wachsende soziale Ungleichheit, Armut und Hunger und vieles andere mehr beinhaltet.8 Dabei geht es den Akteur_innen im Kontext des DIY wesentlich um die Schaffung einer lebenswerten Zukunft, sie entwickeln »Bausteine für ein ›gutes Leben‹«.9 Retrotrend ins Analoge

Cover der Zeitschrift »i-future« 2015.

8

Vgl. z. B. Demirović, Alex/Dück, Julia/Becker, Florian/Bader, Pauline (Hg.): VielfachKrise. Im finanzmarktdominierten Kapitalismus. Hamburg 2011.

9

Halder, Severin u. a. (Hg.): Wissen wuchern lassen. Ein Handbuch zum Lernen in urbanen Gärtnern. Neu-Ulm 2014, S. 10. Mit Blick auf Urban Gardening vgl. z. B. Baier/ Müller/Werner: Commonisten 2013; Müller, Christa (Hg.): Urban Gardening. Über die Rückkehr der Gärten in die Stadt. München 2012 (4. Aufl.).

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Die Bewegung zurück dient mithin der Bewegung nach vorne. Einer derzeit populären Redewendung folgend, ließe sich mit einem Wahlspruch der amerikanischen (auch wesensgemäß imkernden) Backwardsbeekeeper demnach behaupten: »Rückwärts ist das neue Vorwärts!«10 Das von der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg jüngst herausgegebene Innovationsmagazin »i-future« spricht in seiner Einschätzung dieser Entwicklungen dagegen von einem »konservativen Zeitgeist«:11 Die Hinwendung zu »Omas Rezepten« sei ein hipper Gegentrend, nach dem Boom des Digitalen habe man nun Sehnsucht nach dem »realen Leben«. Der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz und der Soziologe Ingolfur Blühdorn deuten die Praktiken im Kontext der neuen sozialen Bewegungen wie des Urban Farming dagegen weniger als kurzfristigen Trend, denn als Teil einer folgenreichen Entwicklung. Reckwitz sieht darin den Ausdruck eines ästhetischen oder kognitiven Kapitalismus unter der Herrschaft des »kreativen Imperativs«.12 Und Blühdorn spricht von im Sinne der Demokratie eher kontraproduktiven Bemühungen einer zutiefst vom Wachstum profitierenden, exklusiven urbanen Mittelschicht.13 Die wachsende Kluft zwischen ihnen und den besitzenden beziehungsweise aufgrund ihrer Bildung privilegierten Bevölkerungsgruppen entfremde immer mehr Menschen am unteren Rand der Gesellschaft der Demokratie. Angesichts der wachsenden Konkurrenz um Ressourcen verliere die Demokratie letztlich auch in den bürgerlichen Mittelschichten »an Appeal«.14

 

10 »Backwards is the new forwards!«, http://www.backwardsbeekeepers.com/ (Zugriff: 20.11.2015). 11 Goetz-Weimar, Christiane: Lebst Du schon oder surfst Du noch? In: i-future (2015), H. 1, S. 19. 12 Z. B. Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2013 (3. Aufl.). 13 Z. B. Blühdorn, Ingolfur: Demokratie als Selbstillusion. Bürgerbewegungen, alternativer Hedonismus und Nicht-Nachhaltigkeit. In: Die Gazette 30 (2011), S. 26–30; ders.: Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Berlin 2013. 14 Blühdorn: Demokratie 2011, S. 30.

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A UF  DER   S UCHE  NACH  DEM  GUTEN   L EBEN :     W AS  HISTORISCHES   W ISSEN  ERMÖGLICHT     Als eine »zukunftsorientierte Wissenschaft«15 interessiert sich die Europäische Ethnologie ebenso für die Potenziale der DIY-Bewegung wie für ihre Begrenzungen. Mit dem Kulturwissenschaftler Dieter Kramer werden die sozialen Bewegungen des DIY, innerhalb derer zurzeit historisches Wissen revitalisiert wird, im Folgenden als »gesellschaftliche Suchbewegungen«16 gedeutet. Mit Blick auf historische Umweltbewegungen unterstreicht der Technik- und Umweltforscher Andrew Jamison die Bedeutung solcher Möglichkeiten für »organisierte Lernerfahrungen […], in denen Theorie und Praxis verbunden sind«.17 Das historische Wissen fungiert dabei als Ressource, wird im Sinne des in den Kultur- und Sozialwissenschaften momentan diskutierten offenen Ressourcenbegriffs18 im Kontext der sozialen Bewegungen ebenso Gegenstand der Verhandlungen wie es durch Zuschreibungen und Nutzungen erst hervorgebracht wird. Indem die Akteur_innen des DIY dieses Potenzial als solches definieren und einsetzen, verhandeln sie Grundlagen ebenso wie Entwicklungen der zeitgenössischen Gesellschaft. Konkret geht es ihnen derzeit um die Etablierung von auf Nachhaltigkeit setzenden Postwachstumsökonomien, um menschengerechte Formen gemeinsamen Arbeitens und Wirtschaftens und um neue Formen partizipativer Demokratie. Am Beispiel des Zeidlerns lässt sich zeigen, wie einmal mehr historisches Wissen zur Lösung aktueller Krisen genutzt werden soll. Über das historische Wissen eröffnen sich ganz besondere Erfahrungs- und Erlebnisräume, die Angehörigen der Jetztzeit ermöglichen, wesentliche Positionsbestimmungen etwa in ih-

15 Greverus, Ina-Maria: Aphorismen zu einer »Utopie-Collage« wie zu ihrer Verkehrung. In: Kuckuck. Notizen zu Alltagskultur und Volkskunde 6 (1991), H. 2, S. 4–9, S. 4. 16 Kramer, Dieter: Kulturelle Faktoren und der Übergang zu einer nachhaltigen Lebensweise. In: Tauschek, Markus/Greve, Maria (Hg.): Knappheit, Mangel, Überfluss. Kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen. Frankfurt a. M./New York 2015, S. 81–102, S. 82. 17 Jamison, Andrew: Social movements as utopian practice. In: Jacobsen, Michael Hviid/Tester, Keith (Hg.): Utopia. Social theory and the future. Farnham u. a. 2012, S. 161–178, S. 169. 18 Zum offenen Ressourcenbegriff vgl. Tauschek/Grewe: Knappheit 2015; Jancke, Gabriele/Schläppi, Daniel (Hg.): Die Ökonomie sozialer Beziehungen. Ressourcenbewirtschaftung als Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden. Stuttgart 2015.

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rem Verhältnis zu anderen Lebewesen oder in ihrem Ringen um zeitgemäße Ethiken, Werte und Normen vorzunehmen. In vieler Hinsicht sind die im Kontext des DIY über historische Praktiken erschlossenen Möglichkeiten mit denen aus dem historischen Reenactment vergleichbar – auch hier geht es darum, mittels Geschichte neue Handlungsräume und Ressourcen zu erschließen.19 Die Analyse der im DIY eingesetzten »Wissens- und Material-Bricolagen«20 zeigt, wo Gesellschaften gerade stehen, was sie suchen und wie sie sich verorten. Zygmunt Baumanns Argumentation der flüssigen Moderne lenkt den Blick auf die Mischverhältnisse, das Ineinander von gestern, heute und morgen, von Natur und Kultur, Urbanität und Ruralität, Theorie und Praxis, Wissenschaft und Gesellschaft, Analogem und Digitalem, Moral und Ökonomie.21 Konkret geht es darum, was womit vermischt wird, aber auch, was sich nicht vermischen soll. Dabei wird schnell deutlich, dass keineswegs alle mitgenommen beziehungsweise von den Zielen der Bewegung angesprochen werden. Die Bienen gehören allerdings fest dazu, wenn es um die Frage nach einem guten Leben geht, die im Kontext aktueller sozialer Bewegungen des DIY derzeit wieder brennend aktuell ist. Zeidlern  als  Rettungsversuch  von  Bienen  (und  Menschen)   Das Zeidelwesen war eine im Mittelalter populäre Form der Waldbienenwirtschaft.22 Ursprünglich erbeutete man den Honig der im Wald lebenden Wildbienen, die man zu diesem Zweck zunächst tötete. Da sich mit der aktiven Pflege der Tiere der Ertrag an Honig steigern ließ, ging man dazu über, Bienen sowohl in Baumhöhlen als auch in sogenannten Klotzbeuten zu halten. Die hierzu berechtigten Imker, die Zeidler, bildeten eine einflussreiche Genossenschaft. Gegenüber dieser Waldbienenhaltung hat sich im Laufe der Modernisierung der Wald- und Landwirtschaft zunehmend die Hausbienenhaltung durchgesetzt. Sie profitierte unter anderem von der Einführung sogenannter beweglicher Rahmen, die eine effektivere Bewirtschaftung ermöglichten.

19 Vgl. z. B. Fenske, Michaela: Making the new by rebuilding the old. Histourism in Werben, Germany. In: Anthropological Journal of European Cultures 22 (2013), H. 1, S. 5–23. 20 Nach Warneken, Bernd Jürgen: Die Ethnographie popularer Kulturen. Eine Einführung. Wien/Köln/Weimar 2006, bes. S. 109–120, S. 120. 21 Bauman, Zygmunt: Flüchtige Moderne. Frankfurt a. M. 2015 (6. Aufl., Orig. 2003). 22 Hier und im Folgenden vgl. z. B. Crane, Eva: The World History of Beekeeping and Honey Hunting. London 1999; Lotter, J. M.: Das alte Zeidelwesen in den Nürnbergischen Reichswaldungen. Nürnberg 1870 (Neudruck Dresden 2015); Thäter, Wolfgang: Das Zeidlerwesen. München 1993.

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Historische Darstellung der Waldbienenhaltung

Abbildung: Adam Gottlob Schirach, Wald-Bienenzucht, 1774.

In der zu Beginn des dritten Jahrtausends vielfach ausgerufenen Krise versucht ein Teil der Menschheit, sich mit dem Begriff »Anthropozän« seine Verantwortung für die Veränderungen auf dem Planeten Erde bewusst zu machen.23 Dabei

23 Die dem Begriff »Anthropozän« inhärenten Widersprüche werden derzeit in den Kultur- und Sozialwissenschaften rege diskutiert. Der Soziologe Stephan Lorenz hat beispielsweise darauf aufmerksam gemacht, dass das Konzept insofern als hybrid gedeutet werden kann, als es mit der Forderung, die Welt retten zu wollen, verbunden ist. Wieder einmal ließe der Mensch sich nicht ein, sondern beanspruche eine Sonderrolle. Lorenz schlägt stattdessen den Begriff »Ökozän« vor, wobei Öko für ein Zusammenleben unter dem Vorzeichen einer »erweiterten Demokratie« stehe; vgl. Lorenz, Stephan: Mehr oder weniger? Zur Soziologie ökologischer Wachstumskritik und nachhaltiger Entwicklung. Bielefeld 2014, S. 16 f. Im Kontext einer Multispecies Ethnography steht Anthropozän dagegen für ein Zeitalter mit einer Ethik des Verbundenseins (ethics of entanglement);

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wächst zumindest teilweise auch ein Bewusstsein um ökologische Zusammenhänge, vor allem in dem Sinne, dass erkannt wird, dass Menschen und nichtmenschliche Bewohnende des Planeten Erde eine Art Schicksalsgemeinschaft bilden.24 Der Boom des Imkerns in den Städten des globalen Nordens ist nach Aussage einiger Akteur_innen Ausdruck des verbreiteten Wunsches, mit den durch das Massensterben gefährdeten Bienen auch die Grundlagen menschlichen Lebens zu retten. Weil dies aus Sicht der Betreffenden nur mit tiefgreifenden Änderungen der soziökonomischen Ordnungen und Wirtschaftsweisen menschlicher Gesellschaften möglich ist, wurde die Honigbiene in den letzten Jahren zur Schlüsselfigur der Diskussionen, gewissermaßen ein »political animal« oder mit der Wissenshistorikerin Donna Haraway gesprochen, eine »meaning-making figure«, also eine symbolträchtige Figur.25 Dabei gewannen in der öffentlichen Wahrnehmung zunehmend solche Betriebsweisen in der Imkerei an Popularität, die möglichst der »Natur« der Bienen gemäß wirtschaften. Eine Rückkehr zu einer möglichst »natürlichen Bienenhaltung« soll die Gesunderhaltung (bzw. -werdung) der zu Beginn des 21. Jahrhunderts unter anderem durch agrarische Monokulturen, Insektizide und Parasiten geschwächten Honigbienen ermöglichen. Natur wird dabei einmal mehr zu guten Teilen als ›soziale Natur‹ verstanden, also als eine den jeweiligen sozialen Verhältnissen der Menschen entsprechende Konstruktion.26 Derzeit untersuchen Ethnologen wie das im Ural mündlich tradierte Wissen des Zeidlerns über Polen zurück nach Mitteleuropa importiert wird. 27 In

vgl. z. B. Wright, Kate: An Ethics of entanglement for the anthropocene. In: Scan. Media of Arts Culture 1 (2014), H. 1, http://scan.net.au/scn/journal/vol11number1/KateWright.html (Zugriff: 25.7.2016). 24 Zu dieser Lesart vgl. auch Renn, Jürgen/Scherer, Bernd: Einführung. In: Dies. (Hg.): Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge. Berlin 2015, S. 7–23. 25 Zum Konzept des politischen Tieres vgl. Roscher, Mieke: Tiere und Politik. Die neue Politikgeschichte der Tiere zwischen zóon alogon und zóon politikon. In: Krüger, Gesine/Steinbrecher, Aline/Wischermann, Clemens (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History. Stuttgart 2014, S. 171–197; Haraway, Donna: When species meet. Minneapolis 2008, S. 5. 26 Vgl. z. B. Milbourne, Paul: Nature – society – rurality: Making critical connections. In: Sociologia Ruralis 43 (2003), H. 3, S. 193–195; Goedeke, Theresa L./Herda-Rapp, Ann: Introduction. In: Mad about wildlife. Looking at social conflict over wildlife (= Human-Animal Studies 2). Leiden/Boston 2005, S. 1–21. 27 In diesem Zusammenhang danke ich u. a. Peter Niedersteiner, München, für Gespräche über die aktuelle Zeidlerei. Der vorliegende Beitrag beruht auf eigenen Feldbeobachtungen im Kontext urbaner Imkerei (Fenske, Michaela: Feldnotizen; Oktober 2014–

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Kursen und Vorträgen lernen Interessierte, die Techniken der Waldbienenhaltung. Teilnehmende solcher Kurse sind zumeist Personen aus der bürgerlichen Mitte, in jungen und mittleren Lebensjahren, vielfach männlich (letzteres übrigens im Unterschied zur urbanen Imkerei, die im neuen Jahrtausend zunehmend auch bei Frauen beliebt ist).

L ERNKULTUREN  IM   DIY   Die Zeidlerei verkörpert in besonderem Maße das, was Wissenspraktiken im Kontext des DIY für spätmoderne Städter_innen attraktiv macht. Es ist eine OutdoorPraxis; Lernorte sind Gärten, Freiflächen und der Wald. Lernen in der »frischen Luft« gestattet den Akteur_innen nach eigenen Aussagen, sich wieder neu mit ihrer natürlichen Umwelt zu verbinden. Mit dem Soziologen Hartmut Rosa ließe sich diese Kreierung neuer Verbundenheiten auch als Etablierung spezifischer Formen der Weltbeziehung benennen.28 Konkret geht es dabei auch um besondere Formen des Lernens; körperlich und sinnlich spürbar wird das »tacit knowledge«,29 das unmittelbar und stillschweigend vorausgesetzte Wissen der Zeidlerei angeeignet. Es ist eine Form des Apprenticeship-Lernens, als deren wesentliche Bestandteile Ethnolog_innen Embodiment, Emotion und Empathy nennen (auch

Oktober 2015) sowie der Auswertung u. a. folgender Artikel und Webseiten: Ilyasov, Rustem A. u. a.: Burzyan wild-hive honeybee A. m. mellifera in South Ural. In: The Beekeepers Quarterly 119 (2015), H. 3, S. 25–33; EFI (Hg.): Tree hive beekeeping. Reviving a traditional practice, Oktober 2014, http://www.efi.int/files/attachments/ eficent/events/2014/tree-hive-course-oct2014.pdf (Zugriff: 19.10.2015); Internationale Zeidler Vereinigung (Hg.): Ein »Kochbuch« für Zeidler in der heutigen Zeit (5.4.2015), http://tree-beekeeping.org.copernicus.sui-inter.net/wordpress/wp-content/uploads/2015_ 04_05_Zeidler_Anleitung_final.pdf (Zugriff: 11.10.2015); Nawrocki, Przemyslaw: Tree-hive beekeeping returns to Poland. Restoration of vanished tradition with help from Southern Ural tree hive keepers (Oktober 2014), http://freethebees.ch/wp-content/ uploads/2014/11/Tree-beekeeping-in-Poland_Revival.pdf (Zugriff: 19.10.2015); Kursunterlagen von André Wermelinger im Kontext der Gruppe »Free the Bees« (http://freethebees.ch, Zugriff: 1.10.2015) und die hier veröffentlichten »Imkerkochbücher«sowie diverse Kurzfilme über Zeidlerei bzw. »Gaja Bees«, »Guerilla Beekeeping«, »Tree Hives Bees or Beekeeping« auf YouTube. 28 Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehungen. Berlin 2016. 29 Vgl. Polanyi, Michael: Implizites Wissen. Frankfurt a. M. 1985.

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das nebenbei bemerkt Aspekte, die historisches Reenactment in unserer Gesellschaft so attraktiv machen).30 Die handwerklichen Seiten des Zeidlerns üben auf die diese Betriebsweise Praktizierenden eine große Faszination aus. Das Anfertigen einer geeigneten Baumhöhle oder die Herstellung von Klotzbeuten sind solche Tätigkeiten, die erhebliches handwerkliches Können erfordern. Gebastelt und gebaut wird im Kontext urbaner Imkerei ohnehin viel. Es war eine meiner ersten Irritationen im Feld urbaner Imkerei, dass Imkern eine Praxis ist, in der alle Beteiligten ständig irgendwie zu bauen scheinen. Die Imkernden bauen etwa geeignete Unterstände für Bienenbeuten, wenn ihr Ehrgeiz nicht sogar dahingeht, eine eigene Beute für die Honigbienen zu kreieren. Rezipiert werden von den Imkernden etwa die Arbeiten des Soziologen Richard Sennett. Insbesondere dessen Hinweis auf das Handwerk als besondere Möglichkeit eines ›engagierten Tuns‹ wird aufgegriffen.31 Handwerk, Gärtnern, Imkern ermöglichen konkret die in der Bewegung wesentliche Erfahrung von Selbstwirksamkeit, die im Kontext des DIY unter anderem als Mittel der Rückeroberung politischer Teilhabe in repräsentativen Demokratien gelesen werden kann.32

30 Vgl. z. B. Gieser, Thorsten: Embodiment, emotion and empathy. A phenomenological approach to apprenticeship learning. In: Anthropological Theory 8 (2008), H. 3, S. 299– 318; zur Bedeutung der Körpererfahrung im Reenactment z. B. Fenske: Making 2013; instruktiv in diesem Sinne auch Forschungen im Kontext der von der Volkswagen Stiftung geförderten Forschergruppe »Living History. Reenacted Prehistory between Research and Popular Performance« (Tübingen und Berlin), hier insbesondere Sarah Willners Forschungen über »Performative Praktiken des Wissenserwerbs«; http://www.living history.uni-tuebingen.de/ (Zugriff 10.10.2015). 31 Sennett, Richard: Das Handwerk. Berlin 2008 (2. Aufl.), zur Rezeption der Ansätze DIY, z. B. Baier/Müller/Werner: Commonisten 2013. 32 Diese Lesart steht im Kontext eines breiten Politikverständnisses wie er in der Europäischen Ethnologie seit den 1980er Jahren vertreten wird, zusammenfassend z. B. Fenske, Michaela (Hg.): Alltag als Politik – Politik im Alltag. Dimensionen des Politischen in Vergangenheit und Gegenwart. Ein Lesebuch für Carola Lipp. Berlin u. a. 2010; neuerdings auch Stein, Tine: Neue politische Engagementformen: Bürgerinnen und Bürger als civil entrepreneurs für die Transformation. In: Tauschek/Grewe: Knappheit 2015, S. 103–122.

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Do it together. Gemeinsame Beuteninspektion, Kurs für wesensgemäßes Imkern im Prinzessinnengarten, Juni 2015

Foto: Michaela Fenske.

DIY steht für eine spezifische Lernkultur, die Praxis und Theorie verbindet beziehungsweise Alltagspraktiken im Zusammenhang der DIY-Bewegung ›theoretisiert‹.33 Das Theoretisieren übernehmen dabei vor allem Akademiker_innen, die in bekannten Wissensformaten wie Kursen, Handbüchern, Anleitungen, mittels Lehrtafeln im öffentlichen Raum oder in eher informellen Formaten wie Festivals ihr Wissen weitergeben. Die in den Wissensformaten und an Lernorten inszenierte Ästhetik erinnert auffällig häufig ans Gestern, nutzt etwa analoge Fotografie. Im Kontext des in diesen Milieus gepflegten grünen Lebensstils scheint diese ästhetische Praxis den Ausspruch des Politikwissenschaftlers Andre Wilkens, demzufolge »analog das neue Bio«34 sei, umzusetzen. Es ist eine Ästhetik, die auf ›Authentifizierung‹ durch Bezugnahme auf materielle Kultur bedacht und auch der Vermarktung der Ideen zuträglich ist.

33 Vgl. z. B. das die gärtnerische Praxis in neue (Lern-)Theorie überführende Handbuch von Halder u. a.: Wissen 2013. 34 Wilkens, Andre: Analog ist das neue Bio. Ein Plädoyer für eine menschliche digitale Welt. Berlin 2015.

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D O  IT  TOGETHER     Neben Verkörperung, Gefühl und Einfühlung ist Gemeinsamkeit für die Akteur_innen ein wesentlicher Grund zur Teilnahme. Die Kulturwissenschaftlerin Maria Grewe hat anhand ihrer Untersuchung von Repair-Cafés gezeigt, wie sich hier − mit dem lerntheoretischen Ansatz von Jean Lave und Etienne Wenger gesprochen − spezifische »communities of practice« herausbilden.35 Diese lassen sich auch als Genussgemeinschaften beschreiben, die Freude an der Gemeinsamkeit des Tuns entwickeln. Kooperation wird als wesentliche Ressource entdeckt.36 Den Verlautbarungen der Akteur_innen gemäß geht es ihnen um die Schaffung »funktionierende[r] Gemeinschaften«, die zugleich gemeinsam wirtschaften und die Allmende »zurückholen«.37 Im gemeinsamen Tun verhandeln die Akteur_innen auch Zugehörigkeiten, Inklusion und Exklusion, entwickeln erst den spezifischen sozialen Zusammenhalt, der Milieus, verstanden als lebens- und arbeitsweltliche Zusammenhänge, ausmacht.38 Von außen betrachtet fällt eine gewisse Homogenität der sozialen Zugehörigkeit auf. Im Kontext der neuen urbanen Imkerei scheinen die meisten Akteur_innen der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft anzugehören. Die meisten Imker_innen leben bereits lange in Deutschland oder sind hier geboren, viele sind akademisch gebildet. Blühdorn beschreibt vergleichbare Gruppen als typische Repräsentant_innen der »LOHAS« (= Lifestyle of Health and Sustainability).39 Ungeachtet des Anspruchs, integrativ zu wirken, gibt es im Milieu der neuen urbanen

35 Vgl. Grewe, Maria: Reparieren als nachhaltige Praxis im Umgang mit begrenzten Ressourcen? Kulturwissenschaftliche Notizen zum Repair Café. In: Dies./Tauschek: Knappheit 2015, S. 267–289; zum Konzept des situierten Lernens vgl. Lave, Jean/ Wenger, Etienne: Situated learning. Legitimate peripheral participation. Cambridge 2011 (24. Aufl.). 36 Zu Kooperation als Ressource vgl. auch Groth, Stefan: Situierte Knappheit: Kooperative und normative Dimensionen des Umgangs mit begrenzten Ressourcen. In: Tauschek/Grewe: Knappheit 2015, S. 57–80. 37 Baier/Müller/Werner: Commonisten, 2013; Meyer-Renschhausen, Elisabeth: Die Hauptstadtgärtner. Tipps vom Allmendekontor auf dem Tempelhofer Feld. Berlin 2015, S. 11. 38 Zu diesem Milieubegriff vgl. auch Kneer, Georg/Rink, Dieter: Milieu und Natur. In: Hofmann, Michael/Maase, Kaspar/Warneken, Bernd Jürgen (Hg.): Ökostile. Zur kulturellen Vielfalt umweltbezogenen Handelns. Marburg 1999, S. 121–144, bes. S. 124. 39 Blühdorn: Demokratie 2011.

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Imker_innen zum Beispiel nur sehr wenige Akteur_innen mit naher Migrationserfahrung. Die in den DIY-Communities üblichen Lernkulturen, die spezifischen Theorie- und Praxiskombinationen scheinen den Gewohnheiten und Bedürfnissen spezifischer Sozialmilieus zu entsprechen. Dies erinnert an Ergebnisse der Literalisierungs- und Lernforschung, die zeigt, wie im globalen Norden Lernen und Weitergabe von Wissen auf die Erfahrungen und Bedürfnisse weißer, urbaner Mittelschichten zugeschnitten sind. Damit werden möglicherweise habituell Menschen aus anderen Wissens- und Lernkulturen von vornherein ausgeschlossen.40 Wer heutzutage auf Bäume klettert oder Klotzbeuten mit Bienen aufstellt, der sichert sich mit der Sympathieträgerin Honigbiene auch ganz konkret eine gewisse moralische Oberhoheit im öffentlichen Raum. Verhandelt werden damit der Zugang, Besitz und Gestaltung öffentlicher Räume,41 verhandelt werden aber auch und vor allem Werte, die sich schnell zu normativen Sinnhorizonten verdichten. Die Stadt ist zurzeit Ort intensiver Ethikdiskussionen − die Forschergruppe um den Kulturwissenschaftler Johannes Moser in München spricht in diesem Zusammenhang von einer »Konjunktur des Ethischen«.42 Angesichts der starken ethischen Dimensionen der mit dem DIY verbundenen Ökonomien möchte ich hier in Übernahme neuer Konzepte aus den Kultur- und Sozialwissenschaften von »neuen moralischen Ökonomien« sprechen.43 Dieses Konzept erweitert Edward Thompsons Ansatz der Moral Economy aus den 1970er Jahren auf breiter Grundlage und sieht ethische Überlegungen als immanenten Bestandteil wirtschaftlichen Handelns.

40 Z. B. Ochs, Elinor/Schieffelin, Bambi B.: Language acquisition and socialization. Three development stories. In: Duranti, Alessandro (Hg.): Linguistic anthropology. A reader. Madison 2009 (2. Aufl.), S. 296–328; Brice Heath, Shirley: What no bedtime story means: Narrative skills at home and school. In: Ebd., S. 343–363. 41 Vgl. z. B. Bertuzzo, Eliza/Gantner, Eszter B./Niewöhner, Jörg/Oevermann, Heike (Hg.): Kontrolle öffentlicher Räume. Unterstützen, Unterdrücken, Unterhalten, Unterwandern. Berlin 2013. 42 Vgl. DFG-Forschergruppe »Urbane Ethiken«, http://www.urbane-ethiken.uni-muen chen.de/ (Zugriff: 10.10.2015). 43 Vgl. z. B. Jancke/Schläppi: Ökonomie 2013.

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Was mensch zum Leben braucht − neue moralische Ökonomien. Campusgarten Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, Juni 2015

Fotos: Michaela Fenske.

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N EUE  MORALISCHE   Ö KONOMIEN   Beim wesensgemäßen Imkern geht es darum, menschliche Eingriffe zu minimieren. Die Bienen sollen möglichst viel selber machen, der Mensch versteht sich als ihr Betreuer. Von ihren Erzeugnissen, vor allem ihrem Honig, werden allenfalls Überschüsse geerntet, die von den Bienen nicht unmittelbar benötigt werden. Das hat Auswirkungen auf Terminierung, Häufigkeit und Ertrag der Ernte. Im Kontext dieser Philosophie wirkt der Rückgriff auf das Zeidlern und damit die Imkerpraxis vor der Zeit der Intensivierung menschlicher Eingriffe konsequent. Das Zeidlern ermöglicht, Grundüberzeugungen der wesensgemäßen Imkerei umzusetzen. Hierzu gehört auch eine neue Haltung zum Tier, bei der die Biene stellvertretend für andere Tiere zur »städtischen Mitbewohnerin«44 wird, ebenso wie eine neue Wertschätzung gegenüber dem Lebensmittel Honig. Die Erzeugung des Honigs wird entindustrialisiert, entmechanisiert, entschleunigt, konkret zunehmend entschleudert.45 Zusätzlich werden aus historischen Kontexten bekannte genossenschaftliche Aspekte des Wirtschaftens und Subsistenz- und Suffizienzorientierung betont.46 Dabei wird das aktualisierte und erweiterte historische Wissen auch zu einer ökonomischen Ressource, wird vielfach ökonomisch in Wert gesetzt. In den Prinzessinnengärten etwa, einer inzwischen international bekannten urbanen Gartenanlage in Berlin-Kreuzberg, geschieht dies es unter anderem im Angebot selbstgemachter Speisen in Restaurant und Café; angeboten werden ferner Bücher, Kurse, Gestaltungs- und Beratertätigkeiten. In dem im DIY verbreiteten Begriff ›Entrepreneur‹ verbirgt sich letztlich auch eine Ökonomisierung des Selbst im Zusammenhang eines Kreativität und Kultur vermarktenden kognitiven Kapitalismus.47 Die Europäische Ethnologin Alexa Färber spricht für Berlin von einer kre-

44 Baier/Müller/Werner: Commonisten 2013, S. 41. 45 Zu moralischen Ökonomien im Bereich der Nahrungsmittelproduktion vgl. auch Wilk, Richard: The moral economy of food. Cultural continuity and everyday dietary dilemmas (September 2014), https://www.academia.edu/8508961/ (Zugriff: 10.10.2015). 46 Nebenbei bemerkt dient die Biene im Kontext ethischen Wirtschaftens auch als Symbol; vgl. z. B. »Bee good Marketing«, http://beegoodmarketing.com/ (Zugriff: 10.10.2015). 47 Zum Konzept des kognitiven Kapitalismus vgl. z. B. Lorey, Isabell/Neundlinger, Klaus (Hg.): Kognitiver Kapitalismus. Wien/Berlin 2012.

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ativen Stadt, in der selbst ökonomisches Scheitern und Deprivation noch zur Ressource werden.48 Die Ästhetiken und Wertigkeiten des DIY passen ausgezeichnet in diesen Zusammenhang – nicht nur in analogen Räumen des Selbermachens, sondern wie die Europäische Ethnologin Nikola Langreiter anschaulich gezeigt hat49 auch im Bereich digitaler Ökonomien. Ein wichtiges Stichwort, das Kreativwirtschaft und die zunehmend in ihrem Sog stehende Kunst in Szene setzen, ist dabei Freiheit.50 Zur Freiheit als künstlerischer Entfaltungsmöglichkeit gesellt sich in urbanen Verwertungszusammenhängen neuerdings immer öfter das Stichwort der Wildheit.

W ILDHEIT  UND   R URBANITÄT   Ginge es nach dem Philosophen Gilles Deleuze und dem Psychoanalytiker Felix Guatarri – beide theoretische Stichwortgeber der Gegenwartsanalyse und damit auch der Theoretisierung des DIY, so zählten im Sinne einer postmodernen DeAnthropozentrierung vor allem die wilden Tiere, jene ohne (von Menschen gemachte) Biografie, jene, die in Meuten, Rotten oder wie die Bienen in Schwärmen ihre Macht entfalten.51 Solche Ansätze können einmal mehr die Begeisterung für die Biene erklären, die im wesensgemäßen Imkern vor allem eines darf, ja, soll: schwärmen. Das Schwärmen gelingt im Wald besser als in der dicht besiedelten Stadt. Die postmodernen Theorien finden ihre Anwendung in der Bewegung der

48 Färber, Alexa: Flourishing cultural production in economic wasteland. Three ways of making sense of a cultural economy in Berlin at the beginning of the twenty-first century. In: Heßler, Martina/Zimmermann, Clemens (Hg.): Creative urban milieus. Historical perspectives on culture, economy and the city. Frankfurt a. M./New York 2008, S. 409–428. 49 Langreiter, Nikola: Alles in Ordnung mit dem Selbermacher-Selbst. Formen und Funktionen des Biografisierens in der Handmade-Nischenökonomie. In: Kuckuck. Notizen zur Alltagskultur 29 (2015), H. 1, S. 44–49. 50 Zum zentralen Stellenwert der Freiheit im Zusammenhang des neuen künstlerischen Selbst vgl. z. B. Fuchs, Tanja: Kunst in Zeiten der Kreativwirtschaft. Zwischen Geniemythos und Unternehmertum (= Grazer Beiträge zur Europäischen Ethnologie 20). Marburg 2015; zur Verbindung von zeitgenössischer bildender Kunst und Wildheit vgl. z. B. Ullrich, Jessica: Editorial. In: Tierstudien 4 (2015), H. 8, S. 7–14. 51 Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin 1992; vgl. auch Ullrich: Editorial 2015, S. 8 f.

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Zeidler in Slogans wie »Free the Bees«.52 Im Zuge der Freiheit für die Bienen gilt es auch, den Menschen ›Freiräume‹ zurückzuerobern; im Rahmen der Gestaltung der Stadt etwa geht es um den Erhalt von Freiflächen, wilden Ecken, um Erhalt und Schutz von Wildblumen und Wildbienen. Der Terminus ›wild‹ wird dabei zum Inbegriff einer Gegenbewegung zu dem in westlichen Zivilisationen üblichen intensiven Bewirtschaften natürlicher Ressourcen. Die urbanen Zentren des globalen Nordens entdecken nach den Ländlichkeiten, hier verstanden als vom konkreten Raum losgelöste und mit Natur assoziierte Erlebniswelt,53 gerade wieder einmal das Wilde. Outdoor-Magazine wie das seit Frühjahr 2015 neu erscheinende Magazin »Walden« (das sich dezidiert an über 30-jährige Männer aus der gehobenen städtischen Mittelschicht wendet),54 Hundefutter mit dem Namen »Wilderness« oder Bestseller wie Helen Macdonalds »H wie Habicht« inszenieren in der Populärkultur eine wilde, utopische Gegenwelt zur auf ökonomische Effizienz reduzierten kontrollierten und überwachten Gegenwart. Dem Ausruf nach einem »Reclaiming the Cities« folgt das »Reclaiming the Forests«, wobei zu erwarten steht, dass zukünftig diskutiert werden wird, dass die Wälder wiederum möglichst wild sein sollen. Im Kontext des DIY wird nicht nur Stadt verhandelt und wer den urbanen Raum wie nutzen darf, sondern insbesondere in Zusammenhang mit den Bienen wird auch der ländliche Raum verhandelt. Wortneuschöpfungen wir ›Rurbanität‹ thematisieren nicht mehr die Verstädterung des Landes, sondern vielmehr umgekehrt die neu entstehenden Ländlichkeiten der Städte.55 Konzepte der Verände-

52 So lautet der etwa der Name einer schweizerischen Organisation, die im Zeidlern einen nachhaltigen Ansatz zur Lösung des Bienensterbens sieht; vgl. http://freethebees.ch/ (Zugriff: 10.10.2015). 53 Zuletzt vgl. Fenske, Michaela: Honig – Macht – Stadt. In: Journal culinaire 21 (2015), S. 21–29, S. 27. 54 Vgl. http://www.walden-magazin.de/, insbesondere die Mediadaten unter dem Menüpunkt »Factsheet« (Zugriff: 10.10.2015). 55 Vgl. z. B. Mitchell, Alex: The rurbanite. Living in the country without leaving the city. London 2013; zum Konzept urbaner Ländlichkeiten vgl. auch Fenske, Michaela/Hemme, Dorothee: Für eine Befremdung des Blicks. Perspektiven einer kulturanthropologischen Erforschung von Ländlichkeiten. In: Dies. (Hg.): Ländlichkeiten in Niedersachsen. Perspektiven auf die Zeit nach 1945. Göttingen 2015, S. 9–23; Göttsch, Silke: Ländlichkeit als sinnliche Erfahrung. Zu einem Wahrnehmungsparadigma der Moderne. Vortrag, 40. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde am 25.7. 2015 in Zürich (Publikation geplant).

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rung bisheriger Ordnungen und Wirtschaftsweisen werden zwar in der Stadt entwickelt, sollen aber auch für den ländlichen Raum fruchtbar gemacht werden. So imaginieren einige Akteur_innen etwa, Bienen aufs Land zu bringen, und insgesamt sollen sich hier die landwirtschaftlichen Produktionsweisen ändern.56 Das ist ein offensiver Diskurs, der bei den Bewohner_innen im ländlichen Raum keineswegs auf einhellige Begeisterung stößt. Europäische Ethnolog_innen erleben dabei wieder einmal ein Déjà-vu: So hat der Europäische Ethnologe Jens Wietschorke – aufbauend auf den Arbeiten seiner Fachkollegen Konrad Köstlin und Herbert Nikitsch – erst kürzlich geschildert, dass auch in unserem Fach der ländliche Raum meist aus urbaner Perspektive betrachtet und gepflegt wurde.57 Es sind die Städter_innen, die das Wilde und das Ländliche lieben. Heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen, wie sie derzeit in Mitteleuropa um die Rückkehr der Wölfe geführt werden, offenbaren, wie unter anderen der Anthropologe Garry Marvin gezeigt hat,58 dass das Wilde vor allem von den bürgerlichen Milieus in der Stadt herbeigesehnt wird. Menschen im ländlichen Raum brauchen demnach weder Wölfe, noch sind sie vergleichbar bienenbegeistert. Aber auch in der Stadt ist nicht alles Wilde willkommen. So lernte ich im Rahmen teilnehmender Beobachtung auf Tagungen und in Kursen nicht nur, wie ich die Stadt nachhaltig begrünen, ja im Sinne gewünschter gelebter Diversität ›bebunten‹ und damit zugleich auf die sich im dritten Jahrtausend deutlich spürbare Klimaerwärmung adäquat vorbereiten kann. Ich lernte auch, dass nicht alles Bunte gut ist, dass sogenannte Hybridsaat und pflanzliche Neuzuwanderer in Gestalt von Neophyten etwa grundsätzlich abzulehnen und konkret zu eliminieren sind. Solche Diskussionen um schädliche Einwanderer wecken zunächst ungute Erinnerungen an soziobiologische Ideen des 19. und 20.

56 Z. B. Dierson, Elisa: Berlin Bienenstadt. Städtebaulicher Entwurf für die Zukunft der Stadt. In: KunstWerk Stadt Berlin (Hg.): Bienenbewegung. Berlin 2013, S. 14 f. 57 Wietschorke, Jens: Europäische Ethnologie aus der Mitte? Stadttopographische Notizen zur Instituts- und Wissenschaftsgeschichte. In: Nikitsch, Herbert/Schmidt-Lauber, Brigitta (Hg.): Hanuschgasse 3. 50 Jahre Institut für Europäische Ethnologie. Wien 2014, S. 293–323, S. 300–311. 58 Vgl. Marvin, Garry: Wölfe im Schafspelz. Eine anthropologische Sicht auf die Beziehungen zwischen Menschen und Wölfen in Albanien und Norwegen. In: Brantz, Dorothee/Mauch, Christof (Hg.): Tierische Geschichte: Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne. Paderborn, 2010, S. 364–379; zum Wolf als »icon of urbanity« vgl. Skogen, Ketil/Krange, Olve: A wolf at the gate: The anti-carnivore alliance and the symbolic construction of community. In: Sociologia Ruralis 43 (2003), H. 3, S. 309–325, S. 320.

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Jahrhunderts. Zu Lasten der (eingewanderten) Pflanzen und Tiere werden einmal mehr menschliche Gesellschaft sowie deren Verhältnis zu Natur, im Besonderen aber die (vermeintliche) Grenze zwischen Natur und Kultur verhandelt.59 Hinzu kommt ein Naturverständnis, das mitunter sozialdarwinistisch anmutet, wenn etwa davon ausgegangen wird, dass in der Natur nur der Stärkere überlebt, und dass dies ein wesentliches und wichtiges Ausleseprinzip sei. Freilich bleiben solche Annahmen auch im Kreis der Imkernden selbst nicht unwidersprochen – die Bewegung ist auch hinsichtlich ihrer konzeptuellen Verankerungen auf der Suche und was ihre Werte und Einschätzungen, aber auch ihr Verständnis von Natur betrifft divers. Es sind also immer sehr unterschiedliche historische Überlieferungen, die im jeweiligen Jetzt wirksam sind. Womit ich zu den Geschichten und den Praktiken des Erinnerns und des Entwerfens von Geschichte als einer auch im sozialen Feld des DIY relevanten Alltagspraxis komme.

N EUE   G ESCHICHTEN ,   G ESCHICHTE  NEU  SCHREIBEN   Man müsse neue Geschichten erzählen und zwar möglichst gute Geschichten, um etwas zum Wohle von Biene und Mensch zu verändern, resümierte eine Berliner Stadtimkerin im Gespräch ihre Erfahrungen. Das im Kontext der Imkerei aktive urbane Kreativmilieu bedient solche Praktiken des Geschichtenerzählens, wohl wissend, dass die Platzierung von Narrationen in der globalen Moderne eine machtvolle Praxis des Deutens und Schaffens von Wirklichkeiten ist.60 Im Kontext des DIY gibt es viele Wortkünstler_innen: Sprache und Kommunikation gehören zu ihren zentralen Praxisfeldern.

59 Vgl. z. B. Schmoll, Friedemann: »Multikulti im Tierreich«. Über Fremde in der Natur. Globalisierung und Ökologie. In: Zeitschrift für Volkskunde 99 (2003), H. 1, S. 51–64; neuerdings z. B. auch Supka, Mariel: Wohnzimmer als Wildnis – Wildnis als Wohnzimmer. Wie asiatische Marienkäfer die häusliche Ordnung durcheinanderbringen können. In: Tierstudien 4 (2015), H. 8, S. 143–153; zur Debatte um die konkurrierenden Ansichten von Arten- und Tierschutz vgl. z. B. Tierethik 7 (2915), H. 11. Die populäre Darstellung von Bernhard Kegel (Die Ameise als Tramp. Von biologischen Invasionen. Köln 2013 [erw. Neuaufl.]) erörtert Erkenntnisse der Invasionsbiologie für ein breites Publikum. 60 Über die Relevanz von Sprache im Kontext der sozialen Bewegungen vgl. auch Bendix, Regina: Vokabularien von Überfluss und Protest, Nachhaltigkeit und Gemeinsinn im Lebensmittelmarkt. In: Tauschek/Grewe: Knappheit 2015, S. 249–265; Helferich, Silke/Bollier, David: Commons als transformative Kraft. In: Helfrich, Silke/Heinrich-

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Eine neue Erinnerungskultur schreibt das eigentlich Temporäre, das im Transit angelegte Flüchtige urbanen Gärtnerns, in zeitgenössische Überlieferung fest. Wenn etwa in Form eines Gedenksteins eines geräumten Gartens erinnert wird, so wird der damit verbundene Anspruch auf »belebten Freiraum« im öffentlichen Raum dauerhaft verankert.61 Das in die materielle Kultur eingeschriebene Wissen der Klotzbeuten, die ebenso schlichten wie wirkungsvollen Hanfseile der Zeidler, traditionelle Werkzeuge, ›uralte‹ Bäume werden als wirkmächtige Argumente genutzt. Auf Websites oder als Instrumente in Kursen und Versammlungen vermitteln sie anschaulich eine Verbindung zwischen heute und (vor-)gestern. Wieder einmal hört – um den Mediävisten Valentin Groebner zu zitieren − das Mittelalter nicht auf.62 In den Kursen zur wesensgemäßen Imkerei in den Prinzessinnengärten wird mir das Mittelalter als ›goldene Epoche‹ der Imkerei beschrieben. Ich lerne eine ganz neue Geschichte des Imkerns − anders als jene, die ich ein Jahr zuvor im Einführungskurs sogenannter ›klassischer‹ Imker_innen im eher ländlichen Raum gehört hatte. Die Imkerei beginnt demnach mit den Zeidlern, wird als Kunst des fördernden Zusammenwirkens von Menschen und Bienen mit dem Beginn der Moderne immer mehr durch Konzentration auf Effizienzsteigerung zugrunde gerichtet, später aber durch den Anthroposophen Rudolf Steiner und andere neu aufgestellt. Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist eine von Bienen und von Bienenvätern. Frauen gibt es in dieser Geschichte nicht – sie sind aber nicht die einzigen, die in der Bewegung fehlen. Insgesamt repräsentiert das Milieu der neuen Imker_innen nämlich nur einen schmalen Ausschnitt der Bevölkerung, an den von ihnen angestoßenen Debatten sind weder weniger privilegierte urbane Milieus noch solche im ländlichen Raum beteiligt.

Böll-Stiftung (Hg.): Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld 2014 (2. Aufl.), S. 15–23, S. 18–21. 61 Nach seiner Räumung erhielt der Rosa Rose Garten in der Berliner Kinzigstraße einen solchen Gedenkstein auf dem Bürgersteig mit der Aufschrift: »Hier haben wir von 2004 bis 2009 einen Freiraum belebt. Rosa Rose Garten. Eine andere Welt ist pflanzbar!«, Halder u. a.: Wissen 2014, S. 51. 62 Groebner, Valentin: Das Mittelalter hört nicht auf. Über historisches Erzählen. München 2008.

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Zukunft  als  Herausforderung   Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba hat überzeugend argumentiert, dass Städte wie Berlin wesentliche Experimentierräume der postmodernen Gesellschaften sind.63 Ihre sozialen Bewegungen als Trend oder konservativen Zeitgeist abzutun, hieße daher, ihre Potenziale zu missachten. In urbanen Bewegungen erproben derzeit Angehörige der Zivilgesellschaft mit viel Idealismus und Enthusiasmus neue Möglichkeiten nachhaltigen Lebens. Man sucht neue Möglichkeiten, mit Tieren und Pflanzen zusammen zu leben, ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen zu begegnen. Im Sinne der flüssigen Moderne wird hier im Einzelnen sehr verschiedenes Immaterielles und Materielles gemischt, vor allem wird historisches Wissen als Ressource begriffen und aktiviert. Um das ›gute Leben‹ zu erreichen, werden Werte und Machtverhältnisse verhandelbar. Dass damit auch erhebliche Begrenzungen verbunden sind, ist einer der Gründe für die kritischen Kommentierungen durch die eingangs zitierten Sozialund Kulturwissenschaftler_innen. Manche der in diesem Beitrag nur knapp skizzierten Beobachtungen scheinen die kultur- und sozialwissenschaftliche Analyse von Blühdorn und Reckwitz, der zufolge die Bewegung exakt jene Formen des Wirtschaftens, sozialen und politischen Lebens unterstützt, die sie zu verändern vorgibt, zu bestätigen. Im DIY soll sich nicht alles mischen, bestimmte Pflanzen und bestimmte Tiere sind unerwünscht, das soziale Milieu bleibt ein einheitliches. Weitgehend unbeteiligt an den Diskussionen bleiben (noch) unter anderem der ländliche Raum und die dort lebenden Menschen, ausgeschlossen werden in der kreativen Stadt einmal mehr die weniger Privilegierten.64 Es gibt in Zeiten des kognitiven Kapitalismus viele Menschen, die sprachlos bleiben, denen wenig (mediale) Aufmerksamkeit gewidmet wird sowie solche, deren Geschichten, Träume und Bedürfnisse ihren Raum in der Zukunft erst noch finden müssen. Wenn die Suche nach dem guten Leben, wenn Utopien lebens-

63 Z. B. Kaschuba, Wolfgang: Reading the European city. Urban ethnology in and of Berlin. In: Schriewer, Klaus/Sánchez, Salvador Cayuela (Hg.): Anthropological perspectives. Tools for the analysis of European societies. Murcia 2014, S. 94–136. 64 Vgl. z. B. Heßler, Martina: Science cities, creativity, and urban economic effects. In: Dies./Zimmermann: Milieus 2008, S. 311–352.

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und überlebensnotwendige Kraft in Gesellschaften ebenso verkörpern wie sie deren Bildung erst ermöglichen,65 wenn wir dafür mit dem Ethnologen Arjun Appadurai gesprochen Aspiration, Antizipation und Imagination brauchen66 – dann gibt es noch viel zu tun, für die am Selbermachen interessierten Mitglieder der Gesellschaften des globalen Nordens ebenso wie für die diesen Prozess analysierenden Kultur- und Sozialwissenschaftler_innen.67

65 Das war etwa vor zwanzig Jahren eine wesentliche Überzeugung der Vertreter_innen der Europäischen Ethnologie; vgl. Katschnig-Fasch, Elisabeth (Hg.): Utopie. Kuckuck. Notizen zu Alltagskultur und Volkskunde 6 (1991), H. 2. 66 Vgl. Appadurai, Arjun: The future as a cultural fact. Essays on the global condition. London/New York 2013. 67 Dieser Beitrag steht im Zusammenhang mit meinem im Rahmen eines Heisenbergstipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) derzeit noch laufenden Forschungsprojekt über urbane Imkerei »Grüne Städte − Urbane Naturen? Oder: Wie Menschen mit Bienen Stadt verhandeln«. Soweit im Folgenden nicht anders angemerkt, beruhen die empirischen Angaben auf Interviews und Feldnotizen aus diesem Projekt (Fenske, Michaela: Feldnotizen, Oktober 2014–Oktober 2015). Der Beitrag behandelt ein außerordentlich dynamisches Feld gesellschaftlichen Lernens, das sich fortwährend verändert. Angesichts der großen Aktualität des Themas stehen die Praktiken des urbanen Imkerns derzeit im Fokus verschiedener Forschungszusammenhänge. Aus der Fülle an derzeit im Entstehen begriffenen Arbeiten ist im Kontext des vorliegenden Beitrags insbesondere das laufende Forschungsprojekt von Peter Niedersteiner (München) über »Imkerei-Wissen im Wandel. Zugang, Generierung und Weitergabe« zu nennen. Angesichts der erwähnten Dynamiken versteht sich der vorliegende Beitrag als eine vorläufige Annäherung an das Thema Zeidlerei bzw. an die von historischem Wissen inspirierten Praktiken des Imkerns. Eine differenziertere kultur- und sozialwissenschaftliche Analyse bleibt weiteren Forschungen vorbehalten.

Vieldeutiges  Selbermachen  im  Bergtal   Kulturelle,  ökonomische  und  individuelle  Praktiken     des  Maskenschnitzens     K ONRAD J. K UHN UND W ERNER B ELLWALD

    A BSTRACT :   A MBIGUOUS   D O  IT  YOURSELF     IN  A   M OUNTAIN   V ALLEY .   C ULTURAL ,   E CONOMIC  AND   I NDIVIDUAL   P RACTICE  OF   M ASK -­C ARVING   Carving of wooden carnival masks has been an autodidactic activity in the Lötschen Valley (Valais, Switzerland) since generations. It is only since the 1920s that the masks became objects of national identity and thus wooden souvenir masks were sold on a large scale between 1950 and the 1980s. The sale of carved masks was a major income source for many families in the valley. Today masks are economically irrelevant, but highly valued as identity objects of a symbolic system. The mass-production (sometimes mechanized) is followed by hand-carving, nowadays done by woodcarvers taking lessons or even being professionals. While the professional expertise is rising, the public values ›original‹ and ›naive‹ popular-art. In estimating the high cultural value of the hand-made objects, the public as well as the woodcarvers neglect the fact that commercial and economic forces helped establish the very persistence of the masks to this day. In doing so, they also neglect the cultural transformations and the multi-medial influences within the appearance of the ›individual‹ masks. Regardless of these contradictions, woodcarvers are addressed today as experts on multiple levels; they are self-fulfilling individuals, nature- and home-loving carvers or experts on carnival rituals. The handmade cultural objects serve as tools to control individual rivalry as well as conflicts between the villages. The highly complex technical skills for

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carving masks act as barriers to prevent other people from carving and closing down the (presumed) openness of this DIY activity regarding symbolic capital.

  E INFÜHRUNG  IN  DIE   A MBIVALENZEN     EINES   F ORSCHUNGSFELDS   Im Zentrum unseres Beitrags stehen die bekannten, um 1900 von Volkskundlern ›entdeckten‹ und während der 1930er Jahre zum Repertoire der nationalen Symbolkultur aufgestiegenen Fastnachtsmasken der Tschäggättä. Es handelt sich um die bekannteste Figur der Fastnacht aus dem katholischen Lötschental im Kanton Wallis. Die Gestalten tragen eine geschnitzte Holzmaske, alte umgestülpte Kleider und Wollhandschuhe sowie große Felle über den Schultern, die mit Polsterungen grotesk erhöht sind, um so die Erscheinung schreckeinflößender zu machen. Eine große Treichel (Kuhglocke) vervollständigt das Kostüm. Die zwischen 30 und 50 Zentimeter große Maske aus Arvenholz (Zirbelkiefer) ist rückseitig mit einem aufgenagelten Fell versehen und entweder bemalt oder mit einer Gasflamme geschwärzt. Die Masken tragen meist menschliche Züge, sind ins Groteske und Horrorhafte gestaltet und äußerst vielfältig, wobei keine eigentliche Typologie von Lötschentaler Masken existiert. Es gibt denn auch keine in der Gemeinschaft der Schnitzer durchgesetzte normative Ästhetik. Allerdings ist die Debatte darüber, wie eine ›richtige Tschäggätta‹ aussieht und wo ästhetischen Grenzen zu ziehen sind, dennoch eine lebhafte.1 In diesem Beitrag interessieren uns weniger die Ausformungen der Masken als vielmehr die vieldeutigen und komplexen Praktiken der Maskenschnitzer, die nur in seltensten Fällen formal ausgebildet sind, sondern sich als Laien in (teils familiäre) Traditionen des autodidaktischen Selbermachens stellen. Sichtbar wird ein changierendes und ambivalentes Tun, das sich je nach zeithistorischer Phase und je nach individuellen Deutungsmustern auf einer Skala zwischen Selbstentfaltung und Existenzsicherung positioniert. Schnitzen interessiert uns also als handwerkliche Tätigkeit, bei der Holzmasken entstehen, die zwar zeitweise zum Verkauf gedacht waren, die heute aber als Objekte vor allem einen über die Tätigkeit eingeschriebenen Wert besitzen, der sich innerhalb des Tales als ›soziale

1

Chappaz-Wirthner, Suzanne/Mayor, Grégoire: Les Tschäggättä en scène: débats sur l'esthétique du masque parmi les sculpteurs du Lötschental. In: ethnographiques.org 18 (2009), o. S., http://www.ethnographiques.org/2009/Chappaz-Wirthner,Mayor2 (Zugriff: 4.3.2016).

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Währung‹ erweist. Entsprechend vereint der Beitrag praxistheoretische mit diskursanalytischen Perspektiven, um die enge Verbindung von Handlungsweisen und Reden, von nicht-verbalen Tätigkeiten und formulierten Deutungen sichtbar werden zu lassen. Oder anders formuliert: Wenn Maskenschnitzer schnitzen, dann produzieren sie nicht nur Masken, sondern stets auch symbolische Bedeutungen. Unser Beitrag fragt auf der empirischen Basis von qualitativen Befragungen gegenwärtiger und ehemaliger Maskenschnitzer wie auch historischer Recherchen in Zeitschriften, in der älteren volkskundlichen Literatur, in unpublizierten Schriften sowie in privaten Nachlässen nach der bisher kaum thematisierten Nischenökonomie des Maskenschnitzens im Lötschental und nimmt dabei die Akteure und ihr konkretes Tun in den Blick. Die Gespräche und Interviews fanden zwischen 2010 und 2014 bei unseren regelmäßigen Aufenthalten im Tal statt, meistens bei ungezwungener Atmosphäre in der Werkstatt oder in den Wohnräumen der Schnitzer. Die narrativen leitfadengestützten Interviews wurden entweder mit Aufnahmegeräten aufgezeichnet oder in Gesprächsprotokollen festgehalten. Mit einzelnen Schnitzern verbindet uns eine mitunter jahrelange Bekanntschaft, ja Freundschaft, zu anderen Schnitzern ergaben sich nur sporadische Kontakte. Für die vorliegende Arbeit bemühten wir uns um eine systematische Auswahl von Personen unterschiedlicher Generationen und Positionen aus den vier Dörfern des Lötschentals. Deutlich gesagt werden soll, dass wir uns als Autoren durchaus in einer gedoppelten Rolle im Feld befinden, haben wir doch neben unserer ethnographisch forschenden Tätigkeit auch einzelne eigene Versuche ins Feld des Maskenschnitzens unternommen. Vor allem aber sind wir beide Maskensammler, im vollen Bewusstsein über die Ambivalenz von Traditionen ethnografischen Sammelns, in die wir uns damit stellen. Ziel unseres Beitrages ist eine Reflexion über die historische Tiefendimension des Phänomens ›Selbermachen‹, das gegenwärtig unter Stichworten wie »Revolution des Selbermachens«2 erhöhte (mediale und wissenschaftliche) Aufmerksamkeit erfährt.3 Mit Fragen nach den vielfältigen sinnstiftenden Funktionen ge-

2

Friebe, Holm/Ramge, Thomas: Marke Eigenbau. Der Aufstand der Massen gegen die Massenproduktion. Frankfurt a. M. 2008, S. 20.

3

Die umfangreiche Literatur zur Geschichte des Selbermachens und zum aktuellen Boom von DIY ist referiert in Langreiter, Nikola/Löffler, Klara: Handarbeit(en). Über die feinen Abstufungen zwischen Oberfläche und Tiefsinn. In: Heimerdinger, Timo/ Meyer, Silke (Hg.): Äußerungen. Die Oberfläche als Gegenstand und Perspektive der Europäischen Ethnologie. Wien 2013, S. 159–176; vgl. Langreiter, Nikola: Kulturen des Selbermachens in Transition. Flicken zum Beispiel. In: Berger, Karl C./Schindler,

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genwärtiger Schnitz-Praktiken kommt eine auf den ersten Blick diffuse Gemengelage von Motiven in den Blick, die von privatem Freizeit-Schnitzen mit hoher individueller Identifikation, über den Erwerb sozialen Kapitals innerhalb der ›Talgemeinschaft‹4 bis zu ökonomischen Anreizen durch den Verkauf reichen. Dieses Tun geht also immer auch mit der Herstellung – im doppelten Wortsinn – von Imaginationsobjekten einher. Wir verstehen daher die Schnitzer nicht nur als praktisch tätige Akteure, sondern auch als Makler5 kulturellen Wissens. Mit Blick auf die kulturwissenschaftlich-volkskundliche Literatur zu den Lötschentaler Fastnachtsmasken und im Rahmen von lebensgeschichtlichen Interviews mit Schnitzenden lassen sich Konjunkturen bestimmen, die eng mit der seit den 1940er Jahren beschleunigten sozioökonomischen Entwicklung des Bergtals und der verstärkten touristischen Maskenproduktion verbunden sind. Die eigentliche Hochkonjunktur der Souvenirmasken kann auf die Jahre 1950 bis 1985 datiert werden, als die Maskenherstellung für zahlreiche Schnitzer und ihre Familien die ökonomische Basis bildete. Während dieser Phase etablierten sich die Holzmasken als ein Teil der lokalen Identität und – zumindest ebenso wichtig – als variable ökonomische Chance im Tal. Die Masken für die Feriengäste befriedigten als Souvenirs einerseits perfekt die Bedürfnisse nach einer imaginierten Verwurzelung der Schweizer Bevölkerung in den Alpen, dieses hochaufgeladene Requisit symbolischen Kapitals bewirkte andererseits eine starke lokale Identifikation mit dem Handwerk des Maskenschnitzens. Durch die massenhafte Herstellung veränderten sich sowohl die Ästhetik als auch die mit den Objekten verbundenen Wertigkeiten. Fassbar wird dies an konkurrierenden normativen Bedeutungszuschreibungen zwischen handwerklicher und protoindustrieller Herstellung der Masken. Die sich ab 1960 etablierende arbeitsteilige Herstellung von Rohlingen, die dann

Margot/Schneider, Ingo (Hg.): Stofflichkeit in der Kultur. Wien 2015, S. 157–167. Einen konzisen Überblick über gegenwärtige Tendenzen bei Vosse, Corinna: Do-It-Yourself und Nachhaltiger Konsum – Selbermachen im Bedeutungswandel. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 26 (2013), H. 1, S. 90–95. 4

Entgegen aller ideologischen Implikationen des Gemeinschaftsbegriffes in der früheren Volkskunde verstehen wir hier ›Talgemeinschaft‹ als eine auf der alltagskommunikativen Ebene vernetzte Wohnbevölkerung im Bergtal, wo in vier Gemeinden etwa 1.500 Personen leben, wo ›man sich kennt‹ und daraus einen Teil individueller und familiärer Identität erfährt.

5

Vgl. zum Konzept der »cultural brokers« bei Welz, Gisela: Inszenierungen kultureller Vielfalt. Frankfurt a. M./New York 1996; als Überblick auch Bendix, Regina/Welz, Gisela: »Cultural brokerage« and »public folklore« within a German and American field of discourse. In: Journal of Folklore Research 36 (1999), H. 2/3, S. 111–125.

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für die Weiterbearbeitung an Aufkäufer veräußert wurden, und der Einsatz von Kopierfräsen, die es ermöglichen, eine Vielzahl von identischen Masken herzustellen, evozierten Fragen nach mit maschinell produzierten Serienwaren verbundenen Identitätsangeboten. Wie hoch dabei nicht nur eine regionale Typik, sondern auch die Aura der Handarbeit eingeschätzt wurde, zeigt sich bereits daran, dass diese maschinell vorgefertigten Rohlinge mit dem Schnitzmesser kurz nachbearbeitet wurden, und die Schnitzer Aufkleber mit der Inschrift »Lötschentaler Handarbeit« auf ihren Masken anbrachten. Bereits zu Beginn der Konjunktur hatte der kommerziell aktive Jakob Tannast begonnen, seine seriell zu Hunderten hergestellten Masken rückseitig handschriftlich zu signieren und etwa geschrieben: »Jakob Tannast, Kunstschnitzer, Wiler, Lötschental«.6 Die touristischen Umbrüche und die Marktsättigung bewirkten einen Preisverfall, der das Schnitzen von Masken zwar veränderte, nicht aber zu deren Verschwinden führte: Gegenwärtig werden Masken mehrheitlich als tragbare Larven für das Maskenlaufen und die Fastnachtsumzüge geschnitzt, während gerade die jungen Schnitzer stark individualistische Motive nicht nur ihren Masken ›einschnitzen‹, sondern dies zu einem kreativen Tun erklären. Ziel unseres Beitrags ist es also, vereinfachende Sichtweisen und vermeintlich klare Dichotomien zwischen ökonomischen Warenlogiken auf der einen und selbstgefertigten Artefakten auf der anderen Seite zu durchkreuzen und durch Fragen nach der Historizität und der jeweiligen Spezifik des Maskenschnitzens zu einem komplexeren Bild des Selbstgemachten – vor allem aber des Selbermachens – beizutragen. Gerade die an medial-ästhetischen Vorbildern von Science-Fiction, Horrorfilmen, Heavy-Metal-Musik oder Fantasy-Serien orientierten Masken – selten sogar als Dutzendware geschnitzt – werden als individuelle Einzelprodukte verstanden, sind jedoch ohne massenkulturelle Phänomene nicht denkbar.7 Solche

6

Diese rückseitige Beschriftung findet sich auf beinahe allen Masken von Jakob Tannast ab den 1950er Jahren (unsere Hervorhebung).

7

Zum engen Bezug zwischen medialen Diskursen und der Ästhetik der Masken auch Kuhn, Konrad J.: Tschäggättä im Internet – Repräsentation und Normierungen in medialen Diskursen über einen Fastnachtsbrauch im Lötschental (Wallis, Schweiz). In: Drascek, Daniel/Wolf, Gabriele (Hg.): Bräuche : Medien : Transformationen. Zum Verhältnis von performativen Praktiken und medialen (Re-)Präsentationen. München 2016, S. 157–184; Chappaz-Wirthner, Suzanne: Der Yeti und die Tschäggättä: Imaginäre des Ursprungs im Lötschental. In: Gonseth, Marc-Olivier/Laville, Yann/Mayor, Grégoire (Hg.): Helvetia Park. Neuchâtel 2010, S. 329–338.

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»statussichernde bzw. statuserhöhende Effekte«8 ermöglichende Produkte verweisen exemplarisch darauf, dass die im Sprechen über Selbermachen und Selbstgemachtes allgegenwärtigen Eindeutigkeiten und Gegensätze sich in der Perspektive ethnografischer Erforschung als vielfältiger, widersprüchlicher und lebendiger erweisen. In einem ersten Schritt werden die historischen Phasen der Maskenproduktion zwischen Brauchrequisit und nischenökonomischer Vermarktung bis in die Gegenwart skizziert. Danach fokussieren wir auf das über die praktische Tätigkeit hergestellte Selbstverständnis der Maskenschnitzer und kommen auf die Selbstdarstellung vermittels handgefertigter Objekte zu sprechen. Hier wird deutlich, wie stark die Arbeit an den Masken auch Bedürfnisse nach Kompensation, nach Selbsterfahrung und nach Ausgleich befriedigt. Eng verbunden mit dem Schnitzen als Strategie zur Selbstermächtigung9 ist dessen Funktion für den Erwerb von sozialem Kapital innerhalb eines sozialen Umfelds. Wichtig ist hier eine methodische Vorbemerkung, die auf jene Ambivalenz verweist, die für ethnografisches Forschen nicht nur im Bereich des Do it yourself (DIY) symptomatisch ist; die befragten Schnitzer sind es einerseits gewohnt, dass ihr Tun Interesse weckt; sie verfügen über eine gewisse – in Interviews mit JournalistInnen und KulturwissenschaftlerInnen geschärfte – Erzählroutine, in der sie das Selbermachen in Worte fassen, Ursprungserzählungen zum Fastnachtsbrauch präsentieren, über Inspirationsquellen und ästhetische Vorlieben berichten oder ihre eigene Biografie mit dem Maskenschnitzen verknüpfen. Andererseits wird das konkrete Tun des Schnitzens selten verbalisiert und werden die Arbeitsschritte kaum detailliert ausgeführt. Vielmehr wird mit einigem Aufwand versucht, das Schnitzen als durch das Material gelenkte und damit außerindividuelle Praktik darzustellen, eine in künstlerischen Diskursen oft bemühtes Bild für kreatives Schaffen: »Das Holz schnitzt mit mir« heißt es dann oder aber: »Die Maske habe sich im Holz versteckt«, und sie sei durch das Schnitzen nur hervorgeholt worden. Dieses Narrativ weist dem Material – dem Holz – eine handlungsleitende Rolle zu. Es kann aber auch für das Unvermögen stehen, über das Schnitzen als Tätigkeit

8

Seifert, Manfred: Jenseits des kulturwissenschaftlichen Szientismus: Die Kontaktfelder Stimmung und Empfindung. In: Braun, Karl/Dietrich, Claus-Marco/Treiber, Angela (Hg.): Materialisierung von Kultur. Diskurse – Dinge – Praktiken. Würzburg 2015, S. 71–87, S. 84.

9

Vgl. dazu Wehr, Kevin: DIY. The search for control and self-reliance in the 21st century. London 2012. Die Motivlage des Sich-selbst-Verwirklichens findet sich bereits bei Honer, Anne: Heimwerker-Typen. In: Gold, Helmut (Hg.): Do It Yourself: Die Mitmach-Revolution. Mainz 2011, S. 26–30.

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zu erzählen, vieles daran erinnert an die von der Soziologin Anne Honer Ende der 1980er Jahre durchgeführten Befragungen von Heimwerkern: »Bei meinen ›mannigfaltigen‹ Gesprächen mit Heimwerkern ist mir aufgefallen, dass meine Gesprächspartner ihr freizeitliches Selbermachen stets ziemlich pauschal abhandelten, dass sie eigentlich nie, jedenfalls nie ›von sich aus‹ die Details ihrer Arbeit, also z. B. einzelne Arbeitsschritte schilderten.«10 Honer erklärt dieses Unvermögen mit dem nur schwer verbalisierbaren »korporalen Gedächtnis«, in das Selbermachen als »Komplex praktischer Handlungsschemata« eingeschrieben ist.11 Als nicht-expliziter Wissensbereich körperlicher Fertigkeiten und Routinen verlangt Selbermachen allerdings nach Erzählungen, die das Potenzial haben, innerhalb sozialer Gruppen Plausibilität zu erlangen. Die über Medienaufritte, Facebook-Fotoalben oder während des fastnächtlichen Maskenlaufens aufwändig gesteuerte Selbstdarstellung der Maskenschnitzer wie die von ihnen als Akteure betriebene Fortschreibung der besonderen kulturellen Wertigkeit der Masken begründet sich genau in dieser Notwendigkeit. Anderseits hat das oft gezielte Nichtverbalisieren des Schnitzens gegenüber außenstehenden Forschenden wie gegenüber anderen Schnitzern viel mit dem Schweigen über handwerkliche Geheimnisse zu tun und mit der Angst davor, in Schnitztechnik und Inspirationsquellen von der Konkurrenz kopiert zu werden. Eine letzte Vorbemerkung zur Verfasstheit unseres Forschungsfeldes ist uns wichtig: Aus der Beschäftigung mit historischen wie gegenwärtigen Formen des Selbermachens ist bekannt, mit welchem Aufwand eine Vergeschlechtlichung und damit die geschlechterzuschreibende Trennung zwischen männlichen Handwerk und weiblicher Handarbeit konstruiert wurde und wird. Im Fall des Lötschentals trifft die ausschließlich männliche Bezeichnung empirisch zu, sind doch sowohl in der Vergangenheit, wie in der Gegenwart alle Maskenhersteller Männer. Dabei gibt es eine – und zugleich über Medienauftritte prominente – Ausnahme, der es gelungen ist, in die männliche Domäne des Schnitzens einzutreten. Die heute 79jährige Maskenschnitzerin Agnes Rieder (geb. 1938) war gemeinsam mit ihrem Mann erheblich an der seit den 1980er Jahren feststellbaren Konjunktur der Tragmasken beteiligt. Dabei verfügt sie über eine dezidierte Auffassung ihres Tuns:

10 Honer, Anne: Einige Probleme lebensweltlicher Ethnographie: Zur Methodologie und Methodik einer interpretativen Sozialforschung. In: Zeitschrift für Soziologie 18 (1989), H. 4, S. 297–312, S. 302; vgl. dazu Gross, Peter/Hitzler, Ronald/Honer, Anne (Hg.): Selbermacher. Symbolische Repräsentation durch Schattenarbeit: Heimwerken als Erfahrungsstil und soziale Praxis. Bamberg 1985. 11 Honer: Probleme 1989, S. 302.

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»Schnitzen ist Handwerk, Können und eine gute Fantasie.«12 Damit haben wir – nachdem in den letzten hundert Jahren zahlreiche, teilweise bekannte Forschende aus der deutschsprachigen Volkskunde sich diesen Masken widmeten13 – auch unsere Perspektive auf das Phänomen skizziert: Es geht uns nicht länger um das brauchmäßige Handeln, um das Alter des Brauchs, um mythologische Ursprungserzählungen,14 um die Masken oder um die Maskenläufer, sondern um die handelnden Individuen, die hinter den selbstgemachten Objekten stehen und die sich über dieses Tun erklären.

  Z WISCHEN   N ISCHENÖKONOMIE  UND   B RAUCHREQUISIT :   P HASEN  DER   M ASKENPRODUKTION   In einem historischen Rückblick lassen sich verschiedene Phasen der Produktion von Masken festmachen. Eine erste Phase kann bis ungefähr 1900 datiert werden, ihr Zurückreichen in frühere Jahrhunderte ist unbestimmt, es gibt jedoch Hinweise auf das selbstverständliche Schnitzen von Masken im kleineren, lokalen Rahmen des Fastnachtsbrauchtums; in jedem Dorf stellen einige Männer für sich und manchmal auch für ihre Bekannten die Fastnachtsmasken her, die es laut einem

12 Bellwald, Walter: Die Meisterin der Masken. In: Rhone-Zeitung, 3.2.2005. 13 Um nur einige zu nennen: Hoffmann-Krayer, Eduard: Die Fastnachtsgebräuche in der Schweiz. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 1 (1897), S. 47–57, S. 126–142, S. 177–194, S. 257–283; Stebler, Friedrich Gottlieb: Fastnacht im Lötschental. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 2 (1898), S. 178; Rütimeyer, Leopold: Über Masken und Maskenbräuche im Lötschental (Kanton Wallis). In: Globus 91 (1907), S. 201–204 und S. 213–218; Meuli, Karl: Schweizer Masken. Zürich 1943; Niederer, Arnold: Masken. In: Creux, René (Hg.): Volkskunst in der Schweiz. Paudex 1970, S. 281–286; Seeberger, Marcus: Menschen und Masken im Lötschental. Brig 1974. Die Wissenschaftsgeschichte der Erforschung der Masken findet sich in Bellwald, Werner: Zur Konstruktion von Heimat. Die Entdeckung lokaler »Volkskultur« und ihr Aufstieg in die nationale Symbolkultur: Das Beispiel Hérens und Lötschen (Schweiz). Sitten 1997. Als eine der ersten mit den konkreten Schnitzern befasst hat sich Chappaz-Wirthner, Suzanne: Les masques du Lötschental: Présentation et discussion des sources relatives aux masques du Lötschental. In: Annales valaisannes 49 (1974), S. 3–95. 14 Vgl. Kuhn, Konrad J.: Relics from the »Lost Valley« – Discourses on the magic of masks. In: Minniyakhmetova, Tatiana/Velkoborskà, Kamila (Hg.): Rituals in magic and magic in rituals. Innsbruck/Tartu 2015, S. 203–212.

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mündlichen Zeugnis seit napoleonischer Zeit um 1800 gab.15 Ab 1890 trafen diese Brauchrequisiten auf auswärtiges Interesse von Ethnografen und regionalen Historikern, die diese in historischen und volkskundlichen Zeitschriften dokumentierten und ihnen dabei ein hohes Alter und eine weit zurückliegende Bedeutung und Symbolkraft zuschrieben. Dies bewirkte eine bescheidene Produktion für Auswärtige: Einige Dutzend Masken wurden von Fachleuten aus Museen in Zürich und Basel gekauft. Doch haben wir hier einzelne in Form und Material besondere Stücke und Requisiten vor uns, die wohl eigens für den Verkauf fabriziert worden waren. In der dritten Phase ab den 1920er Jahren stiegen Lötschentaler Masken als die vermeintlich archaischsten Masken des Alpenraumes zu einem nationalen Kulturgut auf. In populären Bildbänden wie Fachpublikationen zu Brauchtum präsentierten sie die Schweiz, in der Landesausstellung in Zürich 1939 wurden unter anderem Lötschentaler Maskenfiguren gezeigt.16 Dieser Vorgang vollzog sich ohne die andernorts wirksame staatliche Förderung und weitgehend ohne geschmacksfördernde Einflussnahmen lokaler Honoratioren. Wohl einige hundert Stücke kamen in den Handel, zahlreiche wurden durch den Kunstmaler Albert Nyfeler (1883–1969) bemalt und an Ausstellungen vermittelt, so auch an die Weltausstellung in New York 1939. Vermehrt sind diese Masken rückseitig so schlecht ausgehöhlt, dass sie eigentlich kaum getragen werden können: Sie sehen noch nach Tragmasken aus, sind jedoch eher für den Verkauf an Touristen, Ethnographen, Museumsleute und erste bereits vor Ort aktive Galeristen und Antiquitätenhändler aus den Schweizer Städten gedacht. Die vierte Phase, die eigentliche Maskenkonjunktur, begann in den 1940er Jahren und dauerte bis in die 1980er Jahre hinein.17 Sie war stark geprägt durch die »Geistige Landesverteidigung«, die im Alpinen das Urschweizerische suchte

15 Diese mündliche Überlieferung ist erfasst und kommentiert bei Bellwald: Konstruktion von Heimat 1997, S. 97 f. 16 Bellwald, Werner: Die Entdeckung der Lötschentaler Fastnachtsmasken und ihre Entwicklung zu einem »Markenzeichen« schweizerischer Volkskunst. In: Eder Matt, Katharina/Gantner, Theo/Wunderlin, Dominik (Hg.): Typisch? Objekte als regionale und nationale Zeichen. Basel 1990, S. 23–30. 17 Vgl. dazu bereits Kuhn, Konrad J.: Markt-Masken. Dinge zwischen materieller Produktion und ökonomischen Marktbedingungen. In: Braun, Karl/Dietrich, Claus-Marco/ Treiber, Angela (Hg.): Materialisierung von Kultur. Diskurse – Dinge – Praktiken. Würzburg 2015, S. 155–164.

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Ignaz Ebener (1885–1970) im Atelier von Kunstmaler Albert Nyfeler

Foto: ev. Prior Johann Siegen, Kippel, ca. 1940er Jahre.

Fünf Phasen des Maskenschnitzens: Alte geschwärzte Maske, Traglarve mit Bemalung von Albert Nyfeler (1930er), bunte Souvenirlarve, frühe kleine Souvenirlarve, groteske Tragmaske von Bernhard Siegen (von links)

Foto: Sammlung Werner Bellwald, Ried/Blatten.

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und fand.18 Erheblich davon beeinflusst war der Binnentourismus, der das Lötschental als Ferienregion des Winter- und Sommertourismus entdeckt hat. Dank der ›Innovation‹ der rückseitig flachen und miniaturisierten ›Souvenirmaske‹ konnte die Nachfrage nach geschnitzten Masken seit den 1940er Jahren19 befriedigt werden. In der intensiven Zeit der 1950er20 und vor allem 1960er Jahre wurden jährlich Zehntausende hergestellt und verkauft: Die der Handarbeit zugeschriebene Qualität, das Miterleben der Herstellung vom rohen Holzstück zur fertigen Maske über für die Kundschaft zugängliche Schnitz-Werkstätten, der angeblich bis in prähistorische Zeiten zurückreichende Ursprung der Masken und die symbolischen Wertigkeiten des verwendeten Materials (Holz, Fell, Tierzähne) machten die Maske zu einem perfekten Souvenir für (meist städtische) Feriengäste. Als rurale Innovation ist die Souvenirmaske nicht nur ein Produkt aus billigen heimischen Materialien mit größtmöglicher Wertschöpfung am Ort, sondern fügte sich im Bergtal auch perfekt in den Übergang ein von der traditionalen bergbäuerlichen Gesellschaft mit geringem Monetarisierungsgrad zur postmodernen Gesellschaft von ArbeitspendlerInnen, die in Industrie und Dienstleistungssektor aktiv sind. Im Objekt der Maske trafen sich die ökonomischen Bedürfnisse des Bergtales gleichsam glücklich mit den mentalen Erwartungen der auswärtigen Gäste. Die Masken sind als Produkte im Rahmen einer Nischenökonomie in einer peripheren alpinen Lage nicht nur unter ökonomischen Gesichtspunkten ideale Objekte, sondern stellen auch Identifikationsobjekte für den Alpenraum, für die Archaik der Bergtäler und Souvenirs für eine erfüllte Ferienzeit dar. So selbstverständlich das kommerzielle Schnitzen in diesen Jahren auch ausgeübt wurde, werden in den heutigen Gesprächen doch exakte Verkaufszahlen und Einkommensverhältnisse tabuisiert. Selten

18 Mooser, Josef: Die ›Geistige Landesverteidigung‹ in den 1930er Jahren. Profile und Kontexte eines vielschichtigen Phänomens in der schweizerischen politischen Kultur in der Zwischenkriegszeit. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 47 (1997), H. 4, S. 685–708. 19 Ernst Rieder (1926–2014) datiert die ersten (mit einem Lötkolben) gebrannten Masken von Willy Lehner in die Zeit 1935/36 (Gespräch mit Ernst Rieder vom 22.5.2011, aufgezeichnet von Werner Bellwald). Andere Aussagen datieren den Boom etwas später, nämlich nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich der Tourismus im Lötschental etablierte, vgl. Lötschentaler Museum (Hg.): Arbeiten im Jahreslauf – Les travaux et les jours. Kippel 1986, S. 31. 20 Richard Weiss spricht bereits – mit Bedauern – von den Lötschentaler Masken als Handelsartikel, vgl. Weiss, Richard: Alpiner Mensch und alpines Leben in der Krise der Gegenwart. In: Die Alpen 33 (1957), S. 209–224, S. 218.

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sind jene Ausnahmen wie der Maskenschnitzer Bernhard Siegen (1923–2009), der am Ende seines Lebens freimütig darüber Auskunft gab, wie er nach dem Hausbau 1961 stark verschuldet gewesen sei, doch den überwiegenden Teil der Hypotheken dank der Maskenschnitzerei habe abzahlen können. Rechnungen aus seinem Nachlass belegen, wie die Souvenirmasken jährlich mehrere Tausend Franken und den größten Teil seines Jahresverdienstes einbrachten. Erweitert man im Sinne des fait total den Blick auf die ökonomischen, kulturellen und sozialen Bedingungen des Tales in jenen Jahrzehnten des vielzitierten Umbruchs, so fällt auf, wie zahlreiche Bräuche und Gepflogenheiten klanglos von der Bildfläche verschwanden und neuen Formen Platz machten, die Masken sich im Gegensatz zu anderen Brauchtumserscheinungen jedoch halten konnten. Dies ist nicht ohne die bereits wirksame auswärtige Nachfrage zu verstehen, die von zwei, drei Namen einheimischer Schnitzer geschickt geschaffen und verstärkt wurde. Einer dieser Unternehmer war Jakob Tannast (1906–1976), der in Wiler im Keller seines Wohnhauses eine Werkstatt führte, als einer der ersten Masken vor dem Haus ausstellte, Souvenirmasken zu Tausenden schnitzte und im Auftrag von anderen schnitzen ließ, an Umzügen mit Masken warb, mit einem gefüllten Rucksack nach Bern reiste und abends mit einem gefüllten Portemonnaie heimkehrte.21 Spätestens seit den 1970er Jahren werden auch im Tal die schon erwähnten Kopierfräsen eingesetzt, um die hohen Stückzahlen fertigen zu können. Der Bau der Autostraße und das Aufkommen des Massentourismus ermöglichten den Absatz im Tal selbst, während die Handelsbeziehungen von Strickereien und die persönlichen Kontakte zu einschlägigen Märkten den (Direkt-)Verkauf auch außerhalb des Tales förderten. Bald setzte ein Regionalisierungsprozess ein, der aus

21 Ob dabei der erhebliche ökonomische Vorteil bisher genügend in die Diskussion einbezogen wurde, darf bezweifelt werden. So konstatiert eine Monografie über das Tal pauschalisierend: »Mit dem aufkommenden Tourismus wurden die Lötschentaler Holzmasken ein beliebter Souvenirartikel. Anfänglich kauften die Ferienleute Tragmasken, die zuvor in der Fastnacht Verwendung gefunden hatten. Immer mehr fertigten die zahlreichen Schnitzer Masken in verschiedensten Größen zum Verkauf. Aber für alle blieb es ein Nebenerwerb; Jakob Tannast aus Wiler war wohl der einzige, der als ›Schnitzlär‹ (Masken-Holzbildhauer) und Antiquar davon gelebt hat. Der Werbeeffekt für den Tourismus ist vermutlich größer als die wirtschaftliche Bedeutung dieses Gewerbes.« Siegen, Josef: Re-konstruierte Vergangenheit. Das Lötschental und das Durnholzertal. Wirtschaftliche und sozio-kulturelle Entwicklung von zwei abgeschlossenen Alpentälern zwischen 1920 und 2000 aus der Sicht der Betroffenen. Münster 2004, S. 57.

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»Lötschentaler Masken« fix »Walliser Masken« werden ließ, die auch in den anderen Tourismusorten wie beispielsweise in Zermatt als »Mountain Ghosts« verkauft und ebenso bald auch außerhalb des Tales produziert wurden.22 – Die Lötschentaler Masken mutierten in Formate der Repräsentation wie Umzüge oder Ausstellungen vom lokalen zum regionalen, ja zum nationalen Stellvertreterobjekt. Maskenkonjunktur: Der Schnitzer Jakob Tannast bei einem Dorffest mit Umzug in Kandersteg (Kanton Bern), 7. Juli 1957

Foto: Thomas Henzen, Wiler.

Die Herstellung in teilweise arbeitsteiliger Heimarbeit, oft unter Nutzung der für die Strickereiwaren bestehenden Absatzkanäle,23 ermöglichte für geschickte und findige Schnitzer zwischenzeitlich hohe Einkommen. Bezüglich der verkauften

22 Antonietti, Thomas: Zur Ästhetik des Tourismus. Manifestationen der Freizeitindustrie in Crans-Montana und Zermatt. In: Ders./Morand, Marie Claude (Hg.): Tourismus und kultureller Wandel. Wallis 1950–1990. Sitten 1993, S. 63–92, S. 71. 23 Ein Beispiel dafür ist Johann Meyer (1929–2003), der zwischen 1948 und 1971 eine Strickerei in Wiler führte und seine Produkte als bahnreisender Kaufmann in der gesamten Schweiz verkaufte, vgl. Lötschentaler Museum (Hg.): alt werden – alt sein im Lötschental. Kippel 1990, S. 16.

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Produkte waren die Anforderungen der Käufer offenbar nicht hoch, wenn man dem im Tal forschenden US-Anthropologen John Friedl glauben kann, der einen anonymen Maskenschnitzer mit den Worten zitiert: »You can sell them anything«.24 Selbermachen ist in diesem Zusammenhang alles andere als das, wie es heute oftmals definiert wird: Fern einer kapitalismuskritischen, konsumkritischen, identitätsstiftenden (Freizeit-)Beschäftigung ist das Maskenschnitzen der 1950er bis 1970er Jahre ein marktorientiertes Geschäft, dessen Anteil an intensiver Handarbeit man durch Aufträge an Dritte, durch manufakturelles Serienschnitzen und durch Kopierfräsen zu reduzieren und den Profit zu maximieren suchte. Ungelernte Arbeitskräfte fanden hier eine Möglichkeit zu attraktivem Geldverdienst, der den Kauf von Konsumgütern der Moderne bis hin zum Hausbau erlaubte. Das Geschäft war quasi ein Selbstläufer, der nicht einmal der Werbung bedurfte. So existieren beispielsweise kaum Produktprospekte, da die jährlich wiederkehrenden Zeitungs- und Zeitschriftenartikel (meist sind diese bebildert) vom Schweizerischen Heimatwerk in Zürich bis hin zu französischsprachigen Zeitungen in Lausanne und Genf die Werbung weitgehend übernehmen: Das Alpine als Label genügt. Seit den 1980er Jahren läuft eine Phase des mit den Veränderungen der Tourismusindustrie einhergehenden Schrumpfens, in der das mediale Interesse zwar ungebrochen anhält, die Nischenökonomie aber kaum mehr eine Rolle spielt. Konsterniert erinnern sich Ältere an die ›Goldene Zeit‹ des Maskenschnitzens; sie verkaufen heute keine fünf Prozent der früheren Stückzahlen. Vielmehr ist Maskenschnitzen als hobbymäßig betriebene Freizeitbeschäftigung und für die jeweilige Identität der Aktiven wichtig, was sich auch in einer neuen Offenheit bezüglich der Ästhetik einer Lötschentaler Maske zeigt. Heute sind wir also in einer fünften Phase, in der Masken in erster Linie nicht für einen Markt, sondern für individuelle Zwecke geschnitzt werden: An die Stelle der das ganze Jahr schnitzenden Maskenlieferanten en gros sind im Vorfeld der Fastnachtszeit sich selbst verwirklichende Freizeitschnitzer getreten, die viel Zeit, Fantasie, Geduld und auch Geld in ihr Tun investieren. Der ehemals wichtige Souvenirmarkt ist eingebrochen, junge Schnitzer und Maskenläufer widmen sich jedoch mit Enthusiasmus den Masken – letztere haben ihr Aussehen stark verändert, sind individualisiert, personalisiert und dabei mit neuer Bedeutung und vielfältigen Qualitäten aufgeladen.

24 Friedl, John: Kippel: A changing village in the Alps. New York u. a. 1974, S. 121.

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»I CH  BIN  EIN   M ENSCH ,  DER  DAS  MIT   H ERZ  MACHT «   –   S ELBSTERFAHRUNG  UND   S ELBSTDARSTELLUNG     IM   S ELBERMACHEN     In mehreren unserer Interviews werden lineare lebensgeschichtliche Entwicklungen hin zum Maskenschnitzer entworfen. Dabei werden nicht nur allgemeine Diskurse um Tradition, Brauchtum und Echtheit bekräftigt, sondern es wird auch das eigene Tun als Hineinwachsen in eine Rolle innerhalb der Familie und innerhalb des Tals geschildert. So erwähnt beispielsweise Bruno Ritler (geb. 1979) aus Blatten, wie sein Großvater schnitzte und fährt fort: »Der Wunsch ist von da an [vom Kindergarten an] immer dagewesen, dass ich selber Maskenschnitzer werden wollte. Und ich habe damit auch in der Primarschule angefangen« – damit ist ein Gesprächsverlauf vorgezeichnet, in dem Aussagen wie die folgenden typisch sind: »Ich bin ein Mensch, der das mit Herz macht«. Dabei klingt nicht nur die Charakterisierung handwerklicher Techniken als ›Hand und Kopf‹ verbindende Tätigkeit an,25 sondern auch der bekannte Werbespot des Bau-/Hobby-Großverteilers Hornbach: »In jedem Projekt steckt ein Teil von dir«.26 In diesem Zusammenhang ist der in den Interviews vielfach gegebene Hinweis relevant, dass Maskenschnitzen autodidaktisch erlernt wird und dabei allenfalls familiäre Traditionen nutzbar gemacht werden. Wo solche fehlen, wird dieser Umstand narrativ hervorgehoben. Bei genauem Nachfragen zeigt sich aber, dass viele Schnitzer an einem bestimmten Punkt ihres Tuns Kurse besuchten, hierin unterscheiden sie sich nicht von anderen DIY-AkteurInnen. Die Motivation für den Besuch dieser Schnitzkurse liegt einerseits darin, sich spezialisiertes Expertenwissen anzueignen, das im Gegensatz gerade zu anderen Schnitzern artikuliert wird, andererseits ermöglichen die Kurse auch das Erlernen präziser Schnitztechniken, die die eigenen Produkte in der talinternen (impliziten) Hierarchie aufwerten. Diese Kurse gehen oft einher mit dem Kauf und der Anwendung professioneller Spezialwerkzeuge, die handwerkliche Qualität ermöglichen. Oft sind es aber wiederum jene Schnitzer, die an älteren und ohne professionelles Werkzeug hergestellten Masken aus den 1940er Jahren explizit die Rohheit und den gelungenen Ausdruck loben und auch angeben, sich an diesen Vorbildern zu orientieren. So qualifiziert beispielsweise auch der Lokalhistoriker Ignaz Bellwald die heutigen Masken zwar anerkennend als »Kunst«, kritisiert diese aber zugleich, weil sie im Gegensatz zu früher nun nicht mehr »von innen heraus« kämen wie jeweils die ersten Masken der früheren Schnitzer. Diese wertenden Aussagen

25 Sennett, Richard: Handwerk. Berlin 2008, S. 65. 26 Zitiert nach Friebe/Ramge: Eigenbau 2008, S. 114.

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verweisen auf harte Konkurrenzen untereinander wie zwischen an Traditionen orientierten Einwohnern und Schnitzern und belegen einen Aushandlungsprozess rund um Werthaltungen des Schnitzens. Die Schnitzer stehen in diesem Diskurs mit ihren Produkten in Konkurrenz, sie bilden daher auch keine homogene Gruppe. Vielmehr finden sich unter den Akteuren wenige Talentierte, einige Professionelle und viele Laien. Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen lässt sich beim Maskenschnitzen feststellen, dass die Professionalisierung bis in die Freizeittätigkeiten vordringt.27 Die Konkurrenzen zwischen den Akteuren und deren anspruchsvollen Produktionen widersprechen den immer noch landläufig virulenten Ansichten und Zuschreibungen von ›Volkskunst‹, in denen einfache, ›naive‹ Arbeiten als die ›richtigen‹ qualifiziert werden. Sichtbar wird eine Hierarchie, in der handwerkliche Qualität jene Maxime ist, die von den Akteuren erreicht werden muss, um nicht als laienhafte Bastler herabgewürdigt zu werden – und im Moment, wo diese Qualität erreicht wird, ist sie zugleich Anlass der Disqualifizierung, indem sie von Traditionalisten als ›Kunst‹ apostrophiert und damit entwertet wird. An den Holzobjekten werden also auch Ein- und Ausgrenzungen verhandelt. Solche Grenzziehungen zeigen sich auch bei den meisten der jüngeren Schnitzer, die sich in Gesprächen deutlich gegen das erwerbsmäßige Maskenschnitzen der früheren Generationen abgrenzen und geradezu repetitiv betonen, ihre Masken seien nicht zum Verkauf; so sagt beispielsweise Bruno Ritler im Gespräch, er schnitze »für den Brauch, nicht für das Verkaufen«.28 Ritler und andere verweisen hierbei auf das ihrem Tun eingeschriebene Erzeugen von immateriellen Werten, das eben gerade nicht ökonomisch ausgerichtet ist, sondern in ihrer Sicht von höherer, kultureller Bedeutung ist. Zugleich werden an solchen Äußerungen Ambivalenzen zwischen Nischenökonomie und Herstellerstolz deutlich, die auf die lange Tradition der gleichermaßen auswärtigen wie übernommenen Fremd- und Selbst-Stereotypisierung als »arme, aber schlaue Bergbewohner« reagieren. Indem der Stolz auf die finanzielle Unabhängigkeit von den Feriengästen – auch wenn sich dies mit Blick auf die Dominanz des Tourismus als Chimäre herausstellen würde – in den Vordergrund

27 Insofern plädiert auch dieses ethnographische Beispiel für eine differenzierte Betrachtung des vermeintlichen Gegensatzpaares DIY versus Professionalität, vielmehr ermöglicht Selbermachen genau das Ausleben von Werten der Professionalität, vgl. dazu bereits Langreiter/Löffler: Handarbeit(en) 2013, S. 162–163. 28 Gespräch mit Bruno Ritler, 12.2.2014, aufgezeichnet von Konrad Kuhn.

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gerückt wird, wird zugleich das Maskenschnitzen als Selbsterfahrung reformuliert.29 Während dabei neuerdings der Lustgewinn am zweckfreien Aufwand und der Ausgleich zur Arbeit als individuelle Motive genannt werden, spielt aber auch der Bezug auf die »Talgemeinschaft« und die heterogene Gruppe der Maskenschnitzer eine erhebliche Rolle. Das gegenwärtige Selbstverständnis heutiger Schnitzer lässt sich insbesondere bei Medienauftritten fassen – wobei sich die Schnitzer dabei bereits anerkannter Kategorien bedienen, im Wissen um die Akzeptanz der Antworten. Das Spiel von Frage und Antwort bewegt sich häufig innerhalb eines expliziten Authentizitätsdiskurses. Das Interview mit dem Schnitzer Bruno Ritler, ausgestrahlt von einem regionalen Radiosender, ist hierzu beispielhaft:30 »Und ich sage, es braucht wirklich sehr viel Herzblut, um so eine Maske zu schnitzen, eine gute Maske zu schnitzen, weil, also bei mir ist es nicht so, dass ich damit ein Gewerbe mache oder so, ich mache das wirklich nur für mich als Hobby, für die Kollegen, um den Brauch zu fördern. Und wenn ich eine Maske schnitze so ist es nicht so, dass ich einfach in die Werkstatt kann und loslegen kann. Bei mir muss das vom Herz kommen und von inwendig [innen] stimmen.«

Dies kommentiert der Moderator folgendermaßen: »Man merkt, das Schnitzen, das ist dir eigentlich noch nie wirklich verleidet. Also das ist, ich sage, vielleicht auch ein wenig ein guter Ausgleich zum Alltag.«

Der Schnitzer bestätigt diese Sichtweise und übernimmt damit zugleich die Zuordnung seiner Tätigkeit: »Man muss das immer so ansehen: man lebt heutzutage in einer Welt, die sehr, sehr reglementiert ist. Das heißt: wir leben nach einem Prinzip. Das ist ja auch gut. Aber das Schnitzen

29 Maskenschnitzen fügt sich dabei ein in eine ganze Reihe von Möglichkeiten der Selbsterfahrung durch Selbermachen, die auch in der zahlreich vorhandenen Ratgeber-Literatur biografisch thematisiert wird, vgl. hierzu als Beispiel den vielsagenden Titel von Crawford, Matthew B.: Ich schraube, also bin ich. Vom Glück, etwas mit den eigenen Händen zu schaffen. Berlin 2010. 30 Radiosendung »Zum Kaffee« auf Radio Rottu, Oberwallis, 27.2.2014, http://www.rro.ch/ cms/content/598/audio/zumkaffee-a4666cd9e1ab0e4abf05a0fb232f4ad3.mp3 (Zugriff: 4.3.2016).

262   |  K ONRAD   J.   K UHN  UND   W ERNER   B ELLWALD   oder auch das Tschäggätun [Maskenlaufen] sind eine Sache, wo man vielleicht einen Moment dem Alltag entfliehen kann, und in eine fremde Welt hineinleben kann, auch in einer Welt, in der noch unsere Väter oder unsere Vorfahren drin gelebt haben, das ist sehr schön.«

Der Moderator erläutert: »Wir haben heute nämlich einen Profi im Studio, das Maskenschnitzen und überhaupt die Lötschentaler Tschäggättä faszinieren ihn seit klein auf. Und Bruno Ritler, auch im Lötschental selber bist du bekannt als naturverbundener Mensch.«

Der Schnitzer Ritler nimmt auch das auf und versieht das Selbermachen mit sozialen und emotionalen Qualitäten: »Das ist schon so, weil ich gehe viele Jahre schon auf die Jagd, und das ist so: Das Jagen ist für mich eigentlich der Ausgleich, den ich im Winter beim Schnitzen habe, ist das für mich im Sommer […]. Im Sommer, da denke ich eigentlich, ehrlich, den Tschäggätun nicht groß nach, da ist die Arbeit anders […] das Maskenschnitzen, ich muss es so sagen, das ist etwas, das ich wirklich nur machen kann, wenn dunkel ist, wenn Schnee ist – und wenn vorne wirklich schön ist und alles grün und die Natur blüht, dann ist das Maskenschnitzen weit weg, das heißt dann bin ich wirklich bei der Natur, meine Gedanken sind bei der Natur und bei der Heimat.«

In solchen Gesprächen verdichten sich die aufgegriffenen Themen quasi zu einem Kanon des ›Echten‹ rund um das Selbermachen von Dingen, das sich aus folgenden Elementen zusammensetzt: Erstens werden die Verbundenheit mit der Natur und ihren Jahreszeiten genannt sowie die Verbundenheit mit einem Ort, der ländlich, besser noch ›alpin‹ ist. Zweitens wird das Ausüben des Hobbys entsprechend einem naturgegebenen Jahresrhythmus und entsprechend dem von innen heraus erspürten moment décisif zugeordnet. Das eigene Tun wird drittens als Therapie angesichts eines entfremdeten Alltags beschrieben und der Freizeitaktivität des Schnitzens werden viertens emotionale und soziale Qualitäten zugeschrieben. Selbermachen dient also auch hier der Selbsterfahrung, der Selbstdarstellung sowie der sozialen Kohäsion. Fünftens findet sich die Wertschätzung von Handarbeit und von selbst hergestellten exklusiven Einzelstücken, kombiniert mit einer diskursiven Herabsetzung von Massenware und Souvenirkultur – wobei ausgeblendet wird, dass dank des Tourismus das Maskenschnitzen vor wenigen Jahrzehnten überhaupt bekannt wurde und dank der Kommerzialisierung bis heute überlebte. In diesen Gesprächssituationen werden auch die in anderen Sparten des DIY zu-

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tage tretenden gesellschaftskritischen, ja subversiven Momente spürbar. Sie konkretisieren sich in den Inszenierungen heutiger, selbst hergestellter Masken in einer fastnächtlichen Gegenwelt, die gleichzeitig einen zeitlichen Bogen in eine weit zurückreichende und als ›eigen‹ empfundene Vergangenheit schlagen. Das Selbermachen von handgeschnitzten Masken funktioniert hier also auch als Strategie der Selbstermächtigung angesichts der Moderne und verweist auf ein utopisches Moment einer hochdifferenziert strukturierten Welt. Das schließt den Einsatz von Maschinen nicht aus. Auch das früher deutlich verpönte Fräsen, also die maschinelle (Vor-)Fabrikation von Rohlingen oder von fertigen Masken, gestaltet sich nicht ganz so einfach, wie es auf den ersten Blick aussehen mag – die Kopierfräsen der 1960er bis 1990er Jahre produzierten nicht einfach verkaufsfähige Masken. Die Bedienung dieser Maschinen erfordert vielmehr Einiges an technischem Verständnis, die Maschine und Wissen um das Material Holz betreffend, was der Maskenschnitzer Christof Rieder (geb. 1969) im Gespräch folgendermaßen resümiert: »Von Hand schnitzen, da geht es um die Kreativität, die so ein Schnitzer hat. Doch um ein Ding exakt nachzumachen, muss er ein hochtechnisches Verständnis von der Maschine haben und ein hohes Verständnis vom Holz. Das sind relativ komplizierte Abläufe, all das, also dass man das gut einspannen kann, gut fräsen kann und auch versteht, was man überhaupt macht, was warum, wo es abbricht und so, wie es abbrechen könnte.«31

Der Einstieg ins Maskenschnitzen, sei es Handarbeit oder kommerzieller orientiertes Fräsen, ist mit einigen Hürden verbunden und erfordert ein Vorwissen und technisches Verständnis, wie es auch andere Spielarten des heutigen DIY verlangen.

31 Unveröffentlichter Film von Werner Bellwald, 22.1.2014, Masterfile Szene 13, 1:06 ff.

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Christoph Rieder mit einer Kopierfräse, die in den 1980er Jahren im Lötschental im Einsatz war: »Nur schon das richtige Schleifen der Bohrer ist eine Wissenschaft …«

Foto: Werner Bellwald, 2013.

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Selbermachen zwischen Selbstentfaltung und handwerklichem Tun: Schnitzer Heinrich Lehner in seiner Werkstatt

Foto: Gian Ehrenzeller/Keystone, 2013.

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S OZIALES   K APITAL  IM   B ERGTAL ?     Das Lötschental ist heute in der Schweiz als einer der wichtigen ›Fastnachtsorte‹ bekannt und wird in einem Atemzug mit den großen städtischen Fastnachten wie Basel oder Luzern genannt; wird nach Fastnacht in den Alpen gefragt, fällt der Name Lötschental oft an erster Stelle. Der damit verbundene Prestigegewinn mag Verlusterfahrungen kompensieren, die sich beispielsweise in rückläufigen Zahlen im Tourismus, im Ende der Maskenkonjunktur oder auch in sozialen Veränderungen und Umbrüchen in ländlichen und insbesondere in alpinen Regionen äußern; ein Mechanismus, auf den schon Arnold Niederer hingewiesen hatte.32 Immerhin: Die Lötschentaler Fastnacht schafft es immer noch jährlich in nationale Medien.33 Zudem hat sie sich seit den 1930er Jahren bis in die Gegenwart zur Ikone des Bildgedächtnisses entwickelt, nicht nur im Bereich des Tourismus, sondern auch in landesweiten Werbekampagnen, beispielsweise der Schweizerischen Bundesbahnen. Soziales Kapital gewinnen in diesem Prozess auch die einzelnen Akteure: Die Maskenschnitzer erarbeiten sich mit ihrer Tätigkeit einen Teil ihres sozialen Ansehens in der ›Talgemeinschaft‹«. Vor allem sind sie im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte über das Handwerk hinaus auch zu zentralen Maklern kulturellen Wissens avanciert, nachdem lokale Experten – namentlich in der ›Heimatkunde‹ versierte Priester, Lehrer oder Künstler – wegfielen und heutige Kulturwissenschaftler diese Lücke weder füllen können noch wollen. So erklären in den Medien heute oft die Maskenschnitzer die Herkunft des Brauches und die Modalitäten der ›richtigen‹ Brauchpraktiken; das gekonnte Handhaben von Schnitzwerkzeug wird dem Handhaben von Kulturwissen gleichgesetzt. Dem Bedarf der Medien nach personalisierten Geschichten entsprechen die Maskenschnitzer mit ihrem praktischen Tun und ihrem Erzählen darüber in geradezu idealer Weise. Die Schnitzer wiederum profitieren vom medialen Interesse, das innerhalb der lokalen Gesellschaft Prestige verschaffen und Zuschreibungen bezüglich der sozialen Position stabilisieren kann. Die Möglichkeiten der sozialen Profilierung sind vielfältig und reichen vom technischen Können bis zu ›historischem‹ Wissen. Schnitzen erlaubt

32 Niederer, Arnold: Sitten, Bräuche und Traditionen als Faktoren der regionalen Identität. In: Brugger, Ernst A. u. a. (Hg.): Umbruch im Berggebiet – Les régions de montagne en mutation. Bern 1984, S. 796–808, S. 799 f. 33 Ein Beispiel (unter zahlreichen) ist die Fernsehsendung NZZ-Format »Gelebte Tradition – Schweizer Volksbräuche«, die am 12.8.2014 im Schweizer Fernsehen SRF ausgestrahlt wurde und seither als DVD verkauft und über Schulen verbreitet wird, www.nzzformat.ch/108+M5a4370c9739.html (Zugriff: 4.3.2016).

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als positiv bewertete Freizeitbeschäftigung die mediale Inszenierung, Selbstdarstellungen und Zuschreibungen in- und außerhalb des Tales.

  S ELBSTGEMACHTES   S ELBST   –     AMBIVALENTE   F UNKTIONEN  UND   F RIKTIONEN   Der Maskenschnitzer Christof Rieder, dessen Vater einer jener finanziell erfolgreichen Maskenverkäufer war, resümiert prägnant: »Es hat vielleicht mal eine Zeit gegeben, als das rentierte, aber jetzt im Moment, das kann man vergessen. Es ist auch nicht mehr, hm, es hat sich verändert. Die Touristen die früher kamen, die waren 14 Tage hier und hatten eine Ferienwohnung gemietet und kauften vielleicht eine Larve. Heute kommen einfach irgendwelche Snöber [Snowboarder] von Zürich, bringen etwas zu rauchen und ein Sandwich mit und gehen wieder und kaufen sicher keine Larve. Alles hat seine Zeit und das mit den Larven ist nun einmal vorbei und ob die gefräst werden oder von Hand geschnitzt, das spielt gar keine Rolle.«34

Rieder benennt hier veränderte ökonomische Möglichkeiten der LötschentalerInnen, die dank solider Berufsausbildungen ihren Lebensunterhalt ganz anders bestreiten können als noch ihre Väter und Großväter, für die – oft ohne berufliche Ausbildung – das Selbermachen eine ökonomische Nische darstellte. Entsprechend sind die Motivlagen für das Schnitzen heute individualisiert und auch biografisch variabel, im Vordergrund jedoch stehen die Möglichkeiten der Selbsterfahrung und des Erwerbs sozialen Kapitals. Salopp formuliert: Die heutigen Schnitzer machen etwas selbst, und dabei machen sie zugleich auch immer sich selbst.35 Besonders deutlich wird dies bei den jeweiligen Selbstdarstellungen auf Facebook, wo die Masken im Wettbewerb um Likes und Kommentare einen prominenten Platz einnehmen – ohne dass sich hier eine geschlossene Community darstellt. Gleichwohl bilden sich Netzwerke ab: Alle Schnitzer beziehen sich direkt oder indirekt auf andere und auf deren Masken, die an der Fastnacht einmal jährlich öffentlich sicht- und kritisierbar werden. Selbermachen ist also auch in diesem Sinne ambivalent: Nachdem vor dreißig Jahren das Maskenschnitzen und der Brauch in eine tiefe Krise gerieten, zeigt sich

34 Unveröffentlichter Film von Werner Bellwald, 22.1.2014, Masterfile Szene 14, 1:09 ff. 35 Langreiter, Nikola: Alles in Ordnung mit dem Selbermachen-Selbst. Formen und Funktionen des Biografisierens in der Handmade-Nischenökonomie. In: Kuckuck (2014), H. 1, S. 44–49.

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beides heute lebendig und aktiv. Das Maskenschnitzen wird als vielfältiges, individuelles Selbermachen jedes Jahr in Dutzenden neuen Tragmasken öffentlich vorgeführt. An und mit den Masken – ob im beiläufigen Wort oder in einer mitunter hitzigen Diskussion – werden also nicht nur die Artefakte und deren Gestaltung, sondern auch die Personen, die sie hergestellt haben und sogar deren Status verhandelt. Das Maskenschnitzen vereinigt mit seiner spezifischen Sprache, eigenen Orten und Zeiten, einer eigenen, unter Mithilfe der damaligen Volkskunde kreierten Ursprungserzählung, einer starken Medienpräsenz viele Aspekte des gegenwärtigen Booms des Selbermachens – gelegentlich auch unverhüllt den Aspekt des zwar informellen, doch wirksamen Ausgrenzens. Dann kann das Selbermachen, das eine so wichtige Rolle in der Identitätskonstruktion der Einzelnen spielt, wiederum zu Friktionen jener Identitätskonstruktion führen. Obwohl Selbermachen also gegenwärtig stark individuell erzählt wird, ist doch unverkennbar, in welch vielfältigen sozialen und kulturellen Bezügen dieses Tun stets eingeschrieben ist. Eine Kulturanalyse wird darum gut daran tun, weiterhin genau hinzuschauen. Und sie wird mit ihren kulturwissenschaftlich-ethnographischen Resultaten letztlich wohl kaum zum Euphorie- und Utopieüberschuss des gegenwärtigen Redens über die weltverändernde Kraft des neuen Selbermachens beitragen können.

DIY-­Möbel   Designstrategien  zwischen  alternativen  Lebensstilen  und   1

Warenästhetik   S EBASTIAN H ACKENSCHMIDT

A BSTRACT :   DIY-­F URNITURE :   D ESIGN   S TRATEGIES   BETWEEN  ALTERNATIVE   L IFESTYLES  AND   C OMMODITY   A ESTHETICS   In recent years Do it yourself (DIY) has become a mass phenomenon in post-industrial societies: an ever-increasing enthusiasm for the creative possibilities and sensual aspects of making something with your own hands has not only led to a return to handcraft, it also has a strong influence on contemporary design through the fusion of production and consumption in the so-called ›prosumer culture‹, which seems to have an effect on nearly all spheres of cultural production. This essay explores the widespread DIY movement with a unique focus on the field of furniture: when handcraft activities attain an almost programmatic meaning in a generation that already grew up with the computer as the most important tool,

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Dieser Beitrag basiert zu einem Teil auf den im Rahmen der Ausstellung »Nomadic Furniture 3.0 – Neues befreites Wohnen?« (MAK, Wien, 12.6.–6.10.2013) gemeinsam mit Martina Fineder und Thomas Geisler entwickelten Überlegungen zur DIY-Kultur. Vgl. auch Fineder, Martina/Geisler, Thomas/Hackenschmidt, Sebastian: Nomadic Furniture 3.0 – Neues befreites Wohnen? (= MAK Studies, Bd. 23). Zürich 2017. Für Anregungen und Hinweise danke ich überdies Meret Ernst, Renate Menzim, Franziska Mühlbacher, Angeli Sachs und Nava Sutter.

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then self-made furniture cannot only be regarded as the result of pragmatic considerations but as an expression of historically evolving concepts of life and work as well as of the continuous advancement of practices and production methods. Contemporary DIY strategies become much easier to understand by looking back at the historical development of self-made furniture – from the attempts of classical modernism to free itself from historical restraints to the hobby room culture of the post-war era, from the alternative countercultures of the 1960s and ’70s up to today’s contemporary trends. And while the challenge of surviving on the market has led many contemporary designers today to the development of a range of new internet strategies and sales systems, a diverse range of furnishing companies are increasingly basing their sales concepts on building sets that can be put together with little previous knowledge – supporting the sale of standardized massproduced goods shrouded by the flimsy illusion of individual creativity. As will be illustrated here, the realm of DIY design is a complex field, also in the digital era, which resides between the two poles of mainstream and alternative cultures and is by no means limited to arriving at practical and appealing furniture at a low cost.

D O  IT  YOURSELF :   E IN   B REITENPHÄNOMEN   Bereits seit einigen Jahren ist Do it yourself (DIY) ein Breitenphänomen der postindustriellen Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Die nach wie vor wachsende Begeisterung für die kreativen Möglichkeiten und sinnlich erfahrbaren Aspekte des Selbermachens hat nicht nur zu einer Wiederentdeckung handwerklicher Arbeit geführt, sondern prägt auch das gegenwärtige Designgeschehen immer stärker durch die Fusion von Produktion und Konsum in der sogenannten Prosumer-Kultur: Kaum ein Bereich des alltäglichen Lebens und der materiellen Kultur, der nicht auf irgendeine Weise von der »Mitmach-Revolution«2 der letzten Jahre erfasst oder berührt worden wäre. Und kaum ein dringliches Thema im weiten Feld des Designs, das sich nicht auch anhand der DIY-Bewegung ansprechen ließe: von der prekären Rolle handwerklicher Traditionen und der zentralen Frage der Nachhaltigkeit über die Arbeits- und Produktionsbedingungen im Zeichen der Globalisierung und der notwendigen Ausbildung neuer sozialer Systeme bis zu den veränderten Prämissen von ›Gestaltung‹ angesichts eines zukünftigen ›Digi-

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Gold, Helmut u. a. (Hg.): Do It Yourself: Die Mitmach-Revolution (= Kataloge der Museumsstiftung Post und Telekommunikation 29). Mainz 2011.

DIY-­M ÖBEL   |   271  

talen Zeitalters‹. Zugleich ist die rezente DIY-Kultur aber auch eine äußerst widersprüchliche Modeerscheinung: Während einerseits die Befreiung von Konsumzwängen, Geschmacksdogmen und Gestaltungsnormen in Aussicht gestellt wird, werden andererseits neue Technologien (etwa computergesteuerte 3D-Drucker), Produktionsweisen (wie die sogenannten FabLabs) und Vertriebsstrategien (häufig als Download im Internet) auf ihre Marktkompatibilität erprobt und optimiert. Denn gerade angesichts der vielbeschworenen ökonomischen Krise entstehen die selbst hergestellten Produkte keineswegs nur für den Eigenbedarf, sondern auch als Auftragsarbeit oder innovatives Geschäftsmodell. Im Rahmen dieser Eigenbau-Modewelle haben viele Designer Strategien entwickelt, um sich mit ihren DIY-Ansätzen und -Entwürfen in der Designszene zu positionieren. Welchen Anteil die Abnehmer jeweils an der Umsetzung des Designs haben, ist dabei sehr unterschiedlich: Im Bereich der Möbel reichen die Beispiele von vorproduzierten Bausätzen, die nach dem Vertriebsmodell von IKEA zuhause nur noch zusammengebaut werden müssen, über Möbelsysteme, die sich nach eigenen Vorstellungen aus vorgefertigten Modulen oder mittels spezieller Verbindungselemente kombinieren lassen, bis zu Möbelstücken, deren Ausführung gänzlich den Konsumentinnen und Konsumenten überlassen bleibt und deren Baupläne aus dem Internet heruntergeladen werden können. Vor allem jüngeren Designerinnen und Designern ist es häufig ein besonderes Anliegen, die Verbraucher in den Produktionsprozess einzubinden, um gute und praktische Gebrauchsgegenstände kostengünstig anbieten zu können. So versucht etwa der junge Schweizer Entwerfer Nicola Stäubli mit seiner 2007 entstandenen, im Internet frei zugänglichen »foldschool« – einer Serie von Kindermöbeln aus Wellkarton zum Selbermachen – die aufwendigen Produktionsverfahren der Möbelindustrie und Vertriebswege des Zwischenhandels zu umgehen, um »über einen intelligenten Produktionsprozess und einen angemessenen Umgang mit Materialien ein ästhetisch überzeugendes, zweckmässiges Produkt zu einem erschwinglichen Preis zu kreieren«.3 Stäubli versteht sein Projekt als »Gegentrend zu einer Gesellschaft, die sich durch ihre Konsumneigung auszeichnet«; statt einfach ein fertiges Möbel zu erwerben soll der Verbraucher durch die eigene handwerkliche Umsetzung des 4 Entwurfs eine »persönliche Beziehung« mit dem Produkt eingehen. Und auch das aus internationalen Designerinnen und Designern gebildete und in Mailand beheimatete Kollektiv Recession Design vertreibt Möbel und Gegenstände zum Selbstbau, die auf humorvolle und subversive Weise gesellschaftliche Relevanz

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Stäubli, Nicola Enrico: foldschool cardboard furniture. Presseinformation, http://www. foldschool.com/pdf/press_d.pdf (Zugriff: August 2015).

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Ebd.

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beanspruchen: Im Kontrast zu den glatt und perfekt erscheinenden Oberflächen einer vollkommen durchdesignten Warenwelt sollen ihre DIY-Entwürfe mit einfachsten Mitteln und Materialien deutlich machen, dass Design Impulse für ein gesellschaftliches Umdenken geben kann, wenn es kritisch und intelligent operiert: »Idee contro la crisi«.5

A NLEITUNG  ZUR   S ELBSTSTÄNDIGKEIT :   A CCESS  TO  TOOLS   Die ebenso praktischen wie kostensparenden, konsumkritischen wie erzieherischunterhaltsamen Ansätze der DIY-Bewegung sind allerdings nicht neu und lassen sich historisch weit zurückverfolgen. Bereits im späten 19. Jahrhundert hatten Zeitschriften wie »Der Dilettant« kunsthandwerkliche Anleitungen für Laien – etwa für Laubsäge-, Schnitz- oder Einlegearbeiten – veröffentlicht.6 Der Slogan »Do it yourself« geht dagegen auf einen 1912 erschienenen Artikel der USamerikanischen Zeitschrift »Suburban Life« zurück, in dem die Leser aufgefordert wurden, ihre Wände selbst zu streichen.7 Etwa zeitgleich – seit 1911 – erschienen in Leipzig die ersten praktischen Ratgeber der Schriftenreihe »Wie baue ich mir selbst …?«, die in der Zwischenkriegszeit auch konkrete Anweisungen für das Selbermachen von Möbeln umfassten – sowie für den Bau einer Bandsäge, mit deren Hilfe sich diese produzieren ließen.8 Auch diese Bücher waren bereits als praktische Handbücher für Laien, nicht für ausgebildete Handwerker gedacht. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg beförderte die Mangelwirtschaft Praktiken

5

Vgl. Recession Design: Design fai da te. Idee contro la crisi. Mailand 2001; dies.: Design fai da te. 2.0. Nuove idee contro la crisi. Mailand 2013, jeweils mit einem Vorwort von Enzo Mari.

6

Vgl. Anleitungen zu Laubsäge-, Schnitz- und Einlegearbeiten. Entnommen aus der Zeitschrift »Der Dilettant«. Mit vielen Holzschnitten und fünf Musterbeispielen. München 1877. In England richtete man sich um die Jahrhundertwende in entsprechender Weise an Amateure; vgl. Arkwright, John P.: Cabinet-making for amateurs – a practical handbook on the making of various articles of furniture. London 1914.

7

Vgl. Hornung, Annabelle/Nowak, Tine/Kuni, Verena: »Do It Yourself: die MitmachRevolution«. Eine Einführung. In: Gold u. a.: Do It Yourself 2011, S. 8–9, S. 8.

8

Vgl. Buer Meyer, Peter: Bandsäge und mit ihrer Hilfe einfache Haushaltsgegenstände und Möbel, I. Teil: Bau der Bandsäge. Ein Beitrag zur Förderung der Handfertigkeit in der Familie (= Wie baue ich mir selbst? 250). Leipzig o. J. [um 1930]; Göpferich, Willy: Einfache Haushaltsgegenstände und Möbel, II. Teil von Band 250: Bandsäge (= Wie baue ich mir selbst? 251/252). Leipzig o. J. [um 1930].

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des Selbermachens und führte zu einem sprunghaften Anstieg von Handbüchern mit Bauanleitungen für alle möglichen Gebrauchsgegenstände des Alltags und der Freizeitgestaltung – ebenso von Heimwerker- und Hobby-Zeitschriften mit Titeln wie »Popular Handicrafts«, »Handyman« oder »Do-it-Yourself«. Im deutschen Sprachraum waren es Frauen- und Mode-Magazine wie »Schöner Wohnen«, »Brigitte«, »Der neue Schnitt«, »Praktische Mode« oder »Annabelle«, die die Kultur des Selbstgemachten mit Anweisungen für handwerkliche Tätigkeiten, Schnittmustern für Kleider und Kreativ-Vorschlägen für die Wohnung popularisierten. Im Vordergrund standen hierbei vornehmlich pragmatische und ökonomische Erwägungen: So wurden die Leser eines Sonderhefts der Zürcher »Wochen Blätter« zum Thema Wohnen 1956 unter der Überschrift »Do it yourself – mach es selbst!« dazu aufgefordert, sich als Automechaniker, Maler, Schreiner, Schlosser oder Elektriker zu betätigen, weil die Löhne der Handwerker fast nicht mehr zu bezahlen seien. Zugleich wurden »herrliche« Konsumgüter wie »Waschmaschinen, Geschirrspülapparate, Trockner und dergleichen« als unstrittige »Lebensnotwendigkeiten« gefeiert.9 Erst Ende der 1960er Jahre wurde der Gedanke der autonomen Produktion durch die Verbraucher der Sub- und Gegenkulturen mit einem antikapitalistischen und konsumskeptischen Impuls versehen: Unter dem Motto »Access to tools« versammelte und verbreitete allen voran der US-amerikanische »Whole Earth Catalog« seit 1968 das Know-how für eine dezentral organisierte, alternative und umweltbewusste Produktkultur: Publikationen wie diese waren als Nachschlagewerke für ein selbstständiges Leben intendiert und propagierten einen ›aufgeklärten‹ Konsum, der eine möglichst große Unabhängigkeit vom Warenmarkt zu erzielen suchte.10 Der Gedanke, nicht permanent neue Dinge kaufen zu müssen und sich nicht fortwährend als Konsument definiert zu sehen, hat seinen Reiz bis heute nicht verloren und entsprechende Plattformen im Internet hervorgebracht. Angesichts der globalisierten Absatzmärkte des Kapitalismus klingen die eindringlich und durchaus plausibel formulierten Aufrufe, Gebrauchsgegenstände und Geräte, wenn schon nicht als DIY-Entwurf, so doch als von den Nutzerinnen und Nutzern

9

M., Alexandra: »Do it yourself – mach es selbst!« sagt Amerika. In: Wochen Blätter, Sonderheft Wohnen (1957), H. 7.

10 Zu den »Whole Earth Katalogen« und anderen amerikanischen Publikationen der Gegenkulturen als »Werkzeugen« einer alternativen Lebensführung vgl. Turner, Fred: From counterculture to cyberculture. Steward Brand, the Whole Earth network, and the rise of utopianism. Chicago/London 2006; Binkley, Stuart: Getting loose. Lifestyle consumption in the 1970s. Durham/London 2007; Diederichsen, Dietrich/Franke, Anselm (Hg.): The Whole Earth. California and the disappearance of the outside. Berlin 2013.

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nachvollziehbares – und somit immerhin reparierbares – ›Design‹ zu gestalten, allerdings mehr denn je utopisch: »A new culture will have to install itself, where we should all start to examine how we could use what already exists to better ends, before designing, producing or acquiring anything new. And design will be interactive, to facilitate repair. If something is broken, we shouldn’t end it but mend it. […] Users should be offered the opportunity to get involved from the beginning of the design process where a Do-it-Yourself or Fai-Da-Te approach will be central. At best, Design will be self-explanatory.«11

Buchcover des »The Last Whole Earth Catalogue«, 1971

Reproduktion: MAK, Georg Mayer.

11 Borka, Max: Form follows foco. 100 Snapshots of guerilla survival props (= Mapping the Design World – Cahier 2). Wien 2013, S. 43.

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D ESIGN  FÜR  DEN  ALTERNATIVEN   L EBENSSTIL   Die historischen Publikationen, in denen Bauanleitungen zum Selbermachen sowie das Know-how für ein selbstbestimmtes und selbsttätiges Leben veröffentlicht wurden – es sei hier nur an die Bücher von Victor Papanek und James Hennessey, Ken Isaacs und Enzo Mari aus den 1970er Jahren erinnert 12 –, sind nicht nur deshalb heute von großem Wert, weil sie viel über die Lebensstile bestimmter Milieus vermitteln, sondern vor allem, weil sich die selbstgemachten Dinge nur in wenigen Fällen bis in die Gegenwart überhaupt erhalten haben: Auch wenn Gebrauchsgegenstände der Marke Eigenbau einen Hauch von Subversion verströmten und einen entsprechenden Distinktionsgewinn erzielen konnten, wurden sie – meist von jüngeren Leuten, die sich noch nicht ›fürs Leben‹ einrichten wollten – als kostengünstige Zwischenlösungen angesehen und entsorgt, sobald sich diese ›solidere‹, professioneller ausgeführte und repräsentativer gestaltete Dinge leisten konnten. Dennoch hat sich das Selberbauen von Möbeln kaum je darin erschöpft, kostengünstig zu brauchbaren und zeitgemäßen Möbeln zu kommen. Vielmehr ging es immer auch um die Suche nach Alternativen zu den jeweils vorherrschenden Angeboten und Möglichkeiten: Heute ist es nicht zuletzt das starke Interesse an einer neuen, sozial und ökologisch nachhaltigen Konsumkultur, die sowohl im privaten Wohnbereich als auch im öffentlichen Diskurs verhandelt wird. Dabei gibt die DIY-Kultur Individualisierungsbestrebungen und Flexibilitätsbedürfnissen ebenso Raum wie der neu entdeckten Lust an handwerklichen Tätigkeiten einer Generation, die bereits mit dem Computer als wichtigstem ›Werkzeug‹ aufgewachsen ist und unter der Bezeichnung ›Digital Natives‹ firmiert. Selbstbaumöbel sind somit nicht nur das Ergebnis pragmatischer Produktionsprozesse und Materialbedingungen, sondern zugleich Ausdruck individueller beziehungsweise zeitgeistiger Wohn-, Lebens- und Arbeitsvorstellungen. Konstruktionspläne und Bauanleitungen bilden dabei nach wie vor die wichtigste Schnittstelle zwischen den professionellen Designern, die die Möbel entwerfen, und den laienhaften Konsumenten, die die Möbel selbst bauen. An dieser Stelle sei auch daran erinnert, dass es sich bei den auf Plänen und Anleitungen basierenden DIY-Projekten ohne Frage um Design handelt: Im Sinne der klassischen Vorstellung von ›Disegno‹ oder ›Dessin‹ verleiht der skizzierte

12 Vgl. Hennessey, James/Papanek, Victor: Nomadic furniture. How to build and where to buy lightweight furniture that folds, collapses, stacks, knocks-down, inflates or can be thrown away and recycled. New York 1973 (Band II 1974); Isaacs, Ken: How to build your own living structures. New York 1974; Mari, Enzo: Proposta per un’ autoprogettazione. Bologna 1974.

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geistige Entwurf der Idee ihren vorläufigen Ausdruck13 – und in der Plan- oder Entwurfszeichnung hat sich die Idee bereits soweit konkretisiert, dass sie nicht nur geistig nachvollzogen, sondern auch umgesetzt werden kann. Bei den Anleitungen für das DIY kann insofern ein – mehr oder weniger – professionelles Design vorausgesetzt werden, da es sich zumeist weder um ein freies ›Design it yourself‹ handelt, dessen Ergebnis auf eine laienhafte Entwurfslösung hinausläuft, noch um ein spontanes Ad-hoc-Verfahren, bei dem Dinge ohne vorherigen Entwurf improvisiert werden.14 So müssen sich Konstruktionszeichnungen und Bauanweisungen nicht zuletzt daran messen lassen, wie anschaulich und instruktiv sie sind.

M IT  DEM   B AUPLAN  IN  DEN   B AUMARKT     Die Ausrichtung und Ästhetik der Anleitungen und Pläne – der ausgearbeiteten Dessins sozusagen – haben sich im Laufe der Zeit freilich deutlich verändert: Hatten sich die Planzeichnungen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs noch überwiegend an professionell ausgebildete Tischler gerichtet,15 so konnten Rietvelds von der Ästhetik und Machart schlichter Holzkisten inspirierte »Kratmeubelen« Mitte der 1930er Jahre ganz selbstverständlich von Dilettanten und Laien hergestellt werden: Jedoch entsprachen die auf das Einfachste reduzierten Entwürfe des holländischen Architekten und Designers nicht unbedingt dem Publikumsgeschmack – weshalb wohl seine verschiedene Möbelentwürfe zum Selbstbau umfassende Broschüre in dieser Zeit nicht veröffentlicht wurde.16 In größerem Umfang ent-

13 Vgl. Kemp, Wolfgang: Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 19 (1974), S. 219–240, S. 234. 14 Vgl. dazu Jencks, Charles/Silver, Nathan: Adhocism. The case for improvisation. New York 1973. 15 So veranstaltete das k. k. Österreichische Museum für Kunst und Industrie während des Ersten Weltkriegs einen Wettbewerb für »Einfachen Hausrat«, der auf brauchbare und preisgünstige Möbeltypen aus massivem Holz ohne Verzierungen für die kriegsbetroffene Bevölkerung fokussierte. Die in diesem Zusammenhang als Vorlagen-Mappe publizierten Möbelentwürfe richten sich jedoch an ausgebildete Tischler, nicht an Laien. Vgl. Einfacher Hausrat. Ausstellungskatalog Österreichisches Museum für Kunst und Industrie. Wien 1916. 16 Rietvelds Broschüre »Meubels om zelf te maken« entstand 1943/44 und wurde vermutlich nie gedruckt: Die Entwürfe für das Titelbild sowie acht Seiten befinden sich im Rietveld Schröder Archiv des Centraal Museums in Utrecht, das Het Nieuwe Instituut

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standen Bauanleitungen in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden und Aufmachungen, die von akkurat gezeichneten Plänen mit peniblen Begleittexten bis zu skizzenhaften Handzeichnungen mit legeren Kommentaren reichen konnten, dann auch erst in den Jahren des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg. Heute werden Pläne und Anleitungen vermehrt als digitale Files im Internet gratis oder zum kostenpflichtigen Download zur Verfügung gestellt – und immer häufiger handelt es sich dabei nicht mehr um Baupläne, sondern um adaptierbare Dateien für CNC-Fräsen17 und 3D-Drucker. »Kratstoel«, Gerrit Thomas Rietveld, 1934

Foto: Centraal Museum Utrecht/Ernst Moritz & VG Bildkunst.

in Rotterdam besitzt die anderen sechs Originalzeichnungen. Ich danke Ida van Zijl für diese Informationen. 17 CNC steht für computerised numerical control.

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»Stool around the World«, Yves Ebnöther, 2015

Foto: Yves Ebnöther.

Das Projekt »Stool around the World« führte den Designer Yves Ebnöther jüngst etwa zur Programmierung eines Online-Konfigurators, mit dessen Hilfe sich sein Hocker-Entwurf auf die Größe und Stärke jeweils vorhandener Sperrholzplatten umrechnen lässt.18 Ob Möbel aus CNC-gefrästen Holzplatten zusammengesteckt oder Haushaltsobjekte aus vorhandenen Gegenständen zusammengefügt werden – das Material und die Ästhetik der Selbstbaumöbel sind stark geprägt von den industriell hergestellten und im Baumarkt käuflich zu erwerbenden Halbfabrikaten. Allen voran sind hier die Holzwerkstoffe zu nennen, die das DIY-Phänomen bisweilen als angewandten »Brettlstil«19 erscheinen lassen: Schlichte Holzbretter und -latten so-

18 Vgl. Ebnöther, Yves: Einen Hocker herunter laden. In: Hochparterre. Zeitschrift für Architektur, Planung und Design (2014), H. 6/7, S. 38–41. 19 Vgl. Hackenschmidt, Sebastian: Von der Herrschaft des Tapezierers zur Plastifizierung der Welt. Sitzmöbel und Materialexperimente in der Klassischen Moderne. In: Möbel

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wie Span- und Sperrholzplatten, die mit Kreuzschlitzschrauben einfach zu montieren und damit die wohl beliebtesten Materialien für selbstgebaute Möbel sind. Doch selbstverständlich gibt es noch andere preisgünstige Halbfertigprodukte, die in der DIY-Community und bei Heimwerkern beliebt sind, etwa verschiedene Metall- und PVC-Rohre, Glasplatten, Pappkartons, Filzmatten und Schaumstoffdämmungen. Neben den Halbfabrikaten aus dem Baumarkt sind es vor allem ausrangierte oder wiederverwertbare Konsumgüter und Fertigprodukte, von denen die Materialästhetik der DIY-Objekte geprägt ist: Plastikeimer und -flaschen, Europaletten, Bananenkisten und Eierkartons, Besenstiele – und bisweilen auch abgelegte Kleider, Skier oder ausgelesene Zeitschriften.

K ONZEPTUELLE   S TRATEGIEN   Außergewöhnlich – und eher als ›konzeptkünstlerische‹ Design-Strategie zu betrachten – ist dagegen der Ansatz des Designers Jerszy Seymour, der auf einem leistungsfähigen Kunststoff (CAPA 6400) basiert, der sich bei vergleichsweise niedrigen Temperaturen verarbeiten lässt und als alles verbindender Klebstoff ebenso eingesetzt werden kann wie als modellierbare Masse, die sich für stabile und wasserdichte Oberflächen eignet. Für Seymour bietet dieses Material die Möglichkeit, das Leben grundlegend neu zu möblieren: Er spricht in diesem Zusammenhang von einem »Nullpunkt des Designs«,20 von dem aus sich die Dinge erst wieder entwickeln und entfalten müssen. Dabei geht es ihm vor allem darum, gestalterische Dogmen zu hinterfragen und auf Basis der zeitgenössischen Produktionsmittel noch einmal ganz von vorne zu beginnen: Was, wenn wir trotz aller technischer Errungenschaften des 21. Jahrhunderts die gültigen Formen und Funktionen für die Gebrauchsgegenstände unseres Alltagslebens erst selbst entwickeln und erfinden müssten? Seymours utopische DIY-Designstrategie verlangt dabei weder eine besondere formale oder stilistische Meisterschaft, noch stellt sie den Anspruch, eine bessere Anpassung der Objekte an Funktion und Gebrauch zu erzielen. Mit seinem bewusst ›primitiven‹ Ansatz hat sich der Designer Seymour selbst fast völlig aus dem eigentlichen Gestaltungsprozess herausgenommen und stellt nur mehr die notwendigen Mittel zur Verfügung, mit denen Besucher von Ausstellungen oder Workshops ad hoc experimentieren können – ein Rahmen, der

Design. Roentgen, Thonet und die Moderne. Ausstellungskatalog Roentgen Museum. Neuwied 2011, S. 101–119. 20 Vgl. Hackenschmidt, Sebastian/Rübel, Dietmar: Formlose Möbel (= MAK Studies 13). Ostfildern 2008, S. 110–112.

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zugleich mehr Raum für Spiel und Spontaneität ermöglicht, als bei DIYKonzepten üblich. Ebenfalls eher als künstlerische Strategie ist das Bugholz-Projekt der österreichischen Designergruppe breadedEscalope zu betrachten, das auf einer historischen Produktionsweise des Maschinenzeitalter basiert: Ausgangspunkt des Projekts ist die »Love Me Bender Box«, eine kompakte und bewegliche kleine Werkstatt, die alle Utensilien und Werkzeuge birgt, die zur Konstruktion von Bugholzmöbeln benötigt werden. Das auf Michael Thonet zurückgehende Bugholz-Verfahren – wohl die bedeutendste technische Innovation des 19. Jahrhunderts im Bereich des Möbeldesigns – ermöglicht es, das Werkholz, zumeist Buchenholzstäbe, durch Kochen in Wasserdampf zu biegen und zu Möbeln, insbesondere zu Stühlen, zu verarbeiten. Dieses seit über 150 Jahren tradierte Verfahren der Möbelindustrie wird seit 2011 von breadedEscalope im Rahmen von Performances mit gebräuchlichen Haushaltsgegenständen nachgestellt und auf eine minimale Ausrüstung reduziert. Mit einfachen Kochplatten und Teekesseln wird Wasserdampf produziert und durch Plastikschläuche in Ofenrohre geleitet, in denen die Buchenholzlatten weichgekocht werden. Nach dem Kochvorgang kann das zu verarbeitende Holz dann von Hand gebogen werden – ein Prozess, der es ohne großen Aufwand erlaubt, schnell und kostengünstig komplexe Bugholz-Konstruktionen anzufertigen oder Reparaturmaßnahmen an beschädigten Möbeln durchzuführen. Nicht zuletzt sind die häufig unter Mitwirkung des Publikums stattfindenden Auftritte der Gruppe äußerst anschaulich und regen zur Nachahmung an – und auch die »Love Me Bender Box« könnte als nachvollziehbarer Fabrikationsapparat zum Eigenbau von Bugholzmöbeln mit dem Design-Kurator und Publizisten Max Borka als ›selbst-erklärendes‹ Design eingestuft werden.21 Als Design-Verfahren setzen diese konzeptuellen Ansätze dabei verstärkt auf das Provisorische, Gebastelte und Amateurhafte im Unterschied zur technologischen Rationalität der Ingenieure, wie es Claude Lévi-Strauss in seinem Buch über »Das wilde Denken« (1962) dargestellt hat. Der französische Ethnologe hatte der fachmännischen und spezialisierten Arbeitsweise des Ingenieurs, der jeden Arbeitsschritt bis ins Detail plant und über die neuesten technologischen Möglichkeiten verfügt, die Verfahrensweise des Bastlers gegenübergestellt, als ein beständiges Experimentieren und Improvisieren mit den unterschiedlichsten Werkzeugen und begrenzten Materialien, die gerade zur Hand sind: »Heutzutage ist der Bastler jener Mensch, der mit seinen Händen werkelt und dabei Mittel verwendet, die im Vergleich zu denen des Fachmanns abwegig sind.«22

21 Vgl. Borka: Form 2013. 22 Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken. Frankfurt a. M. 1973 (Orig. 1962), S. 29.

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»Love Me Bender Box«, breadedEscalope, 2012

Foto: MAK/breadedEscalope.

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P RODUKTIONSWEISEN  UND   G ESCHÄFTSMODELLE   Werden Einrichtungsgegenstände jedoch nicht improvisiert und planlos zusammengebastelt, sondern nach Anleitung oder Planzeichnung gebaut, so entscheiden wohl nicht allein der Gebrauchswert und die Ästhetik, die mit dem ausgeführten Möbel in den Wohnräumen erzielt werden sollen, sondern auch das persönliche Know-how und die verfügbaren Produktionsmittel über die Auswahl des Objekts. Da grundlegende handwerkliche Fertigkeiten heute bei einem Laienpublikum aber ebenso wenig vorausgesetzt werden können wie adäquate Werkzeuge und Maschinen, gehört es zu den zentralen Anliegen der DIY-Kultur, den Möbelselbstbau zu erleichtern und die technischen Abläufe immer effizienter zu gestalten. Die Community der Maker,23 die DIY mit aktuellen technischen Mitteln betreibt, hat dafür zahlreiche Ideen und Gerätschaften entwickelt, die von einfachen Montagevorrichtungen über selbstgebaute 3D-Drucker bis zur Software für die Möbelproduktion in FabLabs reichen. Dabei verändert die zunehmende Vermischung der verschiedenen Produktionsweisen nicht nur die Erscheinungsform der Möbel, sondern fördert auch die Verbreitung von lokalen Klein- und Kleinstfabrikationsstätten, in denen sie hergestellt werden können. Begünstigt durch die neuen Technologien für Kommunikation und Datentransfer entstehen immer mehr dieser sogenannte Microfactories oder FabLabs, die oft nur über wenige Maschinen verfügen, aber von vielen verschiedenen Produzentinnen und Produzenten zur Herstellung von Kleinserien oder Modellen genutzt werden können. Die hohe Flexibilität, der geringe Transport- und Lageraufwand sowie die Entwicklung von Arbeitsplätzen in den FabLabs machen sich auch in weniger industriell entwickelten Regionen vorteilhaft bemerkbar. Zugleich wirken sich diese Veränderungen auch auf das Design selbst aus: Da der Produktionsstil »nicht nur den Lebensstil, sondern auch den Stil der Produkte prägt«, definiert sich – so der Designer Jochen Gros – das gegenwärtige DIY-Design immer mehr als Industrie-Design: »Seit es die CNC-Fräse, den 3D-Drucker und Laser Cutter auch für ›Heimwerker‹ gibt, eröffnen sich der Eigenarbeit grundlegend neue Perspektiven – technische, ökonomische, soziale und gestalterische. Über das bisherige Do-It-Yourself (DIY) hinaus entwickelt sich nun ein digitales und damit wesentlich erweitertes Make-It-Yourself (MIY).«24

23 Vgl. Anderson, Chris: Makers. Das Internet der Dinge: die nächste industrielle Revolution. München 2013 (Orig. 2012); vgl. http://makezine.com/ (Zugriff: August 2015). 24 Gros, Jochen: MIY: Make-It-Yourself (2014), http://www.jochen-gros.de/Jochen_ Gros/Info_Links_files/MIY%20Make-It-Yourself%200,6MB.pdf (Zugriff: Juni 2015).

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Mit seinen Projekten am C-Lab der Hochschule für Gestaltung Offenbach hat Gros bereits darauf hingewiesen, dass alternative Produktionskonzepte von entsprechenden marktwirtschaftlichen Vertriebskonzepten begleitet sein müssen, um überlebensfähig zu sein.25 Die Frage nach der ökonomischen Realität stellt sich Produzentinnen und Produzenten, Gestalterinnen und Gestaltern und Konsumentinnen und Konsumenten permanent – und hat in den letzten Jahren bereits verschiedene neue Ansätze hervorgebracht. Die niederländische Firma droog design etwa hat auf der Mailänder Möbelmesse 2011 CNC-geschnittene Möbel und 3Dgedrucktes Zubehör der Designergruppe Minale-Maeda vorgestellt; die entsprechenden Druckdaten können gegen Bezahlung von der Webseite des Unternehmens heruntergeladen werden.26 Auch die dänisch-britische Designergruppe Studiomama verdient ihr Geld durch kostenpflichtige Download-Angebote – etwa einer aktualisierten Version des »Crate Chair« von Gerrit Rietveld27 –, stellt zugleich aber einige Projekte, etwa eine Outdoor-Küche, gratis zum Download bereit. Und wie viele andere Designer ist auch der in Berlin lebende Van Bo LeMentzel inzwischen dazu übergegangen, seine Projekte mittels Crowdfunding zu finanzieren.28 Mit seinem Projekt »Hartz IV Moebel.com« hat Le-Mentzel auf das derzeitige Krisenbewusstsein reagiert und auf eine als dringend notwendig erachtete, soziale und ökonomische Neuorientierung im Bereich des Designs aufmerksam gemacht: Den Begriff »Hartz IV«, der die sogenannte Grundsicherung für Arbeitsuchende bezeichnet, nutzt er als Schlagwort in wirtschaftlich und sozial schwierigen Zeiten, um für Sparsamkeit und Einfachheit zu plädieren. Den Kern des Projekts bilden aber der Austausch und die Kommunikation mit der neuen Generation von Prosumentinnen und Prosumenten. Auf seiner 2010 eingerichteten Online-Plattform hatte der Designer Bauanleitungen zunächst zum freien Download angeboten – kostenlos, aber im Tausch gegen eine Geschichte über den Bau der Möbel. Als Resultat dieser Kooperation mit seinen Unterstützerinnen und Unterstützern wurde ein gedrucktes Handbuch mit den populärsten Objekten publiziert: Dieses

25 Vgl. Gros, Jochen: NewArts-n-Crafts mit computergesteuerten Werkzeugen. Machbarkeitsstudie der Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Offenbach a. M. 2001; Steffen, Dagmar: CMöbel. Digitale Machart und gestalterische Eigenart. Mit einem Beitrag von Jochen Gros. Frankfurt a. M. 2003. 26 Vgl. http://studio.droog.com/studio/events/design-for-download/ (Zugriff: August 2015). 27 Vgl. http://www.studiomama.com/the-pallet-project (Zugriff: August 2015). 28 Vgl. http://hartzivmoebel.de/ (Zugriff: August 2015). Die folgenden Ausführungen über Van Bo Le-Mentzel verdanken sich Überlegungen von Martina Fineder.

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Buch wurde nicht nur durch Crowdfunding finanziert, sondern von Mitgliedern der Crowd, die ihre Geschichten und Fotos beigesteuert hatten, mitverfasst. Auch mit den Möbelentwürfen selbst – die von Designklassikern wie Rietvelds »Crate Chair« oder dem »Ulmer Hocker« inspiriert sind – spricht das Projekt weniger die heterogene Gruppe der Hartz-IV-Empfänger an als vielmehr eine junge, urbane, hippe und designaffine Zielgruppe, die von Le-Mentzel als »Amateure mit wenig Geld aber gutem Geschmack«29 charakterisiert werden. Indes ist es für Designerinnen und Designer keineswegs einfach, sich von der ›Logik des Marktes‹ und dem Konsumangebot der großen Möbelhäuser und Baumärkte zu befreien und individuelle Vertriebsstrategien zu entwickeln: Denn auch das gut funktionierende Modephänomen DIY scheint jede neue und vermeintlich alternative Idee sogleich den Marktgesetzen zu unterwerfen. Schon die DIYMagazine der 1950er Jahre waren aus dieser Perspektive vor allem MarketingInstrumente der Baumärkte, die in den letzten Jahren vermehrt dazu übergegangen sind, Selbstbauanleitungen von Designerinnen und Designern auf ihre Websites zu stellen, um ihre Produktpalette zu bewerben. Dagegen stützen diverse Einrichtungskonzerne ihre Verkaufskonzepte immer häufiger auf Bausätze, die ohne größere Vorkenntnisse selbst zusammengebaut werden können – und versehen so standardisierte Massenware mit der Anmutung individueller Kreativität. Und nicht zuletzt hat die Notwendigkeit, auf dem Markt zu bestehen, auch zu gänzlich neuen Angeboten und Vertriebssystemen im Internet geführt, die versprechen, die Wohnträume der Prosumentinnen und Prosumenten Wirklichkeit werden zu lassen.

V ON  DEN   A LTERNATIVKULTUREN  ZUR   W ARENÄSTHETIK   Im Zuge dieser Vermarktungsstrategien sind jüngst auch viele Ansätze aus den 1960ern und ’70ern wieder aktuell geworden – und bisweilen erweckt die gegenwärtige DIY-Bewegung sogar den Eindruck, ein Retro-Phänomen zu sein: In den diversen Design-Blogs und Internetforen findet einerseits ein geschichtsbewusster Austausch von Bastlerinnen und Bloggern, Designerinnen und Designvermittlern über technisch-praktische wie künstlerisch-kreative Aspekte des DIY statt, der oft zu Korrekturen oder Weiterentwicklungen von historischen Entwürfen führt – bis hin zu den freien Neu-Interpretationen im Sinne von Design it yourself. Die Re-

29 Vgl. Le-Mentzel, Van Bo (und the Crowd): Hartz IV Moebel.com – Build more buy less! Konstruieren statt konsumieren. Berlin 2012, S. 5.

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Interpretation beziehungsweise Weiterentwicklungen von Enzo Maris Selbstbaumöbeln im Rahmen der Londoner Ausstellung »Autoprogettazione Revisited« ist dafür sicher ein treffendes Beispiel: Zehn Künstler und Designer waren von der renommierten Architectural Association gebeten worden, mit eigenen Entwürfen auf die Pläne von Maris »Autoprogettazione«-Projekts der 1970er Jahre zu antworten und ihre Ergebnisse in den Räumen der Architekturschule vorzustellen.30 »Sedia 1« (Re-Edition der Firma Artek), Enzo Mari, 1974/2010

Foto: MAK, Nathan Murell.

30 http://www.newexhibitions.com/uploads/upload.000/id17134/press_release.pdf

(Zu-

griff: August 2015). Im Rahmen von Depot Basel setzten sich 2012 Sibylle Stoeckli und Christian Horisberger mit Maris Selbstbaumöbeln auseinander; vgl. http://depot basel.ch/2015/01/17/ (Zugriff: August 2015).

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Andererseits wird insbesondere die gesellschaftspolitische Einstellung der Gegenkultur um und nach 1968, die für eine autonome, von Konsumzwängen emanzipierte Lebensführung eintrat, heute vielfach in eine unverblümte Warenästhetik überführt. Als sich das Sitzen auf dem Boden Mitte der 1960er Jahre zum Ausdruck einer von den Konventionen konservativer Spießbürgerlichkeit befreiten ›Haltung‹ entwickelt hatte, kamen die bodennahen Designermöbel, die damals en vogue waren, für die Protagonisten der Gegenkultur weder aus finanziellen noch aus ideellen Gründen in Frage: Sie behalfen sich stattdessen – wie dies etwa Fotoaufnahmen aus dem Berliner Kommunenleben dokumentieren – mit umfunktionierten Matratzen. Heute wird diese Idee als Inbegriff ungezwungenen Sitzens von verschiedenen Möbelfirmen – etwa von dem dänischen Unternehmen Karup – als hochwertige und hochpreisige Luxus-Polstermöbel aufgegriffen und neu umgesetzt: Die spielerische Kreativität improvisierter Lösungen ist auf dem Markt längst als ›wohnfertige‹ Ware zu haben, in der sich jeglicher Rest von Ironie oder Provokation, aber auch von Unmittelbarkeit und Spontanität zugunsten eines konform-neoliberalen Hochglanzbroschüren-Schicks verflüchtigt hat. So ist es auch kein Wunder, dass so mancher Selbstbau- beziehungsweise SelbstzusammenbauEntwurf inzwischen als vermeintlicher ›Design-Klassiker‹ gehandelt wird – als perfekt ausgeführtes Produkt, ohne dass der Konsument selbst noch Hand anlegen müsste: Die ursprünglich für die Weiterverwendung von Holzpaletten entworfenen »Crate-Möbel« Gerrit Rietvelds aus den 1930er Jahren gehören ebenso dazu wie Ferdinand Kramers »Knock-down-Möbel« der 1950er, die gefalteten Pappmöbel von Peter Raacke aus den 1960er oder Enzo Maris »Autoprogettazione« aus den 1970er Jahren. Bei einem solchen – fast schon paradoxen – Warenangebot sind es dann wohl auch radikal unterschiedliche Intentionen und Motivationen, die aus den Abnehmern Konsumenten der kommerziellen Absatzmärkte oder Prosumenten einer alternativen Design-Herstellung werden lassen.

Do  it  …  with  Rubbish   Zum  Wechselverhältnis  von  Do  it  yourself  und  Abfall(-­diskurs)   S ONJA W INDMÜLLER

A BSTRACT :   D O  IT   ...  WITH   R UBBISH .     O N  THE   C ONVERTIBILITY  OF   D O  IT  YOURSELF     AND   W ASTE   (D ISCOURSE )     Do it yourself (in its varied forms) and rubbish (as a material and as a concept) are compatible with each other in many respects. My article contributes to the idea that it helps to understand the phonomenon of DIY by exploring its association with rubbish practices and discourse, particularly with the concept of recycling. Regarding DIY, rubbish is not only an appealing material resource in terms of sustainability and affordability, but also serves as a critical statement, as an easily accessible and effective element of social protest. For example, DIY strategies of anti-capitalist and anti-consumerist counter cultures (above all the punk movement since the 1970s) frequently draw on second-hand stuff as an essential component of their clothes and equipment. Moreover, DIY designers in their conceptualisation of Do it yourself relate to the principle of recycling or even upcycling as an integral part of their DIY policies. With that in mind, I discuss selected examples of Do it yourself that directly or implicitly refer to rubbish/recycling. Looking at them from a historical and theoretical standpoint, I try to focus on core aspects of Do it yourself, such as, for instance, the idea of inclusion and (re)integration, the production of value and questioning the value system alike, the conceptualisation of DIY aesthetics, the provocative power of DIY as a critical statement on widespread assumptions and societal certainties, its moral implications, the aspect of DIY practices as an integral part of cultures of remembrance (and DIY products as their carriers). And,

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last but not least, it sheds light on different forms of agency, of power and empowerment.

Am 23. Januar 2014 begann der Medienkünstler Hannes Waldschütz im nordwestdeutschen Oldenburg ein neues Projekt: Als Stipendiat des Edith-Russ-Hauses für Medienkunst und gefördert vom Land Niedersachsen sowie der Stadt Oldenburg mietete er ein leeres Ladengeschäft in der Fußgängerzone und eröffnete in diesem eine temporäre Werkstatt. Dorthin lud er die Bürgerinnen und Bürger Oldenburgs ein: Sie konnten ihre »kaputten Dinge« vorbeibringen, die dann kostenlos in »partizipativen Performances« repariert werden sollten.1 Auf einer eigens eingerichteten Homepage dokumentierte der Künstler den Verlauf der Aktion und präsentierte einige der in die Werkstatt gebrachten, vorwiegend elektrischen Objekte (u. a. Lampe, Toaster, Bügeleisen, Kopfhörer). Im Begleitprogramm der Waldschütz’schen Aktivitäten wurden zudem zwei Vorträge angeboten: Der Umweltökonom Niko Paech erläuterte unter dem Titel »Von der Reparatur-Revolution zur Postwachstumsökonomie« seine Ideen über Suffizienz, Nachhaltigkeit und die Logik der Reduzierung. Außerdem referierte der Künstler und OpenSource-Aktivist Daniel Wessolek zum Thema »›Über kurz oder lang‹ – zur Reparierbarkeit«.2 Insgesamt lief das Kunstprojekt von Hannes Waldschütz, das nach einem Monat endete, unter dem Titel »Ziviler Ungehorsam: Reparieren«.3 Das skizzierte Beispiel drängt sich als Einstieg in meine Überlegungen4 geradezu auf, weil es zentrale Aspekte und Dimensionen des gesellschaftlichen Phänomens Do it yourself (DIY) – als wirkmächtige diskursive Klammer disparater Praktiken –, dessen mediale Begleitung und kulturwissenschaftliche Bearbeitung in sich vereint. Zunächst zeigt es eine grundlegend ambivalente Verortung von

1

http://www.hanneswaldschuetz.de/index.php?article_id=50&clang=0 (Zugriff: 24.3. 2014).

2

Vgl. die Webseite des Projekts: www.ziviler-ungehorsam-reparieren.de sowie den Projektflyer (Zugriff: 24.3.2014).

3

Ebd.

4

Eine frühere Version dieses Beitrags habe ich im April 2014 bei dem Workshop »A Hands-on Approach. The Do-It-Yourself Culture and Economy in the 20th Century« am German Historical Institute Washington vorgestellt. Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, insbesondere dem Kommentator meines Papers, John Hoenig, wie auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Wiener Tagung und hier vor allem den Organisatorinnen und Herausgeberinnen dieses Bandes, Nikola Langreiter und Klara Löffler, für wertvolle Anregungen und Kritik.

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DIY-Praktiken, so etwa ihre Positionierung zwischen amateurhafter und professioneller Tätigkeit, zwischen Handwerk und Kunst. Waldschütz bezieht sich weiterhin explizit auf jüngere Programmatiken des DIY, die dieses als soziale Bewegung konzeptualisieren und entsprechend in gesellschaftspolitische Diskurse einbetten. Dabei wird zugleich eine für das Kulturphänomen DIY aktuell augenfällige Verknüpfung von Handlungs- und Diskursebene, von Praxis und – medialer wie wissenschaftlicher – Reflexion sichtbar. Und nicht zuletzt ruft das Oldenburger Projekt die in jüngerer Zeit verstärkt popularisierte Idee vom DIY als Gegenkonzept auf, als (mit einem Ausdruck der Wissenschaftsphilosophin Nicole Karafyllis) »emanzipatorisches Korrektiv«,5 und strapaziert damit auch ein landläufig behauptetes Potenzial des DIY als widerständige Form des Handelns mit Dingen; Waldschütz selbst spricht von einem »durchaus subversiven Moment«.6 Über diese Aspekte und Dimensionen hinaus führt das Projekt »Ziviler Ungehorsam: Reparieren« aber auch direkt zum thematischen Kern meines Beitrags, der sich mit den Wechselbeziehungen zwischen DIY (in seinen vielfältigen Erscheinungsformen) und Abfall beschäftigt. Beide sind in vielerlei Hinsicht miteinander verbunden und zwar auf materialer und handlungspraktischer ebenso wie auf diskursiver Ebene. Abfall scheint – als Material wie als Konzept – eine wesentliche ökonomische, ästhetische und sozialpolitische Ressource für DIYPraktiken und -Konzeptualisierungen darzustellen. Eine genauere Betrachtung der Bezugnahmen auf den Abfall-Diskurs und hier insbesondere auf das Konzept ›Recycling‹ kann – so meine These, die ich an ausgewählten Beispielen diskutieren möchte – zu einem besseren Verständnis des Phänomens DIY und seiner gesellschaftlichen Attraktivität beitragen. Ja, vielleicht mehr noch vermag diese Betrachtung Impulse auch für die kulturwissenschaftliche Theoriebildung des DIY zu geben. Meine Überlegungen entwickle ich aus der Perspektive der Abfallforscherin. Ihnen liegen keine eigenen empirischen Studien zu einem spezifischen Phänomen

5

Karafyllis, Nicole C.: Handwerk, Do-it-yourself-Bewegung und die Geistesgeschichte der Technik. Ein philosophischer Werkstattbericht. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 7 (2013), H. 2, S. 305–328, S. 318. Karafyllis bezieht den Begriff konkret auf das Handwerk. Dieses »fungiert […] in der Geistesgeschichte der Technik häufiger als emanzipatorisches Korrektiv zu anderen, dominanten Erzählungen über die Technik und die dazugehörigen Techniker.« Zudem seien »[d]as Handwerk und sein tätiger Laie […] in einem geistesgeschichtlichen Narrativ eine Gegenfigur zum professionellen Genie und Künstler«. Ebd., S. 319.

6

http://www.hanneswaldschuetz.de/index.php?article_id=50&clang=0 (Zugriff: 24.3. 2014).

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des DIY oder einer bestimmten Gruppe von DIY-Akteurinnen und -Akteuren zugrunde. Der verfolgte Ansatz ist vielmehr der einer Re-Lektüre vorliegender Forschungsarbeiten aus dem Themenfeld. Zudem werden Darstellungen von Aktiven selbst wie auch einschlägige Medienberichte herangezogen. Die exemplarischen Erscheinungsformen des DIY, mit denen ich argumentieren werde und denen gemeinsam ist, dass sie sich direkt oder indirekt auf Abfall beziehungsweise Recycling beziehen, stammen aus verschiedenen Richtungen des breiten – historischen wie gegenwärtigen – Spektrums des DIY. Diese sollen zur theoretischen wie praktischen Auseinandersetzung mit Abfall, mit den Diskursen und Praktiken der Beschäftigung mit dem modernen Müllproblem in Beziehung gesetzt werden.7 Dabei möchte ich mich insbesondere auf vier zentrale Aspekte des DIY konzentrieren: (1) die Idee der Nachhaltigkeit, (2) die Semantiken um »wiederverwertetes« Material, (3) den Aspekt sozialer Re-Valuierung und die Idee des Empowerment sowie (4) die ästhetische Dimension des DIY.

D IE   W ELT  REPARIEREN   –     R ECYCLING  UND   N ACHHALTIGKEIT   Mit Blick auf den in sich heterogenen, facettenreichen Diskurs zum DIY zeigt sich das Thema Nachhaltigkeit und mit ihm die Praktik des Reparierens als ein zentraler Aspekt, in dem das Abfall-Thema vor allem in seiner materialen Dimensionierung aufscheint. Ein eindrückliches Beispiel aus jüngerer Zeit ist hier das 2013 veröffentlichte, viel beachtete Buch des Münchner Physikprofessors und Generaldirektors des Deutschen Museums, Wolfgang Heckl, zur »Kultur der Reparatur«.8 Auf Basis zahlloser Beispiele, darunter immer wieder auch seiner eigenen Erfahrungen (Heckl ist erklärter DIY-Enthusiast und repariert seit seiner Kindheit verschiedenste Dinge, vor allem technische Haushaltsgeräte), entwickelt er eine Kosmologie des Reparierens: beginnend bei der Natur als erstem und größtem Reparateur,9 über Reparieren als eine zentrale Strategie in vorindustriellen Zeiten und in Notzeiten, bis hin zu gegenwärtigen DIY-Bewegungen. Dabei wird DIY als Ausdruck von und Generator für Selbstverwirklichung und Selbstbewusstsein, Autonomie und Verantwortlichkeit verstanden. Als Praxisform wird es mit einer holistischen Denkweise zusammengebunden, als unweigerliche Konsequenz aus

7

Vgl. Windmüller, Sonja: Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem. Münster u. a. 2004.

8

Heckl, Wolfgang: Die Kultur der Reparatur. München 2013.

9

Vgl. ebd., S. 21.

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der Begrenztheit von Ressourcen und deren anhaltender Ausbeutung in unserer Industriegesellschaft. Entsprechend enthält das Buch ein eigenes Kapitel über »Die Anatomie der Wegwerfgesellschaft«,10 in dem Heckl eine Konsum-Mentalität skizziert, die lange Zeit erfolgreich als Stabilisierungsfaktor des dominanten, am Wachstum orientierten ökonomischen Modells wirkte.11 In diesem Szenario vermag die Reparatur als alternativer Modus der Beschäftigung mit den Dingen und des Verhältnisses zu ihnen sowie als wichtiger Impulsgeber zu fungieren: für die Überwindung der Wegwerf- und Entsorgungsmentalität, hin zu einer verantwortlicheren, nachhaltigeren, global- und zukunftsorientierten Lebensweise, um so schließlich ein wirkmächtiges Gegenkonzept zum Müllproblem unserer Zeit zu etablieren, das als zentrales Problem moderner Gesellschaften weltweit ausgemacht wird.12 Dreißig Jahre vor Heckls Entwurf einer »Kultur der Reparatur« hat das Württembergische Landesmuseum in Stuttgart gemeinsam mit empirischen Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftlern der Universität Tübingen das Reparieren zum Thema der berühmt gewordenen, zunächst allerdings durchaus umstrittenen Sonderausstellung »Flick-Werk« gemacht, deren Katalog mittlerweile zu den Klassikern der Sachkulturforschung gehört.13 Statt der üblichen, restaurierten und dabei aller Gebrauchsspuren entledigten Objekte zeigte die Ausstellung Dinge, die hauptsächlich, aber nicht ausschließlich aus ländlichen, vorindustriellen Kontexten stammten und deutliche Reparaturspuren aufwiesen. Mit den Dingen stellte das Württembergische Landesmuseum zugleich das Reparieren aus –

10 Ebd., S. 41–73. 11 Heckl setzt das Reparieren explizit in Beziehung zu anderen DIY-Phänomenen wie Urban Gardening, Dumpster Diving, Urban Mining etc. 12 Vgl. Heckl: Kultur 2013, S. 180. Vgl. auch das berühmte »self-repair manifesto« von ifixit, hier insbesondere den ersten Punkt des Prinzipienkatalogs »truths to be self-evident«, in dem es heißt: »Repair is better than recycling.« www.ifixit.com/Manifesto (Zugriff: 24.3.2014). Gay Hawkins plädiert in ihrem Buch »The Ethics of Waste« für einen Perspektivenwechsel: »I want to shift the terms of judgment from whether recycling is good for the environment to how it is experienced as ›good‹ by recyclers. And in what ways is this goodness or ethical value transacted?« Hawkins, Gay: The ethics of waste. How we relate to rubbish. Lanham u. a. 2006, S. 111. 13 Die Ausstellung sorgte für Irritation sowohl beim Publikum, das beim Museumsbesuch »umfangreiche Sammlungen von hoher Qualität« (so die aktuelle Selbstdarstellung des Museums auf der Website: www.landesmusum-stuttgart.de; Zugriff: 16.3.2013) erwartete, als auch bei zeitgenössischen Museumsfachleuten.

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als eine verbreitete, quasi ›natürliche‹ Kulturtechnik, die unter den Verhältnissen der Massenproduktion in Vergessenheit geriet. Die Beiträge des Ausstellungskatalogs sprechen von der »Kultur des Reparierens« als einer – so Hermann Bausinger in seinen einleitenden Worten – »intensiven Kultur«, von einem »existentielle[n] Bezug« des Menschen zum »Flickwerk«.14 Im Anschluss an die Forschungen von Edit Fél und Tamás Hofer, die in den 1950er und 1960er Jahren das »Sachuniversum« des vorindustriellen ungarischen Dorfes Átany bis in die Details untersuchten, wird die Objektwelt nicht als eine dichotome konzipiert, die sich in Dinge einteilen ließe, die in Gebrauch sind, und solche, die nutzlos und damit wertlos geworden sind, sondern sie erschließt sich vielmehr als ein komplexer Mikrokosmos, der alle möglichen Zwischenstadien umfasst, während es ›Müll‹ in ihm so gut wie nicht gibt. Das Reparieren wird dabei als traditionale Praxis verstanden und in ein komplexes System der Bewahrung eingebettet: Kaputte Gegenstände werden repariert, ausgesonderte Gegenstände in anderen Kontexten und mit neuen Funktionen weiterverwendet; sie werden als Ganzes für den Notfall aufbewahrt oder in ihre Teile zerlegt und diese als Ersatzteile eingelagert.15

14 Bausinger, Hermann: Flick-Werk. In: Korff, Gottfried u. a. (Hg.): Flick-Werk. Reparieren und Umnutzen in der Alltagskultur. Begleitheft zur Ausstellung im Württembergischen Landesmuseum Stuttgart vom 15. Oktober bis 15. Dezember 1983. Tübingen 1983, S. 6 f., S. 7; vgl. auch Hitzler, Ronald/Honer, Anne: Reparatur und Repräsentation. Zur Inszenierung des Alltags durch Do-It-Yourself. In: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Kultur und Alltag. Göttingen 1988 (= Soziale Welt Sonderband 6), S. 267–283. Hitzler und Honer entwickeln hier unter anderem eine Typologie des Selbermachens: Während der »Typus des Romantikers […] heimwerkt, um sich dem Ideal manueller Perfektion anzunähern, um der ›Aura‹ (vgl. Benjamin 1963) des handgefertigten Originals teilhaftig zu werden, zielt ein anderer Typus, den wir ›Pragmatiker‹ nennen, darauf ab, das Selbstgemachte als ein solches möglichst unkenntlich zu machen, möglichst den Standard gekaufter Dinge zu erreichen, zu bewahren oder zumindest zu inszenieren.« Als einen dritten »Typus« identifizieren Hitzler und Honer schließlich den »Ideologen«: »Er ist sozusagen der ›bekennende‹, der vom Prinzip des Do-It-Yourself selber überzeugte, freizeitaktive ›Bastler und Bohrer‹«, der das Selbstgemachte als »symbolische Repräsentation von ›Originalität‹ und von ›Kreativität‹, von ›Lebensfreude‹ und von ›Familiensinn‹ und nicht zuletzt von ›Fleiß‹ und von ›Sparsamkeit‹« kultiviert. Ebd., S. 270 f. 15 Vgl. Fél, Edith/Hofer, Tamás: Geräte der Atanyer Bauern. Kopenhagen 1974.

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Beide Abhandlungen zum Reparieren als zentraler Praxis des DIY – Heckls Entwurf zur »Kultur der Reparatur« wie auch der »Flick-Werk«-Katalog – betonen die Bedeutung der materialen Dimension in DIY-Aktivitäten; wenig überraschend spielen gerade Museen und Museumsfachleute eine wichtige Rolle bei der Analyse und Theoretisierung des Phänomens DIY. Dies geschieht maßgeblich über die wechselseitige Bezugnahme zur Nachhaltigkeitsdiskussion, die eng mit dem modernen Abfalldiskurs verbunden ist. Die öffentliche Debatte um Abfall ist nicht nur durch eine ökologische Perspektive geprägt, sondern seit ihren Anfängen im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert auch durch ökonomische Überlegungen. Recycling, die Identifizierung des Wertvollen im vermeintlich Wertlosen und dessen Rückführung in den Stoffkreislauf, wurde zu einem Leitkonzept der Abfallbearbeitung erhoben16 und half dabei zugleich, den Raum für das Benutzen von Abfallmaterialien im DIY zu öffnen. Mit anderen Worten: Ein gewichtiges Narrativ des DIY-Diskurses, das maßgeblich zu seiner Sinnstiftung wie zu seiner moralischen Dimensionierung und damit letztlich zur Begründung des ›DIY-Ethos‹ beiträgt, ist bereits im Abfalldiskurs vorgebildet. Aber die Abfalldiskussion (und -theoretisierung) hat auch in anderer, subtilerer Hinsicht den Boden für die heute vertrauten Konzeptualisierungen des DIY bereitet. Der Mitherausgeber des »Flick-Werk«-Katalogs, Gottfried Korff, weist darauf hin, dass Reparieren immer zu einem gewissen Grad auch Improvisation und Kombination bedeutet.17 Materialien und Gegenstände können so in neue Gebrauchskontexte gestellt werden, neue Dingqualitäten können zum Vorschein gebracht werden.18 Frank Lang betont entsprechend in seinem Katalogbeitrag »die Fähigkeit, assoziieren zu können und Dinge nicht nur als spezialisierte Produkte mit vorgegebener Funktion zu sehen, sondern als Grundstoff, als Material mit vielen Möglichkeiten der Verwendung«,19 mit anderen Worten: »von den Grundfunktionen der Gegenstände zu abstrahieren«.20 Aus abfallanalytischer Perspektive zeigt sich, dass es gerade die (vorübergehende) Nutzlosigkeit der verschlissenen

16 Vgl. Windmüller: Kehrseite 2004. 17 Vgl. Korff, Gottfried: Reparieren: Kreativität des Notbehelfs? In: Korff u. a.: FlickWerk 1983, S. 13–16, S. 15. 18 Vgl. Reinhardt, Thomas: Der Bastler als Philosoph, der Philosoph als Bastler. In: Gold, Helmut u. a. (Hg.): DIY. Die Mitmach-Revolution (= Kataloge der Museumsstiftung Post und Telekommunikation 29). Mainz 2011, S. 34–39, S. 38. 19 Lang, Frank: »Phantasie muß mr halt han«. In: Korff u. a.: Flick-Werk 1983, S. 139– 148, S. 145. 20 Ebd.

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Dinge, also ihr Abfallstatus, ist, der hier initial wirkt, der das Potenzial der kategorialen Offenheit in sich trägt. Durch die Entlassung der Gegenstände oder Stoffe aus ihren ehemaligen Funktionen und Bedeutungen eröffnet sich ein Zugang zu neuen, ebenfalls in ihnen angelegten Qualitäten.

»M AKING  IS   C ONNECTING « 21   –   E RINNERUNG  SCHAFFEN   UND   V ERGANGENHEIT  HERVORBRINGEN   In seinen Untersuchungen zur sozialen Bedeutung von Kreativität in DIYAktivitäten und -Prozessen hat der Medien- und Kommunikationstheoretiker David Gauntlett fünf Kernprinzipien des DIY – verstanden als DIT (Do it together) – zusammengestellt. Eines davon ist »A new understanding of creativity as process, emotion, and presence«.22 Diese Beobachtung soll für den hier diskutierten Zusammenhang aufgegriffen und dabei über die Praxis, die Handlungsvollzüge des DIY, hinaus auf dessen materiale Dimension und hier insbesondere auf die Semantiken von DIY-Objekten ausgedehnt werden. Im Zuge einer empirischen Studie zur Handarbeit hat Nikola Langreiter Interviews mit Frauen geführt, die sich als engagierte Stickerinnen, Strickerinnen und Näherinnen verstehen. Langreiter präsentiert Ergebnisse ihrer Forschung in einem gemeinsam mit Klara Löffler verfassten Text, in dem sie unter anderem eine Interviewpartnerin vorstellt, die beim Sprechen über ihre Tätigkeit »nicht ins Detail [geht], wenn es um ihr Tun an sich geht, um die Arbeitsabläufe und Lösungen. Ins Detail geht sie dann, wenn es um die damit verbundenen Dinge geht und dann bringt sie von diesen Dingen ausgelöste Emotionen ins Gespräch.«23 Zu »diesen Dingen« zählen ihre eigenen Kreationen ebenso wie die Materialien, aus denen sie gefertigt sind, »vielfach Reste und Überbleibsel«, die als Geschenke oder vom Flohmarkt erworben in ihren Besitz gelangt sind. Diese Materialien haben – so zitiert Langreiter die Interviewpartnerin – »›ihre eigene Geschichte‹, über die sie während des Verarbeitens nachdenkt«.24 Hier wird die Verwendung von recyceltem Material nicht im Hinblick auf Nachhaltigkeitsfragen semantisiert, sondern

21 Gauntlett, David: Making is connecting. The social meaning of creativity, from DIY and knitting to YouTube and Web 2.0. Cambridge/Malden, Mass. 2011. 22 Ebd., S. 217. 23 Langreiter, Nikola/Löffler, Klara: Handarbeit(en). Über die feinen Abstufungen zwischen Oberflächlichkeit und Tiefsinn. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 116 (2013), H. 1/2, S. 159–176, S. 169. 24 Ebd.

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als Mittel der Schaffung von Konnektivität, das die DIY-Aktivistin mit anderen (handarbeitenden) Menschen, mit der Geschichte, mit vorherigen Besitzerinnen und Nutzerinnen verbindet.25 Langreiter und Löffler sprechen in der »Zusammenschau« der Erkenntnisse aus ihren empirischen Studien zum Handwerken von »Sprachregistern« der Beforschten, die unter anderem auf eine »hohe sinnliche Qualität«26 des Selbermachens abheben: »Die Dinge bergen und transportieren Geschichten und Emotionen.«27 So wird »[d]ie Geschichte der Dinge und der Materialien, die sie verwenden, deren longue durée […] Teil ihrer eigenen Geschichte«.28 Dieses Narrativ, das Nikola Langreiter und Klara Löffler für das DIY in Form der Handarbeit und des Heimwerkens eingefangen haben, ist auch im Abfall-Diskurs vertraut und bildet dort die Basis für die in historischen wie gegenwärtigen Quellen immer wieder aufgerufene und auch von kulturwissenschaftlichen Forscherinnen und Forschern reproduzierte Faszination am Weggeworfenen, am Abfall als einem potenziellen Träger von Bedeutung und Generator von Erinnerungen, an Dingen aus dem Müll als »Spuren«29 der Vergangenheit, die uns dazu herausfordern, sie mit Bedeutung aufzuladen. Diese Qualität des Abfalls greifen nicht nur Künstlerinnen und Künstler auf, die mit Müll als Material arbeiten, sondern zum Beispiel auch Journalistinnen und Journalisten. Zeitungsartikel über die frühe kommunale Hausmüllbeseitigung an der Wende zum 20. Jahrhundert etwa sahen die Auseinandersetzung mit Abfall als Möglichkeit, ›Geschichten zu erzählen‹, die ›Gedanken wandern‹ zu lassen und Reflexionen über die Vergangenheit, über das Leben und seine Endlichkeit anzustellen.30 Recycling ist mit den Worten der Kunst- und Kulturwissenschaftlerin Susanne Hauser »nicht nur als ›pragmatische‹ Strategie der Wahl angesichts abnehmender Ressourcen und zunehmender

25 Vgl. ebd. 26 Ebd., S. 175. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 171; Herv. i. Orig. 29 Assmann, Aleida: Texte, Spuren, Abfall: die wechselnden Medien des kulturellen Gedächtnisses. In: Böhme, Hartmut/Scherpe, Klaus R. (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek b. Hamburg 1996, S. 96–111; vgl. dies.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. 30 Vgl. einschlägige Zitate in Windmüller: Kehrseite 2004, S. 286–322.

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Müllberge lesbar, sondern auch als Versuch, Destruktion zu löschen, Vergänglichkeit, Endlichkeit und Tod zu erledigen«.31 Die sinnliche – und reflexive – Qualität des Abfalls als Material und gängiger Ressource des DIY wird noch offensichtlicher, wenn der Blick auf eine spezielle Kategorie von DIY-Objekten gerichtet wird: auf sogenannte Trench Art. Unter diesem Begriff werden Objekte erforscht, die von Soldaten und Kriegsgefangenen insbesondere im und nach dem Ersten Weltkrieg aus Kriegsmaterialien gefertigt wurden – »from the waste of war«,32 wie der Pionier der Trench-Art-Forschung, der Anthropologe Nicholas Saunders, es genannt hat, und »known to all soldiers and their families during the war and inter-war years«.33 Saunders zufolge sind diese Objekte »a prime example of recyclia«.34 »In short, metal Trench Art is an embodiment of the complex relationship between human beings and the things they make, use and recycle – in the physical, spiritual and metaphorical worlds they construct and inhabit.«35 Als kreativer Akt arbeitet die Produktion von Trench Art hier gegen die destruktive Kraft des industrialisierten Krieges an. Verzierte Artillerieblindgänger, Brieföffner aus Granatsplittern, Blumenvasen aus Geschosshülsen und Aschenbecher aus deren Böden sind dabei sowohl Teil der individuellen Erinnerung als auch der kollektiven Gedächtniskultur. Sie fungieren in dieser Konzeption eines spezifischen DIY-Phänomens »as visual reminders of wartime experiences«,36 ja, mehr noch: Sie werden als »einzigartiger Vermittler« vorgestellt: »Rich in symbolism and irony, metal Trench Art is a complex kind of material culture, whose physicality and nature make it a unique mediator between

31 Hauser, Susanne: Recycling, ein Transformationsprozess. In: Wagner, Anselm (Hg.): Abfallmoderne. Zu den Schmutzrändern der Kultur. Wien/Berlin 2010, S. 45–62, S. 47. 32 Saunders, Nicholas J.: Bodies of metal, shells of memory: ›Trench Art‹ and the great war re-cycled. In: Buchli, Victor (Hg.): The material culture reader. Oxford/New York 2002, S. 181–206, S. 183. Vgl. zum Phänomen auch: Projektgruppe ›Trench Art – Kreativität des Schützengrabens‹ (Hg.): Kleines aus dem Großen Krieg. Metamorphosen militärischen Mülls. Begleitband zur Ausstellung im Haspelturm des Schlosses Hohentübingen vom 26. April bis 16. Juni 2002. Tübingen 2002. 33 Saunders: Bodies 2002, S. 182. 34 Ebd., S. 183. 35 Ebd. Saunders konzentriert sich in seinen Veröffentlichungen weitgehend auf metallene Gegenstände, betont aber, dass Trench-Art-Objekte auch aus anderen Materialien, z. B. Holz, Knochen oder Textilien, hergestellt sein können; vgl. Saunders, Nicholas J.: »Killing Time«. The Study of Trench Art, 1914–2002. In: Projektgruppe ›Trench Art – Kreativität des Schützengrabens‹: Kleines 2002, S. 22–34. 36 Saunders: Bodies 2002, S. 191.

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men and women, soldier and civilian, individual and industrialized society, the nations which fought the war, and, perhaps most of all, between the living and the dead.«37 Saunders betont dabei den mehrdeutigen Charakter der hergestellten Gegenstände, die – in »hybrid (and constantly renegotiated) relationships between objects and people«38 – die Mehrdeutigkeiten des »Großen Krieges« in sich tragen: »In its strange shapes and nature as bricolage, Trench Art of all kinds symbolised the poignant confusions and ambiguities of the war. It played with definitions of materiality and intent, and revealed how the concentrated intensities of industrialized war could redefine social, spiritual, and material worlds. «39 Die aus dem ›Kriegsabfall‹ gefertigten Objekte sind in diesem Entwurf – mit einem Ausdruck der Anthropologin Barbara Kirshenblatt-Gimblett in ihren Überlegungen zu »Objects of Memory« – »authenticated by the past«.40 Andersherum authentisieren sie aber auch die Vergangenheit: »As a material expression of the self, metal Trench Art created a social universe of shared experiences, emotions and hopes«.41

37 Ebd., S. 183. Vgl. Saunders, Nicholas J.: Memory and conflict. In: Buchli: Material culture 2002, S. 175–180, S. 176: »Here, materiality, spirituality, politics and emotion link the living with the dead in a complex interplay of past and present«. 38 Ebd. 39 Saunders: Killing 2002, S. 31; vgl. ders.: Memory 2002, S. 175. Hier spricht Saunders von Trench Art als »multi-vocal representational embodiments of war«. 40 Kirshenblatt-Gimblett, Barbara: Objects of memory: Material culture as life review. In: Oring, Elliott (Hg.): Folk groups and folklore genres. A reader. Logan, Ut. 1989, S. 329– 338, S. 332. Kirshenblatt-Gimblett unterscheidet zwischen »collectables« und Souvenirs: »Whereas the souvenir authenticates the past and is a tool for remembering, the collectable is authenticated by the past.« Ebd., S. 332. Laut Saunders umfasst der Begriff der Trench Art sowohl Objekte in (privaten wie musealen) Sammlungen, als auch Souvenirs (insbesondere im Kontext der ›Pilgerbewegungen‹ zu den Schlachtfeldern des Krieges in der Nachkriegszeit); vgl. Saunders: Bodies 2002; ders.: Killing 2002. Die Zusammenführung des Phänomens Trench Art mit den Überlegungen von Kirshenblatt-Gimblett zur »Authentifizierung« findet sich auch bei Korff, Gottfried: Trench Art. Projektnotizen zur Kreativität des Schützengrabens. In: Projektgruppe ›Trench Art – Kreativität des Schützengrabens‹: Kleines 2002, S. 6–21, S. 10. 41 Saunders: Bodies 2002, S. 198. Zur »Wahrhaftigkeit und Authentizität« von Abfall als historischer Spur vgl. Assmann: Texte 1996, S. 107; Windmüller, Sonja: Trash museums: Exhibiting in-between. In: Pye, Gillian (Hg.): Trash culture. Objects and obsolescence in cultural perspective. Oxford u. a. 2010, S. 39–57, S. 39.

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D IE   » ZWEITE   C HANCE «   –   U MWERTUNGEN  UND   E MPOWERMENT   Der dritte Zugang zu den Wechselbeziehungen von DIY- und Abfalldiskurs soll nicht von Erscheinungsformen des DIY her entwickelt werden, sondern ausgehend von der Abfalltheoriebildung. Der Abfallstatus, so eine ihrer grundlegenden Annahmen, ist keine in den Dingen selbst liegende Eigenschaft, sondern ein Zuweisungsakt von außen. Darauf aufbauend hat Michael Thompson in seinem 1979 erschienenen Standardwerk »Rubbish theory. The creation and destruction of value«42 Müll als eine Kategorie in einem wirkmächtigen Bewertungssystem der Dinge – aber etwa auch der Ideen – herausgearbeitet. Laut Thompson gibt es drei »Aggregatzustände« besitzbarer Objekte: »Vergängliche Objekte«, zu denen insbesondere Dinge des täglichen Gebrauchs gehören, haben eine begrenzte Lebenszeit und verlieren während dieser kontinuierlich an Wert. »Dauerhafte Objekte«, zu denen Kunstwerke und Antiquitäten gehören, vermögen ihren Wert zu erhalten oder sogar zu steigern. Und drittens gibt es laut Thompson eine »verborgene Kategorie«, den Abfall. Dieser besitze gerade in seinem verdeckten Status die Aufgabe, »den scheinbar unmöglichen Transfer eines Objektes von der Kategorie des Vergänglichen in die Kategorie des Dauerhaften zu ermöglichen«.43 Thompson zufolge ist dieser Kategorienwechsel mit einem Wechsel der Besitzverhältnisse verbunden, der wiederum an die gesellschaftlichen Machtverhältnisse geknüpft ist.44 In diesem Sinne kann Abfall zu einem »allgemeine[n] Struktur- und Ordnungsbegriff«45 abstrahiert werden, der durchaus gesellschaftlichen Sprengstoff beinhaltet. Der Soziologe, Medienkommunikationswissenschaftler und Systemtheoretiker Theodor Bardmann hat auf die subversive Kraft von Abfall als Wertzuweisungspraxis hingewiesen: In jenem Moment, in dem ein Objekt – oder eine Person – mit dem Abfallstatus belegt wird, werden (kollektive) Werte und NichtWerte sichtbar und darüber Gesellschaft stabilisiert, aber zugleich auch Ausschlüsse produziert. Doch die Zuschreibungen können ebenso fehlgehen – und

42 Thompson, Michael: Rubbish theory. The creation and destruction of value. Oxford 1979 (dt. Die Theorie des Abfalls. Über die Schaffung und Vernichtung von Werten. Aus dem Engl. v. Klaus Schomburg. Stuttgart 1981). 43 Ebd., S. 25. 44 Vgl. ebd., S. 83. 45 Bardmann, Theodor M.: Wenn aus Arbeit Abfall wird. Aufbau und Abbau organisatorischer Realitäten. Frankfurt a. M. 1994, S. 190 (Hervorhebung im Orig.).

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hier erhält die Dynamik des zugrundeliegenden Abfallkonzepts eine neue Qualität. Laut Bardmann eröffnet sich »die Möglichkeit divergierender, konkurrierender, widerstreitender Beobachtungsweisen«46 und in der Konsequenz ein Potenzial, Identitäten nicht nur zu festigen, sondern andersherum auch zu erschüttern. In dieser Hinsicht kann und muss die Konzeptualisierung des Abfalls, wie sie die sozial- und kulturwissenschaftliche Abfalltheorie vorschlägt, als ein grundlegender Beitrag zu einer generellen Diskussion über Wert- und Unwertzuschreibungen verstanden werden, über Aufwertungen, Abwertungen und Wiederaufwertungen, über Desintegration und Reintegration, über Ausschluss und (Wieder-)Einschluss. Damit ist die Abfalldiskussion auch unter diesem Gesichtspunkt mit DIYPraktiken und -Diskursen eng verbunden – bezogen nicht nur auf den prominenten Einsatz von recyceltem Material in DIY-Praktiken, sondern in einem weiteren Sinne auch auf das Gesamtkonzept vieler DIY-Projekte. Insbesondere gesellschaftlich ambitionierte DIY-Vorhaben rekurrieren auf DIY als eine Praxis der Re-Valuierung und (Re-)Integration. In diesem Sinne wird DIY von dessen Vertreterinnen und Vertretern als ein wirkmächtiges soziales Programm vorgestellt, das nicht nur vorhandene Werte in Frage stellt und neu verhandelt, sondern dabei auch gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse kenntlich macht und irritiert. Oft anzutreffende Selbstzuschreibungen wie »guerrilla«,47 »radical«48 oder »revolutionary«,49 um nur einige zu nennen, unterfüttern dieses Selbstverständnis. Und integrative sozialpädagogische, handwerklich wie künstlerisch ausgerichtete DIY-Projekte, die bewusst mit Abfallmaterialien arbeiten, basieren auf der grundsätzlichen Annahme der (Re-)Inklusion und (Re-)Valuation nicht nur der stofflichen Ressourcen, sondern auch der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Sie zielen auf Menschen on the margins wie auf die Ermöglichung beziehungsweise Schaffung von Agency – und zwar sowohl in lokaler als auch in globaler Perspektive. Ein prominentes Beispiel sind die sogenannten »Hartz IV Möbel«, die in den letzten Jahren großes Medieninteresse hervorriefen und deren Entwickler, der Ar-

46 Ebd., S. 169. 47 Z. B. Guerrilla Gardening oder Guerrilla Knitting. Vgl. Gold u. a.: DIY 2011; Reynolds, Richard: On Guerrilla Gardening. A handbook for gardening without boundaries. New York u. a. 2008. 48 Z. B. die Radical-Crafting-Bewegung; vgl. Critical Crafting Circle (Hg.): Craftista! Handarbeit als Aktivismus. Mainz 2011. 49 Vgl. ebd.; Gold u. a.: DIY 2011.

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chitekt und Designer Van Bo Le-Mentzel, als Referent und Teilnehmer an Diskussionsrunden große Beliebtheit erfuhr.50 Le-Mentzel hat Anleitungen für den Bau von Möbeln in einem Bauhaus-inspirierten Stil und aus kostengünstigen Materialien entworfen und stellt diese Pläne kostenlos zur Verfügung. Er schreibt in der Einleitung zur Anleitung: »Mit diesem Do-it-yourself-Projekt versetze ich Tausende von Menschen in Arbeit, ohne dass eine Überproduktion entsteht. Do it yourself (DIY) ist die Lösung. Obwohl niemand bezahlt wird, sind alle hoch motiviert.«51 Er versteht die Aktion als Beitrag zur Realisierung einer sozialen Utopie, die ausdrücklich »alle Menschen mit wenig Einkommen und viel Geschmack«52 einbezieht. Und an anderer Stelle: »Mir ist dabei wichtig, dass dieses Do-it-yourself-Projekt sozialkritisch diskutiert wird. Wohnen ist für mich ein soziales Thema und kein reines Designthema. Deshalb habe ich das asozialste Wort Deutschlands gesucht: Hartz IV. So heißt in Deutschland unsere Arbeitslosenhilfe. Wer in Deutschland nach ›Hartz IV‹ googelt, hat vermutlich viele Sorgen. Diese Menschen wollte ich erreichen. Nicht nur die Heimwerkerfans. […] Tausende meiner Follower sind arbeitslos oder dauerhaft krank. Aber auch viele Burnout-Patienten, Rentner und alleinerziehende Mütter sind dabei. Wir sind sehr unterschiedlich.«

53

Hier wird DIY einmal mehr als »zweite Chance«54 konzipiert – in diesem Fall nun nicht primär für Dinge, sondern für Menschen. Andere Projekte nehmen bewusst beide Dimensionen in den Blick. Ein Beispiel, das mittlerweile auch Eingang in die Forschungsliteratur gefunden hat, ist »mitumBACK«, ein globales, transdisziplinäres Projekt, das künstlerische und wissenschaftliche Ansätze zusammenführen möchte. Benannt ist es nach dem Wort mitumba (Swahili für Bündel), das für die Bezeichnung von europäischen Altkleiderspenden verwendet wird, die auf afrikanische Märkte gelangen und dort verkauft werden. »mitumBACK« versteht sich als kritischer Kommentar zum globalen Altkleiderhandel (»[b]ecause the

50 Das zweisprachig (deutsch und englisch) verfasste Buch zum Thema wurde über Crowd-funding finanziert und ist, so Van Bo Le-Mentzel im Editorial, »durch die Crowd entstanden«; Le-Mentzel, Van Bo & The Crowd: Hartz IV Moebel.com build more, buy less! Konstruieren statt konsumieren! Ostfildern 2012, S. 5. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 15. 54 Tietjen, Friedrich: Die zweite Chance. Beobachtungen zum Recycling in Deutschland. In: Wagner: Abfallmoderne 2010, S. 113–122.

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world is no dumping place for global consumerism«55) und zu einer hegemonialen Weltordnung, für die diese Form des Handels steht. »mitumBACK« ist als »an experiment to rethink global structures« konzipiert, das »asymmetric relations of cultural exchange« und »interdependencies«56 sichtbar machen will. In den Vorbemerkungen eines publizierten Gesprächs der DIY-Forscherin Verena Kuni mit den »mitumBACK«-Aktivistinnen und Aktivisten heißt es: »mitumBACK verändert die Richtung d[es] globalisierten Prozesses. Das Projekt kauft gespendete Altkleider in Tansania zurück, labelt diese mit von fair bezahlten afrikanischen Stickerinnen handgefertigten Etiketten neu und reintegriert sie in den westlichen Markt. mitumBACK läßt das ›Abgetragene, Abgelegte, Ausgesonderte, Fortgeworfene‹ als extravagantes Modeteil und künstlerisches Unikat in die ›Erste‹ Welt zurückkehren und gibt bereits entwerteten Produkten durch ihre Re-Fetischisierung neuen Wert – einen, den sie zuvor nicht hatten.«

57

Eines der Hauptziele von »mitumBACK« ist laut Mission Statement das Streben nach Vernetzung – wie auch die Entwicklung und Realisierung von »new emancipatory strategies«, die Etablierung eines Wissenstransfers »in both directions, beyond clichés and borders. to transform the postcolonial dumping ground for world waste – and overcome this segregation concept in a rethinking process – because africa is no dumping place«.58

 

55 Website des Projekts: http://mitumback.xarch.eu/wordpress/be-a-wear (Zugriff: 24.3. 2014). 56 Ebd. Vgl. Reverse Global. mitumBACK antwortet auf Fragen von Verena Kuni. In: Critical Crafting Circle: Craftista 2011, S. 170–185. 57 Ebd, S. 170. Vgl. auch die Website des Projekts: http://mitumback.xarch.eu/wordpress/ be-a-wear (Zugriff: 24.3.2014). 58 Ebd.

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»T RASH  TO   T REASURE «  UND   »P UNKING  THE   S YSTEM «:   DIY-­Ä STHETIK  UND   A BFALLDISKURS 59   Der vierte und letzte Aspekt, den ich in den Blick nehmen möchte, ist die ästhetische Dimension des DIY. Im Schnittfeld von Kunst und Handwerk finden sich Bestrebungen, ein spezifisches »DIY-Design«60 herauszuarbeiten, das eng mit der Idee des Upcycling verbunden ist. In den einleitenden Bemerkungen zu »DIY. Die Mitmach-Revolution« (2011) schreiben die Herausgeberinnen Annabelle Hornung, Tine Nowak und Verena Kuni über Upcycling/Redesign: »Im Designkontext wird die Umnutzung zur ästhetischen oder funktionalen Aufwertung des Ausgangsobjekts als Redesign oder Upcycling bezeichnet: Man nimmt bereits Vorhandenes und bearbeitet es, wertet es um, und so entsteht etwas Neues, das jedoch noch immer die Spuren seiner Machart trägt.«61 Dieser Versuch einer Definition entspricht Formulierungen in DIY-Glossaren. Dort wird Upcycling – »[z]weifellos eine Lieblingsbeschäftigung der DIY-Szene«62 – als Prozess der Umwandlung von »Abfall oder anderem nutzlosem Material in ein neues, höherwertiges Produkt«63 verstanden, während Redesign als ein geläufiges Konzept »vor allem in der Modeschöpfung die neue Verwendung von Stoffresten, Flicken, Altkleidern oder Restposten«64 bezeichnet. DIY-Aktivistinnen und -Aktivisten beziehen sich regelmäßig auf Praxis und Konzept des Re-Design beziehungsweise Upcycling, das im modernen Abfalldiskurs ein optimales Modell für den Umgang mit dem Ausgesonderten wie auch ein utopisches Moment darstellt.65

59 Vgl. u. a. Hüsch, Anette (Hg.): From trash to treasure. Vom Wert des Wertlosen in der Kunst. Bielefeld u. a. 2011; Turney, Jo: The revolution will be knitted. Performativity, politics and punk craft as a means of instigating social change. Abstract. Http://bath spa.academia.edu/JoTurney/Papers (Zugriff: 24.3.2014): »DIY culture ›punks‹ the system«. 60 Eisele, Petra: Die Ästhetik des Handgemachten. Vom Dilettantismus zum Do-it-yourself – eine designhistorische Analyse. In: Critical Crafting Circle: Craftista 2011, S. 58– 72, S. 64. 61 Hornung, Annabelle/Nowak, Tine/Kuni, Verena: »Do It Yourself: Die Mitmach-Revolution«. Eine Einführung in die Ausstellung. In: Gold u. a.: DIY 2011, S. 8–18, S. 12. 62 Eintrag »Upcycling«. In: Baier, Andrea/Müller, Christa/Werner, Karin: Stadt der Commonisten. Neue urbane Räume des Do it yourself. Bielefeld 2013, S. 178. 63 A–Z des Selbermachens, Eintrag »Upcycling« (Annabelle Hornung). In: Gold u. a.: DIY 2011, S. 198–205, S. 205. 64 Ebd. 65 Vgl. Windmüller: Kehrseite 2004, S. 178–186.

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Es waren nicht zuletzt die Punk-Bewegung seit den frühen 1970er Jahren und die Riot Grrrl-Bewegung seit den 1990er Jahren (als feministische Re-Lektüre des Punk66), die mit LoFi-Musik (als Gegenbewegung zu Highfidelity-Kulturen) und Zine-Kultur (als alternative Erweiterung von Medien- und Publikationspraktiken) einen massiven Einfluss auf die Ästhetik des DIY hatten. Bei Gauntlett heißt es: »This DIY culture is characterized by a rejection of the glossy, highly produced, celebrity-oriented mainstream of popular culture, and its replacement with a knowingly non-glossy, often messily reproduced alternative«.67 Und in der Designtheorie der frühen 1970er Jahre setzte der österreichisch-amerikanische Designer und Designwissenschaftler Victor Papanek mit seinen Ideen zu einem »Design for the Real World«68 Maßstäbe, indem er nicht nur die Generalaussage propagierte, dass jeder Mensch eine Designerin oder ein Designer sei, sondern auch indem er in seinen theoretischen Überlegungen wie in seinen eigenen Entwürfen – etwa beim »nomadic furniture«69 – gebrauchte Dinge als Design-Material integrierte und etablierte. Designerinnen und Designer trieben eine Ästhetik voran, die »[d]as Spröde, Sperrige und Erklärungsbedürftige«70 favorisierte, einen »Radical Chic«,71 der für die Gegenkultur-Tradition, in der sich viele DIYAktivistinnen und -Aktivisten selbst verorten, typisch ist.72 Im Unterschied zur weit verbreiteten Idee einer engen Verbindung von DIYÄsthetik und dem Konzept des Upcycling schlägt der Musiker und Musikwissenschaftler Werner Jauk – für die Musik, aber durchaus auch auf andere Felder ausdehnbar – eine konträre Lesart der DIY-Ästhetik vor, nämlich deren Tendenz zum

66 Vgl. Monem, Nadine Käthe (Hg.): Riot grrrl. Revolution girl style now! London 2007; Zobl, Elke: »The fabric of resistance«. Hoopla: A radical craft zine. grrrlzine network (August 2008), http://grrrlzines.net/interviews/hoopla.htm (Zugriff: 24.3.2014). 67 Gauntlett: Making 2011, S. 53. 68 Papanek, Victor: Design for the real world. Human ecology and social change. New York 1971. Papaneks vorrangiges Anliegen war die Durchsetzung von mehr Ökologie und sozialer Verantwortlichkeit im Design. 69 Papanek, Victor/Hennessey, James: Nomadic furniture. How to build and where to buy lightweight furniture that folds, collapses, stacks, knocks down, inflates or can be thrown away and recycles, being both a book of instruction and a catalog of access for easy moving. New York 1973; dies.: Nomadic furniture. With many easy-to-follow diagrams, photographs and drawings. New York 1974. 70 Vgl. Friebe/Ramge: Marke 2008, S. 234. 71 Vgl. Eismann, Sonja/Zobl, Elke: Radical Crafting, DIY-Aktivismus & Gender-Politiken. Einleitung. In: Critical Crafting Circle: Craftista 2011, S. 188–197, S. 195. 72 Vgl. u. a. Eisele: Ästhetik 2011, S. 67.

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Downcycling, die deutlich provokanter sein könne als das Konzept und die Narration des Upcycling, die sich ja letztlich perfekt in die kapitalistische Logik dauerhaften Wachstums und der Wertmaximierung einpassen lasse. Punk dagegen – so Jauk – »erzeugt lustvoll Abfall«:73 »Die sprichwörtliche Drei-Akkord-Ästhetik des Punk ist nicht Gebrauch des Abfalls, sie ist die Enteignung des Allerheiligsten, sie ist (anti-ästhetisch) die Erzeugung von Punk, von Abfall« und damit Ausdruck einer »plural-alternative[n] Haltung« der »Horizontalisierung, Demokratisierung und Informalisierung«.74 Statements wie dieses rufen die Komplexität der DIY-Ästhetik ins Bewusstsein – sowie die Komplexität des DIY insgesamt. Zugleich offenbaren sich aber auch Begrenzungen, die etwa dann deutlich werden, wenn Abfall als ästhetisches Material und Konzept im DIY mit Abfall als Material und Konzept in der Kunst und Kunstgeschichte verglichen wird. Vor allem in jüngeren künstlerischen Arbeiten mit und über Müll scheint ein spezifisches Potenzial des Abfalls als amorphe Substanz, als entropische Form auf, die – insbesondere dort, wo organische Stoffe, Zerfall und Verwesung involviert sind – sowohl unser Bewusstsein, unseren Verstand, als auch unser Sensorium provoziert.75 Dagegen erscheinen viele der mit Abfall-Materialien arbeitenden DIY-Projekte im Hinblick auf ihren oft behaupteten offensiven Charakter eher harmlos. Zugleich aber tut sich hier auch eine neue Dimension der Möglichkeiten auf, die eine abfallsensible Perspektive für DIY als sozialkritisches Projekt zur Verfügung stellen könnte.

S CHLUSSBEMERKUNGEN   Der Beitrag verfolgte das Anliegen, DIY (in seinen unterschiedlichen Ausprägungen) und Abfall (als Material und als Konzept) aufeinander zu beziehen und über die Betrachtung der vielfältigen Wechselwirkungen zu einem genaueren Verständnis von DIY-Praktiken und -Diskursen, von DIY-Kultur und DIY-Ökonomie als offensichtlich attraktivem und einflussreichem Konzept zu gelangen. Die Abfall-Perspektive hilft – so sollte anhand der vorgestellten Beispiele gezeigt werden –, den Blick auf zentrale Aspekte des DIY zu schärfen: auf die Idee von Inklusion

73 Jauk, Werner: trash musics: in-dust/e-grains/dig-glitches. Die andere Mediamorphose aus dem Spiel mit der Durchlässigkeit des »Mülleimers der Geschichte«. In: Wagner: Abfallmoderne 2010, S. 201–214, S. 209. 74 Ebd., S. 204 f. 75 Vgl. Wagner, Monika: Abfall im Museum oder Kunst als Transformator? In: Hüsch: From trash to treasure 2011, S. 49–62; vgl. Windmüller: Trash museums 2010.

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und (Re-)Integration, von Wertproduktion und zugleich Infragestellung bestehender Wertesysteme, die Konzeptualisierung einer Ästhetik des Do it yourself, die provokative Macht von DIY als kritischer Kommentar zu verbreiteten Annahmen und etablierten Sicherheiten, die moralischen Implikationen, die Dimension von DIY-Praktiken als integraler Bestandteil von Erinnerungskulturen (und DIYProdukten als den dazugehörigen Erinnerungsträgern). Zudem öffnet die vorgeschlagene Perspektive den Blick auf verschiedene Formen von Agency und Macht beziehungsweise Ermächtigung. Während sich die Überlegungen vorrangig im diskursiven Schnittfeld von DIY und Abfall bewegten, verweist die gewählte Perspektive auf konkret-physischer Ebene zugleich auch auf ein anders gelagertes Fragespektrum, das hier nur angerissen werden kann, auf jeden Fall aber eine über die Re-Lektüre vorhandener Literatur hinausgehende, speziell auch empirisch-ethnografische Weiterverfolgung lohnen würde, da zentrale Aspekte der (Alternativ-)Ökonomie des DIY berührt werden: Was passiert zum Beispiel mit den eigenhändig und oft unter großem Aufwand gefertigten Dingen, wenn sie nicht benötigt werden und/oder keine AbnehmerInnen finden? Wo wird mit anderen Worten in den vielfältigen DIYAktivitäten selbst auch Abfall produziert und wie gehen die Akteurinnen und Akteure (diskursiv wie praktisch) damit um? Zudem erinnert der gewählte Fokus daran, neben dem bislang von der Forschung (wie auch in der medialen Darstellung) favorisierten Blick auf die Phase der Gründung und Etablierung von DIYProjekten und entsprechenden Aufbruchsnarrationen in den Statements der Beteiligten eine langfristigere Perspektive in die Analyse einzubeziehen, Dimensionen von Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit des DIY zu konturieren und dabei die wechselnden Wertbelegungen von DIY-Initiativen selbst in den Blick zu nehmen. Oder anders formuliert: Vielleicht sind es auch und nicht zuletzt die (individuell-biografischen wie gesellschaftlichen) Bedeutungsverluste (und -rückgewinne), die Konjunkturen und Halbwertzeiten von DIY-Aktivitäten, deren Erforschung maßgeblich zu einem besseren kulturwissenschaftlichen Verständnis des Phänomens DIY beitragen kann.

Perspektivierungen  

Bei  Bedarf  und  nach  Lust  und  Laune   Das  Selbermachen  in  den  Relationen  der  Lebensführung   K LARA L ÖFFLER

A BSTRACT :   A S   R EQUIRED  AND   A CCORDING  TO     O NE ’ S   M OOD .   D O  IT  YOURSELF  IN  THE   C OURSE  OF   L IFE   In present-day discussions, forms of Do it yourself (DIY) are often seen as an absolute phenomenon, as an expression of artistic, political, counter-cultural, or ecological designs of the individual, as well as social movements. The following considerations lie transversely to this tendency and contextualize discussions and practices of DIY in relation to curriculum vitae and lifestyle. The article outlines how, according to the Fate of living together with other people, especially with children, but also at and after one’s regular job, DIY is actually a field of work and a commitment, at the same time a game and a creative space against a background of life-changing motivations and objectives.

Zurückhaltung empfiehlt sich, wenn von Konjunkturen des Do it yourself (DIY) die Rede ist, denn mit dem Blick auf Konjunkturen werden Phänomene wie das Selbermachen enthistorisiert und entdifferenziert, bleiben Gleichzeitigkeiten, Vorgeschichten und Entwicklungen ausgeblendet. Gegenläufige Argumentationen, wie etwa die der britischen Werbe- und Medienforscherin Helen Powell, die für Großbritannien über eine Abnahme von DIY-Aktivitäten berichtet,1 finden im

1

Powell, Helen: Time, television, and the decline of DIY. In: Home Cultures 6 (2009), S. 83–108, S. 92 f.

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Vergleich zu aktuellen, populären wie wissenschaftlichen Diskursen über Konjunkturen weniger Aufmerksamkeit. Zudem hängt jeder Befund – ob der einer Konjunktur oder der eines Rückgangs – nicht zuletzt davon ab, welche Tätigkeiten unter Begriffen wie DIY, Hobby, Heimwerken oder Handarbeiten und welche Akteursgruppen unter Benennungen wie Craft Consumer, Prosumer oder Maker Movement subsumiert werden. Missverständnisse sind vorprogrammiert, variieren doch die Definitionen zwischen angloamerikanischem und deutschem Sprachgebrauch je nach Medium, Genre und Gruppe von Akteurinnen und Akteuren in erheblichem Maß. Eine, hier nicht zu leistende komparatistisch angelegte Begriffsgeschichte würde womöglich mehr über die Position der Autorinnen und Autoren und deren kulturellen und sozialen Hintergrund aussagen als über das bezeichnete Phänomen. Wenn in den 2010er Jahren von einer Konjunktur des DIY geschrieben wird, so ist dieser Befund vor allem auf das Selbermachen als Ausdrucksform politischer oder/und künstlerischer Aktion zugeschnitten, auf Diskurse und Praktiken von sozialen Gruppen und Bewegungen, die sich gegen Konsumgewohnheiten und für nachhaltiges Wirtschaften und Agieren engagieren. Ein Ausstellungs- und Buchtitel wie »DIY. Die Mitmach-Revolution«2 steht für eine Bestandsaufnahme, vor allem aber für eine Programmatik, der sich viele Forscherinnen und Forscher, die zu diesem Thema arbeiten, nicht entziehen können und vielfach gar nicht entziehen wollen. Auch in wissenschaftlichen Abhandlungen zum DIY hat das Ausrufezeichen Konjunktur: »Craftista! Handarbeit als Aktivismus«.3 Wenn sich etwa der britische Medienwissenschaftler David Gauntlett auf einer Professur für Kreativität und Design mit den sozialen Implikationen des DIY befasst,4 dann konzentriert er sich auf dessen gemeinschaftsstiftende Funktionen unter Ausblendung der sozialen Dimensionen Konkurrenz und Hierarchie. Zu weiten Teilen entspricht seine Darstellung, die sich auf zeitgenössische Formen des analogen wie digitalen DIY bezieht, einem Manifest, in dem er Schlüsselprinzipien5 eines veränderten Umgangs mit Welt formuliert. Diesen appellativen Impetus und das damit verbundene Übergewicht in den Repräsentationen eines gegenkulturellen DIY gilt es aus der Sicht einer ethnogra-

2

Gold, Helmut u. a. (Hg.): DIY. Die Mitmach-Revolution (= Kataloge der Museumsstiftung Post und Telekommunikation 29). Mainz 2011.

3

Critical Crafting Circle (Hg.): Craftista! Handarbeit als Aktivismus. Mainz 2011.

4

Gauntlett, David: Making is connecting. The social meaning of creativity, from DIY and knitting to Youtube and Web 2.0. Cambridge/Malden, MA 2011.

5

Ebd., S. 220–226.

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fisch fundierten Kulturwissenschaft wie der Europäischen Ethnologie auszugleichen und den Blick für die Vielfalt der Phänomene des Selbermachens zu öffnen sowie auf Praktiken in der Verflechtung mit Diskursen des Selbermachens zu richten. Dabei kann es – angesichts des Standes der historischen Erforschung des Selbermachens unter den jeweiligen kulturellen, nationalökonomischen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen – meines Erachtens (noch) nicht um die großen Linien der Entwicklung etwa im 20. Jahrhundert gehen. So plausibel etwa die Ausführungen der Forschergruppe um die britische Sozialwissenschaftlerin Elizabeth Shove sind, so ist doch deren These einer »normalization of DIY«6 im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus riskant. Denn solche Annahmen provozieren stets die Frage, wie es vor diesem hier angezeigten Zeitraum um Praktiken und Diskurse des Reparierens, Erneuerns und Verschönerns im nichtprofessionellen Feld stand. Demgegenüber fordere ich zu einer Diachronie im kleinen Maßstab der Lebensgeschichte auf und nehme Formen des Selbermachens als an Anlässe gebundene, auf Gelegenheiten angewiesene und Spielräume nutzende Aktivitäten in der Lebensführung von Individuen und Gruppen in den Blick. Unter dem Begriff Selbermachen fasse ich regelmäßige und routinierte Tätigkeiten und Erledigungen ebenso wie eher spielerische und zufällige Formen, konsumkritische und ökologische Motivationen, wie sie seit den 1960er und 1970er Jahren (je nach Verortung und Zeitrechnung) mit dem Begriff DIY verbunden sind, ebenso wie Ambitionen und Anstrengungen dieses Tuns, die auf das nächste soziale Umfeld und die eigene Person ausgerichtet sind, auf Handarbeit und analoge sowie auf digitale und internetbasierte Felder und Techniken des Selbermachens. In unterschiedlichen biografischen Phasen innerhalb bestimmter sozialer und historischer Konstellationen zeigen sich, so meine Ausgangsthese, wechselnde Akzentuierungen im Tun: Mal ist das Selbermachen eher auf ein Machen und kreatives Schaffen oder auf ein Reparieren und Instandhalten ausgerichtet, mal trägt es stärker Züge eines individuell oder auch kollektiv gepflegten Hobbys oder ist in der Arbeitsteilung innerhalb eines Haushalts Verpflichtung. Phasenweise steht die Performanz von Fertigkeiten im Vordergrund oder ist eine rasche, möglichst unaufwendige Erledigung zentral, ist das Selbermachen mehr oder weniger seltene Eigenzeit oder Normalität des Alltags zwischen Eigenproduktion, Erwerbstätigkeit und Konsum. Selbermachen in diesem umfassenden Verständnis zwingt dazu, die auch im wissenschaftlichen Feld immer wieder reproduzierten binären

6

Shove, Elizabeth/Watson, Matthew/Hand, Martin/Ingram, Jack: The design of everyday life. Oxford/New York 2007, S. 46.

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Oppositionen zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Produktion und Konsum systematisch zu hinterfragen.

T EILS ,  TEILS :   S ELBERMACHEN     IN  ALLTÄGLICH -­ LEBENSGESCHICHTLICHEN   R AHMUNGEN   In den Erklärungsversuchen – sowohl journalistischer als auch wissenschaftlicher Felder – zu unterschiedlichsten Varianten des Selbermachens und des DIY steht die These von der Kompensation im Vordergrund, werden Praktiken des DIY als Gegenmodell zu entfremdeten, beschleunigten und digitalisierten Arbeitswelten gedeutet. Romantisierungen der Hand- gegenüber der Kopfarbeit bleiben in solchen Befunden nicht aus. Zu beobachten ist in diesem augenscheinlich publikumswirksamen – gemessen an der Dichte an Publikationen – Diskurs ein spezifisches Ineinander von Journalistik und Wissenschaft. Beispielhaft dafür kann ein ganzseitiger Artikel auf den Wirtschaftsseiten der »Süddeutsche Zeitung« zu unterschiedlichsten Formen des Selbermachens stehen. Der Boom erkläre sich daraus, so die Journalistin, dass das in Arbeitsalltagen forcierter Arbeitsteiligkeit und Verdichtung unmöglich Gewordene wieder möglich sei: »am Ende des Tages ein komplettes Werk«7 vor sich zu haben, das sei nur mehr dem Schreiner – in diesen Diskursen eine beliebte Figur – vergönnt. Flankiert werden derartige Aussagen durch Statements von Wissenschaftlern wie dem Psychologen Stephan Grünewald, der den Beginn des »Werkeltrends« auf 9/11 datiert und diesen als Reflex auf die damit verbundenen Ohnmachtsgefühle und -erfahrungen erklärt. Auch dann, wenn die Beschwörungen einer Renaissance oder auch einer Revolution im und durch das Selbermachen ironisiert werden,8 basieren solche Auseinandersetzungen oftmals auf Typisierungen und Projektionen durch Angehörige akademischer Milieus und Berufe, die vor allem auf die eigenen Praktiken fokussieren. Selten werden in einem Diskurs- und Forschungsfeld die Ambivalenzen der Doppelrolle aller, die sich mit alltäglichen Praktiken in ihren Gesellschaften befassen und diese erforschen, deutlicher als im Themenbereich des Selbermachens. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass Darstellungen und Studien in diesem Feld

7

Dostert, Elisabeth: Stolz und Werk. Schneidern, häkeln, hämmern: Weil der Alltag hektisch, die Arbeit fragmentiert und die Zukunft unsicher ist, entspannen immer mehr Menschen bei der Handarbeit. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 2, 3.1.2014, S. 19.

8

Vgl. etwa Matzig, Gerhard: Ich schraube, also bin ich. Die Renaissance des Do-itYourself ist eine logische Antwort auf unsere Zeit. Aber leider auch ziemlich romantisch. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 7, 10.1.2014, S. 9.

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häufig, wenn nicht direkt autoethnografisch angelegt, so doch mindestens durch biografische Impulse geprägt sind. Um nicht missverstanden zu werden: Beides, die Reflexion der biografischen Hintergründe von Forschung im Allgemeinen und autoethnografisches Vorgehen im Besonderen, sind ohne Zweifel zentrale Elemente ethnografischer Systematik. Dafür steht etwa der schwedische Ethnologe Billy Ehn, der entlang einer Autoethnografie seiner eigenen DIY-Aktivitäten die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen von Zugang, Analyse und nicht zuletzt Modi der Darstellung autoethnografisch fundierter Forschung erläutert.9 Im Gegensatz zu etlichen anderen Autorinnen und Autoren jedoch reflektiert er die Standortgebundenheit seiner Beobachtungen und Aussagen und relativiert die Reichweite seiner Schlussfolgerungen – das eben macht die Qualität seiner Beobachtungen aus. Mehrdeutigkeiten in Motiven und Interessenlagen und zeitlich beziehungsweise lebensgeschichtlich variierendes Engagement in Feldern des Selbermachens bleiben gegenwärtigen Diskussionen deutlich unterbelichtet. Dabei verweisen schon die frühen Studien der SoziologInnen Anne Honer und Ronald Hitzler darauf, dass Praktiken des DIY und des Heimwerkens immer auch von Gleichzeitigkeiten, Ambivalenzen und Konjunkturen geprägt sind. So systematisiert Anne Honer in der Figur des »Hardcore-Heimwerkers«10 grundlegende Merkmale des Heimwerkens als einer »Tätigkeits- und Ausdrucksform des Individuums im Alltag, durch die es einerseits an der kollektiven Mentalität eines sozialen Groß-Aggregats (der mehr oder minder ›globalen‹ Do-It-Yourself-Bewegung) partizipiert, und durch die es sich andererseits habituell gegen kollektive Lebensentwürfe anderer sozialer Formationen abgrenzen kann«.11 Heimwerken wird damit als eine Praxis charakterisiert, die immer auch sozial bestimmt ist und – auf dies aufmerksam zu machen, ist Anliegen meines Beitrages – die Einzelnen in unterschiedlichen Lebensabschnitten unterschiedlich intensiv beschäftigen kann. In den letzten Jahren wurde vor allem das Moment der Identitätsarbeit, der autonomen Gestaltungsspielräume und der politisch-künstlerischen Aktion in und mittels DIY-Praktiken in den Mittelpunkt gerückt. Mit den folgenden Überlegungen, die sich auf Beobachtungen in unterschiedlichsten DIY-Bereichen stützen,

9

Ehn, Billy: Doing-It-Yourself. Autoethnography of manual work. In: Ethnologia Europaea 41 (2011), H. 1, S. 53–63.

10 Honer, Anne: Die Perspektive des Heimwerkers: Notizen zur Praxis lebensweltlicher Ethnographie (1991). In: SSOAR. Open Access Repository, S. 143–160, S. 150, http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-23960 (Zugriff: 15.2.2015). 11 Ebd., S. 157 f.

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gehe ich vom Gegenteil aus, vom Selbermachen als einer »sozialen Teilzeit-Praxis«12 zwischen sozialer Verpflichtung und individuellem Spielraum in den Rahmungen des Wohnens und Haushaltens vor allem zeitgenössischer Milieus mittlerer Schichten. Auch Shove und deren Kollegen, die entlang von Praktiken des DIY eine Theorie des »design of everyday life« entwickeln, legen das Augenmerk auf die soziale Dimension des Geschehens. Im Wechselspiel des »having and doing«,13 wie es am DIY zu beobachten ist, sehen sie einen zentralen Motor der Abläufe des Alltags, von deren Dynamiken ebenso wie von Verstetigungen und Routinen. Wenn ich mich hier dem Selbermachen in biografischer Perspektive und in wechselnden Konstellationen von Lebensgeschichte und Lebensführung zuwende, dann bedeutet dies nicht, dass Fragen nach der sozialen und ökonomischen Situation der Akteurinnen und Akteure oder auch nach der Rolle der Dinge und Räume des Selbermachens und deren sozialen Implikationen unwichtig wären 14 – sie werden von mir hier lediglich zurückgestellt. Es wird also im Folgenden um lebensgeschichtlich differierende und sozial situierte Konjunkturen des Selbermachens gehen. Ziel meines Beitrages ist die systematische Öffnung des Fragenkatalogs zu Phänomenen des Selbermachens. Insofern ist auch mein Text appellativ zu verstehen, als Plädoyer für eine biografisch und mikrologisch fundierte und sozial und historisch differenzierende Forschung zu Formen und auch Vorstellungen des Selbermachens.

W ER  MACHT  DAS ?   Ob der Begriff Heimwerken eng oder weit gefasst, nur auf Männer oder auch auf Frauen bezogen ist, immer ist damit ein, wenn nicht der zentrale Bezugspunkt der meisten Varianten des Selbermachens angesprochen: das Wohnen. Verstanden als Lokalisierung von Personen und Dingen lässt sich Wohnen mit dem Kindheitsund Familienforscher Sebastian Schinkel als »konjunktiver Erfahrungsraum«15 fassen, in dem Erlebnisse, Praktiken und Erfahrungen mit Anderen geteilt werden.

12 Ebd., S. 145. 13 Shove u. a.: The design 2007, bes. S. 34–39, S. 141–147. 14 Vgl. dazu Löffler, Klara: Reparieren und Instandhalten, Basteln und Entdecken. Eine ethnographische Annäherung. In: Technikgeschichte 79 (2012), H. 3, S. 273–289. 15 Schinkel, Sebastian: Familiäre Räume. Eine Ethnographie des ›gewohnten‹ Zusammenlebens als Familie. Bielefeld 2013, S. 66.

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Nicht zuletzt infolge der steigenden Wohnmobilität, der Zunahme von Umzügen, bedingt durch Arbeitsmärkte,16 aber auch aufgrund gestiegener Ansprüche an Wohnqualität und Komfort ist Wohnen – die Kunsthistorikerin Irene Nierhaus bringt dies auf den Punkt – mehr denn je ein »Räumen«,17 ein prinzipiell unabgeschlossenes Handeln in und mit Räumen in fortlaufenden Prozessen. Damit sind unterschiedlichste Fertigkeiten des Selbermachens gefragt und ist das Selbermachen für viele aus finanziellen wie aus zeitlichen Gründen weniger Option, denn Notwendigkeit. Der Umgang mit den Binnenräumen des Wohnens ist durch vertraute Objektivationen und Materialitäten bestimmt, die es zu pflegen, zu reparieren oder auch wiederherzustellen gilt, um die alltägliche Lebensführung, mitsamt ihren Routinen und Gewohnheiten, aufrechterhalten zu können. Dabei spielt das mechanische und technologische Altern der Dinge eine wichtige Rolle und steigen die Anforderungen, der Aufwand und die Frequenz der Instandhaltung mit der fortschreitenden Digitalisierung der Haushalte, unter anderem weil eine reibungslose Nutzung von regelmäßigen Updates abhängig ist. Doch veralten Ensembles von Möbeln und Gerätschaften auch vor dem sich stetig erweiternden Horizont neuer Möglichkeiten und den Fantasien eines besseren Wohnens, ein Veralten, das deren Besitzerinnen und Besitzer zu unermüdlichen Aktivitäten des Umbauens, Verschönerns oder auch Ersetzens motivieren kann. Die Küche ist einer der Räume, in denen besonders häufig und in kurzen Abständen Arbeiten in Angriff genommen werden. Die Forschergruppe um Shove befasst sich mit den »Modes of Restlessness«18 rund um diesen Raum und schließt: »At least in the kitchen, things are acquired, discarded and redesigned with reference to culturally and temporally specific expectations of doing and of having – not of having alone.«19 Allerdings können die Vorstellungen von dem, welche Aktivitäten des Selbermachens und der Erneuerung notwendig, nützlich, angemessen oder wünschenswert sind,20 zwischen den einzelnen Mitgliedern eines Haushalts, verstanden als

16 Vgl. ebd., S. 15. 17 Nierhaus, Irene: Positionen. Eine Einführung. In: Dies./Konecny, Felicitas (Hg.): räumen. Baupläne zwischen Raum, Visualität, Geschlecht und Architektur. Wien 2002, S. 11–23, S. 16. 18 Shove u. a.: The design 2007, S. 27. 19 Ebd., S. 37. 20 Vgl. am Beispiel der Küche Shove u. a.: The design 2007, S. 65; am Beispiel des Wohnzimmers Gregson, Nicky/Metcalfe, Alan/Crewe, Louise: Practices of object maintenance and repair. How consumers attend to consumer objects within the home. In: Journal of Consumer Culture 9 (2009), H. 2, S. 248–272.

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Handlungsfeld von sehr unterschiedlicher sozialer Zusammensetzung,21 erheblich variieren. Je nach sozialer Konstellation in einem Haushalt und dessen Geschichte ist das Selbermachen – als Aufgabenfeld wie als Freiraum – unterschiedlich verteilt. Im gemeinsamen Wohnen, ob als Wohngemeinschaft, als Paar oder als Familie, kristallisieren sich spezifische Zuständigkeiten und Dynamiken heraus, die insbesondere von der Vorgeschichte und Wohnbiografie der Beteiligten geprägt sind. Es bleibt kaum aus, dass Ärger »die allmähliche Entstehung eines häuslichen Systems«22 begleitet, je nachdem, ob die Einzelnen mit einem neuen Abschnitt ihrer Wohnbiografie auch neue Wege gehen und mit alten Gewohnheiten brechen wollen, ob und wie sie versuchen, Identifikationsbereiche und Mikroterritorien gegen Vergemeinschaftung durchzusetzen oder ob und in welcher Form die Beteiligten kompromissbereit sind. Historisch gesehen relativ neu ist, so der Soziologe Jean-Claude Kaufmann in einer Studie zu den Mechanismen des Wohnens in Paarbeziehungen, dass unter den Partnern aber auch mit Kindern über Regeln und Standards des Wohnens, über Vorstellungen und Wünsche durchaus intensiv diskutiert und verhandelt wird. Doch sind, das gibt Kaufmann zu bedenken, die Machtpositionen innerhalb der sozialen Gruppe eines Haushalts deshalb nicht verschwunden, sondern »bloß viel heimlicher und subtiler geworden«.23 Unter dem Druck beruflicher, räumlicher und sozialer Veränderungen, vor allem aber mit der Geburt eines Kindes kommt es zu einer, wie die Soziologin Ulla Terlinden feststellt, »Re-Traditionalisierung«24 in der Organisation des Wohnens und damit auch des Heimwerkens und Selbermachens. Für Instandhaltung und Reparaturen von Immobilien und Mobilien, von elektrischen Geräten und digitalem Equipment sind meist die männlichen Mitglieder eines Haushalts zuständig, für das tägliche Kochen, Putzen und Waschen, gleichzeitig aber auch für außergewöhnliche Aktionen wie die Aus- und Neugestaltung der Wohnräume und des Gartens die weiblichen Mitglieder. Eine solche Komplementarität25 in der Rollenverteilung bleibt auch in längerfristigen Beziehungen selten friktionsfrei.

21 Hahn, Hans Peter: Materielle Kultur. Eine Einführung. Berlin 2005, S. 109. 22 Kaufmann, Jean-Claude: Was sich liebt, das nervt sich. Konstanz 2007, S. 22; vgl. dazu auch Pink, Sarah: Home truths: gender, domestic objects and everyday life. Oxford 2004; Arnold, Jeanne E. (Hg.): Life at home in the twenty-first century: 32 families open their doors. Los Angeles 2012. 23 Ebd., S. 30. 24 Terlinden, Ulla: Naturalisierung und Ordnung. Theoretische Überlegungen zum Wohnen und zu den Geschlechtern. In: Reuschke, Darja (Hg.): Wohnen und Gender: Theoretische, politische, soziale und räumliche Aspekte. Wiesbaden 2010, S. 15–26, S. 21. 25 Vgl. Kaufmann: Was sich liebt 2007, S. 49–63.

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Jedoch differieren gerade auch was Verschönerungsaktionen anlangt Geschlechterarrangements und -dynamiken schicht- und milieuspezifisch, wie die Soziologin Christine Resch in der Studie »Schöner Wohnen« aufzeigt: In Beziehungen von Partnern aus der gehobenen, finanziell sehr gut gestellten Mittelschicht erklären Männer und Frauen die Ausgestaltung und Repräsentation ihres Wohnens zur gemeinsamen Sache, während in der gebildeten Mittelschicht Männer oftmals zu Protokoll geben, in einer gleichsam fremden Wohnung zu leben, weil die Gestaltung zur Gänze von ihren Partnerinnen übernommen worden sei.26 Während die Befunde über Frauen und deren Hinwendung beziehungsweise Distanzierung gegenüber Tätigkeiten im Haushalt sehr unterschiedlich ausfallen und auf Ambivalenzen im Umgang mit dem Thema hinweisen,27 scheint die Haltung von Männern eindeutiger. So verweist der Historiker Steven Gelber in seinen Forschungen zu Entwicklungen des Selbermachens seit dem 19. Jahrhundert darauf, dass sich DIY für Männer zu einem legitimen Feld entwickelt habe und spricht von einer »domestic masculinity«.28 Auch deren Ansprüche an Teilhabe haben sich verändert, wie der Ethnologe Gerard Rooijakkers für die Situation in den Niederlanden konstatiert: »Since the eighties and nineties men are back home again, they regained their place in the household.«29 »Homemaking«30 und Projekte des Selbermachens, so resümieren auch die amerikanischen KonsumforscherInnen Risto Moisio und Mariam Beruchashvili ihre Arbeiten zu Raumpraktiken

26 Resch, Christine: Schöner Wohnen: Zur Kritik von Bourdieus »feinen Unterschieden«. Münster 2012, S. 54–68. 27 Einerseits wird – seit mindestens 20 Jahren – unter wechselnden Schlagwörtern (wie Cocooning und New Domesticity) und mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die jeweilige Gegenwart eine deutlich gesteigerte Attraktivität privater Aktivitäten und der Rückzug von Frauen in den heimischen Haushalt diagnostiziert, vgl. u. v. a. Matchar, Emily: Homeward bound. Why women are embracing the new domesticity. New York u. a. 2013, andererseits von der expliziten Distanzierung von Frauen gegenüber Tätigkeiten im privaten Haushalt berichtet, vgl. z. B. König, Anne: A stitch in time: Changing cultural constructions of craft and mending. In: Culture Unbound 5 (2103), S. 569–585, S. 576. 28 Gelber, Steven: Do-it-yourself: Constructing, repairing and maintaining domestic masculinity. In: American Quarterly 49 (1997), H. 1, S. 66–112. 29 Rooijakkers, Gerard: What makes a man a man: Do-it-yourself. In: Villa RanaVilla Rana. Jyväskylän yliopisto laitas 3 (2000), S. 3–14, S. 6. 30 Moisio, Risto/Beruchashvili, Mariam: Mancaves and masculinity. In: Journal of Consumer Culture 14 (2014), H. 3, S. 1–21, S. 16–19.

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von Männern in gemeinschaftlichen Haushalten, ist heute für Männer ein zentrales Handlungsfeld ihrer Identitätskonstruktion. Einmal entwickelte und routinisierte Arbeitsteilungen führen gleichzeitig dazu, dass die Einzelnen Spezialwissen und Fertigkeiten vertiefen, die – über den jeweiligen Haushalt hinaus –zunehmend auch von anderen – Verwandten, Freunden, Nachbarn – abgefragt und gewürdigt werden. Insbesondere im Fall eines Hausbaus oder der Erwerbung eines Eigenheims, mit dem die Anforderungen in unterschiedlichsten Feldern des Selbermachens auch dann exponentiell zunehmen, wenn professionelle Handwerker und andere Experten mit Arbeiten beauftragt sind, werden solche Kompetenzen aktiviert. Zumal die räumliche Nähe in Neubausiedlungen und eine – zumindest vordergründig und vorläufig – vergleichbare Lebenssituation kann dazu führen, dass das Aushelfen und der Austausch sowohl von Werkzeugen als auch von Knowhow zwischen Nachbarn zeitweilig sehr intensiv gepflegt werden,31 während auf anderen Ebenen des Alltagshandelns dieser Kontakt durchaus von Distanz geprägt sein kann. »Der Nachbar«, betont Max Weber, »ist der typische ›Nothelfer‹, und ›Nachbarschaft‹ daher Trägerin der ›Brüderlichkeit‹ in einem freilich durchaus nüchternen und unpathetischen, vorwiegend wirtschaftsethischen Sinne des Wortes.«32 Entgegen allen Romantisierungen von Nachbarschaft(shilfe), gerade auch in aktuellen Konzepten der Stadtplanung aber auch in Genres des Nachbarschaftskonflikts, die Massenmedien so gerne traktieren, ist diese, durch räumliche Nähe bedingte soziale Beziehung im mehrfachen Wortsinn ein Arbeitsbündnis. Zuständigkeiten und Zuschreibungen ziehen also Kreise. Dies kann einerseits lästig sein, weil mit solchen Hilfeleistungen Ansprüche und Anforderungen verknüpft sind, die nicht immer erfüllt werden können. Andererseits ist damit auch Anerkennung verbunden, die wiederum das Selbstvertrauen stärkt, sich auch an bislang noch wenig geübte Techniken heranzuwagen und sich diese anzueignen, sodass zunächst nur situativ bedingte Tätigkeiten des Selbermachens zunehmend systematisch zu Fertigkeiten und Kompetenzen weiterentwickelt werden. Mit den Möglichkeiten internetbasierter Netzwerke, Plattformen, Foren und Blogs ist diese Aneignung, darauf wird noch zu kommen sein, deutlich erleichtert worden.

31 Vgl. Fallstudie Löffler: Reparieren 2012. 32 Max Weber in »Wirtschaft und Gesellschaft«, zit. nach Hüllemann, Ulrike/Brüschweiler, Bettina/Reutlinger, Christian: Räumliche Aspekte von Nachbarschaft – eine Vergewisserung. In: Ders./Stiehler, Steve/Lingg, Eva (Hg.): Soziale Nachbarschaften. Geschichte, Grundlagen, Perspektiven. Wiesbaden 2015, S. 23–33, S. 26; vgl. auch KarlSigismund Kramer: Die Nachbarschaft als bäuerliche Gemeinschaft: Ein Beitrag zur rechtlichen Volkskunde mit besonderer Berücksichtigung Bayerns. München 1954.

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Jedoch ist der Befund der Computerwissenschaftler Stacey Kuznetsov und Eris Paulos, die auf der Basis einer quantitativ angelegten Studie zur Interaktion zwischen Mensch und Computer von dem »Rise of the expert amateur«33 sprechen, zu relativieren. Auch der »Hardcore-Heimwerker«, wie ihn Honer beschreibt und der schon in den 1960er/1970er Jahren zu beobachten ist, steht für eine hoch entwickelte Expertise, die zumal in Details professionelles Knowhow übertreffen kann.

W IR   B ASTELN   Phasen der Neu- oder auch nur Umorganisation der Lebensführung – in den sozialen Beziehungen, im Wohnen wie auch im Umgang mit den zur Verfügung stehenden Zeitbudgets – sind mit erhöhten Anforderungen an Fertigkeiten des Selbermachens verbunden. Am nachhaltigsten verändert das Zusammenleben mit Kindern (in welchen Beziehungsmustern auch immer) die Szenerie. In dieser biografischen Phase wird das Selbermachen in spezifischer Art und Weise aktiviert. Es sind keineswegs nur Umbauten im Wohnen, die mit der Ankunft und dem Heranwachsen von Kindern notwendig werden, es ist insgesamt ein ganz eigener Kosmos der Dinge, der hier rund um das Leben mit Kindern entsteht und ein spezifisches Repertoire des Umgangs mit Dingen, das von Eltern und Kindern entwickelt wird, entwickelt werden muss. Denn Tätigkeiten des Selbermachens der Väter wie der Mütter stehen unter mehrfacher Beobachtung nicht nur der Kinder, sondern auch staatlicher Institutionen. Als so verantwortungs- wie liebevolle Eltern sollen sie zeigen und erklären (und wollen dies zumeist auch), wie sie etwas machen und wie Techniken und Dinge funktionieren. Das didaktische Konzept des Bastelns als die spielerische Hinführung an handwerkliche Tätigkeiten hat eine lange Vorgeschichte der normativen Aufladung. Wenn in einer Familie gebastelt wird, so geschieht dies auch heute unter spezifischen politischen Rahmenbedingungen, unterliegt es bestimmten Mustern und steht in Konkurrenzen. In der Folklore nicht weniger Familien finden sich Anekdoten darüber, wie Mütter, auch Väter mit reichhaltigen Materiallisten im einschlägigen Einzelhandel unterwegs sind, wie sie sich (nicht unbe-

33 Kuznetsov, Stacey/Paulos, Eric: Rise of the expert amateurs: DIY-projects, communities, and culture. In: NordiCHI ’10. Proceedings of the 6th Nordic conference on human-computer interaction. Extending boundaries. New York 2010, S. 295–304, http://www.staceyk.org/hci/KuznetsovDIY.pdf (Zugriff: 15.7.2016).

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dingt unter Mithilfe der Kinder) mit Bastelarbeiten abmühten und wie die Ergebnisse dieser Mühen vor den strengen Augen von Kindergärtnerinnen und Grundschullehrerinnen nicht immer bestehen konnten. Und es finden sich auch Klagen der Eltern über die Forderungen von Kindergarten und Schule, sich permanent über Arbeiten und Aktionen des Selbermachens und des Selbstgemachten an der Gemeinschaft zu beteiligen. Demgegenüber erzählen Kindergärtnerinnen in Gesprächen über die Veränderung ihrer Arbeitswelten,34 dass und wie von Eltern gerade das gemeinsame und aufwendig gestaltete und mit selbstgemachten Dingen ausgestattete Feiern im Jahresverlauf zum Teil vehement eingefordert werde. Den meisten Eltern ist daran gelegen, den Kindern praktisches Wissen im Umgang mit Dingen und Materialien mitzugeben. Diese Ambitionen können allerdings die eigenen Fertigkeiten etwa im Bereich von Reparaturen – deren Voraussetzung ja vor allem Übung ist35 – übersteigen. Dies kann damit zu tun haben, dass in den Herkunftsfamilien des jeweiligen Elternteils aus unterschiedlichen Gründen das Selbermachen eine geringe oder keine Rolle gespielt hat, also auch Techniken und Möglichkeiten kaum vermittelt worden sind. Zudem tragen zeitgenössische Gestaltung und Technologien von Möbeln, Kleidungsstücken, Haushaltsgeräten und Unterhaltungselektronik, die auf schnellen Verschleiß hin produziert werden, nicht unbedingt dazu bei, dass die Einzelnen allzu leicht Erfahrungen mit der Reparatur von Dingen sammeln könnten.36 Doch auch wenn Tätigkeiten routiniert beherrscht werden, kann dieser Wissenstransfer eine Hürde darstellen. Das Zeigen und Erklären ist schon deshalb keine leichte Aufgabe, weil die jeweilige Praxis des Instandhaltens, des Reparierens und des Herstellens selbst ein Lernprozess37 ist, der in einer mehr oder weniger perfekten oder provisorischen Lösung nur ein vorläufiges Ende findet. Zudem ist handwerkliches Wissen in hohem Maß verkörperlicht und habitualisiert.38 Es

34 Grandits, Judith: Festpädagogik im Kindergarten: das Martinsfest. Diplomarb. Wien 2009. 35 Sennett, Richard: Handwerk. Berlin 2008, S. 75. 36 Vgl. zur Erosion praktischen Wissens Ingold, Tim: Making. Anthropology, archaeology, art and architecture. London/New York 2013, S. 121–124; König: A stitch 2013, S. 581. 37 Vgl. Graham, Stephen/Thrift, Nigel: Out of order: Understanding repair and maintenance. In: Theory, Culture and Society 24 (2007), H. 1, S. 1–25, S. 5; http://tcs.sagepub. com/content/24/3/1.refs.html (Zugriff: 11.10.2011). 38 Vgl. Dant, Tim: The work of repair: Gesture, emotion and sensual knowledge. In: Sociological Research Online 15 (2010), S. 1–25, S. 8–11; http://www.socresonline.org. uk/15/3/7.html (Zugriff: 15.7.2015).

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muss durch Zeigen sichtbar gemacht werden.39 Zeigen lässt sich somit als Aufführung von Wissen definieren, in der der Körper Kommunikationsmedium ist und in der die Interaktion zwischen den beteiligten Personen und im Zusammenspiel mit Dingen, Werkzeugen und Materialien explizit gemacht wird.40 Die Operation des Zeigens zwingt dazu, den gewohnten Rhythmus der Tätigkeit und die Konzentration auf Werkzeug und Material immer wieder zu unterbrechen und die Aufmerksamkeit auf das zusehende und nachahmende Gegenüber zu richten.41 Die besondere Schwierigkeit des Zeigens steckt in der Übersetzungsleistung von einer selbstverständlich durchgeführten Geste in eine Geste, die Abläufe verlangsamt und in ihrer Mechanik und Funktionsweise erkennen lässt, und hat meines Erachtens nach weniger damit zu tun, dass bestimmte Vorgänge unerklärbar sind, wie Michael Polanyi in seinen Überlegungen zu tacit knowledge nahelegt. Mit dem Sozialanthropologen Tim Ingold, der diese These einer kritischen Revision unterzieht, gehe ich vielmehr von situativ bedingten und sozial differierenden Modi des Zeigens und Sprechens, des Erzählens, Erklärens und Verschweigens über die jeweilige Tätigkeit42 vor dem Hintergrund einer »komplementären Annäherung zwischen Diskurs und Praxis«43 aus. Die Performanz des Zeigens und Erklärens kann immer wieder scheitern; dies zeigt sich im Übrigen nicht nur in der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern, sondern auch in der professionellen handwerklichen Ausbildung. Im Erfolgsfall aber erfahren elterliche und kindliche Bemühungen nicht selten eine doppelte performative Würdigung. Denn die Ergebnisse des Selbermachens werden in Kindergarten und Schule oft in festlicher Rahmung vorgeführt, was wiederum von Eltern aber auch Großeltern dokumentiert wird und in das mediale Familienarchiv eingeht. Dies ist eine Praxis, die nach Beobachtung von Kindergärtnerinnen nicht erst seit der Digitalisierung des Fotografierens und Filmens intensiv gepflegt wird. Vermittelt und vertieft wird in diesen Aktionen eine in der Gegenwart kulturell stark verankerte Wertschätzung des Selbst- und Handgemachten. Selbstgemachtes aus Kinderhand überlebt erstaunlich viele Umzüge und Veränderungen des Wohnens; in den Erinnerungs- und Überlieferungspraktiken von Familien

39 Vgl. Alkemeyer, Thomas: Bewegen und Mitbewegen. Zeigen und Sich-Zeigen-Lassen als soziale Körperpraxis. In: Schmidt, Robert/Stock, Wiebke-Marie/Volbers, Jörg (Hg.): Zeigen. Dimensionen einer Grundtätigkeit. Weilerswist 2011, S. 44–72, S. 46. 40 Vgl. ebd., S. 50 f. 41 Zum Rhythmus des Machens siehe Ingold: Making 2013, S. 45, S. 115. 42 Vgl. ebd., S. 109–111; Collins, Harry: Tacit and explicit knowledge. Chicago 2010. 43 Hirschauer, Stefan: Sei ein Mann! Implizites Zeigen und praktisches Wissen. In: Schmidt/Stock/Volbers: Zeigen 2011, S. 89–104, S. 102.

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kommt diesen Dingen, den Geschichten und Bildern rund um deren Entstehung und Präsentation eine wichtige Rolle zu.

I CH  KANN  DAS !   In der langen Geschichte der Diskurse rund um das Selbermachen und das Selbstgemachte haben sich die positiven Zuschreibungen verdichtet: Selbstgemachtes kann für gesunde Ernährung stehen, für nachhaltige Lebensführung, für soziales und politisches Bewusstsein, auf jeden Fall aber für Originalität und Kreativität. Kreativ zu sein ist heute in hohem Maß nicht nur Anspruch, sondern auf allen Ebenen der Lebensführung Anforderung. So lässt sich das gemeinsame Basteln als ein wichtiger Schritt in der Einsozialisation in das »Kreativitätsdispositiv«44 unserer Gesellschaft verstehen. Dass in vielen Feldern und Phasen des DIY auch von Erwachsenen mit Anleitungen und Vorlagen hantiert wird, tut der Besonderheit des Selbermachens und des Selbstgemachten keinen Abbruch. Kreativität und Einzigartigkeit beweist frau oder man in individueller Auswahl und Umgang mit Materialien, Techniken und Mustern.45 Eine Qualität des Selbermachens und des Selbstgemachten, die besonders hochgeschätzt wird, ist die Zeit, die man sich dafür nimmt, nehmen kann. Ob Basteln oder auch Heimwerken eher als Pflichtübung und Hausarbeit empfunden werden oder als selbstbestimmte und lustvolle Tätigkeiten mit Dingen und Materialien, ob das Selbermachen kurze Episode bleibt oder zur regelmäßigen Beschäftigung wird, dies hängt nicht zuletzt von der Zeit ab, die jemand in den Grenzen der jeweiligen Lebensführung und deren sozialen, beruflichen und ökonomischen Verbindlichkeiten investieren kann und will. In Kaufmanns Modell der Episoden der Neuorganisation von Beziehungen ist eine solche biografische Phase der erweiterten Spielräume die Zeit, in der die Kinder aus dem Haus, die Einzelnen beruflich etabliert oder auch schon in Rente oder Pension gegangen sind.46 Doch sind solche »Kannzeiten« auch im frühen Erwachsenenalter gegeben und schließen biografische Phasen zwischen Berufsfindung und Beendigung der beruflichen Arbeit intensive, zeitvergessene Praktiken des Selbermachens nicht aus: »Kannzeit«,

44 Reckwitz, Andreas: Der Kreative als Sozialfigur der Spätmoderne. In: Ders.: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie. Bielefeld 2016, S. 185–194. 45 Vgl. dazu Myzelev, Alla: Whip your hobby into shape: Knitting, feminism and construction of gender. In: Textile 7 (2015), H. 2, S. 148–163, S. 151 f. 46 Kaufmann: Was sich liebt 2007, S. 43–47.

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so argumentieren Hitzler und Honer mit dem Philosophen Hans Blumenberg, »ist sozusagen überall und nirgends, immer und nie«.47 Ein solches Tun kann zielstrebig, auf die Fertigstellung eines Projektes hin verfolgt werden, es kann sich aber auch in der Lust der Planung, der Auswahl und dem Konsum von Materialien und Werkzeugen erschöpfen, auf das Schmökern in Special-Interest-Magazinen und im Internet und auf das Ausprobieren von Anleitungen konzentrieren oder mit verteilter Aufmerksamkeit – zur Zerstreuung48 also – praktiziert werden. Es muss also nicht unbedingt ein Tun sein. Man kann es auch lassen, machen lassen: Die lange Geschichte und anhaltende Popularität von spezifischen TV-Formaten rund um Selbermachen und DIY zeigt, dass diese für Zuseherinnen und Zuseher großen Unterhaltungswert haben (wenn andere sich mit dem Selbstmachen abmühen und daran scheitern) und der Informationswert (wie eine Handwerksarbeit zu bewerkstelligen ist) demgegenüber in den Hintergrund treten kann.49 Zumal internetbasierte Genres wie YouTube-Videos, Foren, Blogs und deren einfach strukturierte Oberflächen eröffnen Spiel- und Lernräume, die aufgrund der Unverbindlichkeit, mit der man sie nutzen kann, reizvoll sind. Deren breite Verfügbarkeit erleichtert den (Wieder-)Einstieg oder die Intensivierung von Aktivitäten des Selbermachens, erlaubt doch diese Form einer pluralen »Wissensallmende«50 ein Lernen im eigenen Tempo und Stil. In diesen Formaten treffen sich die performative Dimension des Selbermachens, wie sie schon mit dem Basteln mit und von Kindern eingeübt wird und die performative Attraktivität von Medienpraktiken wie etwa Blogs. Diese spielen in der zeitgenössischen Subjektkonstruktion eine wichtige Rolle und können wie Nikola Langreiter an Online-Plattformen wie Etsy vorführt – als ein »Biografisieren im Kleinformat«51 gelten. Dieses Erzählen über die eigenen Aktivitäten und das Bebildern des Selbstgestalteten steht für Selbstverständlichkeiten zeitgenössischer

47 Hitzler, Ronald/Honer, Anne: Zeitbasteln. Ein Aspekt alltäglicher Sinnkonstruktion. In: Sowi. Sozialwissenschaftliche Informationen 23 (1994), S. 215–221, S. 219. 48 Löffler, Petra: Zerstreuen. In: Christians, Heiko/Bickenbach, Matthias/Wegmann, Nikolaus (Hg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. Köln/Weimar/Wien 2015, S. 687–702. 49 Vgl. Powell: Time 2009, S. 96–104. 50 Reichert, Ramón: Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0. Bielefeld 2008, S. 11. 51 Langreiter, Nikola: Alles in Ordnung mit dem Selbermachen-Selbst. Formen und Funktionen des Biografisierens in der Handmade-Nischenökonomie. In: Kuckuck 19 (2014), H. 1, S. 44–49.

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»Automedialität«,52 mit den Soziologen Jörg Dünne und Christian Moser verstanden als Wechselspiel zwischen Formen autobiografischer Darstellung und den Logiken und Mechanismen der jeweils benutzten Medien. Die Soziologin Kate Orton-Johnson spricht mit Blick auf Strickblogs von »knitting techno-cultures«,53 aber auch allgemein von einer Ausweitung freizeitlicher Aktivitäten in Richtung digitaler Genres. In großer Vielfalt werden Anleitungen zur Erstellung eines Videoclips angeboten, in dem sich eine Anleitung und ein fertiggestelltes Produkt präsentieren lassen. Eine Ästhetik des Selbstgemachten, die in solchen Postproduktionen vorherrscht, ist dabei sogar erwünscht, »semi-professionelle und offensichtlich privat produzierte Video-Clips«54 werden bevorzugt. Auch daran wird deutlich, dass die Begeisterung für vormoderne Handwerkstechniken und für deren sensuelle Dimensionen und Möglichkeiten sehr gut zusammen gehen mit der Nutzung und Anwendung neuester digitaler Technologien. Die Produzentinnen und Produzenten können mit Resonanz rechnen. »Die Hälfte der Nutzer«, fasst der Technikhistoriker Mirko Drotschmann die Ergebnisse seiner quantitativen Online-Befragung zu YouTube-Anleitungen zusammen, »hat schon mindestens einmal Kontakt mit ihnen aufgenommen, 77 Prozent davon ist der Meinung, dass auf Anregungen und Kritik eingegangen wird«.55 Die Frage ist freilich, ob eine klare Trennung zwischen ProduzentInnen und NutzerInnen in Anbetracht der sozialen Architekturen von Foren und Blogs möglich ist. Wie nicht wenige derer, die sich mit Foren und Blogs im Netz befassen, spricht auch Drotschmann von einer »Community« und von einem »sozialen Rückzugsraum«;56 dies ist systematisch zu hinterfragen. Ohne Zweifel kann die direkte und schnelle Resonanz im virtuellen Raum von Kontakten und Begegnungen im realen Raum und im lokalen Rahmen begleitet sein und diese nicht selten erst initiieren.

52 Dünne, Jörg/Moser, Christian: Allgemeine Einleitung. Automedialität. In: Dies. (Hg.): Automedialität. Subjektkonstitution in Schrift, Bild und neuen Medien. München 2008, S. 7–16. 53 Orton-Johnson, Kate: Knit, purl and upload: new technologies, digital mediations and the experience of leisure. In: Leisure Studies 33 (2014), H. 3, S. 305–321, S. 308. 54 Drotschmann, Mirko: Baumarkt 2.0. Do-It-Yourself, Youtube und die Digital Natives. In: Journal of New Frontiers in Spatial Concepts 2 (2010), S. 18–27, S. 22. 55 Ebd., S. 23. 56 Ebd., S. 24.

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Doch ist das Erzählen vom Entstehen und von der Zugehörigkeit zu einer Community zuvorderst als ein Geschichtentypus im Erzählraum Internet anzusehen.57 Hierin klingen womöglich jene Mythologisierungen an, die allgemein mit digitalen Medien verknüpft werden: die Versprechen von Interaktion, Partizipation und Gemeinschaftlichkeit.58 Die Grade der Vergemeinschaftung und deren Intensität lassen sich also nicht unbedingt an Texten und Bildern von Genres ablesen, in denen neben den autobiographischen Anteilen Gemeinschaftsgefühl und Emphase für die Kreationen Anderer konventionalisiert sind. In bestimmten biografischen Phasen und deren Kannzeiten ist das Machen vom Müssen, von Effizienz und Perfektion, von der Verpflichtung zur Fertigstellung entlastet – so selbstbewusst, aber auch kokett wird etwa in Strickblogs von den halbfertigen Dingen und unabgeschlossenen Projekten erzählt. Es ist ein Können und damit die Möglichkeit eines Tätigseins zwischen gestaltungs- und produktionsorientiert, die man oder frau verfolgt oder auch nicht. Dies setzt voraus, dass die jeweilige Tätigkeit nicht mehr notwendigerweise aus ökonomischen Gründen durchgeführt werden muss. Die technologischen Fortschritte und die Entwicklung der Massenproduktion in den letzten beiden Jahrhunderten ermöglichten es, dass gerade auch handwerklich fundierte Tätigkeiten und Produkte, deren Herstellung und Reparatur zunehmend verbilligt und weithin verfügbar wurde. Unterstützt wurden dadurch auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene Prozesse des »hedonizing«.59 Die Technologiehistorikerin Rachel Maines fasst mit diesem Begriff gesellschaftliche Prozesse und Transformationen, in denen Freizeitaktivitäten im Bereich des DIY immer weniger auf die Produktion von Dingen als vielmehr auf das persönliche Vergnügen ausgerichtet sind, das diese Aktivitäten bereiten können.60 Solche Verschiebungen etwa im Bereich des Strickens weist sie schon für das Mittelalter und in adligen Milieus nach, betont jedoch auch, dass sich mit der Industrialisierung von Gesellschaften diese ›Hedonisierung‹ demokratisiert und mit der Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten zunehmend ausdifferenziert habe: »In the case of hobby technologies, the

57 Vgl. Schachtner, Christina: Das narrative Subjekt. Erzählen im Zeitalter des Internets. Bielefeld 2016, S. 73–110. 58 Vgl. Distelmeyer, Jan: Digitalisieren. In: Christians u. a. (Hg.): Historisches Wörterbuch 2015, S. 162–177, S. 167–173. 59 Maines, Rachel: Hedonizing technologies: Paths to pleasure in hobbies and leisure. Baltimore 2009. 60 Ebd., S. 9.

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possible paths and ›different ways‹ of making artifacts – the historical and possible future technological paths oft the craft – are bewildering diverse«.61

D AS   E INE  UND  DAS   A NDERE   Es ist noch etwas komplizierter. Denn die von Maines angesprochene Vielfalt in den Wegen, Formen und Ergebnissen des DIY spiegelt sich in den Aktivitäten der Individuen, deren Lebensgeschichte und Lebensführung: Selbermachen kann eine Episode des Entfliehens aus alltäglichen Routinen oder eine Episode der Erhaltung von Routinen sein. Im jeweiligen Lebenslauf kann es intensive Phasen des Selbermachens geben, in denen sich die Einzelnen in Tätigkeiten des Selbermachens für Andere oder für sich in mehrfacher Hinsicht verausgaben. Es kann sich aber auch eine kontinuierliche Entwicklung abzeichnen, in der sie sich eine Kennerschaft und Kompetenz erreichen, die sie für eine berufliche Veränderung und den Einstieg in die einerseits hochentwickelte, andererseits extrem volatile Ökonomie rund um DIY nutzen – oder auch nur versuchen, zu nutzen. Die Übergänge zwischen Freizeitpraktiken und (Nischen-)Ökonomie sind gerade in internetbasierten Formen und Repräsentationen des DIY fließend. Alle diese unterschiedlich intensiven Aktivitäten des Selbermachens, die selten frei sind von Ambivalenzen zwischen Verpflichtung und Autonomie, lassen sich keineswegs nur aus der jeweiligen Berufs- und Arbeitsbiografie ableiten, wie dies in Thesen zur ausgleichenden, kompensatorischen Funktion des DIY oftmals unterstellt wird. Auch wenn Jürgen Habermas dieses Denkmodell um den Begriff »suspensiv« erweitert, mit dem er auf ein Freizeithandeln bewusster Entgegensetzung verweist, für das ein hoher Identifikationsgrad mit dem jeweiligen Tun charakteristisch ist, macht er wiederum die Arbeit zum zentralen Bezugspunkt des Konzepts.62 Doch ist es immer ein Geflecht von sozialen und ökonomischen, aber auch historischen Relationen, das dazu führt, dass die Individuen für sich oder mit anderen Felder des Selbermachens entdecken, Fähigkeiten entwickeln, erweitern, vertiefen oder Tätigkeiten des Selbermachens eher erledigen, vermeiden, verschieben oder auch gänzlich ablehnen. So wie unterschiedliche Typen von Beziehungen zwischen Menschen und solche zwischen Menschen, Dingen und Räumen

61 Ebd., S. 124. 62 Habermas, Jürgen: Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit. In: Funke, Gerhard (Hg.): Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker. Bonn 1958, S. 219–231, S. 224.

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Lebensgeschichte und Lebensführung prägen, so prägen diese Relationen das Selbermachen, in denen Aktivitäten zu Projekten werden, aber auch längst zu Praktiken verselbständigt sein und in sozialer Praxis aufgehen können. Ethnografische Forschung zu Phänomenen des DIY hat damit zuvorderst die Aufgabe der sorgfältigen, empirisch fundierten und quellenkritisch reflektierten Rekonstruktion der jeweiligen Aktivitäten und Praktiken in variierenden Relationen insbesondere innerhalb spezifischer sozialer und biografischer Konstellationen (wie etwa von gemeinsamen Haushalten), sie hat die Aufgabe der Differenzierung. Gegenüber Formen der Entdifferenzierung – dazu zählen auch pauschalisierende und nicht selten moralisierenden Ausrufungen von Konjunkturen und Renaissancen, wie ich sie eingangs andeute – sollte sie mit systematischer Skepsis begegnen.

›Weibliches‹  Handarbeiten  –     (anti-­)  feministisch!?   N IKOLA L ANGREITER

A BSTRACT :   ›F EMALE ‹   H ANDCRAFT   –   ( ANTI -­) FEMINIST !?   Starting from a currently noticeable trend towards textile handcraft in the course of a more general shift towards do it yourself, the intricate classification of the socalled ›female‹ handcraft is addressed in this contribution. As interpretations of the handcraft boom in the past ten to fifteen years credit the Third Wave feminism with an important role, feminist perspectives on ›female‹ handcraft and its history and historiography will be presented in excerpts. In current debates on new handcraft and new domesticity, feminists of the third generation vehemently dissociate themselves from representatives of the second women’s movement. Finally, using some media acclaimed and much discussed handcraft stories, the author will attempt to explore the range and impact of discourses regarding textile handcraft.

Im Zuge einer von den USA ausgehenden Do-it-yourself-Bewegung (DIY) wurde das textile Handarbeiten wieder sichtbar – praktisch und diskursiv. Unter Schlagworten wie Third Wave Feminism, Craftivism, Radical Crafting oder aber DDIY (Don’t do it yourself) wird dieses sogenannte neue Selbermachen und besonders auch das ›weibliche‹ Handarbeiten von unterschiedlichen Seiten politisiert und für durchaus divergente Interessen instrumentalisiert.1 Im Folgenden liegt der

1

Als historisches Beispiel für diese Instrumentalisierung wird das Stricken für den Krieg diskutiert. Vgl. z. B. Hämmerle, Christa: »Wir strickten und nähten Wäsche für Soldaten ...« Von der Militarisierung des Handarbeitens im Ersten Weltkrieg. In: L’Homme.

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Schwerpunkt auf der aktuell beobachtbaren Politisierung und Instrumentalisierung des textilen Handarbeitens. Ausgangspunkt für das Ausloten rezenter Formen der gesellschaftspolitischen Indienstnahme ist ein derzeit prominenter, auch von großem Medienecho getragener Diskurs um das neue Selbermachen und insbesondere das ›weibliche‹ Handarbeiten. Dieser wird in unterschiedlichen Öffentlichkeiten und von verschiedenen ProtagonistInnen geführt. Bemerkenswert sind die Intensität und Vehemenz, die emotionale Aufladung mit der die Rede im Umfeld der neuesten Frauenbewegung, des sogenannten Third Wave Feminism geführt wird2 – Positionen aus diesem soziokulturellen Feld stehen deshalb hier im Mittelpunkt. Feministinnen der dritten Generation sind meist multimedial und in mehreren Feldern aktiv, sie arbeiten vielfach auch wissenschaftlich über das neue Handarbeiten.3 Vor allem die von ihnen lancierten Diskurse werde ich dekonstruieren, sie in Hinblick darauf lesen, wie Praktiken des textilen Handarbeitens, die – wie mir empirische Arbeit zeigte – überaus vielfältig und widersprüchlich sind, gedeutet werden, welche Fokussierungen und Engführungen dabei vorgenommen werden, gerade auch in wissenschaftlichen Texten. Mein Interesse gilt vor allem den Bewertungen, wie sie Diskurse und (propagierte) Praktiken transportieren, und der Frage, wie dieser Transfer vonstattengeht. Im Fokus stehen dabei Konzepte ›des Frauseins‹ wie sie mit der Rede über das ›weibliche‹ Handarbeiten lanciert werden und wie diese in Relation zu Konzepten der Ersten und Zweiten Frauenbewegung gesetzt werden. Material liefert

Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 3 (1993), H. 1, S. 88–128; dies.: Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn. Wien u. a. 2014, v. a. S. 139–159. Nur angemerkt sei hier, dass das Stricken für Soldaten (im »Krieg gegen den Terror«) aktuell (wieder) propagiert wird – entsprechende Initiativen sind vor allem in den USA, Canada und England angesiedelt. Z. B. »The Ship’s Project« (gegr. 2001), »Warmth for Warriors« (gegr. 2008) oder »Hats4Heroes« (gegr. 2010); die Initiativen organisieren sich v. a. via Internet. Dort kursieren auch zahlreich Bilder von und Beiträge über strickende Soldaten. 2

Der Terminus »Third Wave Feminism« wird Rebecca Walker (1992) zugeschrieben; der – vielfach kritisierte – Überbegriff versammelt eine Reihe (inhaltlich vielfältiger) feministischer Strömungen der 1990er und 2000er Jahre; vgl. Groeneveld, Elizabeth: »Not a postfeminism feminist«. Feminism’s third wave. In: Zwicker, Heather u. a. (Hg.): Not drowning but waving. Women, feminism and the liberal arts. Alberta 2011, S. 271–284, S. 273, S. 276. Ich verwende die Bezeichnung Erste/Zweite Frauenbewegung bzw. Second-/Third Wave Feminism, ohne die Heterogenität und Komplexität der bezeichneten Bewegungen bzw. Gruppen verdecken zu wollen.

3

Das weist womöglich schon auf eine schwindende Relevanz des Phänomens hin.

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die anhaltende Kontroverse zwischen (älteren) frauenbewegten Frauen und (jungen) (Post-)Feministinnen – die sich gerade auch um das textile Selbermachen und um die neue Häuslichkeit allgemeiner dreht. Auf Basis einiger Skandalisierungen ›weiblichen‹ Handarbeitens versuche ich schließlich, die Relevanz beziehungsweise die Reichweite der hier ins Zentrum gestellten Diskurse auszuloten.

T EXTILES   H ANDARBEITEN  UND   F RAUENBEWEGUNGEN   –   ( REVOLUTIONÄRE )   R EFERENZEN   Der Third Wave Feminism ist eine relevante Größe des diskursiven und praktischen DIY und speziell des textilen Handarbeitens. Vor allem junge Frauen entdecken das Crafting – in zwei Bereichen, die gegensätzlicher nicht sein könnten und offensichtlich dennoch Schnittmengen bilden. Altväterische Techniken textilen Handarbeitens kommen nämlich sowohl in gesellschaftspolitischem Aktionismus zum Einsatz als auch in den Sphären der New Domesticity, der sogenannten neuen Häuslichkeit. Radical Crafting ist – nicht zwingend, aber oft – feministisch ausgerichtet; jedenfalls sind in diesem Feld überwiegend Frauen aktiv, die mit gestrickten Graffiti, bestickten Bauzäunen oder umgarntem Stadtmobiliar protestieren beziehungsweise Themen wie Spekulation, Kommerzialisierung des öffentlichen Raums oder dessen Besetzung durch den KFZ-Verkehr Aufmerksamkeit verschaffen wollen. Und mitunter geht es den AktivistInnen auch dezidiert darum, lange Zeit ins Häusliche verwiesene und abgewertete Tätigkeiten öffentlich sichtbar zu machen.4 Oder das Ziel ist, eine als grau, kalt und technoide, auch als männlich empfundene (städtische) Welt zu verschönern.5 Die neue Häuslichkeit wiederum, die den freiwilligen Rückzug von gut ausgebildeten Frauen vom Arbeitsmarkt, zugunsten eines Vollzeit-Engagements als Hausfrau und Mutter beschreibt, ist eindeutig ›weiblich‹ konnotiert und wird geradezu ausschließlich von Frauen

4

Minahan, Stella/Cox, Julie Wolfram: Stitch’n Bitch. Cyberfeminism, a third place and the new materiality. In: Journal of Material Culture 12 (2007), H. 1, S. 1–21; Kuni, Verena: »Not Your Granny’s Craft«? Neue Maschen, alte Muster – Ästhetiken und Politiken von Nadelarbeit zwischen Neokonservativismus, »New Craftism« und Kunst. In: John, Jennifer/Schade, Sigrid (Hg.): Grenzgänge zwischen den Künsten. Interventionen in Gattungshierarchien und Geschlechter-Konstruktionen. Bielefeld 2008, S. 169–191.

5

Vgl. nur z. B. Moore, Mandy/Prain, Leanne: Yarn bombing. The art of crochet and knit graffiti. Vancouver 2009 (Bildband mit Anleitungscharakter).

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realisiert.6 Ihre Protagonistinnen bringen diese Idee von Häuslichkeit mit Feminismus, mehr noch mit Frauenemanzipation zusammen, was für eine rege Debatte sorgt, die massenmedial und akademisch ausgetragen wird. Der Beginn der Radical Crafting-Bewegung wird in den USA und den frühen 1990er Jahren angesiedelt. Dort propagierten zuerst Riot Grrrls unter (Wieder-) Aufnahme von Elementen der Punkkultur ein neues DIY – mit dem Ziel, die männliche Dominanz in der Musikszene zu brechen, sich selbstbewusst in anderen Bereichen von Kunst und Medien zu verwirklichen und für die Präsenz queerfeministischer Themen zu sorgen.7 Dies geschah auch unter Rückgriff auf traditionelle Techniken des textilen Handarbeitens, das damit in neue Kontexte und Verwendungszusammenhänge gestellt wurde. Stricken, Häkeln oder Sticken wurden vordem kaum mit Guerilla, Revolution oder Radikalität in Verbindung gebracht – abgesehen von den strickenden Jakobinerinnen der Französischen Revolution, wie sie vor allem durch Charles Dickens Romanfigur Madame Defarge verewigt ist. Defarge verarbeitete die Namen der hinzurichtenden AristokratInnen zu einem Strickmuster. Historisch belegt ist, dass Frauengruppen strickend die Debatten des jakobinischen Konvents hörten; angeblich plädierten sie von der Tribüne aus häufig für strenge Bestrafung. Die berufsständische Bezeichnung Tricoteuse wurde infolge auf politisch radikale Frauen allgemeiner übertragen. Wenig später, im Oktober 1793, verbannten die Revolutionäre Frauen aus den Rängen, verboten ihnen politische Versammlungen und wiesen die Strickerinnen an, bei öffentlichen Auftritten im Familienverband zu erscheinen. Anders als die Revolutionsbehörden hatten die Tricoteuses nicht nur die alte ständische Ordnung in Frage gestellt, sondern auch die Geschlechterordnung.8

6

Wenngleich der männliche Alleinverdiener im Hintergrund essenzielles Element des Konzepts ist. Aus der Fülle der (v. a. US-amerikanischen) Literatur zur New Domesticity nur z. B.: Gillis, Stacy/Hollows, Joanne (Hg.): Feminism, domesticity, and popular culture. New York 2009.

7

Zur Riot Grrrl-Bewegung Downes, Julia: Riot Grrrl. The Legacy and Contemporary Landscape of DIY-Feminist Cultural Activism. In: Monem, Nadine Käthe (Hg.): Riot grrrl. Revolution girl style now! London 2007, S. 12–49; Garrison, Ednie Kaeh: U. S. Feminism – Grrrl Style! Youth (sub)cultures and the technologics of the third wave. In: Feminist Studies 26 (2000), H. 1, S. 141–170.

8

Dickens, Charles: A Tale of Two Cities. London 1859; vgl. Gaugele, Elke: Revolutionäre Strickerinnen, Teilaktivist_innen und die Militarisierung der Wolle. Handarbeit und Feminismus in der Moderne. In: Critical Crafting Circle (Hg.): craftista! Handarbeit als Aktivismus. Mainz 2011, S. 15–28, S. 15 f., S. 27; Hassauer, Friederike: Gleich-

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Die jakobinischen Strickerinnen

Zeitgenössische Darstellung von Pierre-Etienne Lesueur, um 1793/94.

Die Craftistas oder Craftivistas, wie sich die explizit gesellschaftspolitisch ausgerichteten neuen HandarbeiterInnen nennen,9 nehmen gerne Bezug auf diese frühen radikalen Strickerinnen, obzwar ihr Engagement nicht in einer institutionalisierten politischen Öffentlichkeit stattfindet, sondern subtiler politisch (man könnte auch

berechtigung und Guillotine: Olympe de Gouges und die feministische Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution. In: Becher, Ursula A. J./Rüsen, Jörn (Hg.): Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung. Frankfurt a. M. 1988, S. 259–291. 9

Von Craftivism, einen Begriff, den Betsy Greer eingeführt hat, um die ihrer Meinung nach getrennten Sphären von crafting und activism zu verbinden; vgl. http://craftivism. com/about/craftivism-definition (Zugriff: 15.2.2015).

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sagen: diffus systemkritisch) und vergleichsweise harmlos ist. So wird etwa betont, dass Yarn Bombing nicht kriegerisch sei, sondern im Gegenteil darauf aus, Menschen ein Lächeln abzuringen. Knitted Graffiti oder Craffiti ruiniere nichts, sondern verschwinde in Bälde von selbst, indem Textiles verwittert und zerfällt.10 Die Radical Craftistas werden oft einem Third Wave Feminism zugeordnet. Die Protagonistinnen sind – zwischen angestrebter Präsenz in diversen Öffentlichkeiten und dem Sichtbarmachen von Frauen mit ihren Interessen und Aktivitäten und dem reaktionär anmutenden Trend zur neuen Häuslichkeit – schwierig zu verorten. Diese Gegensätze verschwimmen praktisch wie argumentativ11 und evozieren ihrerseits Kritik von Feministinnen, denen die Ziele der Frauenemanzipation noch in weiter Ferne scheinen.

F RAUENBEWEGUNGEN  IM   W IDERSTREIT   Die Überzeugung, dass die Situation von Frauen jeweils gesellschaftlich konstituiert und historisch wandelbar ist und Frausein weniger durch biologische Geschlechtszugehörigkeit (Sex), sondern vielmehr durch soziokulturelle Rahmungen (Gender) definiert ist, gilt als gemeinsamer Nenner der Zweiten Frauenbewegung. So lehnten und lehnen zumindest Teile dieser Bewegung das Konzept einer spezifisch ›weiblichen Eigenart‹ ab. Dennoch wurde parallel dazu auch – etwa in Protestkultur oder Kunst – nach adäquater Ausdrucksweise, Ästhetik oder Sensibilität gesucht, nicht zuletzt mit Hilfe als genuin ›weiblich‹ geltenden Techniken wie dem textilen Handarbeiten.12 Wenngleich im Fahrwasser der Hippie- und später der Ökologie-Bewegung gestrickt, gehäkelt und genäht wurde fragten viele Feministinnen der zweiten Generation, warum Frauen mit dem Strickzeug just jene

10 Im Sinne einer Anleitung dazu nur z. B. Moore/Prain: Yarn bombing 2009; ausführlich zum radikalen Potenzial von Handarbeit vgl. Langreiter, Nikola: Neues Handarbeiten – Radical? Revolutionary? Guerilla? In: Obermair, Hannes/Risse, Stephanie/ Romeo, Carlo (Hg.): Regionale Zivilgesellschaft in Bewegung/Cittadini innanzi tutto. Wien/Bozen 2012, S. 183–204. 11 Und ähnlich verwirren sich in den Publikationen, auch wenn sie als akademische angelegt sind, mitunter die Ebenen der Anleitung und der Analyse. 12 Beispiele aus dem Kunstbetrieb bei Felix, Mathilda: Nadelstiche. Sticken in der Kunst der Gegenwart. Bielefeld 2010, S. 30–67; Beispiele aus der Protestkultur Ingendahl, Gesa/Ratzeburg, Wiebke (Ltg.): Protest! Stricken, Besetzen, Blockieren in den 1970er/ 80er Jahren in Tübingen. Ausstellung, Stadtmuseum Tübingen, Februar bis Juli 2015.

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häusliche Welt mitnähmen, von der sie sich doch zu emanzipieren suchten.13 Der US-amerikanischen Feministin Betty Friedan etwa war Handarbeit als häusliche Tätigkeit eindeutiges Zeichen der Unterdrückung von Frauen: Sie beanspruche viel Zeit und bringe – wenn überhaupt – wenig Anerkennung. Handarbeit entspricht hier einer unter vielen Aufgaben, die Frauen versklavten, sie an das häusliche Umfeld bänden und mit profanen, geringgeschätzten Aktivitäten blockierten.14 Jene jungen Feministinnen, die die Nadeln wieder aufgenommen haben, rekurrieren vielfach auf Friedan, vor allem auf ihr Buch »The Feminin Mystique« (1963), und machen die Autorin des Öfteren für den Rückgang des ›weiblichen‹ Handarbeitens in den 1960er und ’70er Jahren geradezu persönlich verantwortlich.15 Darüber hinausgehend wird den Frauenbewegten der zweiten Generation die Verantwortung für frauenpolitische Rückschläge zugewiesen. Jane Railla, eine der feministischen Handarbeitsikonen und Propagandistinnen der neuen Häuslichkeit, ist überzeugt, dass gerade und insbesondere die Feministinnen mit ihrer Kritik an der Frauenarbeit selbst zu deren Abwertung beigetragen hätten.16 Ähnlich beschimpft Debbie Stoller, Herausgeberin des popfeministischen Magazins »BUST«, zugleich Autorin mehrerer Bestseller-Strick- und Häkelbücher, die Feministinnen der zweiten Generation als Antifeministinnen, die die Hand- und Hausarbeit und Hausfrauen geringschätzten: »Sie schienen zu denken, nur Dinge die Männer tun oder taten, wären erstrebenswert.«17 Über die heute wieder stickenden, strickenden, häkelnden Feministinnen schreiben Sonja Eismann und Elke Zobl, die sich selbst einer »Dritten Frauenbewegung« zuordnen:

13 Ortmann, Hedwig: Notizen zu einer Theorie der Frau (!) oder Versuch zur Beantwortung der Frage: Warum stricken Frauen? In: Backhaus, Hans-Georg u. a. (Hg.): Gesellschaft (= Beiträge zur Marxistischen Theorie 14). Frankfurt a. M. 1981, S. 248–280. Ortmann lehnt das ›weibliche‹ Handarbeiten nicht ab, sondern setzt sich differenziert mit den Beweggründen für dieses Tun auseinander. 14 Friedan, Betty: Der Weiblichkeitswahn oder Die Selbstbefreiung der Frau. Ein Emanzipationskonzept. Reinbek b. Hamburg 1966, S. 153f, S. 156 (Orig. New York 1963). 15 Turney, Joanne: The culture of knitting. Oxford/New York 2009, S. 9; Wills, Kerry: The close-knit circle. American knitters today. Westport/London 2007, S. 24; Hollows, Joanne: Feminism, femininity and popular culture. Manchester/New York 2000, S. 11–13. 16 Railla, Jane: Feminism and the new domesticity: My crafty manifesto (2004), zit. nach http://christypetterson.wordpress.com/2011/04/15/feminism-and-the-new-domesticityby-jean-railla (Zugriff: 15.2.2015). 17 Debbie Stoller zit. lt. Wills: Circle 2007, S. 50.

336   |  N IKOLA   L ANGREITER   »In Übereinstimmung mit der politischen Ideologie des Third-Wave-Feminismus, die sich für eine Dekonstruktion [...] geschlechtsspezifische[r] Abwertung stark macht, laden diese Frauen jene neue, weiblich geprägte do-it-yourself-Kultur mit ›Coolness‹ auf und reklamieren diese vehement für sich.«

18

So hört sich das ›richtig‹ an – vertraut feministisch und auch ein wenig nach Revolution und Guerilla. Die Klangfarbe der Ausgangstexte ist meist eine andere: Die schon zitierte Jane Railla propagiert in ihrem »Crafting Manifesto« die neue Häuslichkeit als kreativ, interessant und wertvoll; sich um Heim und Kinder zu kümmern sei wichtig für individuelles Glück und die Gesundheit der Gesellschaft. Die Hinwendung zu Haus- und Handarbeit habe sie vom Gefühl befreit, ein bedeutungsloses Leben zu führen. Sie verfüge nun über einfache Wege, sich und anderen ein gutes Leben zu machen.19 Die ähnlich populäre Craftivista Betsy Greer spricht vom »Hunger vieler Frauen nach Häuslichkeit«.20 In den DIYDiskursen des Third Wave-Feminismus werden mit Nadel und Faden Entspannung, Kreativität, ästhetische und sinnliche Anregung, Kontemplation, Gruppenzugehörigkeit und Anerkennung in Verbindung gebracht. Diese Bedürfnisse, so heißt es, wurden von den heute jungen Frauen lange unterdrückt, weil sie ihre Energie darauf konzentrierten, als Superwomen die unerfüllbaren Träume ihrer Mütter zu realisieren: tolle Karrieren, glückliche Familien, schöne Körper und positive Selbstbilder zugleich in sich zu vereinen.21 Dem alten »Opferfeminismus«,22 der auf sexuelle Unterdrückung in heterosexuellen Beziehungen fokussiert sei, alle Frauen gleich mache und Menschen anderer Identitäten ausschließe, wird – zumindest rhetorisch – ein neuer, offener, inklusiver »Power Feminismus«23 als

18 Eismann, Sonja/Zobl, Elke: Radical Crafting, DIY-Aktivismus & Gender Politiken. Einleitung. In: Critical Crafting Circle: Craftista 2011, S. 188–197, S. 189. 19 Railla: Feminism 2004. 20 Greer, Betsy: Knitting for good! A guide to creating personal, social and political change, stitch by stich. Boston/London 2008, S. 18; vgl. Gaugele: Strickerinnen 2011, S. 28. 21 Wills: Circle 2007, S. 57–59. 22 Bulbeck, Chilla: »You learn about feminists but they’re all like years old«: Young women’s views of feminism and women’s history. In: Outskirts online journal, 25 (2011), http://www.outskirts.arts.uwa.edu.au/volumes/volume-25/chilla-bulbeck (Zugriff: 15.2.2015). 23 U. a. breitenwirksam propagiert von Wolf, Naomi: Fire with fire: The new femal power and how it will change the 21st century. New York 1993.

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attraktive Alternative gegenübergestellt. Vertreterinnen der Zweiten Frauenbewegung wiederum nennen das Post- oder Lifestyle-Feminismus und unterstellen den Third Wave-Feministinnen, apolitisch oder rückwärtsgewandt und konservativ zu sein. Parallel zu Neokonservativismus und Retraditionalisierung, kritisieren sie, gälten feministische Anliegen und Ziele als irrelevant, würde so getan, als sei Gleichberechtigung eingetreten. Die Girls von heute glaubten, beobachtet die Kulturwissenschaftlerin und Feministin Angela McRobbie, dass sie jegliche Wahlfreiheit hätten und dächten, sie könnten sich vom abgetakelten, ästhetisch abstoßenden, schrillen Feminismus und seinen verbitterten, faltig gewordenen Vertreterinnen verabschieden.24 Umdeutungen   Distanziertere Interpretationen versuchen, das neue Handarbeiten irgendwo zwischen Gruppen- und Protest- beziehungsweise Technikkultur einzuordnen. Die intensive Nutzung des Internet wird als geschlechtsspezifische Technikaneignung beschrieben, parallel das intensive Handarbeiten zur subversiven analogen Reaktion auf die allumfassende Digitalisierung erklärt. Virtuelle oder physische Zusammenkünfte, um – durchaus unter Bezugnahme auf die Handarbeitskränzchen der 1950er Jahre – gemeinsam zu handarbeiten wird als spielerischer und ironischer Umgang mit Zeit, Raum und Geschlecht gedeutet. Mit Treffen an öffentlichen Orten – Cafes, Pubs, Galerien, Museen, Parks –, wählten die neuen Handarbeitsgruppen (Stitch’nBitch, Chicks with Sticks) gezielt Räume, die das Konzept von textiler Handarbeit als Frauenarbeit herausforderten.25 Mit ihren historischen Referenzen würden die Frauen vielmehr Nostalgie parodieren, denn in

24 McRobbie, Angela: Top Girls. Feminismus und der Aufstieg des neoliberalen Geschlechterregimes (= Geschlecht & Gesellschaft 44). Wiesbaden 2010 (Orig. London u. a. 2008), S. 202–205, vgl. auch S. 89, S. 95. Andere sehen im sog. Girlie-Feminismus, der reklamiert, stylish und sexy zu sein und feministische Politik als Ensemble von individuellen Lebensstil-Fragen definiert, nur als eine Facette der feministischen Praxis dritter Generation; vgl. Groeneveld, Elizabeth: »Be a feminist or just dress like one«: BUST, fashion and feminism as a lifestyle. In: Journal of Gender Studies 18 (2009), H. 2, S. 179–190. 25 Turney: Culture 2009, S. 144f; Kuni: Granny’s 2008, S. 183; Pentney, Beth Ann: Feminism, activism, and knitting: Are the fibre arts a viable mode for feminist political action? In: Thirdspace: A Journal of Feminist Theory and Culture 8 (2008), H. 1, S. 1–15, http://journals.sfu.ca/thirdspace/index.php/journal/article/viewArticle/pentney/210 (Zugriff: 15.2.2015); Minahan/Cox: Stitch’n Bitch 2007, S. 7, S. 14.

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eine Vergangenheit zurückkehren wollen, die so – das sei allen klar – niemals existierte.26 Der Mythos der glücklichen Hausfrau werde als Mythos verstanden und die Neo-Häuslichkeit unterscheide sich wesentlich von der Häuslichkeit, wie sie die Second Wave-Feministinnen kritisierten.27 In der Praxis ist ein Etikettieren als ›neu‹, ›offen‹ und ›inklusiv‹ oder ein gänzliches Umkodieren mit Schwierigkeiten verbunden. Insbesondere der Einsatz von Ironie scheint zweischneidig – sie transportiert auch die originäre Botschaft und riskiert deren Affirmation: In einem ihrer Handarbeitsbücher veröffentlichte Debbie Stoller die Strickanleitung für ein Top mit dem sogenannten »Mudflap Girl«, einem auf dem Spritzschutz amerikanischer LKWs weitverbreiteten Motiv. Es zeigt die Silhouette einer nackten Frau, die sich sitzend auf ihre Hände gestützt lasziv zurücklehnt und das lange Haar im Wind flattern lässt. Interpretation des Mudflap Girl

Foto: svilentsun, Flicker, https://www.flickr.com/ photos/@N00/1490789535 (Zugriff: 15.2.2015).

Die Publikation dieses Designs löste eine energische Debatte um die Möglichkeiten und Grenzen der feministischen Aneignung und Neuinterpretation sexistischer

26 Minahan/Cox: Stitch’n Bitch 2007, S. 17. 27 Groeneveld, Elizabeth: Crafting public cultures in feminist periodicals. In: Schreiber, Rachel (Hg.): Modern print activism in the United States. Farnham/Burlington 2013, S. 205–220, S. 218.

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Genrebilder aus. Dachten die einen, der Symbolcharakter der Abbildung sei strickend zu verändern, warnten die anderen, dass solcherart Revision von Bedeutung unmöglich sei. Ironie suggeriere immer Komplizenschaft und Distanz, so Elizabeth Groeneveld und fragt, wie mit dieser Doppelstimmigkeit umzugehen sei.28

H ISTORISCHE   P ERSPEKTIVIERUNGEN   Hier soll nicht Frauenbewegungsgeschichte erzählt werden, historische Schlaglichter können jedoch zum Verstehen der zeitgenössischen Auseinandersetzungen zwischen (feministischen) AktivistInnen unterschiedlichen Hintergrunds, politischer Ausrichtung und theoretischer Prägung beitragen. Bereits für die Erste Frauenbewegung stellte textiles Handarbeiten ein zwiespältiges Thema dar. Zum einen evozierte dessen undefinierbare Position – zwischen verdeckter, auch verheimlichter Einnahmequelle des bürgerlichen Haushalts (»Nadelgeld«29) und erzwungenem ›Müßiggang‹ junger Frauen aus wohlhabenden Kreisen – Widerstand.30 Zum anderen schätzten frauenbewegte Vereine und Organisationen textile Handarbeit als Weg, sozial, kulturell und ökonomisch zu partizipieren.31 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, schreibt die Historikerin Martina Kessel, wurde Handarbeiten innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung zum Politikum. Die Kritik der geistlosen und zugleich ästhetisierenden Frauen-Handarbeit gehörte zu den Standardthemen von Frauenrechtlerinnen. Sie bemängelten, dass die Handarbeit nur die Zeit des Wartens auf den Ehemann ausfüllen sollte oder, wie erwähnt, zum Familienunterhalt beitrug, ohne dass die Erwerbsarbeit der Frauen sichtbar werden durfte.32 »Wenn ein Mädchen nicht weiß, was es thun soll, so

28 Groeneveld: Feminist 2009, S. 187; zur Debatte um die »Mudflap Girl«-Anleitung vgl. auch Wills: Circle 2007, S. 52 f. 29 Ladj-Teichmann, Dagmar: Erziehung zur Weiblichkeit durch Textilarbeiten. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Frauenbildung im 19. Jahrhundert. Weinheim/Basel 1983, S. 172–190. 30 Ehrmann-Köpke, Bärbel: »Demonstrativer Müßiggang« oder »rastlose Tätigkeit«? Handarbeitende Frauen im hansestädtischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Münster 2010, S. 274–280. 31 Und nicht zuletzt demonstrierten sie für ihre Anliegen mit handgearbeiteten Bannern und Spruchbändern Gaugele: Strickerinnen 2011, S. 20 f. 32 Kessel, Martina: Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Göttingen 2001, S. 117. Kriterium für die Bürgerlichkeit der Hausfrau ist, ob sie die Hausarbeiten an DienstbotInnen übertragen

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schneidet es ein Loch in die Schürze und flickt es wieder zu.«33 Dieses Sprichwort spielt auf eine soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklung an, die in die bürgerliche und weit über das Bürgertum hinaus wirksame Geschlechterideologie des 19. Jahrhunderts mündet. Es legt auch nahe, dass es bei diesem Tun um eine Performanz ›des Weiblichen‹ geht. Textile Materialien und deren Verarbeitungstechniken wurden diesem ›Weiblichen‹ zugeschrieben; die damit verbundene Frauenarbeit wurde abgewertet und insbesondere Hausarbeit zur Arbeit aus Liebe erklärt.34 Das Nadelwerk war ebenso fester Bestandteil der Hausarbeitsökonomie wie des Einübens traditioneller (Geschlechter-)Rollen. Wobei die bürgerliche »Handarbeits-Manie«35 durchaus emanzipatorisches Potenzial barg – etwa als Gelegenheit zum Rückzug und zur Tagträumerei oder des Zusammentreffens mit anderen Frauen außer Haus.36 Diskurse rund um neues DIY nehmen vielfach auf historisches textiles Handarbeiten Bezug und beschreiben es als politisch und als Politikum. Auf Wirtschaftspolitisches wird jedoch kaum rekurriert; rezente Debatten um neues, womöglich radikales Handarbeiten und die sogenannte neue Häuslichkeit ignorieren diesen Aspekt weitgehend. Dabei wurde das ›weibliche‹ Handarbeiten in unterschiedlichen Kontexten als ökonomisch relevant und regelungsbedürftig eingeschätzt, zumal in dessen Auswirkungen auf geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und den Effekten auf die Geschlechterverhältnisse darüber hinaus. Häufig werden die Konjunkturen des textilen Handarbeitens (wie jene des Heimwerkens) in der Literatur dargestellt; ihr Beginn als DIY-Phänomen wird zwischen 1850 und 1870 angesiedelt.37 Das ›weibliche‹ Handarbeiten und das ›männlich‹ konnotierte

und körperliche Arbeit damit verdrängen konnte; Weber-Kellermann, Ingeborg: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte. Frankfurt a. M. 1975 (2.), S. 118. 33 Ehrmann-Köpke: Müßiggang 2010, S. 40. 34 Duden, Barbara/Bock, Gisela: Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus. In: Gruppe Berliner Dozentinnen: Frauen und Wissenschaft. Berlin 1977, S. 118–199; Saurer, Edith: Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Wien u. a. 2014, v. a. S. 7–20. 35 Freiß, Lisbeth: Handarbeitsanleitungen als Massenmedien. D.I.Y. und Weiblichkeit im 19. Jahrhundert. In: Critical Crafting Circle: Craftista 2011, S. 29–42, S. 30 f. 36 Ebd., S. 34–36. 37 Als erste Erwähnung von DIY gilt: Winslow, Garrett: Practical Decoration for the Home Interior. In: Suburban Life 15 (1912), Oct., S. 187. Gängig wurde der Begriff in den 1950er Jahren. Gelber, Steven M.: Do-it-yourself: Constructing, repairing and maintaining domestic masculinity. In: American Quarterly 49 (1997), H. 1, S. 66–112, S. 97.

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Heimwerken wurden in dieser Epoche durch zahlreiche neue Zeitschriften befeuert und im Verein mit den Schulen durch die Volkskunst- und Arts and CraftsBewegungen propagiert.38 Schlüssige Interpretationen des frühen DIY bringt das Zusammendenken des Selbermachens mit soziokulturellen und soziopolitischen Situationen des jeweiligen historischen Zeitraums hervor, insbesondere, wenn – in Kombination mit den ökonomischen Hintergründen – die je gängigen beziehungsweise umstrittenen Geschlechterrollenbilder einbezogen werden. Ungeachtet des Wandels von Konzepten und Motiven scheinen Werkzeuge und Ressourcen (wie Nadel und Faden) – je nach Konjunktur akzeptiert oder abgelehnt – verlässliche Ressourcen der Identitätsstiftung.39 Die Lesarten gehen weit auseinander: Während viele AutorInnen für die 1980er Jahre diagnostizieren, dass Handarbeiten und Heimwerken definitiv nicht mehr modern seien,40 fragen die deutschen KultursoziologInnen Ronald Hitzler und Anne Honer bereits, ob die nachindustrielle Gesellschaft auf dem Weg in die DIY-Gesellschaft sei. Zum einen ließe sich die Tendenz beobachten, die Produktion von Dienstleistungen und Waren an die KonsumentInnen zu delegieren; zum anderen beschreiben die beiden das Heimwerken – das textile Handarbeiten wird oft ähnlich charakterisiert – als (selbst-)therapeutische Maßnahme: »Heimwerken ist, bei aller objektiven Fremdbestimmtheit durch profitorientierte Warenästhetik, eine Form der Repräsentation und Realisation subjektiver Bedürfnisse, Wünsche und Interessen und – als eine Form der individuellen Reaktion auf soziohistorisch gegebene, individuell ›undurchsichtige‹ Mega-Strukturen – vielleicht sogar so etwas wie ein – notwendigerweise ›privater‹ – Versuch, eine heil-los [sic] zersprungene Welt ganz handfest und im Wortsinne zu reparieren.«41

38 Gelber: Do-it-yourself 1997, S. 74f; Freiß: Handarbeitsanleitungen 2011, S. 33. 39 Gelber: Do-it-yourself 1997, S. 90. 40 Die Einschätzungen liegen hier weit auseinander: Einen Strick-Boom in den 1980er Jahren in Deutschland beobachtet etwa Greiner, Sylvia: Kulturphänomen Stricken. Das Handstricken im sozialgeschichtlichen Kontext. Weinstadt 2011 (2.), S. 124; für die US-amerikanische Autorin Kerry Wills dauert die Flaute vom Absturz in den frühen 1960er Jahren und kurzem Aufwind in den späten ’70ern bis Mitte/Ende der 1990er Jahre; Wills: Circle 2007, S. 24; vgl. auch Turney: Culture 2009, S. 10. 41 Hitzler, Ronald/Honer, Anne: Reparatur und Repräsentation. Zur Inszenierung des Alltags durch Do-It-Yourself. In: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Kultur und Alltag (= Soziale Welt Sonderbd. 6). Göttingen 1988, S. 267–283, S. 280; vgl. S. 277.

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U NGEBROCHENE   A MBIVALENZEN   Solcherart Selbstverantwortung und Sorge um sich ist heute gesellschaftlich geforderter denn je.42 Und doch irritieren handarbeitende Frauen, nicht nur die als ›alte Schule‹ abgekanzelten Feministinnen: Als die australische Premierministerin Julia Gillard sich 2013 für eine Frauenzeitschrift strickend fotografieren ließ, löste das eine breite öffentliche Diskussion aus. Erregung erzeugte nicht nur, dass die Politikerin erzählte, für das im britischen Königshaus erwartete Baby zu stricken (ein Känguru), sondern offensichtlich war ihr Stricken auch für sich genommen schon anstößig. Skandalös strickend – die australische Premierministerin Julia Gillard

Foto: Grant Matthews, The Australian Women’s Weekly.

42 llouz, Eva: Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Frankfurt a. M. 2009 (Orig. Berkeley, Cal. 2008); Mixa, Elisabeth u. a. (Hg.): Un-Wohl-Gefühle. Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten. Bielefeld 2016.

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Gillards Darstellung wurde als ›inauthentisch‹ kritisiert, man wunderte sich über das Zeitbudget der Ministerin. Sich so ablichten zu lassen, hieß es, sei würdelos, desavouiere jeglichen Autoritätsanspruch und leiste dem Sexismus Vorschub. Die politische Opposition machte sich lustig und zum Teil reagierten auch australische Feministinnen mit hämischen Kommentaren. Bis dato hatte die Politikerin sich gegen feminine Repräsentationen verwehrt; 2005 war sie – nachdem ein Foto sie in ihrer spartanischen Küche mit einer leeren Obstschüssel auf dem Tisch gezeigt hatte – für mangelnde Häuslichkeit kritisiert worden. Im Zuge des Posierens für die Strick-Fotos soll die Premierministerin bemerkt haben: »[T]his feels slightly absurd«.43 Was zeigt dieses Beispiel, abgesehen davon, dass die Premierministerin womöglich auf ihr Gefühl hören hätte sollen, Politikerinnen es insgesamt schwer haben und Imageberatung eine diffizile Angelegenheit ist? Es macht deutlich, wie emotional aufgeladen ›weibliches‹ Handarbeiten ist und wie präsent negative Attribuierungen sind – ungeachtet des seit einigen Jahren anhaltenden Booms textiler Handarbeit und der intensiven medialen Propagierung. Als offensichtlich nach wie vor eindeutig ›weiblich‹ konnotierte Tätigkeit scheint Stricken inkompatibel mit extrafamilialer Verantwortung, Autorität, Macht. Und die Arbeit mit Nadel und Faden scheint nach wie vor nicht öffentlichkeitsfähig, vielmehr etwas höchst Privates, ja Intimes zu sein, das zu Hause verborgen bleiben soll. In den letzten Jahrzehnten wurde das textile Handarbeiten in westlichen Kulturen eher mit überkommenen Rollenbildern, patriarchalen Vorstellungen von Arbeit und Gesellschaft und muffiger (Klein-)Bürgerlichkeit assoziiert: ›Weibliches‹ Handarbeiten galt als Mittel und Ausdruck systemerhaltenden Tuns – gestrickt wurde für die Soldaten, das langwierige Dekorieren und Personalisieren der Aussteuer hielt junge Frauen zuhause und beschäftigt, das aufwendige, niemals endende Nähen, Flicken und Stricken im sparsamen Nachkriegshaushalt raubte den Hausfrauen und Familienmüttern die letzten Reste an Energie und erstickte ihr Interesse am außerhäuslichen, gesellschaftlichen und politischen Geschehen – und es erstickte, wie Dagmar Ladj-Teichmanns Analyse nahe legt, womöglich ihren

43 Davidson, Helen: Photoshoot row: Julia Gillard ridiculed for knitting royal baby kangaroo. In: The Guardian, 25.6.2013, http://www.theguardian.com/world/2013/jun/25/ gillard-ridiculed-knitting-royal-kangaroo; vgl. Gray, Amy: Julia Gillard: damned if she knits, damned if she doesn’t. In: The Guardian, 25.6.2013, http://www.theguardian.com/ commentisfree/2013/jun/25/julia-gillard-knitting; Pearlman, Jonathan: Julia Gillard in ›absurd‹ Royal Baby knitting photo shoot. In: The Telegraph, 25.6.2013, http://www.tele graph.co.uk/news/worldnews/australiaandthepacific/aus... (Zugriff: 15.2.2015).

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Verstand.44 Der szenespezifische und breite mediale Rummel hat offensichtlich noch nicht die allgemeine Umdeutung und neue Wertschätzung des textilen Handarbeitens bewirkt. Die Handarbeitshistorikerinnen und DIY-affinen Third WaveFeministinnen schreiben dies vielfach en gros den Protagonistinnen der Zweiten Frauenbewegung zu und machen sie verantwortlich für das lange Zwischentief des textilen Handarbeitens. So heißt es etwa in Joanne Turneys »The Culture of Knitting«, dass das Stricken unter dem Einfluss der Zweiten Frauenbewegung als Ausdruck von Konformität und Unterwürfigkeit aufgefasst und verhöhnt wurde.45 Doch eine nachhaltig ›weiblich‹ attribuierte,46 anmutige Technik wie das textile Handarbeiten feministisch umdeuten zu wollen, ist riskant. Die starke tradierte Erwartungshaltung legt eine Affirmation von Weiblichkeit, Hausfleiß und spezifischer Tugendhaftigkeit nahe.47 Unmöglich scheint, im Zuge einer Umdeutung das Traditionelle, die Häuslichkeit und ›Weiblichkeit‹ zu ›umarmen‹. Hier ist Zustimmung von der ›falschen Seite‹ garantiert. Wird darauf hingewiesen, fallen mitunter harte Worte. Wenn sich zum Beispiel eine Autorin mit spitzer Feder auf dem Blog der Frauenzeitschrift »Brigitte« über den aktuellen DIY-Boom äußert und ihn mit kindischem Narzissmus, Retraditionalisierung und Antifeminismus in Verbindung bringt, dann kommentieren das ebendort über 1.000 Frauen, sind so beleidigt und beleidigend, wütend und untergriffig, dass man Angst kriegen könnte vor Nadel und Faden.48 So sehr Third Wave-Feministinnen den ironischen Blick auf kulturelle Ausdrucksformen und gesellschaftliche Gegebenheiten propagieren und für sich in Anspruch nehmen, so wenig geübt scheinen sie in Selbstironie. Der kritische Blick gilt in erster Linie den anderen (frauenbewegten) Frauen und abweichenden femi-

44 Ladj-Teichmann: Erziehung 1983, insb. S. 201–217. 45 Turney: Culture 2009, S. 183. Abseits des Mainstream begründen die Australierinnen Stella Minahan und Julie Wolfram Cox die zwischenzeitliche Geringschätzung der (›weiblichen‹) Handarbeit in vielen Kulturen damit, dass Handarbeit als plebejisch galt. Was wiederum die Abwertung körperlicher Arbeit reflektiere; Minahan/Cox: Stitch’n Bitch 2007, S. 11. 46 Ungeachtet der Geschichte der ehedem zunftgebundenen einschlägigen Handwerke oder des – vergleichsweise späten – Pionierwerks von Fougner, Dave: The manly art of knitting. Berkeley 2014 (Orig. 1972). 47 Kuni: Granny’s 2008, S. 174. 48 Fuhljahn, Heide: »Hilfe, ein Häkeldiplom!« Oder warum der DIY-Trend ein Ende haben muss. In: Brigitte Stimmen, www.brigitte.de/frauen/stimmen/diy-trend-1216100 (Zugriff: 15.2.2015).

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nistischen Diskursen. Die Szene, die so üppig mit soften Materialien hantiert, äußert sich gern in Form von Manifesten und definiert, was das neue DIY sein soll: das ganz Andere – Ausdrucksform zeitgemäßen Frauseins, Strategie eines neuen Feminismus, auch von Konsum- und Kapitalismuskritik oder gelebter Nachhaltigkeit. Wie zeitgenössische DIY-Aktivitäten allgemein ist textiles Handarbeiten inhaltlich widersprüchlich. Es ist eine Freizeitbeschäftigung, geschieht freiwillig und selbstbestimmt, ist aber zugleich eine arbeitsähnliche, wertschöpfende Tätigkeit. Es gilt als identitätsstiftend und geeignet, Individualität zu kommunizieren. Als manuelle Arbeit legt es ein Anknüpfen an historische Praktiken und Traditionen nahe, zugleich kreiert es als Praxis eine je zeitgemäße stereotype Geschlechteridentität. Ungeachtet der Versuche, das zeitgenössische ›weibliche‹ Handarbeiten als ›neu‹ zu definieren, bleiben familiäre, ästhetische, kulturelle und politische Verbindungen und Bedeutungen bestehen. Seine Geschichte wird das Handarbeiten ohnehin nicht los. Und ähnlich gilt das auch für seine wirtschaftliche Konnotation: Es entstehen Dinge mit ökonomischem Wert, aber die Erzeugnisse können Mengen an Zeit und Geld kosten, die diesen Wert deutlich übersteigen. Im allgemeinen Hype um Handarbeit geht eher unter, dass hier – auch in als feministisch und/oder alternativ deklarierten Kontexten – nicht zuletzt erworben und konsumiert werden soll und wird.49 DIY-Aktivitäten scheinen unspektakulär, gewöhnlich und belanglos – aber bei genauerem Hinsehen erweisen sie sich als schillernde Praktiken »zwischen Konvention und Innovation, zwischen Mimesis und Poiesis, zwischen Monotonie und Orgiasmus«.50 Die zeitgenössischen Varianten des Selbermachens sind Ausdrucksformen allgemeinerer sozialer, kultureller, politischer und ökonomischer Entwicklungen und Probleme. Die Legitimationen und Gratifikationen sind vielfältig – und erlauben Menschen, abhängig von ihren Lebensumständen – Heimwerken und Handarbeiten als nützlich, sinnvoll, kreativ, entspannend, therapeutisch oder kompensatorisch zu rationalisieren. Handarbeit gilt heute als sozial verantwortlich, ökologisch nachhaltig und vor allem kreativ, emanzipatorisch, eigenwillig und individuell. Es wird nicht nur als Produktions-, sondern umfassender als Lebensweise begriffen. Diese Lebensweise wird weit über die Handmade-Nischenökonomie hinaus kommerzialisiert und spiegelt viele der herrschenden Ordnungen wider – nicht zuletzt jene der Geschlechter.

49 Auerbach, Lisa Anne: d. d. i. y. Don’t Do It Yourself. In: Journal of Aesthetics & Protest 6 (2008), www.joaap.org/6/lovetowe/lisa.html (Zugriff: 12.1.2015). 50 Hitzler/Honer: Reparatur 1988, S. 274.

Autorinnen  und  Autoren  

Bellwald, Werner hat Europäische Ethnologie und Geschichte in Basel, Wien, Aix-en-Provence und Freiburg (D) studiert. Er arbeitet heute als freiberuflicher Kulturwissenschaftler und Ausstellungsmacher. Bellwald ist Kurator und wissenschaftlicher Leiter der La Caverna/Museumszentrum Oberwallis. Unter anderem hat er in Ried (Lötschental) das erste Schweizerische Sperrmüllmuseum aufgebaut. Eugster, Benjamin, hat in Zürich und Prag Populäre Kulturen, Filmwissenschaft und Slawistik studiert. Er ist Assistent im Bereich Bildungstechnologien an der Universität Basel und E-Learning Koordinator für den Studiengang Populäre Kulturen an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf Mediendidaktik, Medienaneignung sowie auf digitalen Amateur- und Unterhaltungskulturen. Fenske, Michaela hat Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Geschichte sowie Wirtschafts- und Sozialgeschichte studiert. Sie ist derzeit als Heisenbergstipendiatin der Deutschen Forschungsgemeinschaft dem Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin assoziiert. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderen Anthropologie des Politischen bzw. Politische Kulturgeschichte, Ökonomie des Alltags, Wissensforschung, Food Studies, Anthropologie des Ländlichen und Anthropology beyond humanity/Multispecies Ethnography/Human-Animal Studies – sowohl in historischer als in gegenwärtiger Perspektive. Freiß, Lisbeth ist Mitglied des Critical Crafting Circle und arbeitet als Senior Scientist an der Akademie der bildenden Künste Wien am Institut für das künstlerische Lehramt/Moden und Styles – Textiles Gestalten. Ihre Schwerpunkte in

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Lehre und Forschung sind Mode, Handarbeit und Subjektkonstitution aus der Perspektive kritischer Studien. Fuchs, Bernhard ist Assistenzprofessor am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Er forscht und lehrt zu Ethnizität und Ökonomie, Migration, Stereotypen und Minderheiten – unter anderem am Beispiel von Bollywood. Hackenschmidt, Sebastian hat Kunstgeschichte und Germanistik in Hamburg und Wien studiert. Seit 2005 ist er Kustos für Möbel und Holzarbeiten am MAK – Österreichisches Museum für angewandte Kunst/Gegenwartskunst in Wien. 2013 war er ebendort für die Ausstellung »Nomadic Furniture 3.0« über DIYMöbelbau mitverantwortlich. Hörz, Peter F. N. hat Empirische Kulturwissenschaft/Volkskunde, Erziehungswissenschaft und Sozialgeschichte an den Universitäten Tübingen und Wien studiert. Er arbeitete als Auftragsforscher, in der Unternehmensberatung und an den Universitäten Bamberg, Bonn und Göttingen. Zu seinen Schwerpunkten gehören Arbeit und Ökonomie, Mobilität/Verkehr, Erinnerungskulturen, jüdische Kultur sowie Geschlechterforschung. Kreis, Reinhild hat Geschichte und Neuere Deutsche Literatur in München und Galway studiert. Nach Stationen als Visiting Fellow in Washington, D. C. und Wien ist sie seit 2014 Akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. Sie arbeitet zu Konsum- und Protestgeschichte, zu Emotionen, zur Geschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert sowie zur Geschichte der transatlantischen Beziehungen. Kuhn, Konrad J. hat Allgemeine Geschichte, Volkskunde und Schweizergeschichte in Zürich studiert. Seit 2012 ist er wissenschaftlicher Assistent am Seminar für Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der Universität Basel. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören die Wissensgeschichte der Volkskunde/Kulturwissenschaft, die Ritual- und Brauchforschung und die populärer Geschichts- und Erinnerungskultur. Langreiter, Nikola hat Europäische Ethnologie und Publizistik/Kommunikationswissenschaft in Wien studiert. Nach Zwischenstationen an den Universitäten Wien und Innsbruck arbeitet sie als freie Kulturwissenschaftlerin – insbesondere zu Tourismus-, Wissenschafts- sowie Biografieforschung – und betreibt das Textbüro »Wortstellerei« in Lustenau, Österreich.

A UTORINNEN  UND   A UTOREN   |   349  

Löffler, Klara hat 1996 in Tübingen in Empirischer Kulturwissenschaft promoviert und 2001 in Wien in Europäischer Ethnologie habilitiert. Seitdem lehrt sie als außerordentliche Universitätsprofessorin am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Freizeit- und Tourismusforschung, Biografieforschung und Erinnerungskulturen, Erforschung materieller und visueller Kulturen, Fragen der Medienwirkung und des Mediengebrauchs, Fragen des ethnografischen Forschens und Schreibens. Peper, Ines hat in Wien und Graz Geschichte und Kunstgeschichte studiert. Von 2008 bis 2016 war sie als Projektmitarbeiterin und Lektorin an der Universität Wien beschäftigt; derzeit ist Peper Forschungsstipendiatin der Gerda Henkel-Stiftung. Zu ihren Schwerpunkten gehören interkonfessionelle Beziehungen in der Frühen Neuzeit, höfische und gelehrte Netzwerke sowie die Geschichte internationaler Gemeinschaften. Schönholz, Christian hat Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft, Kunstgeschichte und Soziologie in Marburg studiert. Seit 2012 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Institut für Europäische Ethnologie/Kulturwissenschaft. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind Fach- und Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde und ihrer benachbarten Disziplinen, kulturwissenschaftliche Technikforschung und die Digitalisierung des Alltags. Schwarz, Richard hat Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck sowie Art & Science an der Universität für Angewandte Kunst in Wien studiert. Er lebt als freier Künstler und Kulturanthropologe in Tirol. Informationen zu seinen Arbeiten finden sich unter: islandrabe.com Stickel, Oliver hat Angewandte Kognitions- und Medienwissenschaften in Duisburg und Human Computer Interaction in Siegen studiert. Sein Forschungsinteresse gilt Grassroots- oder Bottom-up-Phänomenen sowie deren Unterstützung durch Informationstechnologie. Er ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Computergestützte Gruppenarbeit und soziale Medien an der Universität Siegen und maßgeblich beteiligt am Aufbau des Fab Lab Siegen. Voges, Jonathan hat Geschichte und Germanistik an der Leibniz Universität Hannover und der Washington University St. Louis studiert. Er ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar in Hannover und forscht insbe-

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sondere zu europäischer Zeitgeschichte der 1970er und ’80er Jahre, zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des 20. Jahrhunderts, zu Erinnerungskulturen und Konsumgeschichte/Geschichte der Konsumkritik. Windmüller, Sonja hat Europäische Ethnologie/Volkskunde und Germanistik in Marburg und Wien studiert. Sie war von 2006–2012 Juniorprofessorin für Volkskunde/Kulturanthropologie an der Universität Hamburg und 2013/14 Forschungsstipendiatin der Isa Lohmann-Siems Stiftung mit einem Projekt zu urbanen Paraden und der Raumproduktion über physische Bewegung. Aktuell arbeitet Windmüller zu »Rhythmen (in) der Ökonomie«. Ihre Forschungsschwerpunkte sind materielle Kultur und Moderne, Abfallforschung, Bewegungs- und Rhythmusforschung sowie Kultur(en) der Ökonomie.

Design bei transcript Claudia Banz (Hg.)

Social Design Gestalten für die Transformation der Gesellschaft

August 2016, 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 E, ISBN 978-3-8376-3068-8, E-Book: 26,99 E Kann man Gesellschaft durch Gestaltung transformieren? Welche Optionen besitzen die Designer und welche Verantwortung tragen sie? Welche Diskurse werden um die Erweiterung des Designbegriffs geführt und wie sieht die Zukunft des Designs aus? Designer, Design- und Kulturwissenschaftler, Kuratoren und Hochschullehrer fokussieren und hinterfragen das aktuelle Phänomen des Social Design. Die Beiträge untersuchen aus transdisziplinärer Perspektive die soziokulturelle Relevanz sowie das transformative Potenzial von Social Design und formulieren eine Agenda für die Designer von morgen. »Lesenswert nicht nur für Designer und Agenturmitarbeiter [...], sondern auch für jene Stiftungen, die eng mit externen Graphikern und Agenturen zusammenarbeiten.« Ulrich Brömmling, StiftungsManager, 48 (2017)

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Zeitdiagnosen bei transcript Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer

Andere Märkte Zur Architektur der informellen Ökonomie

Oktober 2016, 196 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 27,99 E, ISBN 978-3-8376-3597-3, E-Book: 24,99 E Weltweit gesehen gilt die Hälfte aller ökonomischen Aktivitäten als informell. In Zeiten der globalen Unsicherheit wird heute immer mehr darauf gesetzt, die produktive Energie von Informalität zu integrieren, um wirtschaftliches Wachstum und sozialen Zusammenhalt abzusichern. Informelle Marktplätze und die zahlreichen Konflikte rund um deren Räume und Konventionen bilden sowohl Schauplatz als auch Steuerungsmoment dieser Entwicklung. Von Märkten der Überlebensökonomie bis zum inszenierten ökonomischen Anderssein spürt dieses Buch den Diskursen und Akteuren, Widersprüchen und Potenzialen nach, die neue Formen von Informalität vorantreiben.

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