Medienrhetorik des Fernsehens: Begriffe und Konzepte [1. Aufl.] 9783839425879

How does the television persuade? What is its communicative potential? This volume takes a completely new rhetoric-theor

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Medienrhetorik des Fernsehens: Begriffe und Konzepte [1. Aufl.]
 9783839425879

Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einleitung
1. Mediale Performanzdimension
2. Textuelle Dimension
3. Adressatenorientierte Dimension
QUOTE
REALITY TV
UMSCHALTEN
UNTERHALTUNG
ZERSTREUUNG

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Anne Ulrich • Joachim Knape Medienrhetorik des Fernsehens

Edition Medienwissenschaft

2014-10-27 14-47-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0310380828044280|(S.

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Momos in memoriam

Anne Ulrich (Dr. phil.) lehrt Rhetorik an der Universität Tübingen. Joachim Knape (Prof. Dr.) ist Rhetorikprofessor an der Universität Tübingen. Ihre Forschungen beschäftigen sich mit Schnittstellen von Rhetorik, Text-, Medien- und Kommunikationswissenschaft u.a. am Beispiel des Fernsehens, der Visualität, der Massenpublizistik und dem Begriff der Wirkung.

2014-10-27 14-47-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0310380828044280|(S.

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Anne Ulrich • Joachim Knape

Medienrhetorik des Fernsehens Begriffe und Konzepte

2014-10-27 14-47-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0310380828044280|(S.

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Projekt und Drucklegung wurden gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Rhetorikforum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Anne Ulrich, Joachim Knape Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2587-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2587-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-10-27 14-47-26 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0310380828044280|(S.

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Vorwort

Die private Internetnutzung kommt einer aktuellen Studie zufolge auch weiterhin um Längen nicht an die durchschnittliche Zeit heran, die die Menschen in Deutschland vor dem Fernseher verbringen. Die im Netz verbrachte Zeit stieg demnach zwar von rund 50 Minuten pro Tag im Jahr 2008 auf aktuell 80 Minuten, ermittelte das Marktforschungsinstitut TNS Infratest, in allen Altersgruppen sehen die Befragten nach eigener Einschätzung aber seit Längerem konstant um die 160 Minuten pro Tag fern. (DPA, 28. AUGUST 2013)

Fernsehnutzung ist, wie man sieht, nach wie vor etwas ganz Alltägliches und keineswegs vollkommen auf dem Rückzug. Andere Quellen sprechen sogar von 220 Minuten, die die Deutschen pro Tag fernsehen. Dieses Buch beschäftigt sich mit diesem alltäglichen Phänomen jedoch aus einer ungewöhnlichen Perspektive und hält daher für Fernsehinteressierte manche Überraschung bereit. Das gilt vor allem für den rhetorischen Ansatz, bei dem die Persuasionsfrage im Mittelpunkt steht. Erst langsam beginnt er für die Fernsehforschung wirksam zu werden. Mit ihm hängt auch die in diesem Buch analytisch ausgearbeitete theoretische Trennung des Mediums Fernsehen von den Fernsehtexten bzw. Fernsehtexturen zusammen. Von den Vertretern der Rhetorikforschung ist das Fernsehen bereits vor Jahrzehnten durch Walter Jens, den Gründer des Tübinger Seminars für Allgemeine Rhetorik, zum Thema gemacht worden. Jens erkannte die Bedeutung dieses Mediums für die moderne demokratische Gesellschaft und seine kommunikative Kraft. Das geschah zu einer Zeit, in der noch viele Intellektuelle hochnäsig auf dieses Medium herabblickten. Freilich näherte sich Jens der Fernsehthematik in

den Jahrzehnten von 1963 bis 1983 nicht als Wissenschaftler an, sondern als Kritiker, indem er aktuelle Sendungen des Deutschen Fernsehens in einer wöchentlichen Zeit-Kolumne kommentierte. Der vorliegende Band geht andere Wege. Er ist für Studienzusammenhänge gedacht, in denen man sich dem Fernsehen unter theoretischem Blickwinkel zuwendet, zentrale Termini der Forschungsdebatte zum Medium Fernsehen kennen lernen und dabei Hinweise zu ihrer rhetorischen Bedeutung bekommen möchte. Dies ist in einem Theoriedreieck von Kommunikations-, Medien- und Rhetoriktheorie angesiedelt. Die Leitfrage lautet: Unter welchen Kategorien, Begriffen und Konzepten kann man Schnittstellen zwischen Fernsehforschung und moderner Medienrhetorik aufdecken und diskutieren? Dafür wurden aus dem gegenwärtigen Fernsehforschungsdiskurs jene medientheoretisch relevanten Konzepte und unter diesen wiederum diejenigen ausgefiltert, die sich mit Rhetorikansätzen verbinden lassen. Es soll also eine gut erkennbare Perspektive etabliert werden. Als Forschungsrahmen ist das in den Jahren 2009 bis 2011 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Tübinger Forschungsprojekt zum Televisuellen Überzeugen anzusehen. Im Rahmen dieses Projekts fand 2010 in Tübingen auch eine Konferenz mit Fernsehjournalisten und Fernsehforschern zum Problem der Fernsehbilder im Ausnahmezustand sowie der Rhetorik des Televisuellen statt, deren Ergebnisse 2012 veröffentlicht wurden (neue rhetorik 11). Im selben Jahr erschien die mit diesem Forschungszusammenhang verbundene Dissertation von Anne Ulrich zum Thema Umkämpfte Glaubwürdigkeit. Visuelle Strategien des Fernsehjournalismus im Irakkrieg 2003 (neue rhetorik 9). Auch die ebenfalls mit dem Problemkreis Fernsehrhetorik befasste Dissertation StarFormate. Strategisches Potential von TV-Formaten im Musikfernsehen von Ulrich Schermaul wurde 2012 publiziert (neue rhetorik 14). An den Vorarbeiten zu der nun fertiggestellten Publikation über die Medienrhetorik des Fernsehens waren maßgeblich Markus Gottschling, Stefanie Hausner, Sebastian König und Sarah Weltecke beteiligt. An der Redaktion des Bandes wirkten neben Julia Götzschel, Jan Hecker und Sarah Weltecke vor allem Nicolas Dorn, Constantin Neumeister und Fabian Strauch mit. Die allerletzte Fassung haben außerdem Selina Bernarding, Simon Drescher und Elias Güthlein Korrektur gelesen. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank. Tübingen im Sommer 2014

AU/JK

Inhalt

Vorwort | 5 Einleitung | 9

1. MEDIALE PERFORMANZDIMENSION Audiovisualität | 38 Fernsehton | 41 Flow | 45 Flüchtigkeit | 54 Liveness | 59 Programmstruktur | 71 Serialität | 76 Televisualität | 85 Wiederholung | 93

2. TEXTUELLE DIMENSION Dramatisierung | 100 Format | 112 Infotainment | 121 Konstruktion von Wirklichkeit | 131 Oralität | 137 Personalisierung | 145 Zeit-Bild-Struktur | 155

3. ADRESSATENORIENTIERTE DIMENSION Aktualität | 160 Alltäglichkeit | 167 Emotionalisierung | 176 Ereignis, Normalität und Ausnahme | 187 Interaktivität | 201 Monitoring | 208 Parasoziale Interaktion | 213 Persona | 221

Quote | 230 Reality TV | 240 Umschalten | 248 Unterhaltung | 262 Zerstreuung | 276

Einleitung

Die Fernsehforschung scheint zu jenen Disziplinen zu gehören, deren Gegenstand seit Jahrzehnten einen ungeklärten Status hat. Für diese Analyse sprechen Befunde, wie sie sich in dem folgenden Zitat von Charlotte Brunsdon ausdrücken: „There is nothing obvious about the television of television studies“.1 Je nach Disziplin, Forschungsfrage, Analyseverfahren oder theoretischer Grundüberzeugung wird Fernsehen, in den Worten von Ralf Adelmann (u.a.), „gleichgesetzt mit Institutionen und Sendern, mit Programm und Sendungen, mit Fernsehgerät und technischen Erfindungen, mit Bildern, flow, Information, Unterhaltung, Wirkung usw.“2 Was Fernsehen ist und welche gesellschaftliche, politische oder kulturelle Bedeutung ihm zugeschrieben wird, ändert sich also beständig mit der Perspektive, die man auf es wirft. Dieses Buch begreift ‚das Fernsehen‘ in erster Linie als ein kommunikatives Phänomen und verfolgt ein rhetorisches Frageinteresse: Welche Rolle spielt das Fernsehen in kommunikativen Persuasionsprozessen? Was ist an ihm, in Anlehnung an die aristotelische Rhetorikdefinition,3 das spezifisch Überzeugende oder Glaubenerweckende? Mit anderen Worten: Wodurch überzeugt das Fernsehen? Dieses Buch betrachtet das Fernsehen unter einer in der Fernsehforschung eher ungewöhnlichen Perspektive. Es richtet sich deshalb an Leserinnen und Leser, die bereit sind, das vermeintlich vertraute Phänomen ‚Fernsehen‘ von einer neuen Warte aus und mit zum Teil neu konzipierter Terminologie zu betrachten. Dass ‚das Fernsehen‘, lapidar gesprochen, etwas von uns will, leuchtet auf den ersten Blick intuitiv ein: Es will uns verführen, überzeugen, ändern, uns etwas verkaufen, uns an sich binden, es will uns einschüchtern, uns unterhalten oder

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Brunsdon (1998, 95; Kursivierung durch d. Verf.). Adelmann u.a. (2002b, 8). Aristoteles: Rhetorik, 1.2.1, 1355b: „Die Rhetorik stelle also das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen.“

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unser Bild der Wirklichkeit prägen. Diese ‚Rhetorik‘ des Fernsehens ist der Fernsehwissenschaft bzw. den television studies nicht unbekannt, wird in diesem Band jedoch theoretisch neu gefasst. In erster Linie geht es also nicht um Rhetorik im Fernsehen, etwa um medienadäquates Sprechen oder Auftreten, um fernsehspezifische Kommunikatorrollen oder Akteursperspektiven, es geht auch nicht allein darum, fernsehspezifische Stilmittel oder Montagetechniken nach dem Vorbild der antiken rhetorischen Systematik zu beschreiben und damit als ‚rhetorisch‘ zu etikettieren, und es geht auch nicht bloß darum, dem Medium selbst quasi-magische Überzeugungskräfte zuzuschreiben. Vielmehr wird das Fernsehen vor dem Hintergrund neu konzipierter Begriffe von Fernsehtextualität und -medialität als Instrument innerhalb eines Persuasionsprozesses verstanden, dessen Möglichkeiten und Grenzen diesen Prozess in fundamentaler Weise bedingen. Diese Rhetorizität theoretisch zu fassen, ist die erklärte Aufgabe unserer Überlegungen und bisher nur in Ansätzen oder anhand spezifischer Teilbereiche des Fernsehens geklärt worden.4 In diesem Buch gehen wir diese Aufgabe an, indem wir die rhetoriktheoretischen Schnittstellen mit der Fernsehforschung bzw. ihren aus unterschiedlichen Disziplinen und historischen Entwicklungsstadien des Fernsehens stammenden Ansätzen erheben und auf der Basis dieses Begriffsangebots Bausteine einer Elementartheorie der Fernsehrhetorik skizzieren. Ziel ist es, am Beispiel des Mediums Fernsehen deutlich zu machen, wie eine von den konkreten ‚Inhalten‘ losgelöste Medienrhetorik systematisch aussieht und was ihre wichtigsten Potentiale sind. Dem liegt die noch weiter auszuführende These zugrunde, dass das Fernsehen als Medium über eine spezifische Rhetorizität verfügt, die sich unabhängig von der Betrachtung konkreter Fernsehsendungen bestimmen lässt. Insofern kann eine solche Medienrhetorik gut an semiotische, pragmatische oder semiopragmatische Ansätze wie diejenigen von Francesco Casetti, Hans-Jürgen Wulff oder Umberto Eco anschließen. Auch medienontologische oder technikzentrierte Ansätze treten unvermeidlich ins Blickfeld. Es ist aber nicht zuletzt

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Die ersten expliziten Überlegungen zum Zusammenhang von Rhetorik und Fernsehen finden sich bei Primeau (1979) (hier allerdings mit einem stark restringierten Rhetorikbegriff), bei Geißner (1987) und Holly (1996). Die neuere Rhetorikforschung hat sich inzwischen mit einer ganzen Reihe von Forschungsarbeiten dem Thema Fernsehen zugewandt. Bei diesen Arbeiten ist besonders wichtig, dass die methodisch vorgenommene Untersuchung der rhetorischen Aspekte des Fernsehens diese entscheidende Kommunikationsseite ganz neu hervortreten lässt. Vgl. hierzu Knape (2005b), zu Fernsehbildern in Krieg und Krise Knape/Ulrich (2012), zu Glaubwürdigkeit, Televisualität und Ethos Ulrich (2012) und zu Star-Inszenierung und Formatierung im Musikfernsehen Schermaul (2012).

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der Reiz dieser Erkundung der Fernsehforschung, dass sich auch in Untersuchungen, in denen zunächst keinerlei genuin rhetorisches Gedankengut zu vermuten wäre, überaus anregende Bausteine für eine Medienrhetorik des Fernsehens finden lassen. Die Rhetorik versteht das Fernsehen im Wesentlichen als eine Art kommunikatives Dispositiv,5 als eine in ihren Strukturen bestimmbare, aber dennoch durchaus über Zeiten und Räume hinweg auch veränderliche Kommunikationsanordnung, welche die Verbreitung und Performanz rhetorisch angelegter Fernsehtexte strukturiert. Das rhetorische Grundverständnis des Mediums wird im folgenden Teil zum besseren Verständnis der Kapitel erläutert. Im Anschluss an

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Der Begriff ‚Dispositiv‘ kennzeichnet in der Fernsehtheorie in Anlehnung an Michel Foucault (1978) eine Kräfteanordnung, die Diskurse, Praktiken, Wissen und Macht maßgeblich prägt. Dieser Gedanke wurde zunächst von Jean-Louis Baudry (1986) fürs Kino adaptiert und dann von Knut Hickethier (1995) aufs Fernsehen übertragen. Mit Hickethier kann ein Fernseh-Dispositiv als Konnex aus drei Elementen charakterisiert werden: erstens die technische Einrichtung (das Fernsehgerät); zweitens die soziale Rahmung, bestehend aus dem Ort des Adressaten (z.B. Wohnzimmer) und dem gesellschaftlichen Umfeld (z.B. Studios); und drittens die Inhalts- bzw. Programmstruktur. Die Gesamtheit dieser Elemente erzeugt durch ihren starken Einfluss auf den Zuschauer tendenziell unfreie und in der Strukturdeterminiertheit gefangene Subjekte. Dies kann als strategisches Ziel der mit dem Begriff Dispositiv bezeichneten Medieninstitutionen und Interessengruppen betrachtet werden, da Machterhalt die causa finalis des Dispositivs ist. Hickethier (1995, 63) führt das Dispositiv als allgemeinen Theorierahmen für das Fernsehen ein, um „Technik, Institutionen, Programme, Rezeption und Subjektverständnis als ein Geflecht von Beziehungen zu verstehen“. An dieses Verständnis kann die Rhetorik einerseits anschließen, weil sie ebenso die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Produktions-, Performanz- und Rezeptionsbedingungen der Fernsehkommunikation in den Blick nehmen muss, um ein vollständiges Bild der Fernsehkommunikation zu erhalten. Diese Bedingungen stellen andererseits jedoch nicht ihr eigentliches Untersuchungsfeld dar, sondern werden als fernsehrhetorische Potentiale verstanden, die ein Fernseh-Orator in sein Kalkül aufnehmen muss. Auch der machttheoretische Ansatz, dem Hickethier etwas skeptisch gegenübersteht, bildet nicht den Mittelpunkt des rhetorischen Dispositiv-Verständnisses. Die vielfältigen Interessens-Verflechtungen, gegenseitigen Bedingtheiten und Abhängigkeiten sind jedoch als institutionell-medialer Rahmen für die Bestimmung der Handlungsmacht der Fernseh-Oratoren von Bedeutung. Solche Bedingungen werden im vorliegenden Band jedoch immer nur dann thematisiert, wenn sie für die Betrachtung des rhetorischen Instrumentariums Fernsehen unumgänglich sind, beispielsweise in den Kapiteln zur Quote oder zum Umschalten.

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diese theoretisch-systematischen Überlegungen nehmen wir zur Diskussion über die gegenwärtigen Transformationen des Fernsehens Stellung. Dieses Buch eignet sich als Grundlage für medienrhetorische Analysen von Fernsehsendungen, da sich in jedem Kapitel Überlegungen wiederfinden, welche die fernsehtheoretischen Begriffe und Konzepte für die Rhetorik fruchtbar machen. Zudem deuten sich bei der Untersuchung des Fernsehens auch allgemeine Eckpunkte einer Medienrhetorik an, die zum Ausgangspunkt eines umfassenderen Theorieentwurfs gemacht werden können. In einem gewissen Sinne lassen sich die hier vorgenommenen Überlegungen daher auch als Prolegomena zu einer allgemeinen Medienrhetorik lesen.

1. F ERNSEHRHETORIK

ALS

M EDIENRHETORIK

Der rhetorische Ansatz arbeitet mit wohldefinierten Kategorien und ist von zwei Elementen geprägt: von der kommunikativen Dimensionierung und von der Rhetorikfrage. Das Fernsehen wird demzufolge immer als Bestandteil eines Kommunikationszusammenhangs gesehen, wobei die Persuasion in der Regel als rhetorischer Kernaspekt im Mittelpunkt steht. Die Rhetoriktheorie sieht drei zentrale Kommunikationselemente vor, die eng aufeinander abgestimmt sind und als solche auch für den Entwurf einer Fernsehrhetorik grundlegend sind: • •



einen als Orator abstrahierten Kommunikator oder vielmehr eine kollektive Oratorinstanz, die ein rhetorisches Anliegen verfolgt; ein kommunikatives Instrumentarium, bestehend in erster Linie aus dem Text, über den das rhetorische Anliegen geäußert wird, und dem Medium, das den Text transportiert und performiert; und schließlich einen Adressatenkreis, auf den der rhetorische Überzeugungsvorgang insgesamt zielt und dessen Bedürfnisse und Befindlichkeiten die Oratorinstanz einkalkulieren muss.

Diese Komponenten spielen in jeder denkbaren rhetorischen Situation eine Rolle. Ihre Herkunft aus der Face-to-Face-Situation, in der ein einzelmenschlicher Redner ein räumlich anwesendes Publikum direkt adressiert, spricht dabei keineswegs gegen ihre Anwendbarkeit auf massenmediale Kommunikationsverhältnisse – sofern die nötigen Adaptionen vorgenommen werden. Wie das erste Element, der Oratorbegriff, im Rahmen der fernsehmedialen Kommunikation als kollektive Instanz neu konzipiert werden kann, ohne seinen rhetorischen Kern zu verlieren, wurde an anderer Stelle am Beispiel des Fernsehformats der Nachrich-

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ten bereits gezeigt.6 Dies auf andere Formate im Fernsehen (etwa die im Moment als Untersuchungsgegenstand boomenden Fernsehserien mit der interessanten Kommunikatorrolle des Show Runners) zu erweitern, stellt ein eindeutiges Desiderat der Fernsehrhetorik dar, würde jedoch den Rahmen dieses Bandes sprengen. Stattdessen wird ein Teilaspekt des kommunikativen Instrumentariums, das Medium, am Beispiel des Fernsehens einer eingehenden Untersuchung unterzogen,7 um bewusst isoliert seinen Anteil am rhetorischen Kommunikationsprozess und dessen Erfolg oder Misserfolg besser beleuchten zu können.8 Der Medienbegriff wird dabei in Differenz zum Textbegriff gefasst und – wie anschließend noch näher erläutert – als Tragfläche für Texte verstanden. Das heißt zugleich, dass das so definierte Medium Fernsehen in der kommunikativen Realität nie isoliert in Erscheinung tritt, sondern stets als ‚Bühne‘ für einen Text, über den die eigentliche Überzeugungshandlung vollzogen wird. Dennoch ist es, das beabsichtigt der vorliegende Band zu zeigen, äußerst aufschlussreich, von der fast unüberschaubaren Fülle dessen, was auf dieser Bühne aufgeführt wird, zu abstrahieren und die Bühne – um im Bild zu bleiben – als conditio sine qua non fernsehrhetorischer Kommunikationsprozesse und als eigenständige Untersuchungsebene zu begreifen. Mithin ist hier Marshall McLuhans Diktion The Medium is the Message zumindest in einem übertragenen Sinne von zentraler Bedeutung: Schließlich gehen wir davon aus, dass das Medium für jeden rhetorischen Persuasionsvorgang eine (allerdings nicht die einzige!) unverzichtbare Größe ist, an der sich die gesamte rhetorische Operation orientieren muss. So verfügt das Fernsehen zwar nicht über eine verbalisierbare Eigenbotschaft, wohl aber über spezifische Strukturen, die so und nicht anders sind und daher indirekt erheblichen Einfluss nehmen auf das, was eine Oratorinstanz mit einem Medium rhetorisch überhaupt bewirken kann. Die Medienrhetorik des Fernsehens beschäftigt sich also nicht mit der an sich durchaus interessanten Frage, wovon uns die Macher einer Fernsehsendung oder eines Werbespots etwa überzeugen wollen. Genauso wenig sind Fragen der Manipulation, Propaganda, Massenpersuasion oder Werbebeeinflussung für diesen Kontext relevant, auch wenn diese durchaus unter den Stichworten ‚Rhetorik‘ und ‚Fernsehen‘ verstanden werden können und insbesondere aus kritischer Perspektive am Fernsehen diskutiert worden sind. Die Medienrhetorik des Fernsehens setzt stattdessen an einer anderen Stelle im

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Vgl. Ulrich (2012, 91–97 sowie 210–222). Zu ersten konzeptionellen Überlegungen vgl. Ulrich (2012, 152–173). Zur Forderung nach einem diskreten Medienbegriff am Beispiel des Fernsehens siehe auch Weber (1996, bes. 108–111).

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Kommunikationsvorgang an und fragt zunächst unter produktionstheoretischen Vorzeichen danach, wie und in welchem Umfang das Medium selbst und seine Strukturen die Oratorinstanz dazu bringen, solche und nicht andere Kommunikationsmuster zu wählen, und damit indirekt den Kommunikationsvorgang in einer bestimmten Weise prägen. Die Struktur des Mediums als Widerstand und Potential Im rhetorischen Sinne wird das Medium als sozial-distributive ‚Tragfläche‘ verstanden,9 die den für den Persuasionsvorgang eigentlich wichtigeren Text speichert, transportiert und performiert.10 Der Begriff der Tragfläche macht deutlich, dass das Medium damit in den Worten Jochen Schulte-Sasses als ein „Informations- oder Kommunikationsträger“ angesehen wird, „der auf das Übertragene nicht zwangsläufig einwirkt“.11 Die entgegengesetzte Position sieht „das Medium als einen Träger von Informationen, der diese nicht mehr oder weniger neutral vermittelt, sondern sie grundsätzlich prägt, sich ihnen medienspezifisch einschreibt und dadurch dem menschlichen Zugriff auf Wirklichkeit Form verleiht“.12 Sibylle Krämer beschreibt eine solche Auffassung, die sie selbst nicht teilt, treffend als Medien-‚Generativismus‘: Medien würden verbunden werden „mit einem Souveränitätsimpuls: Medien sind nicht Instrumente und Überträger eines ihnen von Anderswoher aufgegebenen Zweckes, sondern Medien bringen zugleich hervor, was sie vermitteln. Ihnen eignet ein konstruktivistischer, generativistischer, um nicht zu sagen: demiurgischer Zug. Medien erzeugen, was sie vermitteln.“13 Zu Recht vermutet Krämer, dass solche und andere Sichtweisen – sie nennt eine Reihe weiterer Ansätze, die einen derart ‚starken‘ Medienbegriff vertreten – möglicherweise genau „das verfehlen, was ein Medium überhaupt

9 Knape (2012, 62). 10 Im Sinne des erweiterten Textbegriffes sind unter dem systematischen Begriff ‚Text‘ im Fernsehen audiovisuelle Texturen, also alle Arten von ‚Fernsehsendungen‘, zu verstehen. Das semiotisch-informationelle Gewebe (textum) des Fernsehens rekurriert auf diverse Kodes (Bildkode, Lautsprache, Musik, Geräusche usw.; vgl. Knape 2005a, 19–23), um seine hoch komplexen Texturen in die Kommunikations- und damit in die Handlungszusammenhänge der Menschen einzuspeisen, wofür in der neueren Rhetoriktheorie der Begriff der ‚Adpragmatisierung‘ steht, vgl. Knape (2013b, 209f. und 264). 11 Schulte-Sasse (2002, 1). 12 Schulte-Sasse (2002, 1). 13 Krämer (2008, 67). Siehe etwa auch die Actor-Network-Theory, die dem Medium eine eigene Agency zuschreibt, vgl. Belliger/Krieger (2006).

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erst zu einem Medium macht“, nämlich „Attribute wie seine Fremdbestimmung, Neutralität und Durchsichtigkeit“.14 Die Rhetorik nimmt demgegenüber aus Gründen einer modularen, nicht universalistischen Theoriebildung in kommunikationstheoretischer Hinsicht eine weitere Differenzierung vor, indem sie den gesamten Produktionskomplex der Kommunikation nicht einfach unter ‚Medium‘ verrechnet (wie Linguisten oder Literaturwissenschaftler die ganze Welt ja auch bisweilen global unter ‚Text‘ fassen), sondern den Produzenten von seinen Instrumenten (Medium, Text) kategorial trennt.15 Der Medienbegriff der Rhetorik ist also neutral, weil die ‚Auswirkungen‘ medialer Kommunikation nicht auf das Medium als Agens zurückgeführt werden, sondern der Oratorinstanz und ihrem strategischen Geschick zu verdanken sind. Das heißt auf keinen Fall, dass das Medium für den rhetorischen Kommunikationsvorgang unwichtig ist, sondern nur, dass es immer nur Mittel, Instrument bleibt. Der Medienbegriff ist aber auch aus einem anderen Grund neutral: In der Regel gilt medial vermittelte Kommunikation – und aus rhetoriktheoretischer Perspektive gibt es keine nicht-mediale Kommunikation, weil schon der Körper und die Stimme Primärmedien bilden, mit denen die klassische Rede aufgeführt wird16 – dann als erfolgreich, wenn das Medium als Träger überhaupt nicht sichtbar wird, sondern der Text und die darin eingewobene persuasive Botschaft vollkommen in den Vordergrund rücken. Diese Neutralität geht nicht auf das Medium zurück, sondern auf eine geglückte medienrhetorische Technik der Oratorinstanz, die eng mit der klassischen rhetorischen Technik der Verbergung der Kunst (dissimulatio artis) verwandt ist. So wie man dem Adressaten gegenüber weder erklärt noch hervorhebt, dass er unter Einsatz von erprobten Techniken überzeugt werden soll, ist es genauso wenig nötig, dem Adressaten deutlich zu machen, dass sich die Oratorinstanz eines Speicher-, Distributions- und Aufführungsmittels bedienen muss, um ihn zu erreichen. Ein Herausstellen der Medialität könnte etwa den kommunikativen Kontakt insgesamt oder auch die Verbindlichkeit der Kommunikation stören.17 Ein aus rhetorischer Sicht nahe liegendes Beispiel für die Verbergung der Medialität (man könnte auch sagen: dissimulatio medii) im Fernsehen ist die vermeintlich direkte Adressierung, bei

14 Krämer (2008, 68). 15 Knape (2013b, 265). 16 Zum Begriff der primärmedialen Kommunikation vgl. Knape (2012, 98f.), vgl. auch den Begriff der ‚Primärmedien‘ bei Pross (1972, 128–144). 17 Es kann an dieser Stelle aus Platzgründen nicht weiter darauf eingegangen werden, dass die Wahrnehmung von Medialität durchaus historischen und kulturellen Veränderungen unterliegt und auch von Medium zu Medium variieren kann.

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der eine Oratorfigur so tut, als blicke sie nicht in die dunkle Linse einer technischen Apparatur, sondern in die Augen eines menschlichen Gegenübers.18 Beim Fernsehzuschauer erzeugt dies die Illusion einer direkten Ansprache und der Simulation einer Face-to-Face-Situation, wo eigentlich keine sein kann (→ parasoziale Interaktion). Die Oratorfigur hat sich auf diese Weise mit Hilfe des Fernsehtextes (der in der visuellen Schicht den Blick und in der auditiven das Sprechen in die Kamera vermittelt) optimal an die Strukturen des Mediums Fernsehen angepasst und die räumliche Trennung von Sender und Empfänger rhetorisch geschickt überwunden. Dem Fernseh-Orator kommt hier das Immersionsphänomen entgegen, also das psychische Eintauchen in die ‚Illusionswelt‘ der Fernsehtexte.19 Das Medium selbst – und das ist für die hier postulierte Vorstellung eines rhetorischen ‚Grundmodells‘ vom Fernsehen wichtig – ist in seinen Grundstrukturen recht festgelegt und daher auch für rhetorische Zwecke nicht x-beliebig einsetz- und veränderbar. Diese ‚Unflexibilität‘ lässt sich als Strukturdeterminiertheit verstehen, ein Begriff, den der Systemtheoretiker Humberto Maturana geprägt hat, um Veränderungen bei lebenden, biologischen Systemen (also etwa Menschen) beschreiben zu können. Der Kerngedanke ist, dass jede Veränderung schon in der Struktur eines Systems angelegt sein muss, um sich ereignen zu können, nicht aber von einem externen Agens einfach ausgelöst werden kann.20 Frei übertragen auf die Fernsehproblematik bedeutet dies: Begreift man eine kommunikative Operation als ‚Veränderung‘ und das Medium als das ‚System‘, so kann eine Oratorinstanz – gewissermaßen als externes Agens – mit diesem Medium nicht einfach alles machen, was sie will. Sie kann lediglich die kommunikativen oder rhetorischen Potentiale entfalten, die in den medialen Strukturen angelegt, also im medienspezifischen Sinne überhaupt möglich sind. Das klingt zunächst nach einer enormen Einschränkung – und in der Tat können mediale Grundstrukturen durchaus Widerstände für die Oratorinstanz darstellen.21 Auf der anderen Seite kann sich eine Oratorinstanz, die um die Strukturdeterminiertheit eines Mediums weiß, kommunikative Techniken überlegen, welche die strukturellen Eigenschaften zum eigenen Vorteil nutzen und auf diese Weise die

18 Zur Unterscheidung von ‚Oratorinstanz‘ als abstraktem Konzept und ‚Oratorfigur‘ als konkreter, persönlicher Verkörperung dieser Oratorinstanz in Form eines Sprechers, Moderators, Schauspielers etc. vgl. Ulrich (2012, 293–298). 19 Siehe hierzu Knape (2013a, 184) und Knape (2013b, 226f.); zum Begriff der Immersion vgl. insbes. Ryan (2001), Grau (2003) und Curtis (2008). 20 Vgl. Maturana (1985, bes. 242f.). 21 Zu Widerstand und Medium siehe Knape (2012, 57–63).

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Widerstände umgehen oder überwinden helfen. Die Technik der direkten Adressierung beispielsweise dient nicht nur der Simulation einer Face-to-Face-Situation, sondern auch der Herstellung von Intimität mit einer potentiell unendlichen Anzahl an Adressaten – wenngleich eine Oratorfigur tatsächlich nur einem einzigen Menschen gleichzeitig in die Augen schauen kann. Performanz als Medienfunktion Das Medium ist im rhetorischen Sinne immer als funktionales Element zu verstehen: Es ist das, was den Text an den Adressaten übermittelt, wobei die Übermittlung als Performanz begriffen wird.22 Im klassischen Sinne führt der Körper des Orators als biologisches Medium die Rede in der Situativik auf und übermittelt sie auf diese Weise seinem Publikum. Bei einem elektronischen Massenmedium wie dem Fernsehen ist hingegen im Rahmen von Dimissivik eine komplexe technische Einrichtung im Spiel, die dafür sorgt, dass der Zuschauer eine Fernsehsendung auf seinem Bildschirm betrachten kann.23 Zu dieser technischen Einrichtung gehören, ohne an dieser Stelle weiter ins Detail zu gehen, Sendeeinrichtungen, Distributionskanäle und Empfangs- oder sogenannte Endgeräte. Die Institution des Rundfunks, das Mediensystem des Fernsehens, ist von dem auf Speichern und Senden beschränkten Medium Fernsehen (so die theoretische Abstraktion) jedoch zu unterscheiden, weil im Mediensystem, etwa in privaten oder öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, auch die Produktion von Fernsehsendungen vorgenommen wird. Das Medium Fernsehen umfasst also nur das kommunikative Instrument, in diesem Fall in Form einer wie auch immer technisch realisierten Einrichtung, die von Fernsehoratoren für die Speicherung, Distribution und Performanz von Fernsehsendungen genutzt wird.24 Dieser Vorgang ist immer in Bezug auf den rhetorischen Vorgang des Überzeugens zu sehen. Was nun aber heißt es, wenn das Medium einen Text ‚performiert‘? Es bringt ihn gewissermaßen zur Aufführung: „Performanz ist all das, was das Medium als Textträger mit seinem Text macht“25 – wobei natürlich nicht das Medium selbst als Agens begriffen wird, sondern als technisch eingesetztes Instrument der Oratorinstanz. Das Medium inszeniert den Text, und der Text wird dabei durch die

22 Vgl. aus rhetorischer Sicht Knape (2008a) und (2008b). 23 Dabei konstituiert die Face-to-Face-Anwesenheit des Orators die Differenz von Situativik (Präsenzkommunikation) und Dimissivik (Distanzkommunikation), vgl. Knape (2005a, 29f.). 24 Knape (2005a, 22). 25 Knape (2008a, 146).

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mediale Performanz mit „Zusatzkommunikaten“, „Konnotationen“ und also einer Art „semantischem Mehrwert“26 versehen, die alle zusammen den zentralen Gegenstand der medienrhetorischen Betrachtungsweise bilden. Das Medium zeichnet sich dabei durch je spezifische Modi der Performanz aus, die sein rhetorisches Potential, aber auch seine Widerständigkeit markieren und in diesem Sinne eine rhetorische Medialität ergeben. Diese erzeugt bei den Adressaten eine spezifische Wahrnehmungs- und Erlebnisqualität, die eine bestimmte Kommunikationshaltung evoziert. Medienrhetorik ist demnach die strategische Beherrschung der performativen Struktur eines Mediums durch die Oratorinstanz und die theoretische Betrachtung eben dieser performativen Struktur mit all ihren Implikationen. Mit anderen Worten: Dieses Buch destilliert aus der Fernsehforschung all diejenigen Aspekte, welche eine Fernsehoratorinstanz in ihr antizipatorisches Medienkalkül mit einbeziehen muss, will sie im Fernsehen erfolgreich sein und in optimaler Weise auf die Fernseh-Kommunikationshaltung der Adressaten eingehen.

2. E IN RHETORISCHES M ODELL DES F ERNSEHENS Dieses Buch verfolgt das Ziel, die performativen Potentiale oder Widerstände des Fernsehens systematisch aus der Forschungsliteratur zu isolieren und zu einem rhetorischen Grundmodell des Fernsehens zusammenzusetzen. Leitend ist dabei die Annahme, dass sich klare und distinkte Eigenschaften ermitteln lassen, mit denen das Fernsehen als Kommunikationsmittel bestimmt werden kann. Danach haben wir in der umfangreichen Forschungsliteratur zum Fernsehen gesucht. Dabei fiel auf, dass ‚Fernsehen‘ oft nicht eigens definiert wird, weil es offensichtlich trotz (oder wegen?) unseres alltäglichen Umgangs mit ihm in allen seinen Erscheinungsformen schwer zu greifen zu sein scheint. Wenn doch definiert wird, dann oft auf der Grundlage technischer Eckdaten, wie etwa hier: „Fernsehen bezeichnet die Aufnahme, Übertragung und Wiedergabe sichtbarer Vorgänge oder Vorlagen mittels elektromagnetischer Wellen oder per Kabel.“27 Gerne wird auch auf die Patentschrift Paul Nipkows aus dem Jahr 1884 für ein „Elektrisches Teleskop“ zurückgegriffen, in der es heißt: „Der hier zu beschreibende Apparat hat den Zweck, ein am Ort A befindliches Object an einem beliebigen anderen Orte B sichtbar zu machen“.28 Das aber ist keine in kommunikati-

26 Knape (2008a, 146). 27 Schröder (2006, 107). 28 Zit. n. Hickethier (1998, 15).

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onstheoretischen Begriffen abstrahierte Definition. Das Patent gilt nach Albert Abramson als „das grundlegende Fernsehpatent schlechthin, denn es zeigte zum ersten Mal eine konkrete praktische Realisierung des Prinzips der systematischen Abtastung und Zergliederung eines Bildes in seine elementaren Bestandteile, und zwar mittels einer gelochten Scheibe“.29 Die technischen Realisierungsmöglichkeiten dieses grundlegenden Prinzips haben sich im Laufe der Weiterentwicklung des Fernsehens natürlich stark verändert – weshalb sie sich für den hier vorliegenden Zusammenhang auch nicht als Definitionsmerkmale des Fernsehens eignen. Als kommunikative Spezifika des Fernsehens kann man aus der Nipkow-Definition allenfalls die Visualität und räumliche Distanz herauslesen (eben: Fern-Sehen oder Tele-Vision). Weil es so schwierig ist, das Fernsehen in einer Definition zu fassen, wenden sich manche Ansätze sogar explizit gegen das genaue Definieren, wie etwa Markus Stauff: „Statt zu definieren, was ein Medium ausmacht und worin seine spezifische Identität besteht, könnten dann die (immer neuen) Verflechtungen von Praktiken, Apparaten, Diskursen etc. in den Blick genommen werden, die unter dem amorphen Deckmantel ‚Fernsehen‘ vielfältige Strategien und Effekte realisieren.“30 Stauff schreibt dies insbesondere mit Blick auf die neueren Transformationen des Fernsehens im Zuge der Digitalisierung und Konvergenz mit dem Internet. Vor diesem Hintergrund und auch aus der von Stauff eingenommenen kulturwissenschaftlichen Perspektive, die das Fernsehen als ein sich ständig wandelndes Medium begreift, könnte eine solche definitorische Offenheit durchaus verständlich erscheinen. Im vorliegenden Zusammenhang geht es jedoch nicht darum, möglichst vielfältige Verständnisse von Fernsehen aufzuzeigen, sondern mit Blick auf eine wissenschaftliche Theoriekonzeption einen definitorischen Kern des Fernsehens herauszuarbeiten. Aus Sicht der Rhetorik liegt das entscheidende Kriterium auf der Hand: Es ist kondensiert im Begriff des spezifischen kommunikativen Leistungsangebots des Mediums, das diejenigen Merkmale umgreift, die für das Medium beziehungsweise seine Leistung als rhetorisches Kommunikationsmittel relevant sind. Insofern dient diese Perspektive dem Zweck, den Blick auf die Fernsehforschung zu lenken und die dann immer noch vielfältigen Phänomene unter einer bestimmten, der rhetorischen Fragestellung, zu bündeln. So entsteht aus einer Vielzahl an Begriffen und Konzepten eine Art rhetorisches Leistungsprofil des Fernsehens. Obgleich also, wie eingangs zitiert, „nothing obvious about the television

29 Abramson (2002, 15). 30 Stauff (2005, 13).

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of television studies“ ist, so soll in diesem Buch dennoch ein möglichst klar umrissenes rhetorisches Bild des ‚Fernsehens‘ entstehen. Selbst wenn man eine bestimmte Perspektive auf das Fernsehen wirft, ist es schwierig, zu einer universellen Definition des Fernsehens zu kommen. Gleichwohl scheint es uns sinnvoll, eine wenigstens prototypische Definition des Fernsehens zu abstrahieren, um es als Einzelmedium von anderen Einzelmedien unterscheidbar zu machen. Die folgende Abstraktion arbeitet in diesem Sinn mit einem ganzen Bündel kommunikativer Leistungsmerkmale, die sich erst in der Summe zum theoretischen Konstrukt ‚Fernsehen‘ addieren. Manche dieser Leistungsmerkmale sind unserer Ansicht nach konstitutiv für das Fernsehen: Fernsehen ist ein dimissives, also Raum- und ggf. auch Zeitdistanzen überbrückendes Medium. Fernsehkommunikation ist linear, flüchtig und unidirektional, was regelmäßige Aufmerksamkeitserregung und Zuschaueradressierung nötig macht. Semiotisch gesehen werden über das Fernsehen bewegte audiovisuelle Texturen angeboten, die als multimodal (in Bezug auf die Sinnesmodalitäten) und multikodal (in Bezug auf die verwendeten Zeichensysteme) zu bezeichnen sind. Deren rhetorisches Potential besteht darin, Hör- und Seherfahrungsangebote kommunikativ so zu simulieren, dass sie den ‚echten‘ Hör- und Seherfahrungen der Adressaten stark ähneln und die mediale Vermitteltheit dadurch stark in den Hintergrund tritt (Transparenzillusion). Dieser Effekt kann dadurch verstärkt werden – und damit kommen wir zu den fakultativen Potentialen –, dass Fernsehtexturen in Echtzeit auf gerade ablaufende Geschehnisse in der medienexternen Welt referieren (→ Liveness), was bei den Adressaten als indirekte Ereignispartizipation empfunden werden kann. Klassischerweise ist das Fernsehen ein Massenmedium, das potentiell sehr viele Adressaten erreicht, die sich in der Regel in einem privaten Umfeld befinden. Das textuelle Angebot des Fernsehens wird von spezifischen Institutionen generiert, distribuiert und dabei so organisiert, dass den einzelnen Institutionen bestimmte Kanäle zugeteilt werden, die die Zuschauer kontinuierlich mit einer geordneten Abfolge von Texten versorgen (Programmstruktur mit ‚Push‘-Prinzip) – was bedeutet, dass die Adressaten das Angebot nur akzeptieren oder ablehnen, jedoch nicht individuell generieren oder modifizieren können. Einige dieser prototypischen Leistungsmerkmale haben sich bereits verändert oder befinden sich derzeit im Wandel. Fernsehen muss nicht im privaten Umfeld, sondern kann auch an öffentlichen Orten genutzt werden. Aufgrund der Ausdifferenzierung und Fragmentierung des Fernsehens in unzählige Nischensender kann auch nicht mehr fraglos von einem Massenmedium gesprochen werden. Einzelne Fernsehkanäle können über ‚undisperse‘ und klar bestimmbare Publika verfügen, für das Fernsehen im Allgemeinen lassen sich hier kaum mehr

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Aussagen treffen. Außerdem befinden sich Leistungsmerkmale wie Flüchtigkeit und → Programmstruktur geradezu in Auflösung. Die zusätzlichen Plattformen, auf denen Fernsehtexte – aus der Programmstruktur weitgehend losgelöst – zur Rezeption angeboten werden, sind ein nicht zu vernachlässigender Faktor für unsere Überlegungen, weil diese mittlerweile sehr vielen Nutzern zur Verfügung stehen und auch in Reichweite und Marktanteil zunehmend erfasst werden (→ Quote).31 Hier können Fernsehnutzer die Sendungen zeitunabhängig betrachten, die Wiedergabe jederzeit anhalten oder auch wiederholen. Es spricht vieles dafür, dass hier eine Ausdifferenzierung in klassisches ‚SynchronFernsehen‘ und neues ‚Abruf-Fernsehen‘ zu erwarten ist,32 wobei letzteres oft mit der Nutzung weiterer Medien einhergeht (social television). Insgesamt hat die Digitalisierung eine ganze Reihe von Veränderungen im Bereich des Fernsehens bewirkt, die im Folgenden umrissen werden sollen.

3. W IE

WANDELBAR IST DAS

F ERNSEHEN ?

Die in diesem Band vorgestellten Begriffe und Konzepte wurden zusammengetragen aus Forschungsbeiträgen, die seit den 1950er Jahren bis heute entstanden sind. Sie bilden ab, was man in Vergangenheit und Gegenwart unter ‚Fernsehen‘ verstand und versteht. Dass sich das Fernsehen seit seiner Erfindung verändert hat und weiter verändern wird, ist offensichtlich. Doch wie ist mit diesen Veränderungen umzugehen angesichts der Tatsache, dass wir hier auf der Suche sind nach einer performativen Grundstruktur des Fernsehens? Gehen wir davon aus, dass dieser rhetorische ‚Kern‘ immer nur zu einem konkreten Zeitpunkt bestimmt werden kann? Oder ist der ‚Kern‘ des Fernsehens trotz aller Veränderungen immer gleich geblieben? Die Wahrheit liegt vermutlich in der Mitte. Aus theoretischer Sicht stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, wie viele quantifizierbare Veränderungen der kommunikativen Leistungsmerkmale des Medi-

31 Es sei an dieser Stelle an die mittlerweile berühmt gewordene Zeile „give people what they want, when they want it, in the form they want it in, at a reasonable price“ der James MacTaggart Memorial Lecture von Kevin Spacey 2013 im Rahmen des Edinburgh International Television Festivals erinnert, in der der US-amerikanische Schauspieler die veränderten Produktions- und Distributionsbedingungen des Fernsehmarkts diskutiert und ein Plädoyer für die neuen Angebotsstrukturen des Fernsehens (Netflix u.a.) und die Qualität der Fernsehserie hält, vgl. http://www.youtube.com/watch?v=oheDqofa5NM, etwa in der 25. Minute; 27.06.2014. 32 Vgl. Groebel (2014, 185).

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ums zu einem qualitativen Sprung führen und es dann wissenschaftlich geboten erscheinen lassen, von einem neuen Medium (eventuell auch unter neuem Namen) zu sprechen. In Anlehnung an Stanley Cavell: Das Fernsehen ist unserer Ansicht nach bereits ‚erwachsen‘ geworden, d.h. zu seiner rhetorischen Reife gelangt, mit all seinen Stärken und Besonderheiten.33 Dies heißt jedoch nicht, dass keine weiteren Veränderungen möglich sind – es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch (noch) nicht entscheidbar, ob diese Veränderungen tatsächlich auch den rhetorischen ‚Kern‘ des Fernsehens betreffen, auch wenn sich manches Indiz dafür möglicherweise abzeichnet. Dies soll nun anhand wesentlicher Stationen oder Zäsuren der Fernsehgeschichte kurz verdeutlicht werden. Die technische Geschichte des Fernsehens wird in der Regel in drei Phasen eingeteilt, die von zwei wichtigen Zäsuren geprägt werden. Die erste Zäsur ist die Einführung des Kabelfernsehens (in den USA Anfang der 1980er, in Europa erst Mitte der 1980er Jahre), die zweite Zäsur die Digitalisierung (beginnt Ende der 1990er Jahre). Amanda Lotz teilt die daraus entstehenden drei Phasen in ihrer Studie The Television Will Be Revolutionized wie folgt ein: • „network era“ von 1952 bis Mitte der 1980er Jahre, • „multi-channel transition“ von Mitte der 1980er bis Mitte der 2000er Jahre, 34 • „post-network era“, die Mitte der 2000er Jahre beginnt und noch andauert.

Lotz stellt dabei vor allem die Parameter Technologie, Produktion, Distribution, Werbung und Zuschauermessung als maßgeblich heraus.35 John Ellis, der eine ähnliche Dreiteilung vornimmt, legt den Schwerpunkt hingegen stärker auf soziokulturelle Aspekte. Seine Einteilung sieht so aus: • „era of scarcity“ von den 1940ern bis in die späten 1970er oder frühen 1980er

Jahre, • „era of availability“ von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart, 36 • „era of plenty“ als künftige Phase des Fernsehens.

33 Vgl. Cavell (2002 [1982], 127f.). 34 Für einen Überblick siehe Lotz (2007, 7–19). 35 Vgl. die Grafik in Lotz (2007, 8). Diese Parameter sind im Rahmen des vorliegenden Bandes nur dann relevant, wenn sie auch eine Veränderung der kommunikativen Grundstruktur des Fernsehens auslösen. 36 Vgl. Ellis (2000, 39 sowie jeweils 39–60, 61–73 bzw. 162–178).

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Die Lotz’sche network era geht vom Mediensystem Fernsehen sowie von kulturellen Verflechtungen aus und ist, was die Beobachtungsgrundlage angeht, von den großen, in der Regel öffentlichen Sendeanstalten geprägt – in den USA sind dies im Wesentlichen die „Big Three“ CBS, NBC und ABC, in Deutschland ARD, ZDF (ab 1963) und die dritten Programme (1964 bis 1969). Es wird noch nicht rund um die Uhr gesendet, die Produktion ist nur zu Bruchteilen werbefinanziert, und rezipiert wird Fernsehen v.a. in der Familie, weswegen sich die Sendungen an jedermann richten müssen – Lotz zitiert hier den VizeProgrammdirektor von CBS, Paul Klein, der vom „least objectionable programming“ spricht, also einer Sendestrategie, die das anbietet, was von den wenigstens abgelehnt werden könnte.37 Christine Rosen bezeichnet diese Phase daher in einem ähnlichen Zusammenhang auch als Phase des broadcasting, die später von narrow- bzw. egocasting abgelöst wird.38 Für Ellis ist in dieser ersten Phase der Mangel an Angebot ausschlaggebend, der dazu führt, dass die meisten Fernsehzuschauer mehr oder weniger dieselben Sendungen rezipieren, was das Fernsehen zu einem machtvollen Instrument der sozialen Integration mache.39 Wie Lotz sieht auch er das Fernsehen hier in erster Linie als ein häusliches Medium,40 das den Alltag und den Lebensrhythmus mitprägt und die Welt des Konsums ins Wohnzimmer bringt.41 Durch diese starke Präsenz und die Herausbildung einer gemeinsamen Fernsehkultur kommt dem Fernsehen in den USA eine wichtige Rolle im Prozess der Nationenbildung zu.42 Dies erklärt auch, weshalb dem Medium in dieser Phase üblicherweise eine starke Wirkung zugeschrieben wird: „Television was seen to be having ‚effects‘ on its audiences, ‚effects‘ that could ultimately be measured in terms of ‚increased propensity to violence‘ or ‚changes in attitude‘.“43 Solche Effekte werden zuweilen auch als die ‚Rhetorik‘ des Fernsehens beschrieben, obschon hier eher Machtaspekte im Mittelpunkt stehen, die dem Fernsehen zugeschrieben werden. Die network era oder era of scarcity ist eine äußerst prägende, ja, die Formierungs- oder Etablierungsphase des Fernsehens als Massenmedium, in der sich viele Spezifika des Fernsehens ausbilden, die auch heute noch für die Bestimmung des Fernsehens relevant sind. So schreibt Lotz: „The norms of the

37 38 39 40 41 42 43

Zit. n. Lotz (2007, 11). Vgl. Rosen (2004/2005, 67f.). Ellis (2000, 45). Ellis (2000, 40). Ellis (2000, 43). Ellis (2000, 46). Ellis (2000, 49).

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network era have persisted in the minds of many as distinctive of television, despite the significant changes that have developed over the past twenty years.“44 Die meisten dieser Merkmale waren jedoch erst in den 1960er Jahren wirklich etabliert, viele bleiben auch in der nächsten Phase des Fernsehens erhalten, so beispielsweise sekundäre → Oralität, → Alltäglichkeit, → Flüchtigkeit, → Serialität, parasoziale Interaktion und → Unterhaltung. Das fernsehtheoretische Konzept des → Flow, das Raymond Williams 1974 erstmals formulierte, fällt in das Ende der ersten Phase und nimmt bereits Merkmale der nächsten, zweiten Phase dieser Fernsehgeschichte vorweg. Zentral aus einer rhetorischen Perspektive ist für das Konzept u.a., dass mehrere Sender um die Aufmerksamkeit der Fernsehzuschauer konkurrieren und daher versuchen, sie mit der Darbietungsweise ihres Programms dauerhaft zu fesseln und an sich zu binden. Dafür muss sich das Programmangebot insgesamt ausweiten. Lotz erachtet in der multi-channel transition zum einen als entscheidend, dass sich die Programme und Sender vermehren und sich das Angebot v.a. durch die neuen Kabelanbieter insgesamt diversifiziert, zum anderen, dass dem Zuschauer durch technische Neuerungen wie Fernbedienung und Videorekorder mehr Selbstbestimmung zukommt.45 Dadurch etabliert sich der Rezeptionsmodus des → Umschaltens, der einen wichtigen rhetorischen Widerstand darstellt. Außerdem entwickeln sich Methoden der Zuschauermessung zu unumgänglichen Größen des Fernsehmarkts, die wiederum auch auf das Programmangebot und die Methoden der Aufmerksamkeitsregulierung (→ Infotainment) Auswirkungen haben. In der era of availability ist für Ellis ebenfalls die Ausweitung des Angebots der springende Punkt. Auswahl („choice“) wird zum Schlüsselwort.46 Fernsehen produziert und sendet nicht mehr unbedingt für ein Massenpublikum, sondern definiert Zielgruppen, entwickelt seinen Adressierungsmodus weiter und muss daher auch auf den ersten Blick wiedererkennbar sein. Mit Blick auf das Konzept der → Televisualität von John Caldwell schreibt Ellis: „What matters now is ‚style‘.“47 Es etabliert sich eine neue Oberflächenästhetik, die in dieser Phase als das Fernsehspezifikum schlechthin bezeichnet wird. Zum kennzeichnenden

44 Lotz (2007, 7). 45 Vgl. den Kurzüberblick über diese Phase bei Lotz (2007, 11–15). 46 Siehe Ellis (2000, 72): „The audience has fragmented, and television programmes can no longer claim, as they could in the era of scarcity, that they were definitive, that their necessary role was to lay out all the facts of the case, or, if fiction, to consist of one complete story in every episode. Now audiences have choice“. 47 Ellis (2000, 63).

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Modus des Fernsehens wird nach Ellis das ‚Durcharbeiten‘ („working through“). Diesen Terminus entlehnt er der Psychoanalyse Sigmund Freuds und bezeichnet damit verkürzt gesagt die Möglichkeit des Fernsehens, ein Thema in verschiedenen Genres und auf verschiedenste Weise in unterschiedlichen Bedeutungen zu erkunden und auf diese Weise ‚durchzuarbeiten‘, was dem Zuschauer in der postmodernen, immer komplexer und kontingenter werdenden Welt eine Art Orientierungsfunktion biete.48 In dieser Ära sind also die ersten größeren Veränderungen zu beobachten: Den Fernsehzuschauern wird es über die Fernbedienung erleichtert, um-, ausoder auch überhaupt einzuschalten; und auch durch die enorme Verbreiterung des Angebots haben sie die ‚Qual der Wahl‘. Durch den gesteigerten Wettbewerb um die Gunst und den Knopfdruck des Adressaten verändert sich ein wenig auch die kommunikative Grundstruktur des Mediums, sie wird sozusagen rhetorischer und verlangt von den jeweiligen Fernsehmachern, lauter und schriller auf sich aufmerksam zu machen (z.B. → Fernsehton, → Dramatisierung), besser erkennbar zu sein und den unterschiedlichen Zielgruppen jederzeit einen leichten Einstieg zu ermöglichen. Dennoch handelt es sich hierbei eher um eine Intensivierung oder Zuspitzung bereits vorhandener Spezifika, nicht um deren komplett neue Etablierung (was allenfalls beim Umschalten zu diskutieren wäre). Die übrigen Merkmale bleiben erhalten – das hier zur Diskussion gestellte kommunikative Grundmodell des Fernsehens könnte somit als veränderliches, aber zähflüssiges Modell bezeichnet werden, das mit veränderten technischen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen mitgeht, seinen Charakter jedoch nicht grundlegend wandelt. Bleibt die dritte Fernsehphase, post-network era oder era of plenty, die nach Lotz Mitte der 2000er Jahre beginnt und noch andauert, nach Ellis sogar bisher nur von der Fernsehindustrie ‚verheißen‘ wurde. Lotz zufolge besteht die wesentliche Veränderung hier nicht nur in einem weiteren Stadium der Ausweitung des Angebots, sondern vor allem in einem verändertem Nutzerverhalten: Der Zuschauer habe deutlich mehr Kontrolle darüber, was er wann und wo ‚fernsieht‘.49 Dabei ist wiederum die Digitalisierung die treibende Kraft, die sowohl

48 Vgl. Ellis (2000, 74–91, bes. 86f.): „The role of a public service broadcaster in this new environment is to provide the space in which these antagonisms can be explored, but without appearing to explore them in any explicit way. No longer the agent of a standardizing notion of national unity, public service broadcasting can provide the forum within which the emerging culture of multiple identities can negotiate its antagonisms.“ 49 Vgl. Lotz (2007, 15f.).

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die Distribution als auch die Aufzeichnung audiovisueller Texturen enorm erleichtert und daher auch die Auswahlmöglichkeiten für den Zuschauer multipliziert (dies betrifft insbesondere den Programmcharakter und die Linearität des Fernsehens). Durch den Computer und das Internet ergeben sich „non-television related factors“, die diese Entwicklung maßgeblich vorantreiben, insbesondere auch der Generationenwechsel hin zu den digital natives.50 Insgesamt ist das Fernsehen in der post-network era freilich sehr divers, existieren doch neben den neuen Rezeptionsformen immer noch diejenigen aus den vorangegangenen beiden Phasen.51 Ähnlich sieht dies auch Ellis. Die era of plenty beginnt, während in vielen Ländern noch die era of availability quasi in Kraft ist. Auch für ihn sind die Möglichkeiten der Fernsehzuschauer, das Angebot auf ihre persönlichen Bedürfnisse zuzuschneiden und es dann zu konsumieren, wenn sie selbst Lust darauf haben, zentrale Merkmale des ‚neuen‘ Fernsehens. In diesem Zusammenhang ausschlaggebend sind in erster Linie Zusatzkomponenten.52 Laut Ellis ergibt sich aus den vervielfältigten Auswahlmöglichkeiten jedoch nicht zwingend auch eine Veränderung des klassischen Fernsehens, von ihm „broadcast form of television“ genannt.53 Er geht eher davon aus, dass das klassische Fernsehangebot mit einer festen Programmstruktur angesichts von Zeitmangel und Auswahlmüdigkeit als erleichternd oder gar befreiend empfunden werden kann. Auch neue Formen von → Interaktivität, die etwa durch das Internet ermöglicht werden, dehnen nach Ellis das klassische Fernsehverständnis womöglich aus, ersetzen es jedoch nicht. Er kommt deswegen – im Gegensatz zu Lotz – zu dem Schluss: „the era of plenty will not see the end of broadcasting. Broadcasting will cease to be the only or even the predominant form for the consumption of audio-visual matter. Broadcasting will become one distinct form of the audio-visual. It will be distinguished by its continuing, crucial, social role of working through the emotions provoked by the process of witness.“54 Bei der hier eingenommenen rhetorischen Perspektive stehen analog zu Ellis ebenfalls weniger technische Realisierungsformen, Produktions- und Distributi-

50 Lotz (2007, 16f.). 51 Vgl. Lotz (2007, 19). 52 Ellis (2000, 169): „Televisions will be equipped with a greater number of peripheral devices which will enable them to process more information and to play an important role as domestic information systems.“ 53 Ellis (2000, 170): „But the real question is whether this increased and tailored choice will bring a profound transformation – or even disappearance – of the broadcast form of television, or will they develop as yet unused potentials in television technology?“ 54 Ellis (2000, 178).

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onsweisen oder ökonomische Randbedingungen im Fokus als soziokulturelle Faktoren, wenngleich diese unter Umständen eng miteinander zusammenhängen. Ellisʼ These, gerade in der era of plenty könne das Bedürfnis nach dem Fernsehen der älteren Phasen wachsen, deutet also darauf hin, dass sich die kommunikative Grundstruktur des Fernsehens selbst angesichts solch umwälzender Entwicklungen wie der Erfindung des Internet und der Digitalisierung nicht radikal wandelt, sondern unter Umständen sogar festigt. Dass wir eine ‚heiße‘ Phase des Fernsehens erleben, ist ohne Zweifel, schließlich wird derzeit in regelmäßigen Abständen eine neue Zukunft des Fernsehens ausgerufen.55 (Vom Tod des Fernsehens zu sprechen, hat man sich in den letzten Jahren dann doch wieder abgewöhnt.) Aktuell stehen die Begriffe Social Television und Second Screen hoch im Kurs, die sowohl die parasoziale Interaktion, die Interaktivität wie auch die Alltäglichkeit und das Medienereignis (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme) möglicherweise neu konturieren.56 Wir gehen auf diese Entwicklungen in den entsprechenden Artikeln ein, indem wir ausloten, welcher Art die Veränderungen sind und ob bzw. inwiefern sie tatsächlich Modifikationen am kommunikativen Leistungspotential des Fernsehens vornehmen. Die Überlegungen in den Kapiteln haben insgesamt eher gezeigt: Plus ça change, plus c’est la même chose. Fernsehen (auch das ‚klassische‘ Fernsehen) ist nicht tot – im Gegenteil: Gerade im Jahr 2012 sind mindestens drei Einführungen in die Fernsehtheorie oder die Fernsehwissenschaft erschienen,57 die bezeugen, welch wichtige Rolle das Fernsehen einnimmt als „central mode of information and entertainment in our present-day global culture“.58 Dieser zentrale Modus, so glauben wir, lässt sich als kommunikative Grundstruktur aus den folgenden Kapiteln in der Summe extrahieren. Es werden damit beileibe nicht alle Fragen beantwortet, die man an das Fernsehen stellen könnte – wohl aber eine aus unserer Sicht zumindest entscheidende: Auf welche Weise schafft es das Fernsehen, unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen und uns einen Kommunikationsraum zu eröffnen, der uns empfänglich macht für Plausibilisierungsstrategien und Persuasion – für welche konkrete Botschaft auch immer.

55 Vgl. zum neuen Fernsehen über die bereits genannten einschlägigen Werke von Ellis, Lotz und Stauff hinaus besonders Spigel/Olsson (2004), Krone (2009), Scolik/Wippersberg (2009) und Gillan (2011) sowie das Themenheft „neues fernsehen“ der Zeitschrift montage/av 21/1 (2012). 56 Vgl. etwa Gormász (2012) und van Es/Müller (2012). 57 Gray/Lotz (2012), Engell (2012) und Renner (2012). 58 Spigel (2004, 1).

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4. Z UM K ONZEPT

DES

B UCHES

Als Ausgangspunkte für die Suche nach rhetorischen Anschlussstellen in der Fernsehforschung dienten zunächst Einführungen, Sammelbände, Textsammlungen und Wörterbücher oder ähnliche Nachschlagewerke, die einen Überblick über die in der Fernsehforschung diskutierten Begriffe und Konzepte liefern oder als Standardwerke einzuschätzen sind. Hier sind beispielsweise zu nennen: Regarding Television (Kaplan 1983) und Logics of Television (Mellencamp 1990), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft (Adelmann u.a. 2002a), Handbuch Fernsehforschung. Befunde und Perspektiven (Plake 2004), Philosophie des Fernsehens (Fahle/Engell 2006) und Fernsehtheorie zur Einführung (Engell 2012). In formaler Hinsicht diente das Bändchen Grundbegriffe der Medientheorie als Anregung,59 da es Grundbegriffe einer Disziplin „mit ihrer Begriffs-, Theorie- und Wirkungsgeschichte zusammenstellt und versucht, ihre historische Genese wie auch ihre theoretische Tragweite zu erkunden“.60 Dennoch ist der vorliegende Band anders gelagert, da die Tragweite der Grundbegriffe und Konzepte nicht per se, sondern aus der rhetorischen Perspektive begutachtet wird. An all diese Werke wurden zwei Fragen gestellt: 1. Was wird in ihnen jeweils als Spezifikum des Fernsehens beschrieben, d.h. was zeichnet dieses Medium im Vergleich zu anderen Medien exklusiv aus (differentia specifica)? 2. Inwiefern lassen sich diese Spezifika mit der rhetorischen Perspektive in Einklang bringen? In wenigen Fällen hat die Fernsehforschung bereits solche Fernsehspezifika gut erschlossen, die für die Rhetorik fast unmittelbar anschlussfähig sind, etwa das Konzept des Flow oder der parasozialen Interaktion. Allerdings zeigte sich auch, dass viele einschlägige Beiträge der Fernsehforschung nicht direkt über Spezifika des Mediums Fernsehen nachdenken, sondern vor allem über Spezifika der fürs Medium Fernsehen typischen Texturen. Solche Beiträge wurden nur dann herangezogen, wenn sie sich nicht nur mit der ‚inhaltlichen‘ Gestaltung von Sportsendungen, Reality TV, Nachrichten, Fernsehserien etc. befassen, sondern mit ihrer fernsehspezifischen Beschaffenheit. Das Nachdenken über die relevanten Begriffe und Konzepte hat gezeigt, dass es wiederkehrende medienrhetorische Grundoperationen gibt, mit deren Hilfe sich die Potentiale des Mediums erfolgreich entfalten lassen. Oberstes Ziel einer Medienrhetorik des Fernsehens ist es demnach, den kommunikativen Kontakt zum Zuschauer zu etablieren, damit ein rhetorischer Kommunikationsfall mit

59 Roesler/Stiegler (2005a). 60 Roesler/Stiegler (2005b, 7).

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persuasiven Komponenten überhaupt erst entstehen kann. Diese funktionale medienrhetorische Strategie umfasst folgende Dimensionen: • • • • •

Involvierung und Aktivierung Etablierung einer Kommunikationsgemeinschaft Imagebildung Identifikation Evidenz

Bei der Involvierung und Aktivierung der Zuschauer stehen Strategien der Aufmerksamkeitsgewinnung im Zentrum, diese können als lautsprachliche Adressierungsformen und Ansprachemodi (etwa auch die Lenkung der Zuschauer durch die menschliche Stimme) in Erscheinung treten, aber auch die gesamte Multikodalität des Mediums einsetzen, um es zu einer Art ‚Wahrnehmungsmagnet‘ zu machen. Auf diese Weise wird eine Einladung zur Partizipation und Teilnahme ausgesprochen, die in vielen Fällen auch das Versprechen enthält, die Fernsehkommunikation für die Zuschauer zu einem ‚Event‘ oder Erlebnis zu machen. Aus Sicht der Rhetorik wird deutlich, dass das Fernsehen aufgrund seiner Flüchtigkeit im Grunde ein Auf-Dauer-Stellen der klassischen Eröffnungsstrategien erfordert: dazu zählt die Erregung der Aufmerksamkeit (attentum parare) und die Gewinnung des Wohlwollens (captatio benevolentiae) der Zuschauer genauso wie die ‚Vorschau‘ auf den Gegenstand der Rede – aufs Fernsehen übertragen der permanente Hinweis auf künftige Elemente des Fernsehprogramms. Was bei einer Rede in einer Face-to-Face-Kommunikation nur zu Beginn nötig ist, muss in der dimissiven Fernsehkommunikation also in einem wohlkomponierten Rhythmus immer wiederkehren. Gleichzeitig darf die Einladung zur Teilnahme und Partizipation nicht mehr Interaktivität versprechen, als über die räumlich und oft auch zeitlich entkoppelte Kommunikation möglich ist. Die Etablierung eines Kommunikationsvorgangs ist das funktionale Basiselement der Fernsehrhetorik. Seine Ausweitung findet dieses in der Etablierung einer Kommunikationsgemeinschaft, wobei sich diese ‚Kommunikationsgemeinschaft‘ in der Regel nur in der Vorstellung der einzeln oder in Kleingruppen fernsehenden Adressaten verwirklichen lässt. Dafür ist es wichtig, dass den Zuschauern klar ist, wer ihr kommunikatives Gegenüber ist (Imagebildung). Das kann auf der Ebene einer Medieninstitution (z.B. eines öffentlich-rechtlichen oder privaten Senders) geschehen, genauso aber auch auf der Ebene der einzelnen Formate oder der Ebene der Personae oder Oratorfiguren. Das rhetorische Ziel ist in jedem Fall die Bindung an dieses kommunikative Gegenüber, was auf Seiten der Fernsehoratoren ein genaues Adressatenkalkül voraussetzt. Diese

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Bindung kann zur Identifikation gesteigert werden, indem regelrechte Beziehungsofferten ausgesprochen werden. Diese lassen sich durch Strategien der Dramatisierung und Emotionalisierung unterstützen. Schließlich eröffnet das fernsehrhetorische Potential der Evidenz, also zum einen die Transparenzillusion und zum anderen die Anschaulichkeit, den Zuschauern die Möglichkeit, sich so in die Texturen des Fernsehens zu vertiefen, dass sie ein Gefühl von Augenzeugenschaft und Teilhabe bekommen. Das kann sie dafür entschädigen, nicht dabei zu sein, und ihnen eventuell die Möglichkeit eröffnen, ihren eigenen Alltag zu transzendieren. All diese Strategien dienen unter einer strenger gefassten Medienperspektive vorderhand nicht dazu, die Zuschauer von einer konkreten Botschaft zu überzeugen (Persuasion), sondern vielmehr dazu, sie für eine rhetorische Überzeugungsstrategie überhaupt erst zugänglich und empfänglich zu machen. Bei der fernsehspezifischen Vertextung geht es aus medienrhetorischer Sicht also vorwiegend darum sicherzustellen, dass die Textur auch bei unkonzentrierter oder beiläufiger Wahrnehmung oder gar bei häufigem Hin- und Herschalten die oben genannten pragmatischen Funktionen erfüllt. Fernsehtexturen sind häufig darauf ausgerichtet, die Zuschauer zu unterhalten oder sie über Spannungsbögen zu binden. Außerdem sollten sie für einen großen Adressatenkreis anschlussfähig und verständlich sein. Letzteres kann auch bedeuten, dass sich Fernsehoratoren auf mehrere, möglicherweise entgegengesetzte Wahrnehmungs- und Rezeptionsmodi seitens der Adressaten einstellen müssen: ernsthafte vs. ironische Rezeption bzw. konzentrierte vs. zerstreute Wahrnehmung. Gerade bei Reality-Formaten kann eine erfolgreiche Strategie daher darin bestehen, den Realitätsstatus des Gezeigten weitgehend ungeklärt zu lassen, um sowohl diejenigen Fernsehzuschauer anzusprechen, die das Gezeigte ernsthaft als ‚realistisch‘ einstufen, als auch diejenigen, die eine skeptische Inszenierungs- und Verfremdungsvermutung hegen und ironische Rezeptionsweise bevorzugen. In einigen Kapiteln wird zudem eine strukturelle Analogie von Fernsehrhetorik und epideiktischer Rhetorik (also Vorzeigerhetorik mit affirmativem Ansatz bei Gemeinschaftsereignissen, im Gegensatz zur Beratungs- oder Gerichtsrhetorik) aufgeworfen, die insbesondere darin begründet liegt, dass es in beiden Fällen kommunikative Gemeinschaften etabliert, Aufmerksamkeit und Wohlgefallen erregt und Normen und Werte eher bestätigt als in Frage gestellt werden. Im Rahmen dieses Buches ist es nicht möglich, die Tragfähigkeit dieser Analogie eingehend zu prüfen – es spricht jedoch vieles dafür, dass Elemente der epideiktischen Rhetorik für ein zu entwickelndes Modell von Medienrhetorik eine zentrale Rolle spielen könnten. Allerdings fehlt der Vorzeigerhetorik der Erfolgsdruck der Quote, was sie in ihrem Bemühen ernsthafter erscheinen lässt als das

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Fernsehen, das die strukturell ähnlichen Strategien oftmals nur zur Aufmerksamkeitserregung einsetzt, nicht aber, um tatsächlich eine Diskussion um gemeinsame Werte und Normen anzustoßen (etwa bei den grenzüberschreitenden Provokationsstrategien des Reality TV). Dies gilt jedoch sicherlich nicht für alle Fernsehformate. Eine grundlegende Diskussion dieser Frage müsste sich dann von der hier in den Blick genommenen Ebene des Mediums wieder stärker auf die Ebene der Texte und der darin implementierten Botschaften begeben. Das Buch versammelt die Kapitel unter drei Überschriften. Unter 1. Mediale Performanzdimension geht es um die performativen Kernaspekte des Fernsehens. Über diese Hauptspezifika hinaus gibt es Phänomene, die in der Fernsehforschung häufig diskutiert werden und durchaus typisch für das Fernsehen sind, aber nicht immer nur auf seine Medialität, sondern auch auf das Verhältnis von Medialität und Textualität (2. Textuelle Dimension) bzw. auf die Adressatenbezogenheit des Fernsehens (3. Adressatenorientierte Dimension) zugeschnitten sind und somit auch nicht für jedes Fernsehformat gleichermaßen gelten können. Schließlich ist das Fernsehen ein äußerst komplexes Medium mit zum Teil völlig unterschiedlichen Angeboten. Bei allen drei Teilen können sich Überschneidungen ergeben, bei manchen Begriffen bzw. Konzepten wären auch Mehrfachzuordnungen denkbar gewesen. Dies verdeutlicht, dass es sich bei den drei Dimensionen erstens um analytische Ebenen handelt, und dass sie zweitens einer rhetoriktheoretischen Ratio entspringen und folglich nicht immer deckungsgleich mit den Begriffen und Konzepten aus der Fernsehforschung sind, die für die Benennung und Konzeption der einzelnen Kapitel letztlich ausschlaggebend waren. Dieses Buch ist ein Gemeinschaftsprojekt von Joachim Knape und Anne Ulrich. Bei seiner Entstehung hat ein Team zusammengewirkt, das immer wieder den rhetorischen Kern des Fernsehens und seine Veränderungen intensiv diskutiert hat. Die redaktionellen Zuständigkeiten verteilen sich wie folgt: Für das Kapitel Format haben wir Ulrich Schermaul als Gastautor gewonnen. Markus Gottschling zeichnet für das Kapitel Serialität verantwortlich, Stefanie Hausner für Oralität, Sebastian König für Zerstreuung und Sarah Weltecke für Personalisierung. Joachim Knape verantwortet die Kapitel Alltäglichkeit, Emotionalisierung, Ereignis, Normalität und Ausnahme sowie Unterhaltung, Anne Ulrich alle übrigen Kapitel.

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L ITERATUR Abramson, Albert (2002): Die Geschichte des Fernsehens. Mit einem Nachwort des Hrsg. zur Geschichte des Fernsehens von 1942 bis heute. Übers. und hrsg. von Herwig Walitsch. München. Adelmann, Ralf u.a. (Hrsg.) (2002a): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz. Adelmann, Ralf u.a. (2002b): Perspektiven der Fernsehwissenschaft. In: Dies. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 7–19. Aristoteles: Rhetorik. Griech./dt. Übers. von Franz. G. Sieveke. München 1995. Baudry, Jean-Louis (1986): The Apparatus. Metapsychological Approaches to the Impression of Reality in the Cinema. In: Philip Rosen (Hrsg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader. New York, 299–318. Belliger, Andréa / Krieger, David (2006): Einführung in die Akteur-NetzwerkTheorie. In: Dies. (Hrsg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld, 13–50. Brunsdon, Charlotte (1998): What is the ‚Television‘ of Television Studies? In: Christine Geraghty / David Lusted (Hrsg.): The Television Studies Book. London u.a., 95–113. Cavell, Stanley (2002): Die Tatsache des Fernsehens [1982]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 125–164. Curtis, Robin (2008): Immersion und Einfühlung. Zwischen Repräsentationalität und Materialität bewegter Bilder. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 17/2, S. 89–107. Ellis, John (2000): Seeing Things. Television in the Age of Uncertainty. London, New York. Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung. Hamburg. Es, Karin van / Müller, Eggo (2012): The Voice: Über das ‚Soziale‘ des sozialen Fernsehens. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 21/1 , 63–84. Fahle, Oliver / Engell, Lorenz (Hrsg.) (2006): Philosophie des Fernsehens. München. Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin. Geißner, Hellmut (1987): Zur Rhetorizität des Fernsehens. In: Ders. / Rudolf Rösener (Hrsg.): Medienkommunikation. Vom Telephon zum Computer. Frankfurt a.M., 135–160.

E INLEITUNG

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E INLEITUNG

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1. Mediale Performanzdimension

Der erste Teil dieses Buches beschäftigt sich mit den performativen Kernaspekten des Fernsehens, die in der Summe seinen medienspezifischen Nucleus bilden. Hier geht es also am stärksten um die Medialität des Fernsehens und seine rhetorische Potentialität. Auf dieser analytischen Ebene werden Aufführungsbedingungen, Aufführungsprozesse und Aufführungsweisen des Mediums, die im Begriff der Performanz bereits vorgestellt worden sind, einer wissenschaftlichen Beobachtung unterzogen. Das betrifft etwa die Kanäle (auditiv, visuell) und die Ausdrucks-, Übertragungs- und Sinnesmodalitäten, die das Fernsehen bereitstellt, außerdem die Zeichensysteme (Kodes), die es zu verarbeiten vermag, Richtung und Reichweite von kommunikativen Operationen und nicht zuletzt raum-zeitliche Grund-Konstellationen. Insbesondere die Zeitlichkeit des Fernsehens ist für eine ganze Reihe von zentralen Merkmalen verantwortlich. Aus all diesen strukturellen Gegebenheiten resultiert der generelle ‚Charakter‘ des Mediums, der für die übrigen Dimensionen ausschlaggebend ist. Nicht jedes dieser Spezifika trifft exklusiv auf das Fernsehen zu, was sich leicht durch einen Vergleich mit anderen Medien überprüfen lässt. So kann auch das Radio eine Art Flow bereitstellen und die menschliche Stimme in den Mittelpunkt rücken, jedoch keineswegs eine bestimmte visuelle Ästhetik entwickeln. Auch ist nicht jedes Spezifikum für alle Formate des Fernsehens zutreffend (etwa → Liveness). Es zeigt sich also, dass die solchermaßen aus der Forschung zusammengetragenen Spezifika des Fernsehens erst in ihrer spezifischen Kombination die performative Grundstruktur des Fernsehens ergeben.

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AUDIOVISUALITÄT Das Fernsehen zeigt, wie jedes andere visuelle Medium, und tönt zugleich. Visuelle und auditive Elemente gehen bei der Performanz von Fernsehtexten in der Regel eine untrennbare Verbindung ein. Im Rezeptionsprozess wird das Ausblenden oder die plötzliche Störung eines der beiden zugehörigen Kanäle als Defekt erlebt. Der Begriff der Audiovisualität bezieht sich in diesem Sinn auf die Tatsache, dass das Fernsehen seine Adressaten über den akustischen und den optischen Kanal gleichzeitig erreicht. MICHEL CHION sieht hierin einen „added value“, also einen Zugewinn: „I mean the expressive and informative value with which a sound enriches a given image so as to create the definite impression, in the immediate or remembered experience one has of it, that this information or expression ‚naturally‘ comes from what is seen, and is already contained in the image itself.“1 Man kann bei der Audiovisualität, wie WERNER HOLLY dies tut, auch von einem bestimmten „Rezeptionspotential“ sprechen, „das mit den Sinnesorganen Ohr und Auge verbunden ist“ und der natürlichen Wahrnehmung ähnlich sei.2 Die fernsehspezifische Audiovisualität äußere sich in der komplexen Verschmelzung von Lautsprache und bewegtem Bild, die besonders zur Herausbildung gesprächshafter Kommunikationsformen führe.3 Sie bildet die Grundlage weiterer typischer Leistungsmerkmale des Fernsehens, etwa → Fernsehton, → Oralität oder → Televisualität. Zeichentheoretisch bedeutet Audiovisualität, dass Fernsehtexte multikodal sind (bezogen auf die angesprochenen Sinne wird auch von ‚Multimodalität‘ gesprochen). Mit anderen Worten: Fernsehtexturen bestehen aus einer Verbindung auditiver Kodes (musikalische, geräuschhafte, lautsprachliche) und visueller Kodes (Schrift, Bildzeichen oder Piktogramme usw.). Audiovisualität ist ein zentrales Kennzeichen sowohl des Kinos als auch des Fernsehens. Die Faszination dieser sogenannten ‚audiovisuellen Medien‘ liegt nach Holly vor allem darin, dass sie „etwas vom Reichtum der natürlichen Kommunikation in die mediale Kommunikation“ zurückbringen. „Es ist, als ob wir den kommunizierenden Menschen vor uns hätten, mit seiner ganzen dynamischen Rhythmik, mit seiner wirksamen Ausdruckskraft und auch mit der Flüchtigkeit seines Auftretens. Allein das erklärt schon den Erfolg von Tonfilm und Fernsehen, während die ‚unnatürlichen‘ Verbindungen weitaus weniger attraktiv

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Chion (1994, 5). Holly (2009, 391). Vgl. Holly (2004b, 123 und 126).

A UDIOVISUALITÄT

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sind, die von körperferner Schrift und bewegtem Bild im Stummfilm mit Zwischentiteln oder bei Untertitelungen bzw. die von Sprechsprache und starren Bildern, etwa bei Diavorträgen.“4 Audiovisualität erlaubt daher eine äußerst lebendige, beim Fernsehen sogar potentiell in Echtzeit performierte Simulation der lebensweltlichen Face-to-Face-Kommunikation. Deren „sinnliche Vergegenwärtigung“ sei, so auch KNUT HICKETHIER, mit der „Eigenschaft der machtvollen sinnlichen Überwältigung“ verbunden.5 JOSHUA MEYROWITZ geht davon aus, dass das Fernsehen wegen seiner audiovisuellen Simulationsfähigkeit auch leichter zugänglich ist als andere, etwa mit Schrift operierende Medien.6 Dennoch macht Holly klar, dass es sich im Fernsehen immer nur um eine „technische“ oder „sekundäre Audiovisualität“ handeln kann.7 Diese lässt aufgrund der unidirektionalen Fernsehkommunikation keine echte Interaktion zu und ist nach Holly obendrein in weitaus höherem Maße inszenier- und manipulierbar als die wesentlich spontanere Face-to-Face-Kommunikation (siehe auch → parasoziale Interaktion).8 In der Fernsehforschung wird die Audiovisualität auch unter Stichwörtern wie ‚Text-Bild-Beziehung‘ oder ‚Text-Bild-Schere‘ diskutiert, allerdings häufig nur am Gegenstand der Fernsehnachrichten und mit dem Ziel, die Behaltensleistung des Rezipienten bei unterschiedlichen Wort-Bild-Verhältnissen zu überprüfen. Den Tenor dieser Forschung beschreibt COLIN BERRY wie folgt: „Die vorherrschende Ansicht zur Text-Bild-Schere ist, daß Bilder das Erfassen und Behalten eines Textes fördern, wenn Text- und Bildinhalt parallel laufen. Eine effektive Text-Bild-Beziehung ist jedoch eher mit einem Pas de deux zu vergleichen. Hierbei ist es nicht die Aufgabe des Tänzers, jeden Schritt seiner Partnerin nachzuahmen, sondern ihn bei bestimmten wichtigen Bewegungen zu unterstützen.“9 So lassen sich verschiedene pragmatische Funktionsbeziehungen von Wort und Bild oder vielmehr auditiv und visuell performierten Textelementen unterscheiden, etwa Identifizierung, Weckung von Interesse, Dramatisierung etc.10 Letztlich sind nach Holly jedoch keine generellen Aussagen über die Be-

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Holly (2004a, 4). Hickethier (1995, 67f.). Meyrowitz (1987, 64). Holly (2004a, 5). Vgl. auch Holly (2009, 391). Vgl. Holly (2004b, 124). Berry (1988, 170), zur ‚Text-Bild-Schere‘ vgl. grundlegend Wember (1983). Vgl. hierzu etwa Huth (1985) und Brosius (1998).

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dingungen und Funktionsweisen der televisuellen Multikodalität wie -modalität möglich.11 Rhetorisch ist in Hinblick auf die Audiovisualität oder vielmehr Multikodalität von Bedeutung, dass sie Perzeptions- und Interpretationswiderstände aufgrund des höheren mimetischen Faktors reduziert, d.h. sie ermöglicht die Simulation von Echtzeit- oder Face-to-Face-Verhältnissen und damit eine größere Transparenzillusion als etwa das Radio, das nur den akustischen Kanal bedient, oder der Stummfilm, der von sich aus nur über den optischen Kanal verfügt. Auf diese Weise wird die Beeinflussung von Adressaten erleichtert, insbesondere, was die mediale Simulation von ‚Realität‘ in einer niedrigschwelligen Kommunikationssituation betrifft. Literatur Berry, Colin (1988): Rundfunknachrichtenforschung. Ein Beitrag zur Klärung der Wirkung von Präsentation und Motivation. In: Media Perspektiven 3, 166–175. Brosius, Hans-Bernd (1998): Visualisierung von Fernsehnachrichten. Text-BildBeziehungen und ihre Bedeutung für die Informationsleistung. In: Klaus Kamps / Miriam Meckel (Hrsg.): Fernsehnachrichten. Prozesse, Strukturen, Funktionen. Opladen, 213–224. Chion, Michel (1994): Audio-Vision. Sound on Screen. New York. Hickethier, Knut (1995): Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 4/1, 63–83. Holly, Werner (2004a): Fernsehen. Tübingen. Holly, Werner (2004b): Sprechsprache und bewegte Bilder: Audiovisualität. In: Ders. / Almut Hoppe / Ulrich Schmitz (Hrsg.): Sprache und Bild II. Göttingen, 122–134. Holly, Werner (2009): Der Wort-Bild-Reißverschluss. Über die performative Dynamik audiovisueller Transkriptivität. In: Angelika Linke / Helmut Feilke (Hrsg.): Oberfläche und Performanz. Untersuchungen zur Sprache als dynamischer Gestalt. Tübingen, 389–404.

11 Vgl. Holly (2004b, 132): „[D]ie genaue Beschreibung dessen, wie die ‚Verschmelzung‘ von Sprechsprache und bewegten Bildern im Detail vonstatten geht, […] steht uns erst noch bevor.“

FERNSEHTON

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Huth, Lutz (1985): Bilder als Elemente kommunikativen Handelns in den Fernsehnachrichten. In: Zeitschrift für Semiotik 7/3, 203–234. Meyrowitz, Joshua (1987): Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Aus dem Amerikan. von Michaela Huber. Weinheim. Wember, Bernward (1983): Wie informiert das Fernsehen? Ein Indizienbeweis. 3., erw. Aufl. München.

F ERNSEHTON Fernsehton wird gewöhnlich definiert als „Gesamtheit aller Schallereignisse im Fernsehen“.1 Er umfasst Geräusche (im Fachjargon auch ‚Atmo‘ genannt), Musik und Klang sowie Lautsprache, also jegliche Art von Signalen, die über den akustischen Kanal performiert werden. Bei der Fernsehproduktion spielt „sowohl die geeignete Auswahl und konkrete akustische Ausgestaltung der einzelnen Elemente, als auch deren Zusammenwirken in der Mischung, die Beziehung zu den Bildern und zum […] Kontext eine ganz wesentliche Rolle“.2 Aufgrund der Dominanz des Visuellen im Fernsehen wird dem Akustischen in Gestalt des Fernsehtons von der Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dies gilt allerdings nicht für die akustisch performierte Sprache (→ Oralität), besonders in Form der menschlichen Stimme. Offensichtlich wird die Lautsprache auf Textebene auch im Fernsehen noch immer als das maßgebliche semantische Steuerungsinstrument angesehen. Während die Lautsprache auch per Schrift in die Fernsehtextur integriert werden kann, sind Geräusche und Musik nur über den akustischen Kanal des Fernsehens in die Gesamttextur einzuspeisen. Dabei nimmt aber das akustisch realisierte, gesprochene oder gesungene Wort der Lautsprache aus rhetorischer Sicht den prominentesten Platz ein, weil es wie in der situativen Rede eine der effektivsten rhetorischen Beeinflussungsmöglichkeiten darstellt. Die lautsprachliche Adressierung wird in Kombination mit Geräusch und Bild in der audiovisuellen Fernsehtextur oft sogar zur maßgeblichen Lenkungs- und Deutungsschicht. Wichtig werden hier für die Lautsprache alle Arten der Sound-Einbettung. Zu den rhetorisch besonders wichtigen Steuerungsfunktionen des Fernsehtons gehört, die Aufmerksamkeit der Adressaten zu gewinnen und insbesondere deren Blick auf den Bildschirm zurückzulenken, sollte dieser einmal abschweifen. Dabei erfüllt der Fernsehton kennzeichnende und hervorhebende Aufgaben und hat bei den Fernsehtexturen nicht

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Schätzlein (2005, 185). Raffaseder (2007, 76).

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selten hermeneutische Hilfs- oder gar Schlüsselfunktion (Leitmotivtechnik, → Format). Er kann nicht nur mit einzelnen Tonsignalen zur Aufmerksamkeitserregung, sondern auch mit gesamten ‚Klanglandschaften‘ arbeiten, die eine spezifische Sound-Atmosphäre schaffen, die dem Zuschauer vertraut ist und ihn an ein bestimmtes Format oder an einen bestimmten Sender bindet. Der Ton ist ein eher vernachlässigtes Gebiet der Fernsehforschung. So gilt prinzipiell immer noch, wie FRANK SCHÄTZLEIN im Jahr 2005 konstatierte, dass es „bisher nur sehr wenige medienwissenschaftliche Untersuchungen zur Technik, Ästhetik, Funktion und Entwicklung von Ton und Sounddesign im Medium Fernsehen“ gibt.3 Eine Ausnahme bildet nach Schätzlein lediglich das Thema ‚Musik im Fernsehen‘. Als wegweisende Arbeit ist der Aufsatz Television Sound von RICK ALTMAN aus dem Jahr 1986 anzusehen,4 der dem Fernsehton im Grunde wichtige rhetorische Funktionen zuschreibt, ohne diese allerdings als solche zu benennen. Altman betrachtet den Ton besonders im Zusammenhang mit zwei fernsehwissenschaftlichen Konzepten, dem → Flow und der Konkurrenz um die → Quote. Ton selbst wird bei Altman nicht explizit definiert; aus seinen Ausführungen geht jedoch hervor, dass er darunter sowohl Musik und Geräusch als auch die menschliche Stimme versteht. Eine solche Bestimmung findet sich auch bei MICHEL CHION.5 Altman stellt die These auf, dass eigentlich nur jedes zweite Fernsehgerät, das eingeschaltet sei, auch aktiv genutzt werde – in den übrigen Fällen dominierten Nebentätigkeiten im Haushalt (etwa Arbeit, Essen, Reden, Lesen, Nähen, Fürsorge fürs Kind etc.) die Fernsehrezeption.6 Da es den Fernsehmachern in erster Linie um die Quoten und damit um den Profit gehe, sei das primäre Ziel, die Zuschauer davon abzuhalten, den Fernseher auszuschalten. Hier kommt nun der Ton ins Spiel: Für Altman ist er die „dominierende Methode der Vermittlung zwischen dem, was Williams ‚flow im Programm‘ nennt und dem, was ich als ‚Haushalts-flow‘ bezeichnen würde“.7 Er bezieht sich dabei auf JOHN ELLIS: „Sound can be heard where the screen cannot be seen. So sound is used to ensure a certain level of attention, to drag viewers back to looking at the set. […] Sound holds attention more consistently than image, and provides a continuity that

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Schätzlein (2005, 184). Vgl. Altman (2002 [1986]). Vgl. Chion (1994, 5–9). Vgl. Altman (2002, 396f. und 392). Altman (2002, 396).

FERNSEHTON

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holds across momentary lapses of attention.“8 Dem Adressaten muss also das Gefühl vermittelt werden, dass alles Wichtige vom Ton angekündigt wird und er während einer low-involvement-Phase nichts Wesentliches verpasst. Dies gelingt durch eine ausreichende Plot- und Informationskontinuität, die es dem Adressaten ermöglicht, eine Sendung nur auditiv zu verfolgen und dabei Nebentätigkeiten im Haushalt zu erledigen.9 In diesem Zusammenhang unterscheidet Altman nun mehrere Funktionen des Fernsehtons:10 1. Kennzeichnende Funktion: In vielen Texturen muss der Fernsehton thematische Akzente setzen und inhaltlich entscheidende Segmente der Sendung kennzeichnen, so dass es dem Adressaten möglich ist, wichtige Passagen zu erkennen und kognitiv zuzuweisen bzw. in den Sendungsverlauf einzuordnen. 2. Hervorhebende Funktion: Da das Fernsehen über eine „charakteristische irreversible Vorführungssituation“11 verfügt (→ Flüchtigkeit), besteht die Gefahr, bei unaufmerksamer Rezeption möglicherweise etwas Spektakuläres zu verpassen. Da die Hälfte der Adressaten nicht konzentriert vor dem Fernsehgerät sitzt, dient der Ton also der Hervorhebung spannender Passagen. Tonsignale kündigen „das an, was sehenswert ist, statt es nur zu hören“,12 und erlauben damit dem Adressaten, von einer rein auditiven und unaufmerksamen zu einer audiovisuellen und aufmerksamen Rezeption zu wechseln. 3. Hermeneutische Funktion: Da der Ton so angelegt ist, dass er immer nach einer Identifikation mit einem sichtbaren Objekt, seiner Tonquelle, ruft, hat er auch eine hermeneutische Funktion: Der Adressat gewöhnt sich an das Gefühl der strukturellen Vollständigkeit und vertraut darauf, dass das Fernsehen neben dem Ton auch die Tonquelle anzeigt. Dementsprechend leitet der Ton hier eine „Einbindung des Zuschauers ein“, denn dieser entdecke die Tonquelle selbst, sobald er auf den Bildschirm blicke.13 Außerdem befasst sich Altman mit der auditiven Funktion des ‚internen Zuschauers‘, also etwa einer Fernsehpersona (→ Persona) oder dem Studiopublikum. Dieser ‚interne Zuschauer‘ sei meistens nicht zu sehen, dafür aber zu hören, und seine Aufgabe liege darin, die Aufmerksamkeit des externen Adressaten zu steuern. Als eine Art Filter oder Kommentar schalte er sich zwischen Studiogeschehen und Adressaten. Als Beispiel nennt er den Studioapplaus oder das

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Ellis (1982, 128). Altman (2002, 394f.). Vgl. Altman (2002, 398–402). Altman (2002, 399). Altman (2002, 400). Altman (2002, 401).

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Studiogelächter, aber etwa auch die Stimmen von Sportkommentatoren.14 Zum entscheidenden Phänomen kann dabei das Voranschreiten des Tons werden, denn zunächst muss der Adressat über den gewissermaßen vorgezogenen Ton zum Bild gerufen werden, bevor er das Ereignis sehen kann. So ist beispielsweise der Applaus schon zu hören, bevor der Showmaster erscheint.15 Da das Fernsehgerät mit anderen Objekten in seinem Umfeld konkurriert, übernimmt der Ton auch eine steuernde Funktion: Es „stellt seine Anfragen offen, spricht das Publikum direkt an und verwickelt so die Zuschauer in einen Dialog“, und suggeriere außerdem, dass der Adressat selbst herausfinden solle, was auf visueller Ebene passiert (→ Interaktivität).16 Die neuere Forschung hat sich in Anlehnung an die kennzeichnende und hervorhebende Funktion des Fernsehtons bei Altman stärker mit ‚Sounddesign‘ oder ‚Audiodesign‘17 beschäftigt. Darunter wird die absichtsvolle Gestaltung der akustischen Ebene verstanden, die folgende Ziele verfolgt: „Image-Bildung (Positionierung) und Eigenwerbung des Programms, das ‚Verpacken‘ oder Hervorheben einzelner Programmelemente, das Erzeugen und Erhalten des Programmflusses und die Steuerung der Aufmerksamkeit des Zuschauers“.18 Stärker noch als bei Altman wird dabei in Begriffen des Corporate Design gedacht – es ist die Rede von charakteristischen Trailern, Senderkennungen, Openern und Closern, Werbetrennern und eigenen „Audiologos“, die an den Nahtstellen des Programms eingesetzt werden und über einen hohen Wiedererkennungswert verfügen (zu deren visuellen Pendants siehe auch → Televisualität).19 Allerdings werde das Sounddesign im Gegensatz zum visuellen Corporate Design bislang „eher wie ein Firmengeheimnis behandelt“.20 Dies deutet darauf hin, dass der solchermaßen auditiven Aufmerksamkeitslenkung eine höhere, weil unbewusstere Wirkungs- bzw. Persuasionsleistung zugetraut wird als der visuellen. Daneben dient der Fernsehton vorwiegend dazu, eine bestimmte Klanglandschaft zu erzeugen und den Adressaten in eine für den Kommunikations- oder rhetorischen Persuasionsprozess günstige Stimmung zu versetzen.

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Vgl. Altman (2002, 402–405). Altman (2002, 406f.). Altman (2002, 407). Vgl. Raffaseder (2007). Schätzlein (2005, 198). Zur persuasiven Struktur von Musik im Allgemeinen vgl. Hörr (2009). Schätzlein (2005, 199f.).

F LOW

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Literatur Altman, Rick (2002): Fernsehton [1986]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 388–412. Chion, Michel (1994): Audio-Vision. Sound on Screen. Hrsg. und übers. von Claudia Gorbman. New York. Ellis, John (1982): Visible Fictions. Cinema, Television, Video. London u.a. Hörr, Sara (2009): Musik-Rhetorik. Melodiestruktur und Persuasion. Berlin. Raffaseder, Hans (2007): Audiodesign. Ein intermodaler Ansatz für Analyse, Konzeption, Produktion und Lehre der Tonspur in den Medien. In: HansUlrich Werner / Ralf Lankau (Hrsg.): Media Soundscapes II: Didaktik, Design, Dialog. Siegen, 70–92. Schätzlein, Frank (2005): Ton und Sounddesign beim Fernsehen. In: Harro Segeberg / Ders. (Hrsg.): Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Marburg, 184–203.

F LOW Der Begriff ‚Flow‘ wurde von RAYMOND WILLIAMS als fernsehtheoretische Kategorie geprägt, die sich sowohl produktions- als auch rezeptionsseitig interpretieren lässt. In der produktionsseitigen Interpretation, die von der Rhetorik bevorzugt wird, ist damit eine strategische („planned“) und medientypisch ‚flussförmige‘ Aneinanderreihung von Programmeinheiten gemeint.1 Die Performanz zielt darauf ab, die Trennung zwischen den einzelnen Programmeinheiten aufzuheben und den Adressaten in einen quasi übergangslosen Programmfluss ‚hineinzuziehen‘. Dies wird von den Bedingungen der Linearität und der Unidirektionalität begünstigt: Der Adressat soll alles, was er sieht, als einen Fluss ohne Anfang und Ende erfahren.2 Damit wäre eine wichtige Differenz zum Medium Kino formuliert, das normalerweise auf die separate Performanz einzelner Filmtexte eingestellt ist. Rezeptionstheoretisch bezeichnet Flow die individuelle Erlebnisform des ‚Eintauchens‘ in das dargebotene Fernsehprogramm, wobei der Rezipient in dieser Deutung nicht zwingend bei einem Sender verweilt, sondern

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Williams (1974, 90). Zur Linearität des Programmangebots vgl. Neverla (1992, 74): „die einzelnen Sendungen können nur nacheinander und in der von der Institution vorgesehenen Zeit rezipiert werden“.

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zwischen Sendungen und Sendern quasi übergangslos hin- und herwechselt und aus dieser fragmentierten Erfahrung selbst einen kommunikativen Sinn erzeugt. Ein möglicher Gegenbegriff zum Flow ist das Medienereignis (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme), das den nivellierenden Sendefluss jäh durchbricht. Die beim Flow unter Umständen entstehende Suggestion und Faszination der Illusion eines Erlebnisflusses kann zu einer Apperzeptionsbindung an den jeweils aktuellen Sendeverlauf des gerade eingeschalteten Senders führen. In gewissem Sinne kann der Flow auch als → Dramatisierung auf Programmebene bezeichnet werden. Noch heute gilt der Williams’sche Flow – nicht zuletzt wegen seiner definitorischen Offenheit – als eines der wichtigsten fernsehtheoretischen Konzepte.3 Der Begriff des Flow ist deshalb an die rhetorische Theorie anschlussfähig, weil er Lenkungs- und Steuerungselemente aufweist und an das Konzept des Aufmerksamkeitspostulats (attentum parare) angeknüpft werden kann, woraus sich produktionstheoretische Konsequenzen ergeben. JOHN ELLIS unterscheidet bezüglich der Aufmerksamkeit zwei Phänomene: Er grenzt den „gaze“, das intensive Rezipieren, ab vom „glance“, dem flüchtigen Zuschauerblick, der eine unkonzentrierte Rezeption nach sich zieht. Während Ersteres dem Kino zuzuordnen ist, verfolgen laut Ellis die Zuschauer am Fernseher das Geschehen nur flüchtig (→ Flüchtigkeit).4 Aus diesem Grund ist es für die Produzenten der Sendungen von besonderer Bedeutung, die Zuschauer strategisch an den Sender zu binden. Dieses Phänomen lässt sich als rhetorische Bindungsstrategie der unterschiedlichen Sender im Wettstreit gegeneinander auslegen (→ Quote). Kann HEINZ SCHWITZKE 1953 noch behaupten, dass es im Fernsehen „kein ‚fill up‘ und kein permanentes Programm“ gebe und somit das „gedankenlose Laufenlassen“ des Gerätes erschwert werde,5 hat sich die Einschätzung gut 20 Jahre später gewandelt. Laut Williams gab es in den 1970er Jahren einen signifikanten

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Vgl. Uricchio (2004, 165): „The concept’s power and longevity owes as much to this dynamic and shadowy definition as to its descriptive power for the ever-slippery identity of television. Despite its continued (if more muted) invocation, the concept of flow is perhaps most important for the debate and theorization it has provoked.“ Etwas kritischer Laing (1991, 167): „the problem with ‚flow‘ is that it is a concept which was asked to do too much – to cover too many diverse aspects of the contemporary situation as well as to be the defining characteristic of the medium.“ Ellis (1982, 137). Ellis äußert jedoch Kritik am Flow-Konzept (117–119), u.a. mit dem Argument: „The ‚spot‘ advertisement is in many ways the quintessence of TV“ (118). Schwitzke (1953, 13).

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Wechsel im Fernsehen vom Konzept der Abfolge als Programm („sequence as programming“) hin zum Konzept der Abfolge als Flow, der aber schwer zu erkennen sei, weil auch das ältere Konzept noch aktiv sei (→ Programmstruktur).6 Für Williams ist der Flow das zentrale Merkmal der Fernseherfahrung: „In allen entwickelten Rundfunk- und Fernsehsystemen ist die charakteristische Organisation – und deshalb auch die charakteristische Erfahrung – die der Sequenz oder des flow. Das Phänomen eines geplanten flow ist damit vielleicht das entscheidende Kennzeichen des Fernsehens und zwar gleichermaßen als Technologie wie als kulturelle Form“.7 Werden einzelne Programmeinheiten (formatgerechte Sendungen, Werbung oder Trailer) als Flow performiert, lösen sich diese zwar nicht auf, der Adressat kann sie aber durch die Art der Darbietung nicht mehr voneinander unterscheiden und nimmt sie daher als Ganzes wahr, so Williams. Dies hat seine Ursache darin, dass die Sendeeinheiten nicht mehr klar genug durch klangliche oder visuelle Intervalle voneinander abgegrenzt werden.8 So ist der Flow nach ROLF F. NOHR „idealtypisch vielleicht beschreibbar als permanent ‚gemorphter‘ Übergang von einem Format zum anderen“.9 Die einzelnen Formate bleiben für sich erkennbar (wovon Programmtafeln oder externe Veröffentlichungen wie etwa Programmzeitschriften zeugen), verschwimmen jedoch in der Performanz an den Rändern miteinander. Dies erzeugt einen Eindruck von Unendlichkeit, den IRENE NEVERLA im Begriff der „Endloszeit“ fasst.10 Nach LORENZ ENGELL ist dies lediglich eine vorgetäuschte Unendlichkeit: „Die nacheinander erscheinenden Sendungen haben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, tatsächlich gar keinen Zusammenhang, so daß jede Sendung in sich selbst ein Neuanfang ist“; folglich handle es sich eigentlich um „Endlichkeit“.11

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Vgl. Williams (1974, 89), auf Deutsch und gekürzt Williams (2002). Vgl. auch Dienst (1994, 26): „Constant interruption has been transformed into something like its opposite, continuity.“ 7 Williams (2002, 33). 8 Raymond Williams hat sein Konzept in einem Hotelzimmer in Miami entwickelt, wo er anfing, seine Eindrücke des amerikanischen Fernsehens systematisch zu studieren. William Uricchio (2004, 166f.) hat zu rekonstruieren versucht, wie viele Fernsehsender Williams dabei zur Verfügung standen, und kommt zu folgendem Ergebnis: „we can reasonably assume that he had something like five or possibly six channels available and no cable or VCR“. 9 Nohr (2008, 187f.). 10 Neverla (1992, 63): „Das elektronische Medium Fernsehen bietet mit seinem faktischen Programmangebot rund um die Uhr ein Endlosprogramm.“ 11 Engell (1989, 167).

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Dieses „Ersetzen der Programmreihung […] durch eine flow-Reihung“12 manifestiert sich auch in der Konzeption von Werbeunterbrechungen. LEIF D. NELSON, TOM MEYVIS und JEFF GALAK stellen in diesem Zusammenhang die These auf, dass Werbeunterbrechungen die Seherfahrung verbessern, da sie einen Gewöhnungseffekt verhindern und somit vor Langeweile schützen.13 Zudem können Unterbrechungen die Spannung weiter aufbauen. Falls die Werbeunterbrechungen die Affekte stimulieren, kann dies einen positiven Effekt auf die Show selbst haben: „Although people prefer to avoid disruptions in television programming, we observe that disruptions can actually improve the viewing experience. People often adapt to the experience of watching television such that each successive minute is slightly less enjoyable than the previous one.“14 Für die Adressaten äußert sich der Flow nach Williams wie folgt: „Wir können uns schon ‚in‘ etwas Neuem befinden, bevor wir die Energie gesammelt haben, uns aus dem Stuhl zu erheben; und viele Sendungen werden mit diesem Wissen im Hinterkopf gemacht: Das Binden von Aufmerksamkeit in den Anfangsmomenten; das wiederholte Versprechen, aufregende Dinge zu zeigen – wenn wir (dran)bleiben.“15 JANE FEUER zufolge ist für diesen Effekt auch die Unmittelbarkeit des Fernsehens (→ Liveness) und die häusliche Rezeptionssituation verantwortlich, die den illusionären Flow als real erscheinen lasse. Der Rezipient nehme das ständig sendende Fernsehen zuhause als völlig normalen Bestandteil seines täglichen Lebens wahr. Anders als Williams denkt Feuer Flow jedoch immer im Zusammenhang mit Segmentierung. So modifiziert sie die Williamsʼsche Flow-Definition wie folgt: „segmentation is already a property of the text. Williams should more accurately say that television processes segmentation without closure, for this is what he really means by ‚flow‘.“16 Das Ziel der ‚flüssigen‘ Programm-Strukturierung besteht gemäß Williams darin, den jederzeit zugänglichen Flow aufrechtzuerhalten und somit die Zuschauer so lange wie möglich an den jeweiligen Sender zu binden: „Immer dann wenn es zur Konkurrenz zwischen Fernsehsendern kommt, wird dies zum Gegenstand bewusster Aufmerksamkeit: die Zuschauer am Anfang eines flow zu binden.“17 Die Flussmetapher charakterisiert das Fernsehen übrigens auch als eine permanente Quelle, aus der die Zuschauer sich gewissermaßen speisen kön-

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Williams (2002, 40). Nelson/Meyvis/Galak (2009, 160). Nelson/Meyvis/Galak (2009, 169). Williams (2002, 41). Feuer (1983, 15f.). Williams (2002, 40).

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nen (also als ein Push-Medium).18 Die Bindung wird evoziert durch „Trailer für Sendungen, die zu einer späteren Uhrzeit oder an einem darauf folgenden Tag gezeigt werden, sowie spezifische Programmhinweise. Dies wurde unter Konkurrenzbedingungen intensiviert, als es für die Planer in den Sendeanstalten wichtig wurde, Zuschauer für den gesamten Ablauf eines Abends an sich zu binden – oder wie sie es ausdrückten, sie ‚einzufangen‘.“19 Damit ist Williams nach JOSTEIN GRIPSRUD ein Kind seiner Zeit: „The main point in connection with Williams’s ‚flow‘ metaphor […] is that it carries some of the fear typical of his generation of critical intellectuals in relation to modern mass media.“20 Dem Fernsehen werde eine enorme Wirkungsmacht zugeschrieben, „an energy, a relentlessness in the stream which viewers can be overwhelmed by, dragged into and along with.“21 Dieses Konzept korrespondiere mit der Vorstellung eines vorwiegend passiven Zuschauers, der im Strom mitschwimme und dem nichts schwerer falle, als den Aus-Knopf zu drücken.22 Neuere Forschungen, die dem Zuschauer eine aktivere Rolle zusprechen, haben das Flow-Konzept entsprechend modifiziert. Williams’ Flow-Konzept ist als „unglückliche Metapher“ kritisiert23 und zugleich vor allem in Richtung Rezipientenorientierung weiterentwickelt worden, was aus rhetorischer Sicht jedoch nur bedingt anschlussfähig ist. So schreibt HANS JÜRGEN WULFF: „Flow […] bringt nichts in Gang, es gibt kein kommunikatives Ziel und keine Kontrolle der flow-Effekte. Flow-Theorien sind tendenziell immer Rezeptionstheorien, Rezipiententheorien.“24 Unter Flow wird dann eine rein individualisierte, auch auf Umschalt-Praktiken beruhende rezipientenseitige Erfahrungsweise und Bedeutungskonstitution verstanden, die sich von der ‚Montage‘ als bewusster Anordnung abgrenzt.25 Die Rhetorik jedoch übernimmt den Flow-Begriff (und nicht den Montage-Begriff) für die produktionstheoretische Sichtweise, um die bewusste Hervorrufung einer solchen Wahrnehmungsmodalität beim Adressaten durch den Fernsehorator zu bezeichnen.

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Zur Flussmetapher vgl. auch Wenzel (2008, bes. 41f.). Williams (2002, 37f.). Gripsrud (1998, 29). Gripsrud (1998, 28). Vgl. Williams (2002, 41): „Weiterhin ist es eine häufig, wenn auch reumütig zugegebene Erfahrung, dass es viele von uns schwierig finden, den Fernseher auszuschalten“. 23 Fiske (1987, 100f.): „Flow, with its connotations of a languid river, is perhaps an unfortunate metaphor: the movement of the television text is discontinuous, interrupted, and segmented.“ Ähnlich auch Engell (1989, 167f.). 24 Wulff (1995, 25). Ähnlich auch Nohr (2008, 190). 25 Vgl. Wulff (1995, 25).

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Diese Wahrnehmungsmodalität hat HERBERT SCHWAAB jüngst noch einmal charakterisiert – gerade auch angesichts der Konvergenz von Fernsehen und Internet. Für ihn besitzt das Fernsehen die Eigentümlichkeit, den Zuschauern etwas zu bieten, nach dem sie vielleicht gar nicht gesucht haben: „Es ist die große Herausforderung und Leistung des Fernsehens, eine Sehanordnung zu bieten, die es den Betrachtern ermöglicht, überrascht und überwältigt zu werden und ihre Aufmerksamkeit auf intensive Weise einem Gegenstand zu widmen, von dem sie nicht wussten, dass sie ihn gesucht haben.“26 Das Potential des Flow sorgt demnach dafür, den Zuschauern etwas anzubieten, an dem sie auf eine ganz spezifische Art und Weise ‚hängenbleiben‘ können. Das ‚klassische‘ Fernsehen sendet rund um die Uhr – es läuft, auch wenn man es nicht rezipiert. Ein Zuschauer, der sich entschließt, fernzusehen, braucht sich also nicht von vornherein für eine bestimmte Sendung zu entscheiden, sondern kann per → Umschalten so lange suchen, bis er etwas gefunden hat – und nach dem Ende dieser Sendung quasi übergangslos in die nächste hineingezogen werden. Es gibt natürlich auch gezieltere Rezeptionsweisen. Diese werden besonders durch die Digitalisierung mit vereinfachten Aufzeichnungs- und Angebotsstrukturen gefördert – sei es durch TiVo und ähnliche Anbieter, die das Aufzeichnen und zeitversetzte Ansehen von Lieblingssendungen erleichtern, oder durch Online-Mediatheken oder ähnliche Dienste der Fernsehmacher selbst, die ihre Sendungen über den Ausstrahlungstermin hinaus verfügbar machen (oft jedoch nur für eine begrenzte Zeit). Solche Angebotsstrukturen haben nichts mehr mit dem von Williams beschriebenen Programmcharakter und Flow des Fernsehens zu tun – allerdings war schon bei Williams klar, dass neben Flow-förmigen Programmstrukturen auch noch die älteren, auf Einzelsegmenten beruhenden Programmstrukturen existieren.27 So tritt heute neben das Flow-Fernsehen ein Fernsehen, das wieder stärker zu Segmenten tendiert, diese jedoch aus dem klassischen Sendeablauf auskoppelt und auf anderen Plattformen anbietet. Für Fernsehmacher ist dies weiterhin eine Sekundärverwertung: Die im Flow-Fernsehen geplante Ausstrahlung hat Priorität, bisher auch bei der Berücksichtigung der Quote. Aber die Sekundärverwertung kann helfen, eine neue, in der Regel jüngere Zielgruppe, zumindest aber eine Zielgruppe, die stärker danach strebt, ihr eigener Programmdirektor zu sein,28 anzusprechen und mit den neuen Angebotsstrukturen weiterhin an sich zu binden. Diese Zielgruppe lässt sich ihren häusli-

26 Schwaab (2012, 121). 27 Williams (2002, 36). 28 Vgl. etwa Stauff (2005, 61f).

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chen Alltag nicht von den Ablauf-Vorgaben des Fernsehens vorschreiben,29 sondern bestimmt den Zeitpunkt selbst, an dem sie ihre Sendungen rezipiert. Sie versteht das feste Programmschema, so schreibt der selbsternannte „Social-TVEnthusiast“ FRANK BARTH, lediglich als „Serviervorschlag“.30 Diese kommunikative Grundstruktur ist nach Ellis charakteristisch für die dritte Phase der Fernsehgeschichte, bei ihm „era of plenty“ genannt, die von fast unendlichen Auswahlmöglichkeiten geprägt ist.31 Doch auch er stellt sich die berechtigte Frage, „whether this increased and tailored choice will bring a profound transformation – or even disappearance – of the broadcast form of television, or will they develop as yet unused potentials in television technology?“32 Im Zeitalter des Zeitmangels führen zu viele Auswahlmöglichkeiten und das Gefühl, ständig das Beste zu verpassen, nach Ellis zu Auswahlmüdigkeit („choice fatigue“), aus der sich eine nostalgische Sehnsucht nach Schemata und Gewohnheiten ergebe: „Broadcast television answers to this feeling. From the perspective of choice fatigue, its schedules might appear to be liberating.“33 Die „era of plenty“ verlangt also trotz allem auch nach Angebotsstrukturen, die über die klassische, fernsehspezifische Flow-Struktur verfügen – offensichtlich wird die zeitliche Ordnungsstruktur nicht nur als zu überwindendes Defizit, sondern auch als kommunikative Befreiung oder Erleichterung angesehen. WILLIAM URICCHIO verhandelt diese beiden Formen auch unter den Stichworten sit back und lean forward.34 Beide Rezeptionshaltungen ergeben sich aus den basalen Kommunikationsstrukturen des Fernsehens und sind als eine Art Dialektik womöglich künftig zusammenzudenken. Es spricht jedenfalls einiges dafür, dass das sitback-Fernsehen des Flow nicht einfach verschwindet, nur weil es neue Aufzeichnungs- und Angebotsstrukturen gibt. Selbst bei Video-on-demand-Angeboten von Fernsehanstalten sind sit-backAngebote zu beobachten. Dort können Videos der Sendungen zwar einzeln angesehen werden und sind dann auch „definitiv zu Ende“, wie Schwaab zu Recht schreibt.35 Allerdings werden den Nutzern etwa von Online-Mediatheken stets

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Vgl. bes. Modleski (1983). Barth (2013). Vgl. Ellis (2000, 162–178). Ellis (2000, 170). Ellis (2000, 171). Vgl. Uricchio (2004, 171). Schwaab (2012, 126): „Selbst wenn ganze Episoden oder Dokumentationen auf Mediatheken der Sender zu betrachten sind – wenn das Programm zu Ende ist, folgt kein Übergang zu einem anderen Segment, es ist definitiv zu Ende: Es hat eine grundlegend andere Konfiguration als ein Programm im Fernsehen.“

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neue Videos angeboten, die nur einmal angeklickt werden müssen, um den ‚Flow‘ fortzusetzen. So bedarf es zwar dieses Klicks, um das Angebot am „Fließen“ zu halten, aber es bedarf – sollte sich der Nutzer in einem sit-back-Modus befinden – nicht einer erneuten und gezielten Suche in den großen Weiten des Internet. Die Anschlussvideos werden jedoch nicht nach einer Programmlogik ausgesucht, sondern individuell auf die Interessen des Nutzers zugeschnitten, so dass er sich gegebenenfalls sogar noch stärker an den jeweiligen Anbieter bindet. Auch das Video-Portal YouTube setzt auf Simulationen des televisuellen Flow, etwa wenn einzelne ‚Channels‘ eingerichtet werden, in denen mehrere Videos desselben ‚Anbieters‘ nacheinander betrachtet werden können, oder wenn wie bei den Mediatheken ähnliche Videos zur Weiterbetrachtung ‚vorgeschlagen‘ werden. Hier wird womöglich also ein Fernsehspezifikum ins Internet übertragen, das diejenigen Onlineangebote betrifft, die das ursprünglich fernsehspezifische Berieselungspotential ausschöpfen möchten. Man könnte diesen Gedanken noch mit weiteren Beispielen illustrieren, etwa dem sogenannten ‚Binge Viewing‘, bei dem ausstrahlungsunabhängig sehr viele Folgen einer Fernsehserie in Mediatheken, per Streaming im Internet oder über DVD bzw. Blu-ray nacheinander angesehen werden. Dies komprimiert quasi die Linearität und → Serialität des Fernsehens und bringt diese gleichzeitig besonders deutlich zum Ausdruck.36 Auch in diesen Fällen wird also nicht das klassische Flow-Fernsehen bedient, aber dennoch bleiben ein paar seiner Spezifika erhalten. Dennoch besteht die Möglichkeit, dass der Flow durch die Konvergenz von Fernsehen und Internet radikal an Bedeutung verliert. Es wird sich zeigen, welche Ordnungsprinzipien zur Steuerung der Rezeption sich durchsetzen werden. Literatur Barth, Frank (2013): Social TV in Deutschland – Status Quo und Ausblick. In: We Make Social TV (Blog), 10.03.2013, online verfügbar unter http://we.makesocial.tv/social-tv/social-tv-deutschland-status-quo-undausblick/, 02.05.2013. Corrigan, John Michael / Corrigan, Maria (2012): Disrupting Flow: Seinfeld, Sopranos Series Finale and the Aesthetic of Anxiety. In: Television & New Media 13/2, 91–102. Dienst, Richard (1994): Still Life in Real Time. Theory after Television. London.

36 Zur Veränderung von Flow und Unterbrechung bei der Rezeption von Serien siehe Corrigan/Corrigan (2012).

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F LÜCHTIGKEIT Mit Flüchtigkeit wird die zeitliche Dimension der Fernsehperformanz und ihrer Rezeption aufgerufen. Der Fernsehtext wird kontinuierlich performiert, d.h. die Performanz lässt sich in der Regel nicht anhalten, ‚zurückspulen‘ oder wiederholen, und der Zuschauer kann einen Fernsehtext nur zu einem festgelegten Zeitpunkt rezipieren, andernfalls ‚verpasst‘ er ihn.1 Der Begriff der Flüchtigkeit bezeichnet nun die Korrelation der kontinuierlichen Textperformanz mit dem damit verbundenen medientypischen Wahrnehmungserlebnis auf Seiten der Adressaten. Aus dieser Korrelation heraus entsteht der Eindruck von der Flüchtigkeit des Fernsehtextes selbst. Die Besonderheit des Fernsehens ist die potentielle Unendlichkeit von Fernsehperformanz wie -rezeption. Dauersenden und Dauersehen täuschen über den ephemeren Charakter hinweg: Die Steuerung des → Flow durch die Fernsehoratoren richtet das Augenmerk der Adressaten nicht auf bereits ‚verflüchtigte‘, sondern stets auf künftige Texte (die durchaus auch → Wiederholungen enthalten können). Einerseits lässt sich Flüchtigkeit dem kontinuierlichen Performieren des Mediums zuschreiben, andererseits fungiert sie auf Textebene produktionsästhetisch kalkuliert als ‚Ästhetik des Verschwindens‘ (PAUL VIRILIO) und meint eine rasante Ablösung aktueller Bilder durch noch aktuellere Bilder (programmatisch kultiviert etwa in der Clip-Ästhetik). Schon die Einführung des Videorekorders in den 1970er Jahren ermöglichte eine individuelle Speicherung und etablierte sich gewissermaßen als Komple-

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Vgl. Ellis (2002 [1992], 44), der es als Spezifikum des Fernsehens bezeichnet, dass dieses „eine kontinuierliche Folge von Signalen aussendet, die von seinem potenziellen Publikum entweder empfangen oder verpasst werden können“.

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mentärtechnik zur Flüchtigkeit des Fernsehens. Die digitale Fernsehtechnologie ebenso wie das Internet führen später jedoch zu entscheidenden Veränderungen, weswegen dem Fernsehen das Spezifikum der Flüchtigkeit nach und nach abhanden kommt: Mit entsprechend ausgestatteten digitalen Fernsehgeräten kann der Adressat in die dynamisch-prozessuale Performanz von Fernsehtexten eigenmächtig eingreifen, diese etwa problemlos anhalten und sogar um wenige Minuten ‚zurückspulen‘. In Mediatheken im Internet wird sogar eine breite Vielfalt an Fernsehtexten zur Verfügung gestellt, die die Adressaten jederzeit abrufen und zu einem von ihnen gewählten Zeitpunkt rezipieren können. Das sind entscheidende neue Performanzbedingungen, die zunehmend in das Kalkül der Fernsehoratoren Eingang finden müssen. Rhetorisch ist Flüchtigkeit als erstrangiger Widerstandsfaktor anzusehen, der bei allen rhetorisch-strategischen Kalkülen berücksichtigt werden muss. Nach ihrer Strukturdeterminiertheit unterscheiden sich etwa Printmedien vom Fernsehen dadurch, dass die einen Texte persistent halten können, das Fernsehen jedoch mit dem Text-Ephemeren leben muss.2 Doch es gibt auch eine andere Seite des Prozesses. Das Flüchtige der Fernseh-Performanz kann einem Orator helfen, das Provisorische, Ungenaue oder Unvollkommene seines kommunikativen Angebots zu überspielen. Mit Flüchtigkeit kann also auch eine helfende rhetorische Produktivkraft gemeint sein, die (jenseits des Kontinuums des Televisuellen und der Charakteristik des Fernsehens als eines ephemer sendenden Mediums) auf das rasche Vergessen, das Überdecken vorangegangener Information und das Spiel mit immer neuen, fliehenden Eindrücken, gewissermaßen auf eine Rhetorik des Augenblicks und der Gegenwart setzt. Die Flüchtigkeit als Performanzphänomen hängt eng mit bestimmten Wahrnehmungsmodi auf Seiten der Rezipienten zusammen. Der kontinuierliche performative Strom verlangt aber auch nach audiovisuellen Texturen, die dieser Eigenheit des Mediums entsprechen. Was WALTER BENJAMIN in dieser Hinsicht in seinem berühmten Kunstwerk-Aufsatz für den Film schon erreicht sah (dass dieser zu ‚sich selbst‘ gekommen sei), hielt MARSHALL MCLUHAN vierzig Jahre später beim Kino und Fernsehen seiner Zeit, die seiner Meinung nach damals immer noch an den Paradigmen der Printmedien klebten, noch längst nicht für eingelöst.3 Mittlerweile ist das Phänomen der Flüchtigkeit jedoch sowohl von der Praxis der Fernsehproduktion als auch von der Fernsehwissenschaft umfassend berücksichtigt worden.

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Zu ephemeren und persistenten Texte siehe auch Knape (2013, 189f.). Vgl. McLuhan/Fiore (2001, 128).

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Obwohl das Fernsehen durch das Programmschema durchaus unterteilt ist und somit diskrete Ordnungsstrukturen anbietet (→ Programmstruktur), ist sein Senden prinzipiell unendlich, wie LORENZ ENGELL sagt. Die Aufaddierung von Zeitstrecken lässt dem Zuschauer das Fernsehprogramm als lineare Abfolge vorkommen, die weder Beginn noch Ende zu haben scheint.4 Durch dieses ständige Senden erscheint das Fernsehen laut ROLF F. NOHR als „Konglomerat, als heterogener Bilderstrom“,5 was die Fernsehwissenschaft unter der Rubrik Flow führt. Der ‚heterogene Bilderstrom‘ der Dauerperformanz des Fernsehens erzeugt nach ANDREW HOSKINS allenfalls flüchtige Geschichte, versteht man diese als Speicherung der gesendeten Inhalte: „Television [...] creates, if anything, an ephemeral and ultimately simulated instant history that disappears and is forgotten in the ever succeeding moments of still more television images“.6 WERNER HOLLY fasst diese Qualitäten als Flüchtigkeit des Fernsehens zusammen und stellt daher seine Leistung trotz der Distanzkommunikation auf eine Stufe mit der Face-to-Face-Kommunikation: „Da es kommunikative Inhalte nicht speichert, sondern überträgt und da seine Produkte als ‚segmentierte Einheiten‘ vom Rezipienten nicht individuell abgerufen werden können, ist es ein ‚Programmmedium‘ […], das mit der Gleichzeitigkeit von Ausstrahlung und Rezeption – wie die direkte Kommunikation – der Flüchtigkeit unterliegt. Es erscheint als ein ‚Kontinuum‘ von Bruchstücken, das erst durch feste ‚Programmstrukturen‘ und ‚Serialität‘ überschaubar wird.“7 (→ Serialität) Diese vermeintliche Nähe zur situativen Kommunikation mit ihrer Betonung der actio (Performanz) birgt ein großes fernsehrhetorisches Potential. Fast zwangsläufig scheint sich die Flüchtigkeit der Fernsehperformanz auch auf den Stil der Fernsehsendungen zu übertragen, wenn es darum geht, dem ‚heterogenen Bilderstrom‘ eine Form zu geben. Nicht zuletzt aus diesem Grund sei die → Televisualität, so JOHN T. CALDWELL, von einer „intensiven Hyperaktivität“8 geprägt, die augenblicklich betören muss. Engell spricht in Bezug auf die Flüchtigkeit der Fernsehbilder und das gleichnamige Buch von Virilio auch von der „Ästhetik des Verschwindens“9 und bestimmt die einzelne Einstellung des Fernsehbildes als „Scharnierfunktion des Zeitpunktes“, als Durchreiche, die in

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Vgl. Engell (1989, 138). Nohr (2008, 187). Hoskins (2001, 214). Holly (2002, 2454). Caldwell (2002 [1995], 174). Engell (1989, 132). Vgl. Virilio (1986).

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der „extremen Verkürzungstechnik des Fernsehens deutlich“ werde.10 Die Flüchtigkeit des Televisuellen zeigt sich auch im Drang des Fernsehens nach absoluter → Aktualität, welcher nach Andrew Hoskins wie auch nach IRENE NEVERLA zur Folge hat, dass dem Zuschauer Zeit genommen wird, sich auf die visuellen Angebote einzustellen: Er könne schlichtweg nicht „hängenbleiben und nachsinnen über ein Wort, einen Satz, wie es bei der Lektüre möglich ist“.11 Gerade bei Live-Ereignissen (→ Liveness, → Ereignis, Normalität und Ausnahme) wird diesem Widerstand dadurch begegnet, dass Schlüsselszenen (etwa ein Torschuss oder eine Foul-Szene in einem Fußballspiel) mehrmals wiederholt, möglicherweise sogar in Zeitlupe wiedergegeben werden. Außerdem können permanente Elemente der Bildschirmoberfläche als ‚Speicher‘ fungieren und wichtige Informationen in Erinnerung halten (etwa den Namen des Senders in Form der allgegenwärtigen ‚Fliege‘, den Namen des performierten Formats, den aktuellen Spielstand bei einem Fußballspiel, die aktuelle Uhrzeit etc.). Als formgebende, Flüchtigkeit erzeugende Komponente dient dem Fernsehen nach RICHARD DIENST der „switch“,12 der als Übergang zwischen den Einstellungen das Verhältnis von Zeit zu Bild im Fernsehen und damit auch die Sehgewohnheiten der Zuschauer strukturiert (→ Zeit-Bild-Strukturen). Dieses Schalten spielt auch im Konzept des → Monitoring von STANLEY CAVELL eine wichtige Rolle, der Fernsehen als „Strom simultaner Ereignisrezeptionen“ bestimmt.13 Umgekehrt kann auch der Zuschauer mittels → Umschalten die Fernsehbilder strukturieren und so dort Flüchtigkeit herstellen, wo sie gerade vom jeweiligen Programmmacher nicht intendiert war, was MARKUS STAUFF bei seinen Überlegungen zur Einführung der Fernbedienung betont: „Die Fernbedienung ermöglichte einen entsprechenden manipulativen Eingriff in die textuellen Einheiten. Mechanismen, die zuvor als Spezifika des Fernsehens galten – etwa die zeitliche Ordnung der Programmschemata und die Flüchtigkeit des Gesendeten –, wurden in mehrfacher Hinsicht neu strukturiert.“14 Die neuen Digitaltechniken erlauben, wie eingangs erwähnt, weitere Eingriffe des Zuschauers in die flüchtige Performanz des Fernsehens. Somit scheint das Medium in gewisser Weise eines seiner wichtigsten Performanzspezifika sukzessive zu verlieren.

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Beide Zitate Engell (1989, 132). Neverla (1992, 71); vgl. Hoskins (2001, 215). Dienst (1995, 161). Cavell (2002 [1982], 144). Stauff (2005, 68).

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Literatur Caldwell, John Thornton (2002): Televisualität [1995]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 165–202. Cavell, Stanley (2002): Die Tatsache des Fernsehens [1982]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 125–164. Dienst, Richard (1995): Still Life in Real Time. Theory after Television. Durham. Ellis, John (2002): Fernsehen als kulturelle Form [1992]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 44–73. Engell, Lorenz (1989): Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens. Frankfurt a.M. Holly, Werner (2002): Fernsehspezifik von Präsentationsformen und Texttypen. In: Joachim-Felix Leonhard u.a. (Hrsg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. 3. Teilbd. Berlin, New York, 2452–2464. Hoskins, Andrew (2001): Mediating Time. The Temporal Mix of Television. In: Time Society 10/2–3, 213–233. Knape, Joachim (2013): Kreativität der spontanen Findung. Inventivik im rhetorischen Stegreif heute, bei Alkidamas und Heinrich von Kleist. In: Ders. / Achim Litschko (Hrsg.): Kreativität. Kommunikation – Wissenschaft – Künste. Berlin, 183–220. McLuhan, Marshall / Fiore, Quentin (2001): The Medium is the Massage. An Inventory of Effects [1967]. Corte Madera. Neverla, Irene (1992): Fernseh-Zeit. Zuschauer zwischen Zeitkalkül und Zeitvertreib. Eine Untersuchung zur Fernsehnutzung. München. Nohr, Rolf F. (2008): Vom timetable zur Langeweile. Ordnungsstrukturen des Fernsehens. In: Heike Klippel (Hrsg.): The Art of Programming. Film, Programm und Kontext. Münster, 182–198. Stauff, Markus (2005): Das neue Fernsehen. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien. Münster. Virilio, Paul (1986): Ästhetik des Verschwindens. Übers. v. Marianne Garbe und Gustav Roßler. Berlin.

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L IVENESS Unter dem Stichwort ‚Liveness‘ wird die dem Fernsehen zur Verfügung stehende Möglichkeit verstanden, gleichzeitig aufzunehmen und auszustrahlen. Das heißt: Produktion und Distribution einer Sendung können (müssen jedoch nicht!) beim Fernsehen simultan erfolgen – in diesem Fall wird die mit dem Fernsehtext gesendete Zeit mit der Sendezeit deckungsgleich. Eine Ausnahme bilden diejenigen Sendungen, die so produziert sind, dass sie nur den Anschein erwecken, live zu sein. Liveness kann deshalb als eines der entscheidenden Fernsehspezifika gewertet werden, weil es bis zum Auftreten des Internets nur dem Medium Fernsehen möglich war, eine unmittelbare audiovisuelle ‚Übertragung‘ von Geschehnissen oder lebensweltlichen Vorkommnissen stattfinden zu lassen (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme). Liveness ist ein rhetorisch besonders interessantes Fernsehspezifikum, weil sie immer wieder für den besonderen Authentizitätseffekt des Fernsehens verantwortlich gemacht wird. Dieser bezeichnet das Paradox der vermittelten Unmittelbarkeit oder inszenierten Echtheit – die Strategie, etwas im Fernsehen so erscheinen zu lassen, als spiele es sich direkt vor den Augen der Zuschauer ab. Diese spezifische medienrhetorische Variante des Vor-Augen-Stellens (evidentia) gibt sich als eine unrhetorische Operation aus, wo das Verbergen der Kunst (dissimulatio artis) doch gerade zu den höheren Beredsamkeitskompetenzen gehört. Unabhängig davon, ob man dem Fernsehen technisch oder auch ontologisch zutraut, Ereignisse oder ‚Wirklichkeit‘ abbilden zu können, wird über Liveness zumindest suggeriert, das Fernsehen könne eben genau dies: Ereignisse oder sonstige Formen von ‚Wirklichkeit‘ abbilden und sie – wie sie passieren – auf die Bildschirme und damit in die Lebenswelt der Fernsehzuschauer übertragen. Dieser naturalistisch-realistische Effekt ist ein zutiefst künstlicher und lässt sich auf unterschiedliche Weise analysieren bzw. ‚realisieren‘. Damit einher geht die in der Fernsehwissenschaft oft untersuchte Funktion, eine kommunikative Gemeinschaft zu etablieren, die einerseits generell für die Fernsehkommunikation eine wichtige Rolle spielt, bei Medienereignissen jedoch besonders wichtig ist und sich auf ein nationales oder globales Level erstrecken kann. UMBERTO ECO schreibt, die Live-Sendung sei ein „Kommunikationstyp, den nur das Fernsehen kennt“.1 STEPHEN HEATH und GILLIAN SKIRROW gehen sogar so weit, zu sagen, Liveness „is taken automatically as the television norm, as the

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Eco (1977, 188).

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very definition of television“.2 In der Regel wird Liveness besonders im Medienvergleich mit dem Kino als Spezifikum genannt, gerade auch in Hinblick auf die Überlegungen zum jeweiligen Mediendispositiv.3 Hier zeigt sich, dass Liveness zum einen auf die technischen Möglichkeiten des Fernsehens zur „Übertragung eines Ereignisses in demselben Augenblick, in dem es geschieht“,4 zurückgeführt wird, zum anderen aber auch als eine Art symbolisches Potential der Vergegenwärtigung und Vergemeinschaftung verstanden wird5 und außerdem sehr von der Wahrnehmung und dem Vertrauen der Zuschauer abhängig ist. In der Regel ist der temporale Aspekt zur Bestimmung der Liveness ausschlaggebend, wird sie doch auch als ‚Echtzeitübertragung‘ bezeichnet. JEFFREY SCONCE widmet sich in seiner Geschichte der elektronischen Erzeugung von Präsenzeffekten auch dem Aspekt der ‚Lebendigkeit‘, die, so faszinierend die Studie sein mag, hier jedoch nicht im Mittelpunkt steht, weil sie die reine Pragmatik eines Echtheitseffekts konzeptuell deutlich überschreitet.6 Die meisten Autoren weisen darauf hin, dass Fernsehsendungen beileibe nicht immer Live-Sendungen sind, und dass der Anteil an Live-Sendungen im Laufe der Geschichte des Fernsehens auch immer mehr abgenommen hat.7 Dennoch scheint in den Worten STANLEY CAVELLS gerade die „Tatsache, dass es zu jeder Zeit live sein könnte“,8 ausschlaggebend für das Fernsehen zu sein. Selbst wenn sich Liveness nicht ständig im Fernsehen manifestiert, so ist sie doch dauerhaft als latentes Potential vorhanden. Der stillschweigende Kommunikationsvertrag zwischen Fernsehmachern und Fernsehzuschauern ermöglicht es den Fernsehmachern, jederzeit in den Modus der Echtzeit-Übertragung zu wechseln. Aus rhetorischer Perspektive liegt hier ein strategisches Potential vor, das aus der Struktur des Mediums selbst resultiert und in verschiedener Weise in der tatsächlichen Fernsehkommunikation aktualisiert werden kann. Dieses Potential

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Heath/Skirrow (1977, 53). Es ließen sich viele weitere Beispiele anführen, vgl. etwa Ellis (2000, 33) oder Hartley (2008, 165). Vgl. White (2004, 76). Eco (1977, 188f.). So auch schon Eckert (1953, 7f.) und später McLuhan (1968, 364), der von einer „allumfassende[n] Jetztheit“ spricht, die dadurch zustande komme, dass beim Adressaten ein „Drang zum ganzheitlichen Miteinbezogensein“ entsteht. Sconce (2000, 2): „The ‚living‘ quality of television transcends the historically limited and now almost nonexistent practice of direct ‚live‘ broadcasting to describe a larger sense that all television programming is discursively ‚live‘ by virtue of its instantaneous transmission and reception.“ Vgl. etwa Bourdon (2004, 182f.). Cavell (2002 [1982], 145).

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wird in vielen Ansätzen zur Liveness auch explizit als ein rhetorisches angesprochen – wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise. Liveness kann somit auch als eine Art rhetorisches Schlüsselspezifikum des Mediums Fernsehen erprobt werden. Eco ist einer der ersten, der sich mit der ästhetischen Struktur einer LiveSendung in einer rhetorisch höchst anschlussfähigen Weise auseinandersetzt. In seinem Aufsatz Zufall und Handlung. Fernseherfahrung und Ästhetik versteht er Liveness als eine Struktur der ‚Bedingtheit‘ des Mediums, die zugleich auch eine ‚Möglichkeit‘ darstelle – ganz im Sinne der in der Einleitung vorgestellten Denkfigur der Strukturdeterminiertheit des Mediums.9 Ecos Überlegungen orientieren sich an Live-Übertragungen von Sportereignissen, Debatten oder auch Medienereignissen, wie sie später von DANIEL DAYAN und ELIHU KATZ charakterisiert worden sind.10 Für ihn ist zentral, dass bei der Liveness mehrere Ebenen zusammenfallen: auf der technischen Ebene Aufnahme, Schnitt und Wiedergabe, auf der dramatischen Ebene „reale Zeit und Zeit der Fernsehdarstellung“.11 Das gibt dem Übertragenen eine besondere Überzeugungskraft, wobei Eco den Konstruktionscharakter der Live-Übertragung stets betont.12 Zweites zentrales Kriterium für die Live-Übertragung ist die improvisierte ‚Montage‘. Eco spricht hier zwar von ‚Montage‘, der Begriff ist allerdings missverständlich – geht es ihm doch darum, dass „das Ereignis von drei oder mehr Fernsehkameras zugleich aufgenommen und dann jeweils das Bild der Kamera, die es am besten wiederzugeben scheint, gesendet wird“.13 Cavell wird hierfür später den Begriff des ‚Umschaltens‘ (switching) einführen.14 Doch schon für Eco ist evident, dass sich diese Montage von der filmischen Montage durch die Improvisation unterscheide, sei hier doch „ein seltsames Zusammenwirken von Spontaneität und Machen“ am Werk, „bei dem das Machen die Spontaneität bestimmt und auswählt, aber die Spontaneität Machen, Konzeption und Ausführung lenkt.“15 Eco beschreibt hier eine Art Cavell’sches → Monitoring avant la

9 Vgl. Eco (1977, 194). 10 Vgl. Dayan/Katz (1992), die im Übrigen mit der Direktübertragung und der Unvorhersagbarkeit des Ereignisses einen ganz ähnlichen Begriff von ‚live‘ haben wie Eco. 11 Vgl. Eco (1977, 189). Vgl. ganz ähnlich auch Großklaus (1994, 42). 12 Eco (1977, 189): „Die Live-Sendung ist niemals eine bloße Wiedergabe des Ereignisses, sondern stets – wenn auch zuweilen in ganz geringem Maße – eine Interpretation von ihm.“ Vgl. hierzu auch Bourdieu (1998, 23). 13 Eco (1977, 189). 14 Vgl. Cavell (2002, 146). 15 Eco (1977, 199).

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lettre, das vom „Riecher“ des Regisseurs geleitet werde.16 Beim Monitoring geht es darum, den Eindruck zu erwecken, als diktiere das Ereignis selbst das, was das Fernsehen präsentiert.17 Bei Eco spielt hingegen die Wahrscheinlichkeit eine große Rolle – im Sinne der Rhetorik verweist er hier wenig überraschend auf Aristoteles und folgert: „In diesem Sinne ist das, was der Regisseur in seiner Phantasie als angemessenes Resultat der künstlerischen Darstellung vorwegzunehmen geneigt ist, das, was das Publikum vom gesunden Menschenverstand her als angemessenes Ereignis einer realen Folge von Ereignissen erwartet.“18 Liveness hat es also mit einer Art ‚Erwartungserwartung‘ zu tun, die Eco jedoch zum Teil noch in den Kategorien des Romans denkt. Dennoch ist hiermit schon ein wichtiger rhetorischer Rahmen für die Liveness abgesteckt. Der Fernsehorator ist somit zwar ‚Gestalter‘, seine Gestaltungsfreiheit wird jedoch vom außermedialen Vorkommnis wie von den Erwartungen der Zuschauer vorstrukturiert. Er kann sich entweder hinter dieser Struktur verbergen und so tun, als habe er keinen Anteil an der Gestaltung der Live-‚Übertragung‘ und auf diese Weise die Transparenzillusion des Mediums voll ausspielen – oder er kann seinen Anteil an der Deutung des live ‚Übertragenen‘ herausstellen. Im ersten Fall setzt er auf strategische Abwesenheit, im anderen Fall auf strategische Anwesenheit und Orientierung.19 Eine weitere, in der Geschichte der Fernsehwissenschaft recht frühe Stellungnahme zur Liveness stammt von HERBERT ZETTL, der sich mit ihr im Rahmen seiner medienästhetischen Überlegungen befasst. Liveness definiert sich für Zettl als ‚Augenblicklichkeit‘.20 Für diesen Modus eigneten sich keine klassischen Plot-Konstruktionen, sondern vielmehr Interviews oder Nachrichten-Übertragungen. Die Liveness liege vor allem im Fernsehbild begründet, dessen Potential wie folgt beschrieben wird: „It can detect, clarify, and intensify the energy and quality of the moment.“21 Zusammen mit der → Flüchtigkeit sorge die

16 Vgl. Eco (1977, 198): „Beim Bewegen der Fernsehkameras gemäß einem bestimmten Interesse muß der Regisseur in gewissem Sinne das Ereignis in eben dem Augenblick, in dem es tatsächlich geschieht, erfinden, und zwar so erfinden, wie es geschieht; er muß Ort und Zeit der neuen Phase seiner Handlung erahnen und voraussehen.“ 17 Vgl. Cavell (2002, 151). 18 Eco (1977, 205f.). 19 Vgl. zu diesem Konzept Ulrich (2012, etwa 505f. u.ö.). 20 Vgl. Zettl (1981, 127–132), im Original heißt es „the instantenousness of the moment“. Ähnlich auch Großklaus (1994, 44 bzw. 45), der von „Vergegenwärtigung“ bzw. „Dehnung der Gegenwart“ spricht. Zur ‚Augenblicklichkeit‘ siehe auch Engell (1996, 142). 21 Zettl (1981, 130).

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Liveness im Massenmedium Fernsehen gewissermaßen für eine Extension der Gegenwart sowie für die Erfahrung von Gemeinschaft über die geteilte Temporalität. Die Temporalstruktur des Fernsehens ist auch für Heath und Skirrow essentiell, allerdings als ein Faktor der ‚communicationality‘. Darunter verstehen sie die „creation and maintenance of the communicating situation and the realization of the viewer as subject in that situation. The subject of television is a citizen in a world of communication; he or she is called – and occupied – there, for that world.“22 Es ist zu vermuten, dass hier auf die von ROMAN JAKOBSON eingeführte phatische Funktion der Sprache angespielt wird, die dem Zweck dient, „Kommunikation zu erstellen, zu verlängern oder zu unterbrechen, zu kontrollieren, ob der Kanal offen ist […], die Aufmerksamkeit des Angesprochenen auf sich zu lenken oder sich zu vergewissern“.23 Liveness dient nach Heath und Skirrow also einer ganz basalen medienrhetorischen Funktion, namentlich der Etablierung einer Art Kommunikationssituation. „The message – the specific ideological position – is elsewhere: in the spoken word of a commentary, for example, […]; what counts initially – institutionally – is the situation, the communicationality“.24 Die aus Sicht der Autoren für das Fernsehen spezifische Liveness bezweckt also in erster Linie, den kommunikativen Kontakt zu den Zuschauern zu etablieren und zu halten, sie künstlich in eine Art kommunikative Situation zu verwickeln. Über die Simuliertheit dieser Kommunikationssituation soll nicht eigens nachgedacht werden (→ parasoziale Interaktion), entscheidend ist der Effekt der Gleichzeitigkeit. JANE FEUER diskutiert beide Ansätze (von Zettl wie von Heath und Skirrow) in ihrem Aufsatz The Concept of Live Television kritisch. Sie sieht in beiden Fällen, jedoch in unterschiedlicher Weise, ideologische Interpretationsmuster am Werk, die mit der Technik des Fernsehens allein nicht begründet werden können. Ihr zentrales Argument lautet dementsprechend: „Indeed, as television in fact becomes less and less a ‚live‘ medium in the sense of an equivalence between time of event and time of transmission, the medium in its own practices seems to insist more and more upon an ideology of the live, the immediate, the direct, the spontaneous, the real.“25 Für Feuer ist nicht entscheidend, ob Fernsehen tatsächlich live sendet, sondern inwiefern mit dem Fernsehen eine Ideologie der Liven-

22 Heath/Skirrow (1977, 56) 23 Jakobson (1993 [1960], 91). Zur phatischen Funktion und Gemeinschaft am Beispiel des Fernsehens siehe auch Wulff (1993). 24 Heath/Skirrow (1997, 56). 25 Feuer (1983, 14).

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ess evoziert wird. Am Beispiel des Nachrichtenmagazins Good Morning America (ABC) zeigt sie, wie nicht die Liveness selbst, sondern der Anchorman und seine direkte Adressierung dem Zuschauer das Gefühl vermitteln, Teil einer kommunikativen Gemeinschaft zu sein, die in einem Raum der Echtzeit („‚live‘ space“) zusammenfindet.26 Der televisuelle → Flow spielt dabei auch eine wichtige Rolle.27 Fortan wird ‚Liveness‘ von den unterschiedlichsten Fernsehforschern stets als Ideologie, Versprechen oder – ganz im rhetorischen Sinne – als Teil einer Programmstrategie verstanden und nicht mehr als ontologische oder technische Eigenschaft des Fernsehens. Ob das Fernsehen technisch die behauptete Gleichzeitigkeit von Ereignis und Übertragung zu leisten vermag, ist dabei durchaus umstritten.28 Neben technisch bedingten Verzögerungen können im Übrigen auch strategische Verzögerungen auftreten – ins öffentliche Bewusstsein ist dieser Modus des delayed live nach der sogenannten ‚Nipplegate-Affäre‘ im Jahr 2004 getreten. In der Halbzeitpause des Super Bowls entblößte Janet Jackson im Rahmen ihrer musikalischen Performance mit Justin Timberlake ihre Brust, was einen Skandal nach sich zog und mehrere große US-amerikanische Fernsehsender dazu bewog, künftige Live-Ausstrahlungen generell um fünf Sekunden zu verzögern, um solche Szenen rechtzeitig zensieren zu können.29 MIMI WHITE merkt an, dass Feuers Impuls den Reiz der Liveness für die Fernsehforschung keineswegs gemindert habe.30 Wenn die Liveness als ein ideologischer, ästhetischer oder rhetorisch-strategischer Effekt gar nicht unbedingt an eine tatsächliche Gleichzeitigkeit von Geschehen und Fernsehübertragung gebunden ist, ergeben sich daraus viele verschiedene Möglichkeiten der Inszenierung von Liveness oder Präsenz. JÉRÔME BOURDON unterscheidet vier verschiedene Typen textuell erzeugter Liveness im Fernsehen, wobei für ihn ausschlaggebend ist, welchen Zeitbezug der Fernsehzuschauer wahrnimmt, ohne über die tatsächliche Liveness urteilen zu können. Im vorliegenden Kontext sind besonders die ersten beiden von Interesse: „fully live television“ und „continuity tele-

26 Vgl. Feuer (1983, 18). 27 Vgl. Feuer (1983, 14f.). 28 Vgl. Isekenmeier (2008), der so weit geht, zu behaupten, das Fernsehen sei stets zeitverzögert. Zettl (1999, 217) führt an, dass es bei einer Satellitenübertragung fast eine halbe Sekunde dauere, bis das Signal empfangen wird. 29 Vgl. z.B. Dakss (2004). 30 Vgl. hierzu auch den Kommentar von White (2004, 80) zu Feuers Bedeutung: „Thus while she initiates a critique of liveness as ontology, she ends up elevating it as an even more potent force, as the ideological and technological sleight of hand at the heart of the medium’s strategies of address.“

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vision“.31 Auch JAMES FRIEDMAN entwirft eine vierteilige Liveness-Typologie, die zum Teil ganz ähnlich ist, sich jedoch stärker am Ereignis orientiert als diejenige von Bourdon.32 „Fully live“ sind Medienereignisse, die zwar bis ins Detail vorgeplant sein können, aber live ausgestrahlt werden. Dieser Typus wird von Friedman ebenfalls bestimmt. Die ‚volle‘ Liveness wird v.a. über Paratexte und die Einblendung „live“ signalisiert, für die Forschung ist der Blick auf die Wechselbeziehungen von Planern, Fernsehmachern und Zuschauern interessant. „Continuity television“ suggeriert nach Bourdon durch formale und sprachliche Mittel (direkte Adressierung, vertraute → Personae) den Eindruck von Liveness. Der gleiche Typus wird von Friedman „(re)presentation“ genannt; dieser diene folgendem Zweck: „to give the feeling of happening to events we know have already happened“.33 Bereits Vergangenes wird in diesem Modus also vergegenwärtigt oder reaktualisiert, beste Beispiele hierfür sind Nachrichtenformate oder Sportmagazine. Eine Zwischenkategorie bildet hier sicherlich der in der USamerikanischen Produktionspraxis geläufige Begriff „live on tape“, der die verspätete Ausstrahlung live aufgezeichneter und unbearbeiteter Sendungen in anderen Zeitzonen bezeichnet.34 Bourdons restliche Kategorien bleiben unscharf; hilfreicher ist hier Friedmans Unterscheidung zwischen „unstructured“ und „unscripted events“. Bei „unstructured events“ handelt es sich nach Friedman um unvorhergesehene Ereignisse, die zum Gegenstand von Nachrichtenberichterstattung werden (etwa das Attentat auf John F. Kennedy) und in ihrer Form transitorisch sind, weil sie nach und nach in (re)präsentative Formen überführt werden; ihre Regeln etablieren sich im Laufe der Berichterstattung. „Unstructured events“ unterscheiden sich von der nächsten Kategorie dadurch, dass es für sie eben Regeln gibt. „Unscripted events“, beispielsweise Sportübertragungen, LiveTalkshows oder Rededuelle, seien in ihrer Struktur zwar festgelegt, im Ausgang jedoch völlig offen und bildeten daher auch den populärsten Aspekt der Liveness. Rhetorisch ist das besonders für die Fernsehmacher eine Herausforderung, weil sie – wie bereits von Eco beobachtet – das Ereignis interpretieren und erhellen müssen, während es sich vor ihren Augen abspielt. Das besondere rhetorische Potential dieses Live-Typus bestehe darin, dass das ungeskriptete Ereignis die Partizipation der Fernsehzuschauer herausfordere und damit nicht nur eine

31 Bourdon (2004, 184–192). Die beiden übrigen sind „edited television“ und „fiction“. 32 Vgl. Friedman (2002, 143–148), die vier Kategorien sind „(re)presentation“, „ceremony“, „unstructured events“ und „unscripted events“. 33 Friedman (2002, 143). 34 Vgl. etwa Zettl (1999, 220f.).

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symbolische, sondern eine ‚echte‘ Gemeinschaft etablieren könne.35 Besonders beachtenswert findet Friedman, dass diese Form der Liveness vom eigentlich passiven Fernsehzuschauer viel Engagement fordert und somit auch eine aktivierende Funktion einnehmen kann.36 JOHN T. CALDWELL befasst sich mit der Liveness stärker aus einer produktionsorientierten Perspektive, wobei auch bei ihm unterschiedliche Formen der Verschiebung und Verzögerung („slippage“) im Vordergrund stehen. Diese ergäben sich einerseits durch den Einsatz neuerer Schlüsseltechnologien der Liveness, wie etwa von Helikopter-Kameras, versteckten Kameras und ElectronicNews-Gathering-Systemen, und andererseits aus einem festen Repertoire an Repräsentationsformen. Sein Ansatz ist produktionsorientiert und damit auch rhetorisch äußerst anschlussfähig: „My thesis is that liveness is used tactically (textually and aesthetically) by programmers, not just strategically (as displays of transmission and superior connectivity) by television stations.“37 Liveness wird demnach als Programmstrategie verstanden, die darin besteht, auf den unterschiedlichsten Ebenen Echtzeitkomponenten zu implementieren, welche die Bindung der Zuschauer an das Programm stärken sollen. Caldwell geht es dabei weniger um das Live-Ereignis als um die ‚gelebte‘ („lived“) Beziehung mit dem Fernsehanbieter.38 Auch White sieht in der Liveness unter Umständen eine Programmstrategie, die sich jedoch insbesondere global operierende Nachrichtensender zu eigen machten, um ein universales „Bei uns sind Sie dabei“-Versprechen zu äußern.39 JOHN HARTLEY betont ebenfalls die ökonomischen Aspekte der Liveness: „‚Liveness‘ was a marketing advantage; a property of the new technology that could be used to encourage governments to liberalize the licensing of TV stations, investors to support TV’s very costly infrastructural development, and viewers to buy or rent the expensive decoding apparatus.“40 Für Hartley (wie auch für die Medienrhetorik) stehen diese Überlegungen zwar nicht im Mittelpunkt des Interesses, sie sind jedoch wichtig als Hintergrundwissen zur Beurteilung der Liveness-Rhetorik der Fernsehmacher.

35 Vgl. Friedman (2002, 147): „the broadcasting of unscripted events has the potential to encourage participation, discussion, and the formation of opinions among members of a ‚real‘ – and not merely ‚fictive‘ or symbolic – community.“ 36 Vgl. Friedman (2002, 148–150). 37 Caldwell (2000, 23). 38 Caldwell (2000, 44): „An extensive array of slippages and permutations suggest that we shift from the notion of a live media event, to the reality of a lived relationship with a content provider.” 39 White (2004, 84). Vgl. hierzu auch Ulrich (2012, 418–453). 40 Hartley (2008, 164).

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JOHN ELLIS greift mit der Augenzeugenschaft einen weiteren Aspekt der Liveness auf, der zwar schon früh in der Fernsehforschung beobachtet,41 jedoch nicht in einen größeren Interpretationsrahmen eingeordnet wurde. Für Ellis ist das 20. Jahrhundert das „century of the witness“,42 in dem das Fernsehen eine zentrale Rolle spielt. Jedes Medium, so Ellis, präge unsere Vorstellung von adäquater Wahrnehmung und glaubwürdiger Darstellung in besonderer Weise – beim Medium ist für diese Prägung besonders die Liveness verantwortlich. Wenig überraschend verweist Ellis auf die gemeinschaftsstiftende Funktion der Augenzeugenschaft, macht jedoch auch klar, dass das Fernsehen seine Zuschauer zu machtlosen, weil vom Geschehen dennoch immer getrennten Augenzeugen macht: „However, to treat the audio-visual as a form of witness is to realize that it offers a distinct, and new, modality of experience. The feeling of witness that comes with the audio-visual media is one of separation and powerlessness: the events unfold, like it or not.“43 Der Augenzeuge wird somit auch zum Komplizen des Gezeigten, weil er sich davon nicht distanzieren kann. In diesem Sinne ist Liveness ein äußerst mächtiges rhetorisches Potential, das insbesondere dann zur Entfaltung kommt, wenn die Fernsehmacher tatsächlich Einfluss auf die Planung und Durchführung einer Live-Übertragung haben – und wenn sich die Zuschauer darauf auch willig einlassen.44 Nicht immer jedoch muss Fernseh-Liveness mit bedeutenden Ereignissen verbunden sein, mahnt White an. Sie erinnert vielmehr an die häufigen ‚banalen‘ Erscheinungsformen der Liveness im Fernsehen, etwa bei Sendern, die WetterLivecams einsetzen, oder bei Home-Shopping-Kanälen.45 Liveness wird hier mit den Begriffen der Normalität und → Alltäglichkeit verknüpft und verliert im Großen und Ganzen auch die temporale Konnotation. Die ‚banale‘ Liveness, so White, betone stärker den exhibitionistischen Zug des Fernsehens ebenso wie sein Vermögen, Räume zu repräsentieren, beispielsweise bei einer Sendung wie Wetterpanorama (ORF). Sie kommt zu dem Schluss: „Liveness-as-attraction displays television’s exhibitionist propensities, its proclivity to materialist minimalism as visual aesthetic, the importance of spatial representation as a signifi-

41 Vgl. Eckert (1953, 7): „Der Fernseher [gemeint ist der Zuschauer] ist ein echter Augenzeuge – nicht in dem Sinne, daß er einen vom Filmgestalter vorher sorgsam zurechtgemachten Film irgendwann einmal betrachtet, sondern indem er in Bild und Ton in dem Augenblick dabei ist, wo sich etwas vollzieht.“ 42 Ellis (2000, 9). 43 Ellis (2000, 11). 44 Ellis (2000, 33). Zur Frage, wer bei einem Live-Ereignis eigentlich die Regie hat, siehe auch Dayan/Katz (1992, 78–118). 45 Vgl. White (2004, 84–90).

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cant component of liveness, and the ordinariness of visual spectacle as part of everyday television culture.“46 Damit erweitert White die Liveness-Diskussion um eine wichtige Komponente – und schließt gleichzeitig an die ganzen frühen Formen der Fernseh-Liveness an. Außerdem erinnert sie daran, dass Liveness zwar ein bedeutendes, jedoch nicht das einzige Spezifikum des Fernsehens darstelle. Wer in der Fernsehtheorie nur Liveness in den Blick nehme, versperre den Blick sowohl auf dessen räumliche Aspekte als auch auf dessen Potentiale zur Selbstreflexion und Historisierung.47 Es ist schließlich Hartley, der in einem kurzen Exkurs danach fragt, welchen Einfluss das Internet auf die Liveness nimmt. Dabei interessiert ihn insbesondere die Webcam als ein Mittel der Livebeobachtung, das jedoch nicht im Rahmen eines öffentlichen Medienereignisses zum Tragen komme, sondern das Private bevorzuge und für → Interaktivität offen sei48 – eine eindeutige Transformation, die vom klassischen Fernsehen wegführt. In diesem Zusammenhang ist jedoch noch eine ganz andere Art von Liveness relevant, auf die wiederum Ellis hinweist: „Television’s sense of liveness does not depend solely upon its programmes; it also lies in the very organization of transmission. Transmission is live, even when the programmes are not.“49 Im Zeitalter des broadcast television konnten die Fernsehzuschauer davon ausgehen, dass sie eine Sendung gleichzeitig mit anderen ansehen – ein nicht unwesentlicher Bestandteil des televisuellen Potentials der Vergemeinschaftung. Im Zeitalter von Online-Mediatheken und umfangreichen Speicher- und Distributionsangeboten, die es den Fernsehzuschauern ermöglichen, sich ein individuell zugeschnittenes ‚Programm‘ selbst zusammenzustellen und auch den Zeitpunkt der Rezeption selbst zu bestimmen, verliert dieser Aspekt deutlich an Relevanz. In Anlehnung an Ellis: Nicht einmal mehr die Übertragung ist live, geschweige denn die Sendungen. Damit geht ein Effekt der Fragmentierung des Publikums einher, der das Fernsehen als ehemaliges Massenmedium weiter verändert. Könnte es sein, dass sich in diesem Zuge auch Liveness als einstmals unumstrittenes Fernsehspezifikum überlebt? Oder ist video on demand vielleicht nicht mehr ‚Fernsehen‘, also Ausweis eines medienqualitativen Sprungs? Gerade in Konvergenz etwa mit dem Microblogging-Dienst Twitter ist interessanterweise eine Rückkehr zur Liveness zu beobachten, zumindest was den Ausstrahlungszeitpunkt betrifft. Bei besonders populären Fernsehformaten wie etwa dem Tatort wird vorzugsweise

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Vgl. White (2004, 90). Vgl. White (2004, 82). Vgl. Hartley (2008, 179f.). Ellis (2000, 31).

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die Live-Ausstrahlung im Social Web kommentiert und kommunikativ begleitet. Hier ist es plötzlich nicht mehr egal, wann die Sendung rezipiert wird, denn nur zur Ausstrahlungszeit lässt sich kommunikative Gemeinschaft erfahren.50 Mithin ist das fernsehspezifische Potential der Liveness auch in der Transformationsphase des Fernsehens nicht zu unterschätzen, wenn es darum geht, zwischen potentiell virtuellen Oratoren und potentiell einsamen Rezipienten eine kommunikative Situation zu etablieren, ein Gefühl von Gemeinschaft zu evozieren und unsere Vorstellung von einer adäquaten Wahrnehmung der Wirklichkeit zu prägen. Literatur Bourdieu, Pierre (1998): Über das Fernsehen. Aus dem Franz. von Achim Russer. Frankfurt a.M. Bourdon, Jérôme (2004): Live Television Is Still Alive. On Television as an Unfulfilled Promise. In: Robert C. Allen / Annette Hill (Hrsg.): The Television Studies Reader. London, New York, 182–195. Caldwell, John Thornton (2000): Live Slippages: Performing and programming televisual liveness. In: Gerd Hallenberger / Helmut Schanze (Hrsg.): Live is Life. Mediale Inszenierungen des Authentischen. Baden-Baden, 21–46. Cavell, Stanley (2002): Die Tatsache des Fernsehens [1982]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 125–164. Dakss, Brian (2004): Janet Fallout: Grammys Take Pause, 04.02.2004, online verfügbar unter http://www.cbsnews.com/news/janet-fallout-grammys-takepause/, 25.02.2014. Dayan, Daniel / Katz, Elihu (1992): Media Events. The Live Broadcasting of History. Cambridge, London. Eckert, Gerhard (1953): Die Kunst des Fernsehens. Emsdetten. Eco, Umberto (1977): Zufall und Handlung. Fernseherfahrung und Ästhetik [1962]. In: Ders. (Hrsg.): Das offene Kunstwerk. Übers. von Günter Memmert. 2. Aufl. Frankfurt a.M., 186–211. Ellis, John (2000): Seeing Things. Television in the Age of Uncertainty. London, New York.

50 Vgl. hierzu auch Gormász (2012, 45): „Über die Verzahnung von linearem Fernsehen und Social Web suchen die Sender dem TV-Erlebnis nun jenes Moment der Vergemeinschaftung zurückzugeben, das der Fernsehrezeption in seiner ursprünglichen Form innewohnte.“

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Engell, Lorenz (1996): Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung: Ereignis und Erwartung. In: montage / av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 5/1, 128–153. Feuer, Jane (1983): The Concept of Live Television: Ontology as Ideology. In: E. Ann Kaplan (Hrsg.): Regarding Television. Critical Approaches – An Anthology. Frederick, 12–22. Friedman, James (2002): Attraction to Distraction: Live Television and the Public Sphere. In: Ders. (Hrsg.): Reality Squared. Televisual Discourse on the Real. New Brunswick u.a., 138–154. Gormász, Kathi (2012): TV Sozial: Vom Must-See-TV zum Must-Tweet-TV. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 21/1, 41–61. Großklaus, Götz (1994): Medien-Zeit. In: Mike Sandbothe / Walther Ch. Zimmerli (Hrsg.): Zeit, Medien, Wahrnehmung. Darmstadt, 36–59. Hartley, John (2008): Television Truths. Malden, Oxford, Carlton. Heath, Stephen / Skirrow, Gillian (1977): Television: A World in Action. In: Screen 18/2, 7–60. Isekenmeier, Guido (2008): (Fast) Live. Zur Dekonstruktion medialer Gleichzeitigkeit. In: Sic et Non. Zeitschrift für Philosophie und Kultur. Im Netz 9/1, online verfügbar unter http://sicetnon.org/index.php/sic/article/view/51/47, 10.02.2014. Jakobson, Roman (1993): Linguistik und Poetik [1960]. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hrsg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M., 83–121. McLuhan, Marshall (1968): Die magischen Kanäle. Understanding media. Aus dem Engl. von Meinrad Amann. Düsseldorf, Wien. Sconce, Jeffrey (2000): Haunted Media. Electronic Presence from Telegraphy to Television. Durham, London. Ulrich, Anne (2012): Umkämpfte Glaubwürdigkeit. Visuelle Strategien des Fernsehjournalismus im Irakkrieg 2003. Berlin. White, Mimi (2004): The Attractions of Television. Reconsidering Liveness. In: Nick Couldry / Anna McCarthy (Hrsg.): Mediaspace. Place, Scale and Culture in a Media Age. London, 75–91. Wulff, Hans-Jürgen (1993): Phatische Gemeinschaft / Phatische Funktion: Leitkonzepte einer pragmatischen Theorie des Fernsehens. In: montage/av. Zeitschrift für Geschichte und Theorie audiovisueller Kommunikation 2/1, 142– 163.

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P ROGRAMMSTRUKTUR Der Begriff ‚Programmstruktur‘ perspektiviert die diskrete und geordnete Konstitution des Kommunikationsangebots des Fernsehens. Als Ordnungsmodell organisiert die Programmstruktur die Performanz des Mediums, etwa in Form von täglichen oder wöchentlichen Gliederungsschemata für die Sendungsaktivitäten (→ Format). Damit steht die im Medium selbst verborgene Programmstruktur dem sichtbaren Performanz-Phänomen des → Flow komplementär gegenüber, das die distinkten Einheiten des Ordnungsmodells so miteinander verknüpft, so dass sie nicht mehr einzeln, sondern als ‚fließendes Ganzes‘ wahrgenommen werden. Für die Rhetorik ergibt sich aus der Programmstruktur des Fernsehens die Möglichkeit der strategischen Programmplanung, die sich v.a. mit dem Ziel der Zuschauerbindung (Systase) verbindet. Programmieren stellt somit die Herausforderung dar, die vielen, oft völlig heterogenen Sendungen eines Senders (oder gar einer Sendergruppe) so anzuordnen, dass möglichst viele Sendungen von möglichst vielen Zuschauern der gewünschten Zielgruppe angesehen werden. Dazu gehört eine gewisse Übersichtlichkeit und Regelmäßigkeit: Zuschauer sollen sich darauf verlassen können, dass wiederkehrende Sendungen wie Nachrichten, Magazine, Daily Soaps oder Spielshows über feste Sendeplätze verfügen – ein wichtiges Ziel ist demnach, die Programmstruktur im Kopf der Adressaten so zu verankern, dass diese an einem bestimmten Wochentag zu einer bestimmten Uhrzeit quasi automatisch das Fernsehgerät einschalten (dabei ist der wechselseitige Abgleich des Sendungsangebots mit dem häuslichen Alltag vonnöten). Ein zweites Ziel besteht darin, die Zuschauer über diese festen Sendeplätze hinaus an neue, bisher von ihnen nicht rezipierte Sendungen zu gewöhnen (beispielsweise über einen sich anschließenden ‚Themenabend‘). Die Programmstruktur ist nicht nur für den Programmmacher von Bedeutung, sondern auch für den Orator eines einzelnen Fernsehtextes, der die Position und Einbindung seiner Sendung in das übergeordnete Schema des Senders immer mitberücksichtigen muss. Die Anordnung (der ordo) kann sich aufgrund der Linearität des Fernsehens nur in der Zeit und nicht im Raum abspielen.

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RAYMOND WILLIAMS betrachtet das Fernsehen als ein Medium, welches sich von anderen Kommunikationseinrichtungen dadurch unterscheidet, dass die einzelnen Programm-Elemente in der Performanz oft nicht als distinkte Einheiten zu erkennen sind. Eine Zeitung bestehe zum Beispiel aus vielen textuellen Einheiten wie Reportagen, Zeichnungen, Fotografien oder Werbeanzeigen, die noch klar voneinander separiert seien. Analog habe der Rezipient bis zu den Anfängen der Fernsehübertragung ein Ereignis bzw. eine Abfolge oder Sequenz von einzelnen Ereignissen erwartet. Laut Williams ist diese Tradition in der frühesten Phase des Fernsehens zwar übernommen worden, mit der Ausdehnung der Fernsehdienste wurden diese Einheiten dann aber unter den neuen Prinzipien des Flow reorganisiert.1 Beiden Modellen liegt jedoch eine Ordnungsstruktur (dispositio) zugrunde, die aus einer zeitlich festgelegten Reihenfolge vorher definierter, abgeschlossener Texteinheiten besteht, „auf der Basis von Mischungen, Ausgewogenheit und Balance funktioniert“2 und vom Zuschauer über Programmzeitschriften, Videotext-Tafeln oder auch ins Programm eingestreuten Programmtafeln nachzuvollziehen ist. Auf diese Weise kann der Rezipient die festgeschriebene Sendezeit einer abgeschlossenen Programm-Einheit, also beispielsweise einer Serie, ausfindig machen. Im Sequenz-Modell wird die Programm-Reihenfolge für den Fernsehzuschauer in Form von distinkten Programmelementen klar ersichtlich, im Flow-Modell wird diese Struktur eher verborgen gehalten zugunsten eines scheinbar übergangslosen ‚Stroms‘. Mit KNUT HICKETHIER lässt sich außerdem sagen, dass das zeitlich organisierte Programm die räumliche Anordnung des Fernsehens quasi als dessen ‚Innenseite‘ ergänzt.3 Auch wenn Williams durchaus davon ausgeht, dass das Fernsehprogramm von Fernsehmachern geplant wird, die dabei bestimmte adressatenorientierte Ziele verfolgen, ging es ihm in erster Linie darum, die Ordnungsstruktur des Fernsehens überhaupt zu beschreiben. Strategien der Programmplanung wurden erst später eingehend in den Blick genommen. JÜRGEN PETERSEN und HANS JÜRGEN WULFF definieren „Programmieren“ ganz allgemein und für die Rhetorik sehr anschlussfähig als „die Kunst, ein Fernsehprogramm für ein Publikum zu strukturieren, heterogene Bestandteile in eine Abfolge zu bringen, Spannungs- und Themenbögen zu konzipieren, attraktive und populäre oder einfach nur bekannte und angesehene Programme neben unbekannte oder neue zu platzieren. Programmieren ist auch die Kunst, ein Publikum, das eine Präferenzsen-

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Williams (2002, 33f.). Das engl. Original erschien unter dem Titel Television. Technology and Cultural Form im Jahr 1974. Williams (2002, 36). Vgl. Hickethier (1995, 76).

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dung gesucht oder sich an einen festen Sendeplatz gewöhnt hat, auf dem es Sendungen eines gewissen Typs finden kann, mit solchen Angeboten an dieses Wissen zu binden, daß es sein alltägliches Verhalten darauf ausrichten kann – sprich: nicht ändern muß.“4 Dies bestätigt auch KLAUS PLAKE in seinem Forschungsbericht zum Fernsehen: Die Programmstruktur lege das Fernsehverhalten der Zuschauer fest und stelle gewissermaßen auch eine entlastende Routine dar. Durch die Strukturierung des Programmangebots nach Zeiten und Genres sowie durch die → Serialität von Sendungen werde die kollektive Fernsehrezeption bestimmt. So mache zum Beispiel die Nutzung des Vorabendprogramms mit seinem hohen Anteil an Reihen und Serien „nur Sinn, wenn sie regelmäßig erfolgt“. Programmplanung stellt sich also auf den Alltag der Fernsehnutzer ein, ebenso wie die Fernsehnutzer ihre Alltagsorganisation mit dem Fernsehprogramm abstimmen.5 Die Fernsehoratoren müssen mit der Programmstruktur einen „Kreislauf von Erwarten und Erfüllen“ bedienen,6 was eine Brücke zum rhetorischen Begriff der Publikumsangemessenheit (äußeres aptum) schlägt: Der Orator wählt in kalkulierenden Vorüberlegungen die jeweiligen Darstellungs- und Überzeugungsmittel aus, die er im Hinblick auf das Publikum als angemessen empfindet. In diesem Zusammenhang bildet die konkrete Programmumgebung eine wichtige Komponente. Programmplanung dient, so hebt auch UDO GÖTTLICH hervor, in erster Linie der Zuschauerbindung. Pragmatisch entspricht dies zunächst einmal der Herstellung und Aufrechterhaltung des kommunikativen Kontakts zu den Adressaten, um diese am → Umschalten zu hindern. Gleichzeitig entspricht dies der Zielsetzung der Zuschauerbindung, die größtenteils auf der Glaubwürdigkeit und der Attraktivität des Programms beruht. Zu den wichtigsten Programmstrategien gehören nach Göttlich neben der Ausbildung eines Senderimages durch die Nutzung bestimmter Produktfamilien auch auf das Stammpublikum hin konzipierte „Werbestrategien und -konzepte, die weit über das konkrete Programmangebot hinausreichen und in die Schaffung zusätzlicher populärkultureller Ereignisse und Events münden“.7 Die Strukturierungsformen des Fernsehens werden von DOMINIK KOCHGOMBERT in seiner Dissertation Fernsehformate und Formatfernsehen genauer untersucht. Die wichtigsten Strategien der Programmmacher, die Zuschauer an

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Petersen/Wulff (2005, 339f.). Vgl. Plake (2004, 203). Petersen/Wulff (2005, 340). Göttlich (2001, 75f.).

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sich zu binden, sind für ihn ‚Stripping‘ und ‚Audience Flow‘.8 Als ‚Stripping‘ lässt sich die auf den Zuschauer gerichtete (werk-)tägliche Programmierung der gleichen Sendeform auf dem gleichen Sendeplatz begreifen. Der ‚Audience Flow‘ soll sicherstellen, dass Zuschauer innerhalb des Tagesablaufs dem Programm eines Senders erhalten bleiben, sich der Programmablauf also – wie von Plake oben beschrieben – dem häuslichen Tagesablauf anpasst.9 Hier lässt sich natürlich eine gewisse Nähe zu Williams’ Flow-Begriff ausmachen, wenngleich Williams mit dem Flow eher den Programmablauf in seiner Wirkung auf die Wahrnehmung des Adressaten beschreibt, während der ‚Audience Flow‘ stärker auf die marktwirtschaftliche Strategie der Quotenerhöhung abzielt (→ Quote). Koch-Gombert unterscheidet innerhalb des ‚Audience Flows‘ mehrere Strategien, den Zuschauer von einer Sendung zur nächsten zu leiten, vor allem im Hinblick auf die Bindung des Zuschauers zur Prime Time. Um quotenschwache oder neue Sendungen zu etablieren, werden vor diese quotenstarke Sendungen programmiert, um Zuschauer in die schwache Sendung ‚hinüberzuretten‘ (‚Leadin‘).10 Unter ‚Lead-off/out‘ versteht Koch-Gombert den Versuch, durch eine quotenstarke Sendung zu Beginn der Prime Time die Zuschauer über die gesamte Prime Time hinweg an den Sender zu binden.11 Ebenfalls lässt sich ‚Blocking‘ als Bindungsstrategie erkennen, also Programmierung mehrerer gleichartiger Sendungen hintereinander.12 Wenn eine neue, mit Akzeptanzschwierigkeiten behaftete Sendung zwischen zwei starke Sendungen gelegt wird, so spricht man von ‚Hammocking‘, umgekehrt von ‚Sandwiching‘.13 Dies erinnert an die klassischen Anforderungen der rhetorischen dispositio, insbesondere der Anordnung und Gewichtung der zentralen Argumente innerhalb einer Rede – mit der Einschränkung, dass die fernsehrhetorische Programmstrategie nicht auf rationale Überzeugung, sondern auf unterhaltens- und spannungsbasierte Bindung zielt. Die Programmstruktur ist nur unter den Bedingungen des Flow und der Linearität der Fernsehperformanz als Medienspezifikum zu verstehen. Fallen diese Strukturen größtenteils oder gänzlich weg, wie das in Online-Mediatheken von Fernsehsendern etwa der Fall ist, geben die Fernsehoratoren ihre Rolle als Pro-

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Vgl. Koch-Gombert (2005, 137). Vgl. ähnlich auch Miriam Meckel (2002, 2277), sie beschreibt die vertikale Zeitabfolge nach Programmgattungen und -funktionen, formatierte Tages-Sendeleisten und wiederkehrende Verweisungen als die drei Hauptmerkmale von Programmstrukturierung im Fernsehen. Vgl. Koch-Gombert (2005, 141). Koch-Gombert (2005, 141). Vgl. Koch-Gombert (2005, 143f.). Koch-Gombert (2005, 145).

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grammdirektoren im Grunde an die Adressaten ab. Hier werden dann neue virtuelle Ordnungsmodelle ersonnen, die die Vielzahl der zur Verfügung stehenden Einzeltexte für den Zuschauer strukturieren und einen oder mehrere ‚Rezeptionswege‘ nahelegen. Dies kann beispielsweise über Empfehlungen der Redaktion (Video des Tages), die Aktualität (neueste Videos, aber auch Videos, die nur noch kurze Zeit zur Verfügung stehen) oder aber über nutzerbestimmte Kriterien, etwa der Häufigkeit (meistgesehene Videos) oder Umstrittenheit (meistkommentierte Videos) gesteuert werden. Literatur Göttlich, Udo (2001): Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung. Aspekte der Verschränkung von Fernsehproduktion und Alltagsdarstellung. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 10/1, 71–89. Hickethier, Knut (1995): Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 4/1, 63–83. Koch-Gombert, Dominik (2005): Fernsehformate und Formatfernsehen. TVAngebotsentwicklung in Deutschland zwischen Programmgeschichte und Marketingstrategie. München. Meckel, Miriam (2002): Programmstrukturen des Fernsehens. In: Joachim-Felix Leonhard u.a. (Hrsg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. 3. Teilband. Berlin / New York, 2269–2280. Petersen, Rüdiger / Wulff, Hans J. (2005): Spin-Off. Von der Bedeutung des ,Fortspinnens‘ für die Programmentwicklung des Fernsehens. In: Ludwig Fischer (Hrsg.): Programm und Programmatik. Kultur- und medienwissenschaftliche Analysen. FS Knut Hickethier. Konstanz, 339–356. Plake, Klaus (2004): Handbuch Fernsehforschung. Befunde und Perspektiven. Wiesbaden. Williams, Raymond (2002): Programmstruktur als Sequenz oder flow [1975]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 33–43.

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S ERIALITÄT Als Serialität kann eine dem Fernsehen inhärente, auf Fortsetzung, Wiederkehr und Ähnlichkeit von Formen und Inhalten beruhende Struktur bezeichnet werden, deren augenfälligste Ausdrucksform die TV-Serie darstellt, die sich jedoch auch in nichtfiktionalen Bereichen des Fernsehens als Teil der → Programmstruktur äußert. Dabei operiert Serialität stets zwischen „Strategien der Iteration und solchen der Um- und Fortschreibung“1 und kann darum als Wiederkehr des Ähnlichen zutreffend beschrieben werden:2 Einerseits bildet sie zusammen mit der → Wiederholung die zyklische Temporalstruktur einer „Wiederkehr des Immergleichen“,3 die von der linearen und der ereignishaften Temporalstruktur des Fernsehens abgegrenzt werden kann (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme).4 Andererseits manifestieren sich ihr ästhetischer Wert und ihr Bindungspotential auch in inhaltsgebundener Variation. Serialität schlägt sich daher nicht nur im Programm als medialer Ordnungsstruktur, sondern auch in der (narrativen, dramatischen oder persuasiven) Struktur der Fernsehtexte nieder und nimmt in diesem Sinne auch Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung. Dies führt nach OLIVER FAHLE etwa dazu, dass nicht die Narration Serialität organisiert, sondern vielmehr Serialität Narration beeinflusst und anpasst.5 Serialität ist daher für einen Fernsehorator relevant, der in einem wiederkehrenden Format tätig ist und über einen längeren Zeitraum Aufmerksamkeit und Bindung erzeugen will. Gleichzeitig muss er bereit sein, den Plot an serielle Strukturen anzupassen: Mithilfe der Ordnungsstruktur des Fernsehens und der Binnenstruktur seines Formats tritt er mit den Adressaten in ein wiederkehrendes Spiel der Erwartungen und Verheißungen nach dem Motto „Fortsetzung folgt“. Wichtig sind hier vor allem Anfang und Ende von Fernsehtexturen: Der Anfang muss optimale Anschluss- und Einstiegsmöglichkeiten bieten, die sowohl vertraute als auch neue Zuschauer ansprechen, dies realisiert sich oftmals in der Form eines kurzen „Previously on...“-Zusammenschnitts der für die Episode relevanten, bis zu diesem Zeitpunkt geschehenen Ereignisse.6 Das Ende wiederum weckt in der Art eines cliffhangers starke Neugier auf die nächste Einzelfolge

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Rothöhler (2014, 232). Vgl. Schabacher (2009). Eco (1988, 160). Vgl. Neverla (1992, 64 und 66). Vgl. Fahle (2012, 177). Vgl. Lehmann (2010).

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oder Staffel und erhöht so das Bindungspotential.7 In diesem Sinne sind serielle Strukturen als wichtige Instrumente der Langzeitsteuerung der virtuellen Kommunikationsgemeinschaft zwischen Fernsehorator und Adressaten zu verstehen. Grundsätzlich wird innerhalb der Fernsehforschung diskutiert, ob Serialität eine dem Format des Fernsehens inhärente Struktur darstellt oder als inhaltlichnarratives Phänomen die Medienspezifik nicht tangiert. STANLEY CAVELL hat diese Frage zugunsten der medienspezifischen Seite beantwortet, indem er in der Serialität „den ontologischen Grundzug des Fernsehens schlechthin“ erkennt.8 Dadurch, dass sich das Fernsehen stets nach dem Prinzip von Serie und Episode entfalte, sei es der Form nach seriell. Dieser seriellen Struktur des Fernsehens spürt die Fernsehforschung über die Charakteristika der Fernsehserie nach, welche KNUT HICKETHIER beschreibt als „eine fiktionale Produktion, die auf Fortsetzung hin konzipiert und produziert wird, die aber zwischen ihren einzelnen Teilen verschiedene Verknüpfungsformen aufweist“.9 Der auf Mehrteiligkeit ausgelegten Fernsehserie bescheinigt Hickethier also die Doppelstruktur einer „periodischen Abfolge“ von Einheiten, welche sich als „Ketten von Einzelfolgen“ erweisen, die jedoch inhaltlich über „traditionelle Muster des dramatischen Geschehens“ miteinander verbunden sind.10 Grundsätzlich können diese Strukturen in zwei Formaten verwirklicht werden, in der Episodenserie (series) und in der Fortsetzungsserie (serial), wobei series eine Aneinanderreihung von getrennt voneinander rezipierbaren Episoden meint, serial dagegen potentiell unendlich fortlaufende aneinander anknüpfende Serienfolgen.11 Während die frühe Serialitätsforschung sowohl Episoden- als auch Fortsetzungsserien untersuchte, um „das Serienformat als strukturelle Entsprechung der das Medium konstituierenden Serialität in den Blick“ zu nehmen,12 erfreuen sich heute vor allem US-amerikanische serials unter dem Stichwort Quality-TV großer Beliebtheit, sowohl beim Publikum wie auch in der Fernsehforschung.13

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Vgl. Weber/Junklewitz (2010). Beil u.a. (2012, 14). Vgl. dazu auch Cavell (2002 [1982], 132). Hickethier (1991, 8). Hickethier (1991, 9). Fiktionalität erleichtert dabei eine kohärente narrative Ausgestaltung und trägt so zu einer rituellen Nutzung bei, die Hickethier als zentral für die Zuschauerbindung erachtet (vgl. ebd. 11). 11 Zur Etablierung der beiden Begriffe vgl. Oltean (1993, 13-17), Schabacher (2010, 25). 12 Köhler (2010, 22). 13 Tendenziell ist dabei in heutigen Serien eine Vermischung von episodaler und serialer Erzählweise zu beobachten, wie Mittell (2006) und Smith (2010) nachweisen.

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Dabei wird Serialität im Hinblick auf das Quality-TV immer weniger fernsehspezifisch wahrgenommen, vielmehr stellen die diversen Untersuchungen zum Thema größtenteils inhaltliche Interpretationen auf der Basis literatur- und kulturwissenschaftlicher Modelle dar.14 Zum Teil gehen diese Ansätze so weit, der Fernsehserie ihre Medienspezifik gänzlich abzusprechen und einen „narratologisch geprägten Serialitätsbegriff“ zu favorisieren, der dem Umstand Rechnung trägt, dass die Zuschauer die Fernsehserien zunehmend nicht im Fernsehprogramm, sondern unter Rückgriff auf andere Vertriebswege DVDs, Blu-rays oder Videodateien im Internet konsumieren, wodurch der Wandel in „FernsehTechnologie, -Distribution und -Rezeption zunehmend virulent“ werde.15 Gegen die Vorstellung einer solchen, vom Medium losgelösten Rezeption argumentiert HERBERT SCHWAAB, der die Qualitäten der Serie vor allem dann am Werk sieht, wenn sie nicht als Kunstform und Elitenprodukt, sondern als Fernsehserie für das „eigenartige Gebilde eines Fernsehpublikums“ produziert, von diesem auch konsumiert und schließlich dementsprechend analysiert werde.16 Unter den elektronischen Medien ist es schließlich allein dem Fernsehen möglich, durch seine Programmstruktur eine rituelle, wöchentliche oder gar tägliche Nutzung vorzuschreiben und somit zu kultivieren – wenn eine solche Strukturierung im Internet aufgenommen wird, so reproduziert dies doch nur die Medienspezifik des Fernsehens.17 Zudem weist JÜRGEN TRINKS darauf hin, dass Serialität grundsätzlich von Narrativik unterschieden werden müsse, da sie „potentiell bis ins Unendliche“ laufen könne und so prinzipiell anders strukturiert und konzipiert werden müsse als eine Erzählung.18 Die Serie habe demnach narrative Grundlagen, führt diese aber aufgrund ihrer Einbettung in die Programmstruktur des Fernsehens anders aus. „Zyklischen Charakter“ schreibt ihr IRENE NEVERLA zu, welcher zwar abgegrenzt vom, aber nicht im Widerspruch zum linearen Programmablauf zu bestimmen ist, da im Seriellen „Fortdauer und Endlichkeit der

14 In den letzten Jahren hat eine ganze Reihe von Publikationen das Phänomen der Qualitätsserien in den Blick genommen, vgl. etwa Seiler (2008), Meteling/Otto/Schabacher (2010), Blanchet u.a. (2010), Piepiorka (2011) oder Kelleter (2012b). 15 Köhler (2010, 23). Vgl. zum ‚flexiblen Kino‘ auch Distelmeyer 2012. 16 Schwaab (2010, 38). 17 Traditionelle Formen rituell-narrativer Serialität, beispielsweise Fortsetzungsromane in Tages- oder Wochenzeitschriften oder Hörfunkserien, waren gegenüber der Fernsehserie sowohl bei Konsumption wie auch in der wissenschaftlichen Rezeption zwischenzeitlich deutlich in den Hintergrund getreten. In den letzten Jahren hat die anhaltende Popularität der Fernsehserie zu einem erneuten Blick auf alternative serielle Formen geführt. Vgl. Kelleter (2012b). 18 Trinks (2000, 29).

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Zeit gleichermaßen enthalten“ sind.19 Fernsehen wird zum linear-seriellen „Programmkontinuum“,20 da serielle Angebote nach LORENZ ENGELL zeitlich wie inhaltlich sowohl in sich geschlossen als auch potentiell unendlich sind.21 So verbinden sich Linearität und Serialität zu strukturellen wie temporalen Grundformen des Fernsehens. Gleichzeitig deutet die ‚potentiell unendliche Form‘ auf ein Medienspezifikum hin, das Serien von anderen Formaten abgrenzt. So argumentieren ANDREAS JAHN-SUDMANN und FRANK KELLETER, dass Serien über ihre Fortdauer ein metaserielles Bewusstsein in Form einer Selbstbeobachtung entwickeln können, das ihre „eigene Beschaffenheit als Format“ reflektiert.22 So wird das Fernsehen durch die Serie zum Experimentierfeld, auf welchem „Serienrezipienten deutlich größere Spielräume als Werkrezipienten besitzen, um auf laufende Narrationen Einfluss zu nehmen oder im Prozess fortgesetzten Erzählens selbst aktiv zu werden“.23 Zur Selbstbeobachtung der Serie tritt demnach der Fremdeinfluss, der zwar die Handlungsentwicklung verändern, nicht aber von der andauernden Ausstrahlung im Fernsehprogramm entkoppeln kann. Vernachlässigt wird in solchen Forschungsansätzen, die mit dem Begriff ‚Narrativität‘ arbeiten, der strukturelle Programmaspekt der Serialität, den WERNER FAULSTICH wie auch HARTMUT WINKLER in den 1990er Jahren als grundsätzlich ökonomisch deuten und damit Serialität als „Produktionsprinzip“ vorstellen.24 In der Serialität des Fernsehprogramms, so lautet die von Faulstich und Winkler vertretene, warenpsychologisch informierte These, spinnt sich als „Sonderform“ fort, was im Allgemeinen längst zur Lebenswelt der Zuschauer gehört: „die industrielle Massenherstellung von Konsumgütern“ als absolute technische Reproduzierbarkeit.25 Im Fernsehen nun erweist sich die Wiederholung einer Sendung als exakte technische Reproduktion im Sinne Winklers, an die sich die Serialität annähert. Im Gegensatz zur Wiederholung ist die Differenz für Serialität jedoch konstitutives Merkmal, das benötigt wird, um die Bindung der Zuschauer an die Serie zu erhöhen. So erkennt GABRIELE SCHABACHER die Opposition von Wiederholung und Variabilität als die Serialität definierendes Merkmal an, weil sie nicht

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Neverla (1992, 66). Hickethier (2002, 665). Vgl. Engell (1989, 133). Jahn-Sudmann/Kelleter (2012, 221). Kelleter (2012a, 24). Faulstich (1994, 49). Vgl. auch Winkler (1994, 38f.). Winkler (1994, 38).

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nur den Rezeptionsrhythmus der regelmäßigen Ausstrahlung auf dem jeweils gleichen Sendeplatz sowie der ‚narrationsbedingten‘ Wiedererkennbarkeit eines leicht abgewandelten Grundmusters beschreibe, sondern auch Variation der Serie inhärent und an den Inhalt gebunden sei und reine Wiederkehr nur Langeweile auslösen würde.26 Den das Bindungspotential realisierenden Faktor stellt darum die Wiederkehr der Ähnlichkeit dar. Mit Bezug auf Winklers Thesen verweist SIMON ROTHÖHLER in seinen Überlegungen zum Bindungspotential der Fernsehserie auf die „angebotsseitig vergleichsweise präzise“ kalkulierbaren und kommodifizierbaren Rezeptionsvorgänge, die aus rhetorischer Perspektive äußerst interessant sind: „Offenbar eignen sich Serienformate auf besondere Weise dazu, unter den Bedingungen einer ausdifferenzierten Medienkonsumsphäre mittelfristig tragfähige Bindungen herzustellen.“27 Faulstich sieht in der Serialität sowohl ein strukturelles Programm als auch eine sinnstiftende ‚Massage‘ (im Sinne von Einwirkung) verwirklicht, die die „Identifikationsbereitschaft“ der Zuschauer stimuliert.28 Hickethier spricht mit Blick auf die Rezipientenseite von einer „emotionalen Modellierung“, die durch „wiederholte Präsentation immer wieder ähnlicher und gleicher emotionaler Konstellationen“29 den Zuschauer an das Programm bindet. Trinks deutet diese Modellierung psychoanalytisch und sieht im Fortdauern und der potentiellen Unendlichkeit des Wiederkehrens „eine adäquate Form des Begehrens“, das zugleich Befriedigung des Bindungsverlangens und Enttäuschung desselben darstellt, da die Bindung „nicht dauerhaft präsent sein kann.“30 Zudem machen die Vertreter der medienspezifischen Seite ein weiteres, für die Fernsehrhetorik relevantes Argument stark: Das Fernsehen arbeite daran, sich selbst mit der Alltagswahrnehmung des Menschen zu synchronisieren. Faulstich begreift in diesem Sinne die Serialität als eine kulturelle Theorie und somit als „Wahrnehmungs- und Ordnungsprinzip des Menschen“,31 welches sich im Fernsehen strukturell verwirklicht. Da sich das Fernsehprogramm auf die „Alltagszeit des Zuschauers“ einstelle, erkennt Schabacher in der „Wiederholungsstruktur der Serie“ eine strukturelle Ähnlichkeit zu den „seriellen Strukturen des Alltagslebens“.32 Auch Hickethier sieht in der „Serialität des Programms“33 eine

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Ähnlich argumentiert auch Kelleter (2012a). Rothöhler (2014, 234). Faulstich (1982, 135). Hickethier (1994, 58). Trinks (2000, 30). Faulstich (1994, 51). Schabacher (2010, 31).

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lebensweltliche Einwirkung auf den Zuschauer. Er beschreibt die von einem seriellen Programm vorgeschriebene Ritualisierung der Rezeption als Möglichkeit für den Zuschauer, seine Alltagswahrnehmung hinter sich zu lassen und ganz in die inhaltsspezifischen Gegebenheiten einer fiktionalen Serie einzutauchen. Doch auch im nichtfiktionalen Bereich der Nachrichten, Magazine und Unterhaltungssendungen erschafft Serialität nach Faulstich als Strukturprinzip jene Ordnung, die strukturell „das scheinbar Singuläre, Spezifische, das explizit Nicht-Reproduktive“ überlagert.34 Hickethier verortet unter Rückgriff auf RAYMOND WILLIAMS’ Verständnis vom Fernsehen als → Flow Serialität im Programmfluss gerade auch des nichtfiktionalen Fernsehens.35 So erkennt er in Nachrichtenformaten „Erzählhandlungen“,36 die sendungsübergreifend eingesetzt und dazu genutzt werden, auch plötzlich hereinbrechende Medienereignisse zu serialisieren (→ Dramatisierung).37 Das vordergründig unprogrammierbare Medienereignis stellt grundsätzlich den Gegenpol zur seriellen Programmstruktur dar, dennoch wird es nach Neverla in der seriellen Aufbereitung „verarbeitbar gemacht“ – mit der Folge, dass die „Einmaligkeit des Ereignisses verschwimmt.“38 Während bei einer Störung der Serialität durch ein Medienereignis die Einordnung der Geschehnisse oftmals nur durch einen Livekommentar im Rahmen einer Sondersendung möglich ist (→ Liveness) und so die Erfolgschancen einer rhetorisch-strategischen Einbindung des Medienereignisses ins Programm ungewiss erscheinen, erhöhen sich diese Chancen durch die sukzessive Einbindung des Ereignisses in serielle Sendungsformate wieder (→ Format). Dennoch tragen Serien auch dazu bei, neue Medienereignisse zu erzeugen. Schabacher weist in Bezug auf die Popularität von serials darauf hin, dass sich diese „mit ihrer Fortsetzungslogik“ gegen das Prinzip des Flow sperrten, zu bestimmten Zeitpunkten gesehen werden müssten und sich so „dem Kontinuum des Fernsehabends“ widersetzten.39 Damit schließen sich Serialität und Medienereignis im Programmfluss gegenseitig ein: Unterbricht ein Ereignis die serielle Programmierung – etwa mittels Breaking News – so wird dieses über eine sich

33 Hickethier (1991, 11). 34 Faulstich (1982, 140). 35 Vgl. Hickethier (1991, 12f.): „Das Serielle des Programms liegt in seiner besonderen Struktur begründet, die das Programmfernsehen seit seiner Einführung entwickelt hat. Als ‚Programmfluß‘ ist das Fernsehen häufig begriffen worden […]: ein Fluß des Erzählten und Dargestellten, der in seiner periodischen Struktur selbst bereits seriell ist“. 36 Hickethier (2002, 667). 37 Vgl. auch Hickethier (2002, 657). 38 Neverla (1992, 68). 39 Schabacher (2010, 26).

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fortspinnende Berichterstattung wieder in den Lauf des seriellen Programmkontinuums eingespeist. Gleichzeitig können einzelne Serienfolgen, besonders aber der Beginn und das Ende einer Serienstaffel, zu Medienereignissen werden, die dem Zuschauer eine Variation des standardisierten Programmflusses bieten – und so die der Serialität zugrunde liegende zentrale „Dis/Kontinuität“ zwischen Wiederholung und Variation auf die Ebene der gesamten Formatierung hieven.40 Engell sieht darum in der Serialität auch den Ort, an dem sich das Gedächtnis des Fernsehens befinde:41 Im Seriellen schafft sich das Fernsehen ein operatives Gedächtnis, das mittels Wiederholung und Variation entscheidet, welche Inhalte es erinnert – indem sie der Wiederholung zugänglich gemacht werden – oder durch Variation wieder vergisst. „Für das Fernsehen ist die Serie mithin schließlich das funktionale Äquivalent zu einer Theorie des Gedächtnisses.“42 Mit diesem Charakteristikum ist Serialität endgültig einer Analyse enthoben, die sich als narratologisch versteht. Für den Fernsehorator ist es darum von großer Bedeutung, Serialität als fernsehspezifisches Merkmal zu begreifen. Schließlich zeigen bereits die Gedanken zu einer Ästhetik der Serialität, wie sie beispielsweise UMBERTO ECO in den 1980er Jahren vorstellte, dass Serialität formgebunden ist und aufgrund ihrer Form – nicht ihrer Inhalte – auf den Zuschauer wirkt.43 Diese Form nun ist es, die eine Verbindung aufweist zur Formatierung des Programms: Die serielle Grundoperation des Wechselspiels zwischen Wiederholung und Variation findet ihre Entsprechung auf der Formatebene im Zusammenwirken von Serialität und Medienereignis. Literatur Beil, Benjamin u.a. (2012): Die Serie. Einleitung in den Schwerpunkt. In: Zeitschrift für Medienwissenschaften 7, 10–16. Blanchet, Robert u.a. (Hrsg.) (2010): Serielle Formen: Von den frühen FilmSerials zu aktuellen Quality-TV- und Onlineserien. Marburg.

40 Schabacher (2010, 25). 41 Vgl. Engell (2010, 123). 42 Engell (2010, 116). Er rekurriert damit auf die Theorie des operativen Gedächtnisses bei Niklas Luhmann und Elena Esposito. Operatives Gedächtnis meint die Gedächtnisleistung, die in der Gegenwart operierende Sinnsysteme entwickeln, um durch Temporalisierung – also das Festhalten des Vergangenen oder der Blick in die Zukunft – mehr Komplexität verarbeiten zu können (vgl. Engell 2010, 117f.). 43 Vgl. Eco (1988, 176f.).

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T ELEVISUALITÄT

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T ELEVISUALITÄT Das Konzept der Televisualität wurde von JOHN T. CALDWELL geprägt und hebt die visuelle Schicht von Fernsehtexturen hervor. Es bezieht sich dabei insbesondere auf die Dominanz stilistischer Aspekte, die den semantischen Gehalt der Texte gewissermaßen überstrahlen. Für Caldwell ist die von ihm sogenannte „performance of style“ für das Fernsehen der 1980er Jahre so bedeutsam, dass er sie zum eigentlichen Spezifikum des Mediums Fernsehen erhebt. Wichtig ist, dass der Begriff des Televisuellen als Komplementärbegriff zum statischen Bild für den fernsehtypischen, dynamischen „Bilderfließ“ (so TILO PRASE1) steht und sich nicht auf stilistische Aspekte beschränkt. Das Televisualitätskonzept entwirft eine rhetorisch-strategische Perspektive auf die visuellen Möglichkeiten des Fernsehens. Es sieht die Visualisierungsweisen in Fernsehsendungen nicht als „neutral vehicle“2 an, sondern als ein fernsehspezifisches Potential, das von den Fernsehmachern gezielt eingesetzt, entfaltet und kommunikativ ausgemünzt wird. Der televisuelle ‚Look‘ einer Sendung kann somit als eigenes und selbständiges ‚Operationsfeld‘ des Orators begriffen werden. Auffällige Stilisierung kann etwa dazu dienen, die eigene Sendung aus dem ansonsten nivellierenden → Flow herauszuheben. Es handelt sich also um eine Technik der Bezirzung oder Umschmeichelung, die den Zuschauer allein mit fernsehästhetischen Mitteln für eine Sendung interessieren will. Das von der Fernsehtheorie ins Spiel gebrachte Kriterium der ‚exzessiven‘ Visualisierung könnte das rhetorische Prinzip der inneren Angemessenheit (inneres aptum) suspendieren, demzufolge sich die Gestaltungsweisen dem Thema und der Botschaft eines Textes anzupassen haben, um erfolgreich zu sein. Im Fernsehen der 1980er Jahre, so Caldwells Beobachtung, bemisst sich die Botschaft eines Textes nicht mehr am semantischen Gehalt, sondern an der stilistischen Ausgestaltung insbesondere auf der visuellen Vermittlungsebene. Rhetorisch gesehen würde man allerdings nicht von einer kompletten Ersetzung des Inhalts durch die Form, sondern von einer Stärkung der Form gegenüber dem Inhalt sprechen. Caldwells Monographie zur Televisuality von 1995 stellt die erste umfassende Studie zur visuellen Spezifik des Fernsehens dar und steht daher im Mittelpunkt der Forschungsdiskussion sowohl im anglo-amerikanischen als auch zunehmend

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Vgl. Prase (1997, bes. 94). Caldwell (1995, 76).

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im europäischen Raum.3 Freilich haben auch Fernsehwissenschaftler vor Caldwell formale Gestaltungsaspekte in ihre Überlegungen miteinbezogen.4 Allerdings bildet der Stil in diesen Studien immer nur eine von vielen Komponenten, wohingegen sich Caldwell exklusiv auf die stilistische Komponente des Fernsehens konzentriert und daher in der isolierten Betrachtung zu wesentlich aussagekräftigeren Ergebnissen kommt. Historisch bezieht sich Caldwell auf die mit dem Beginn des US-amerikanischen Kabelfernsehens im Jahr 1980 einsetzende Hochphase des Fernsehens, die dieses für mindestens zwei Dekaden zum Leitmedium machte und in der die wichtigsten, auch heute noch mit dem Medium verbundenen Spezifika ausgeprägt wurden (insbesondere bei CNN und MTV).5 Caldwell geht es jedoch weniger um die stilistische Analyse einzelner Genres, sondern vielmehr darum, die Televisualität anhand paradigmatischer Beispiele tatsächlich als operativen Kommunikationsmodus des Fernsehens,6 also als eine Spezifik im fernsehrhetorischen Sinne zu erfassen.7 Im Gegensatz zu anderen Arbeiten beschränkt er sich bei seinen Beispielen auch keineswegs auf fiktionale Sendungen, sondern bezieht Sportsendungen, Home-Shopping-Sendungen, Reality-Formate, Werbespots oder auch die Golfkriegs-Berichterstattung8 selbstverständlich mit ein. Den Kern der Bestimmung der Caldwell’schen Televisuality bildet die These, dass sich die Funktion von Stil im Fernsehen radikal verändert:9 „In short, style, long seen as a mere signifier and vessel for content, issues, and ideas, has now itself become one of television’s most privileged and showcased signi-

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6 7

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Mit der Aufnahme und Übersetzung zweier teilweise gekürzter Kapitel in den Grundlagentexten zur Fernsehwissenschaft (Caldwell 2002) hat sich die Rezeption Caldwells auch in Deutschland verstärkt. Dieser Artikel bezieht sich jedoch auch bei diesen Kapiteln auf das englische Original, da die Herausgeber der Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft einige Abschnitte Caldwells zur Autorschaft, die aus rhetorischer Perspektive höchst aufschlussreich sind, herausgekürzt haben. Vgl. stellvertretend Zettl (1999). Dies heißt allerdings nicht, wie Bleicher (2010b, 50) fälschlicherweise kritisiert, dass Caldwell „den Fernsehstil erst in den 1980er Jahren beginnen“ lässt. Hier setzt er lediglich den Startpunkt für die exzessive Stilisierung (eben: Televisualität) des Fernsehens an, keinesfalls aber für dessen Stilisierung überhaupt. Vgl. Caldwell (1995, x). Vgl. Adelmann/Stauff (2006, 71): „Eine Pointe von Caldwells Argumentation scheint uns darin zu liegen, daß die Visualisierungsprozesse des Fernsehens […] mit definieren, was Fernsehen ist, was seine Basiskategorien und Effekte sind.“ Vgl. hierzu mit Bezug auf Caldwell auch Hoskins (2004, 24–27). Vgl. zum Folgenden bes. Caldwell (1995, 5–11).

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fieds.“10 Der Ausgangspunkt ist also eine Denkfigur der Inversion: Die Form ersetze den Inhalt, der Stil das Thema von Fernsehsendungen.11 Caldwell interessiert sich bei der Televisualität weniger für einzelne Stile als vielmehr für die permanente, performative, ja exhibitionistische Praxis der Stilisierung, bei der es darum gehe, das Rad ständig neu zu erfinden. Er erkennt darin eine „presentational attitude“,12 was aus rhetorischer Sicht höchst anschlussfähig ist, da Caldwell viel stärker als andere Fernsehwissenschaftler vom Fernsehorator her denkt. Die Fernsehproduktion bildet für Caldwell einen wichtigen Bezugspunkt, auch wenn sein Interesse hier vorwiegend technischen Innovationen gilt, die er als Motoren der exzessiven Zurschaustellung von Stil versteht.13 Fernsehpragmatisch definiert er Televisualität außerdem als Mittel der Programmgestaltung, das dem Entwurf eines unverwechselbaren und bei Spartensendern zudem hoch kodierten ‚Looks‘ diene.14 Angesichts des wachsenden Konkurrenzkampfs der Fernsehsender (→ Quote) sei die Etablierung feiner Unterschiede (durchaus im BOURDIEU’schen Sinne) vonnöten, um den steigenden ästhetischen Ansprüchen der Fernsehzuschauer genügen zu können. Caldwell unterscheidet zwei Ausprägungen von Televisualität: Die filmische Televisualität bezieht sich auf ästhetische Kodes des Films, sofern diese im Fernsehen umsetzbar sind. Dazu zählen nicht nur die Verwendung von filmischem Aufnahmematerial oder die aufwendige Produktion, Ausleuchtung, Kulisse etc., sondern auch die Gewinnung von berühmten Kinoregisseuren für die Produktion von Fernsehserien, Videoclips oder Werbespots (etwa bei MTV). Die videographische Televisualität ist die fernsehspezifischere Form und verfügt wegen der elektronischen Produktion über mehr Ausschmückungspotential (etwa bei CNN). Daraus ergibt sich die für Caldwell fernsehtypische „hyperactivity and obsession with effects“.15 In beiden Fällen jedoch wird nach dem Motto

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Caldwell (1995, 5). Vgl. Caldwell (1995, 6). Caldwell (1995, 5). So widmet sich Caldwell in einem eigenen Abschnitt ausführlich bestimmten neuen Produktionstechniken wie beispielsweise Videoausspiegelung, Motion Control oder digitalen Effekten, vgl. bes. Caldwell (1995, 77–83). 14 Vgl. hierzu, aber völlig unabhängig, auch Lorenz Engell (1989, 204), der bestimmte visuelle Markierungen für den (auch historischen) ‚Look‘ von Fernsehsendungen verantwortlich macht: „Darüber hinaus gibt es die rein visuellen Markierungen, die sich vor allem aus Elementen des Stils und der Mode, aus dem – sichtbaren – Alter der Darsteller usw. zusammensetzen.“ 15 Caldwell (1995, 12f., ebenda): „a fetish for effects rules the videographic domain“.

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„Style uber alles“ verfahren.16 Televisualität wird von Caldwell als medienspezifischer, visueller Präsentationsmodus verstanden,17 der das Fernsehen nicht länger anonym macht, sondern mit ‚Autorschaft‘ versieht: „televisual authorship is also a part of calculated programming strategy“.18 Die solchermaßen konstruierten ‚Autoren‘ führen dem Zuschauer mit Hilfe der Televisualität vor Augen, zu welcher Visualisierungs-Meisterschaft sie – bzw. das Fernsehen – es gebracht haben.19 Das solchermaßen geweckte Interesse und die Aufmerksamkeit der Zuschauer können dann für weitere rhetorische Strategien genutzt werden. Die vorwiegend analytisch angelegte Studie Caldwells entwirft zwar insgesamt keine eigene Theorie,20 wohl aber wichtige Eckpunkte zur Weiterentwicklung einer Definition des Televisuellen. Diese Weiterentwicklung besteht aus Sicht der Visuellen-Rhetorik-Forschung darin, das Televisuelle als eigene performative Signatur des Mediums Fernsehen zu abstrahieren. Dabei lassen sich die Beobachtungen Caldwells bestens integrieren. Die damit einhergehende Bestimmung von „Medienidentität“ als „Unverwechselbarkeit der jeweiligen Medienästhetik in ihrer Form als optisches Erscheinungsbild, als Oberfläche von Medienangeboten“ findet sich auch in der Debatte zur Konvergenz oder Crossmedialisierung wieder.21 Operativ sind damit beispielsweise die Mise-en-scène oder die Ausleuchtung verbunden, aber auch Formen der Montage, der Text-BildKombination, der videographischen Animation, der Ausgestaltung des Studios etc. Televisualität spielt demnach bei der Formatierung des Fernsehens eine bedeutende Rolle (→ Format). Ziel ist hierbei die fortlaufende Weiterentwicklung eines wiedererkennbaren, aktuellen und auf der Höhe der Zeit anzusiedelnden ‚Looks‘ bzw. Corporate Designs.22 Im Anschluss an Caldwell gab es verschiedene Erweiterungen des Televisualitätskonzepts. RALF ADELMANN und MARKUS STAUFF nehmen Caldwells Überlegungen zum Anlass, die Ästhetik des Fernsehens in Verbindung mit seinem Machteffekt zu bringen. Die Fernsehspezifik sehen sie jedoch – im Unterschied zu Caldwell – darin, dass das Fernsehen gerade keine eigene Ästhetik hervorzu-

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Caldwell (1995, 88). Vgl. hierzu ausführlich Caldwell (1995, 362, Anm. 34). Caldwell (1995, 14). Vgl. Caldwell (1995, 92): „By manipulating pictorial sign systems, whether from film history or pop culture, television boasts to the viewer that it is a master performer of visuality, a master of stylistic masquerade.“ 20 Vgl. hierzu Adelmann/Stauff (2006, 62f.). 21 Bleicher (2010a, 16). 22 Caldwell (1995, 88) spricht hier davon, dass jede Sendung über „an identifiable visual stance“ verfügen sollte.

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bringen vermöge, sondern lediglich Bildformen und stilistische Aspekte aus anderen Medien integriere und ‚re-visualisiere‘.23 Die fortlaufende Erneuerung des ‚Looks‘ macht für sie die Bildhaftigkeit des Fernsehens aus. Wenn Adelmann und Stauff allerdings von der strategischen Funktion der Televisualität sprechen, führen sie diese nicht wie Caldwell oder die Fernsehrhetorik auf die Intentionen von Fernsehmachern, sondern auf den Machteffekt ‚des Mediums‘ selbst zurück, was mit der in der aristotelischen Rhetorikdefinition formulierten Kategorie dýnamis (Kraft, Macht) in Verbindung gebracht werden könnte.24 MARGARET MORSE greift die Televisualität vor allem in räumlicher Hinsicht als eine Art „protocyberspace“ im Fernsehen auf.25 Rhetorisch interessant ist besonders die grenzüberschreitende Funktion, die sie der exzessiven Stilisierung im Fernsehen attestiert: Sie diene dazu, den Zuschauer „into another world on the other side of the screen“ bzw. „deep into and through the layers of television space“ zu führen.26 Außerdem betont Morse stärker die Illusion von Nähe und gleichzeitige Simulation von Monumentalität, die durch die videographische Präsentationsweise hervorgerufen werden können und bei der die Augen der Kamera gewissermaßen den Tastsinn der Zuschauer ersetzten.27 Nicht mit direktem Bezug zu Caldwell, aber in ganz ähnlichem Sinne, versteht Morse den ‚Look‘ von Fernsehnachrichtensendungen als einen der bedeutendsten Garanten für die Glaubwürdigkeit des Formats.28 Dieser Ansatz kann rhetorisch weiterentwickelt werden, indem die stilistische Präsentationsweise etwa der Fernsehnachrichten als ‚Ethosdarstellung‘ (rhetorische Imagekonstruktion) verstanden wird, welche die an sich abstrakte Größe des Nachrichtenorators sinnlich-konkret zu charakterisieren vermag. ANNE ULRICH hat dies in der Monographie Umkämpfte Glaubwürdigkeit. Visuelle Strategien des Fernsehjournalismus im Irakkrieg 2003 herausgearbeitet.29 Die verschiedenen Elemente der Televisualität versteht sie als Teil einer korporativen Haltung, die das Bild einer Benachrichtigungsinstanz visuell zu vermitteln vermag. So muss auf den ersten Blick zu erkennen sein, welcher Sender mit welcher Nachrichtensendung welche Beglaubigungsstrategie verfolgt. Die verschiedenen televisuellen Elemente wie etwa das On-Air-Design,

23 24 25 26 27 28

Vgl. Adelmann/Stauff (2006, bes. 57). Adelmann/Stauff (2006, bes. 62–71). Morse (1998, 220, Anm. 2). Morse (1998, 72 bzw. 73). Morse (1998, 90). Morse (1998, 36): „People had a particular model in their heads of what television was. It was in the minds of these people. So we had to make the news look like the news – what people were used to seeing. It was then that it became credible.“ 29 Vgl. Ulrich (2012, bes. 222–293).

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das Set-Design sowie die ästhetische Signatur der ‚kleinen‘, paratextuellen Opener, Kennspots oder Eigenwerbespots zeigen somit an, ob ein Fernsehnachrichtenorator eher auf Seriosität, Professionalität oder Empathie und Attraktivität setzt. Zur Veranschaulichung dienen typographische Besonderheiten, Leitfarben oder Leitsymbole (etwa die Erdkugel), aber auch klar wiedererkennbare Techniken des Schnitts, der Montage und der generellen ‚Färbung‘ des Nachrichtenprogramms. Diese allesamt symbolischen Elemente erlauben es, die Glaubwürdigkeit einer Benachrichtigungsinstanz ganz ohne den Einsatz von → Personae zu formen, was eine wohltuende und ebenso fernsehspezifische Komplementärstrategie zur → Personalisierung darstellt. Imagekonstruktion über stilistische Aspekte ist auch Thema der noch relativ geringen Zahl an Forschungen zum Fernsehdesign. Unabhängig von Caldwell haben KNUT HICKETHIER und JOAN K. BLEICHER 1997 in einem Sammelband auf die Bedeutung der scheinbar marginalen „Trailer, Teaser, Appetizer“ hingewiesen und herausgestellt, dass die Oberfläche des Fernsehens „so etwas wie das ‚Grundrauschen‘ des Mediums erkennbar“ mache.30 Die Paratexte des Fernsehens verstehen sie als zentrale Elemente des Corporate Designs ebenso wie pragmatische Steuerungselemente des Flow.31 Der Sammelband widmet sich dann jedoch stärker einer systematischen Erfassung der Corporate-Design-Elemente und deren Funktionen aus einer marketingorientierten Perspektive als einer übergeordneten Bestimmung der fernsehspezifischen Ästhetik, wie es bei Caldwell der Fall ist. Für eine erste Annäherung an das Fernsehdesign war eine solche Perspektive durchaus richtig und äußerst bedeutsam. Leider vermögen jedoch auch neuere Arbeiten zum Fernsehdesign32 die zahlreichen Befunde zur Geschichte, stilistischen Erscheinungsform, technischen Bedingtheit und pragmatisch-ökonomischen Funktion nicht unter einer stringenten theoretischen Perspektive zu bündeln. Ein wenig Licht ins Dunkel bringt der jüngst erschienene schmale Sammelband zum Fernsehstil. Bleicher definiert hier Stil als „strategischen Einsatz ästhetischer Darstellungsmittel, die auf technischen Möglichkeiten basieren“, gleichzeitig aber auch als „System ästhetischer Darstellungsmittel, die an besondere Erzählungen oder Vermittlungsformen gebunden sind und sich der allgemeinen Ästhetik des Mediums und seiner jeweiligen Positionierung im Mediensystem anpassen“ – und zählt gleich acht verschiedene Stil-Verständnisse für das

30 Hickethier/Bleicher (1997, 7). 31 Zum Corporate Design vgl. Adolph/Scherer (1997) und Schirmer (1997), zum Flow vgl. besonders Hickethier (1997). 32 Etwa Link (2008).

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Fernsehen auf.33 Im Folgenden entwickelt sie jedoch kein einheitliches Stilkonzept, sondern führt lediglich die theoretische, historische und empirische Pluralität und Heterogenität von Stil im Fernsehen vor. Auch JEREMY BUTLER, der jüngst eine Monographie zum Fernsehstil vorgelegt hat und diesen auf der wahrnehmbaren Oberfläche („perceptual surface“) des Fernsehens ansiedelt,34 demonstriert eher die Multifunktionalität von Stil, als ein eigenes Stil-Konzept zu entwickeln. Persuasive Funktionen untersucht er ausschließlich am Beispiel von Fernseh-Werbespots;35 ansonsten sind seine Überlegungen stark an der Filmforschung orientiert und auf fiktionale Fernsehsendungen wie beispielsweise preisgekrönte Serien ausgerichtet. Demgegenüber erscheint die Televisualität Caldwells zwar historisch begrenzt, aber dennoch klar umrissen, konzeptuell fundiert und zudem rhetorisch perspektiviert, so dass sie als strategische, den semantischen Gehalt eines Textes gezielt verdeckende, dafür aber die Wiedererkennbarkeit, Attraktivität und ästhetische Qualität einer Fernsehsendung hervorhebende Stilisierung in das zu entwickelnde Theoriegebäude der Fernsehrhetorik aufgenommen werden kann. Literatur Adelmann, Ralf / Stauff, Markus (2006): Ästhetiken der Re-Visualisierung. Zur Selbststilisierung des Fernsehens. In: Oliver Fahle / Lorenz Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens. München, 55–76. Adolph, Jörg / Scherer, Christina (1997): Begriffe und Funktionen. Programmpräsentation und Fernseh-Design an den Nahtstellen des Programms im deutschen Fernsehen. In: Knut Hickethier / Joan K. Bleicher (Hrsg.): Trailer, Teaser, Appetizer. Zu Ästhetik und Design der Programmverbindungen im Fernsehen. Hamburg, 59–66. Bleicher, Joan K. (2010a): Medien-Stil = Medienästhetik? Die Bedeutung des Stils für die Medienforschung. In: Dies. / Barbara Link / Vladislav Tinchev: Fernsehstil. Geschichte und Konzepte. Berlin, 13–48. Bleicher, Joan K. (2010b): Entwurf einer Stilgeschichte des deutschen Fernsehens. In: Dies. / Barbara Link / Vladislav Tinchev: Fernsehstil. Geschichte und Konzepte. Berlin, 49–78. Butler, Jeremy (2010): Television Style. New York.

33 Vgl. Bleicher (2010a, 30f.). 34 Butler (2010, 3). 35 Vgl. Butler (2010, 109–137). In diesem Kontext greift er auch auf Caldwells Televisualität zurück.

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WIEDERHOLUNG Als Wiederholung (engl. ‚rerun‘) wird eine erneute Ausstrahlung einer zuvor schon gezeigten Sendung im Fernsehprogramm verstanden. Wiederholungen gab es zu Beginn des Fernsehens noch nicht, da das ursprüngliche Fernsehen immer live gesendet wurde und den Programmmachern unklar war, ob Zuschauer eine zweite Ausstrahlung akzeptierten.1 Heute sind sie ein alltäglicher Bestandteil des Fernsehens. Wiederholungen von Fernsehsendungen haben Auswirkungen auf die Temporal- und → Programmstruktur des Fernsehens. Die Wiederholung ist insofern ein fernsehspezifisches Performanzphänomen, als sie die diesem Medium zugeschriebene Linearität und Programmsukzession voraussetzt und zugleich gegen sie arbeitet. Während die Serialität sich mit immer neuen, anderen Sendungsfolgen dem Fortschreiten der Linearität des Mediums unterwirft, konstituiert die Wiederholung den Einbruch des Zyklischen. Sie wird damit erstens zu einem Element der Anti-Linearität, in der Rückkehr zu schon einmal gesendeten Texten zweitens zum Element der Anti-Flüchtigkeit und durch den notwendigen Einsatz von Aufzeichnungen drittens zum Element der Anti-Liveness (→ Flüchtigkeit, → Liveness). Die Wiederholung bricht also eine Reihe von Adressatenerwartungen. Zugleich konstituiert das Re-Präsentieren von Fernsehtexten – metaphorisch gesprochen – ein Wieder-Erinnern des Mediums durch einen Griff ins Archiv. Durch die Teilnahme der Adressaten an diesen Akten der Erinnerung bekommt die Wiederholung unter Umständen auch den Charakter einer kulturellen Rückbesinnung. Damit kann das Medium zu einer sozialen Memorialeinrichtung werden. Rhetorisch betrachtet liegt der Reiz der Wiederholung zum einen in ihrer Anti-Flüchtigkeit: Erfolgreiche Texte bzw. Sendungen können allen, die sie verpasst oder auch nur zu spät eingeschaltet haben, für eine erneute Rezeption zeitnah zur Verfügung gestellt werden. Auch nach einer längeren Zeit lassen sich erfolgreiche Einzelsendungen, Spielfilme oder Serien wieder ins aktuelle Programm integrieren. Auf diese Weise kann ein Sender mit wenig Aufwand und ein wenig Glück den vergangenen Erfolg (bzw. die vergangenen → Quoten) reproduzieren. Zum anderen liegt ein großes Potential in der kulturellen Rückbesinnung: Ein Sender kann über regelmäßige Wiederholungen erfolgreicher Sendungen oder gar von ‚Kultsendungen‘ (beispielsweise Tagesschau vor 20 Jahren, Tatort oder Beat-Club) die kommunikative Gemeinschaft seiner Zuschauer stärken und die Bindung an den Sender vergrößern.

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Vgl. Weispfenning (2003, 166).

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In der Forschung wird die Wiederholung in unterschiedlichem Licht gesehen. Während LORENZ ENGELL und ANDREW HOSKINS bei ihren Überlegungen das Augenmerk auf die Programm- und Temporalstrukturen des Fernsehens richten, konzentriert sich JOHN WEISPFENNING mit seinen soziologischen Überlegungen auf die kulturelle Funktion von Wiederholungen. PHIL WILLIAMS sowie HARTMUT WINKLER interessieren sich vor allem für Wiederholungen als Warenprodukt des Fernsehmarktes. In Verbindung mit HEIKE KLIPPEL sieht Winkler die Wiederholung als ein konstitutives Element der Fernsehmedialität an, worauf ROLF PARR in einem grundlegenden Beitrag zur Wiederholung aufmerksam macht. Winkler sieht in Wiederholungen im Fernsehen die Fortführung der seriellen Warenproduktion. Dabei unterscheidet er die „mechanische Serialität“2 der Wiederholung, die eine perfekte Reproduktion darstellt, von der sich variabel an die Wiederholung annähernden Fernsehserie (→ Serialität). Winkler macht in der Wiederholung eine „konstitutive Spannung“3 aus, die deshalb bedrohlich auf den Zuschauer wirkt, weil sie einen Einbruch des Zyklischen und Mechanischen in einen prinzipiell linearen Programmablauf darstellt. Die Rettung vor dieser Bedrohung stellt für Winkler die Serie dar, die zwar Elemente des Zyklischen beinhaltet, grundsätzlich jedoch dem linearen Programmablauf folgt. Gegen Winkler lässt sich jedoch mit Williams der große Zuschauererfolg von Wiederholungen anführen. Am Beispiel des amerikanischen Fernsehmarktes zeigt er die Verwertungsstrukturen von Wiederholungen vor allem serieller Formate. Die großen Sendeanstalten lizenzierten ihre kostspieligen Produktionen an lokale Sender, die diese wiederum als Wiederholungen zeigen.4 Dadurch entstehe ein Konkurrenzkampf unter den lokalen Sendern, von dem die großen Anstalten profitierten. „It is this competitive force that has defined the rerun’s role in television over the last three decades.“5 Dieser Konkurrenzkampf funktioniert nach Williams nur deshalb so gut, weil die Wiederholungen auch tatsächlich vom Zuschauer gesehen werden: „In assessing rating success, industry insiders saw re-runs as proof of the public’s love affair with television.“6

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Winkler (1994, 45). Winkler (1994, 42). Auch im deutschen Fernsehen haben sich vor allem private Sender auf Wiederholungen spezialisiert. Bemerkenswert ist dabei das Entstehen von Spartensendern, die sich ganz oder teilweise auf Wiederholungen von Fernsehserien oder Talkshows spezialisieren, etwa Tele 5. Williams (1994, 169). Williams (1994, 164).

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Auf der strukturellen Ebene sind für Engell vor allem ältere Wiederholungen mit dem Makel behaftet, dass ihnen ein visuelles Markierungsprinzip eignet. Es besteht aus den „Elementen des Stils und der Mode, aus dem – sichtbaren – Alter der Darsteller usw.“.7 Die stilistische → Televisualität der jeweils aktuellen Sendung enthalte erkennbare Merkmale ihrer → Aktualität, die der Wiederholung fehle und sie somit als Verweis auf Vergangenes markiere.8 Hoskins schätzt die → Zeit-Bild-Struktur im Fall der Wiederholung anders ein. Er behauptet in Opposition zu Engells Befund, dass selbst Wiederholungen oftmals zukunftsbezogen verwendet würden, da das Fernsehen generell nicht mehr die Zeit besäße, in einem bestimmten Moment zu verweilen, ohne sofort in die nächste Sequenz überzugehen. So wiesen selbst Wiederholungen in ihren Temporalstrukturen in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit.9 Weispfenning sieht die Bedeutung von Wiederholungen in ihrer Wirkung auf den Zuschauer. Für ihn sind Wiederholungen die Grundlage für den Aufbau und das Weitertragen kulturellen Erbes von Generationen.10 Das Fernsehen ist dabei das perfekte Medium, weil es der unendlichen Wiederholung zugänglich ist.11 Weispfenning geht aufbauend auf soziologische Untersuchungen davon aus, dass Wiederholungen dazu beitragen, Generationen sowohl zu konstruieren als auch ihre jeweiligen kulturellen Spezifikationen zu verbreiten. Wiederholungen besitzen kulturelle Relevanz, weil sie auf der einen Seite die Zeit einer bestimmten Generation aufbewahren und auf der anderen Seite Bedeutung aus der Generation ihrer Erstausstrahlung in neue Generationen transzendieren. Weispfenning teilt diese soziale Funktion in drei Teilbereiche auf, erstens „cross-generational“, „cross-cultural“ sowie „cross-spatial informing“, zweitens „social continuity“ und drittens „collective memory“.12 Ersteres meint, dass Zuschauer mittels Wiederholungen kulturspezifische Informationen über Generations-, Kultur- und Ländergrenzen hinweg erhalten können. Zweitens spricht Weispfenning mit der sozialen Kontinuität die kulturelle Beständigkeit an, die Wiederholungen den Menschen in einer sich stets neu erfinden wollenden (Fernseh-)Welt bieten können. Er schließt drittens damit, dass Wiederholungen den jeweiligen Fernsehgenerationen Pools an geteilten Seherfahrungen liefern, die sie als kollektive Erinnerungen speichern.

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Engell (1989, 204). Vgl. Engell (1989, 204). Vgl. Hoskins (2001, 215). Vgl. Weispfenning (2003, 168). Vgl. Weispfenning (2003, 169). Weispfenning (2003, 171).

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Klippel und Winkler verstehen unter ‚Wiederholung‘ zwar auch die Mehrfachausstrahlung einer Sendung, interessieren sich jedoch stärker für Strukturelemente der Wiederholung wie etwa Paratexte (d.h. Trailer, Teaser und Sendersignets) und wiederkehrende Stilmittel und Kulissen in bestimmten → Formaten. Die Wiederholung bildet somit zusammen mit ihrem Gegenpol, der Veränderung bzw. auch der Aktualität ein wichtiges Signum des Fernsehens – zum einen geht es um die Vermittlung der „Behaglichkeit des Vertrauten“, zum anderen um das ständige Versprechen des Neuen.13 Parr fasst ihre Position wie folgt zusammen: „Das Fernsehen als Medium […] definiert sich also förmlich durch die Wiederholung des bloß Ähnlichen, nicht aber des Identischen und löst damit den dieses Einzelmedium konstituierenden Widerspruch zwischen zugleich gemachtem Ereignis- und diesem entgegenstehenden Vertrautheitsversprechen (das eigentlich ein Wiederholungsversprechen ist) auf.“14 Für Fernsehoratoren ist es somit wichtig, neben der ständigen Verheißung des Neuen, Ereignishaften und Außergewöhnlichen (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme) auch wiederkehrende Elemente zu schaffen, die den Zuschauern als Muster und Regularien vertraut werden und somit auch die Bindung an einen bestimmten Kanal, ein bestimmtes Format oder auch an das Medium als Ganzes verstärkt. Gleichzeitig können durch gezielte Rückgriffe generationell bestimmbare Zielgruppen angesprochen werden. Fernsehsender prägen somit auch das kulturelle wie kollektive Gedächtnis, was durchaus auch zu sozialen Bindungseffekten in der Gegenwart führen kann. Literatur Engell, Lorenz (1989): Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens. Frankfurt a.M. Hoskins, Andrew (2001): Mediating Time. The Temporal Mix of Television. In: Time & Society 10/2–3, 213–233. Klippel, Heike / Winkler, Hartmut (1994): „Gesund ist, was sich wiederholt“. Zur Rolle der Redundanz im Fernsehen. In: Knut Hickethier (Hrsg.): Aspekte der Fernsehanalyse. Methoden und Modelle. Münster, Hamburg, 121–136. Parr, Rolf (2004): ‚Wiederholen‘. Ein Strukturelement von Film, Fernsehen und neuen Medien im Fokus der Medientheorien. In: kultuRRevolution. Zeitschrift für Angewandte Diskurstheorie 47/1, 33–39.

13 Klippel/Winkler (1994, 123–125). 14 Parr (2004, 36).

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Weispfenning, John (2003): Cultural Functions of Reruns. Time, Memory, and Televisions. In: Journal of Communications 53/1, 165–176. Williams, Phil (1994): Feeding Off the Past. The Evolution of the Television Rerun. In: Journal of Popular Film and Television 21/4, 162–175. Winkler, Hartmut (1994): Technische Reproduktion und Serialität. In: Günter Giesenfeld (Hrsg.): Endlose Geschichten. Serialität in den Medien. Ein Sammelband. Hildesheim u.a., 38–45.

2. Textuelle Dimension

Der zweite Teil dieses Buchs fasst alle Dimensionen zusammen, die das direkte Zusammenspiel von Medium und Fernsehtext betreffen, also die fernsehspezifische Manifestation von ‚Zusatzkommunikaten‘ und ‚Konnotationen‘ in der Textur der Fernsehsendungen selbst. Wie bereits erwähnt, geht es dabei um einen erweiterten Textbegriff – im Fernsehen werden also semiotische, hochinformationelle und bei den Adressaten entsprechend gut anschlussfähige Produkte angeboten. Der Terminus ‚Text‘ markiert die Differenz zwischen dem Medium als performierender sozialdistributiver Tragfläche und dem, was da ‚getragen‘ bzw. performiert (gespeichert und gesendet) sowie vorab erst einmal mit Hilfe derselben Einrichtung (Fernsehen) produziert wird, nämlich Text. Mit Hilfe dieser theoretischen Isolierung der Kategorie Text lässt sich die semiotische Komponente des kommunikativen Instrumentariums von der performativen (aufführenden) begrifflich sinnvoll trennen. Alle Begriffe und Konzepte, die sich auf die dezidierte Manifestation fernsehrhetorischer Phänomene auf der Textebene beziehen, werden in diesem Teil angeführt. Das kann sich auf die Tatsache beziehen, dass sich jede Textur im Fernsehen als einem bestimmten → Format zugehörig erweisen muss, aber auch auf im Fernsehen wiederkehrende textuelle Verarbeitungs- und Inszenierungsmuster, etwa → Dramatisierung oder → Personalisierung. Nicht zuletzt erhält in diesem Teil immer wieder die Frage nach der Fiktionalität oder Faktizität der Fernsehtexturen Relevanz – also die Frage, wie im Fernsehen ‚Realität‘ konstruiert und Realitätsstatus zugewiesen wird. Manche Einzelartikel bringen diese Fragen mit der rhetorischen Unterscheidung JOACHIM KNAPES von ‚Standard‘- und ‚Lizenz- und Sonderkommunikation‘ in Verbindung (Modern Rhetoric, 15) Diese beiden Begriffe sind als Verständigungsbegriffe anzusehen, die auf Luhmanns Konzept der kommunikativen Erwartung zurückverweisen und idealtypisch zwei unterschiedliche Kommunikationsfälle voneinander unterscheiden. Einige Formate im Fernsehen sind jedoch gerade darauf angelegt, genau diese Unterscheidung für den Zuschauer unlösbar

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zu gestalten (z.B. Scripted-Reality-Formate). Dies macht manche Formate aus rhetorischer Sicht zu einem besonders reizvollen Untersuchungsgegenstand, weil die Frage, ob sie auf eine klare Adressierung des Zuschauers in seiner Lebenswelt abzielen, oder ob es um das Vorführen eines fiktiven ästhetischen Spiels geht, durchaus offen bleiben kann.

D RAMATISIERUNG Dramatisierung wird in vielen fernsehwissenschaftlichen Arbeiten als ein wichtiges Spezifikum des Fernsehens beschrieben, allerdings in höchst unterschiedlichen Zusammenhängen. Über den Schlagwortcharakter hinaus findet sich nur in wenigen medien- und fernsehwissenschaftlichen Publikationen eine explizite Auseinandersetzung mit Begriff und Sache. Hinter der Dramatisierungsphrase steht häufig der medienkritische Vorwurf, dass das Fernsehen Authentizitätsansprüchen nicht gerecht werde und die Realität auf Kosten der Aufmerksamkeitserregung des Zuschauers inszeniere, fiktional überforme und Irrelevantes hochspiele. Zudem wird Dramatisierung häufig im gleichen Atemzug mit den Vertextungsstrategien → Personalisierung und → Emotionalisierung genannt.1 Oft geht es hierbei um Fernsehformate, die dem von uns sogenannten standardkommunikativen Status unterliegen, doch auch bei fiktionalen Gattungen werden Dramatisierungsphänomene diskutiert. Die aus rhetorischer Sicht anschlussfähigen Forschungen bewerten die Dramatisierung neutral und reichen von literaturwissenschaftlich inspirierten Anwendungen der antiken Dramentheorie bis hin zu soziologischen Ansätzen, die das Fernsehen als besonderen Exponenten einer zunehmenden Alltagsdramatisierung begreifen (→ Alltäglichkeit). In der Rhetorik kann die Dramatisierung als eine spezifische Inszenierungsstrategie betrachtet werden, welche die Zuschauer auf eine besondere Weise aktiviert und emotional involviert. Die textuellen Techniken der Dramatisierung weisen Anleihen ans antike Drama auf, sind aber genauso aus den spezifischen Eigenschaften des Mediums heraus abgeleitet. So kann Dramatisierung zu einem Gegenwärtigkeitseffekt führen und die Bindung an bestimmte Figuren, Themen, Schauplätze oder Sender deutlich erhöhen. Dramatisierung kann sich sowohl auf audiovisuelle Kurzformate wie den Werbespot oder einen Nachrichten-Clip wie auch auf Spielfilme oder serielle Formate wie Daily Soaps und ‚Qualitätsserien‘ beziehen. Auch wenn die Dramatisierung sicherlich nicht der einzige Darstel-

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Vgl. etwa Muckenhaupt (1998, 118), Bosshart (1991, 3) oder auch Klöppel (2008, 59).

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lungsmodus des Fernsehens ist, so scheint er doch ein häufiger, universeller und effektiver Modus zu sein, der die Zuschauer besonders gut anzusprechen vermag. In den Worten PIERRE BOURDIEUS lassen sich die immer wiederkehrenden allgemeinen Überlegungen zur Dramatisierung im Fernsehen treffend zusammenfassen. In Bezug auf Nachrichtenformate ist in seinem ersten Fernsehvortrag Das Fernsehstudio und seine Kulissen aus dem Jahr 1996 zu lesen: „Das Auswahlprinzip ist die Suche nach dem Sensationellen, dem Spektakulären. Das Fernsehen verlangt die Dramatisierung, und zwar im doppelten Sinn: Es setzt ein Ereignis in Bilder um, und es übertreibt seine Bedeutung, seinen Stellenwert, seinen dramatischen, tragischen Charakter.“2 Dramatisierung bedeutet für Bourdieu also einerseits Inszenierung und andererseits Übertreibung von Wirklichkeit, die von Journalisten aufgrund der Eigengesetzlichkeiten des Mediums, insbesondere des Visualisierungszwangs vorgenommen wird. Ähnlich sieht dies auch HANS JÜRGEN WULFF am Beispiel der Darstellung medizinethischer Themen im Fernsehen: „Im Gegensatz zur Philosophie kann das Fernsehen abstrakte Ideen nicht diskursiv darstellen – es ist darauf angewiesen, Ideen zu visualisieren und vor allem zu dramatisieren. So ist es zu erklären, dass nicht nur Sendungen, sondern auch Fernsehdokumentationen im Vermittlungsprozeß dramaturgische und inszenatorische Mittel des Dramas verwenden, die ihren Ursprung im antiken Theater oder zumindest in den Gebrauchsdramaturgien der letzten beiden Jahrhunderte haben.“3 Es entsteht der Eindruck: Wo man auch hinschaut im Fernsehen, alles unterliegt einer „Überzeichnungs- und Vergröberungstendenz“,4 und was sich nicht in dieser Weise übertreiben, als affektbeladenes Krisen- oder Konflikterlebnis inszenieren lässt, wird auch nicht gezeigt (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme). Mit diesem Aspekt der ‚Dramatisierung‘ lässt sich in Anlehnung an MANFRED MUCKENHAUPT auch die ‚Boulevardisierung‘ in Verbindung bringen.5 Der Hang des Fernsehens zum ‚Dramatischen‘ wird in seiner Frühphase begründet, als in den Fernsehstudios noch zahlreiche Theaterstücke aufgeführt und live übertragen wurden. Fiktionale Bühnendramen wurden direkt fürs Fernsehen adaptiert, außerdem wurde live aus Theatern ohne bewegliche Kamera übertragen. Der britische Literaturwissenschaftler und Drehbuchautor DAVID SELF ur-

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Bourdieu (1998, 25). Wulff (2001, 5). Wulff (2001, 6). Vgl. Muckenhaupt (1998).

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teilt über diese Übertragungen und ersten Fernsehspiele, dass sie im negativen Sinne ‚theatralisch‘ gewesen seien, denn sie hätten dem Setting des Theaters entsprochen, ohne dass eine Anpassung an die strukturellen Bedingungen des Mediums Fernsehen stattgefunden habe. So habe es beispielsweise keine Szenenoder Ortswechsel und keine close-ups gegeben. Im Theater gebe es außerdem keine schnellen Cuts und es stehe das Wort im Mittelpunkt, während das wichtigste Charakteristikum des Fernsehens dagegen die Visualität sei.6 Fernsehspezifisch wurden diese fiktionalen ‚Fernsehspiele‘7 erst dann, als sie das Studio verließen und filmische Elemente stärker integrierten.8 Als eine Art Zwischenstadium für diese Zeit kann man in den Worten des Drehbuchautors OLIVER STORZ sagen: „Alles, was ein Fernsehspiel vom Theater unterscheidet, hat es vom Film.“9 Am Beispiel des ‚Fernsehspiels‘ wurden also die jeweiligen medialen Strukturbedingungen von Kino, Bühne und Fernsehen besonders deutlich durchdekliniert. Als fernsehspezifisch wird der „Authentizitätscharakter des Bildschirms“ und die „technisch bedingte Tendenz des Fernsehens zur Intimität“ empfunden, was nach Storz zu einer „Schlüssellochperspektive des All-DayLife“ führt, die sich auf „einfache Handlungsstrukturen und kunstvoll natürlich gehaltenen Alltagsdialog“ beschränke. Storz distanziert sich aber sogleich von dieser Art „Wohnküchendramaturgie“ und plädiert dafür, das Potential des Fernsehspiels im Brecht’schen Lehrstück zu suchen.10 Auch Self sieht den wesentlichen Unterschied zwischen dem Fernsehspiel und dem klassischen Bühnendrama in der Intimität.11 Und noch im Jahr 1984 wird der Bildschirm als klein und die Totale als schwierig empfunden – diese Beschränkungen werden erst mit technischen Verbesserungen und ästhetisch gewachsenen Ansprüchen bei den Qualitätsserien überwunden.

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Vgl. Self (1984, 9f.). Unter den englischen Begriff ‚television drama‘ fallen alle rein fiktionalen Fernsehprogramme. Die deutsche Übersetzung ‚Fernsehspiel‘ ist deutlich enger und bezieht sich auf Spielfilme, die für das Fernsehen produziert wurden. Diejenigen Charakteristika, die Self für das englische ‚television drama‘ herausarbeitet, lassen sich auf alle fiktionalen Fernsehgattungen wie Serien oder Soap Operas, und nicht nur auf Fernsehspielfilme, übertragen. 8 Vgl. Beling (1979, 9). 9 Storz (1979, 68). 10 Storz (1979, 72f.). Auf das Brecht’sche Lehrstück bezieht sich ebenfalls Martin Esslin (1982b, 269). 11 Vgl. Self (1984, 10): „Television is certainly happier with the intimate than with the epic.“

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MARTIN ESSLIN bestimmt das Fernsehen in den 1980er Jahren als wesentlich dramatisches Medium und beginnt damit eine tiefere Auseinandersetzung mit der Dramatisierung.12 Den Werbespot hält er unter Rückgriff auf die aristotelische Poetik für eine besonders dramatische Form, weil dieser in einer äußerst komprimierten Form auf zentrale Figuren und die Simulation von Handlung (mimesis) setze. Das Potential der Dramatisierung besteht nach Esslin darin, dass über die dramatische Form in wenigen Sekunden mehr Informationen auf unterschiedlichsten Ebenen transportiert und vom Zuschauer aufgenommen werden können als bei jeder anderen Kunstform. Der Antrieb ist, wie er mit großer Geste schreibt, die condition humaine: „[Drama] literally incarnates the abstract message by bringing it to life in a human personality and a human situation. Thus it activates powerful subconscious drives and the deep animal magnetisms which dominate the lives of men and women who are always interested in and attracted by other human beings, their looks, their charm, their mystery.“13 Das Drama bietet demnach einen Kommunikationsmodus an, der den menschlichen Charakter besonders effektiv vor Augen stellen kann und damit insbesondere der Personalisierung dient.14 Esslin ist ganz Kind seiner Zeit, wenn er in diesem Zusammenhang die Intimität betont, die das Fernsehen über die Nahaufnahme herzustellen vermag und die die Zuschauer daher auch zum Voyeurismus verleite.15 An Esslins Ausführungen ist zweierlei abzulesen: erstens, dass sich im Fernsehen häufig dramatische Formen wie etwa Werbespots oder Serien finden (Textebene); zweitens aber auch, dass das Fernsehen selbst über eine dramatische Qualität verfügt (Medienebene): „The frame of the television screen turns everything that happens on it into a stage“.16 Dieses umfassende Dramatisierungskonzept greift die Fernsehforschung weiter auf. Bevor dies erläutert wird, sei jedoch auf eine andere Leitlinie verwiesen, die in Esslins Ansatz steckt: den Rückgriff auf ARISTOTELES und die Dramatisierung am Beispiel der Serie. Zur Erinnerung: Das Drama ist vom griechischen

12 Vgl. Esslin (1982a, 6f.): „It is, in fact, my contention that the language of television is none other than that of drama; that television – as indeed the cinema, with which it has much in common – is, in its essence, a dramatic medium; and that looking at TV from the point of view and with the analytical tools of dramatic criticism and theory might contribute to a better understanding of its nature and many aspects of its psychological, social, and cultural impact“. 13 Esslin (1982b, 264). 14 Vgl. Esslin (1982a, 27 und 29). 15 Vgl. Esslin (1982a, 30). Später werden die Spezifika der film- und fernsehtypischen Dramatisierung neutraler beschrieben, vgl. Esslin (1989, 107f.). 16 Esslin (1982a, 27).

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Wort für Handeln (dran) abgeleitet. Aristoteles führt den Begriff in seiner Poetik ein. Bereits hier ist der Dramenbegriff zweideutig angelegt, da er auf der einen Seite den reinen sprachlichen Text als Drama begreift, auf der anderen Seite ebenfalls die Performanz des Textes umfasst – diese Zweiteilung findet sich auch in der Diskussion um die Dramatisierung wieder, auch wenn sie nicht immer als solche thematisiert wird. Die maßgebliche Unterkategorie des Dramas, die Tragödie, definiert Aristoteles wie folgt: „Die Tragödie ist Nachahmung (mimesis) einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer (eleos) und Schaudern (phobos) hervorruft und hierdurch eine Reinigung (katharsis) von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“17 ARI HILTUNEN, leitender Angestellter einer finnischen Fernsehanstalt, hat diese Prinzipien in seinem Buch Aristoteles in Hollywood neu interpretiert und für die Praxis operationalisiert.18 Besonderen Wert legt er auf die emotionale Erfahrung des Zuschauers, die von Aristoteles als das charakteristische Vergnügen der Tragödie bezeichnet worden ist.19 Als dramatisches Spezifikum der Fernsehserie sieht er u.a. die Tatsache, dass die katharsis nicht am Ende einer jeden Szene kommen darf: „Ist man […] Programmacher, will man genau dies verhindern. Man möchte eine solche Reaktion hinauszögern, die Zuschauer möglichst lange im Zustand unverdienten Leids festhalten und sie erst auf dem Höhepunkt der Folge von der Spannung befreien.“20 Am besten, diese Spannung werde durch das Entwickeln immer neuer Konflikte „wochen-, monate-, ja jahrelang“ aufrechterhalten.21 Den Zuschauern kann das charakteristische dramatische Vergnügen etwa auch dadurch bereitet werden, dass ihnen ein Rätsel aufgeben wird, die Motive der Gegenspieler offenbart werden oder sie sich mit den Gefühlen der

17 Aristoteles: Poetik, Kap. 6, 1449b24–28. 18 Aus rhetorischer Sicht ist hierzu anzumerken, dass sich die aristotelische Dramentheorie zunächst nur bedingt auf das Fernsehen übertragen lässt, denn Aristoteles unterscheidet streng zwischen der fingierten mimesis und dem berichtenden Erzählen. Streng genommen ließe sich der Dramenbegriff somit nur auf fiktionale Fernsehprogramme wie etwa Spielfilme oder Serien übertragen, die situationsentbunden, entpragmatisiert und somit von einem rhetorischen Setting zu unterscheiden sind, vgl. Knape (2010, 23). 19 Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 23, 1559b20; vgl. Hiltunen (2001, 17 und zur Operationalisierung bes. 33–50). 20 Hiltunen (2001, 177). 21 Hiltunen (2001, 179).

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Protagonisten identifizieren können.22 In jedem Fall soll in den Zuschauern der Drang evoziert werden, in das Geschehen eingreifen zu wollen. Auf diese Weise wirkt die Dramatisierung involvierend und aktivierend.23 Insgesamt aber wiederhole sich die dramatische Struktur in jeder Folge so konsequent, dass eine hohe Erwartbarkeit und Voraussehbarkeit für den Zuschauer entstehe (→ Format).24 EGGO MÜLLER widmet sich der Dramatisierung am Beispiel der Qualitätsserie in einem Kapitel seiner Monographie Not only Entertainment. Konventionellen Fernsehserien liege oft ein konfliktbasiertes Strickmuster zugrunde, das sich in einem festen Figurenensemble entfalte.25 Die wesentlich komplexeren Qualitätsserien lösen Konflikte jedoch nicht einfach auf: „Dramaturgisch entscheidend und für diese Serien typisch ist, dass die dargestellten Situationen die einzelne Figur immerzu zu pragmatischen Entscheidungen zwingen, wobei aber die soziale und moralische Problematik, vor deren Hintergrund eine Entscheidung getroffen wird, bestehen bleibt und umso deutlicher hervortritt. Die Lösung eines momentanen Konflikts stellt im Fortgang des individuellen Lebens nie zugleich auch die Lösung des grundsätzlichen Problems dar“.26 Diese Unlösbarkeit politisch-gesellschaftlicher oder moralischer Konflikte wird durch die Multiperspektivität und die komplex ineinander verschränkten Erzählstränge noch verstärkt.27 Dramatisierung lässt sich indes nicht nur auf die fiktionalen Gattungen beschränken. Ganz im Gegenteil: Die der Faktualität verpflichteten Fernsehformate leben wesentlich von Entlehnungen aus der Theaterkunst. UDO GÖTTLICH vertritt ähnlich wie Esslin die These, dass sich das Fernsehen als Bildmedium in besonderer Weise dazu eigne, „die Lebenswelt zu absorbieren und mit ihren Inszenierungsmustern und Dramatisierungsformen zu prägen“.28 Göttlich bezieht sich auf die Rollensoziologie ERVING GOFFMANS,29 insbesondere aber auf den stärker medienwissenschaftlich ausgerichteten, kulturkritischen Ansatz der „Alltagsdramatisierung“ von RAYMOND WILLIAMS.30 Letzterer stellte in seiner Antrittsvorlesung Drama in einer dramatisierten Gesellschaft von 1974 fest, dass Dramen nicht mehr nur im Theater inszeniert würden, sondern durch Film und Fernsehen im Alltag für die Mehrheit der Bevölkerung nahezu omnipräsent gewor-

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Vgl. Hiltunen (2001, 180–184). Vgl. Hiltunen (2001, 42). Vgl. Hiltunen (2001, 179f.). Vgl. Müller (1992, 151). Müller (1992, 158). Zu dieser Art ‚Zopfdramaturgie‘ vgl. auch Geißendörfer (1990). Göttlich (1998, 257). Vgl. Goffman (1959). Vgl. Göttlich (1999, 50 und 54).

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den seien.31 In dieser dramatisierten Gesellschaft werde das Drama zu einer „habitualisierten Erfahrung“, in der es von der Bühne geholt und in die Öffentlichkeit gerückt werde, wie Williams etwa am Beispiel der Parlamentseröffnung im britischen Fernsehen erläutert.32 Letztlich bleibt aber auch Williams die Antwort schuldig, was denn eigentlich nun das Fernsehspezifische an dieser Alltagsdramatisierung sei. Göttlich stellt sich dieser Frage und kommt zu einer für die Medienrhetorik interessanten Antwort, denn für ihn konstituiert der → Flow eine „spezifisch transitorische Theatralität“ des Mediums Fernsehen: „Im Falle des ‚flow‘ handelt es sich um eine Form transitorischer Theatralität, die selbst das Theater auf diese Weise nicht herstellen kann und die gleichermaßen auf die Ebenen der Produktion, der Rezeption als auch auf den Zeichenzusammenhang des Programms bezogen ist.“33 Damit fasst Göttlich also Strukturmerkmale wie Flow und → Flüchtigkeit unter dem Terminus der ‚Theatralität‘, die im vorliegenden Band unter den Terminus der ‚Performanz‘ fallen. Ein ganz ähnlicher Gedankengang ist schon bei GERHARD ECKERT zu finden, wie einem Hinweis JOAN K. BLEICHERS zu entnehmen ist: „Jedes gute Fernsehprogramm ist soviel wie ein Drama, das heißt also Handlung.“34 Auch Bleicher denkt vor diesem Hintergrund über eine Art Programm-Dramaturgie nach, bei der sich Senderimage und Programmprofil eng verknüpfen. Diese arbeitet etwa mit Verrätselungen, der Inszenierung von Erlebniswelten oder offenen Handlungsstrukturen oder verwendet die klassischen Strategien der → Programmstruktur.35 Geht es mit Göttlich zurück auf die Ebene der konkreten Fernsehtexte – in seinem Fall fiktionale Daily Soaps –, verlässt er den allgemeinen Kontext des Theatralischen und differenziert in Anlehnung an den Theatersoziologen URI RAPP zwischen verschiedenen kommunikativen „Grundhaltungen“, um der Dramatisierung auf die Spur zu kommen: der dramatischen, der epischen und der rhetorischen. Die dramatische Grundhaltung zeichnet sich nach Rapp insbesondere durch Vielperspektivität aus, d.h. mit den dargebotenen Rollen wechseln und konkurrieren die Perspektiven, „als ob es keinen Autor gäbe […], und als ob es kein Publikum gäbe“. Bei der epischen Grundhaltung hingegen vermittele, kurz gesagt, ein Erzähler eine ganz bestimmte Perspektive; und bei der rhetorischen herrsche „eine Grundeinstellung der Ansprache, sogar des Einredens, an

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Vgl. Williams (1998, 238). Vgl. Williams (1998, 238–240 und 246). Göttlich (1999, 53). Eckert (1953, 92), vgl. Bleicher (1998, 57). Vgl. Bleicher (1998, 58–67).

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ein Publikum“.36 Im Theater kommen nach Rapp sowohl die dramatische als auch die rhetorische Grundhaltung zum Tragen, was sich aus medienrhetorischer Sicht sehr gut auf das Fernsehen übertragen lässt, wo in vielen Sendungen eben diese Kombination aus Performanzmodi anzutreffen ist. Aufgrund der alltäglichen und banalen Inhalte, die im fiktionalen wie faktualen Fernsehen dramatisiert dargestellt würden, so wiederum Göttlich, gingen mit dem Trend zur Dramatisierung auch die Darstellungsmittel ‚Personalisierung‘, ‚Intimisierung‘ und ‚Emotionalisierung‘ Hand in Hand (→ Reality TV). Alles ziele insgesamt auf die Zuschauerbindung ab.37 Dass zur Dramatisierung und Aufmerksamkeitserregung „Spannung, Affekte und unerwartete Ereignisse und Wendungen“ gehören, erwähnt Göttlich ebenfalls, führt dies jedoch nicht auf Aristoteles zurück. Stattdessen betont er, dass sich die genannten Dramatisierungselemente nicht nur auf spezifische Gattungen wie Soaps oder RealityFormate beschränken ließen, sondern ebenfalls zum Bestandteil von Nachrichten und Informationssendungen avanciert seien,38 denen womöglich das klassische Figureninventar und die dramaturgische Form fehlen. In diesem Fall kann Dramatisierung auch als eine Form der Inszenierung begriffen werden. „Inszenieren bedeutet“, so RÜDIGER ONTRUP und CHRISTIAN SCHICHA, „ein kalkuliertes Auswählen, Organisieren und Strukturieren von Darstellungsmitteln, das in besonderer Weise strategisch auf Publikumswirkung berechnet ist.“39 Damit betonen sie, dass dem aufgeführten Text das inszenatorische Kalkül eines handelnden Akteurs zugrunde liegt, was aus rhetorischer Sicht äußerst anschlussfähig ist. Dieser Inszenierungsbegriff ist dabei keineswegs negativ besetzt, sondern wird wertfrei verwendet. Im Gegensatz zur traditionellen „Fernsehschelte“ interessieren sich Ontrup und Schicha auch nicht für die versteckten Effekte von Inszenierungen, sondern konstatieren: „Das Erkennen und Bewerten der Inszenierung als Inszenierung ist in der heutigen Medienkultur in zunehmenden Maße zum Deutungsmuster geworden.“40 Daraus lässt sich schließen, dass Dramatisierungsstrategien möglicherweise dann besonders effektiv sind, wenn sie mit herkömmlichen Dramatisierungsmustern brechen oder diese Muster selbst mitreflektieren. Das könnte etwa ein nur ironisches Hochspielen banaler Inhalte sein, das den Dramatisierungswahn des Fernsehens ausstellt, also

36 Rapp (1973, 71f.), vgl. Göttlich (1999, 55). 37 Vgl. auch Göttlich/Nieland (1998, 41–43), die den Dramatisierungsansatz v.a. mit von ihnen sogenannten „Kult-Marketing-Strategien“ in Verbindung bringen. 38 Vgl. Göttlich (1999, 57). 39 Ontrup/Schicha (1999, 7). 40 Ontrup/Schicha (1999, 11).

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innerhalb der Dramatisierungsstruktur mit ebendieser spielt und sie somit geschickt überwindet. Dramatisierung wird damit im Fernsehen zur gattungsübergreifenden Generalmethode. Dennoch ist das Dramatische, wie schon bei Rapp angedeutet, nicht der einzige Verarbeitungs- und Präsentationsweg des Fernsehens. Dramatisierungsdebatten konzentrieren sich auch auf Fernsehsendungen, die an sich einem anderen Modus verpflichtet sind, von der ‚Dramatisierungswelle‘ jedoch auch erfasst werden (→ Infotainment). Die Diskussion um das Verhältnis von Dramatisierung als inszenatorischem Stilmittel auf der einen und realitätsgetreuer Wiedergabe im Fernsehen auf der anderen Seite wird in Bezug auf Informations- und Nachrichtensendungen,41 aber insbesondere auch in Bezug auf Gattungen diskutiert, die weder eindeutig fiktional noch nicht-fiktional bzw. dokumentarisch sind. Darunter fallen mit standardkommunikativem Anspruch auftretende Dokudramen, Reality TV oder auch Spielfilme, die auf historischen Geschehnissen basieren. Im Mittelpunkt der Diskussion steht dabei die These, dass durch das Stilmittel der Dramatisierung die Grenze zwischen Fiktion und Faktum gefährlich verschwimmt. Das Problem, so ANDREAS WITTWEN, sei, dass die „wirkliche Wirklichkeit“ selten den dramaturgischen Gesetzen einer Fernsehsendung gehorche, sondern der Dramatisierung bedürfe. Der Handlungsknoten müsse geschürzt werden, während Nacherzählung und bildliche Nachstellung das Dokument ersetzen würden.42 Dies spielt insbesondere beim Thema ‚Geschichte im Fernsehen‘ eine wichtige Rolle. Der WDR-Redakteur und Dramaturg MICHAEL ANDRÉ zeigt in einem Essay zu Archetypen des Grauens anhand der Gattung des Geschichtsfilms auf, dass Emotionalität und Spannung die zentralen Elemente sind, um reale Geschichte fernsehtauglich zu machen. Er geht zwar nicht weiter auf den Dramatisierungsbegriff ein, thematisiert jedoch den Authentizitäts-Inszenierungs-Konflikt am Beispiel der Informationsvermittlung durch spannungserzeugende Inszenierung historischer Themen in Spielfilmen und Serien: So wurde laut André in der US-Serie Holocaust 1979 Geschichte zum ersten Mal massenwirksam im Fernsehen nicht nur dargestellt, sondern emotional inszeniert. Die Serie „appellierte offen und unverhohlen an die Gefühle der Zuschauer und brachte mit die-

41 Vgl. Ontrup/Schicha (1999). In Bezug auf Informations- und Nachrichtensendungen ist meistens von Inszenierung (z.B. Politikinszenierung), nicht von Dramatisierung die Rede. Schwerpunkt dieser Diskussion ist primär die generelle Möglichkeit, Realität im Fernsehen abzubilden, bzw. die Frage, ob demokratische Meinungsbildung adäquat durch Fernsehinformation stattfinden könne. 42 Vgl. Wittwen (1995, 20).

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sen relativ einfachen Mitteln mehr zuwege, als unzählige wohlmeinende wissenschaftliche Arbeiten, Symposien, öffentliches Gedenken es bis dahin vermocht hatten.“43 Die Dramatisierung wird von ihm also äußerst positiv bewertet, auch wenn er gleichzeitig sieht, dass viele der spannenden Stoffe, die die Geschichte noch biete, immer im Rahmen des äußerst publikumswirksamen Melodramas blieben.44 Sein Schlussplädoyer erinnert stark an die oben erwähnte komplexe Dramatisierungsstruktur der Qualitätsserie: „Entscheidend für die Qualität oder Dummheit des Historienfilms ist, wie geschickt er die Regeln des Genres bricht, um im nächsten Moment das Genre – oder meinethalben auch das Klischee – wieder zu bedienen. Sein Wert entscheidet sich daran, wie viel Dialektik der Handlung diese Filme sich gestatten, wie viel Ambivalenz sie ihren Personen zugestehen und wie viel verstörende Erkenntnisse sie auslösen.“45 Dramatisierung stellt sich insgesamt als ein fernsehtypisches, in vielen Formaten kaum zu umgehendes Vertextungsmuster bei handlungsdarstellenden Gattungen (fiktional oder faktual) dar, das vorrangig auf die Aufmerksamkeit und die emotionale Involvierung der Zuschauer abzielt. Das Format soll durch Hervorhebung bestimmter, spannungserzeugender Aspekte die Zuschauer letztlich an das Format, das Programm bzw. das Medium selbst binden. Offensichtlich kann man die Dramatisierung im Fernsehen auf ältere Konzepte aus der Poetik (besonders auf die aristotelische Bestimmung des Dramas) beziehen, aber auch auf Gebrauchsdramaturgien des Kinos und schließlich auf die Eigendynamiken des Fernsehens selbst, etwa seine Flüchtigkeit, den Flow, die → Liveness und die Intimität. Das Verbalsubstantiv ‚Dramatisierung‘ wird oft in einem Atemzug mit ähnlichen Vertextungsverfahren wie Personalisierung oder Emotionalisierung genannt. Verwandt ist damit auch die Diskussion um die Frage der Inszenierung, die häufig als Gegensatz zum Authentizitäts- und Informationsanspruch des Fernsehens wahrgenommen wird. Die kritische Forschung versteht Inszenierung und Dramatisierung als verzerrende oder gar verfälschende Phänomene – wogegen in neutraleren Arbeiten davon ausgegangen wird, dass Inszenierung und Dramatisierung im Fernsehen unumgängliche und obendrein noch typische Darstellungsmuster sind, die den Erwartungen der Fernsehzuschauer entsprechen und – in einem weiteren soziologischen Sinne – sich aus den alltäglichen soziokulturellen Konventionen speisen. Die Situationalität des Dramatischen ist für Williams deshalb ein Fernsehspezifikum, weil „its capacity to enter a situation

43 Vgl. André (2009, 44). 44 Vgl. André (2009, 45), zum Melodrama siehe auch Landy (1991). 45 André (2009, 56).

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and show what is actually happening in it“46 dadurch einzigartig umgesetzt werden kann. Mit HENRY JAMES (The Art of Fiction, 1884) können wir hier vom Vorrang des dramatischen Showing vor dem Telling sprechen. Auf diese Weise kommt es zu einer Entsprechung von Alltags- und Fernsehdramatisierung, welche die Zuschauer umso mehr dazu bringt, sich mit den Handlungen zu identifizieren, die über die Texte zur Aufführung gebracht werden. Literatur André, Michael (2009): Archetypen des Grauens. Über Sentimentalisierung und Dramatisierung von Geschichte im Fernsehen. In: Claudia Cippitelli / Axel Schwanebeck (Hrsg.): Fernsehen macht Geschichte. Vergangenheit als TVEreignis. Baden-Baden, 43–56. Aristoteles: Poetik. Griech./dt. Übers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982. Beling, Claus (1979): Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Theorie des Fernsehspiels. Heidelberg, 7–14. Bleicher, Joan Kristin (1999): Fernsehen als Mythos. Poetik eines narrativen Erkenntnissystems. Opladen. Bosshart, Louis (1991): Infotainment im Spannungsfeld von Information und Unterhaltung. In: Medienwissenschaft Schweiz, H. 2, 1–4. Bourdieu, Pierre (1998): Das Fernsehstudio und seine Kulissen [1996]. In: Ders.: Über das Fernsehen. Aus dem Franz. von Achim Russer. Frankfurt a.M., 15– 53. Eckert, Gerhard (1953): Die Kunst des Fernsehens. Umrisse einer Dramaturgie. Emsdetten. Esslin, Martin (1982a): The Age of Television. New York. Esslin, Martin (1982b): Aristotle and the Advertisers: The Television Commercial considered as a Form of Drama. In: Horace Newcomb (Hrsg.): Television. The Critical View. 3. Aufl. New York, Oxford, 260–275. Esslin, Martin (1989): Die Zeichen des Dramas. Theater, Film, Fernsehen. Reinbek b.H. Geißendörfer, Hans W. (1990): Wie Kunstfiguren zum Leben erwachen – Zur Dramaturgie der „Lindenstraße“. In: Rundfunk und Fernsehen 38, 48–66. Goffman, Erving (1959): The Presentation of Self in Everyday Life. New York.

46 Williams (2005, 70).

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F ORMAT Formate sind als formale und inhaltliche Anforderungsprofile für die fernsehmediale Textproduktion zu verstehen und stellen für den rhetorisch orientierten Fernsehorator wichtige Potentiale bzw. Widerstände bei der Vertextung dar, die er von vornherein strategisch bewerten und einkalkulieren muss. Sie sind Ergebnis von Entscheidungsprozessen handlungsmächtiger Instanzen der Fernsehproduktion (dazu gehören Entscheidungsträger von Medienkonzernen, Produktionsfirmen, Aufnahmestudios oder auch TV-Redaktionen) und reglementieren den Vertextungsprozess. Man kann sagen: Ein Format ist für die Fernsehmacher ein produktionsstrategisches Modell. Einzelne Sendeeinheiten (entspricht dem allgemeinsprachlich gebräuchlicheren Begriff ‚Sendung‘), z.B. die erste Mottoshow einer Staffel des Formats Deutschland sucht den Superstar, sind konkrete Realisationsformen dieses abstrakten, von Strategien bestimmten Regelkomplexes.1 Neben dramaturgisch-strategischen Aspekten sind hierbei etwa auch die Besetzung format-typischer Figuren (bis hin zu Stereotypen) oder die ausführenden Protagonisten (z.B. Jury-Mitglieder, Moderator, Backstage-Reporter usw. → Persona) maßgeblich, ebenso die Themen-Agenda, die Form der → Serialität bis hin zu ausstrahlungstechnischen Bedingungen wie der Dauer einer Sendung sowie sämtlichen aufnahmetechnischen Spezifika (Kameraeinstellungen, Perspektiven, Zeitraffer/Zeitlupen usw.) und Vorgaben für die Postproduktion (Schnitte, Blenden, Voice-Over usw.). Formate sind ein zentrales Spezifikum des Fernsehens, lassen sich aber auch in anderen Medien identifizieren. An der Schnittstelle zwischen Text, Sendeein-

1

Zum Begriff ‚Strategie‘ siehe Knape/Becker/Böhme (2009).

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heit und Programm nehmen Formate sowohl bei der Produktion (Oratorseite) als auch bei der Rezeption (Adressatenseite) Einfluss: Auf Produktionsseite betrifft dies den bereits erwähnten Regelkomplex, der die Ausgestaltung einzelner Sendeeinheiten leitet. Für Oratoren außerhalb des eigentlichen Produktionsprozesses (z.B. Musikvideo-Produzenten, die mit einzelnen Musikvideos eine Art ‚Textbaustein‘ für Musik-Clip-Formate liefern) stellt ein Format die theoretisch durch die Aufnahme einzelner Texturen in eine Sendeeinheit möglichen Strategieoptionen bereit. Die Handlungsspielräume bei der Text-Integration in eine Sendeeinheit sind etwa dadurch limitiert, dass die → Programmstruktur zeitliche Grenzen setzt. Die textuellen Einschränkungen betreffen außerdem die televisuelle Oberfläche und Tiefenstruktur.2 Oberflächenformatierungen bestimmen dabei die entsprechende Tektonik einer Sendeeinheit auf dem Empfangsgerät (TV-Gerät, PC-Bildschirm, Handy-Display usw.). Sie umfassen beispielsweise technische Aspekte (Auflösung, Maße der Bildschirmdiagonale), die Anordnung unterschiedlicher Elemente auf dem Bildschirm in festgelegten Bildschirmarealen oder Einfärbungsmodi (beispielsweise monochrom oder sepia vs. vollfarbig). Beispiele für tiefenstrukturale Formatierungselemente sind neben zeitlichen inneren Abläufen u.a. bestimmte Handlungsvorgaben und -spielräume für Protagonisten, man denke etwa an die Anforderung einer (Live-)Performance von Star-Musikern in Showformaten. Potentiale und Widerstände entstehen für den Orator sowohl bei der Einbindung bereits fertiger Texte (bzw. deren Fragmente) in Sendeeinheiten wie auch bei der situativen, auf Ebene der TV-Protagonisten im Face-to-Face-Modus ablaufenden Studioproduktion, die bisweilen auch in Echtzeit stattfindet (→ Liveness). Auf Inhaltsebene stellen sich dem Orator Fragen bezüglich formatspezifischer Agenda-Setting-Vorgaben. Wird das Format aus rhetoriktheoretischer Perspektive auf der oratorischen Strategieebene angesiedelt, ist rhetorische Formatanalyse mithin Grundvoraussetzung für den persuasiv erfolgreichen strategischen Einsatz von Fernsehen als Kommunikationsmittel. Demgegenüber prägen Formate auf Adressatenseite Erwartungshorizonte, die mit bestimmten Formaten oder Formattypen verknüpft sind und bei der Rezeption jeder einzelnen Sendeeinheit abgerufen werden bzw. in die Bewertung mit einfließen können. Formatproblematik und Formatbegriff erweisen sich innerhalb der Medienforschung als vergleichsweise wenig systematisiert und werden im Rahmen von Studien über konkrete Fernsehphänomene häufig einzelfallbezogen aus unter-

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Veranschaulichende Fallbeispiele für formatspezifische Oberflächen- und Tiefenstrukturphänomene finden sich bei Schermaul (2012).

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schiedlichsten Forschungsperspektiven erörtert. Unzählige verschiedenartige Ansätze lassen deshalb das Theoriekonstrukt ‚Format‘ zu einem diffus-heterogenen Komplex werden. Innerhalb vieler Forschungsansätze, die aus produktionsorientierter Sicht den Anspruch haben, die Seite der TV-Produktion, der ‚Fernsehmacher‘ also, zu durchleuchten, erscheint der Formatbegriff als inflationär verwendete Bezeichnung für insbesondere neuartige Sendeeinheiten,3 was FRITZ WOLF bestätigt. Er stellt zudem fest, dass es manchmal so scheine, „als sei Format das, was ein Formate-Erfinder gerade so nennt.“4 Fernsehsender und Medienproduktionsfirmen sprechen von neuen Formaten, meinen damit die aktuell oder in näherer Zukunft im Programm vorzufindenden Neukreationen und fördern dadurch indirekt die Ablösung des allgemeinen Begriffs der ‚Sendung‘ als „ein inhaltlich zusammenhängender, in sich geschlossener, zeitlich begrenzter Teil eines Rundfunkprogramms“5 durch den Begriff ‚Format‘ als neuen Allgemeinterminus in Fernseh-Programm-Diskursen. In der wissenschaftlichen Forschung zu Formaten erscheinen zwei Blickrichtungen als dominant: zum einen die Auffassung von Format als einem international adaptierbaren Erfolgsmodell, welches bevorzugt in serieller Produktion6 in möglichst vielen Ländern übernommen bzw. lokal angepasst werden kann (marktökonomische Perspektive).7 Und zum anderen die Betrachtung von Format als Konzept einer Sendeeinheit oder Serie, welches charakteristische Merkmale enthält, die es u.a. dadurch erfolgreich werden lassen, dass es „unveränderliche Bestandteile beinhaltet, die die Zugehörigkeit einzelner Ausgaben zum Gesamtkonzept deutlich machen“8 (qualitativ-inhaltliche Perspektive). DOMINIK KOCH-GOMBERT plädiert dafür, ‚Format‘ von den älteren Begriffen ‚Konzept‘ oder ‚Idee‘ zu trennen, „da zum Format neben der Konzeption auch Elemente wie das Erscheinungsbild, Abläufe, Logos, Titelmusik und die Vermarktung“

3

4 5 6

7 8

Hallenberger (2004/2005, 160) sieht diese terminologisch ausgerichtete Verwendung des Begriffs ‚Format‘ als eine von zwei Hauptvarianten an. Fernsehformate sind demnach u.a. als „allgemeine Bezeichnung für bereits in Sendeform vorliegende serielle Fernsehproduktionen“ anzusehen. Wolf (2003, 87). Stadler (2008, 17). Die Serialität als Charakteristikum für den Begriff des Formats hat besonders Eva Stadler (2008) methodisch stark gemacht, die ihr Korpus an Fernseh-Formaten ausschließlich nach diesem Kriterium methodisch zusammengestellt hat. Zur Perspektive auf Formate als marktökonomisch-distributionstheoretische Größen im internationalen Formatehandel vgl. Hallenberger (2004/2005). Stadler (2008, 17).

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gehörten.9 Er bietet eine mehrere Aspekte umfassende Basisdefinition an: „Allgemein werden TV-Formate als serielle Produktionen beschrieben, die bereits in Sendungsform vorliegen. Längst wird in der Praxis der Terminus auch als Synonym für das Erscheinungsbild der Sendung selbst eingesetzt. [...] Darüber hinaus handelt es sich beim Format auch um die unveränderlichen Bestandteile solcher serieller Produktionen. Dies beinhaltet alles, was die Zugehörigkeit einzelner Ausgaben zu einer Gesamtproduktion deutlich macht. Das Format steht somit für eine gemeinsame Struktur, auf die jede einzelne Episode einer Serie oder Show aufbaut. Diese Grundstruktur muss für eine Übertragung geeignet sein, damit man die Idee über den Formatehandel weltweit vertreiben kann.“10 Aus rhetorischer Perspektive bringt eine Trennung von strategischem Konzept und Format keinen Mehrwert. Vielmehr beinhalten Formate als Regelkomplexe automatisch direktive Konzepte, wenn man die Beteiligung unterschiedlicher Oratoren am fernsehmedialen Produktionsprozess annimmt. Auch in weiter zurückliegenden fernsehwissenschaftlichen Arbeiten zum Formatfernsehen findet sich keine strikte Trennung von Konzept und Format. So definiert beispielsweise MIRIAM MECKEL Fernsehformat als „ein in seinem Inhalt, seiner Binnenstruktur und seiner Präsentation auf ein klar definiertes Zuschauersegment und einen in die Sendestruktur eingebetteten Programmplatz abgestimmtes mehrteiliges Sendekonzept.“11 Der rhetoriktheoretische Ansatz von Format geht allerdings über die rein konzeptionelle Betrachtung hinaus, indem er die Perspektive auf Formate um die konkret mit der Konzeption als Teil des Formats zusammenhängenden Konsequenzen (Potentiale und Widerstände) für persuasiv eingestellte Oratoren erweitert. Hierbei wird das rhetorische Angemessenheitspostulat (aptum) gegenüber dem Adressaten bzw. dem Publikum aufgerufen. Es findet sich in der Formatforschung – bei JOAN K. BLEICHER – ebenfalls unter dem Aspekt der zielgruppenspezifischen Ausrichtung. Sie skizziert die genuin rhetorische Perspektive der Zielgruppenausrichtung von Formaten, wenn sie feststellt, dass sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre das Erscheinungsbild traditioneller Programmsparten durch Mischformen verändert habe und ein Formatbegriff entstanden sei, „der sich nicht wie der Genrebegriff auf primär inhaltliche Charakteristiken bezieht, sondern charakteristische Strukturelemente einer Sendung erfasst, die auf größtmöglichen Erfolg bei der jeweiligen Zielgruppe ausgerichtet sind.“12 Damit wird

9 10 11 12

Koch-Gombert (2005, 28). Koch-Gombert (2005, 28). Meckel (1997, 477f.). Bleicher (1997, 21).

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die persuasive Zielsetzung (kommunikativer Erfolg) herausgestellt. Mit der Fokussierung auf „charakteristische Strukturelemente“ rückt zudem die strukturtheoretische Auffassung in den Vordergrund, welche die spezifische Konfiguration eines Formats mit allen funktional wichtigen Strukturzusammenhängen in den Blick nimmt. Die rhetorische Perspektive differenziert hier zwischen unterschiedlichen Ebenen: So sind die inneren Abläufe (z.B. die Dramaturgie) eines Formats Teil seiner Tiefenstruktur, während sich das äußere Erscheinungsbild in eine visuelle und auditive Oberfläche unterteilen lässt (→ Televisualität, → Fernsehton). Visuelle Oberflächenphänomene sind etwa Farbgebungen und Sendersignets, auditive etwa die Titelmusik oder eine Audiosignatur. Neuere Arbeiten zum Formatfernsehen wie die von Koch-Gombert greifen auf den Begriff der Gattung und auf konkrete traditionelle Basis-Gattungen wie Quiz-/Game-Shows, (Daily) Soap Operas, (Daily) Talk-Shows, Reality (Doku) Soaps sowie die neuere Gattung der Court-Shows als Analyse- und Vergleichsgrundlage zurück. Oder sie versuchen, das Gesamtprogramm betreffende Erkenntnisse durch Analysen des Programmschemas zu gewinnen.13 Indem Gattungsmerkmale sich als Formatspezifika ausprägen können, erhalten sie aus rhetoriktheoretischer Sicht vor allem in Hinblick auf die strategisch erzielbaren Effekte der Erst- und Wiedererkennung sowie der Adressatenbindung und Erwartungserfüllung Relevanz. Bereits ALBERT MORAN betrachtet den Aspekt der zielgruppenspezifischen Erwartungshaltung und wählt den seriellen, unveränderlichen Charakter von Formaten als konstitutiv für seine Definition, bei gleichzeitiger inhaltlich-thematischer Variabilität zwischen den einzelnen Sendeeinheiten (Episoden). Die basalen, der Wiedererkennung dienenden Strukturmerkmale in Verbindung mit wechselnden, der Spannungserhaltung dienenden Elementen stellen für Moran den Charakter eines erfolgreichen Formats dar. Er definiert Format als „that set of invariable elements in a program out of which the variable elements of an individual episode are produced“ sowie als Organisationsprinzip, als „a means of organizing individual episodes“.14 Die Stärke eines Formats liegt demnach in einer für den Zuschauer interessanten Kombination aus altbewährten und auch erwarteten beziehungsweise erwartbaren, stabilen Grundelementen mit variablen, abwechslungsreichen Individualelementen für jede einzelne Sendeeinheit oder Episode. Zu den Grundbestandteilen zählt Moran, basierend auf einem Produktionshandbuch der BBC, u.a. den Moderator, die

13 Vgl. Koch-Gombert (2005) oder auch die Arbeit von Eick (2007). 14 Moran (1998, 13).

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Gäste, die Regeln der Sendeeinheit sowie die Zusammensetzung des Produktionsteams.15 RALF RADLER sieht Sendeplanung durch TV-Produzenten und die Logistik des Produktionsablaufs als zentral für erfolgreiche Sendungs- und Programmplanung und somit auch für die Formatentwicklung an. Dazu gehören neben Aspekten der Produktionskalkulation auch formale Strukturaspekte wie beispielsweise standardisierte Formatlängen, Programmschienen oder konkret festgelegte Time-Slots. Dies führt laut Radler gar bis hin zu einer „hochgradig spezifizierten Ablaufdramaturgie und -regie“, wodurch die Sendeeinheiten eines Formats „sofort zum Punkt kommen und ihn [den Zuschauer] durch eine ausgefeilte Dramaturgie und straffe Strukturierung bis zum Ende nicht mehr loslassen“.16 STEFAN HOLZPORZ betrachtet Formate aus einem juristischen Blickwinkel und weist auf den enormen Konkurrenzkampf zwischen internationalen Fernsehproduktionsfirmen hin. Dadurch intensiviere sich die Notwendigkeit der leichten Wiedererkennbarkeit sowie der Herstellung eines unverwechselbaren Profils einer jeweiligen Show als Voraussetzung für die Zuschauerbindung. Es kommt zu einer Verknüpfung des Strukturbegriffs mit dem Formatbegriff. Die „Prägung“ einer Fernsehshow werde demnach durch „das Zusammenspiel verschiedener feststehender Gestaltungselemente erreicht“, die einen spezifischen „Stil der jeweiligen Sendung“ generieren und ihr eine „bestimmte Struktur“ verleihen würden.17 Die Gattung Fernsehshow verfügt nach Holzporz über die Strukturelemente Showidee, Bühnenaufbau, bestimmte Moderationstechniken, Vorspann, Jingle, Sendeablauf, Logo und Titel. Diese versteht er als „Kraftfelder, die in ihrem Zusammenwirken der Show einen stabilen Strukturrahmen verleihen“, und kommt zu der Auffassung, dass die „Gesamtheit der verwendeten Gestaltungselemente [...] im juristischen Sprachgebrauch allgemein als ‚Format‘ bezeichnet“ werde.18 Konträr zu Koch-Gombert und Hallenberger koppelt Holzporz also die Aspekte des ‚Konzepts‘ beziehungsweise der ‚Idee‘ mit dem der ‚Struktur‘. Zu Recht stellt er kritisch fest, dass die Bezeichnung ‚Format‘ „in der Fernsehpraxis nicht auf ein die Sendung beschreibendes Skript, sondern vielmehr als Synonym für das Erscheinungsbild der Sendung selbst“ verwendet würde.19 Auch könne er einer vereinfachten Definition von Format als „Gesamtheit der Erscheinungs-

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Vgl. Moran (1998, 14). Radler (1995, 35). Holzporz (2002, 11). Holzporz (2002, 11). Holzporz (2002, 12).

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form einer Show, so wie sie vom Zuschauer aufgenommen wird“, nicht folgen.20 Aus rhetorischer Sicht lässt sich dieser Aussage zustimmen. Die Komplexität der in Format-Konstrukten enthaltenen Parameter, Strukturen, Fernsehtechniken, thematischen Cluster und tiefenstrukturalen Abläufe, die produktionsseitig präzise geplant und – so die rhetorikperspektivische Annahme – strategisch konzipiert sind, kann nicht mit dem subjektiv wahrgenommenen Rezeptionseindruck auf TV-Konsumentenseite gleichgesetzt werden. Was auf Rezipientenseite ‚ankommt‘, können hochkomplexe Produktionskonstrukte wie TV-Formate nur in begrenztem Umfang antizipieren. Zu groß dürften bei entsprechender empirischer Prüfung die Unterschiede zwischen der Komplexität der Format-Konzeption und -Produktion und der in vielen Fällen abstrahierend-vereinfachenden Wahrnehmung von Format-Sendeeinheiten auf Konsumentenseite ausfallen. Eine solche Hypothese wäre durch empirische Fernseh-Rezeptionsforschung zu überprüfen. Ein prominentes Thema verhandeln die bislang zu TV-Formaten vorliegenden Forschungsansätze mit dem Phänomen der Hybridisierung,21 die man dort als „Kombination verschiedener medialer Organisationsformen, Produktionstechniken, Produkte[n] und Genres“ einstuft.22 LOTHAR MIKOS nennt als Beispiel für Hybridformate Reality-Shows, welche sich „im Fundus der Fernsehgeschichte bedienen und dies mit neuen Elementen verbinden“ (→ Reality TV).23 Insgesamt scheint jedoch eine trennscharfe Typisierung fernsehmedialer Sendungen zunehmend schwierig. Für fernsehtheoretische Analysen kann der Rückgriff auf fernsehmediale Basisgattungen einen Orientierungspunkt bieten. Unter dem Schlagwort ‚Hybridisierung‘ wird dabei bisweilen der Versuch unternommen, die Begriffe ‚Gattung‘ und ‚Genre‘ zum Ausgangspunkt einer systematisierenden Differenzierung zu machen, was zu immer neuen Typologisierungen führt. So unterscheidet VOLKER GEHRAU in seiner umfassenden Auseinandersetzung mit Formaten zwischen der Gattung als „Form oder Technik der Darstellung“ und dem Genre als „eher etwas mit dem Dargestellten, also mit dem Inhalt“ Verknüpften.24 Unter Fernsehgattungen versteht Gehrau daraus resultierend diejenigen Begriffe, „die Fernsehangebote nach ihrer Form systematisieren und be-

20 Holzporz (2002, 13). 21 Zimmermann (2001, 7) erläutert zum Begriff ‚Hybridisierung‘ dessen Herleitung aus der Biologie als „soziale, kulturelle und mediale Kreuzungen, Verbindungen und Vernetzungen“. 22 Zimmermann (2001, 7). 23 Mikos (2000, 19). 24 Gehrau (2001, 18).

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zeichnen“, und nennt Filme, Serien, Magazine, Shows, Nachrichten und Übertragungen als Beispiele. Ein Problem im Zusammenhang mit Gattungseinstufungen bei Fernsehanalysen stellen die zunehmende Heterogenität und fehlende Trennschärfe dar. Vor dem Hintergrund der Debatte um Hybridisierung erscheinen Typologisierungsunternehmungen als wenig ertragreich. Dieser Vermutung pflichtet MICHAEL HALLER in Bezug auf die journalistische Gattung der Reportage bei. Ihm zufolge seien Definitionen nutzlos, die ein für allemal festlegen wollten, was eine Reportage ist. Vielmehr komme es stattdessen darauf an, „zu sagen, was die Reportage mit dem Thema, mit den Ereignissen und Sachverhalten anstellt, was und wie sie Informationen und Erlebnisse gestaltet, wie sie Geschehnisse an wen vermittelt, kurz: wie sie funktional einzuschätzen ist.“25 Innerhalb des rhetorischen Formatzugriffs stellen Gattungsspezifika deshalb auch nur eine der zentralen Komponenten der in formatanalytischen Verfahren zu identifizierenden Potentiale und Widerstände dar. Ausgehend von den teilweise stark gattungsspezifisch geprägten Sehgewohnheiten des Fernsehpublikums gehören ebensolche Ausrichtungen zum Anforderungsprofil für Sendeeinheiten eines Formats. Fritz Wolf sieht in diesem Zusammenhang gar eine Ablösung traditioneller Gattungsbezeichnungen, indem er feststellt, dass Genres „eben als Leitbegriffe abgelöst und vom Über-Leitbegriff des Formats ersetzt worden [sind]. Unter dem Dach der Formate werden [...] nun verschiedene Genres neu gemischt und quasi zu neuen Genres zusammengesetzt.“26 Neuere Typologisierungsansätze innerhalb der FernsehFormatforschung richten sich vielleicht auch deshalb verstärkt nach strukturellen und produktionstechnischen, weniger nach inhaltlich-konzeptionellen Differenzkriterien aus. So integriert beispielsweise CHRISTIAN ZABEL eine systematisierende Perspektive auf Produktionsabläufe in seine produktionstypologische Klassifikation von 14 Fernsehgattungen, die allerdings dennoch altbekannte traditionelle Fernsehgattungen enthalten.27

25 Haller (1997, 69). 26 Wolf (2003, 87). 27 Zabel (2009, 54) differenziert folgende TV-Gattungen: TV-Movie, Serie/Staffel, Serie/Weekly, Daily Soap/Telenovela, Variety-Show, Reality-Show, Game-Show, Doku-Soap, Reportage, Magazin, Nachrichten, Talk-Show, Daily Talk-Show, Sportübertragung.

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I NFOTAINMENT

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I NFOTAINMENT Der Begriff Infotainment setzt sich aus den beiden Wörtern ‚Information‘ und ‚Entertainment‘ zusammen und bezieht sich auf eine bestimmte textstrukturale Qualität vieler Fernsehformate bzw. einzelner Fernsehtexte. Das gemeinte Qualitätsmerkmal ist – nach dem morphologischen Muster des Kompositums selbst – eine Verbindung oder gar Verschmelzung zweier Kommunikationsweisen (Informieren und Unterhalten), die als solche erst in einer bestimmten Phase des Fernsehens (seit etwa den 1980er Jahren) als besonders fernsehspezifisch wahrgenommen wurde. Der ursprüngliche Kristallisationspunkt der InfotainmentDebatte waren Unterhaltungssendungen, die im Gewand von klassischen Nachrichtenformaten daherkamen, bzw. Nachrichtenformate, die typische Strategien klassischer ‚Unterhaltungsformate‘ wie etwa → Personalisierung oder → Dramatisierung integrierten. Infotainment ist als Text- bzw. Formatqualität von der → Unterhaltung als adressatenorientierter Strategie zwar abzugrenzen, hängt aber dennoch eng mit dieser und mit anderen Mitteln der → Emotionalisierung zusammen. Auch wenn das Phänomen Infotainment im Journalismus nicht grundsätzlich neu ist, scheint das Fernsehen über spezifische Eigenschaften zu verfügen, die Infotainment als Produktionsstrategie besonders erfolgreich machen. Inzwischen wird Infotainment als genreübergreifendes Vertextungs- und Programmkonzept verstanden. Aus rhetorischer Sicht ist die dem Infotainment zugrundeliegende Annahme, dass die Adressaten das kommunikative Angebot erst einmal als interessant und anregend akzeptieren müssen, von zentraler Bedeutung. Nach dem Motto „aufnahmebereite Seelen lernen schnell“1 wird davon ausgegangen, dass sich eine ‚vermischte‘ Darbietungsweise am besten dazu eignet, eine Botschaft zu transportieren und für deren Akzeptanz zu werben. Fernsehtexte verlangen somit gewissermaßen nach ‚hybriden‘ Vertextungskalkülen, die viel Raum für strategische Formatüberlegungen und zielgruppenspezifische Gewichtungen lassen. Leitend ist bei alledem die Kategorie der Aufmerksamkeit, die sich durch den ästhe-

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Bosshart (1991, 1).

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tischen Appeal des Fernsehtextes stimulieren lässt und sinnliches sowie emotionales Interesse hervorzurufen vermag. Angenehme Erlebnisse versprechen heißt: Aufmerksamkeit wecken. Die Ästhetisierungen auf der Textoberfläche und bestimmte spielerische Komponenten auf tiefenstrukturaler Ebene erzeugen Wohlgestimmtheit beim Rezipienten. Er fühlt sich auf eine anregende Weise sowohl unterhalten als auch informiert und ist dadurch weiter empfangs- und aufnahmebereit. Je nach Formatausrichtung und textuellem Kalkül wird er dabei eher aktiviert und herausgefordert oder eher angenehm ‚berieselt‘. Allerdings belässt es die Forschung (ANDREAS WITTWEN dezidiert ausgenommen) oft bei einer stichwortartigen Aufzählung von generellen Infotainment-Strategien – hier müsste eine auf die Vertextung ausgerichtete Fernsehrhetorik eigentlich ansetzen und Infotainment-induzierende textuelle Darstellungs- und Gestaltungsmuster untersuchen, wohl wissend, dass deren Konventionen stetigen Veränderungen unterworfen sind. Aus rhetorischer Perspektive greift die immer wieder aufkommende Kritik am Infotainment zu kurz. Die Kritiker kommen meist von einer Ästhetisierungsund Poetisierungsskepsis her, die zwei grundlegende Ansätze nicht durchschaut oder vermischt: Fiktionalität und Diktionaliät.2 Die Diktionsästhetik hat schon von alters her durchaus wahrhaftige Texte (H. PAUL GRICE, Logic and Conversation, zweite Maxime) mit Überformungsstrategien attraktiv gemacht. Ist das schon Fiktionalisierung? Nein. Fernsehtexte attraktiv, ästhetisch anziehend und affizierend (lustvoll) zu machen, heißt längst nicht, sie fiktional zu machen. Diesen Punkt greifen insbesondere diejenigen Ansätze heraus, die diese Dichotomie aufbrechen und sagen, dass das Gegenteil von Unterhaltung nicht Information, sondern Langeweile ist. ‚Infotainment‘ ist ein wichtiger Begriff der Fernsehforschung, oft wird jedoch kritisiert, dass die einzelnen Bestandteile des Kompositums, ‚Information‘ und ‚Unterhaltung‘, nicht befriedigend definiert worden seien und der Begriff daher als „zwar eingängige, aber inhaltsleere Worthülse“ erscheinen könne3 oder sich gar „aufgrund seiner Offenheit und Unschärfe zusehends als untauglich“ erweise.4 Verständlicher wird die Diskussion aus dem historischen Kontext heraus. Kristallisationspunkt ist der fernsehhistorische Übergang vom Paläo- zum Neofernsehen in den 1980er Jahren,5 in dessen Zuge ‚Infotainment‘ als neues Fern-

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Genette (2001). Wittwen (1995, 16). Tenscher/Neumann-Braun (2005, 108). Zu den fernsehhistorischen Begrifflichkeiten vgl. Casetti/Odin (2002 [1990]).

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sehspezifikum diskutiert wurde. Innerhalb dieses Generaldiskurses befasste sich außerdem federführend die Politikwissenschaft unter dem Schlagwort ‚Infotainment‘ speziell mit Veränderungen der Politikvermittlung im Fernsehen. Außerdem ist für das Verständnis des Kompositums von zentraler Bedeutung, dass ‚Information‘ und ‚Unterhaltung‘ wesentliche Bestandteile des im Rundfunkstaatsvertrags festgelegten Auftrags von öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sind.6 Sie sind jedoch nicht die einzigen Bestandteile (‚Bildung‘ und ‚Beratung‘ vervollständigen den Auftrag), so dass Information und Unterhaltung auch nicht zwangsläufig als Gegensätze gelten müssen. Wann und von wem der Begriff ‚Infotainment‘ eingeführt wurde, ist laut Wittwen unklar. Er vermutet jedoch, dass der Begriff bereits in den 1970er Jahren unter Medienwissenschaftlern im englischen Sprachraum diskutiert wurde. Ende der 1980er Jahre wurde Infotainment dort schließlich als Modewort inflationär verwendet. In ihm steckt das schon in der Antike diskutierte Textkonzept der Verbindung von Nützlichkeit durch Informieren und ästhetischem Affizieren (prodesse aut delectare).7 Die Entstehung des modernen Infotainment-Konzepts geht auf die sogenannten ‚Tabloids‘, also Boulevard-Formate im amerikanischen Fernsehen zurück, daher wurden Infotainment-Phänomene auch unter dem Begriff ‚Boulevardisierung‘ debattiert. In Formaten wie etwa Entertainment Tonight wurde in der gestalterischen Form etablierter Nachrichtensendungen über Klatschthemen aus Hollywood berichtet. Mit der Erfindung des → Reality TV in den USA erlebte der Infotainmentbegriff zudem einen Aufschwung. Faktizität war somit nicht mehr nur Grundlage der seriösen Nachrichtenberichterstattung, sondern wurde ebenfalls zum Bezugspunkt für Unterhaltungsformate. Zum Zeitpunkt der Infotainment-Hochkonjunktur in den USA erreichte der Begriff Ende der 1980er Jahre ebenfalls den deutschen Sprachraum.8 Ausgangspunkt der Diskussion ist also zunächst das Phänomen der Vermischung von semantischen Tiefenstrukturen und ästhetischen Oberflächen, die so bisher nicht als zusammengehörig empfunden wurden: entweder Unterhaltung im ‚Informationsgewand‘ oder Information im ‚Unterhaltungsgewand‘. Insgesamt findet eine Veränderung im Angemessenheitsempfinden statt – die durch die Etablierung von Kabel- und Privatsendern ausgelöste Experimentierfreude

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Vgl. RStV § 11, in der Fassung vom 10.03.2010, online verfügbar unter http://www.lfk.de/fileadmin/media/recht/04-2010/13.RStV-April2010.pdf, 09.03.2012. Horaz: Ars Poetica 333: „aut prodesse volunt aut delectare poeta aut simul et iucunda et idonea dicere vitae“ (Entweder nützen oder erfreuen wollen die Dichter oder zugleich, was erfreut und was nützlich fürs Leben ist, sagen). Vgl. Wittwen (1995, 18f.).

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(→ Televisualität) bringt neue Formen des Zusammenspiels von „Gehalt und Gestalt“9 mit sich, die insbesondere bei klassischen ‚Informationsformaten‘ zunächst unangebracht schienen. Das im Hintergrund stehende theoretische Problem ist die Vermischung von standardkommunikativ erwarteter Faktenbindung und sonderkommunikativem Spiel, bei dem die Grice’schen Kommunikationsmaximen, die Wahrheit und Relevanz garantieren, für viele Kritiker allzu bedenklich umspielt, ja, in Frage gestellt werden.10 Sowohl in den USA als auch in Deutschland ist die Infotainment-Debatte von Beginn an untrennbar mit dem Medium Fernsehen verknüpft, in Deutschland besonders mit der Entwicklung des dualen Systems von öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehanbietern. Hier wurde im Rahmen der Konvergenzforschung meist kritisch danach gefragt, ob sich die ‚Informationsformate‘ bzw. auch die Politikvermittlung der öffentlich-rechtlichen formal wie inhaltlich an diejenigen der privaten Fernsehsender annähern oder umgekehrt.11 Später hat sich die Begriffsverwendung weiter ausgedehnt. Wie Wittwen in einem kurzen Überblick darstellt, deckt der Begriffsgebrauch insgesamt ein weites Spektrum ab. Er unterscheidet fünf Infotainmentbegriffe, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1) unterhaltsamer Präsentationsmodus von ‚Information‘, 2) Formatbezeichnung, 3) Stigmawort im fernsehkritischen Diskurs, 4) fernsehunspezifisches Modewort und schließlich 5) Fachbegriff im E-Learning-Bereich.12 Die Diskussion in der Fernsehforschung dreht sich um die weitere Differenzierung und Bestimmung von 1): Wie lassen sich ‚Information‘ und ‚Unterhaltung‘ verstehen und worin genau besteht ihre Verschmelzung? Bei der Beantwortung dieser Frage werden auch 2) und 3) immer wieder gestreift. ‚Unterhaltung‘ und ‚Information‘ werden, wie oben bereits angesprochen, innerhalb der deutschsprachigen Infotainment-Debatte häufig als dichotom verstanden. Die Dichotomie lässt sich, so HANS-BERND BROSIUS, auf vier Ebenen festmachen. Zunächst seien bestimmte Medien besser dafür geeignet und darauf ausgerichtet, zu unterhalten und nicht zu informieren, als andere Medien (hier wäre das Fernsehen vorwiegend auf der Unterhaltungsseite zu verorten). Die zweite Ebene betrifft die journalistische und redaktionelle Arbeitsteilung innerhalb des Mediensystems: So gibt es traditionell eine Redaktion, die sich mit ‚In-

9 Bosshart (1991, 1). 10 Zur Differenz von standardkommunikativem und lizenziert-sonderkommunikativem Status siehe Knape (2013, 15). 11 Zur Konvergenz vgl. Schicha/Brosda (2002, 9f.). 12 Vgl. Wittwen (1995, 22f.).

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formationen‘ beschäftigt, und eine, die sich mit ‚Unterhaltung‘ befasst.13 Die dritte Ebene bezieht sich auf konkrete Fernsehtexte, die von den Programmverantwortlichen als ‚Unterhaltung‘ oder ‚Information‘ klassifiziert werden. Auf der vierten Ebene geht es um die Adressaten, die sich ‚unterhalten‘ oder ‚informiert‘ fühlen.14 Zwischen Angebots- und Adressatenseite bestehen Rückkopplungsprozesse. Durch das Feedback der Zuschauer (insbesondere die → Quote) bekommen die Programmverantwortlichen einen Einblick in das Unterhaltungserleben der Zuschauer, an dem sie sich bei der Produktion von Unterhaltung orientieren können. Aus dieser Sicht bilden ‚Information‘ und ‚Unterhaltung‘ Chiffren für unterschiedliche, ja, gegensätzliche Effekte ‚des Fernsehens‘. Diese dichotomische Betrachtungsweise ist zwar ausschlaggebend für die Infotainment-Diskussion, CHRISTIAN SCHICHA und CARSTEN BROSDA weisen jedoch zu Recht darauf hin, dass sie „nicht nur obsolet ist, sondern wahrscheinlich niemals faktische Relevanz besessen hat“.15 In diesem Sinne ist Infotainment mit WERNER WIRTH eher als „Kontinuum“ zu verstehen, „das auf der einen Seite ausschließlich auf Information und Informieren und auf der anderen Seite ausschließlich auf Unterhaltung gerichtet ist“.16 LOUIS BOSSHART spricht auch von einem „Spannungsfeld“.17 Information und Unterhaltung seien überhaupt keine Gegensätze, sondern in ihrer Verschmelzung eine „Normalität menschlicher Kommunikation“.18 Treffend fasst Bosshart Infotainment als rhetorische Strategie zusammen, ohne sie jedoch als solche zu benennen: „Es geht letztendlich darum, Information in angenehmer Weise zu vermitteln. Die Ingredienzen für die Dramaturgie informierender Unterhaltung und unterhaltender Information sind seit Jahrhunderten dieselben: Abwechslung, Personalisierung (soziale Kontakte sind ja die ursprüngliche Form von Unterhaltung), Emotionalisierung, dosierte Mischung von Spannung und Entspannung, Stimulation, Vermeidung von Langeweile. Beim Rezipienten geht es darum, durch Anregung, emotionale Erregung und Aktivierung die Aufmerksamkeit und Empfangsbereitschaft aufrecht zu erhalten.“19 Bosshart macht hier deutlich, dass Infotainment nicht nur ein oberflächenhafter Gestaltungsmodus (die reine ‚Verpackung‘) ist, sondern auch einer, der durch textlich-tiefenstrukturale, thematische Manöver die Informati-

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Diese Arbeitsaufteilung ist allerdings im Begriff, sich aufzulösen. Vgl. Brosius (2003, 75). Schicha/Brosda (2002, 8). Wirth (2000, 64). Bosshart (1991, 1). Bosshart (1991, 3). Bosshart (1991, 3).

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onsvermittlung für die Adressaten reizvoll macht. Auch Schicha und Brosda betonen: „Die Form der Darstellung sagt zunächst nichts über die Angemessenheit des Inhalts aus.“20 Hinter allem steht also ganz wesentlich die Aufmerksamkeitserzeugung und sinnlich-emotionale Bindung. In diesem Sinne geht es bei der Infotainment-Debatte weniger um die Verschmelzung von Widersprüchen, sondern darum, dass veränderte Wettbewerbsbedingungen und Sehgewohnheiten veränderte Strategien erfordern, etwa diejenige, dass sich die Fernsehzuschauer beim Betrachten von klassischen ‚Informationsformaten‘ auch unterhalten fühlen sollen (siehe ausführlich → Unterhaltung). Diese Strategien schlagen sich in einer je eigenen Mischung unterschiedlicher Verfahrensweisen auf formaler wie inhaltlicher Ebene in den Fernsehtexten nieder.21 Das Erfolgsrezept des Infotainments besteht nach ULRICH SAXER eben in der „attraktiven Umkombination von Bekanntem“.22 Bei dieser Umkombination werden etwa in der politischen Berichterstattung die glaubwürdigkeitsstiftenden Faktoren Seriosität und Attraktivität neu definiert,23 was auch die hohe Umstrittenheit der damals neuen Formate und Strategien erklärt. Welche spezifischen Eigenschaften das Fernsehen besitzt, um dieses Spannungsfeld zu bewältigen, zeigt eine Vielzahl an Konzepten auf, die sich mit einzelnen fernsehtypischen Performanzmodi beschäftigen. Ähnlich wie Bosshart nennen Schicha und Brosda, die eher dem Diskurs zur Politikvermittlung zuzurechnen sind, beispielsweise Personalisierung, Konfliktbetonung, Dramatisierung und Negativität (d.h. eine Präferenz für Normverstöße) als Gestaltungsmerkmale von Infotainment.24 Ähnliche Gestaltungscharakteristika finden sich auch bei CLAUDIA WEGENER, die noch die „Übernahme fiktionaler Elemente in nicht-fiktionale Sendeformen“ ergänzt.25 MORITZ KLÖPPEL, der das Phänomen 2008 noch einmal in einer Monographie beleuchtet, fasst zusammen: Emotionalisierung, Dramatisierung und Personalisierung trügen das Potential in sich, die Aufmerksamkeit des Adressaten zu wecken und Identifikationsmöglichkeiten zu bieten.26

20 Schicha/Brosda (2002, 22). 21 Vgl. auch Wirth (2000, 62f.), der analytisch zwischen inhaltlichem, formalem und kontextuellem (d.h. ernste und unterhaltende Elemente stehen nebeneinander) Infotainment unterscheidet. 22 Saxer (1991, 7). 23 Vgl. hierzu auch Schicha/Brosda (2002, 13f.). 24 Vgl. Schicha/Brosda (2002, 10). 25 Vgl. Wegener (2000, 59 sowie 50–58). 26 Vgl. Klöppel (2008, 59).

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Aus Sicht der Rhetorik stellt sich im Anschluss daran die Frage, welche typischen Infotainment-Stilelemente einerseits auf Unterhaltung, aber andererseits auch auf Glaubwürdigkeit abzielen. An jenen Stellen, an denen es die Literatur zum Thema Infotainment bei der Aufzählung von Gestaltungsmerkmalen belässt, wird es für die Fernsehrhetorik erst eigentlich interessant. Emotionalisierung, Dramatisierung und Personalisierung sind Ziele, die eigentlich alle Fernsehsender gleichermaßen verfolgen, weil Aufmerksamkeitserregung, Aktivierung, Involvierung und Bindung des Zuschauers medienrhetorische Grundoperationen darstellen. Dennoch etablieren öffentlich-rechtliche und private Sender in ihrer Selbstdarstellung feine Unterschiede, die sich zu je eigenen Definitionen von ‚Attraktivität‘, ‚Seriosität‘ und ‚Informationskompetenz‘ ausdifferenzieren lassen.27 Hier spielt die Dualität von ‚Information‘ und ‚Unterhaltung‘ als ‚Kampfbegriff‘ eine große Rolle. So zeigt sich nach ANDREAS DÖRNER, dass diese Dichotomie von den öffentlich-rechtlichen Sendern gezielt ins Feld geführt wird, um ‚Unterhaltung‘ von ‚Information‘ strategisch abzugrenzen und den Vorsprung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Bereich des Nachrichtenangebotes zu betonen – obwohl sie sich so nicht aufrechterhalten ließe.28 Der öffentlich-rechtliche Rundfunk verwendet Infotainment demnach strategisch als Stigmawort und reagiert auf die von ULRICH SAXER beschriebene Bedrohung des öffentlich-rechtlichen Selbstbildes und die damit zusammenhängende Ent-Institutionalisierung etablierter Programmstrukturen (vgl. die oben angeführte 3. Begriffsverwendung von ‚Infotainment‘).29 Eine ‚Information‘ bzw. ‚Nachricht‘ wird im Fernsehen klassischerweise über Nachrichtenwerte und Nachrichtenfaktoren definiert. Hier werden für die Fernsehnachrichten in der Regel Aktualität, Relevanz, Konsonanz, Simplizität und Visualität genannt, d.h. alles, was in diesen Begriffen gefasst werden kann, gilt als ‚Nachricht‘ und damit als ‚Information‘.30 UDO MICHAEL KRÜGER stellt zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Informationsformaten besonders deutliche Unterschiede beim Nachrichtenwert Relevanz fest. Dieser lässt sich in drei Dimensionen einteilen: 1. gesamtgesellschaftliche Relevanz (Kriege, Katastrophen, Wahlen, Gesetzesänderungen, wissenschaftliche Innovationen etc.), 2. institutionelle Relevanz (Unternehmenspleiten, Streiks, Proteste etc.), 3. individuelle Relevanz (Alltag und Schicksal einer Einzelperson, Prominente und ‚Normalos‘ und deren Herausforderungen im Umgang mit Behörden, Krankhei-

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Vgl. hierzu Ulrich (2012). Vgl. Dörner (2001, 57 und 59). Vgl. Saxer (2001, 9). Vgl. Kamps/Meckel (1998, 23–27).

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ten, Partnern etc.). Krüger betont, dass bei ARD und ZDF drei Viertel des Informationsangebotes in die erste Kategorie fielen, während knapp drei Viertel der Informationskapazitäten der Sender RTL und ProSieben durch Informationen der dritten Kategorie eingenommen würden.31 Dies wird als eine Entwicklung wahrgenommen, in der sich der „Bedeutungsverlust des Fernsehens als Medium der politischen Information und Meinungsbildung in Deutschland“ manifestiert.32 Infotainment und die damit verbundene Verlust- oder Verfallserfahrung bildet daher auch einen wichtigen Topos der Fernsehkritik. So beklagt etwa NEIL POSTMAN, dass das Fernsehen „die Unterhaltung zum natürlichen Rahmen jeglicher Darstellung von Erfahrung gemacht hat. Unser Fernsehapparat sichert uns eine ständige Verbindung zur Welt, er tut dies allerdings mit einem durch nichts zu erschütternden Lächeln auf dem Gesicht.“33 Problematisch findet er dies insbesondere in Bezug auf das Lernen: „Der wesentliche Beitrag des Fernsehens zur Bildungstheorie besteht in dem Gedanken, daß Unterricht und Unterhaltung untrennbar miteinander verbunden sind.“ Dieser Unterricht (oder eben: diese Information), der ohne jede Irritation und Erörterung stattfinde, sei jedoch nicht dauerhaft wirksam und wird von Postman daher vehement abgelehnt.34 Umgekehrt kann die ‚unterhaltende‘ Seite des Infotainment aber auch positiv gelesen werden, was etwa Dörner tut, wenn er von „Unterhaltungsöffentlichkeiten“ spricht. In diesen sei die Erreichbarkeit der Kommunikationsteilnehmer wesentlich größer als in den sozialen Schichten, denen aufgrund von Bildung und Status eine höhere Bewertung der Informationsvermittlung zugeschrieben wird. Wer also ein gesellschaftliches Thema breitenwirksam diskutieren wolle, müsse sich nur der populäreren Unterhaltungsformate bedienen.35 Daraus ließe sich schließen, dass gerade das Massenmedium Fernsehen der Information dient, weil es besonders ‚unterhaltsame‘ Eigenschaften mit sich bringt. ELISABETH KLAUS hat die Kommunikationswissenschaft bzw. Journalistik in einem programmatischen Aufsatz von 2002 dezidiert dazu aufgefordert, die Dichotomie von Information und Unterhaltung hinter sich zu lassen – wie es u.a. bei Wirth und Bosshart bereits angeklungen ist: „Der Dualismus von Information und Unterhaltung scheitert sowohl in dem Versuch, das Medienangebot zu

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Vgl. Krüger (1996, 371). Vgl. Schicha/Brosda (2002, 9). Postman (1985, 110). Postman (1985, 179 und 181). Dörner (2002, 41f.).

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klassifizieren, wie auch das Rezeptionsverhalten zu erklären.“36 Stattdessen meint sie: „Information und Unterhaltung müssen als zwei verbundene Elemente auf allen Ebenen des journalistischen Handlungszusammenhangs zusammengedacht werden, um eine folgenreiche Massenmedienkommunikation zu ermöglichen, die zugleich Verstand und Gefühl, Emotion und Intelligenz, Spiel und Ernst, Erfahrung und Abstraktion, Nähe und Distanz, Phantasie und Wirklichkeit anregt.“37 Die Infotainment-Debatte hat sicherlich nicht zum ersten Mal die Frage aufgeworfen, auf welche Art und Weise Journalismus eigentlich betrieben werden soll – aber sie hat zutage gefördert, dass das Fernsehen als Medium ebenso wie die Rezeptionsgewohnheiten seiner Nutzer offensichtlich nach einem komplexen kommunikativen Modus verlangen, der sich nicht auf eine einzelne Wirkungsfunktion beschränken kann. In rhetorischen Worten: Wer über das Fernsehen kommuniziert, muss stets eine auf das jeweilige Format und die jeweilige Zielgruppe zugeschnittene Kombination aus Informieren, Ästhetisieren und Emotionalisieren (docere, delectare und movere) verfolgen – bei der offensichtlich auf keinen Fall die Dimension des delectare fehlen darf. Literatur Bosshart, Louis (1991): Infotainment im Spannungsfeld von Information und Unterhaltung. In: Medienwissenschaft Schweiz 2, 1–4. Brosius, Hans-Bernd (2003): Unterhaltung als isoliertes Medienverhalten? Psychologische und kommunikationswissenschaftliche Perspektiven. In: Werner Früh / Hans-Jörg Stiehler (Hrsg.): Theorie der Unterhaltung. Ein interdisziplinärer Diskurs. Köln, 74–88. Casetti, Francesco / Odin, Roger (2002): Vom Paläo- zum Neo-Fernsehen. Ein semio-pragmatischer Ansatz [1990]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 311–333. Dörner, Andreas (2001): Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Frankfurt a.M. Dörner, Andreas (2002): Medienkommunikation und Unterhaltungsöffentlichkeit. Zirkulation der Diskurse und virtuelle Vergemeinschaftung. In: Christian Schicha / Carsten Brosda (Hrsg.): Politikvermittlung in Unterhaltungs-

36 Klaus (2002, 636). Sie versteht den Dualismus darüber hinaus als eine Ideologie, die geschlechts- und schichtenspezifische Machtverhältnisse zementiere. 37 Klaus (2002, 639).

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formaten. Medieninszenierungen zwischen Popularität und Populismus. Münster, 38–52. Genette, Gérard (2001): Fiktion und Diktion [1991]. Aus dem Franz. von Heinz Jatho. München. Horaz: Ars Poetica / Die Dichtkunst. Lat./dt. Übers. und mit einem Nachw. hrsg. von Eckart Schäfer. Stuttgart 1972. Kamps, Klaus / Meckel, Miriam (Hrsg.) (1998): Fernsehnachrichten. Prozesse, Strukturen, Funktionen. Opladen. Klaus, Elisabeth (2002): Der Gegensatz von Information ist Desinformation, der Gegensatz von Unterhaltung ist Langeweile. In: Irene Neverla / Elke Grittmann / Monika Pater (Hrsg.): Grundlagentexte zur Journalistik. Konstanz, 619–640. Klöppel, Moritz (2008): Infotainment. Zwischen Bildungsanspruch und Publikumserwartung – Wie unterhaltsam darf Information sein? Marburg. Knape, Joachim (2013): Modern Rhetoric in Culture, Arts, and Media. Berlin, Boston. Krüger, Udo Michael (1996): Boulevardisierung der Information im Privatfernsehen. In: Media Perspektiven 7, 362–374. Postman, Neil (1985): Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Aus dem Amerik. von Reinhard Kaiser. Frankfurt a.M. Saxer, Ulrich (1991): Soziologische Aspekte von Infotainment. In: Medienwissenschaft Schweiz 2, 5–10. Schicha, Christian / Brosda, Carsten (2002): Politikvermittlung zwischen Information und Unterhaltung – Eine Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Politikvermittlung in Unterhaltungsformaten. Medieninszenierungen zwischen Popularität und Populismus. Münster, 7–37. Tenscher, Jens / Neumann-Braun, Klaus (2005): Infotainment. In: Alexander Roesler / Bernd Stiegler (Hrsg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn, 106–109. Ulrich, Anne (2012): Umkämpfte Glaubwürdigkeit. Visuelle Strategien des Fernsehjournalismus im Irakkrieg 2003. Berlin. Wegener, Claudia (2000): Wenn die Information zur Unterhaltung wird oder die Annäherung des „factual television“ an das „fictional television“. In: Ingrid Paus-Haase / Dorothee Schnatmeyer / Dies. (Hrsg.): Information, Emotion, Sensation. Wenn im Fernsehen die Grenzen zerfließen. Bielefeld, 46–61.

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Wirth, Werner (2000): Infotainment. Chancen für die politische Sozialisation Jugendlicher? In: Ingrid Paus-Haase / Dorothee Schnatmeyer / Claudia Wegener (Hrsg.): Information, Emotion, Sensation. Wenn im Fernsehen die Grenzen zerfließen. Bielefeld, 62–91. Wittwen, Andreas (1995): Infotainment. Fernsehnachrichten zwischen Information und Unterhaltung. Bern, Berlin.

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Aufgrund struktureller Eigenschaften und verschiedener Vertextungsstrategien gelingt es im Fernsehen besonders gut, einen Wirklichkeitseindruck hervorzurufen, der dem nicht-medialen Wirklichkeitseindruck der Adressaten ähnlich ist. Daher kreisen viele Ansätze der Fernsehforschung um den Komplex der ‚Konstruktion von Wirklichkeit‘. Darunter wird in der Regel die unwillkürliche, von fernsehmedialen Bedingungen abhängige Herstellung von Realität verstanden, die sich auf eine außermediale Realität zwar beziehen, diese aber niemals abbilden kann. Dies kann freilich auch – etwa in totalitären politischen Systemen – zu propagandistischen Zwecken missbraucht werden. Ein zentrales Potential des Fernsehens besteht daher in dem Versprechen, ‚Realität‘ auf den Bildschirm zu bringen oder sich mit ‚Realität‘ zu befassen und seinen Texten entsprechend Plausibilität und Glaubwürdigkeit zuzuschreiben. Die fernsehmediale Wirklichkeitskonstruktion unterliegt dabei produktions- und medienbedingten Restriktionen, Selektionen und Darstellungskalkulationen, die von Format zu Format durchaus unterschiedlich ausfallen können und sowohl kulturell als auch historisch wandelbar sind. ‚Wirklichkeit‘ ist somit ähnlich der aristotelischen Glaubwürdigkeit etwas, das in der jeweiligen Situation und im jeweiligen Gegenstand immer wieder neu entdeckt und konstruiert bzw. inszeniert werden muss. Gelingt eine solche plausible Wirklichkeitskonstruktion, so kann sie, ist die Fernsehforschung überzeugt, eine enorme kommunikative Macht entfalten. Rhetorisch wird diese Konstruktion, wenn sie einen der sieben Orientierungsaspekte aktiviert, also etwa emotive, evaluative oder auch gezielt verifikative Strategien anwendet.1 Die konstruktivistische Perspektive auf das Fernsehen lässt sich mit einem Zitat des Kommunikationswissenschaftlers SIEGFRIED J. SCHMIDT aus dem Jahr 1994 treffend zusammenfassen: „Es bedarf heute wohl kaum noch einer langen Be-

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Zu den Orientierungsaspekten siehe Knape (2008, 919–924) und Knape (2013, 210f.).

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gründung, daß Massenmedien – allen voran das Fernsehen […] – für unsere Sozialisation, unsere Gefühle und Erfahrungen, unser Wissen, unsere Kommunikation, für Politik und Wirtschaft usw. eine entscheidende Rolle spielen: Sie sind zu Instrumenten der Wirklichkeitskonstruktion geworden.“2 Der Terminus ‚Konstruktion‘ richtet sich dabei in erster Linie gegen die Vorstellung, mit Hilfe des Fernsehens lasse sich Wirklichkeit abbilden. Stattdessen wird davon ausgegangen, dass Wirklichkeit im Fernsehen erzeugt wird, und zwar nach den Eigengesetzlichkeiten des Mediums.3 Das Fernsehen sei besonders gut darin, die mediale Konstruiertheit seiner Wirklichkeit zu verbergen – es kommt den Fernsehzuschauern also so vor, als sähen sie das am Bildschirm Gezeigte nicht als Vermitteltes, sondern unmittelbar mit eigenen Augen.4 In diesem Zusammenhang verweist Schmidt auf die Medien- und Kulturwissenschaftler JOHN FISKE und JOHN HARTLEY, die schon 1978 schreiben: „the television medium presents us with a continuous stream of images almost all of which are deeply familiar in structure and form. It uses codes which are closely related to those by which we perceive reality itself. It appears to be the natural way of seeing the world“.5 Wichtige fernsehspezifische Mittel hierfür seien → Audiovisualität, Adressierung und → Liveness. Schmidt wiederum zählt „Sprache, Körpersprache, Kostümsprache, Ausstattung, Architektur, Musik, Licht, Einstellung“, zudem die „Wiederholung von Situationsstereotypen“ und nicht zuletzt die Komplexität und Flüchtigkeit des Fernsehtextes auf, die eine genaue und konzentrierte Verarbeitung durch den Rezipienten verhinderten.6 Nach JOHN T. CALDWELL kann auch der televisuelle Look einer Fernsehsendung den jeweiligen Realitätseindruck entscheidend prägen.7 Fernsehen fungiert also

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Schmidt (1994, 14). Vgl. auch Heath (1990, 281): „The answer to the question as to what television represents, in other words, becomes television itself: it ‚represents‘ the reality it produces and imitates.“ So schreibt Schmidt (1994, 16): „Offenbar sind Fernseh-Angebote besonders in der Lage, durch die kognitiven Leistungen den Anschein und die Intensität von Unmittelbarkeit und face-to-face Interaktion hervorzurufen.“ Und etwas später (1994, 17) heißt es: „Dem Fernsehen als Bild-Ton-Text-Verbindung kommt dabei [bei der Wirklichkeitskonstruktion] bisher noch eine führende Rolle zu, weil es seine Medialität und Konstruktivität am perfektesten von allen Medien verschleiert, interaktive Wahrnehmung suggeriert und emotionale Bindung provoziert.“ Fiske/Hartley (1996, 17). Schmidt (1994, 16f.). Vgl. Caldwell (2002 [1995], 182).

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als ein „Fenster-zur-Welt“,8 aber zu einer Welt, die es so nur im Fernsehen geben kann und die gleichzeitig Einfluss nimmt auf die Wirklichkeitsvorstellungen der Fernsehzuschauer. Genau das meint auch NIKLAS LUHMANN, wenn er mit Blick auf das Fernsehen sagt: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien.“9 Auf Grundlage dieser Denkfigur beschäftigen sich verschiedene Ansätze mit Einzelaspekten und möglichen Auswirkungen der Wirklichkeitskonstruktion im Fernsehen, auch wenn sie nicht immer explizit auf den Konstruktivismus Bezug nehmen. Die Transparenzillusion (das Verbergen der eigenen Medialität) wird dabei von vielen gesondert aufgegriffen. Laut PIERRE BOURDIEU etwa besitzt das Fernsehen im Rezeptionsvorgang einen Wirklichkeitseffekt, „es kann zeigen und dadurch erreichen, daß man glaubt, was man sieht. Diese Macht, etwas vor Augen zu führen, hat mobilisierende Wirkungen“.10 Indem das Fernsehen „PseudoEreignisse“,11 also strategische Inszenierungen von Medienereignissen für die Berichterstattung im Fernsehen kreiert (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme) und im → Reality-TV Wirklichkeit rekonstruiert und dekonstruiert, schafft das Fernsehen LOTHAR MIKOS zufolge einen spezifischen „Authentizitätseindruck“12 und lotet darüber hinaus die bestehenden Grenzen zwischen Realität und Fiktion neu aus. Dies geschieht über Formatmarkierungen und Texturphänomene, bei der Liveness laut JÉRÔME BOURDON etwa über die Ankündigung eines ‚Fernsehereignisses‘, während dessen Ausstrahlung über die permanente Einblendung „live“ oder auch über bestimmte Formen der direkten Zuschaueradressierung.13 Als weiteres, auf der Themen- und Figurenebene der Fernsehtexte angesiedeltes Mittel ist außerdem die → parasoziale Interaktion zu nennen, in der nach DONALD HORTON und RICHARD WOHL das „Simulakrum eines wechselseitigen Gesprächs“14 erschaffen wird und das Fernsehen dem Zuschauer so eine Face-to-Face-Gesprächssituation vorspielt. Auf diese Weise wird dem Zuschauer absolute Nähe zum Geschehen vermittelt und die räumliche Distanz des Mediums Fernsehen scheinbar überwunden. Nähe stellt auch ein Band der Intimität zwischen Zuschauer und den im Fernsehen handelnden → Personae her, da die

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Siehe hierzu Wiesing (2005). Luhmann (2004, 9). Bourdieu (1998, 27). Vgl. Boorstin (1962, bes. 9–44). Mikos (2000, 166). Vgl. Bourdon (2004, 184f.). Horton/Wohl (2002 [1956], 75).

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Zuschauer die im Fernsehen auftretenden Performer auf die gleiche Art kennen, „wie sie ihre engsten Freunde kennen“.15 Die Glaubwürdigkeit des Fernsehens, so fasst JOHN LANGER dieses Persönlichkeitssystem zusammen, wird durch diejenigen erweckt, die dem Zuschauer die Inhalte vermitteln.16 Bourdieu geht überdies davon aus, dass mit der Konstruktion von Wirklichkeitseffekten oftmals Unwichtiges in den Vordergrund rückt, um Wichtiges zu verbergen: „Zeit aber ist im Fernsehen ein äußerst knappes Gut. Und wenn wertvolle Minuten verschleudert werden, um derart Unwichtiges zu sagen, so deswegen, weil diese unwichtigen Dinge in Wirklichkeit sehr wichtig sind, und zwar insofern, als sie Wichtiges verbergen.“17 Paradoxerweise, so Bourdieu, kann das Fernsehen verstecken, „indem es zeigt, etwas anderes zeigt, als es zeigen müßte, wenn es täte, was es angeblich tut, nämlich informieren; oder auch, indem es zeigt, was gezeigt werden muß, aber so, daß man es nicht zeigt oder bedeutunglos macht oder so konstruiert, daß es einen Sinn annimmt, der mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat.“18 Diese Operation des ‚Versteckens durch Zeigen‘ konstruiert eine Wirklichkeit, die tatsächliche Ereignisse hinter der Inszenierung verschwinden lässt (→ Dramatisierung). Für JEAN BAUDRILLARD nähert sich das Fernsehen generell dem Status eines großen ‚Fakes‘ an. Er radikalisiert den Gedanken der fernsehmedialen Wirklichkeitskonstruktion dahingehend, dass die ‚Wirklichkeit‘ eigentlich gar keine Bezugsgröße mehr bildet. Da sich das Gezeigte von der ‚Realität‘ gelöst habe, sei der Fernsehtext ein Simulakrum, also ein reines Konstrukt, das auf keine Außenwirklichkeit mehr verweise.19 Die Ablösung des Gezeigten von der Wirklichkeit geschehe, so Baudrillard, gerade dadurch, dass das Fernsehen hyperreale Bilder zeige und so die Realität in der mimetischen Abbildung exakt verdopple. Im Zuge dieser Verdopplung entstehe eine dem Fernsehen eigene, simulierte Realität; es „verflüchtigt sich das Reale“,20 übrig bleibe nur noch das Simulakrum. Für den oft polemisch zuspitzenden Baudrillard ist die Unterscheidung zwischen ‚Realität‘ und ‚Simulation‘ mit dem Fernsehen als Vorläufer moderner digitaler Kommunikationstechnologien obsolet geworden. De facto spielt sie in der Diskussion über das Fernsehen ebenso wie in der Forschung jedoch weiterhin eine zentrale Rolle. Die fraglich gewordene ‚Fern-

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Horton/Wohl (2002, 77). Vgl. Langer (1981, 364). Bourdieu (1998, 23). Bourdieu (1998, 24). Zum Simulakrum vgl. Baudrillard (1978, 14f.) und Baudrillard (1994). Baudrillard (2005, 114).

K ONSTRUKTION VON W IRKLICHKEIT

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sehrealität‘ fordert vom Adressaten, so LORENZ ENGELL, ein ständiges Sondieren und Befragen in Bezug auf den Realitätsstatus des rezipierten Fernsehtextes.21 Auch wenn Engell hier nicht explizit rhetorisch denkt, bietet er gute Anschlussmöglichkeiten für die Rhetorik. Der Fernsehorator muss sich also über den Realitätsstatus seines Textes klar werden und diesen auch dem Zuschauer deutlich machen (oder gezielt verbergen), um dessen Aufmerksamkeit, Involvierung und damit letztlich auch dessen Zustimmung zu erreichen. Die bewusste Konstruktion von Wirklichkeit22 spielt also für die Plausibilisierung von Fernsehtexten eine bedeutende Rolle. Komplex wird dies bei Formaten, die ‚Realität‘ und ‚Simulation‘ bzw. ‚Fiktion‘ stark vermischen. Hier besteht der Reiz für den Zuschauer unter Umständen auch und gerade darin, den Realitätsstatus des Gezeigten immer wieder neu zu bewerten und zu diskutieren. Nach JOACHIM KNAPE könnte man hier von Fernsehtexturen mit sonderkommunikativem Status sprechen, die jedoch oft einen standardkommunikativen Status für sich beanspruchen.23 Literatur Baudrillard, Jean (1978): Agonie des Realen. Aus dem Franz. übers. von Lothar Kurzawa und Volker Schaefer. Berlin. Baudrillard, Jean (1994): Simulacra and Simulation. Übers. von Sheila Faria Glaser. Ann Arbor. Baudrillard, Jean (2005): Der symbolische Tausch und der Tod. Aus dem Franz. übers. von Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke und Roland Voullié. Berlin (Batterien, 14). Boorstin, Daniel J. (1962): The Image or What Happened to the American Dream. New York. Bourdieu, Pierre (1998): Über das Fernsehen. Aus dem Franz. von Achim Russer. Frankfurt a.M. Bourdon, Jérôme (2004): Live Television Is Still Alive. On Television as an Unfulfilled Promise. In: Robert C. Allen / Annette Hill (Hrsg.): The Television Studies Reader. London, New York, 182–195.

21 Vgl. Engell (2012, 77). 22 Hier unterscheidet sich die rhetorische Perspektive von der konstruktivistischen, in welcher der Konstruktionsvorgang in der Regel nicht als bewusster, sondern als quasi automatischer, von kulturellen, sozialen oder technischen Bedingungen abhängiger Vorgang gedacht wird. 23 Vgl. Knape (2013, 14f.).

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Caldwell, John Thornton (2002): Televisualität [1995]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 165–202. Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung. Hamburg. Fiske, John / Hartley, John (1996): Reading Television [1978]. London, New York. Heath, Stephen (1990): Representing Television. In: Patricia Mellencamp (Hrsg.): Logics of Television. Essays in Cultural Criticism. Bloomington, 267–302. Horton, Donald / Wohl, R. Richard (2002): Massenkommunikation und parasoziale Interaktion. Beobachtungen zur Intimität über Distanz [1956]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 74–104. Knape, Joachim (2013): Modern Rhetoric in Culture, Arts, and Media. Berlin, Boston. Knape, Joachim (2008): Rhetorik der Künste. In: Ulla Fix / Andreas Gardt / Ders. (Hrsg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. 1. Halbbd. Berlin, New York, 894–927. Langer, John (1981): Television’s ‚Personality System‘. In: Media, Culture and Society 4, 351–365. Luhmann, Niklas (2004): Die Realität der Massenmedien. 3. Aufl. Wiesbaden. Mikos, Lothar (2000): Big Brother als performatives Realitätsfernsehen. Ein Fernsehformat im Kontext der Entwicklung des Unterhaltungsfernsehens. In: Frank Weber / Kurt Beck (Hrsg.): Big Brother. Inszenierte Banalität zur Prime Time. Münster, 161–178. Schmidt, Siegfried J. (1994): Die Wirklichkeit des Beobachters. In: Klaus Merten / Ders. / Siegfried Weischenberg (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft. Opladen, 3–19. Wiesing, Lambert (2005): Fenster, Fernseher und Windows. In: Ders.: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a.M., 99–106.

O RALITÄT

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O RALITÄT Als Oralität (Mündlichkeit) wird im Allgemeinen im Gegensatz zur Schriftlichkeit die situativ-direkte, gesprochen-sprachliche Kommunikation bezeichnet. Tritt das Phänomen der Oralität in den elektronischen Medien, allen voran natürlich im Fernsehen auf, wird unter Rückgriff auf WALTER J. ONG von ‚sekundärer Oralität‘ gesprochen. Das Fernsehen kann mündliche Kommunikationsformen akustisch und visuell übertragen und strebt damit eine Überwindung von Raum und Zeit an. Dabei lassen sich Parallelen zur Face-to-Face-Kommunikation feststellen: Beide sind mehrkanalig, aktuell, multikodal und an die Performanz von Sprechern gebunden, wobei die menschliche Stimme eine besondere Rolle einnimmt. Rhetorisch betrachtet verleiht die situative Anmutung der Mündlichkeit der Präsenz des Orators im Fernsehtext großes Gewicht. Anders jedoch als in der personalen Interaktion einer Face-to-Face-Situation ist bei der sekundären Oralität nicht die Möglichkeit gegeben, dass der Orator selbst intervenieren und den Persuasionsakt in kritischen Phasen dialogisch auffangen kann. Durch die Dimissivik als konstitutives Basissetting des Mediums Fernsehen1 ist der Fernsehorator einem medialen Widerstand ausgesetzt; laut WERNER HOLLY kann er „gar nicht adressatenspezifisch vorgehen“.2 Die Oralität als mögliche Art der Inszenierung von Sendungen kann aus Sicht der Rhetorik zur Bekräftigung der Glaubwürdigkeit eines Geschehnisses verwendet werden, so z.B. durch das Einstreuen einer direkten Rede, den Originalton oder durch Einsetzen eines Anchormans bzw. Reporters vor Ort, der durch eine Live-Schaltung mit dem Nachrichtensprecher verbunden ist. Die unmittelbare Mündlichkeit gilt demnach als Beglaubigungskategorie, auch wenn sie inszeniert ist, was dem Adressaten oftmals verborgen bleibt. Gerade die Bevorzugung der menschlichen Stimme ist aus rhetorischer Sicht besonders anschlussfähig. Die klassische Produktionsstadienlehre der Rhetorik hat in ihren medientheoretischen Teilen der Speicherung (memoria) und Sendung (actio und pronuntiatio) mit der Lehre von der stimmlichen Performanz bereits ein Theoriesegment ausgearbeitet, das sich mit der Stimme als performativer Produktivkraft beschäftigt.3 Stimmmodulation, Stimmvolumen usw. werden dabei als auxiliäre Komponenten bei der Textperformanz verstanden, weil sie Konnotationen (Bedeutungszusätze) aufbauen können. Das

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Zur Unterscheidung von Face-to-Face-Situativik und Dimissivik siehe Knape (2005, 29–31). Holly (1996, 33). Vgl. etwa Göttert (1998), zu den antiken Grundlagen vgl. Schulz (2014).

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Fernsehen verlangt dabei nach besonderen Formen der Verständlichkeit und Klarheit, die in der Face-to-Face-Kommunikation künstlich wirken könnten – nicht zuletzt deshalb, weil die Stimme oft eingesetzt wird, ohne den Sprechenden selbst auch zu visualisieren. In dem rhetorisch äußerst anschlussfähigen Aufsatz Mündlichkeit im Fernsehen bezieht sich Holly – wie auch schon andere Studien zur Fernsehmündlichkeit – auf Ong, der den Terminus der sekundären Oralität in seinem Werk Orality and Literacy (1982) prägte. Danach bringen die modernen elektronischen Massenmedien ein neues Zeitalter der Mündlichkeit hervor, das sich von der primären Oralität unterscheidet.4 Ong schreibt unter Bezug auf seinen Lehrer MARSHALL MCLUHAN: „Secondary orality is both remarkably like and remarkably unlike primary orality. Like primary orality, secondary orality has generated a strong group sense, for listening to spoken words forms hearers into a group, a true audience […]. But secondary orality generates a sense for groups immeasurably larger than those of primary oral culture – McLuhan’s ‚global village‘.“5 Die sekundäre Mündlichkeit des Fernsehens ist also eingelagert in ein durch die elektronischen Medien generiertes Gefühl der globalen Zusammengehörigkeit und Intimität, das aber per se nur unter den Bedingungen der Distanzkommunikation etabliert werden kann. Für Holly spielen drei Ebenen bei der Fernsehmündlichkeit eine wichtige Rolle: erstens die kommunikativen Bedingungen des Fernsehens (die im vorliegenden Zusammenhang als Strukturdeterminanten verstanden werden), zweitens die sprachlichen Ausdrucksstrukturen in Fernsehtexten und drittens die Sprachkultur.6 Die kommunikativen Bedingungen mit seiner Mehrkanaligkeit und Aktualität sind für die Renaissance der Mündlichkeit verantwortlich: „Prosodisches und Parasprachliches spielen wieder eine Rolle. Außerdem kann ein Sprecher, soweit er im Bild ist, mit Haltung, Gestik und Mimik kommunizieren, mit Kleidung und Aufmachung.“7 Gleichwohl spielt sich alles unter den Bedingungen der Unidirektionalität und der Distanzkommunikation ab. „Die Sprachkommuni-

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Vgl. Ong (1982, 11): „I style the orality of a culture totally untouched by any knowledge of writing or print, ‚primary orality‘. It is ‚primary‘ by contrast with the ‚secondary orality‘ of present-day high-technology culture, in which a new orality is sustained by telephone, radio, television, and other electronic devices“. Ong (1982, 136). Vgl. Holly (1996, 30). Holly (1996, 31). Zur sprecherischen Gestaltung aus der Perspektive der Journalistenausbildung vgl. auch Häusermann/Käppeli (1986, 71–81).

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kation muß sich auf Intimität einstellen und doch expliziter und kontextunabhängiger sein als in Face-to-face-Situationen.“8 Das hat auch Auswirkungen auf die, wie Holly explizit deutlich macht, „Orientierung am ‚aptum‘ der klassischen Rhetorik, an dem, was situativ angemessen ist“. Diese könne „nur sehr rudimentär sein. Damit ist viel von der Faszination von Mehrkanaligkeit, Nähe und Aktualität wieder dahin. […] Und doch will das Fernsehen auf die Annäherung an die Verhältnisse direkter Kommunikation nicht verzichten. So versucht es die Quadratur des Kreises, will die Spontaneität, die Nähe, die Wechselseitigkeit fingieren“.9 Die Oralität im Fernsehen wird daher auch zum Grundbaustein für das Phänomen der → parasozialen Interaktion als Simulakrum eines wechselseitigen Gesprächs. Auch auf der Ebene der sprachlichen Ausdrucksstrukturen steht die „Suggestion des Mediums“ im Mittelpunkt, „daß es einfach ‚wiedergibt‘, wo es doch in Wirklichkeit sehr raffiniert ‚inszeniert‘.“10 Dabei werde vieles im Fernsehen bereits schriftlich vorformuliert, allerdings im Stil ‚konzeptioneller Mündlichkeit‘, so erläutert Holly an anderer Stelle.11 Er sieht dabei folgende lexikalische und syntaktische Unterschiede zwischen einem „gesprochensprachlichen“ und „geschriebensprachlichen“ Text: Während die gesprochene Sprache häufiger Parataxen, Ellipsen, Anakoluthe und ein schmaleres Vokabular, direkte Rede und Selbstkorrekturen aufweist, die dem Text einen fragmentarischen, dynamischen Charakter verleihen, zeichnet sich die geschriebene Sprache durch Variationen, Komplexität, Passivkonstruktionen und einen Nominalstil aus.12 Es muss allerdings auch darauf hingewiesen werden, dass der Stil abhängig ist von der Strategie, die ein jeweiliger Orator verfolgt. So kann zum Beispiel ein geschriebener Text mündlich gestaltet werden, um den Eindruck von Spontaneität zu erwecken. Hier verweist Holly etwa auf den Versuch, „in einer gesprächshaften Weise Elemente zwangloser Kommunikation in informative Gattungen einzubauen, um die Rezipienten besser zu erreichen.“13 Die naheliegende Gattung ‚Talkshow‘, von der noch die Rede sein wird, findet bei Holly jedoch kaum Erwähnung. Auf der Ebene der Sprachkultur schließlich verknüpft Holly die Oralität

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Holly (1996, 32). Holly (1996, 33), vgl. auch Ong (1982, 137): „secondary orality promotes spontaneity because through analytic reflection we have decided that spontaneity is a good thing. We plan our happenings carefully to be sure that they are thoroughly spontaneous.“ Holly (1996, 31). Vgl. Holly (2009, 2202). Vgl. Holly (2009, 2202). Holly (1996, 35).

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mit einer an UMBERTO ECO orientierten Offenheit oder Zugänglichkeit des Fernsehtextes, die sich mit der Alltagskultur der Zuschauer verbinde.14 In Abgrenzung zum Kino bestimmt auch der Komponist und Medienwissenschaftler MICHEL CHION als zentrales Kennzeichen des Fernsehtons die Mündlichkeit: „sound, mainly the sound of speech, is always foremost in television“.15 Chion führt den Terminus der ‚Vokozentrik‘ in die Fernsehdiskussion ein. Darunter versteht er eine Privilegierung der Stimme im Vergleich zu anderen Mitteln der akustischen Performanz, womit sich ein besonderes Potential der Aufmerksamkeitserregung verbinde: „When in any given sound environment you hear voices, those voices capture and focus your attention before any other sound“.16 Darauf bezieht sich auch JÉRÔME BOURDON, wenn er das Fernsehen als dezidiert vokozentrisches Medium bezeichnet, d.h. „a medium where the voice orients the viewers decisively in certain directions of interpretation. The voice governs television“.17 Besonders fernsehtypisch ist für Chion wiederum die Tatsache, dass sich die Stimme im Fernsehen nicht notwendig auf das bezieht, was am Bildschirm gerade zu sehen ist – während die Stimme im Kino sehr eng mit dem Bewegtbild verbunden sei.18 Für Bourdon ist die Stimme demzufolge hauptverantwortlich für die Erzeugung des → Flow, der bei ihm „continuity television“ heißt.19 Bourdon unterscheidet zwischen der „acousmatic voice“ (Stimme aus dem Off) und der „visual/visualizable voice“ (visualisierte oder visualisierbare Stimme). Erstere erklingt zum Beispiel in Dokumentationen ohne eine physische Identität, stattdessen ist sie an den institutionellen Körper des Fernsehens gebunden, also gewissermaßen eine ‚korporative‘ Stimme, die sich überhaupt nicht über einen menschlichen Körper visualisieren ließe. Dies gilt etwa für die Kommentierung von Sportübertragungen oder auch von klassischen Medienereignissen im Sinne von DANIEL DAYAN und ELIHU KATZ (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme). Sie ordnen den unsichtbaren Stimmen eine erzählerisch wegweisende, jedoch der visuellen Darstellung des Ereignisses untergeordnete Funktion zu, die vor allem den kommunikativen Kontakt zu den Zuschauern aufrechterhalten soll: „Physically contained and culturally compatible, the narrator’s atti-

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Vgl. Holly (1996, 37f.). Chion (1994, 157). Chion (1994, 5f.). Bourdon (2004, 186). Vgl. Chion (1994, 158f.). Vgl. Bourdon (2004, 187).

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tude actively enacts the phatic definition of television’s role.“20 Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass die menschliche Stimme in der Regel für rhetorische Adressierung der Zuschauer zuständig ist. Die „visual/visualizable voice“ hingegen ist nach Bourdon an den Körper einer → Persona gebunden, der für die Rezipienten entweder sichtbar ist (zum Beispiel bei der Übertragung eines Konzertes) oder zumindest vorstellbar: „The voice in fully live or continuity television is visualizable, even if we do not see the speaker for a long period of time. The best example is the voice of the sports commentator, in the sequence we will call ‚involved commentary‘“.21 Die Vokozentrik ist bei Chion wie Bourdon immer auch mit ‚Verbozentrik‘ verbunden, worunter sie das Einsetzen einer besonders klaren Aussprache verstehen. Es ginge nicht um die originalgetreue Reproduktion einer tatsächlichen Stimme, sondern um die effektive Umwandlung dieser Stimme in einen verständlichen Ton.22 So spricht auch KRISTIN WESTPHAL, besonders im Zusammenhang mit dem Playback-Verfahren, von einer ‚Idealstimme‘, die unter medienspezifischen Bedingungen geschaffen werde.23 Außerdem steht das Fernsehen nach Bourdon nicht nur unter einem kontinuierlichen Bebilderungs-, sondern auch unter einem ‚Sprechzwang‘: „That is a convention which might be stronger than the social and moral conventions of what can be said: something has to be said“ – was Bourdon zu der Folgerung führt: „On television, almost everything can be said, as long as television keeps on talking clearly.“24 Die ‚Geschwätzigkeit‘ scheint also ein wichtiges Spezifikum des Fernsehens zu sein. Ein wichtiger Kristallisationspunkt der Inszenierung von Mündlichkeit im Fernsehen ist die Talkshow, die jedoch von den meisten Studien zur Mündlichkeit, wenn überhaupt, nur kursorisch erwähnt wird.25 Bei HANS JÜRGEN WULFF ist nachzulesen: „Fernseh-Talk ist nicht Gespräch, sondern Gesprächsaufführung, nicht unmittelbar, sondern vermittelt. Es rechnet darum nicht zu den Formen der Alltagskommunikation, sondern ist eine Form des Theaterspiels.“26 Auch hier steht die Künstlichkeit der Spontaneität im Zentrum. Ansonsten wird in der Talkshow-Forschung wenig auf das Thema der Mündlichkeit eingegan-

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Dayan/Katz (1992, 112). Bourdon (2004, 187). Vgl. Chion (1994, 6) und Bourdon (2004, 191). Westphal (2002, 157). Bourdon (2004, 191). Als eine Ausnahme sei Schütte (1996) erwähnt, der sich jedoch auf den spezifischen Aspekt der Streitgespräche in Fernsehsendungen bezieht. 26 Wulff (1998, 14).

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gen. Es findet sich allenfalls bei KLAUS PLAKE der Hinweis, dass Talkshows eine „fernsehgerechte Form der Kommunikation“ darstellten, weil sie das Fernsehen vom Visualisierungszwang befreien: „[D]ie Ausbreitung des Talks im Fernsehen stellt also auch eine Anpassung an die veränderten Gewohnheiten des Publikums dar, das seinen vielfältigen Interessen besser nachgehen kann, wenn nur eine akustische Kontaktaufnahme erforderlich ist, um einer Sendung zu folgen.“27 Aus dieser Sicht wird die Mündlichkeit zur Signatur eines Nebenbei-Mediums, das obendrein noch günstig produzieren muss. In anderer Form als fernsehgerecht kann man die Mündlichkeit deuten, wenn man sie über die Flussmetapher in Verbindung bringt mit dem Flow: Als ‚fließende Rede‘ teilt sie besonders in der → Liveness mit der Performanz des Mediums die zeitliche Dimension, die flüchtige Bewegung und das Nicht-Versiegen.28 Die (wenn auch sekundäre) Mündlichkeit antwortet somit auch auf eine zentrale Strukturdeterminante des Mediums. Um die menschliche Stimme geht es auch RICK ALTMAN, der sich mit den Formen und Funktionen des → Fernsehtons befasst. Dazu zählt er neben der Stimme eines Einzelnen, etwa eines berühmten Stars, beispielsweise auch die Stimmen oder das Gelächter des Studiopublikums. Die Stimme, die „zu zwischengeschalteten internen Zuschauern spricht“,29 fungiere hierbei als Filter für den visuellen Eindruck des Adressaten, etwa als Schilderung oder Kommentar. Dabei sei es irrelevant, ob der Ton tatsächlich live entstanden ist oder durch eine Konserve hinzugefügt wurde, denn er sei immer so angelegt, die Adressaten zu überzeugen, dass „der Applaus oder das Gelächter von einem Ort herrührt, der uns näher ist als das Spektakel selbst.“ Die Adressaten müssen also „über, durch und mit internen Zuschauern sehen, um zu den versprochenen Bildern zu gelangen“, so Altman.30 Diese Zuschauer können sichtbar sein wie Nachrichtensprecher, aber auch unsichtbar wie Sportkommentatoren, doch sie sind immer über den auditiven Kanal wahrzunehmen. Auch hier erweist sich die Stimme im Rahmen der Oralität als ein wichtiges Lenkungsinstrument sowohl für die Aufmerksamkeit der Zuschauer als auch für die Bindung der Zuschauer an Fernsehpersonae, an ein bestimmtes Format oder gar an die Institution des Senders im Allgemeinen. Eine ganz andere und aus rhetorischer Sicht nicht uninteressante Sichtweise auf die Oralität etablieren JOHN FISKE und JOHN HARTLEY in ihrem Klassiker

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Plake (2004, 176). Zur Metapher der ‚fließenden Rede‘ vgl. Wenzel (1997). Altman (2002 [1986], 403). Altman (2002, 403).

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Reading Television von 1978. Darin bestimmen sie den Modus des Fernsehens als mündlich. Die mündliche Struktur (oral logic) des Fernsehens wird als Gegenstück zur formalen Logik konzipiert und erinnert daher an die Rhetorik. Tatsächlich fällt auch der Begriff ‚rhetoric‘ explizit in diesem Zusammenhang: „television discourse is not ‚immutable and impersonal‘ in nature, and its mode is the reverse of literate or formal logic: its mode is that of rhetoric.“31 Der mündliche Modus bezeichnet hier einen Rezeptionsmodus, der sich vom in der Gesellschaft weitaus dominanteren schriftlichen Modus unterscheidet und mit ihm in Konflikt gerät, so Fiske und Hartley. Sie charakterisieren beide Modi anhand einer Aufzählung von Adjektiven. Demnach ist der mündliche Modus dramatisch, episodisch, mosaikartig, dynamisch, aktiv, konkret, flüchtig, sozial, metaphorisch, rhetorisch (!) und dialektisch, während der schriftliche Modus u.a. als narrativ, sequentiell, linear, statisch, abstrakt, permanent, individuell, metonymisch und logisch beschrieben wird.32 Auch wenn die Oralität hier möglicherweise zu einem Generalprinzip überhöht wird, machen Fiske und Hartley deutlich, dass Rhetorik und Mündlichkeit über eine Gemeinsamkeit verfügen, die von der übrigen Forschung so nicht thematisiert wurde, nämlich die Rede als überzeugende Adressierungstechnik, die im Fernsehen besonders deutlich zum Tragen kommt. Literatur Altman, Rick (2002): Fernsehton [1986]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 388–412. Bourdon, Jérôme (2004): Live Television Is Still Alive. On Television as an Unfulfilled Promise [1997]. In: Robert C. Allen / Annette Hill (Hrsg.): The Television Studies Reader. London / New York, 182–195. Chion, Michel (1994): Audio-Vision. Sound on Screen. Hrsg. und übers. von Claudia Gorbman. New York. Dayan, Daniel / Katz, Elihu (1992): Media Events. The Live Broadcasting of History. Cambridge. Fiske, John / Hartley, John (1996): Reading Television [1978]. London, New York. Göttert, Karl-Heinz (1998): Geschichte der Stimme. München.

31 Fiske/Hartley (1996, 117). 32 Vgl. Fiske/Hartley (1996, 122–125).

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Häusermann, Jürg / Käppeli, Heiner (1986): Rhetorik für Radio und Fernsehen: Regeln und Beispiele für mediengerechtes Schreiben, Sprechen, Informieren, Kommentieren, Interviewen, Moderieren. Aarau, Frankfurt a.M. Holly, Werner (1996): Mündlichkeit im Fernsehen. In: Bernd-Ulrich Biere / Rudolf Hoberg (Hrsg.): Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen. Trier, 29–41. Holly, Werner (2009): Rhetorisch-stilistische Eigenschaften der Sprache von Hörfunk und Fernsehen. In: Ulla Fix / Andreas Gardt / Joachim Knape (Hrsg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. 2. Halbbd. Berlin, New York, 2197–2210. Knape, Joachim (2005): The Medium is the Massage? Medientheoretische Anfragen und Antworten der Rhetorik. In: Ders. (Hrsg.): Medienrhetorik. Tübingen, 17–39. Ong, Walter J. (1982): Orality and Literacy. The Technologizing of the World. New York. Plake, Klaus (2004): Handbuch Fernsehforschung. Befunde und Perspektiven. Wiesbaden. Schulz, Verena (2014): Die Stimme in der antiken Rhetorik. München. Schütte, Wilfried (1996): „Boulevardisierung von Information“. Streitgespräche und Streitkultur im Fernsehen. In: Bernd-Ulrich Biere / Rudolf Hoberg (Hrsg.): Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Fernsehen. Trier, 101–133. Wenzel, Horst (1997): Die ‚fließende Rede‘ und der ‚gefrorene Text‘. Metaphern der Medialität. In: Gerhard Neumann (Hrsg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. Stuttgart, Weimar, 481–503. Westphal, Kristin (2002): Wirklichkeiten von Stimmen. Grundlegung einer Theorie der medialen Erfahrung. Frankfurt a.M. Wulff, Hans Jürgen (1998): Intime Plauderei als Politikum? Die Bedeutung der Talkshows im Medienalltag. In: Unabhängige Landesanstalt für das Rundfunkwesen (Hrsg.): Talkshows. Tabuverletzung oder Therapie? Kiel, 7–27. Online verfügbar unter http://www.derwulff.de/files/2-76.pdf, 08.07.2013.

P ERSONALISIERUNG

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P ERSONALISIERUNG Unter ‚Personalisierung‘ werden in der Fernsehwissenschaft verschiedene Phänomene verstanden. Aus rhetorischer Perspektive sind besonders diejenigen Ansätze interessant, die Personalisierung als audiovisuelle Vertextungsstrategie verstehen, die ein Thema nicht abstrakt präsentiert, sondern der Präsentation eine Protagonisten-Story zugrunde legt. Anders gesagt: Eine oder mehrere Personen und ihr Erleben machen die Problematik eines Themas evident. Bisweilen ist auch davon die Rede, dass bei der Personalisierung „das Allgemeine hinter dem Individuellen“ zurücktrete.1 Dieser Technik werden auch psychologische Effekte zugeschrieben, insbesondere die emotionale Teilnahme am ‚Schicksal‘ der dargestellten Person bis hin zur Identifikation. Die dargestellten Personen können Prominente sein, genauso gut aber auch Laien. Die Personalisierungsstrategie im Fernsehen wird dabei oft in den Kontext allgemeingesellschaftlicher Individualisierungsprozesse gerückt. Rhetorisch gesehen können hinter der Methode Personalisierung unterschiedliche Strategien stecken: Emotionalisierung über Identifikationsangebote, Veranschaulichung komplizierter Zusammenhänge, Induktionsbeweis über Einzelfälle (im aristotelischen Sinn) bei Entwicklung einer These, Bewertung einer These durch Aufweis konkreter Tatsachen im Leben von Einzelpersonen. Personalisierungsstrategien im Fernsehen interessieren die Rhetorik außerdem unter dem Aspekt der Authentisierung, die sich besonders durch expressive Ausdrücke aller Art erreichen lässt, da diese schwerer kontrolliert und erzwungen werden können. Deshalb können elektronische Medien ihren Texten auch eine Enthüllungsfunktion zuweisen. In der fernsehwissenschaftlichen Literatur kommt dem Begriff ‚Personalisierung‘ innerhalb des → Unterhaltungs- oder → Dramatisierungsdiskurses oft nur Schlagwortcharakter zu.2 Im Allgemeinen ist darunter in den Worten CLAUDIA WEGENERS zu verstehen, „dass die Darstellung auf ein Einzelschicksal, auf eine unmittelbar betroffene Einzelperson zentriert ist“.3 Dabei spielen Bewertungen menschlichen Verhaltens durch die Adressaten eine entscheidende Rolle. Als Schlagwort taucht Personalisierung auch häufig im Zusammenhang mit bestimmten Fernsehformaten wie Unterhaltungs- und Nachrichtensendungen auf. Davon abzugrenzen sind die Konzepte → Persona und → parasoziale In-

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Wegener (2000, 50). Vgl. Göttlich (2001, 81) oder Bosshart (1991, 3). Wegener (2000, 50), vgl. auch Bente/Fromm (1997, 20).

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teraktion. Der Terminus ‚Persona‘ bezeichnet ein strukturelles Element der fernsehpragmatischen Strategie der parasozialen Interaktion, während Personalisierung eine Vertextungsstrategie darstellt, die in erster Linie der Themenvermittlung dient. Bei der Personalisierung sind die Protagonisten (im Unterschied zum Persona-Phänomen) in der Regel nicht die vom Medium selbst generierten Fernsehpersönlichkeiten, sondern Prominente aus der Politik oder aus anderen gesellschaftlichen Teilbereichen oder Alltagsakteure. Wie bei der Dramatisierung wird auch bei der Personalisierung davon ausgegangen, dass sie von einer Art ‚neutralen‘ Themenvermittlung abweicht, diese Abweichung jedoch ein zentrales Fernsehspezifikum und damit gewissermaßen auch wieder eine ‚Fernsehnormalität‘ darstellt (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme). WERNER HOLLY und JOHANNES SCHWITALLA sehen den Grund für die Personalisierungsstrategien im Fernsehen verglichen mit dem Radio darin, dass das Fernsehen eben auf Visualität gründe: „Das Radio personalisiert die übermittelte Botschaft, indem es die individuellen Stimmqualitäten und die nur gestalthaft, nicht rational zu verarbeitenden prosodischen Eigenschaften der Rede mittransportiert. Das Fernsehen personalisiert in noch höherem Maße, indem es das Bild, die optische Atmosphäre und nicht zuletzt das Gesicht mit seinen expressiven Möglichkeiten, auch mit den unwillkürlichen und schwer kontrollierbaren mimischen und gestischen Reaktionen [...] zugänglich macht, und zwar für einen distanzierten Kommunikationsteilnehmer, der selbst aller Kommunikationspflichten enthoben ist und sich ganz einem emphatischen oder kritischen Voyeurismus hingeben kann.“4 (→ Audiovisualität) Dieses Verständnis von Personalisierung geht zurück auf den Kommunikationswissenschaftler JOSHUA MEYROWITZ, der seinerseits auf die Soziologen ERVING GOFFMAN und RICHARD SENNETT Bezug nimmt. An diesen Diskurs schließen die meisten deutschen Arbeiten an, auch diejenigen zur Personalisierung in der politischen Berichterstattung, die ihrerseits eine Art Spezialdiskurs der Politikwissenschaft darstellen. Auch in Bezug auf Sennett, aber vor Meyrowitz, beschäftigt sich der Kommunikationswissenschaftler JOHN LANGER mit dem Phänomen, weswegen sein Konzept des „personality system“ hier an erster Stelle steht. Das „personality system“ des Fernsehens versteht er in Abgrenzung zum „star system“ des Kinos als Spezifikum des Mediums. Nach Langer ist dieses Persönlichkeitssystem – und damit lehnt er sich an STUART HALL an – als ein bevorzugter Kode des Fernsehens zu verstehen, was gleichzeitig den marxistischen Einschlag seines Den-

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Holly/Schwitalla (1995, 80f.).

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kens zeigt.5 Langers Personalisierung ist als Inszenierung von Intimität zu verstehen, die immer mit einem Moment der Enthüllung (disclosure) verbunden ist, in dem das dargestellte Individuum für sich selbst spricht.6 Hierfür sind u.a. Interviewsituationen und Nahaufnahmen entscheidend. Der Prozess der Personalisierung ist als Medieneffekt eine Resonanz auf die allgemeine gesellschaftliche Wendung vom Öffentlichen hin zum Privaten, Gefühligen, Authentischen. „This ideology of personalization resonates out to the spectator as well, so that finally the range of possible decoding procedures necessary ‚to get the message‘ and to win audience consent is fixed principally in terms of questions about personal authenticity: how ‚real‘ and ‚genuine‘ are these personalities performing in the public arena. The intimacy structure of viewing as well as the rhetorical structure of intimacy within programming works to maintain this ‚reading‘.“7 Personalisierung (Langer verwendet, wie nur selten im Englischen, tatsächlich den Terminus personalization) bringt also Fernsehmacher und Fernsehzuschauer über eine gemeinsame Illusion von Intimität zusammen, die von der (inszenierten) Echtheit und Originalität der im Fernsehen gezeigten Persönlichkeiten abhängt.8 Diese sind auch dafür verantwortlich, die Fenster-zur-Welt-Funktion des Fernsehens dauerhaft zu beglaubigen.9 Damit ist Anfang der 1980er Jahre ein Ansatz gefunden, der sich auch heute noch heranziehen lässt, um das Verhandeln von Authentizität und Künstlichkeit in sogenannten Scripted-Reality-Formaten zu analysieren (→ Reality TV). Meyrowitz nimmt wie Langer auch Sennetts Gegenwartsdiagnose von der „Ideologie der Intimität“ (ursprünglich 1977) zum Ausgangspunkt für die Betrachtung des Fernsehens, die in den Themenkomplex der Personalisierung hineinführt.10 Ein noch wichtigerer Impulsgeber gerade in Hinblick auf die Personalisierung im Fernsehen ist für Meyrowitz jedoch Goffman und dessen begriffliche Unterscheidung von Ausdruck (expression) und Kommunikation (communi-

5

Langer (1981, 351f.), zum Konzept des Kodierens und Dekodierens siehe auch Hall (2002 [1973]). 6 Vgl. Langer (1981, 361): „Thus speaking for oneself on television also means speaking through the language of facial expression, and together these two encoding operations work toward producing the personality system and saturating it with a sense of intimacy.“ 7 Langer (1981, 363). 8 Insgesamt geht für Langer damit auch eine scheinbare Nivellierung von sozialen Unterschieden einher, was im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht zentral ist. 9 Vgl. Langer (1981, 364). 10 Sennett (1983, 293, bes. 293–382). Vgl. Meyrowitz (1990b, 241f.).

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cation) in Strategic Interaction (1969).11 Für Meyrowitz sind dies Formen der präsentierten Information – sie sind der Ort, an dem sich im Fernsehen der „Wandel von abstrakten, unpersönlichen Botschaften zu konkreten, persönlichen“ vollzieht.12 Im Grunde denkt er damit über das nach, was in diesem Band als performativer Modus des Mediums verstanden wird. ‚Ausdruck‘ ist nach Goffmans strenger Sicht alles, was eine Person über Gestik, Mimik, Tonfall und andere nonverbale Äußerungen über sich preisgibt, während ‚Kommunikation‘ immer die bewusste Übertragung einer sprachlichen Botschaft bezeichnet.13 Ausdruck ist in der Regel konkret und vor allem sinnlich wahrnehmbar, willentliche Kommunikation kann hingegen auch abstrakt sein. Daraus ergibt sich für Meyrowitz: „Man kann beginnen und aufhören zu kommunizieren, wie man es gerade will, aber man kann nicht aufhören, sich auszudrücken. Kommunikationen werden bewußt ‚von sich gegeben‘, Ausdrucksformen aber unbewußt. Ausdrucksformen sind relativ konstant und viel weniger kontrollierbar als Kommunikationsformen. Außerdem handeln Ausdrucksformen in einem sehr bedeutsamen Sinn immer ‚über‘ das Individuum, das sie von sich gibt – während Kommunikationen über alles Mögliche stattfinden können. Ausdruck ist persönlich und unverwechselbar. Wir beobachten ihn, um zu entdecken, wie eine Person empfindet und ‚wie‘ er oder sie ‚ist‘.“14 Personalisierungsstrategien führen daher beim Zuschauer zu einem Zuwachs der Wahrnehmung „synchroner Begleitäußerungen“, etwa „paralinguistischer Begleitphänomene“,15 in der Kommunikationssituation, die mit dem menschlichen Körper und dem menschlichen Verhalten in Verbindung stehen (Mimik, Gestik usw.). Personalisierungsstrategien zielen darauf ab, die Rezeptionstätigkeiten des Zuschauers von der Beobachtung abstrakter Sachverhalte auf eine emotionale Teilnahme an einer Kommunikationssituation zu lenken, indem er dazu aufgefordert wird, mit Menschen zu fühlen und ihre Handlungen zu bewerten (→ Emotionalisierung). Interessant ist nun, dass Meyrowitz die ‚Kommunikation‘ der Öffentlichkeit und den Printmedien zuordnet, während die elektronischen Medien neben der ‚Kommunikation‘ auch den ‚Ausdruck‘ darzustellen vermögen und damit das Private bedienen. Seine Schlussfolgerung enthält wie bei Langer das Stichwort der ‚Enthüllung‘: „Die elektronischen Medien geben ein ganzes Spektrum von

11 12 13 14 15

Vgl. Goffman (1969, bes. 4–11). Meyrowitz (1990a, 191). Vgl. Meyrowitz (1990a, 192f.). Meyrowitz (1990a, 193). Knape (2008, 147).

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Informationen preis, die einst auf private Interaktionen beschränkt waren“.16 Elektronische Medien sind somit systematisch auf das ausgerichtet, was hinter der Bühne der Öffentlichkeit liegt. Durch die visuelle Darstellungsform des Fernsehens rückt der persönliche Ausdruck in den Mittelpunkt der Fernsehsituation. Diese Dichotomie zwischen Print- und elektronischen Medien untermauert Meyrowitz weiter:17 „Mehr als die Printmedien neigen elektronische Medien dazu, Sender und Empfänger in ein intimes Netz persönlicher Erfahrung und Gefühle zu verweben.“18 Damit rückt die Beziehung zwischen den Kommunikationsteilnehmern in den Vordergrund. Meyrowitz setzt diese These – unter anderem mit einem Verweis auf den von ihm und vielen anderen falsch verstandenen ALBERT MEHRABIAN19 – vor allem im politischen Bereich absolut und beklagt, dass eine typische „Zuschauer-Reaktion auf die Ansprache eines Politikers im Fernsehen“ sei, „über die Person des Politikers nachzudenken statt über den Inhalt seiner Rede“.20 Gleiches gelte für die übrigen im Fernsehen gezeigten Personen; gerade Moderatoren verstünden sich dazu noch darauf, dies auf eine äußerst faszinierende Weise zu tun. Personalisierungsstrategien sind für Meyrowitz im Fernsehen gerade deshalb so wichtig, weil es dort noch mehr auf expressive Botschaften ankomme als in der persönlichen Begegnung: Erstens ermöglicht die Großaufnahme im Fernsehen genauere Beobachtungen der Mimik und des Gesichtsausdruckes der Persona, und zweitens entlaste Fernsehen als unidirektionales Medium den Zuschauer von der Last, Energie darauf zu verwenden, über seine eigenen Ausdrucksformen zu reflektieren, selbst Kommunikation hervorbringen zu müssen und die Reaktionen des anderen auf sich selbst zu interpretie-

16 Meyrowitz (1990a, 194). 17 Meyrowitz bezieht sich nicht nur auf Goffman, sondern auch auf das Begriffspaar ‚diskursive‘ – ‚präsentative‘ Symbole von Susanne Langer und die Unterscheidung ‚digital‘ – ‚analog‘ nach Watzlawick, Beavin und Jackson, vgl. Meyrowitz (1990a, 195–200). 18 Meyrowitz (1990a, 198). 19 Die von Mehrabian (1971) veröffentlichte Studie besagt, dass 55 Prozent des relativen Gewichts, das einer persönlichen Begegnung beigemessen wird, von dem Gesichtsausdruck des Gegenübers abhänge. Demgegenüber hingen 38 Prozent von der Stimme und nur sieben Prozent von verbalen Faktoren ab. Mehrabian hat jedoch nicht die alltägliche menschliche Kommunikation untersucht, sondern spezifische Fälle, in denen die verbalisierte Botschaft der Mimik oder der Stimme zu widersprechen schien. Nur in diesen Fällen wurde den nonverbalen Ausdrucksmitteln mehr Glauben geschenkt – lediglich dann also gilt die berühmte 55-38-7-Regel. 20 Meyrowitz (1990a, 204).

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ren. Der Fernsehzuschauer kann sich deshalb vollkommen darauf konzentrieren, das Verhalten des anderen zu beobachten.21 GARY BENTE und BETTINA FROMM setzen diese Überlegungen 1997 in gewisser Weise fort und sprechen im Zusammenhang mit Personalisierungsstrategien im Fernsehen geradezu vom ‚Affektfernsehen‘. Unter diesen Begriff subsumieren sie fast alle nicht-fiktionalen Programme des Fernsehens, die über die folgenden vier Charakteristika verfügen: Personalisierung, Authentizität oder → Liveness, thematische Intimisierung und Emotionalisierung. Personalisierung wird dabei wie folgt definiert: „Die Darstellung ist auf das Einzelschicksal, auf die unmittelbar betroffene Einzelperson zentriert; Allgemeines tritt hinter dem Individuellen zurück; die Person des Moderators schafft ein Klima der Vertrautheit und Verlässlichkeit.“22 Gegenstand der Personalisierung sind hier also auch wieder die ‚kleinen Leute‘ sowie alle Fernseh-Personae. Eingebettet wird die Untersuchung in den soziologischen Kontext u.a. von JÜRGEN HABERMAS’ Strukturwandel der Öffentlichkeit, in dem zu lesen ist, dass öffentlich relevante Entscheidungen „ins private Kostüm gekleidet und durch Personalisierung bis zur Unkenntlichkeit entstellt“ würden.23 Auch auf Sennetts in Verfall und Ende des öffentlichen Lebens vertretene These wird Bezug genommen, dass bei der Beurteilung von Personen rationale Prinzipien durch „Mechanismen der Personenwahrnehmung und der interpersonellen Eindrucksbildung“ ersetzt würden.24 Selbst kommen Bente und Fromm in ihrer empirischen Studie hinsichtlich der Personalisierung u.a. zu einer Systematik der Motive, die Studiogäste zu einem Auftritt im ‚Affektfernsehen‘ verleiten – die Palette reicht vom „Fernseh-Star“ über den „Patienten“, „Kontaktanbahner“, „Ideologen“ und „Propagandisten“ bis hin zum „Anwalt in eigener Sache“, „Rächer“ und „Zaungast“.25 Außerdem werden fernsehtechnische Mittel wie große Kameraeinstellungen oder Zoomaktivität sowohl zur Inszenierung der Gäste als auch in manchen Fällen zur Hervorhebung der Moderatoren genutzt – die Personalisierungsstrategien variieren also von Format zu Format.26 Das Thema Personalisierung wird in der Fernsehforschung auch unter genrebzw. formattheoretischen Perspektiven diskutiert, insbesondere vor dem Hintergrund der politikwissenschaftlichen Diskussion zur Personalisierung. Im Mittel-

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Vgl. Meyrowitz (1990a, 207). Bente/Fromm (1997, 20). Habermas (1990, 262). Bente/Fromm (1997, 34). Bente/Fromm (1997, 322f.). Vgl. Bente/Fromm (1997, 326).

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punkt steht hier die Frage, wie politische Aussagen medial vermittelt werden, und welche Auswirkungen sich daraus auf die politischen Entscheidungsprozesse und demokratischen Strukturen ergeben.27 Richtig wird beobachtet, dass der Personalisierungstendenz bei politischer Berichterstattung das Motiv zugrunde liegt, Verständnis zu erleichtern, indem abstrakte Inhalte belebt werden. Die nonverbalen Zeichen der auftretenden Politiker zögen, so CARSTEN BROSDA, die Adressaten zur Beurteilung von Kompetenz-, Sympathie- und damit letztlich Loyalitätsfragen heran. Besonders durch die visuelle Struktur des Fernsehens komme es zum Aufbau emotionaler Beziehungen zu einzelnen Politikern – Personalisierung stehe demnach in einer äußerst engen Verbindung zur Emotionalisierung.28 MORITZ KLÖPPEL erwähnt die Personalisierung im Zusammenhang mit → Infotainment. Das generelle Ziel von Infotainment sei es, die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu wecken und dessen Identifikation mit dem Programm und dem Sender zu bewirken. Die strategischen Gestaltungsmethoden, um dieses Ziel zu erreichen, seien Emotionalisierung, Dramatisierung und Personalisierung.29 Wie genau diese aussehen und welche Wirkung sie konkret haben, bleibt offen. Auch Wegener diskutiert den Zusammenhang von Emotionalisierung und Personalisierung. Sie betrachtet beide Phänomene als Nachrichtenfaktoren – Personalisierung spielt also bei der Auswahl von Nachrichten eine Rolle, gleichzeitig ist für sie damit auch die Art und Weise der Aufbereitung und Präsentation von Informationen von Bedeutung.30 Wieder werden der fernsehspezifische Visualisierungszwang und die allgemeingesellschaftliche Hinwendung zum Privaten für den Personalisierungstrend verantwortlich gemacht, zusätzlich aber auch die in Nachrichtenformaten vorherrschende „Erzählstruktur“, die nach Akteuren verlange.31 So findet Wegener beispielsweise heraus, dass die Zahl der in politischen Magazinen präsentierten politischen Akteure zwischen 1985 und 1998 tatsächlich zunahm, während sich die Länge der O-Töne jedoch verkürzte. Damit hätten sich die Möglichkeiten der Selbstinszenierung für Politiker in politischen Magazinen erheblich eingeschränkt, was auch deren häufigere Auftritte in Unterhaltungssendungen erkläre.32 Zudem seien Politiker als Handlungsträger in politischen Magazinen seltener zu sehen. Insgesamt ergebe dies einen „geringen,

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Vgl. Dörner (2001), Meyer/Ontrup/Schicha (2000) und Schicha/Brosda (2002). Vgl. Brosda (2002, 125). Vgl. Klöppel (2008, 59). Vgl. Wegener (2001, 117). Vgl. Wegener (2001, 119). Vgl. Wegener (2001, 178f. und 181f.).

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aber doch sichtbaren Bedeutungsverlust von Politikern“ bei eigentlich zunehmender Personalisierung, insbesondere im Vergleich zu Laienakteuren.33 Personalisierung finde auch auf der Ebene von Prominentenauftritten statt. Diese erfüllten das Bedürfnis nach Klatsch und Tratsch. Hier gehe es weniger um die Identifikation der Zuschauer mit den Prominenten, sondern um einen Anlass zum Träumen, ja, zum Eskapismus (→ Unterhaltung).34 In Bezug auf die Personalisierung in Filmen referiert HANS-BERND BROSIUS die Dispositionstheorie von DOLF ZILLMANN und JENNINGS BRYANT, die u.a. davon ausgehen, dass die Zuschauer Personen entweder mögen oder nicht und das Unterhaltungserleben dann am größten ist, „wenn für eine positive Person der Film einen positiven Ausgang hat“.35 Das fernsehwissenschaftliche Phänomen der Personalisierung ist eng verwandt mit der rhetorischen Personifikation (griech. prosopopoiía, lat. fictio personae), die seit dem 18. Jahrhundert verstanden wird als die „Darstellung oder Deutung besonders von Abstrakta […] als Wesen, die individuell denken, handeln und wollen können“.36 Schon die klassische Rhetorik kennt diese fingierende Rede in verschiedenen Varianten. Bei Aristoteles ist sie im Kontext der Formen übertragener Redeweisen relevant, die dem Publikum eine Sache in der Gestalt einer anderen Sache (oder eben Person) vor Augen führen und es auf diese Weise emotional involvieren.37 Diese Wurzel der Personalisierung ist in der Fernsehwissenschaft nicht mehr präsent – stattdessen wird, wie dargestellt, auf soziologische oder politikwissenschaftliche Zeitdiagnosen Bezug genommen. Im aktuellen ‚Neue-Medien-Diskurs‘ hat sich die Bedeutung von Personalisierung, insbesondere des englischen Terminus personalization, verändert. Er bezeichnet in diesem Kontext die „capacity of new media […] to meet the needs and desires of its individual users“.38 Der Fokus verschiebt sich also von der Darstellungs- und Präsentationstechnik, die aus den Strukturen eines unidirektionalen Massenmediums erwächst, hin zu einer individualisierten Angebotsstruktur, die viel besser auf die je spezifischen Wünsche und Bedürfnisse der einzelnen Rezipienten einzugehen vermag (→ Interaktivität). Die Tendenz zur Konkretisierung und Individualisierung, die der Personalisierung per se innewohnt, wird hier mit großer Konsequenz auf die durch neue Technologien ermöglichten

33 34 35 36 37 38

Vgl. Wegener (2001, 191). Vgl. Wegener (2000, 53f.). Brosius (2003, 84), vgl. Zillmann/Bryant (1994, 448f.). Hartmann (2003, 810). Aristoteles: Rhetorik, 3,10 1410b10–15, 30–35; vgl. auch Moran (1996, 392). Kennedy (2008, 308).

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Angebotsstrukturen des Mediums übertragen, um die Defizite der klassischen Fernseh-Massenkommunikation auszugleichen. Literatur Aristoteles: Rhetorik. Hrsg. und übers. von Gernot Krapinger. Stuttgart 1999. Bente, Gary / Fromm, Bettina (1997): Affektfernsehen. Motive, Angebotsweisen und Wirkungen. Opladen. Bosshart, Louis (1991): Infotainment im Spannungsfeld von Information und Unterhaltung. In: Medienwissenschaft Schweiz 2, 1–4. Brosda, Carsten (2002): ‚Emotionalisierung‘ als Merkmal medialer Politikvermittlung. Zur Diskursivität emotionaler Äußerungen und Auftritte von Politikern im Fernsehen. In: Christian Schicha / Ders. (Hrsg): Politikvermittlung in Unterhaltungsformaten. Medieninszenierungen zwischen Popularität und Populismus. Münster, 111–133. Brosius, Hans-Bernd (2003): Unterhaltung als isoliertes Medienverhalten? Psychologische und kommunikationswissenschaftliche Perspektiven. In: Werner Früh / Hans-Jörg Stiehler (Hrsg.): Theorie der Unterhaltung. Ein interdisziplinärer Diskurs. Köln, 74–88. Dörner, Andreas (2001): Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft. Frankfurt a.M. Goffman, Erving (1969): Strategic Interaction. Philadelphia. Göttlich, Udo (2001): Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung. Aspekte der Verschränkung von Fernsehproduktion und Alltagsdarstellung. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 10/1, 71–89. Habermas, Jürgen (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt a.M. Hall, Stuart (2002): Kodieren/Dekodieren [1973]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft: Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 105–124. Hartmann, Volker (2003): Personifikation. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen, 810–813. Holly, Werner / Schwitalla, Johannes (1995): Explosiv – Der heiße Stuhl – Streitkultur im kommerziellen Fernsehen. In: Stefan Müller-Doohm (Hrsg.): Kulturinszenierungen. Frankfurt a.M., 59–88. Kennedy, Helen (2008): New Media’s Potential for Personalization. In: Information, Communication & Society 11/3, 307–325. Klöppel, Moritz (2008): Infotainment. Zwischen Bildungsanspruch und Publikumserwartung – Wie unterhaltsam darf Information sein? Marburg.

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Knape, Joachim (2008): Performanz aus rhetoriktheoretischer Sicht. In: Heidrun Kämper / Ludwig M. Eichinger (Hrsg.): Sprache – Kognition – Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung. Berlin, New York, 135–150. Langer, John (1981): Television’s ‚Personality System‘. In: Media, Culture and Society 4, 351–365. Mehrabian, Albert (1971): Silent Messages. Belmont. Meyer, Thomas / Ontrup, Rüdiger / Schicha, Christian (2000): Die Inszenierung des Politischen. Zur Theatralität von Mediendiskursen. Opladen. Meyrowitz, Joshua (1990a): Überall und nirgends dabei. Die Fernseh-Gesellschaft I. Aus dem Amerik. übers. von Michaela Huber. Weinheim, Basel. Meyrowitz, Joshua (1990b): Wie Medien unsere Welt verändern. Die FernsehGesellschaft II. Aus dem Amerik. übers. von Michaela Huber. Weinheim, Basel. Moran, Richard (1996): Artifice and Persuasion: The Work of Metaphor in the Rhetoric. In: Amélie Oksenberg Rorty (Hrsg.): Essays on Aristotle’s Rhetoric. Berkeley, Los Angeles, London, 385–398. Schicha, Christian / Brosda, Carsten (2002): Politikvermittlung zwischen Information und Unterhaltung – Eine Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Politikvermittlung in Unterhaltungsformaten. Medieninszenierungen zwischen Popularität und Populismus. Münster, 7–37. Sennett, Richard (1983): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität [1977]. Aus dem Amerik. übers. von Reinhard Kaiser. Frankfurt a.M. Wegener, Claudia (2000): Wenn die Information zur Unterhaltung wird oder die Annäherung des „factual television“ an das „fictional television“. In: Ingrid Paus-Haase / Dorothee Schnatmeyer / Dies. (Hrsg.): Information, Emotion, Sensation. Wenn im Fernsehen die Grenzen zerfließen. Bielefeld, 46–61. Wegener, Claudia (2001): Informationsvermittlung im Zeitalter der Unterhaltung. Eine Langzeitanalyse politischer Fernsehmagazine. Wiesbaden. Zillmann, Dolf / Bryant, Jennings (1994): Entertainment as Media Effect. In: Dies. (Hrsg.): Media Effects. Advances in Theory and Research. Hillsdale u.a., 437–461.

ZEIT -B ILD -S TRUKTUR

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Z EIT -B ILD-S TRUKTUR Das Fernsehen verfügt über eine komplexe Zeit-Bild-Struktur, die sich in der Regel als eine Mischung unterschiedlicher Zeitmodi in unterschiedlich visualisierter Form präsentiert. Kennzeichnend ist hierfür die Eigenschaft des Televisuellen, eine Art ‚Bilderfließ‘ zu sein,1 das über eine performative Zeitstruktur verfügt, ganz im Gegensatz zum Bild als ‚still‘. Kern der fernsehwissenschaftlichen Diskussion ist vielfach der Punkt, an dem von einem Zeitmodus in einen anderen gewechselt wird – der charakteristische ‚switch‘. Zeitlichkeit lässt sich auch auditiv verstehen, im Fernsehen wird sie jedoch vor allem über die visuelle Schicht des Fernsehtextes greifbar. Die Zeit-Bild-Struktur ist eine Bedingung, die es Fernsehmachern ermöglicht, auf den Zuschauer einzuwirken, da sie die gesellschaftliche Temporalstruktur zu beeinflussen vermag. Konkret kann die spezifische Montage von unterschiedlich vertexteten ‚Zeitlichkeiten‘ auch die unmittelbare Zeitwahrnehmung und das Unterhaltungsempfinden der Adressaten steuern, indem etwa zwischen tempo- und schnittreichen Passagen und entschleunigten Einstellungen gezielt gewechselt wird. Nach LORENZ ENGELL ist es nur dem Fernsehen möglich, die Darstellung des Visuellen zu einem „Zeitganzen“ zu verweben.2 Dieses Zeitganze setzt sich zusammen aus visuellen Komponenten aller Art, auch aus Bildern bzw. Bildsequenzen, die verschiedenen Zeitformen unterliegen. Sie werden laut Engell zu aktuellen „Impressionen“ oder – im Fall der → Wiederholung – zu „Reproduktionen“ sowie „Phantasmata“,3 in denen alles Visuelle und Bildliche auf Zukünftiges verweist. Dies macht das Fernsehen zuvorderst zu einem Zeitmedium, worauf auch RICHARD DIENST mit den Worten NAM JUNE PAIKS verweist: „the fundamental concept of television is time“.4 Dienst folgert daraus, dass die Bilder des Fernsehens zeitlich organisiert sein müssen, und erkennt zwei grundlegende Zeitkonzepte der Ausstrahlung: „Time moves in two directions on television, toward the still and toward the automatic“.5 ‚Still time‘ meint dabei das Aufbrechen von Bewegungen in schnell wechselnde Einzelbilder, ‚automatic time‘ das Einfangen von Bewegungen durch eine einzige Einstellung.6 ‚Still time‘ funktio-

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Vgl. Prase (1997, 94). Engell (1989, 206). Engell (1989, 206). Dienst (1994, 159). Dienst (1994, 159). Dienst (1994, 159f.).

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niert dabei weniger wie eine Fotografie, sondern meint vielmehr den Übergang – von Dienst als „switch“ bezeichnet7 – von einem Einzelbild zu einem anderen, ohne dass sich die Einstellungen zu einem großen Ganzen aufaddieren lassen würden. Jedes Bild hat seine eigene Berechtigung, verschwindet jedoch wieder, so schnell es gekommen ist (→ Flüchtigkeit). Das „instant image“8 der ‚still time‘ wird, so beschreibt es Dienst im Zusammenhang seiner marxistischen Interpretation des Fernsehens, vor allem dann zum Einsatz gebracht, wenn es darum geht, Waren zu präsentieren und möglichst zu verkaufen. ‚Still time‘ sei daher besonders oft in Musikvideos und in der Werbung anzutreffen.9 Televisuelle Ästhetik entwickelt sich laut Dienst durch den Einsatz der Zeit-Bild-Struktur, dabei bilden die Einzelbilder der ‚still time‘ die kleinste Maßeinheit. ‚Automatic time‘ liegt am anderen Ende dieses Zeitrhythmus und beschreibt weniger ein Einzelbild, das aufgenommen wird, als vielmehr die Erschaffung von etwas Visuellem ohne Referenz, bewerkstelligt durch unablässiges Starren der Kamera (→ Monitoring). Dienst nimmt an, dass ‚automatic time‘ vor allem eine auf die Zukunft bezogene Relevanz besitzt: „It is an image waiting for its event to happen“.10 Damit sei ‚automatic time‘ auch die Zeitform des Live-Events (→ Liveness), heute könnte man anfügen, auch von verschiedenen auf Beobachtung basierenden Formaten des → Reality TV. Die Möglichkeit des Übergangs von etwas Visuellem oder von Bildern in ‚still time‘ zu jenen der ‚automatic time‘ liefert ebenfalls der oben bereits erwähnte ‚switch‘, den Dienst an anderer Stelle auch ‚mix‘ nennt. Jedes Bild beginnt oder endet durch einen ‚switch‘, der also jeweils zwischen den Zeitformen des vorhergehenden, des aktuellen und des folgenden Bildes vermittelt. Dabei hat diese Mittlereigenschaft Auswirkungen auf die Struktur des Fernsehens: „The mix or the switch structures seeing“.11 Im ‚switch‘ liegt die Vorgabe für den Zeitrhythmus der Bilder (→ Umschalten). Rhetorisch gesehen könnte man hier die Möglichkeit zur strategischen Nutzung des Fernsehens und seiner Zeit-Bild-Struktur ins Auge fassen. Über entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten spricht IRENE NEVERLA. Für sie fungiert das Televisuelle als „sozialer Zeitgeber“, der die Zeit der Zuschauer strukturiert. Im Fernsehen herrsche „Laborzeit“.12 Laborzeit bedeutet, dass der zeitliche Ab-

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Dienst (1994, 161). Dienst (1994, 163). Vgl. Dienst (1994, 163). Dienst (1994, 163). Dienst (1994, 161). Neverla (1992, 59) lehnt sich hier an Nowotny (1989, 81 bzw. 94f.) an.

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lauf der Bilder präpariert oder gestaltet werden könne: „Durch Zeitraffer, Zeitlupe, Stillstand und Rücklauf, welche von den Produzenten in den Sendern […] zum Einsatz gebracht werden können, werden die Ereignisse von ihren chronologischen Gestalten getrennt“.13 Bilder und alles Visuelle zerfallen und wirken doch auf das gesellschaftliche Zeitgefühl ein: „Das Fernsehen, so lässt sich resümieren, ist Symptom und Komponente der Temporalstruktur unserer Gesellschaft“.14 Es wirkt nach Neverla darüber hinaus auch als Agens auf die gesellschaftliche Temporalstruktur, indem seine Laborzeit gesellschaftliche Handlungen und Ereignisse zu manipulieren fähig ist. Für Oratoren bedeutet dies, dass sie über die Wirkmächtigkeit von Zeit-Bild-Strukturen mittels Bildselektion und Schnitt auf die gesellschaftliche Zeitwahrnehmung einwirken können – insbesondere dann, wenn sie einen für möglichst viele Adressaten anschlussfähigen ästhetischen Ausdruck für die allgemeine Zeitwahrnehmung finden. Ein Beispiel für einen möglichen Erfolg bietet das Musikfernsehen des Senders MTV in den USA der 1980er und 1990er Jahre. Für die Zuschauer der instantanen visuellen Einheiten und Bilder der auf dem Sender gezeigten Videoclips wurde der Begriff ‚MTV-Generation‘ geprägt. Die hektischen ‚switches‘ der Musikvideos standen Pate für das Lebensgefühl einer ganzen Generation (→ Televisualität). Ein weiteres Beispiel ist die Ästhetik der Liveness und Überwachung im Monitoring-Modus, die sowohl bei Unterhaltungsformaten, wie Big Brother, als auch in Polizei-Formaten zum Ausdruck kommt und damit die allgegenwärtige Überwachungserfahrung fernsehspezifisch aufbereitet und zu Unterhaltungszwecken umformt. Literatur Dienst, Richard (1994): Still Life in Real Time. Theory after Television. Durham, London. Engell, Lorenz (1989): Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens. Frankfurt a.M. Neverla, Irene (1992): Fernseh-Zeit. Zuschauer zwischen Zeitkalkül und Zeitvertreib. Eine Untersuchung zur Fernsehnutzung. München. Nowotny, Helga (1989): Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. Frankfurt a.M. Prase, Tilo (1997): Das gebrauchte Bild. Bausteine einer Semiotik des Fernsehbildes. Berlin.

13 Neverla (1992, 70). 14 Neverla (1992, 74).

3. Adressatenorientierte Dimension

Der dritte Teil dieses Buches betrifft die pragmatische Dimension, d.h. die Etablierung des kommunikativen Kontaktes zwischen Oratorinstanz und Adressaten. In der Rhetorik ist das Medium besonders wichtig als Operateur, etwa zur Herstellung von Oratorpräsenz oder zur Adressierung der Zuschauer mittels Text. Ohne diese situationsbezogene Dimension kann sich ein rhetorischer Fall überhaupt nicht erst ergeben. Hierzu zählt auch die Anschlussfähigkeit der medialen Kommunikation an die Lebenswelt der Adressaten. Da das Fernsehen per se nicht interaktiv ist, muss hier mit verschiedenen Operationen der Simulation von situativer Kommunikation und Interaktion gearbeitet werden (siehe hierzu das berühmte fernsehtheoretische Konzept der → parasozialen Interaktion). Dem dient beispielsweise auch die fernsehspezifische Darstellung der Oratorinstanz als → Persona oder die Involvierung der Zuschauer etwa über → Emotionalisierung oder → Unterhaltung. Dies alles hängt eng mit dem relativ großen Illusionismus und der großen Suggestivkraft zusammen, die zum Leistungspotential des Fernsehens und seiner Texturen gehören und die bei konzentrierter Betrachtung, aber auch bei einer Rezeptionshaltung der → Zerstreuung eine Art von Erlebnis schaffen können, das mit unseren alltäglichen Erfahrungsweisen auf dem Weg illusionistischer Realitätseffekte kongruent zu werden vermag und somit einen über das Fernsehen geschaffenen Kommunikationsraum erst eigens möglich macht.

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AKTUALITÄT ‚Aktualität‘ ist eine Kategorie, die die Referenz eines Fernsehtextes und des an ihn geknüpften Adressatenerlebens nach temporalen und thematischen Kriterien bestimmt. Aktualität lässt sich in diesem Sinn als Gegenwärtigkeit, Jetzt- oder Neuheit begreifen. Das Fernsehen strebt danach, die Zeit zwischen Ereignis sowie medialer Verarbeitung und Ausstrahlung zu verringern, um aktuell und thematisch gesehen besonders authentisch zu sein. Fluchtpunkt dieses ‚Aktualitätsparadigmasʻ ist die Live-Übertragung (→ Liveness). Das verkürzte Zeitintervall bedingt jedoch auch eine kürzere Reaktionszeit des Zuschauers gegenüber den Informationsangeboten. Den Adressaten wird die Möglichkeit genommen, sich intensiv mit dem Gezeigten auseinanderzusetzen; sie müssen sich an die Geschwindigkeit des Fernsehens anpassen. Umgekehrt müssen die Fernsehmacher darauf achten, dass sie die Zuschauer in diesem Sinne nicht zurücklassen. Rhetorisch gesehen ist die Aktualität ein wesentlicher Faktor beim MedienAppeal des Fernsehens. Sie verringert die Widerständigkeit des Mediums (insbesondere die zeitliche Entkopplung der Kommunikationssituation) und konturiert es gleichzeitig als zeitgemäßes journalistisches Medium. Als kommunikative Leistungskomponenten stellen Aktualitätspflege oder gar Aktualitätsvorsprung in der Konkurrenz mit anderen Medien erstrangige Persuasionsfaktoren für einzelne Sender dar. Das gilt besonders dann, wenn eine kompetent begleitete Aktualität angeboten wird. Oratoren, die um die aktuelle Ausstrahlung des von ihnen erzeugten Medienereignisses wissen, können diesen Umstand rhetorisch ausnutzen (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme). Jedoch, und darauf weist die Forschung unisono hin, kann dieses Potential in einen Aktualitätszwang umschlagen, der den Fernsehoratoren die eigentlich notwendige Reflexions- und Bearbeitungszeit nimmt und mithin auch ihren rhetorischen Handlungsraum beschneidet. Im Grunde geht es für Fernsehoratoren also darum, die richtige Balance zwischen schneller und reflektierter Berichterstattung zu finden. In nichtjournalistischen Formaten lässt sich Aktualität als ‚Zeitgemäßheit‘ auslegen, die es den Zuschauern erlaubt, das Gesehene mit ihrer unmittelbaren, lebensweltlichen Gegenwart zu verbinden. Zunächst einmal ist es wichtig, zwischen Aktualität und Liveness zu differenzieren, da die Begriffe oft in einem Atemzug genannt werden. Während Liveness ein basales fernsehrhetorisches Potential darstellt, das in sehr vielen Fernsehformaten zur Entfaltung gebracht werden kann, bezieht sich die Aktualität in erster Linie auf journalistische Formate. Mit OTTO GROTH kann Aktualität neben Periodizität, Universalität und Publizität als eine der vier publizistischen Leitgrößen

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verstanden werden. Bei Groth ist zu lesen: „Aktuell hat eine doppelte Bedeutung: Es bedeutet sowohl wirklich, tatsächlich, wirksam geschehend (Gegensatz: potentiell-möglich, vermögend, der Möglichkeit, der Kraft nach vorhanden, mittelbar oder in Verborgenheit wirkend), als auch gegenwärtig, jetzig, zeitgemäß, eine Tagesfrage seiend, neu.“1 Interessant ist hier insbesondere die Verbindung zum ‚tatsächlichen‘ Geschehen oder auch zur actual world im Gegensatz zur possible world der Fiktion. Groth konzentriert sich jedoch stärker auf die zweite Bedeutung und fährt fort: „Aktualität bezeichnet in ihr [der Zeitungswissenschaft] die Eigenschaft und Aufgabe der Zeitung, Aktuelles, also Gegenwärtiges, Jetziges, Zeitgemäßes, Neues zu bieten, zu vermitteln. Aktuell ist aber nicht identisch mit neu. Aktualität ist an sich ein reines Zeitverhältnis“.2 Dies liefert einen wichtigen Hinweis: Bei der Bestimmung von Fernseh-Aktualität muss es um ein Zeit-Intervall gehen, das zwischen Ereignis und Medialisierung liegt – trotz oder gerade wegen der Fähigkeit des Mediums zur Gleichzeitigkeit von Ereignis und Ausstrahlung. Diese Zeitspanne wird von ANDREW HOSKINS als „time-lag“3 bezeichnet. Aktualität in der Fernsehausstrahlung liegt vor, wenn der „time-lag“ möglichst gering ist, „gegen Null“ tendiert,4 nicht jedoch bei Null liegt. Liveness kann demnach als „Fluchtpunkt des Aktualitätsjournalismus“ angesehen werden, „den dieser jedoch per definitionem nie erreicht, ohne seinen Charakter nachhaltig zu verändern.“5 Im Fernsehen herrsche ein „Aktualitätsparadigma“ vor, so KLAUS PLAKE.6 Selten wird dies jedoch so neutral ausgedrückt. Deutlich häufiger ist von „Aktualitätszwang“,7 vom „Prinzip rigider Aktualisierung“8 oder vom „Druck der Aktualität“9 die Rede, der nach HELGA NOWOTNY mit einer elementaren Erfahrung von Zeitmangel und Zeitnot einhergehe. So kann der Satz „Jede Entscheidung, die getätigt wird, ist eine zerstörte Möglichkeit“10 problemlos auf die Entscheidungsprogramme von Fernsehjournalisten angewandt werden. Ein langsamer Journalismus sei „geradezu undenkbar“, so Nowotny weiter. „Der Zeitpunkt

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Groth (1960, 171). Vgl. zu diesem Zusammenhang, wenn auch nicht immer überzeugend, Hagen (2013). 2 Groth (1960, 171). 3 Hoskins (2001, 215). 4 Neverla (1992, 67). 5 Ulrich (2012, 141). 6 Plake (2004, 74). 7 Engell (1996, 135). 8 Großklaus (1994, 50). 9 Nowotny (1994, 17). 10 Nowotny (1994, 22).

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der Aktualität überschattet alles, was Journalisten tun, und ihre Arbeit ist auf beinahe stündlichen Konsum abgestellt. Die Zeitlichkeit der Nachrichtenherstellung und Übermittlung war immer schon auf die Zeitlichkeit der Börsenkurse und des nicht abreißenden Flusses von scheinbar wenig zusammenhängenden Ereignissen abgestellt.“11 Die ‚Zeit-Zwangsjacke‘, in der sich Fernsehjournalisten demnach befinden, wird als rhetorischer Widerstand beschrieben, der in den Worten JOAN K. BLEICHERS „wenig Reflexions- und Bearbeitungsmöglichkeiten“ bietet und im Golfkrieg 1991 zu einer regelrechten „Fast-Food-Berichterstattung“ geführt habe.12 Der Nachrichten-Ticker kann hier als eine besondere Form von Aktualität betrachtet werden, weil sich in ihm selbst ein Telegrammstil verwirklicht, der eine Zeitverkürzung zum Ausdruck bringen soll. Doch nicht nur die Produktionsbedingungen unterliegen der Beschleunigung, die fernsehspezifische → Flüchtigkeit tut noch ihr Übriges, indem sie bei der Betonung des Immer-Neuen ein Innehalten, Hängenbleiben oder Nachsinnen unmöglich macht.13 Hoskins bestätigt diese Sichtweise: „time is not afforded to dwell on the moment, without being drawn into the next“.14 Das Fernsehen spannt den Zuschauer ein, reißt ihn vom einen Ereignis ins andere. Um mit PIERRE BOURDIEU zu sprechen: Durch extrem gesteigerte Aktualität erteilt es nur „fast-thinkers“ das Wort, „Denkern, die, wie ein gewisser Westernheld, schneller schießen als ihr Schatten“.15 Der Wettlauf um den scoop, die Exklusivmeldung, sei ein Resultat dessen, dass sich die → Quote quasi auf die Zeitachse übertrage.16 Als permanente Dringlichkeit regiert die Aktualität das fernsehjournalistische Schaffen und stellt damit so etwas wie eine televisuelle Artikulation der modernen Zeiterfahrung der Beschleunigung dar.17 Medienhistorisch besehen ist die Aktualität ein temporaler Faktor, der die Möglichkeiten des Fernsehens von Anfang an vom Kino unterschied. In seiner Fähigkeit, die zeitliche Distanz zwischen Ereignis und Ausstrahlung möglichst gering zu halten, hat das Fernsehen einen Vorsprung gegenüber dem Kino, wie HEINZ SCHWITZKE bereits 1953 feststellte: „Niemals wird das Fernsehen soviel Herstellungszeit zur Verfügung haben wie der Film. Seine Gebundenheit an Aktualität wird es vielfach zwingen, auf Film zu verzichten. Und seine besondere

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Nowotny (1994, 14). Bleicher (1999, 164). Vgl. Neverla (1992, 71). Hoskins (2001, 215). Bourdieu (1998, 39). Bourdieu (1998, 37). Zur Beschleunigung siehe Rosa (2005, bes. 311–329).

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Eigenart, die erst in der Spontanität recht zum Ausdruck kommt, wird es dazu bringen, auch technisch wohl oder übel eigene Wege zu gehen.“18 Auch wenn Schwitzke mit seiner Prophezeiung auf lange Sicht nicht richtig lag – man denke nur an die aufwendigen Produktionen von Qualitätsserien heutzutage, bei denen Personal und Maßstäbe eingesetzt werden, die ursprünglich nur mit dem Kino in Verbindung gebracht wurden –, so ist die Orientierung des Fernsehens an der „zeitlichen Nähe“19 eine Konstante, die in den unterschiedlichen Zeitaltern des Fernsehens immer wieder neu umgesetzt wurde. IRENE NEVERLA sieht das Fernsehen in ihrer Monographie Fernseh-Zeit als „Symptom, Komponente und Agens der Temporalstruktur unserer Gesellschaft“ an.20 Die publizistische Dimension der Aktualität löse sich im Fernsehen zunehmend in der „Nullzeit“ auf – ein Begriff Nowotnys, der dafür steht, dass das Aktualitäts-Intervall im Fernsehen gegen Null tendiere.21 Wenn Aktualität ursprünglich eine metrische Größe darstellte, die sich in Intervallen bemessen ließ, so sei sie durch das elektronische Medium Fernsehen immer mehr zur Liveness umgewandelt worden. Dies ist nach Neverla die eine Dimension der Aktualität. Die andere betont an der Aktualität eher den Nachrichtenfaktor der Relevanz. Die Bedeutung, welche die Fernsehzuschauer einem in faktualen Formaten des Fernsehens dargestellten Ereignis gäben, sei dann etwa messbar an der „Involviertheit der Betroffenheit“ und dem „Einbezug der Geschehnisse in das soziale Handlungsfeld der Rezipienten“.22 Daraus lässt sich schließen, dass Aktualität keine rein temporale Größe ist, sondern auch auf anderen Ebenen unmittelbar mit der Lebenswelt der Fernsehzuschauer verknüpft ist und durch unmittelbare Anschaulichkeit und Anschlussfähigkeit überzeugen kann. Plake hebt die Live-Aufnahme als Ideal und Ziel des Aktualitätsparadigmas hervor. Für ihn stellt die Aktualität der Fernsehübertragung weniger eine akute Handlungsaufforderung an den Zuschauer dar, vielmehr strebe das Fernsehen danach, „Informationen in einem originären Zustand“ auszustrahlen, „gewissermaßen mit dem Stempel des Ereignisses selbst“. Je aktueller also ein Ereignis

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Vgl. Schwitzke (1953, 15). Neverla (1992, 67). Neverla (1992, 60). Neverla (1992, 59). Neverla (1992, 67). Dazu passt auch die Definition Klaus Mertens (1973, 219), die ebenfalls nicht mehr die temporale Dimension betont: „Aktualität eines Ereignisses ist die Aufmerksamkeit, die diesem Ereignis zugewendet wird.“

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übertragen werde, desto authentischer erscheine die Ausstrahlung.23 Freilich führt dies innerhalb der Sender zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit aktuellen Ereignissen gegenüber. LORENZ ENGELL spricht in diesem Zusammenhang von einer „Kompressionsentwicklung“,24 also einer Verdichtung der Häufigkeit von Fernseh-Ereignissen. Da Neuigkeiten sofort durch weitere Neuigkeiten ersetzt würden, ziehe diese Kompressionsentwicklung nach sich, dass Fernsehereignisse ihres „Ereignischarakters beraubt“ würden.25 Laut Nowotny ist die Vorstellung einer Dekonstruktion von Zeitlichkeit durch Aktualität eine Folge postmoderner Medientheoretiker: „Die durchgängige These, obwohl unterschiedlich stark zwischen den bekanntesten Autoren der postmodernen Medientheorie akzentuiert, geht von der medialen Modifikation beziehungsweise Destruktion der Zeitlichkeit im Sinne einer tiefgreifenden Destabilisierung der zeitlichen Grundverfassung aus“.26 Diese Dekonstruktion durch Aktualität hat nach Nowotny Auswirkungen auf die → Konstruktion von Wirklichkeit beim Fernsehen. Weil sich das Fernsehen in seiner Zeitform an punktuellen Medienereignissen orientiere und möglichst alle Geschehnisse sichtbar machen wolle, herrsche stets Zeitnot im Fernsehen, die sich wiederum auf den Zuschauer auswirke. STEPHEN HEATH sieht, ähnlich wie Engell, in dieser Entwicklung die Gefahr, dass Ereignisse und historische Geschehnisse so schnell wie möglich verarbeitet und dann vergessen werden.27 Mit Neverla lässt sich ergänzen, dass durch das Aktualitätsparadigma die „Einmaligkeit des Ereignisses verschwimmt“. Gleichzeitig betont sie aber auch, dass aktuelle Ereignisse durch das Fernsehen „doch zyklisch wieder aufbereitet“ werden und das Material „der Wiederholung verfügbar gemacht“ werde (→ Wiederholung).28 Heath und Neverla verweisen somit auf ein die Aktualitätsdiskussion prägendes Spannungsverhältnis zwischen Geschichte und Aktualität in den Fernsehtexten. Das Fernsehen sei, wie Hoskins feststellt, „temporally messy“,29 also in seiner Zeitform grundsätzlich ungeordnet. Doch gerade wenn es so aktuell wie möglich sein wolle, erschaffe es augenblicklich Geschichte, die jedoch nur flüchtig und simuliert erscheine: „Televisi-

23 Plake (2004, 74). Er erachtet diese Authentizität jedoch nur als gespielt und geht davon aus, dass im Fernsehen gezeigte Ereignisse durch es selbst manipuliert worden sind (vgl. Plake 2004, 77–83). 24 Engell (1996, 135). 25 Engell (1996, 139). 26 Nowotny (1994, S. 17f.). 27 Vgl. Heath (1990, 278f.). 28 Neverla (1992, 68). 29 Hoskins (2001, 216).

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on trivializes the present and creates, if anything, an ephemeral and ultimately simulated instant history“.30 Daher postuliert Hoskins für die von ihm hauptsächlich hinsichtlich der Aktualitätsfrage untersuchten Nachrichtensendungen als Zeitform eine Kategorie Nowotnys, die ausgedehnte bzw. „erstreckte“ Gegenwart.31 Er plädiert dafür, nicht nur auf den Faktor Liveness zu achten, sondern vielmehr das Zusammenspiel der verschiedenen Zeitformen, etwa via Wiederholung, in den Vordergrund zu rücken.32 Die Gegenwart des Fernsehens wird nach Engell, thematisch an Hoskins’ „time-lag“ anknüpfend, bestimmt durch die Gestaltungsmöglichkeiten von Regisseuren von Live-Sendungen und Machern von Beiträgen, durch die „Mechanismen, nach denen die Bilder ausgewählt werden und zu Sendungen zusammengestellt werden“.33 Er verwirft jedoch die von NEIL POSTMAN ins Spiel gebrachte Vorstellung, die Fernsehtexte könnten „ausschließlich im Modus der Gegenwart operieren, aber sich nicht auf Vergangenes beziehen“,34 indem er ebenfalls das Zusammenspiel von Zeitformen als den sowohl die medialen Texte wie auch den Zuschauer prägenden Faktor bestimmt: „Das Fernsehen korrespondiert nicht nur mit einem Wahrnehmungs-, sondern auch mit einem Vorstellungsbewußtsein, in dem vergangene und aktuelle Elemente sich untrennbar beeinflussen“.35 Aktuelles und Vergangenes würden dem Zuschauer über visuelle Markierungen vermittelt, wobei erstaunlicherweise „das Markierungsprinzip weniger ein Hinzufügen zu sein scheint denn ein Weglassen, nämlich der Verlust visueller Aktualität. Nicht die Vergangenheit bekommt einen visuellen Stempel, sondern das jeweils aktuelle Bild wird so gestaltet, daß es als aktuell, als modisch usw. erkennbar wird, als das Neueste“.36 Erst durch das Fehlen solcher Markierungen lasse sich das Vergangene als solches erkennen. Die Aktualität des Fernsehens bietet Oratoren die Möglichkeit zu zeigen, dass sie auf der Höhe der Zeit sind und schnell auf Ereignisse reagieren und diese den Zuschauern präsentieren können. Damit kann es zu Erfahrungen von zeitlicher Nähe kommen, die nicht mit der Erfahrung von Liveness gleichzusetzen sind. Zwischen Ereignis und Ausstrahlung (um im journalistischen Paradigma zu bleiben) liegt zumindest ein kurzes temporales Intervall, das Reflexion und Be-

30 Hoskins (2001, 214). 31 Vgl. Nowotny (1990, 47–76, bes. 52). Hoskins (2001, 215) nennt die Zeitform, nach der englischen Übersetzung Nowotnys, „extended present“. 32 Hoskins (2001, 215 und 230). 33 Engell (1989, 196). Engell bezieht sich mit dieser Feststellung auf Umberto Eco (1977, 186–211). 34 Engell (1989, 192). Vgl. Postman (1985, 167f.). 35 Engell (1989, 193). 36 Engell (1989, 204).

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arbeitung ermöglicht, wo bei der Live-Übertragung nur Antizipation und spontane Improvisation möglich sind (sofern keine vorgeplante Choreographie umgesetzt wird). Da die allgemein für die Moderne konstatierte Beschleunigungstendenz wie auch der Wettstreit der verschiedenen Fernsehsender untereinander sowie die Konkurrenz durch das Internet jedoch dazu führen, dass sich das ‚Aktualitätsintervall‘ immer stärker verkürzt, ist der Reflexions- und Bearbeitungsraum eine schwindende Größe, die sich Fernsehoratoren immer wieder neu erkämpfen müssen. Es gilt also, die rechte Balance zwischen nötigender Aktualität und ermöglichender Reflexion zu finden. Als Lösung bietet die Fernsehforschung die Möglichkeit an, die zeitliche Unordnung des Fernsehens auszunutzen und Zeit-Mischformen auszustrahlen. So kann man sich aus der ‚Zeit-Zwangsjacke‘ befreien. Die Aktualität dient außerdem dazu, den Fernsehzuschauern Anschlussmöglichkeiten zu bieten, das im Fernsehen Gezeigte in ihre unmittelbare Lebenswelt zu integrieren. Gerade wenn es um nicht-journalistische Formate geht, kann der Bezug auf den Zeitgeist den Aktualitätsdruck in ganz anderer Form erwidern und die Fernsehzuschauer davon überzeugen, dass sie ein Medium nutzen, das trotz großer Veränderungen und Konkurrenz durch das Internet ganz auf der Höhe der Zeit ist. Literatur Bleicher, Joan (1999): Fernsehen als Mythos. Poetik eines narrativen Erkenntnissystems. Hamburg. Bourdieu, Pierre (1998): Über das Fernsehen. Aus dem Franz. von Achim Russer. Frankfurt a.M. Eco, Umberto (1977): Zufall und Handlung. Fernseherfahrung und Ästhetik. In: Ders.: Das offene Kunstwerk. Übers. von Günter Memmert. 2. Aufl. Frankfurt a.M., 186–211. Engell, Lorenz (1989): Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens. Frankfurt a.M. Engell, Lorenz (1996): Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung: Ereignis und Erwartung. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 5/1, 128–153. Großklaus, Götz (1994): Medien-Zeit. In: Mike Sandbothe / Walther Ch. Zimmerli (Hrsg.): Zeit, Medien, Wahrnehmung. Darmstadt, 36–59. Groth, Otto (1960): Die unerkannte Kulturmacht. Grundlegung der Zeitungswissenschaft (Periodik). 7 Bde. Bd. 1: Das Wesen des Werkes. Berlin. Hagen, Wolfgang (2013): Das Ende der Aktualität. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 67/4, 305–316.

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Heath, Stephen (1990): Representing Television. In: Patricia Mellencamp (Hrsg.): Logics of Television. Essays in Cultural Criticism. Bloomington, 267–302. Hoskins, Andrew (2001): Mediating Time. The Temporal Mix of Television. In: Time & Society 10/2–3, 213–233. Merten, Klaus (1973): Aktualität und Publizität. Zur Kritik der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik 18, 216–235. Neverla, Irene (1992): Fernseh-Zeit. Zuschauer zwischen Zeitkalkül und Zeitvertreib. Eine Untersuchung zur Fernsehnutzung. München. Nowotny, Helga (1990): Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls. 3. Aufl. Frankfurt a.M. Nowotny, Helga (1994): Das Sichtbare und das Unsichtbare: Die Zeitdimensionen in den Medien. In: Mike Sandbothe / Walther Ch. Zimmerli (Hrsg.): Zeit, Medien, Wahrnehmung. Darmstadt, 14–28. Plake, Klaus (2004): Handbuch Fernsehforschung. Befunde und Perspektiven. Wiesbaden. Postman, Neil (1985): Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Aus dem Amerik. von Reinhard Kaiser. Frankfurt a.M. Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M. Schwitzke, Heinz (1953): Drei Grundthesen zum Fernsehen. In: Rundfunk und Fernsehen 1/2, 9–17. Ulrich, Anne (2012): Umkämpfte Glaubwürdigkeit. Visuelle Strategien des Fernsehjournalismus im Irakkrieg 2003. Berlin.

ALLTÄGLICHKEIT Unter medientheoretischer Perspektive bezeichnet Alltäglichkeit des Fernsehens zunächst die Situiertheit des Mediums in der alltäglichen „Lebenswelt“ (EDMUND HUSSERL, ALFRED SCHÜTZ) der Mediennutzer. Rezeptionstheoretisch gesehen verbindet sich daran anknüpfend mit dem Konzept ‚Alltäglichkeit‘ die Fernseh- und Verhaltensroutine der Zuschauer in ihrem häuslichen Umfeld. Dieser „Sitz im Leben“ in Form einer everyday-life-Integration ist bedingt durch die spezifischen technischen Möglichkeiten des nicht mehr zwingend standortgebundenen Fernsehgeräts bei der Rezeption sowie durch bestimmte Angebote der medialisierten Sendungsformate und Fernsehtexte. Thematisch kann sich Alltäglichkeit gemäß bestimmter Formatvorgaben etwa auf die Darstellung von Tätig-

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keiten des Alltags, von häuslichen oder anderen privaten Aktivitäten bzw. von trivialen Geschehnissen ohne politische oder wirtschaftliche Relevanz beziehen. Solche Angebote werden als Schnittstellen zur alltäglichen Lebenswelt wahrgenommen und führen ihrerseits bei den Nutzern wiederum zu Resonanz- oder Rückkopplungseffekten (etwa der Übernahme von Normen oder Verhaltensmustern aus den Sendungen ins alltägliche Leben). Der rhetorische Effekt des Alltäglichkeitsphänomens ist für die Strategien der Fernsehmacher von Bedeutung. Sie können davon ausgehen, dass das Medium gewohnheitsmäßig akzeptiert ist und auf diese Akzeptiertheit spezifischere Kalküle aufsetzen. Alltäglichkeit im Umgang mit dem Medium zieht nämlich einen entsprechenden Medien-Appeal nach sich (technische Vertrautheit, Zuschreibung von Sinnhaftigkeit an die Textangebote usw.),1 der vonseiten der Fernsehmacher gezielt ausgenutzt werden kann. Die Wertzuschreibung beruht darauf, dass die Adressaten das Medium für nützlich und als ihrem routinehaften Leben angepasst erachten. Bedingung ist freilich, dass die → Programmstruktur immer wieder auch auf eine genau kalkulierte Abholrhetorik setzt. Es muss genügend → Formate geben, die die Auseinandersetzung des Fernsehens mit dem Alltagserleben und den Alltagserwartungen der Adressaten angemessen bewältigen. Angemessen heißt, dass die Adressaten die Textangebote für sich als integrierbar einschätzen, auch als Solidarisierungsangebote verstehen können sowie als Ausdruck von Respekt gegenüber ihrer alltäglichen Lebenswelt, d.h. dass man ihre in der Regel unspektakuläre Lebenswirklichkeit akzeptiert und schätzt. Auf Ebene der lizenzkommunikativen Formate und Fernsehtexte stellt das Thema ‚Alltäglichkeit‘ die Fernsehmacher vor bestimmte Gestaltungsprobleme (Verbindung von Realismuspostulat und ästhetischen Anforderungen). Um der aus dem Themenzusammenhang heraus drohenden Banalisierung entgegenzuwirken, ist bei vielen Formaten Kreativität gefordert (→ Unterhaltung), denn „das Fernsehen unterhält seine Zuschauer mit alltäglichen Begebenheiten, denen es einen außeralltäglichen Rahmen“ verleihen muss (ANGELA KEPPLER).2 Aus Sicht der Popularkulturtheorie ist rhetorisch relevant, dass sich in entsprechenden Formaten durchaus auch sozialkritisches Potential aufbauen lässt. Die everyday-life-Situiertheit des Mediums manifestiert sich während der Leitmediumsphase des Fernsehens (zwischen 1950 und 2000) materiell und symbolisch im Fernsehgerät. Es wird zum greifbaren technischen Exponenten der an-

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Zur Medienwertelehre siehe Klotz (2005). Keppler (1994, 8).

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sonsten hoch komplexen technischen Seite des Mediums Fernsehen.3 Im alltäglichen Leben der Fernsehnutzer steht das Gerät als haptisch erfahrbare Verkörperung metonymisch für das Medium als solches. Der Fernseher, wie man im Deutschen sagt, wurde zum Hass- und Kultobjekt zugleich, aber eben auch zum ganz alltäglichen Haushaltsgerät.4 „Zu diesen nützlichen Dingen des Alltags“, schreibt LOTHAR MIKOS, „zählt natürlich auch der Fernseher, weniger als Einrichtungsgegenstand denn als Gerät, aus dem Töne und Bilder kommen, mit denen wohlmeinende Zeitgenossen etwas anfangen können. Das Fernsehen und seine Inhalte können zu verschiedenen nützlichen Dissonanzreduktionen eingesetzt werden, z.B. zur Information, zur Unterhaltung, zur Zerstreuung etc., aber z.B. auch, um andere Kommunikation vor dem Gerät im trauten Familienkreis zu verhindern.“5 (→ Zerstreuung) Mit Blick auf die Wohnraumgestaltung im privaten Leben lautete lange Zeit, so LYNN SPIGEL in ihrer Analyse von Wohnund Haushaltsmagazinen, „die wichtigste Frage“: ‚Wo soll der Fernsehapparat hin?‘6 Diese Integration in die Privatsphäre verlief freilich nicht reibungslos. So wurde in der Leitmediumsphase des Fernsehens die „Beziehung zwischen Familie und Maschine“7 durchaus problematisiert. Spigel weist zudem darauf hin, dass das Fernsehen zunächst auch als eine weitgehend unmännliche, eben domestizierte und hauptsächlich passive Tätigkeit diskutiert wurde, die Männer ihrer Macht beraube.8 Und so kann die Zeitschrift House Beautiful (ein Pendant zur deutschen Zeitschrift Schöner Wohnen) im Jahr 1951 schreiben: „Das Fernsehen ist ein Familienmitglied geworden.“9 Die kulturelle Rolle des Apparats in dieser Phase der Fernsehgeschichte hat MARSHALL MCLUHAN mit seiner Lagerfeuer-Allegorie am eindrücklichsten auf den Punkt gebracht. Das Fernsehgerät als greifbarer technischer Exponent des Mediums ist demnach das neue Lagerfeuer im globalen Dorf, um das sich die Familien und sonstige Menschengruppen versammeln, um die Leistung des Mediums zu nutzen: „Fernsehen macht alle Ereignisse im globalen Dorf simul-

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Achenbach (1982, 52–54). Zur Ablehnung des Fernsehens bei Baudrillard siehe Knape (2006); zur Ablehnung in Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren vgl. die Kapitel „Fernsehen und Alltag“, „Fernsehen und Sucht“, „Fernsehen und Lebensunfähigkeit“ sowie „Fernsehen und Pessimismus“ bei Klotz (2010, 287–295). Mikos (2001, 61). Spigel (2002 [1990], 219). Spigel (2002, 227). Vgl. Spigel (2002, 237–243) und Engell (2012, 113). Spigel (2002, 231); vgl. auch Engell (2012, 111–114).

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tan.“10 (→ Liveness) Auch unter den neuen technischen Bedingungen des Fernsehens im Internetzeitalter können diese und andere spezifischen kommunikativen Leistungskomponenten des Fernsehens erhalten bleiben. Allerdings tritt in der Folge die Rolle des traditionell situierten Fernsehgeräts als statisch positionierter Apparat immer weiter zurück. Insofern löst sich auch die mediale Symbolvorstellung vom Fernseher als einer Art Möbel in den Wohnräumen der Menschen ab. Gerade die auffällige Präsenz des Geräts in der alltäglichen Lebensumwelt aber hat schon die frühe Fernsehforschung unter der everyday-life-Perspektive inspiriert und herausgefordert. Entsprechende kultursoziologische Untersuchungen nahmen ihren Ausgang vom amerikanischen Mittelstandsheim in den weißen Suburbs Amerikas. Wenn JOSHUA MEYROWITZ 1985 „the impact of electronic media on social behaviour“ untersucht, dann geht er von einer Abtrennung der privaten „domestic sphere“ in den Vorstädten von der sozialen Außenwelt aus. Seine Befunde bestätigen letztlich McLuhan: „Television, and other electronic media bring [the hostile society of the outer world] into the home and change both the public and domestic spheres.“11 ROGER SILVERSTONE sieht dann 1994 die Alltäglichkeit des Fernsehens fest mit dem amerikanischen „home“ als Ort des alltäglichen Lebens verbunden. Hier kristallisiert sich für ihn das everyday-life-Konzept, wie er in seinem Kapitel „Television and a place called home“ mit Abschnitten wie „Home“, „Family“, „Household“ und „The Domestic“ schreibt.12 Dies ist eine Reduktion der ursprünglich durchaus komplexen Vorstellung von Alltäglichkeit, die angesiedelt ist zwischen den Handlungsfeldern Arbeit, Familienleben und Freizeit des Menschen, so der französische Sozialtheoretiker HENRI LEFEBVRE in seiner Critique de la vie quotidienne von 1947.13 Die auf die Wohnräume der Fernsehnutzer konzentrierte Betrachtungsweise wurde im Lauf der Zeit mit der Expansion des Medieneinsatzes erweitert. Dementsprechend kann ANNA MCCARTHY von einer Omnipräsenz des Fernsehens in allen Bereichen der alltäglichen Lebensbewältigung ausgehen. Sie schließt die Vorstellung von Alltäglichkeit begrifflich an die Kategorie „public life“ an und erweitert sie damit. Aber auch für sie ist alles im Symbolgegenstand des Apparats, genauer: des Fernsehbildschirms („screen“) gebündelt. 2001 schreibt sie in der Einleitung zu ihrem Buch Ambient Television: „We tend to think of the location of the TV screen as the home, or even the living room, but this book is about

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Carpenter/McLuhan (1960, xi); vgl. Baltes (2005, 73–76). Meyrowitz (1985, 223). Vgl. Silverstone (1994, 24–51). Vgl. Lefebvre (1977, 40).

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television’s presence in the routine locations we move through when we leave the house – the store, the waiting room, the bar, the train station, the airport. These sites of commerce, bureaucracy, and community, constituting the landscape of public life today, are also arenas in which we commonly encounter the television screen.“14 Zu ähnlichen Einschätzungen kommt Mikos, wenn er über die wechselseitige Adjustierung von Medium und Nutzer nachdenkt, die auf eine gegenseitige Abstimmung von Zeitfenster und Alltagsroutinen der Anbieter und der Nutzer hinausläuft. Das Fernsehen richte sich nach den Arbeitszeiten der Menschen mit seinen Programmplätzen, doch auch die Zuschauer richteten ihr Leben nach dem Medienangebot: „In der Nutzung und im Umgang mit dem Fernsehen synchronisieren und synthetisieren die Zuschauer aktiv die institutionellen Zwänge des Fernsehens mit den objektiven Funktionszusammenhängen des eigenen Lebens. Auf diese Weise wird das Fernsehen zu einer alltäglichen Tätigkeit im Rahmen der lebensweltlichen Verweisungszusammenhänge und des kulturellen Kontextes, es wird alltägliche soziale Praxis.“15 Handlungstheoretisch betrachtet ist Fernsehen „alltägliches Handeln in Strukturen, die als immer gleiche erlebt werden. Der objektive Funktionszusammenhang Alltag schafft in der lebensweltlichen, kulturellen Aneignung Vertrauen, er gibt Sicherheit in immer wieder gleichen Abläufen.“16 (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme) Heute muss man hinsichtlich der Einbettung des Fernsehens in die alltägliche Lebenswelt auch noch den Faktor Popularkultur im Sinne JOHN FISKES nennen: „Everyday life is constituted by the practices of popular culture“,17 womit er nicht nur Praktiken meint, die affirmativ sind, sondern auch solche, die einen sozialkritischen Impetus haben.18 Schon 1990 hat STEPHEN HEATH die Frage aufgeworfen: „Can anyone in our societies be outside television, beyond its compulsions?“19 Er beantwortet diese Frage mit seiner Äquivalenz- oder Entsprechungsthese, die in eine Ubiquitätsthese übergeht: Fernsehen ist nahtlos mit dem Alltagsleben verbunden, in all seiner Ausdehnung, in all seinem Ausufern, seiner Instabilität, Nichtabgrenzbarkeit und Allgegenwart. Der hohe Verknüpfungsgrad des Fernsehens mit der Alltagswelt von Bürgern gelingt aufgrund der schon genannten Akzeptiertheit des Mediums. Sie hat ihre Wurzeln in den Programmangeboten. Dazu Heath: „Televi-

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McCarthy (2001, 1). Mikos (2001, 59). Mikos (2001, 65). Fiske (1989, 47). Vgl. auch Silverstone (1994, 160–163). Heath (1990, 283).

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sion and its programs (and this approach sees nothing but programs) are projected as value – as to be valued – because of their everydayness and their popularity (which is here the same thing) in a circle in which the mass existence of something is proof of that value and proof of the validity of its acceptance in the name of the everyday.“20 Für Heath erhält das Fernsehen Einfluss und ordnende Kraft (also Rhetorizität) durch Formate der Darstellung des gewöhnlichen Lebens, die politische und ökonomische Themen und anspruchsvolle Analysen zu verdrängen in der Lage sind: „Everyday life here is once again an alternative to political, ideological analysis, with notions such as ‚complexification‘ replacing ideology and with room then only for ‚minimal resistance‘.“21 Auch LORENZ ENGELL spricht von dem ‚niederformatigen‘ Fernsehen mit Alltagsbindung,22 und Mikos exemplifiziert anhand des Beispiels → Reality TV seine These, dass sich im Fernsehen die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit genauso auflösen wie die Grenzen zwischen Realität und Fiktion.23 Die „Gewöhnlichkeit“ zieht an,24 wirft rhetorische Anker aus, die die Daseins-Ratio des Mediums immer wieder beleben. Diese Ratio steckt im impliziten Appell des Mediums: einschalten, zuschauen, in den Alltag integrieren und nutzen! Das Thema ‚Alltäglichkeit‘ und die entsprechenden Alltäglichkeitsformate spielen nach STANLEY CAVELL eine so große Rolle im Fernsehen und wirken so nachhaltig über größere Zeiträume, weil etwa in den über Dekaden laufenden Soap Operas „der pure Alltag“ Eingang zu finden scheint (man denke nur an die deutsche Lindenstraße), mit seinen „Übergängen und Abgründen des Gewohnten, was vielleicht die Leichtigkeit erklären könnte, mit der Teile ihres Publikums die Figuren (wie es scheint) als ‚wirklich‘ auffassen“.25 Formate, die Alltäglichkeit aufrufen, nehmen – wie Konkurrenzformate in anderer Richtung – eine klare Realitätsselektion vor, die sich inzwischen diversen Milieus zuwendet und insofern verschiedene Lebensteilwelten zu bespiegeln scheint. „Der Authentizitätseindruck entsteht, weil der zugleich inszenierte und gelebte Alltag den Zuschauern bekannt ist, so daß sie sich zu dem Geschehen auf dem Bildschirm in Beziehung setzen können. Dadurch wird es für sie möglich, verschiedene Lebensauffassungen, die in der medialen Inszenierung als authen-

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Heath (1990, 286). Heath (1990, 290). Vgl. Engell (1996, 134f.). Mikos (2000). Schwaab (2010, 315–317). Cavell (2002 [1982], 157).

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tisch erscheinen, kennen zu lernen und zum Gegenstand der eigenen Identitätsarbeit zu machen sowie die Bedeutung des ‚guten Lebens‘ auszuhandeln.“ Nach Mikos können die Zuschauer dabei „die Verhaltensweisen anderer Individuen in den Sendungen studieren und überprüfen, ob diese in ihrem eigenen Alltag zu gebrauchen sind.“26 Für die Nutzer definiert diese Passungsprüfung den Schnittstellenwert in Hinblick auf ihr eigenes alltägliches Leben. Man kann sagen, dass Zuschauer das Fernsehen vielfältig mit ihrem Leben verknüpfen.27 So kann der Vorgang des Fernsehens „als routinisiertes Alltagshandeln“ betrachtet werden, durch das sich auch eine „Möglichkeit der Wirklichkeitsmodulation durch Phantasien und Tagträume“ eröffnet.28 Von ganz besonderer Bedeutung sind dabei die eingangs genannten Rückkopplungseffekte. Das Fernsehen rekurriert aus strategischen Gründen auf den Alltag von Nutzergruppen, und diese rekurrieren ihrerseits dann wieder in ihrem Verhalten und Denken auf die Βeispielangebote der Texte (Handlungsmuster, Modelle, Normen). Alltäglichkeitswahrnehmung erzeugt Identifikation und Rückbindung. Neben der Grenzverwischung von Öffentlichkeit und Privatheit29 ist es also ein weiter gehender Effekt von Formaten, die den Menschen in seiner Alltäglichkeit zeigen, wie etwa dem Reality TV,30 dass das Dargestellte Teil der Realität des Zuschauers wird und dann imitiert werden kann.31 Mikos beschreibt diesen Mechanismus anhand von Sendungen, die in das Alltagsleben der Akteure eingreifen: „Die Interessen, Wünsche, Bedürfnisse und Phantasien der fernsehenden Bevölkerung wurden stärker beachtet. Daraus resultierte eine zunehmende lebensweltliche Orientierung in fast allen Programmbereichen. In der Fernsehunterhaltung kulminierte dies im sogenannten performativen Realitätsfernsehen. Darunter sind Sendungen zu verstehen, die in das Alltagsleben der Menschen eingreifen. In ihnen werden von den Beteiligten soziale Handlungen ausgeführt, die das soziale Alltagsleben der Akteure verändern.“32 Das Fernsehen löst mithin Adaptationen aus. So stimmen mittlerweile nicht nur Durchschnittszuschauer ihren Alltag und ihre Aktivitäten auf das Fernsehprogramm hin ab, sondern nach IRENE NEVERLA sogar gesellschaftliche Institu-

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Mikos (2000, 166). Vgl. Bieger u.a. (1997). Mikos (2001, 63). Vgl. Göttlich (2001, 82). Vgl. Koch-Gombert (2005, 244) für eine Übersicht des Reality TVs im Allgemeinen und Real-Soaps und Doku-Soaps im Besonderen. 31 Siehe auch Kepplers Begriff des performativen Realitätsfernsehens (Keppler 1994, 7– 10). 32 Mikos (2000, 161).

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tionen. „Das Medium Fernsehen wirkt dabei nicht nur als Symptom und Komponente der gesellschaftlichen Temporalstrukturen, sondern auch als Agens in deren Konstruktion. Es synchronisiert und koordiniert mit seiner eigenen Temporalstruktur nicht nur die Eigenzeiten des dispersen Publikums“, sondern auch „die Eigenzeiten diverser Institutionen und ihrer Gebräuche im Bereich von Wirtschaft, Politik und Kultur.“33 MARGARET MORSE sieht die Einbettung des Fernsehens in den Alltag des Menschen noch weiter dimensioniert, für sie geht es nicht nur um das Etablieren von Zeitstrukturen, sondern um einen Waren- und Symbolaustausch mit anderen Systemen (Autobahn und Einkaufszentrum). Alltäglichkeit ist hierbei eine Voraussetzung für Nichtraum und Zerstreuung.34 Literatur Achenbach, Hans-Georg (1982): Fernsehgerät (Funktionsprinzip). In: Helmut Kreuzer (Hrsg.): Sachwörterbuch des Fernsehens. Göttingen, 52–54. Baltes, Martin (2005): Global Village. In: Alexander Roesler / Bernd Stiegler (Hrsg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn, 73–76. Bieger, Eckhard u.a. (1997): Den Alltag erhöhen. Wie die Zuschauer das Fernsehen mit ihrem Leben verknüpfen. Köln. Carpenter, Edmund / McLuhan, Marshall (1960): Explorations in Communications. Boston. Cavell, Stanley (2002): Die Tatsache des Fernsehens [1982]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 125–164. Engell, Lorenz (1996): Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung: Ereignis und Erwartung. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 5/1, 128–153. Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung. Hamburg. Fiske, John (1989): Moments of Television. Neither the Text Nor the Audience. In: Ellen Seiter u.a. (Hrsg.): Remote Control. Television, Audiences and Cultural Power. London, 56–68. Göttlich, Udo (2001): Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung. Aspekte der Verschränkung von Fernsehproduktion und Alltagsdarstellung. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 10/1, 71–89.

33 Neverla (1992, 72). 34 Vgl. Morse (1990, 196).

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Heath, Stephen (1990): Representing Television. In: Patricia Mellencamp (Hrsg.): Logics of Television. Essays in Cultural Criticism. Bloomington, 267–302. Keppler, Angela (1994): Wirklicher als die Wirklichkeit? Das neue Realitätsprinzip der Fernsehunterhaltung. Frankfurt a.M. Klotz, Fabian (2005): Zur Medienwertelehre. In: Joachim Knape (Hrsg.): Medienrhetorik. Tübingen, 41–50. Klotz, Fabian (2010): Hundert Jahre Mediendebatte. Berlin. Knape, Joachim (2006): Virtualität und VIVA-Video World. In: Christoph Jacke / Eva Kimminich / Siegfried Schmidt (Hrsg.): Kulturschutt. Über das Recycling von Theorien und Kulturen. Bielefeld, 207–222. Koch-Gombert, Dominik (2005): Fernsehformate und Formatfernsehen. TVAngebotsentwicklung in Deutschland zwischen Programmgeschichte und Marketingstrategie. Zürich. Lefebvre, Henri (1977): Kritik des Alltagslebens [1947]. Aus d. Franz. von Burkhart Kroeber. Hrsg. von Dieter Prokop. Kronberg i.T. McCarthy, Anna (2001): Ambient Television. Visual Culture and Public Space. Durham, London. Meyrowitz, Joshua (1985): No Sense of Place. The Impact of Electronic Media on Social Behaviour. New York, Oxford. Mikos, Lothar (2000): Big Brother als performatives Realitätsfernsehen. Ein Fernsehformat im Kontext der Entwicklung des Unterhaltungsfernsehens. In: Frank Weber / Kurt Beck (Hrsg.): Big Brother: inszenierte Banalität zur Prime Time. Münster, 161–178. Mikos, Lothar (2001): Fern-Sehen. Bausteine zu einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens. Berlin. Morse, Margaret (1990): An Ontology of Everyday Distraction: The Freeway, the Mall, and Television. In: Patricia Mellencamp (Hrsg.): Logics of Television. Essays in Cultural Criticism. Bloomington, 267–302. Neverla, Irene (1992): Fernseh-Zeit. Zuschauer zwischen Zeitkalkül und Zeitvertreib. Eine Untersuchung zur Fernsehnutzung. München. Schwaab, Herbert (2010): Erfahrung des Gewöhnlichen. Stanley Cavells Filmphilosophie als Theorie der Populärkultur. Münster u.a. Silverstone, Roger (1994): Television and Everyday Life. London, New York. Spigel, Lynn (2002): Fernsehen im Kreis der Familie [1990]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 214–252.

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E MOTIONALISIERUNG Der Begriff ‚Emotionalisierung‘ bezeichnet eine aktiv auf das Hervorrufen von Gefühlen bei Adressaten zielende fernsehrhetorische Strategie. Das Ziel dieser Strategie liegt darin, die Empfangsbereitschaft und Aufmerksamkeit der Adressaten zu stimulieren oder ihnen überzeugende Angebote für die eigene Stimmungsregulierung zu machen. Sie ist als Affekterregungsstrategie von der benachbarten → Unterhaltung als einer schwächeren, vornehmlich ästhetischsinnlich affizierenden Strategie abzugrenzen. Bei der Emotionalisierung erhält das Fernsehen aus Sicht der Adressaten den Charakter einer Gratifikationsinstanz, die das Bedürfnis nach Befriedigung elementarer Emotionsbedürfnisse (als Surrogat oder Ergänzung echten Erlebens) erfüllt. Was die televisuellen Mittel angeht, so scheinen sich bestimmte Fernsehformate zur Befriedigung dieses Bedürfnisses besonders zu eignen. Unter den Realisierungsmitteln hebt die Forschung meist die Visualisierung hervor. Dahinter steckt die Vorstellung, bewegte Bilder (d.h. televisuelle Texte) sprächen (auch starke) Emotionen der Adressaten wesentlich unmittelbarer an als Schrift oder Lautsprache (→ Audiovisualität, → Televisualität). Insgesamt besteht in der Medienforschung Einigkeit darüber, dass ein wesentliches Potential des Mediums Fernsehen im Bereich der Emotionen liegt.1 Ein Fernsehorator kann vor diesem Hintergrund das Medium Fernsehen als Gratifikationsspender anbieten und generell über dessen Texturen Einfluss nehmen auf die emotionalen Bedürfnisse und die Haltung der Adressaten. Damit ist das Fernsehen in der Lage, eine persuasionsfördernde Kraft zu entfalten, die sich gerade auf Stimmungs- und Gefühlserregung stützen kann (besonders wichtig hierbei sind die Konzepte der Identifikation und Empathie). Seitens der Rhetorik sind Emotionen mit handlungsrelevanten Konsequenzen verbunden: „Eine Emotion ist ein psychischer Erregungszustand mit subjektiver Erlebnisqualität jenseits des Reinrationalen und mit messbaren physiologischen Begleiterscheinungen, der die Anziehung und Abstoßung des emotional ergriffenen Subjekts gegenüber bestimmten Phänomenen der Welt beeinflusst.“2 Begrifflich könnte man demgegenüber noch den ‚Affekt‘ als besonders starke Emotion abgrenzen. JOACHIM KNAPE geht davon aus, dass etwa im Fall situativer Gespräche ein wesentlicher Beitrag zum Gelingen der kommunikativen Interventionen auf kognitiver Ebene durch die Stimmung der Gesprächsteilnehmer und die Atmosphäre be-

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Vgl. Bente/Fromm (1997, 41) und Hickethier (2007). Knape (2009, 39); zur aktuellen psychologischen Emotions-Definitions-Debatte siehe Izard (2010).

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dingt wird – was sich auf die fernsehrhetorische Distanzkommunikation übertragen lässt. Es sei darauf hingewiesen, dass Emotionalisierung (die schon in der klassischen, keineswegs überholten Rhetoriktheorie seit ARISTOTELES als ‚Pathos‘ bzw. ‚Affekterregung‘ bezeichnet wird) in der Rhetoriktradition als wichtige flankierende Einstimmungsmaßnahme für die (rationale) Hauptbotschaft angesehen wurde. So kommt CICERO auf der Basis von Beobachtungen der Kommunikationspraxis seiner Zeit zu der Einsicht, dass die Menschen „ja vielmehr aus Haß oder Liebe, Begierde oder Zorn, Schmerz oder Freude, Hoffnung oder Furcht, aus einem Irrtum oder aus einer Regung des Gemüts, als nach der Wahrheit oder Vorschrift, nach irgendeiner Rechtsnorm oder Verfahrensformel oder nach Gesetzen“ entscheiden.3 Im Fernsehen hingegen scheint die Funktion der Emotionalisierung nicht zwingend in der Unterstützung der Hauptbotschaft zu liegen, sondern einen wichtigen Grundstein zu legen für die Etablierung einer kommunikativen Gemeinschaft über die Schwelle des Bildschirms hinweg. Wie aber kann das Fernsehen zu einer solchen Art der ‚Gemütserregung‘ genutzt werden? Und aufgrund welcher Spezifika entfaltet es hierin eine so große persuasive Kraft, dass es sich für die Adressaten einfach ‚richtig anfühlt‘, fernzusehen und immer wieder neu einzuschalten? Die Faszination und Suggestivkraft der fernsehmedial dargestellten Welten lässt sich dazu einsetzen, die Aufmerksamkeit der Adressaten zu erregen und ihre Teilhabe am fernsehmedialen Geschehen zu evozieren. Spannungskurven verhindern, dass Adressaten ab- oder umschalten: Über emotional eingefärbte → parasoziale Interaktion können Adressaten außerdem eine kurz- oder langfristige Bindung (Systase) an ein Format, eine Fernsehfigur oder auch an einen Sender etablieren. Da Emotionen lebensweltlich im Rahmen sozialer Beziehungen entstehen und durch Status und Macht der Akteure strukturiert werden, muss das Fernsehen auf analoge Dispositionen setzen, die es über die Bindung seitens der Adressaten erreichen kann. Wie gesagt, stimmt die Fernsehforschung darin weitgehend überein, dass sich das Fernsehen besonders gut zur Emotionalisierung eignet. Was unter den Stichworten ‚Emotionalisierung‘, ‚Affekterregung‘ oder auch → Dramatisierung dann tatsächlich verhandelt wird (siehe weiterhin → Infotainment und Unterhaltung), kann jedoch stark differieren. Aus der Perspektive rhetorischer Operationalisierung lassen sich drei Hauptansätze unterscheiden: pragmatische, textorientierte und adressatenorientierte Ansätze. In Anlehnung an CARSTEN BROSDA, der die Emotionalisierung im Kontext der fernsehmedialen Politikvermittlung untersucht, können Emotionalisierungsstra-

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Cicero: De oratore II, 178; vgl. auch II, 114f.

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tegien mit der „Nutzung affektiver Ansprachemodi“ in Verbindung gebracht werden.4 Darunter sind all diejenigen Operationen von Fernsehmachern zu verstehen (die wir als Oratoren bezeichnen können, wenn sie rhetorische Anliegen verfolgen), welche die Rezeptionstätigkeiten des Zuschauers von der Beobachtung äußerer Sachverhalte auf eine emotionale Teilnahme an einer Kommunikationssituation lenken, indem er dazu animiert oder stimuliert wird, mit Menschen zu fühlen und ihre Handlungen zu bewerten. Unterschwellige Perzeption und konzentrierte Apperzeption erweitern im Rezeptionsprozess zugleich die emotionalen „Handlungsräume“ und zielen auf eine Einbindung in das kommunikative Geschehen ab.5 Außerdem gelingt es durch Emotionalisierung, die Aufmerksamkeit der Adressaten zu wecken und Identifikationsmöglichkeiten zu bieten.6 Auf Seiten der Produktion wird es daher nötig, das Bedürfnis nach Einbindung und Interaktion zu bedienen, was unter anderem durch einen erleichterten Verständniszugang geschieht. So schreibt JOSHUA MEYROWITZ: „In gewissem Sinn handeln alle Fernsehprogramme, die das Verhalten von Menschen darstellen, von derselben Sache: von menschlichen Gesten, Gefühlen und Leidenschaften. Die expressive Qualität des Fernsehens macht fast jedes noch so spezialisierte Fernsehprogramm auch für den durchschnittlichen Fernsehzuschauer zugänglich.“7 Zum Forschungsstand merkt FRIEDRICH KROTZ im Jahr 1993 an, dass noch keine elaborierten theoretischen Konzepte vorliegen, die sich mit den Gefühlsprozessen der Fernsehadressaten beschäftigen. Bisher sei Fernsehnutzung nur als kognitive Tätigkeit untersucht worden.8 Er weist kritisch darauf hin, dass die Tendenzen und Entwicklungen des Fernsehens ignoriert würden, was beispielsweise die Akzeptanz der Phänomene → Reality TV und Infotainment angeht. Diese Lage hat sich seitdem gewandelt. Schon 1997 führen GARY BENTE und BETTINA FROMM zahlreiche Arbeiten zu dem von ihnen so genannten ‚Affektfernsehen‘ auf, die allerdings methodisch und thematisch sehr breit gestreut sind.9 Schwerpunkte ergeben sich etwa bei der Untersuchung von Visualisierung und Emotion oder von Fernsehnutzung und Emotion. 2008 geht MORITZ KLÖPPEL in seiner Arbeit zu Infotainment unter anderem auch dem Feel-Good-Faktor in Unterhaltung und Politainment nach.

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Brosda (2002, 112). Vgl. Krotz (1993, 99 und 115). Vgl. Klöppel (2008, 59). Meyrowitz (1987, 86). Vgl. Krotz (1993, 91). Vgl. Bente/Fromm (1997, bes. 31–72).

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Was unter ‚Emotion‘ in fernsehtheoretischer Hinsicht zu verstehen ist, blieb recht lange unklar. In diesem Theorierahmen muss es bei den Emotionen aber auf Adressatenseite um einen medial evozierten Affekt oder auch nur um eine Stimmung gehen, die sich u.a. aus einer Perspektivenübernahme ergeben.10 Auf Produktionsseite sind solche Gefühlswerte in der → Liveness durch erfahrungsnah repräsentierte oder in Fiktionsformaten durch erfahrungsnah simulierte Textkomponenten zu evozieren.11 Emotionalisierung wurde strukturell oft sehr weit gefasst und beispielsweise mit der Darstellung von Intimität, Authentizität, → Personalisierung sowie parasozialer Interaktion zusammen als „Affektfernsehen“ bezeichnet.12 Krotz führt aus, dass zu seiner Zeit Emotionsdefinitionen kursieren, die mit Begriffen wie Stimmung, Gefühl, Affekt, Trieb, Spannung und Erregung in Verbindung gebracht werden. Es herrsche eine Kontroverse darüber, ob Emotionen einen „eigenständigen Wirklichkeitszugang ermöglichen oder ob ihnen Kognitionen vorgeordnet sind“.13 Im Jahr 2010 bestimmt KATHRIN FAHLENBRACH Emotionen dann als „intensive Form affektiven Erlebens, die auf ein konkretes Ereignis gerichtet sind und nicht nur physisch erlebt werden, sondern mit kognitiven Bewertungen und Handlungskoordinationen verbunden sind.“14 Für das gesamte rhetorische Grundverständnis des Emotionsphänomens ist von zentraler Bedeutung, dass sich Emotionen gezielt bei Adressaten erzeugen lassen. Ein Psychologe wie PAUL EKMAN spricht in diesem Zusammenhang von „Emotionssignalen“, die wir aussenden können: „Die von anderen Menschen ausgesandten Emotionssignale bedingen in vielen Fällen, wie wir ihre Worte und Taten interpretieren. Sie lösen bei uns gleichfalls eine emotionale Reaktion aus, und das wiederum färbt unsere Interpretation dessen, was die betreffende Person sagt, und unsere Einschätzung ihrer Motive, ihrer Haltungen und Absichten.“15 Für den rhetorisch-strategisch eingestellten Fernsehorator sind diese ‚Signale‘ Gegenstand von Kalkülen und Textproduktionsstrategien. Bei Fernsehproduktionen geht es in diesem Sinn um die Frage, ob und wie man die genannten Signale künstlich erzeugen und gezielt in die Kommunikation einbringen kann. Zu er-

10 Schwender/Schwab (2007, 60–84). 11 Zum Zusammenhang von orientierender Steuerung und Evokation von Gefühlen siehe Knape (2008b, 917f., 923f.). 12 Vgl. Bente/Fromm (1997, bes. 20). 13 Krotz (1993, 97). 14 Fahlenbrach (2010, 63f.). 15 Ekman (2007, 77).

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zeugen sind also Appelle an Zuschauererlebniserwartungen, die auf Empathie-, Anteilnahme- und Imaginationsmechanismen setzen.16 Im Fernsehen lässt sich Inszenierung für ein disperses Publikum begreifen als ein Handlungsfeld, in dem sich Theatralität entfaltet, und zwar im Fokus von körperlichen Äußerungsformen und ästhetisch kodierten Medialisierungen sowie von Bewegungs-, Licht-, Sound- und Raumkonzepten. Dabei werden im Fernsehen aufgrund seiner audiovisuellen Beschaffenheit multiple Kodes und Zeichensysteme verwendet. Im Hinblick auf einen rhetorischen Ansatz finden sich in jeder Inszenierung die rhetorischen Regulative, unter denen neben der Angemessenheit (aptum) die ästhetische Komponente (ornatus) als Stimmungserzeuger eine wichtige Rolle spielt.17 Aber all das ist dimissiv-künstlich vermittelt, ist dementsprechend, „verglichen mit der Wahrnehmung von Realem“, letztlich „seltsam reduziert“18 und führt zu ganz bestimmten Zuschauerreaktionen. „Affektive Reaktionen auf Medienangebote unterscheiden sich tief greifend und systematisch von Reaktionen auf reale, direkt wahrnehmbare Situationen, wie sie in der Psychologie meist im Mittelpunkt stehen. Zuschauer bleiben sitzen, wenn ein Monster angreift, lachen in Komödien über katastrophale Notlagen, sehen sich freiwillig tränentreibende Melodramen an, ärgern sich über schlecht gespielte Szenen.“19 Es gehört zum Fernsehillusionismus, dass wir das Bildliche und die Töne televisueller Texte mit unseren Sinnen wie lebensweltliche Perzeptionsangebote aufnehmen (Bewegungsillusion, Perspektivität, Formen und Farben, Schall etc.), „so als wenn es in der direkten Perzeption gegeben wäre. Dennoch werden audiovisuelle Medienangebote zugleich stets als Bestandteile eines kommunikativen Zusammenhangs erlebt, und sie sind nach dramaturgischen Überlegungen auf bestimmte Weise gestaltet, um die Gefühle der Zuschauer gezielt zu beeinflussen.“ Wenden wir uns nun den drei oben genannten Dimensionen der Emotionalisierung zu (pragmatisch, textorientiert, adressatenorientiert). Hier zunächst analytisch getrennt, sind die einzelnen Bereiche in der Praxis im Interesse einer umfassenden rhetorischen Emotionalisierungsstrategie allerdings immer integrativ zu betrachten: In die Kalküle eines Fernsehmachers müssen eben gleichermaßen pragmatische, textorientierte und adressatenorientierte Überlegungen einfließen.

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Schwender (2001, 38). Vgl. Knape (2008a, 140). Schwender (2001, 38). Dieses und das folgende Zitat aus Keil/Eder (2005, 233).

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Die pragmatischen Ansätze zur Emotionalisierung konzentrieren sich auf die Steuerung der Adressaten-Emotionen durch Fernsehakteure. Von wesentlicher Bedeutung sind sicherlich die visuell vermittelten Aspekte, die sich unterhalb der Schwelle bewusster Registrierung vollziehen.20 Krotz weist außerdem darauf hin, dass Gefühle – ähnlich wie das Bild – simultan wahrgenommen werden: „Fühlen meint eine besondere prozessuale Art der Welterfassung, die sich dadurch auszeichnet, daß sie nicht wie kognitive Prozesse sequentiell abläuft, sondern simultan strukturiert, also Figur-Grund-Charakter hat, eine Situation konstituiert und zwischen Objekten differenziert“.21 Vorteile des Bildkodes gegenüber dem Schriftkode sind generell die verständniserleichternde direkte Umsetzung einer dramaturgischen Komponente und die um ein Vielfaches stärkere Ästhetikleistung durch die sinnlich-konkrete Qualität des Bildlichen im Vergleich zur reinen Schrift.22 Nach HANS MATHIAS KEPPLINGER hat das Fernsehen Macht, weil es Einfluss auf die emotionale Einstellung nimmt, rhetorisch gesehen also zum einen eine persuasive Kraft entfaltet, zum anderen über ein affektives Wirkungspotential verfügt.23 Emotionen entstehen normalerweise situativ im Rahmen sozialer Beziehungen und werden regelmäßig durch Status und Macht der Akteure strukturiert. Für die Emotionalisierung werden vor diesem Hintergrund nach Bente und Fromm „alle visuell vermittelten Aspekte des menschlichen Verhaltens, also Erscheinungsbild, Mimik, Gestik und Körperhaltung, bedeutsam“, weil nonverbale Aspekte des Kommunikationsverhaltens über eine unterschwelligere und dadurch suggestivere Wirkungsweise verfügten.24 In der mit Emotionssemiotik befassten Forschung hat man zwei Emotionalisierungs-Modalitäten hervorgehoben: Identifikation und Empathie. Bei der Identifikation schlüpft der Adressat quasi in die Haut der Protagonisten und überträgt deren Gefühlswelten auf sich selbst. Bei der Empathie geht es stärker um die Zeugenschaft des Adressaten, der aus einer Beobachterposition mit der Persona mitleidet.25 Eine fernsehrhetorische Emotionalisierungsstrategie könnte in diesem Sinn darauf abzielen, entsprechende Teilnahmemodi bei den Adressaten zu

20 Vgl. Bente/Fromm (1997, 40, auch 41): „Es ist daher kaum verwunderlich, daß gerade solchen Medien eine besondere sozio-emotionale Qualität zugesprochen wird, die sich nonverbaler Kanäle und insbesondere des Bildes als Informationsträger bedienen.“ 21 Krotz (1993, 111f.). 22 Vgl. Schwender (2001, 302–305) und Schüler (2013, 64). 23 Vgl. Kepplinger (1987, 9–19). 24 Vgl. Bente/Fromm (1997, 40). 25 Vorderer/Cupchik/Oatley (1997, 560); Bente/Fromm (1997, 44); Döveling (2005, 92– 100).

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evozieren. Letztlich geht es dabei um das Knüpfen eines parasozialen Bandes zwischen Fernsehoratoren und Adressaten über die Schwelle des Bildschirms hinweg. Dafür braucht es in der Regel ein oratorisches Vehikel (→ Persona), das die entsprechenden Gefühle übermittelt und als Projektionsfläche der adressatenseitigen Teilhabe fungiert. Das über diese Form der Personalisierung erzeugte intensive Erleben der Adressaten verhindert Aufmerksamkeitsverluste sowie das → Umschalten oder Abschalten des Zuschauers. Die textorientierten Ansätze befassen sich mit der Emotionalisierung als charakteristischem Gestaltungsmittel im Fernsehen und verstehen sie als Mittel der thematischen Aufbereitung von Stoffen bzw. der Vertextung, etwa wenn Bente und Fromm Emotionalisierung wie folgt beschreiben: „Die Sendungen betonen den emotionalen Aspekt der Geschichten, das persönliche Erleben und Empfinden, weniger die Sachaspekte. Die Kamera unterstützt diese Tendenz, indem sie die Akteure (besonders Moderatoren) in stark bewegten Momenten – und hier teilweise in der Großaufnahme zeigt.“26 Dies dient nicht zuletzt der Simulation von Intimität. Ein weiteres textuelles Mittel der Emotionalisierung ist die Dramatisierung, also die Konzeption eines Spannungserlebnisses, das den Adressaten erregt und stärker involviert.27 Inzwischen liegen Arbeiten vor, in denen eine Auseinandersetzung mit emotional gekoppelten ästhetischen Komponenten in audiovisuellen Texturen stattfindet. Wie Fahlenbrach herausstellt, wird hier zunehmend auf die Ergebnisse der kognitions- und neurowissenschaftlichen Forschung zurückgegriffen – jedoch immer noch stärker im Bereich der Film- als in der Fernsehwissenschaft.28 Sie selbst entwickelt mit den „audiovisuellen Metaphern“ ein körper- und affektästhetisches Modell, das sie sowohl auf den Spielfilm als auch auf verschiedene Fernsehformate anwenden möchte.29 Einen Überblick über emotionsauslösende Darstellungsmittel und ihre theoretischen Hintergründe gibt CLEMENS SCHWENDER. Wie schon Bente und Fromm identifiziert er ebenfalls besonders emotionsaktive resp. emotionsstarke Genres oder → Formate (Affekt-Talk, Beziehungsshow, Homestories, humoristische Formate, Infotainment, Konfro-Talk, Musik- und Tanzformate, Partnerwahlformate, RealityTV, Spielshow, Sport- und Suchsendungen oder auch Dokudramen usw.).30

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Bente/Fromm (1997, 20). Vgl. auch Fahlenbrach (2010, 248). Vgl. Bente/Fromm (1997, 43f.). Vgl. Fahlenbrach (2010, 25f.). Vgl. Fahlenbrach (2010). Vgl. Schwender (2001); siehe auch Vowinckel (2006) zum Genre „Dokudrama“ (292–294) und zu „Medialen Emotionen“ (299–303).

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Die adressatenorientierten Ansätze schließlich rücken die Fernsehnutzung in den Mittelpunkt und untersuchen, wie die Adressaten im Sinne des Uses-andGratifications-Modells mit einer gezielten Auswahl von Fernsehsendungen ihre eigene Stimmung regulieren. Vor diesem Hintergrund bekommt die MoodManagement-Theorie DOLF ZILLMANNS besondere explikative Kraft. Diese Theorie geht davon aus, dass Menschen tatsächlich in der Lage sind, die eigene Stimmung zu kontrollieren. Dabei sei das Fernsehen ein hervorragendes regulatives Instrument.31 Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Befund, dass der Emotionalisierungseffekt des Fernsehens oft weniger im Erzeugen ganz bestimmter Affekte besteht als im Auslösen unbestimmter Erregungen.32 Zillmann geht davon aus, dass die unspezifischen und unkontrollierbaren Emotionsanteile über die Auslösesituation hinweg bestehen können.33 Ergänzt sei die Bemerkung, dass natürlich jenseits bloßer Stimmungserzeugung auch das Auslösen starker emotionaler Erregungszustände, also von Affekten aller Art, zum Fernsehen gehört. So ist für ANDREAS WITTWEN das Empfindungsspektrum der erlebten Affekte des Adressaten recht vielseitig, es reicht von „angenehm erlebten Gefühlen wie Freude, Verehrung, Rührung über ambivalente Stimmungen wie Verlegenheit oder Unruhe bis hin zu unangenehm erlebten Gefühlen wie Trauer, Angst oder Abscheu“.34 Krotz geht sogar in Anlehnung an RAYMOND WILLIAMS so weit, von einem rezipientenseitigen „flow of feeling“ zu sprechen, der die „emotionalen Handlungsräume“ der Rezipienten erweitere und ihnen den Zugang zu neuen emotionalen Erfahrungen ermögliche.35 Fernsehoratoren streben freilich danach, langfristige Zuschauerbindung an das Medium sowie an einzelne Sender und Programme auch über Emotionalisierungsstrategien zu erreichen. Es scheint sich schon in den 1990ern immer weiter dahin zu entwickeln, „eindrücklicher zu operieren und keine emotionalen Lücken offen zu lassen“.36 Krotz führt diesbezüglich an: „Weiter definiert das Fernsehen Gefühlsnormen, indem es sie vorführt und verstärkt, und liefert Beispiele für Gefühlsausdrucksnormen und notwendige oder erfolgreiche Gefühlsarbeit.“37 Wie das Fernsehen tatsächlich beim Individuum wirkt, kann aus rein rhetorischer Sicht nicht genau erfasst werden: Zwar geht der Produzent, wenn er ästhe-

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Zillmann (1988, 147f.). Bente/Fromm (1997, 41). Zillmann (1988, 153). Wittwen (1995, 25f.). Krotz (1993, 115). Krotz (1993, 115). Krotz (1993, 115).

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tische oder rhetorische Absichten hat, mit einem antizipatorischen Adressatenkalkül vor, doch zu viele undurchsichtige Faktoren – wie zum Beispiel die soziokulturelle Einbindung des Adressaten oder seine mentale ‚Black Box‘ (Persönlichkeitsstruktur sowie Vorkenntnisse und Befinden) – lassen die tatsächlichen Effekte weitgehend im Verborgenen. Dem Orator bleibt daher nichts anderes übrig, als die ‚emotionale Angebotsstruktur‘38 eines Senders mit Hilfe der genannten Mittel so vorzuprägen, dass sie dem Adressaten keine beliebigen, sondern nur bestimmte Emotionsmodalitäten und Erlebensqualitäten an die Hand gibt. Laut KNUT HICKETHIER hat dies weitreichende psychosoziale Folgen gezeitigt, die er mit dem Begriff der „Industrialisierung von Gefühlsprodukten“ zu erfassen sucht. Zu seinen Ergebnissen gehört, dass das Fernsehen „inzwischen längst das Kino als zentrale Emotionssteuerungsinstanz der Gesellschaft abgelöst“ hat. „In der Gesamtheit stellt das Fernsehen eine Agentur dar, die auf die Erzeugung eines emotionalen Mittelmaßes ausgerichtet ist“. Die durch „Genremix“ und „Hybridisierung“ im Fernsehen konstruierte Welt erscheint heute gemäß Hickethier „als eine durchgehend emotionalisierte“. Das gelingt, weil sich durch diese Strukturen „emotionale Angebotsbänder länger halten lassen und sich nicht so schnell ‚verbrauchen‘.“ Die heutigen Fernsehadressaten bedürfen demnach offenbar „einer permanenten emotionalen Steuerung im Rahmen ihrer Modellierung als Subjekte, einer ständigen Abstimmung mit den gesellschaftlichen Agenturen (den Medien) und einer Synchronisation ihrer emotionalen Dispositionen mit den gesellschaftlichen Erfordernissen.“ Hickethier scheut angesichts dessen nicht vor der These zurück, dem Fernsehen komme damit die „Funktion“ einer „Emotionsmaschine“ zur gesellschaftlichen „Emotionssteuerung“ zu.39 Aus rhetorischer Sicht stellt sich hier die Frage, ob diese ‚Emotionsmaschine‘ von Fernsehoratoren gezielt gesteuert werden kann oder eher als soziokulturelles Regulativ anzusehen ist, das die emotionale Selbststeuerung der Gesellschaft medienspezifisch verdichtet, jedoch nicht eigens zu beeinflussen vermag. Literatur Bente, Gary / Fromm, Bettina (1997): Affektfernsehen. Motive, Angebotsweisen und Wirkungen. Opladen. Brosda, Carsten (2002): ‚Emotionalisierung‘ als Merkmal medialer Politikvermittlung. Zur Diskursivität emotionaler Äußerungen und Auftritte von Poli-

38 Fahlenbrach (2010, 247). 39 Hickethier (2007, 118f.).

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E REIGNIS , N ORMALITÄT UND AUSNAHME Normalität ist in jüngerer Zeit durch die Arbeiten von JÜRGEN LINK in den Blickpunkt kulturtheoretischer Überlegungen gerückt.1 In der Fernsehtheorie und in der Fernsehpraxis dient die Kategorie ‚Normalität‘ als Bemessungs- und Bewertungsframe für diverse Standards. Dabei geht es einerseits um quantitativ bestimmte Standards bei statistisch ermittelten Normalverteilungen und Durchschnittswerten (z.B. im Fall von Einschaltquoten oder Ereignisfrequenzen, → Quote), andererseits um qualitative Standards bei Handlungsmodellen oder Gestaltmustern (Handlungsroutinen, Ablaufverfahren, Verarbeitungsmuster, Format-Prototypen, Genres). Überlegungen zum Normalframe setzen zunächst deskriptiv an (Was ist im Fernsehwesen üblicherweise und statistisch gesehen der erfolgreiche Fall?), gehen dann aber auch regelmäßig zum Prinzip der Normativität des Faktischen über. Normalitätsüberlegungen werden also unter den spezifischen Erfolgskalkülen des auf Einschalthandlungen angewiesenen Fernsehens oft zum präskriptiven Entscheidungsregulativ. Das heißt etwa, „daß die statistischen Dispositive und normalistischen Verfahren dem Nachrichten- und Live-Fernsehen nicht nur zur diskursiven Verarbeitung und Bewältigung dienen, sondern auch schon der ereigniserzeugenden Selektion von Vorkommnissen mit zugrunde liegen. Ein entscheidendes Auswahlkriterium stellt insofern die datenbezogene Abweichung von statistischen Durchschnitten dar“.2 Diese Abweichung wird dann regelmäßig als ‚Ereignis‘ oder ‚Event‘ bezeichnet.3 Damit ist bei den Nachrichtenformaten gemeint, dass eine Tatsache im Normalitätsframe irgendeinen Abweichungscharakter besitzt und dadurch einen besonderen Nachrichtenwert bekommt. Im Ansatz tritt hier bereits etwas hervor, das man als komplementären Begriff oder gar als kategoriales Antonym von Normalität bezeichnen kann: die Ausnahme (JOACHIM KNAPE).4 Sie ist als aus den Realitäten hervorbrechende Exzeption und eigentlicher Kontingenzfaktor der Nachrichtenwelt zugleich wahre Verarbeitungsherausforderung und große Profilierungschance der Fernsehmacher. Rhetorische Kalküle können von der Bezugsgröße ‚Normalität‘ profitieren, weil der Normalitätsframe bei den Produktionskalkülen Devianz- oder Lizenzmaßstäbe für Sendungen liefert. Mit anderen Worten: Vor dem Hintergrund etablierter Durchschnittsnormen, beispielsweise im Senderprofil, können Medi-

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Vgl. etwa Link (2006, 2009a, 2009b, 2009c, 2013). Thiele (2006, 134). Vgl. Engell (1996). Vgl. Knape (2012).

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enoratoren bei ihren Produktionen Abweichungen und Steigerungen nach dem figure-ground-Prinzip strategisch ableiten. Im Fall wirklicher Ausnahmen im Ereignisbereich sind kreative Verarbeitungsstrategien sogar dazu geeignet, als Zuschauerresonanz herausragende Wertzuschreibungen an Sender und andere produzierende Instanzen im Mediensystem rhetorisch zu evozieren. Das maßgebliche Verhältnis von Normalität und Ausnahmeereignis im Alltag der Fernsehmacher hat bereits 1990 PATRICIA MELLENCAMP auf den Punkt gebracht: „TV time of regularity and repetition, continuity and ‚normalcy‘, contains the potential of interruption, the thrill of live coverage of death events“. 5 Freilich sind hier zwei Pole angesprochen, die den Produktionsalltag der Fernsehmacher nicht in seiner Grundstruktur kennzeichnen. Dieser ist nämlich von Routinen gekennzeichnet, die mit einem, wie wir sagen können, schwachen Ereignisbegriff arbeiten. In Hinblick auf die → Programmstruktur kann man mit MATTHIAS THIELE nämlich von einer „Figuration des ‚Normalen‘“ sprechen, in der es vor allem ‚normale‘ Ereignisse gibt.6 Thiele greift in seiner grundlegenden Abhandlung zur Normalität im Fernsehen aus dem Jahr 2006 auf Ansätze des Medienphilosophen LORENZ ENGELL zurück, die dieser in seinem 1996 veröffentlichten Beitrag Das Amedium formulierte.7 Thiele schreibt: „Die medientheoretische Unterscheidung Vorkommnis/Ereignis trifft Lorenz Engell, der in seiner Überprüfung des Ereignisses als Grundbegriff des Fernsehens die spezifische, paradoxe Potenz des Mediums herausarbeitet. Dabei gilt der Begriff Ereignis jener Teilmenge aus der unendlichen Vielzahl zugänglicher Vorkommnisse, die von den Medien selektiert, erzeugt, bearbeitet und zirkuliert wird. Trotz Ereignisfixierung und fortlaufender Produktion wie Reproduktion von Ereignissen gebe es allerdings, so Engell, im Fernsehen gar keine Ereignisse im eigentlichen Sinn. Während ein Ereignis nämlich durch Punktualisierung gekennzeichnet sei – also augenblicklich, ohne zeitliche Ausdehnung, stattfände und einmalig sei – habe man es im Fernsehen dagegen sowohl mit einem ständigen Auf- und Abbau von Erwartungen und Ereignissen als auch mit Wiederholungsexzessen zu tun. Aufgrund dessen liege mit dem Fernsehen die Paradoxie eines auf Dauer angelegten Ereignisses vor.“8

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Mellencamp (1990, 244). Thiele (2006, 123). Vgl. Engell (1996). Thiele (2006, 125f.); vgl. zu der genannten Paradoxie auch Kirchmann (2000, 99).

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Das ist eine bemerkenswerte Beobachtung: Das Medium Fernsehen ist selbst ein Dauerereignis, indem es dauernd Ereignisse in seinen Sendungen verarbeitet, die im Programmablauf bzw. → Flow verschmelzen und ihre Exzeptionalität als schwache Ereignisse verlieren. Damit wird das schwache Ereignis ein konstitutives Element der Normalität des geschichtlichen Geschehenskontinuums, das im Nachrichtenfernsehen, d.h. in den von → Aktualität geprägten Formaten, in spezieller Weise herausgehoben und ‚gespiegelt‘ wird. ANDREAS BRAUN und UDO GÖTTLICH gehen einen Schritt weiter.9 Göttlich analysiert die Strategie des Fernsehens, passende Inhalte resp. → Formate für die tägliche Programmstruktur zu erzeugen. Der zentrale Begriff ist für ihn die „Eventisierung“ der „Alltagskommunikation mit entsprechenden im Fernsehen geschaffenen und vom Fernsehen ausgehenden Ereignissen, die eine entscheidende Veränderung der öffentlichen Rolle und Bedeutung des Mediums darstellen“. Der Begriff der Eventisierung bezeichnet hierbei zum einen die „Veralltäglichung außeralltäglicher Ereignisse – diese müssen meistens erst geschaffen werden – und steht zum anderen für die damit erreichte Multiplizierung der Angebotspalette, die von einem Format ausgehend in unterschiedliche Produktionen ausstrahlt.“10 Es geht hier also um die Spezifika bzw. Anforderungen der Programmroutine, die besondere außermediale Ereignisse in die Formen des Fernsehens bringen. Dafür hat man schon früh den Begriff des Medienereignisses geprägt. Bereits 1992 unterscheidet HANS MATHIAS KEPPLINGER drei Arten von Medienereignissen: 1. genuine Ereignisse, 2. inszenierte Ereignisse und 3. mediatisierte Ereignisse.11 Im ersten Fall wird das in der Welt liegende Vorkommnis in seinem Zustandekommen und seiner Ausführung nicht von den Kommunikationssystemen beeinflusst, diese berichten nur darüber und erschaffen durch einen Selektionsprozess und neue Kontexteinbettungen das Medienereignis. Hier wäre das Nachrichtenereignis einzuordnen, das ohne Zutun der Medien ‚passiert‘ und dann journalistisch verarbeitet wird. Es sei hier jedoch gleich angemerkt, dass dieser Ereignis-Typus oft nur schwer vom dritten Ereignis-Typus zu unterscheiden ist. Im Kontrast dazu befindet sich, zweitens, das inszenierte Medienereignis. Hierfür steht DANIEL BOORSTINS The Image or What Happened to the American Dream (1962) Pate, in dem der Historiker den Begriff des ‚Pseudo-Ereignisses‘

9 Vgl. Braun (2008, 80f.); Göttlich (2001). 10 Göttlich (2001, 87). 11 Kepplinger (1992, 52), vgl. auch Kepplinger (1989, 9–15). Bei Hartley (2008, 173– 176) ist eine Zweiteilung zu finden: ‚Produzierte‘ Ereignisse sind Medienereignisse im Sinne Dayans und Katzʼ, ‚natürliche‘ Ereignisse sind Nachrichtenereignisse, die als ‚breaking news‘ ins Programm wahrhaft ‚einbrechen‘.

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prägte.12 Dies ist ein von PR-Strategen geplantes, direkt auf die Berichterstatter und deren Bedürfnisse ausgerichtetes Ereignis, das einen ambigen Realitätsbezug aufweist und von etwas überzeugen will, das mit dem Ereignis eigentlich erst eingelöst wird. Boorstin nimmt dabei auch explizit auf den Vater der Public Relations, EDWARD BERNAYS, Bezug, dessen Denken sehr rhetorisch geprägt war.13 KLAUS PLAKE gibt jedoch zu bedenken: „Das Pseudo-Ereignis ist nicht nur ‚Show‘. Das Unechte verbindet sich mit dem Echten, die Bühne mit dem Leben, die inszenierte Aktion mit der Alltagsroutine.“14 Nach Engell häuft sich die strategische Inszenierung von Ereignissen in den Medien: „Regierungssprecher, PR-Manager und Öffentlichkeitsarbeiter planen oder nutzen Ereignisse in möglichst optimaler medialer Verwertbarkeit, und ein geschicktes Medienhandling kann ein belangloses Vorkommnis mit Ereigniswert ausstatten oder sogar vorgetäuschte Ereignisse in den medialen Umlauf bringen.“15 Das Verhältnis von Medienereignis und Vorkommnis der dritten Art ist doppelt perspektiviert, d.h. das Stattfinden des Vorkommnisses ist unabhängig vom Medienereignis, die Inszenierung jedoch nicht. Dies wird als mediatisiertes Ereignis bezeichnet. Plake fasst zusammen: „Im Gegensatz zu Pseudo-Ereignissen werden die mediatisierten Ereignisse durch die Berichterstattung nicht verursacht, wohl aber in ihrem Ablauf und in ihrer Ausgestaltung beeinflusst.“ Bei den mediatisierten Ereignissen ist davon auszugehen, „dass sie den Anforderungen der Medien entsprechend gestaltet sind.“ Diese „vor allem durch das Fernsehen beeinflussten ‚Ereignisse‘ sind allerdings“, so Plake, „nur Ausdruck einer allgemeinen Entwicklung, die als Mediatisierung“ immer weiter um sich greife.16 1992 charakterisieren DANIEL DAYAN und ELIHU KATZ das Medienereignis als Unterbrechung der Übertragungsroutine.17 Diese Betonung einer Unterbrechung des ‚Normalen‘ ist im Sinne der Normalität-Ausnahme-Paradoxie des Aktualitätenfernsehens dahingehend zu erweitern, dass mit der punktuellen Überwindung des ‚Normalen‘ im Ereignis auch wieder Normalität geschaffen wird.18 Dies kann im Hinblick auf die Textverarbeitungsebene so verstanden werden, dass eine ästhetische Darstellungsform, die zu einem bestimmten Zeitpunkt noch

12 Vgl. Boorstin (1962, bes. 7–44); zur weiteren Entwicklung in Richtung ‚MedienSpektakel‘ siehe auch Kellner (2003). 13 Vgl. Bernays (1923). 14 Plake (2004, 80). 15 Engell (1996, 137). 16 Plake (2004, 80f.). 17 Vgl. Dayan/Katz (1992, 5). 18 Vgl. Thiele (2006, 122).

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als Deviation gilt, sich nach und nach als Standard etabliert. Aber es ist stets die Abweichung vom Regulären, sich täglich Wiederholenden, welche das Medienereignis definiert. Im Umkehrschluss wird die Normalität des Fernsehens durch die einzelnen Konventionen und Darstellungsformen der regelmäßigen Sendungen und durch den Programm-Flow bestimmt. Für Thiele wird das äußere Referenzereignis entsprechend auch Bestandteil einer Normalitätsstrategie der medialen Verarbeitung: „Auf der medialen Ebene vollzieht sich die Er- und Verarbeitung von Ereignissen in Relation zu Regelmäßigkeiten; sie ist rückgebunden an das, was allgemein als ‚Normalprogramm‘ und ‚normale(s) Leben‘ der Zuschauer bezeichnet wird.“19 Das schwache Ereignis führt also letztlich nur zu einer gemäßigten Reliefstruktur vor dem Hintergrund der Formatnormalstruktur. Es wird betont, aber nicht einsam herausgestellt. Schwache Ereignisse konstituieren sich in diesem Sinne (mit den Worten Thieles) „in einer kurzfristigen Aufhebung des Fernsehalltags, der Programmroutine und der ästhetischen Banalität des gewohnten Nachrichten-, Dokumentar- und Live-Fernsehens“.20 Zu der hiermit zusammenhängenden, oben genannten paradoxalen Struktur gehört nach JÜRGEN TRINK, „daß im Fernsehen diese Überbetonung des Außerordentlichen ständig erzeugt wird, vielleicht sogar so weit, daß dieses seine Gegensätzlichkeit mehr und mehr verliert, uns also nichts gewöhnlicher wird als das Außergewöhnliche.“21 Diese Gewöhnlichkeit des Außergewöhnlichen korrespondiert mit Thieles These, „daß mit der Ereignishaftigkeit des Fernsehens, die in der Regel eben mit Vorstellungen wie Nichtalltäglichkeit, Abweichung, Störung, Ausnahmezustand und punktuellem Tod von Normalität verbunden wird, gerade auch die Herstellung von Normalität einhergeht: Medien- bzw. Fernsehereignisse aller Art stellen, so gesehen, einen bevorzugten Ort zur Produktion kollektiver wie individueller Normalität dar.“22 Und bei Engell ist zu lesen: „Was im Leben unwahrscheinlich ist, wird im Fernsehen wahrscheinlich.“23 Dies resultiere letztlich darin, dass im Fernsehen ständig das Unerwartete erwartet würde. Das gilt selbst für die Kriegsberichterstattung, die ab einem bestimmten Punkt der Gewöhnung das Außergewöhnliche des Krieges in seinen Geschehensrepetitionen, in seiner Routine einzufangen sucht, wie ANNE ULRICH 2012

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Thiele (2006, 130f.). Thiele (2006, 131). Trinks (2000, 26). Thiele (2006, 122). Engell (1996, 139).

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in ihrer Arbeit zum Irakkrieg feststellt. So werden beispielsweise gerade eben gesendete Kameraaufnahmen von Explosionen oder Schusswechseln binnen kürzester Zeit wiederholt und als kurze Clips zu Schlüsselsequenzen gemacht, die dann für die Eröffnungssequenzen der nachfolgenden Nachrichtensendungen eine Art Teaser-Funktion übernehmen oder auch als Screenshots zu Symbolbildern im Studiohintergrund werden. Die Aufnahmen verlieren durch diese normalisierende ‚Instant-Abnutzung‘ ihr visuellrhetorisches Potential.24 Ganz ähnlich ist es mit der Live-Beobachtung der Ereignisse (→ Monitoring, → Liveness), wenn gerade nichts passiert und nur die Erwartung der Fernsehzuschauer geschürt werden soll. Auch hier werden Markierungen des Besonderen in die konventionellen Muster der Berichterstattung überführt und auf diese Weise in unterschiedlicher Weise entwertet und ‚normalisiert‘.25 Die Neigung der Fernsehmacher, sich am Normalitätsframe zu orientieren, ist von Kritikern immer wieder angeprangert worden. So wendet sich PIERRE BOURDIEU in seinem Büchlein Über das Fernsehen dem Fernsehjournalismus unter der Prämisse einer äußerst kritischen Konstruktivismus-Hypothese zu. Das Fernsehen schaffe sich seine Ereignisstruktur nach eigenen Maßgaben und nicht etwa nach denen der sozialen Realität.26 Letztlich geht Bourdieu von einer Verkaufsstrategie des Mediensystems aus. Diese auf Einschaltquoten zielende Strategie bestimme die Ereignis-Selektion. Daher sein Sensations-KonstruktionsVorwurf: „Das Auswahlprinzip ist die Suche nach dem Sensationellen, dem Spektakulären.“27 Die präsentierte Sensation ist bei den verantwortlichen Fernsehmachern das Ergebnis einer Devianz-Analyse, was Bourdieu zum Vorwurf der Ereignis-Selektion führt. Diese arbeite ohne jedes seriöse, an der Struktur der Wirklichkeit orientierte Signifikanz-Kriterium: „Was Journalisten interessiert, ist, grob gesagt, das Ungewöhnliche, d.h., was für sie ungewöhnlich ist. Was für andere banal ist, kann für sie ungewöhnlich sein, und umgekehrt.“ Allein Devianz zähle, denn die Journalisten „interessieren sich für das, was gewöhnlich nicht stattfindet, für das Nichtalltägliche – die Tagespresse muß täglich das Nichtalltägliche bringen, keine leichte Arbeit.“28 Ähnliches geschieht im Fernsehen. Die Paradoxie besteht aber darin, dass man dem Außergewöhnlichen im Grunde gar nicht gerecht werden will. Vor der Schablone eines Normalitätsabgleichs dient alles nur dazu, Aufmerksamkeit zu erregen, nicht jedoch dazu, dem

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Vgl. Ulrich (2012, 378–418). Vgl. Ulrich (2012, 418–453). Vgl. zum Folgenden Knape (2012, 29–33). Bourdieu (1998, 25). Bourdieu (1998, 26).

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ganzen, komplexen Ereigniszusammenhang selbst gerecht zu werden. Bourdieu erhebt daher auch einen grundsätzlichen Irrelevanz-Einwand: „Die symbolische Aktion des Fernsehens zum Beispiel auf der Ebene der Nachrichten besteht darin, die Aufmerksamkeit auf Dinge zu lenken, die alle interessieren, die omnibus – für alle – da sind.“ Damit wird die Normalitätserwartung auf paradoxe Weise eingeholt. „Omnibus-Meldungen“ sind für Bourdieu solche, „die niemanden schockieren dürfen, bei denen es um nichts geht, die nicht spalten, die Konsens herstellen, die alle interessieren, aber so, daß sie nichts Wichtiges berühren.“29 Diese Überlegung hängt auch eng mit dem massenmedialen Charakter des Fernsehens zusammen. Noch viel grundsätzlicher kritisiert STANLEY CAVELL, dass bestimmte Fernsehformate zur Wahrnehmungsnivellierung führen. HERBERT SCHWAAB kommentiert dies in seiner Arbeit über Cavell wie folgt: „Der Zustand der Ereignislosigkeit, den Gegenstände wie die Sitcom oder die Soap-Opera durch ihre Wiederholungen verkörpern, schafft Vertrauen. Das Fernsehen schützt uns auf diese Weise vor dem Unvorhergesehenen und wappnet uns vor einer Bedrohung, die unter anderem durch das Fernsehen selbst entsteht.“ Und: „Das vom Fernsehen betonte Interesse am Normalzustand führt dazu, dass unsere Wahrnehmung nicht herausgefordert wird, unsere Gleichgültigkeit nicht aufgehoben und keine Neigung erzeugt wird, im televisuellen Bild etwas zu entdecken und ein Detail zu fokussieren.“30 Aus rhetorischer Sicht ist die Programmroutine der Sender und des Fernsehens im Allgemeinen (hierunter können die Gesamtheit aller Sender und die etablierten Konventionen verstanden werden) von entscheidender Bedeutung, da sie dem Zuschauer einerseits vorgibt, welche Formatabfolge er wann zu erwarten hat, andererseits zudem den Bedürfnissen der Zuschauer angepasst ist und aufgrund dieser beiden Aspekte eine Art Maßstab der Angemessenheit etabliert.31 Dieser Maßstab legt daher auch fest, wann etwas ein Medien- bzw. Fernsehereignis ist und wie dieses gestaltet werden muss. Des Weiteren ist die Tatsache, dass jedes außermediale Vorkommnis und jedes durch ein anderes Medium medialisierte Ereignis in die alltägliche Form des Fernsehens gebracht werden kann und damit für den Zuschauer in eine bekannte Realität eingebettet wird, für das Persuasionspotential des Fernsehens im Allgemeinen und für eine Widerstandsanalyse von einzelnen, performierten Texten entscheidend.

29 Bourdieu (1998, 22). 30 Schwaab (2010, 314f.). Vgl. Cavell (2002 [1982]). 31 Zum Verhältnis von Erwartung und Ereignis siehe auch Engell (1996, 152).

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Doch es gibt eben auch noch eine ganz andere Ereignisstruktur, die man im Begriff des Ausnahmeereignisses fassen kann. „Ereignishaftigkeit ergibt sich aus der Beziehung bzw. Differenz zum regulären, kontinuierlichen, sich täglich in seiner zeitlichen Abfolge wiederholenden Programm“, schreibt Thiele.32 Das bezieht sich allerdings auf das schwache Ereignis. Wie steht es demgegenüber mit dem exzeptionellen Ereignis? Es ist ein Ereignis, das von außen hereinbricht, und nicht etwa ein media event. Ein media event ist ein „television genre“,33 also eine speziell „für das Fernsehen charakteristische Form der Berichterstattung über außergewöhnliche Vorkommnisse“, heißt es etwa bei GUIDO ISEKENMEIER. Er fährt fort: „Nichts Unerwartetes, Überraschendes oder Unvorhersehbares, nichts Ereignishaftes, bricht sich in ihnen Bahn, was geschieht, ist lediglich Anlass oder Gelegenheit des Medienereignisses, ist – wie sich im ‚Deutschen‘ differenzieren ließe – nicht Ereignis, sondern Event“.34 Oder eben: Pseudo-Ereignis. „Media events sind also weder Ereignisse, noch finden sie in Medien statt“, und sie sind „ausschließlich televisuell verfasst“.35 Als Kontrast dazu aber sollte mit Hilfe des Begriffs ‚starkes Ereignis‘ eine weitere Differenzierung vorgenommen werden, bei der es um das Phänomen des Ausnahmeereignisses mit seinen Herausforderungen an die fernsehmediale Verarbeitung geht. „Das (1) hochfrequente, alltägliche, dem Normalismus geschuldete Vorkommnis ist zu unterscheiden vom (2) seltener, aber doch im regelmäßigen Abstand und im Rahmen der beobachtbaren Ereignisfolge durchaus herausragend auftretenden Ereignis. Eine Sonderstellung sollte vor diesem Hintergrund dann (3) das Ausnahmeereignis für sich beanspruchen (etwa Katastrophen, plötzliche Naturereignisse ungeahnter Dimension, unvorhersehbare Sozialereignisse von besonderer Signifikanz wie Kriege, andere ungewöhnliche Aggressionsakte oder ungeahnte Friedensstiftungen).“36 Dayan und Katz nennen dies etwas unspezifischer ein ‚great news event‘: Solche „bedeutenden Nachrichtenereignisse sprechen vom Zufall, vom Plötzlichen oder vom Bruch, wohingegen bedeutende Feierlichkeiten oder Zeremonialereignisse die Ordnung feiern und ihre Wiederherstellung“.37 Das Ausnahmeereignis „ist in seiner Okkurenz kontingent, bei der Ereignisselektion der Medien

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Thiele (2006, 127). Dayan/Katz (1992, 2). Isekenmeier (2009, 1f.). Isekenmeier (2009, 2). Knape (2012, 31). „Great news events speak of accidents, of disruption, great ceremonial events celebrate order and its restoration“ (Dayan/Katz (1992, 9); dt. Übers. d. Verf.).

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determinierend (soll heißen: in der Berichterstattung nahezu unumgänglich), und hinsichtlich Adressatenbezug im Moment seines Vorkommens höchst relevant. Für die so oder so beschaffene Fernsehmedialisierung des Ausnahmeereignisses ist – das liegt in der Natur des Kontingenten – kein Sendeplatz im üblichen Programmschema des Fernsehens verankert.“38 Zu diesem Aspekt schreibt IRENE NEVERLA: „Ein ereignisbezogenes Ad-hoc-Programm und damit ein Ausbruch aus dem Kästchenschema ist zwar theoretisch denkbar, und wird auch in Einzelfällen in der Praxis umgesetzt, wenn dies aktuelle politische oder Katastrophenereignisse nötig erscheinen lassen. Doch die Ereignisbezogenheit der Sendung bestätigt als Ausnahme die Ereignisunabhängigkeit der Regel.“39 Wenn dieser Sonderfall des journalistischen Fernsehens aber dann doch einmal vorkommt, ist Abweichung vom Normalismus auch bei der medialen Verarbeitung gefordert. Sieht man einmal von den persönlichen Kompetenzen der Fernsehmacher ab, die eine Rolle bei der Auseinandersetzung mit dem ‚Zeigen‘ des Ausnahmeereignisses spielen könnten, so stellen sich auf rein handwerklicher Ebene noch ganz andere Fragen, die in der Formatfrage kulminieren. „Sollte man daher über spezielle Katastrophenformate, Kriegs- oder Terrorformate sowie besondere Sensationsformate in den Sendern nachdenken? Auf jeden Fall bringt das Ausnahmeereignis besondere Verarbeitungsschwierigkeiten mit sich, die es lohnen, vor dem Auftreten solcher Fälle reflektiert zu werden. Ausnahmeereignisse sind stets auch die Hochzeiten der Liveness. Doch oft werden diese Stunden der direkten Teilnahme zu Stunden eines Informationspauperismus. Meist muss der Mangel an Daten, Fakten und Bildern verwaltet werden. Im Verein mit dem Zwang zur Monothematik (den das Aktualitätspostulat diktiert) wird das regelmäßig zur Herausforderung erster Ordnung an die Fernsehmacher. Am Ende triumphieren die gewöhnlichen Ereignis-Verarbeitungs-Routinen, ja, sie werden zu wahren Rettungsankern der Studiobesatzung.“40 Für die betroffenen Nachrichtenredaktionen ist jeder Ausnahmefall im Sinne eines starken Ereignisses aus den genannten Gründen eine große Herausforderung. Die Fernsehmacher sollten ihr auch dadurch begegnen, dass sie auf internen Kreativtagungen über Möglichkeiten, Chancen und Risiken bei diesen Problemlagen noch konsequenter nachdenken. Auf dem Prüfstand hat vor allem immer wieder die Ästhetisierungsproblematik zu stehen: „Wie weit kann oder muss etwa der Terror oder die Katastrophe im Sinne einer spezifischen SenderSignatur der Ausnahmeereignis-Bearbeitung ästhetisiert werden? Wenn entspre-

38 Knape (2012, 31f.). 39 Neverla (1992, 65); vgl. auch Thiele (2006, 127). 40 Knape (2012, 36).

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chende Strategien zur Entwicklung eigener Formate führen, die jedem Sender eine spezielle Signatur bei der medialen Verarbeitung des Erhabenen zulegen, dann ist dies angesichts der Medienkonkurrenz gewiss nur von Vorteil.“41 Unter rhetorischer Perspektive kommt hier der Bezug zu den Mediennutzern ins Blickfeld. Das Fernsehen besitzt eine so starke Verkopplung mit der Alltagswelt (→ Alltäglichkeit), dass das Brechen von Konventionen, Regeln und Standards des Fernsehens auf unterschiedlichsten Ebenen nicht nur Auswirkungen auf den Rezeptionsrhythmus der Zuschauer hat, sondern vom Grad der Abweichung abhängend zu einer starken Reaktion der Zuschauer innerhalb ihrer Lebenswelt führt. Nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 unterbrach beispielsweise der Sender VIVA sein Programm, ging zu einer Ausnahmestrategie über und zeigte nurmehr einen schwarzen Bildschirm mit dem Verweis auf andere Sender, womit die ungeheure Exzeptionalität der Ereignisse herausgestellt wurde.42 Abweichungen, wie die Unterbrechung der Programmroutine, unterstreichen oder erzeugen den Ausnahmestatus von außermedialen Ereignissen. Hieran lässt sich ein weiteres zentrales Potential von Medienereignissen im Sinne des starken Ereignisbegriffs anschließen: die Etablierung einer Art Kommunikationsgemeinschaft unter den normalerweise voneinander getrennten Fernsehzuschauern. Dayan und Katz weisen explizit auf den zeremoniellen Charakter von Medienereignissen hin, deren Inszenierung durch das Fernsehen sie in Anlehnung an den Sprechakttheoretiker JOHN L. AUSTIN als performativen Akt interpretieren,43 was sich durchaus an den rhetorischen Ansatz anschließen lässt.44 Wenn Dayan und Katz an einigen Stellen sogar explizit von rhetoric sprechen, schwebt ihnen freilich der angelsächsische, umgangssprachliche Gebrauch vor Augen, nach dem rhetoric undifferenziert mit Ästhetik zusammenfällt: „if the original event is ceremony, its retextualization by television must unavoidably flatten it into a spectacle. The rhetoric of television then consists in developing an aesthetics of compensation by trying to reinject the lost ceremonial dimension, by offering a substitute for ‚being there‘. The commitment is expressed in the striving of the medium to overcome its own limitations.“45 In dieser ‚Ästhetik der Kompensation‘ manifestiert sich eine Strategie der Simulation

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Knape (2012, 37). Vgl. hierzu Knape (2005) und Thiele (2006, 126). Dayan/Katz (1992, 78). Siehe auch Austin (1972). Zur expliziten Rhetoriziät von Medienereignissen siehe auch Dayan/Katz (1992, 21): „The media events of democracies – the kind we consider here – are persuasive occasions, attempting to enlist mass support“. 45 Dayan/Katz (1992, 78f. – Hervorhebungen durch den Verf.).

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von Teilnahme, welche die räumliche Entkopplung der Kommunikationssituation zu überwinden versucht.46 So sehr sich das Fernsehen jedoch auch bemühe, die Zuschauer von dieser simulierten Teilnahme zu überzeugen – es könne immer nur einen Ersatz für die Teilnahme liefern. Die Ästhetik der Kompensation muss daher einen Mehrwert zur ‚tatsächlichen‘ Teilnahme liefern, der darin liege, das Ereignis als Spektakel zu inszenieren.47 Die Inszenierung des Ereignisses, die den Fernsehzuschauer nicht nur involvieren, sondern ihn auch in der Definition des Ereignisses unterstützen soll, bleibt dabei dem Ereignis stark verpflichtet – Dayan und Katz nennen dies „loyalty to definition“.48 Dies gehe auch mit einer Homogenisierung oder Naturalisierung des Ereignisses einher, die den Fernsehzuschauern als Orientierung diene und ein wichtiges gemeinschaftsstiftendes Moment bilde. Die Fernsehmacher planen das Medienereignis gemeinsam mit den ‚Zeremonienmeistern‘ des jeweiligen Großereignisses und gießen es in eine fernsehgemäße dramatische Struktur, indem sie Rollen und Attribute zuweisen, entscheidende Situationen herausgreifen und diese in einer spannungsreichen Weise aneinanderreihen. Die dargestellten Handlungen müssten mit „Verehrung“ (reverence) sowie „Feierlichkeit“ (ceremony) ausgedrückt werden, und es sei die Botschaft der „Übereinstimmung“ zu vermitteln, wobei die Geschehnisse einen „hegemonialen“ Charakter hätten und von den Veranstaltern, den Medieninstitutionen und den Zuschauern als „historisch“ bezeichnet würden.49 Als Referenzrahmen dient das Fest als ein rite de passage im VAN GENNEP’schen Sinne, das die Routine des Programms und des Alltags durchbricht.50 Das Medienspektakel muss nach Dayan und Katz von einer „großen Zuschauerschaft“ gesehen werden, die das jeweilige Geschehnis in Gruppen vor dem Fernseher aktiv „feiert“ (celebrate). Der Adressat ist von der ‚Feierlichkeit‘ und der ‚Verehrungswürdigkeit‘ der dargestellten Geschehnisse genauso zu überzeugen wie von deren ‚historischer‘ Bedeutungswürdigkeit. Es wird also nach dem Prinzip des persuasiven Paradoxes versucht, eine

46 Vgl. Dayan/Katz (1992, 99): „Television overcame distance, performing as a medium of physical contiguity.“ An anderer Stelle (98 und 5) wird das Fernsehen daher auch in Anlehnung an Roman Jakobson als phatischer Kanal bezeichnet, da es als „instrument of spatial continuity, rather than as an intermediary“ fungiere. 47 Vgl. Dayan/Katz (1992, 100f.). 48 Dayan/Katz (1992, 83). 49 Dayan/Katz (1992, 7f.). 50 Vgl. Dayan/Katz (1992, 108) mit Bezug auf van Gennep (1960).

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‚Ereignis-Loyalität‘ auf der Ebene der Einstellung beim Adressaten zu evozieren oder diese zu stabilisieren.51 Die Historizität des Medienereignisses wird auch von VIVIAN SOBCHACK in den Blick genommen. Wenn Dayan und Katz bedauern, dass die Inszenierung von Medienereignissen sich von den Paradigmen des Journalismus deutlich entferne,52 geht Sobchack noch weiter, indem sie die Auswirkungen von Medienereignissen auf unser Verständnis von ‚Geschichte‘ beleuchtet. „For an event to ‚become‘ History, an ‚appropriate‘ period of time for reflection upon it seemed necessary. This seems no longer the case. Today, history seems to happen right now – is transmitted, reflected upon, shown play-by-play, taken up as the stuff of multiple stories and significance, given all sorts of ‚coverage‘ in the temporal dimension of the present we live it.“53 Fernsehen nimmt also auch einen prominenten Platz in der Prägung von ‚Geschichte‘ ein, wobei Sobchack besonders betont, dass mit dem Fernsehen unsere „‚readiness‘ for history“ erhöht werde. ANDREW HOSKINS interessiert sich im Zusammenhang dieser ‚Instant-Historisierung‘ besonders für Nachrichtenereignisse und vermutet, dass es, obwohl sich oft Schlüsselbilder zunächst einmal ins Gedächtnis einbrennen, letztlich durch die Ereignis-Inszenierung zu einem „collapse of memory“ komme. Das Fernsehen versage hier aufgrund seines Echtheits- und Unmittelbarkeitszwangs als Gedächtnismedium.54 Dies spricht umso mehr für die These Dayans und Katzʼ von der phatischen Gemeinschaft. Hier lässt sich auch die Deutung JOHN HARTLEYS anschließen, der das gemeinschaftsstiftende Moment des Live-Ereignisses mit dem Begriff der „imagined communities“ von BENEDICT ANDERSON in Verbindung bringt: „TV could visualize people’s sense of ‚imagined community‘ – the confident sense most people had of belonging to a country, even though they had not met and never would meet more than an infinitesimal proportion of its actual

51 Zum persuasiven Paradox siehe Knape (1998). Ein ähnlicher Gedankengang kommt auch bei Pierre Bourdieus (1998, 123) Analyse der Olympischen Spiele als einer „Fernsehveranstaltung“ zum Tragen: „Der verborgene Referent aber ist die Gesamtheit der von den Fernsehgesellschaften aufgenommenen und verbreiteten Bilder dieser Veranstaltung, die jeweils eine nationale Auswahl aus dem national scheinbar nicht differenzierten (die Wettkämpfe sind ja international), im Stadion dargebotenen Material vornehmen. Ein doppelt verborgenes Objekt, da niemand es in seiner Gänze sieht und niemand sieht, daß es nicht gesehen wird, so daß jeder Fernsehzuschauer die Illusion hegen kann, er sehe wahrhaft die Olympiade.“ 52 Vgl. etwa Dayan/Katz (1992, 92f.). 53 Sobchack (1996, 5). 54 Hoskins (2004, 5–7).

E REIGNIS , N ORMALITÄT UND A USNAHME

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inhabitants, their co-citizens“.55 Aus rhetorischer Sicht lässt sich die Funktion der Inszenierung solcher Medienereignisse in Analogie zur Festrhetorik (Epideiktik) begreifen, bei der es auch darum geht, unter Bezugnahme auf gemeinsame Normen und Werte das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Zuhörern zu stärken. Dies erklärt auch den vorwiegend performativen Charakter des Medienereignisses, das die Fernsehzuschauer eher nicht zu einem Einstellungs- oder Meinungswechsel bringen, sondern in erster Linie von sich selbst und seiner gemeinschaftsstiftenden Funktion überzeugen will. Literatur Anderson, Benedict (1991): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London. Austin, John L. (1972): Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Dt. Bearb. von Eike von Savigny. Stuttgart. Bernays, Edward L. (1961): Crystallizing Public Opinion [1923]. New York. Boorstin, Daniel J. (1962): The Image or What Happened to the American Dream. New York. Bourdieu, Pierre (1998): Über das Fernsehen. Aus dem Franz. von Achim Russer. Frankfurt a.M. Braun, Andreas (2008): Die Fernsehtheorie von Lorenz Engell. Eine systematische Rekonstruktion und kritische Analyse vor dem Hintergrund aktueller fernsehtheoretischer Konzepte. Saarbrücken. Cavell, Stanley (2002): Die Tatsache des Fernsehens [1982]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 125–164. Dayan, Daniel / Katz, Elihu (1992): Media Events: The Live Broadcasting of History. Cambridge. Engell, Lorenz (1996): Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung: Ereignis und Erwartung. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 5/1, 128–153. Göttlich, Udo (2001): Fernsehproduktion, factual entertainment und Eventisierung. Aspekte der Verschränkung von Fernsehproduktion und Alltagsdarstellung. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 10/1, 71–89. Hartley, John (2008): Television Truths. Malden, Oxford, Carlton. Hoskins, Andrew (2004): Televising War. From Vietnam to Iraq. New York.

55 Hartley (2008, 166) mit Bezug auf Anderson (1991).

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I NTERAKTIVITÄT Im soziologischen Sinne wird Interaktion als Beeinflussung durch aufeinander bezogenes Handeln von zwei oder mehreren Menschen interpretiert. Eine gewisse Parallele lässt sich hier zur Wechselwirkung zwischen Orator und Publikum ziehen: Auch rhetorische Botschaften funktionieren nicht umstandslos unidirektional, sondern Orator und Adressat beeinflussen sich gegenseitig. Fraglich ist jedoch, inwieweit das Fehlen eines direkten Rückkanals beim traditionellen Fernsehen für alle Adressaten Interaktion zulässt. Die in der Face-to-Face-Situation auftretenden Voraussetzungen von Interaktivität – wie wechselseitige Wahrnehmung und Kenntnis, Anwesenheit von Kommunikator und Adressat sowie potentielle Gleichheit der Kontrolle im Kommunikationsablauf – können vom traditionellen Fernsehen aufgrund seiner Medialität größtenteils nicht verwirklicht, sondern allenfalls simuliert werden (→ parasoziale Interaktion). Nichtsdestotrotz ist Interaktivität als Strategie, den Fernsehzuschauer als Nutzer zu verstehen, der das Fernsehprogramm mit eigenen Interessen und Wünschen verfolgt und sich in vielfältiger Weise reaktiv einbringen möchte, rhetorisch bedeutsam. Fernsehoratoren können dies erreichen, indem sie ernst gemeinte Einladungen zur Partizipation aussprechen, die im Rahmen des FernsehMöglichen Kontrolle an die Zuschauer abgeben. Dies ist jedoch keineswegs für alle Formate des Fernsehens vonnöten, weil es neben den aktiven auch passive Nutzungsmodi gibt, die befriedigt werden wollen. Das Fernsehen erlaubt demnach nur sehr reduzierte Formen von Interaktivität, die dann ihr größtes Potential entfalten, wenn sie nicht mehr versprechen, als sie halten können.

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In seiner berühmten Definition von Massenkommunikation, die in vollem Umfang auf das Fernsehen zutrifft, hat GERHARD MALETZKE als eines von mehreren konstitutiven Kriterien hervorgehoben, dass Massenkommunikation „einseitig (also ohne Rollenwechsel zwischen Aussagendem und Aufnehmendem)“ vor sich geht.1 So gesehen dürfte das Schlagwort der Interaktivität in der Fernsehwissenschaft eigentlich überhaupt keine Rolle spielen, bedeutet Interaktion doch stets eine wechselseitige Bezugnahme, wie etwa in der von BERTOLT BRECHT formulierten Rundfunk-Utopie.2 Interaktivität ist somit eher als Leerstelle oder gar Manko der Fernsehkommunikation zu verstehen, die aufgrund ihrer Strukturdeterminiertheit nie an das Interaktionsideal der Face-to-Face-Kommunikation heranreichen kann.3 Aus rhetorischer Sicht ist das nicht zuletzt deswegen eine äußerst interessante Frage, weil die klassische monologische Rede ja auch einseitig verfährt. Im Gegensatz zur massenmedialen Kommunikation sind in der klassischen Redesituation jedoch Möglichkeiten der Reaktion und Interaktion vorgesehen, die sich auf die Verbindlichkeit und auch die gewünschten Folgen der Persuasion auswirken können. Die Strategie der parasozialen Interaktion versucht eben diese drohende Folgenlosigkeit zu überwinden, kann Interaktion jedoch nur einseitig simulieren.4 Aus all diesen Defiziten heraus hat das Fernsehen bereits früh andere technische Einrichtungen als Rückkanäle zu integrieren versucht (etwa bei Call-inSendungen das Telefon). Mit der zunehmenden Digitalisierung des Fernsehens erweiterten und erweitern sich noch die technischen Möglichkeiten, so dass seit den 1990er Jahren eine vitale Diskussion zum sogenannten ‚interaktiven Fernsehen‘ in Gang gekommen ist. Interaktivität bildet dabei in den Worten SHEIZAF RAFAELIS „one of the buzzwords of trendy discussion of innovations such as two-way television, computer and audio conferencing systems, viewdata, teletext, and videotext.“5 Die eigentlich überwunden geglaubte Dichotomie passiver und aktiver ‚Medien‘ wurde in der Diskussion reaktiviert, so EGGO MÜLLER, um die ‚neuen Medien‘ und ihre Möglichkeiten umso deutlicher von den ‚alten‘ abzuheben.6 Diese „ideologische Macht und rhetorische Kraft“, die der Interaktivi-

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Maletzke (1978, 32). Vgl. Brecht (1967), siehe auch Hickethier (2002, 119f.). Vgl. etwa Kim/Sawhney (2002, 218): „At the most fundamental level, […] the ultimate form of interactivity or interactive communication is face-to-face-dialogue.“ Vgl. Stark (2006, 27). Rafaeli (1988, 111). Müller (2006, 66).

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tät zugeschrieben wurde,7 geht vorwiegend mit einer Umdeutung des Rezipienten zum Nutzer (User) einher, der bisweilen auch als „viewser“ bezeichnet wird.8 Doch auch viele andere Entwicklungen werden unter dem Schlagwort subsumiert. Im „zweiten Fernsehjahrhundert“9 sind zum Teil recht unterschiedliche Auffassungen zur Interaktivität zu beobachten, von denen nur einige aus rhetorischer Sicht anschlussfähig sind. Der Forderung Müllers nach einem „analytisch brauchbaren Begriff der Interaktivität“ können wir uns also nur anschließen. Als Ausgangspunkt firmiert hier BIRGIT STARKS Beschreibung: „Steuerungsfunktionen, die bislang ausschließlich auf Seiten der Produzenten zu finden waren, verlagern sich auf die Nutzerseite und ermöglichen eine auf individuelle Bedürfnisse abgestimmte Mediennutzung. Der Nutzer bzw. User kann selbst entscheiden, wann und welche Angebote er in Anspruch nimmt und ob er unmittelbar reagieren, d.h. Feedback geben möchte. Diese Eingriffs-, Kontroll- und Steuermöglichkeiten werden im Allgemeinen unter dem Terminus ‚Interaktivität‘ subsumiert.“10 Hier wird eine zweifache Perspektivierung von Interaktivität deutlich, auf die auch schon LUTZ GOERTZ hingewiesen hat: Die eine Perspektive komme ursprünglich aus der Soziologie und beruhe auf dem Terminus der Interaktion, die andere, sehr viel jüngere Perspektive komme aus der Informatik. Sie verstehe das Medium als „Partner“ und nicht – wie in der Soziologie – als „Mittel der Kommunikation“.11 PYUNGHO KIM und HARMEET SAWHNEY gehen in eine ganz ähnliche Richtung, wenn sie dem „communication approach“, der dem soziologischen Verständnis ähnelt, einen „media environment approach“ gegenüberstellen, bei dem es darum geht, dass die User Form und Inhalt eines Medienangebots modifizieren können.12 Die beiden Autoren weisen auch darauf hin, dass die Strukturen des Fernsehens weiterhin einem kommunikativen bzw. soziologischen Verständnis von Interaktivität widersprechen.13 Die ‚kommunikative Interaktivität‘ des Fernsehens kann im Vergleich zur Face-to-Face-Situation also weiterhin nur äußerst reduzierte Formen annehmen – diese sind jedoch gerade aus rhetorischer Perspektive höchst aufschlussreich. Die ‚angebotsorientierte Interaktivität‘, wie man den zweiten Ansatz nennen könnte, ist demgegenüber weitaus vielseitiger, für die Rhetorik jedoch weniger relevant, weil hier die Ebe-

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Müller (2006, 79). Bignell (2013, 286). Stark (2006, 11). Stark (2006, 24). Goertz (1995, 477–479). Kim/Sawhney (2002, 219f.). Vgl. Kim/Sawhney (2002, 223).

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ne der Medieninstitution und -organisation angesprochen ist, die der fernsehmedialen Kommunikation, um die es der Rhetorik geht, vorgelagert ist. Obwohl das Fernsehen selbst nur rudimentäre Formen von Interaktivität ermöglichen kann, lassen sich verschiedene Formen voneinander unterscheiden, die oft auch graduell skaliert werden. Viele Autoren beziehen sich dabei auf eine Studie von KLAUS SCHRAPE zum digitalen Fernsehen aus dem Jahr 1995. In ihr werden fünf Stufen unterschieden, ausgehend von Level 0 (An- und Ausschalten des Geräts sowie → Umschalten) über Level 1 (zeitversetztes oder paralleles Fernsehangebot, der Zuschauer kann also wählen, wann er eine Sendung sehen will oder welche Sprache oder Kameraperspektive er bevorzugt), Level 2 (Ausstrahlung von Zusatzangeboten wie Videotext) und Level 3 (Video on Demand, Angebote der individuellen Speicherung von Sendungen) bis hin zu Level 4 (Einflussnahme auf den Inhalt der Fernsehsendung über einen Rückkanal).14 Die ersten vier Ebenen sind graduelle Abstufungen der angebotsorientierten Interaktivität, bei Level 4 handelt es sich dann um kommunikative Interaktivität – hier werden keine weiteren Feinabstufungen vorgenommen. GEORG RUHRMANN und JÖRG-UWE NIELAND fügen diesem Modell noch eine weitere Stufe, nämlich diejenige der Call-in-Sendungen, hinzu, attestieren diesen jedoch ein „niedriges Interaktivitätsniveau“.15 Zwar könnten die Zuschauer in manchen dieser Sendungen durch ein Votum per (Tele-Dialog) TED oder Telefon den weiteren Verlauf einer Sendung beeinflussen, bei den übrigen Sendungen handele es sich jedoch mehr oder weniger um „abgefilmtes Radio“ oder um reines Verkaufsfernsehen, das dem Zuschauer keine besonderen Interaktionsmöglichkeiten bereithalte. Mit dem Televoting beschäftigt sich auch JOAN K. BLEICHER, die dieser Strategie kein so geringes Interaktivitätspotential zuschreibt, biete sie doch die „Möglichkeit, standardisierte Sendungsabläufe aufzubrechen und sich auf diese Weise im durchgeplanten Fernsehprogramm das Spannungsprinzip des offenen Ausgangs zu erhalten“.16 In Reality- oder Casting-Formaten könnten die Zuschauer über Gedeih und Verderb der Kandidaten bestimmen (zumindest wird ihnen das Gefühl gegeben; → Reality TV). Dadurch vollziehe sich ein Machtwechsel: „Der Zuschauer befindet sich gegenüber den Kandidaten in einer für

14 Schrape 1995 (28f.); diese Skala rezipieren u.a. Ruhrmann/Nieland (1997), Goertz (2004) und Stark (2006). 15 Ruhrmann/Nieland (1997, 88–90). Im Einzelnen benennen die Autoren die Stufen wie folgt: 1. traditionelles TV: Ein- und Ausschalten und Wechseln von Programmen; 2. traditionelles TV mit Rückkanal: Abstimmungen über TED durch Anrufe beim Sender; 3. paralleles TV; 4. additives TV; 5. Media on demand; 6. kommunikatives TV. 16 Bleicher (2006, 83).

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ihn befriedigend wirkenden Machtposition. Er verteilt Sympathie und Antipathie, die er in der Auswahlmöglichkeit per Anruf auch interaktiv ausleben kann.“17 Die Erfahrung von Passivität und Machtlosigkeit weiche einer Erfahrung von Macht. Die Fernsehzuschauer können sich, wenn sie wollen, an den Kandidaten (die durchaus als nervige Fernsehprominente empfunden werden können) rächen, indem sie sie für besonders harte Prüfungen auswählen oder ganz aus der Sendung werfen. JONATHAN BIGNELL sieht mit dieser Form von Fernsehinteraktivität sogar eine kulturelle Veränderung am Werk: „If interactive voting becomes widespread and socially significant, there is likely to be change in terms of success and failure, winners and losers, and the ability of individuals to take risks in order to succeed.“18 Insgesamt werden Call-in-Sendungen vor allem als Strategie der Fernsehindustrie gewertet, im Zeitalter zunehmender Medienkonvergenz und zunehmender Konkurrenz durch das World Wide Web weiterhin sichtbar zu bleiben und die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu behalten.19 Wichtige Rückkanäle sind im Moment das Telefon bzw. die SMS und sogenannte Second Screens, also mobile, internetfähige Endgeräte, welche die Zuschauer über die klassische Fernsehsendung begleitende Texte oder Programme zur Partizipation einladen (so etwa Apps für Mobiltelefone oder Tablet-Computer).20 Verändert sich dadurch das Interaktivitätspotential des Fernsehens radikal? Der Tenor der Forschung ist hier eher vorsichtig. Nach Stark bleibt das kommunikative Setting „nahezu gleich“.21 Kim und Sawhney, auf die sich Stark bezieht, vergleichen das interaktive Fernsehen mit einer Maschine, die nur vorbestimmte Reaktions- und eben nicht Interaktionsformen zulässt.22 Sie schreiben: „Indeed, the users are still configured as a reactive, homogenized, consuming mass in the interactive TV system. As such, interactive TV not only inherits traditional TV’s nature and structure but also its cultural and mass consumerism-oriented ideological basis.“23 Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Stark. Weil interaktives Fernsehen weiterhin keine Kommunikationsmöglichkeiten unter den Usern selbst ermögliche, handle es sich „nicht um echte Interaktivität, sondern nur um

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Bleicher (2006, 86). Bignell (2013, 293). Vgl. Bleicher (2006, 84). Vgl. hierzu etwa Beyer u.a. (2007) und Cesar/Bulterman/Jansen (2009). Stark (2006, 46). Kim/Sawhney (2002, 226f.). Die Autoren erinnern damit auch an die Unterscheidung von Raymond Williams (2003, 144) zwischen „reactive and interactive technology“. 23 Kim/Sawhney (2002, 228). Ganz ähnlich vermutet das auch Schanze (2002, 113): „Offensichtlich bleibt es dort bei der Asymmetrie. Fernsehen im Internet löst diese Asymmetrie nicht auf.“

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quasi-interaktive Operationen“.24 Wenn Fernsehmacher das Potential der Interaktivität ausschöpfen wollten, müssten sie daher mehr nach dem Nutzer fragen: „Inwieweit macht er von den verfügbaren Wahlmöglichkeiten Gebrauch?“25 Dies ist eine Frage, die für die Rhetorik von Interesse ist – auch wenn sie normalerweise den Orator viel stärker in den Blick nimmt als das Publikum. Es genügt offensichtlich nicht, die zunehmenden technischen Möglichkeiten und die externen Rückkanäle, die das Fernsehen in einer Art „Umarmungsstrategie“ zu integrieren versucht, mit einem halbherzigen Interaktivitätsversprechen zu versehen, das dann jedoch nicht gehalten wird, weil den Zuschauern keine wirklichen Steuerungs- oder Kontrollrechte eingeräumt werden. Es gilt vielmehr, die Zuschauer zur Partizipation einzuladen – und zwar in einem Rahmen, der den Produktionsstrukturen des Fernsehens entspricht, also nicht mit einem radikalen kommunikativen Rollentausch verbunden ist. Utopien wie diejenige, das Fernsehen könne eine Art öffentliche Plattform nach Habermas’scher Vorstellung werden,26 müssen daher verworfen werden. In dieser Hinsicht kann das Fernsehen nicht mit dem Internet konkurrieren. Es kann sich jedoch – was die kommunikative Interaktivität betrifft – in bestimmten Formaten immer mehr vom „Sesselund Bierflaschenfernsehen“27 entfernen und außerdem flexiblere Angebotsformen entwickeln, die es den Nutzern erlauben, sich aus vorherbestimmten Angeboten ihr persönliches Fernsehprogramm zusammenzustellen (→ Programmstruktur).28 Literatur Beyer, Yngvil u.a. (2007): Small Talk Makes a Big Difference. Recent Developments in Interactive, SMS-Based television. In: Television & New Media 8/3, 213–234. Bignell, Jonathan (2013): An Introduction to Television Studies. 3. Aufl. New York. Bleicher, Joan K. (2006): Der Zuschauer als Spielleiter. Formen der Interaktivität in aktuellen Unterhaltungskonzepten des Deutschen Fernsehens. In: Britta

24 Stark (2006, 50). 25 Stark (2006, 51). 26 Vgl. etwa Kim/Sawhney (2002, 221), die die Idee favorisieren, dann jedoch wieder verwerfen, und kritisch Müller (2006, 79). 27 Schanze (2002, 117). 28 Ein wichtiger Zielpunkt dieser Entwicklung wäre etwa der „Me-Channel“, der eine Art personalisiertes Programm bereitstellt, vgl. Forman/Wippersberg (2007, 61).

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M ONITORING Den Begriff ‚Monitoring‘ führt der Philosoph STANLEY CAVELL Anfang der 1980er Jahre in den Fernsehdiskurs ein und bezeichnet damit im weitesten Sinne eine Verarbeitungsweise des Fernsehens, die eine bestimmte Rezeptionshaltung begünstigt. Monitoring lässt sich mit Beobachten oder Überwachen übersetzen und wird dem ‚Viewing‘ gegenübergestellt, das typisch für das Kino sei.1 Bei dem Konzept spielen technische und ästhetische Aspekte des Mediums eine Rolle, außerdem werden sowohl die Produktion als auch die Rezeption der Fernsehtextur einbezogen – in dieser Hinsicht stellt es ein umfassendes Konzept dar, das gerade in seiner Breite für die Rhetorik besonders anschlussfähig ist. Dabei muss jedoch in Rechnung gestellt werden, dass Cavell mit dem Konzept keineswegs eine Ontologie des Fernsehens anstrebte, sondern lediglich ein Charakteristikum des Fernsehens näher zu fassen trachtete. Dieses Charakteristikum besagt, dass Fernsehzuschauer vom Fernsehen eher dazu angeregt werden, das am Bildschirm Gezeigte zu beobachten und zu überwachen, als es zu betrachten, wie dies etwa beim Kinofilm der Fall ist (→ Zerstreuung). Die Motivation des Beobachtens ist die Erwartung eines Ereignisses, das für ihn so jedoch nicht vorhersagbar ist (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme). Rhetorisch gesehen geht es beim Monitoring also darum, dem Zuschauer ein abwechslungsreiches Fernseherlebnis zu bieten, bei dem sich immer wieder etwas ereignet. Auf diese Weise wird die abwartende Beobachtung auf Seiten der Zuschauer immer wieder in aufmerksame Ereignisrezeption zu verwandeln versucht. Cavells Konzept ist, was den Status dieses Ereignisses betrifft, für mehrere Lesarten offen: Es kann sich in der vormedialen Welt ohne Zutun der Fernsehmacher abspielen (das ist sein Ausgangspunkt), es kann aber auch von den Fernsehmachern inszeniert werden. Entscheidend ist, dass das Monitoring die Zuschaueraufmerksamkeit darauf vorbereitet, beim Eintreten eines Ereignisses aktiv zu werden. Cavell, von Hause aus eher Film- als Fernsehphilosoph, widmet sich eigentlich nur in einem Aufsatz, The Fact of Television von 1982, dem Fernsehen. Aus diesem tritt der Begriff des Monitoring jedoch so plastisch hervor, dass ihn seither die Fernsehwissenschaft immer wieder aufgegriffen und integriert hat. Auch die Rhetorik kann das Monitoring-Konzept sehr gut in ihr pragmatisches Modell der Fernsehkommunikation aufnehmen. Cavell selbst geht es in erster Linie um Wahrnehmungsfragen, die in der Aufnahme- und Übertragungstechnik des Fern-

1

Vgl. Cavell (2002 [1982], 142–144).

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sehens gründen und ästhetisch interpretiert werden. Konkret heißt es bei Cavell: „Die Wahrnehmungsform, über die ich im Zusammenhang mit der materiellen Basis des Fernsehens nachdenken möchte, ist die des Überwachens [monitoring].“2 Dem Begriff des Monitoring wohnt, so HERBERT SCHWAAB, von vornherein ein Doppelsinn inne, der sowohl die Wahrnehmung auf Seiten des Rezipienten als auch die technische Produktion des Fernsehbilds betrifft.3 Für Cavell sind die Fernsehgeräte „in unseren Häusern […] nicht als Empfangsgeräte, sondern als (Kontroll-)Monitore zu betrachten“,4 die das, was sie beobachten, zeitgleich in die Häuser der Zuschauer übertragen. Diese Gleichzeitigkeit von Aufnahme und Übertragung auf einen Bildschirm, die nicht zuletzt auch mit einer Kontrolle der Aufnahme verbunden ist, stellt nach Cavell ein entscheidendes Kennzeichen des Fernsehens dar. Es ist daher eng mit der → Liveness verwandt. Die Aufnahmetechnik der Fernsehbilder schlägt sich auf der Ebene der Fernsehtextur nieder; nicht so sehr in den bewegten Bildern selbst als vielmehr in den Konnotationen, die mit ihnen verbunden werden. Kino- und Fernsehbilder könnten somit das Gleiche zeigen, den Zuschauern jedoch unterschiedliche Wahrnehmungsmodi nahelegen – Viewing und Monitoring. Zusätzlich weisen sie, so Cavell, auf die unterschiedlichen medialen Verarbeitungsformen erst eigens hin. Erfolgreiche Fernsehformate, die auf Monitoring basieren – Cavell nennt hier zum Beispiel Sitcoms, Talkshows oder Konzertübertragungen –, offenbaren auf diese Weise die „Voraussetzungen des Überwachens“.5 Schwaab nennt in Anlehnung an Cavell zwei zentrale Funktionen des Monitoring: Zum einen werde der Monitor „als eine Art Türöffner verstanden, der mir anzeigt, wer mich besuchen kommen wird, mich aber auch vor ungebetenem Besuch beschützt.“ Zum anderen ermögliche der Monitor eine „intime Beziehung zur Welt“.6 Beim Fernseh-Monitoring geht es also nicht um reine Übertragung, wie es bei Kontrollmonitoren von Überwachungskameras der Fall ist, sondern dezidiert um Vermittlung. Diesen Punkt betont auch JÜRGEN TRINKS: „Fernsehen unterscheidet sich vom bloßen Monitoring der Überwachungskameras dadurch, daß es nicht nur die Ereignisse präsentiert, sondern auch deutet, Interpretationen mitliefert, damit also die Ereignisse zu neutralisieren sucht. Auch hier ist diese Doppelbewegung zu

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Cavell (2002, 144). Vgl. Schwaab (2010, 313). Cavell (2002, 144). Cavell (2002, 144). Schwaab (2010, 314).

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erkennen: einerseits durch die Ereignisse zu beunruhigen, andererseits durch Deutungen wieder zu beruhigen.“7 Das Ereignis spielt eine wichtige Rolle beim Monitoring – versteht Cavell die „materielle Basis des Fernsehens“ im Grunde als einen „Strom simultaner Ereignisrezeptionen“.8 Das bedeutet, dass das Fernsehen potentiell in der Lage ist, mit sehr vielen Kameras sehr viel zu beobachten und einfach von Monitor zu Monitor zu schalten, je nachdem, wo die Ereignislosigkeit durch ein Ereignis unterbrochen wird. Das beste Beispiel für diese Konstellation, die auch als „Simultanraum“ und „Ereignisraum“ bezeichnet wird,9 ist die Liveübertragung eines Fußballspiels oder einer anderen Großveranstaltung. Trinks nimmt hierzu eine rhetorische Perspektive ein, ohne sie als solche zu benennen: „Für gelingende Fernsehaufnahmen ist also zunächst die überlegte Installation der Apparate wichtig. Es geht um die geschickte Konstellation, es geht um die Bedingungen, die ein Einfangen der Ereignisse am wahrscheinlichsten machen. Das Aufstellen von Kameras geschieht also nach Wahrscheinlichkeitsüberlegungen. […] In ihm [dem Fernsehen] betrachten wir die Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt der Wahrscheinlichkeit, mit ihm werfen wir Blicknetze so aus, daß wichtige Ereignisse eingefangen werden können.“10 Hier ist zweierlei interessant: Erstens geht es darum, einen Raum mit Hilfe der Kameras so beobachtbar zu machen, dass alles, was sich in diesem Raum ereignet, von einer oder mehreren Kameras eingefangen werden kann.11 Zweitens ergibt sich aus diesem Beobachtungsmodus eine neue Art der ‚Montage‘: Es wird nicht mehr geschnitten, sondern umgeschaltet – und die große Kunst des Bildregisseurs besteht darin, die Ereignisse in diesem Simultanraum so zu antizipieren, dass sie für den Zuschauer nachvollziehbar präsentiert werden.12 Dieses ‚Umschalten‘ ist es auch, das den fernsehspezifischen Strom vom filmspezifischen Erzählen unterscheidet (→ Flow). Mit dem Philosophen RICHARD DIENST könnte man auch sagen, dass das Fernsehen beim Monitoring zwi-

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Trinks (2000, 27). Cavell (2002, 144). Vgl. hierzu Fahle (2006, 88). Trinks (2000, 22). Vgl. auch Cavell (1999, 87): „Es geht dabei nicht darum, etwas sichtbar werden zu lassen, sondern darum, etwas durch einen Bericht abzudecken, es im Blick zu haben (wie wenn man jemanden in Schach hält mit einer Pistole)“. 12 Vgl. Cavell (2002, 151): „Abfolge wird durch Umschalten ersetzt, das bedeutet, dass die Bewegung von einem Bild zum anderen nicht wie im Film durch Bedeutungskonstruktion motiviert ist, sondern durch die Erfordernisse der Gelegenheit und Antizipation“.

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schen zwei verschiedenen Zeitmodi hin- und herwechselt: der ‚automatic time‘, die bei der ununterbrochen fließenden Live-Übertragung der Fall ist, und der ‚still time‘, die sich jedoch nicht etwa auf Film-Stills bezieht, sondern genau das Umschalten und jede andere Form von Unterbrechung und Ergänzung bezeichnet.13 Die ‚automatic time‘ ist dabei nicht nur ein Inbegriff der Gegenwart, indem der Zuschauer ohne Umschalten oder ohne Unterbrechung auf einen Monitor starrt, auf dem die Ereignislosigkeit herrscht, sondern auch ein Verweis auf die Zukunft: „it is an image waiting for its event to happen“.14 Der Modus des Monitoring evoziert aus rhetorischer Sicht also stets eine Erwartungshaltung seitens der Zuschauer – seine Botschaft ist ein kontinuierliches „Bleiben Sie dran“. Das Fernsehen ist in Anlehnung an Cavell nicht in erster Linie als Deutungsinstanz, sondern vor allem als Ereignisübertragungsinstanz relevant. LORENZ ENGELL radikalisiert diesen Gedanken, indem er die Kraft des Fernsehens hauptsächlich in der Sinnzerstörung sieht15 – dies legt Cavell jedoch nicht zwangsläufig nahe. Er sieht das Potential des Fernsehens darin, dem Ereignis per Beobachtung und Überwachung Ausdruck zu verleihen (ja, es zu offenbaren) und es nicht in Gestalt einer Erzählung zu präsentieren.16 Dass im Fernsehen auch Spielfilme gezeigt werden und das Fernsehen somit auch zum Kino-Modus des Betrachtens (Viewing) einladen kann, schließt Cavell nicht aus. Die Erwartungshaltung und das „Erfordernis der Gelegenheit und Antizipation, als wäre die Bedeutung von dem Ereignis diktiert“,17 sind aus rhetorischer Sicht besonders wichtig, um das Spezifikum des Monitoring als ein Überzeugungspotential des Fernsehens zu verstehen. Mit Hilfe von Fernsehtexten, so die These, wird die Aufmerksamkeit der Zuschauer nicht überbeansprucht, sondern nur leise modelliert. Die Zuschauer sollen präpariert werden, um im entscheidenden Moment (demjenigen des Ereignisses) hellwach zu sein. Das Fernsehen bereitet sie auf „bestimmte Eventualitäten“ vor. Dazu müssen die Fernsehmacher selbst auf diese Eventualitäten vorbereitet sein, wie Trinks beschrieben hat.18 Sie betrachten die Welt nach den Kriterien der Wahrscheinlichkeit, müssen – so könnte man in Anlehnung an die aristotelische Definition der Rhetorik sagen –

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Vgl. Dienst (1994, 159f. bzw. 161). Dienst (1994, 161). Engell (2012, 186–192). Zum Unterschied von Strom (Monitoring) und Geschichte (Viewing) vgl. auch Trinks (2000, 23). 17 Cavell (2002, 151). 18 Zu Trinks’ Interpretation des Monitoring-Konzepts vgl. sein hervorragendes Fazit (2000, 28).

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bei jedem Gegenstand das möglicherweise Ereignishafte erkennen und mittels der technischen Apparaturen den Zuschauern verfügbar machen.19 Dies tun sie unter Verzicht auf narrative Mittel, allerdings durchaus mit Deutungsabsicht. Auf der einen Seite kann dem Zuschauer der Eindruck vermittelt werden, er könne das Ereignis quasi unvermittelt beobachten, auf der anderen Seite kann er aber auch gezielt und deutlich sichtbar gesteuert werden, durch antizipierende oder störende Schaltungen etwa oder durch ergänzende Einblendungen. Für die Irakkriegsberichterstattung ist diese Strategie des Live-Monitoring der Luftangriffe auf Bagdad exzessiv eingesetzt worden. In Nachrichtenformaten wurde zwischen verschiedenen Modi der Dringlichkeit gewechselt: von der rein abwartenden über die verheißende bis hin zur aufführenden Beobachtung und wieder zurück. Das Monitoring-Konzept lässt sich hier also weiter differenzieren, außerdem bestätigte sich wieder einmal die These von der Komplexität und Widersprüchlichkeit des Fernsehens, da oftmals in zwei verschiedenen Bildschirmfenstern unterschiedliche Modi des Monitoring oder auch Monitoring und Viewing kombiniert wurden.20 Monitoring ist mithin eine, keineswegs aber die einzige Strategie des Fernsehens, die Zuschauer zur kontinuierlichen Nutzung zu bewegen. Es ist ein unausgesprochenes, implizites Versprechen, das die strukturellen Potentiale der Livebeobachtung und -übertragung voll entfaltet, ganz ohne → Personalisierung oder Narration. Literatur Aristoteles: Rhetorik. Übers., mit einer Bibliogr., Erläuterungen und einem Nachw. von Franz G. Sieveke. 5. Aufl. München 1995. Cavell, Stanley (1999): Aus: Die Welt betrachtet. In: Ludwig Nagl (Hrsg.): Filmästhetik. Wien, 84–102. Cavell, Stanley (2002): Die Tatsache des Fernsehens [1982]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 125–164. Dienst, Richard (1994): Still Life in Real Time. Theory after Television. Durham, London.

19 Die aristotelische Rhetorikdefinition (Rhetorik I.2.1) lautet in der Übersetzung von Franz G. Sieveke: „Die Rhetorik stelle also das Vermögen dar, bei jedem Gegenstand das möglicherweise Glaubenerweckende zu erkennen.“ 20 Vgl. Ulrich 2012, 418–453.

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Fahle, Oliver (2006): Das Bild und das Sichtbare. Eine Bildtheorie des Fernsehens. In: Ders. / Lorenz Engell (Hrsg.): Philosophie des Fernsehens. München, 77–90. Schwaab, Herbert (2010): Erfahrung des Gewöhnlichen. Stanley Cavells Filmphilosophie als Theorie der Populärkultur. Münster. Trinks, Jürgen (2000): Faszination Fernsehen. Die Bedeutung des medialen Weltbezugs für den Menschen der Gegenwart. Frankfurt a.M. u.a. Ulrich, Anne (2012): Umkämpfte Glaubwürdigkeit. Visuelle Strategien des Fernsehjournalismus im Irakkrieg 2003. Berlin.

P ARASOZIALE I NTERAKTION Als parasoziale Interaktion wird die Simulation einer Face-to-Face-Interaktion mit fernsehmedialen Mitteln bezeichnet. Sie wird evoziert durch Figuren, die im Fernsehen auftreten, die Zuschauer als Kommunikationsteilnehmer ansprechen und zu Reaktion und scheinbarer Interaktion einladen. Unterstützt wird die Simulation durch Kameraführung und Studioinszenierung. Ziel parasozialer Interaktion ist die Evokation des Gefühls, Teil einer kommunikativen Gemeinschaft zu sein, welche die raumzeitlichen Grenzen der Distanzkommunikation vermeintlich überschreitet und die Adressaten durch Aufmerksamkeitserregung und Involvierung an bestimmte Fernsehpersonae, -sendungen oder -kanäle bindet. Somit ist parasoziale Interaktion als eine wichtige Bindungs- und Anschlussstrategie zu verstehen – ermöglicht sie doch in ‚unpersönlichen‘ massenmedialen Kommunikationsverhältnissen eine Anknüpfung an das ur-rhetorische Basissetting der Face-to-Face-Situation. Parasoziale Interaktion ist demnach als medial-virtuelles Analogon der rhetorischen Situativik zu verstehen und dient sowohl der scheinbaren ‚Re-Naturalisierung‘ technisch vermittelter Kommunikation wie auch der illusionistischen Aufhebung medialer Verfremdung. Dem stehen ‚unpersönliche‘ Kommunikationsmodi des Fernsehens (etwa → Monitoring oder → Televisualität) gegenüber. Bei der parasozialen Interaktion versucht man die räumliche (und teils auch zeitliche) Distanz der fernsehmedialen Kommunikation zu überwinden, indem → Persona und Zuschauer in stillschweigendem Einvernehmen wechselseitige Anwesenheit und Interaktion simulieren. Es obliegt der Fernseh-Persona (der die rhetorische Oratorrolle oder zumindest ein Anteil daran zukommt), dieses wechselseitige Einverständnis zu stimulieren und die parasoziale Interaktion zu steuern, indem sie Reaktionen herausfordert, antizipiert und in den weiteren Verlauf der ‚Interaktion‘ integriert. Dadurch wird eine fernsehspezifische Form

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von kommunikativer Gemeinschaft etabliert, die in vielen Fällen zentral für die Glaubwürdigkeit und den Erfolg von Fernsehsendungen ist. Parasoziale Interaktion bildet demnach ein Kernelement pragmatischer Fernsehtheorie und stellt eine bedeutende Schnittstelle von Fernsehforschung und Rhetoriktheorie dar. Das Konzept1 der parasozialen Interaktion entwarfen bereits 1956 die Soziologen DONALD HORTON und R. RICHARD WOHL in ihrem berühmt gewordenen Aufsatz Mass Communication and Para-Social Interaction. Observations on Intimacy at a Distance.2 Sie charakterisieren die parasoziale Interaktion im Kern als „Simulakrum eines wechselseitigen Gesprächs“ („simulacrum of conversational give and take“), bei dem sich Fernsehperformer und Fernsehzuschauer in eine scheinbare Face-to-Face-Interaktion begeben.3 In der parasozialen Interaktion sehen sie ein zentrales Kennzeichen der damals noch neuen Massenmedien, besonders des Fernsehens, woran sich bis heute nichts geändert hat.4 Das Konzept der parasozialen Interaktion lässt sich als Teil einer „interaktionistischen“ oder pragmatischen Fernsehtheorie einordnen.5 Es ist eng verwandt mit dem von ROBERT C. ALLEN sogenannten „rhetorischen Modus“ des Fernsehens6 und der „phatischen Gemeinschaft“ HANS JÜRGEN WULFFS.7

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Sowohl Vorderer (1996, 7) als auch Gleich (1997, 35f.) betonen, dass bisher keine Theorie zur parasozialen Interaktion vorgelegt worden sei, und sprechen daher lieber von einem Konzept. Horton/Wohl (1956), vgl. erweiternd außerdem Horton/Strauss (1957). Horton/Wohl (2002 [1956], 75). Vgl. Wulff (1996, 1): „Parasozialität ist ein Konstitutivum von Medienkommunikation.“ (Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Online-Publikation.) Christina Bartz (2007, 8), die sich mit dem Begriff der Masse am Beispiel des Fernsehens beschäftigt, sieht in der Simulation von Anwesenheit ebenfalls ein zentrales Spezifikum. Damit werde das Paradox überbrückt, nach dem das Massenmedium die räumliche Anwesenheit einer Gruppe erfordert, die gerade bei der Distanzkommunikation über ein Medium nicht gewährleistet sein kann. Vgl. Horton/Strauss (1957, 587); siehe auch Hippel (1992, 137) und Wulff (1996, 1). „In the rhetorical mode, both the addresser and the addressee […] are openly acknowledged. The former is frequently personified or ‚characterized‘ as the reporter, anchorperson, announcer, host, master of ceremonies, or quiz master. The viewer is addressed directly as characters look directly into the camera and speak to ‚you, the home viewer.‘ The means of presentation, particularly the technological means of presentation, are frequently emphasized rather than hidden.“ (Allen 1987, 91). Vgl. Wulff (1993).

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Parasoziale Interaktion ist nicht mit der sozialen Interaktion in einer Face-toFace-Situation zu verwechseln, sondern bezeichnet eine von Fernseh-Personae inszenierte und von Fernsehzuschauern akzeptierte Vorstellung sozialer Interaktion – wobei allen Beteiligten im Regelfall durchaus bewusst ist, dass es sich keineswegs um eine reziproke Interaktion handelt.8 Die Simulation beruht einerseits auf dem Verhalten der Persona und anderer Figuren im Studio (als ‚inhaltlichem‘ Element der Fernsehtextur) und fernsehspezifischen Gestaltungsmitteln (als ‚formalem‘ Element der Fernsehtextur).9 Die Simulation gelingt dadurch, dass die Persona den Zuschauer als Interaktionspartner adressiert, indem sie etwa „die Gesten, den Konversationsstil und das Milieu einer informellen Face-toface-Interaktion“ nachahmt10 und ihm dadurch eine komplementäre Interaktionsrolle zuweist.11 Da die scheinbare Interaktion nur von einer Seite aus gesteuert werden kann, muss die Persona ein Gespür für die möglichen Reaktionen der Zuschauer entwickeln und diese als strukturelle Leerstellen12 in ihre Performanz einkalkulieren. Horton und Wohl beziehen sich dabei auf KENNETH BURKES Begriff der Identifikation, insbesondere der „collaborative expectancy“;13 die Rhetoriktheorie fasst dies unter dem Begriff des ‚projektiven Adressatenkalküls‘.14 Wulff spricht in diesem Zusammenhang von einem „Prozeß der wechselseitigen Unterstellung von Rollen […] – der Zuschauer begegnet der Persona mit einem Set von Rollen- und Verhaltenserwartungen, und die Persona konzipiert die eigene Rolle in Vorwegnahme der Interpretation des eigenen Auftretens und der

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Vgl. Hippel (1992, 137), der sich dezidiert gegen eine pathologische Interpretation der parasozialen Interaktion ausspricht: Fernsehzuschauer gehen also in der Regel nicht davon aus, dass etwa Nachrichtensprecher mit ihnen persönlich sprechen, auch wenn sie sich von ihnen durchaus angesprochen fühlen. Für eine Übersicht über diese Elemente der parasozialen Interaktion siehe Wulff (1996, 8) sowie Baeßler (2006, 437). Horton/Wohl (2002, 79). Vgl. Horton/Wohl (2002, 102): „Die wichtigste Grundlage dieser Lenkung und Kontrolle liegt aber darin, dass dem Zuschauer eine Art von Komplementärrolle zu derjenigen der Persona zugewiesen wird.“ Vgl. Wulff (1996, 3) mit Bezug auf die Rezeptionsästhetik von Wolfgang Iser (1990). Horton/Wohl (2002, 82); vgl. Burke (1955, 58, auch 57): „You persuade a man only insofar as you talk his language by speech, gesture, tonality, order, image, attitude, idea, identifying your ways with his.“ Vgl. Knape (2012, 55). Hippel (2000, 63) benutzt hierfür auch den Begriff der „Ausrichtung“ bzw. des rhetorischen aptum (der Angemessenheit).

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eigenen Handlung aus Sicht eines ‚projected audience‘, der Vorstellung eines Zuschauers“.15 An der parasozialen Interaktion sind jedoch nicht nur Persona und Zuschauer beteiligt, sondern weitere Akteursrollen, die Donald Horton und ANSELM STRAUSS näher beschrieben haben.16 Die Rolle von Gesprächspartnern oder Publikum im Studio ist dabei besonders wichtig (auch sie sind ‚inhaltliche‘ Elemente der Fernsehtextur).17 Als direktes Gegenüber der Persona bilden sie einen ‚Spiegel‘ für das heimische Publikum, das diesem die von der Persona antizipierte und erwartete Reaktion vor Augen führt.18 Wieder mit Bezug auf Burke sprechen Horton und Wohl hier von einem regelrechten „Verhaltenstraining“ („coaching of attitudes“) zur Etablierung der parasozialen Interaktion.19 Bei all dem darf jedoch nicht der Eindruck einer festgelegten Inszenierung entstehen – wenngleich JOSHUA MEYROWITZ davon ausgeht, dass sich eine Persona im Fernsehen expressiver verhalten muss als in persönlichen Begegnungen.20 Vielmehr wird die parasoziale Interaktion gerade im Fernsehen über die Darstellung von Spontaneität, Geselligkeit und Ungezwungenheit hervorgerufen, weswegen sie sich in Live-Sendungen oder in Echtzeit ablaufenden Sendungen am besten realisieren lässt (→ Liveness).21 Zur Umsetzung der parasozialen Interaktion nennen Horton und Wohl zwar auch formale Gestaltungsmittel, etwa die direkte Adressierung durch die Kamera oder die Nahaufnahme zur Erzeugung von Intimität, insgesamt legen sie aber deutlich mehr Wert auf den textuellen ‚Auftritt‘ der Persona. Dieser ist insofern fernsehspezifisch konturiert, als die Persona aufgrund der → Programmstruktur im Fernsehen wesentlich regelmäßiger und verlässlicher erscheint als ein Interaktionspartner in der realen Lebenswelt. Dadurch kann sich aus der parasozia-

15 Wulff (1996, 10). 16 In Sendungen mit Zuschauerbeteiligung fänden sich beispielsweise fünf Kategorien von ‚Teilnehmern‘: 1. die Persona als ‚Zeremonienmeister‘, 2. das Studiopublikum, 3. Performer aus dem Publikum oder andere Teilnehmer der Show, 4. professionelle Assistenten oder unterstützende Performer und 5. die Zuschauer zu Hause vor dem Fernseher, vgl. Horton/Strauss (1957, 579). 17 Zum Studiopublikum vgl. eigens auch Wulff (1988). 18 Horton/Strauss (1957, 580) sprechen hier unter Bezug auf George Herbert Mead von „stellvertretender Interaktion (vicarious interaction)“, bei der der Zuschauer Interaktion beobachten kann, noch ohne selbst eine Rolle darin zu übernehmen. 19 Horton/Wohl (2002, 84) mit Bezug auf Burke (1937, 104). 20 Meyrowitz (1987, 82). 21 Vgl. Horton/Wohl (2002, beispielsweise 77 bzw. 81). Zur Liveness und Personenbindung siehe auch Bourdon (2004, 183).

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len Interaktion langfristig auch eine auf Vertrauen und Intimität basierende parasoziale Beziehung entwickeln. Kurzfristig besteht das Ziel der parasozialen Interaktion hingegen darin, die Aufmerksamkeit und Partizipationsbereitschaft des Fernsehzuschauers zu stimulieren und ihn in eine imaginäre Kommunikationssituation zu verwickeln. Freilich unterscheiden sich ‚orthosoziale‘ und parasoziale Interaktion fundamental: Im einen Fall interagiert der Zuschauer mit einem anwesenden Menschen, wobei sich beide Interaktionspartner wechselseitig wahrnehmen und den Interaktionsverlauf gleichermaßen steuern können (→ Interaktivität). Im anderen Fall reagiert der Fernsehzuschauer auf ein fernsehtextuelles Angebot, das er selbst nicht zu steuern vermag und das nur in seinem Fühlen und Denken den Charakter einer ‚Interaktion‘ annimmt. Dadurch wird der Zuschauer, so Meyrowitz, prinzipiell entlastet, weil er auch „unhöflich“ reagieren kann: die Persona beispielsweise unverfroren beobachten oder anstarren kann und auch nicht zwingend reagieren muss.22 Aus rhetorischer Sicht ist dies eine wichtige Beobachtung, denn sie zeigt, dass die parasoziale Interaktion den Zuschauer aufgrund ihrer Einseitigkeit zu nichts verpflichtet und dass auch die ‚Austrittsschwelle‘ relativ niedrig ist (→ Umschalten). Während also die ‚normale‘ Face-to-FaceKommunikation den Abbruch erschwert, ist dieser bei der ‚normalen‘ Fernsehkommunikation jederzeit ohne Gesichtsverlust für die Beteiligten möglich – die Aufrechterhaltung des ‚Gesprächs‘ gerät somit zum obersten rhetorischen Ziel. Gleichwohl sind dem Zuschauer auch beim Sich-Einlassen auf die imaginierte Interaktion und bei der Vertrauensbildung keine Grenzen gesetzt, so dass sich die parasoziale Interaktion bestens zur Zuschauerbindung eignet. Insofern sei sie als „Selektivitätsverstärker“ zu betrachten, der die allgemeine Wirkung des Mediums unterstütze.23 Diese pragmatische Funktion der Zuschauerinvolvierung und -bindung macht die parasoziale Interaktion zum Kernelement einer ‚Fernsehpragmatik‘, die im deutschsprachigen Raum vor allem von Wulff und KLEMENS HIPPEL betrieben wird. In den Prolegomena zu einer pragmatischen Fernsehtheorie bearbeitet Hippel die Fernsehpragmatik, auf den Überlegungen Wulffs aufbauend, als eine „Frage nach den Beziehungen zwischen Fernsehen und seinen Zuschau-

22 Vgl. Meyrowitz (1987, 82). Siehe auch Suckfüll (2003, 141f.) oder Wulff (1996, 2), bei dem zu lesen ist: „Auch dann, wenn man mediale Erfahrung zur Alltagserfahrung dazurechnet, sollte man sich dieses Unterschiedes gewahr bleiben – daß die Art, wie man eine mediale Erfahrung macht, die beiden Teilnahmemodalitäten ‚Observation‘ und ‚Partizipation‘ gleichermaßen und notwendigerweise umfaßt.“ 23 Hoffmann (2005, 71).

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ern“24 – im Gegensatz zu Horton und Wohl allerdings rein textbezogen. Dies kommt einer rhetorischen Betrachtungsweise entgegen, denn auch sie sieht die Persona zunächst einmal als textuelle Größe an, die keinesfalls mit der Oratorrolle identisch sein muss – auch wenn sie durchaus Anteile an der Oratorrolle besitzen kann. In seiner Arbeit setzt sich Hippel besonders mit den Begriffen der ‚Adressierung‘ und der ‚Situationalität‘ auseinander. Bei der Adressierung geht es um fernsehtextuelle Verfahrensweisen, „die aus dem Text selbst hinaus auf den Zuschauer zielen und ihn als Adressaten kennzeichnen“.25 Hippel differenziert zwischen kollektiven und personalen Adressierungsformen sowie verschiedenen Teilnahmemodi für die Zuschauer und verfeinert dadurch das von Horton und Wohl vorgelegte Konzept an einigen Stellen. Als eine besonders wichtige Funktion der Adressierung stellt er heraus, dass ein als Teilnehmer angesprochener und verpflichteter Zuschauer nicht zum Voyeur werden könne.26 Unter dem Stichwort ‚Situationalität‘ widmet sich Hippel schließlich der auch rhetorisch überaus relevanten Frage, wie über den Fernsehtext eine Kommunikationssituation zwischen Kommunikator und Zuschauer etabliert werden kann, wo doch durch die Dimission de facto überhaupt keine gemeinsame Situation gegeben ist. In der Regel ist in diesem Zusammenhang von einer doppelten ‚Situationalität‘ die Rede: Die erste betrifft eben das (dimissive) Basissetting der Kommunikation, die zweite die textuell erzeugte Kommunikationslage, etwa im Fernsehstudio bei einer Talkshow.27 Bei der Simulation einer Face-to-Face-Situation fallen beide ‚Situationen‘ keineswegs zusammen. Letztere kann nach Hippel jedoch dabei helfen, erstere als Face-to-Face-Konstrukt in den Köpfen der Adressaten zu erzeugen. Der Beziehung zwischen Fernsehakteuren und Zuschauern hat sich auch die empirische Medienpsychologie gewidmet, insbesondere mit Blick auf die Rezeptionssituation.28 Dabei wurde am Beispiel der parasozialen Interaktion mit Nachrichtensprechern eine ‚Parasocial Interaction Scale‘ entwickelt, die verschiedene Parameter der Einstellung der Rezipienten zu ihren Lieblingsmoderatoren abfragt.29 In der Rezeptionsforschung ist es äußerst umstritten, inwiefern sich diese Skala zur Untersuchung der parasozialen Interaktion mit anderen Personae ver-

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Hippel (2000, 17). Hippel (2000, 87). Zur Adressierung vgl. auch Mikos (1996, bes. 101–103). Vgl. Hippel (2000, 119–121). Vgl. Hippel (2000, 126–128) sowie Wulff (1994). Für einen Überblick vgl. auch Gleich (1997, 97–109). Vgl. Rubin/Perse/Powell (1985, 167).

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allgemeinern oder auch auf fiktionale → Formate übertragen lässt. ULI GLEICH entwickelt dafür in seiner Monographie zur parasozialen Interaktion einen theoretischen und methodischen Rahmen, nach dem parasoziale Beziehungen „nach ähnlichen Mustern wie reale soziale Beziehungen“ entstehen, und kommt insgesamt zu dem Ergebnis, dass sich parasoziale Beziehungen von Fernsehzuschauern zu Fernseh-Personae tatsächlich empirisch belegen lassen. Außerdem weist er folgende Korrelationen nach: Mit dem Alter und der Dauer des Fernsehkonsums, umgekehrt proportional zur Bildung, steigt die Ausbildung von parasozialen Beziehungen. Noch wichtiger sind jedoch nach Gleich die Motive ‚soziale Nützlichkeit‘, ‚Interesse an TV-Personen‘ und ‚Ablenkung/Geselligkeit‘, die darauf hindeuten, dass parasoziale Beziehungen kein Funktionsäquivalent für möglicherweise fehlende soziale Beziehungen darstellen.30 Insgesamt jedoch fehle es der empirischen Medienpsychologie, so MONIKA SUCKFÜLL in einem kurzen Forschungsüberblick, leider immer noch „an reliablen und validen Messinstrumenten, was angesichts der theoretischen Misere kaum verwundern kann.“31 Dass die parasoziale Interaktion sich für die empirische Forschung nur schwer operationalisieren lässt, tut ihrer medienrhetorischen Brauchbarkeit jedoch keinerlei Abbruch. So ist die parasoziale Interaktion als eines der wichtigsten Mittel zu beurteilen, die Simulation einer gemeinsamen Kommunikationssituation zwischen Fernsehorator und Fernsehadressat zu evozieren. Sie bildet einen wichtigen Baustein fernsehrhetorischer Theorie. Weitere Mittel zur Involvierung des Zuschauers in eine simulierte Situation sind beispielsweise → Personalisierung und → Oralität, der strategische Einsatz von Liveness oder auch von Televisualität sowie die Inszenierung von Medienereignissen, bei der sehr große Kommunikationsgemeinschaften etabliert werden (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme). Literatur Allen, Robert C. (1987): Reader-Oriented Criticism and Television. In: Ders. (Hrsg.): Channels of Discourse. Television and Contemporary Criticism. London, 74–112. Baeßler, Berit (2006): Charmant, locker und natürlich. Qualitäten beliebter Medienpersonen aus Rezipientensicht. In: Siegfried Weischenberg / Wiebke Loosen / Michael Beuthner (Hrsg.): Medien-Qualitäten. Öffentliche Kom-

30 Vgl. Gleich (1997, 258, 261f. und 264). 31 Suckfüll (2003, 148).

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munikation zwischen ökonomischem Kalkül und Sozialverantwortung. Konstanz, 435–456. Bartz, Christina (2007): MassenMedium Fernsehen. Die Semantik der Masse in der Medienbeschreibung. Bielefeld. Bourdon, Jérôme (2004): Live Television Is Still Alive. On Television as an Unfulfilled Promise. In: Robert C. Allen / Annette Hill (Hrsg.): The Television Studies Reader. London, New York, 182–195. Burke, Kenneth (1955): A Rhetoric of Motives. New York. Burke, Kenneth (1937): Attitudes Towards History. Bd. 1. New York. Gleich, Uli (1997): Parasoziale Beziehungen und Beziehungen von Fernsehzuschauern mit Personen auf dem Bildschirm. Ein theoretischer und empirischer Beitrag zum Konzept des Aktiven Rezipienten. Landau. Hippel, Klemens (1992): Parasoziale Interaktion. Bericht und Bibliographie. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 1/1, 135–150. Hippel, Klemens (2000): Prolegomena zu einer pragmatischen Fernsehtheorie. Dissertation, FU Berlin. Online verfügbar unter http://www.diss.fu-berlin.de/2000/37/index.html, 28.07.2008. Hoffmann, Steffen (2005): Face-to-face. In: Alexander Roesler / Bernd Stiegler (Hrsg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn, 70–72. Horton, Donald / Strauss, Anselm (1957): Interaction in Audience-Participation Shows. In: The American Journal of Sociology 62/6, 579–587. Horton, Donald / Wohl, R. Richard (1956): Mass Communication and ParaSocial Interaction. Observation on Intimacy at a Distance. In: Psychiatry 19, 215–229. Horton, Donald / Wohl, R. Richard (2002): Massenkommunikation und parasoziale Interaktion. Beobachtungen zur Intimität über Distanz [1956]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 74–104. Iser, Wolfgang (1990): Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. 3. Aufl. München. Knape, Joachim (2012): Was ist Rhetorik? Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart. Meyrowitz, Joshua (1987): Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Aus dem Amerikan. von Michaela Huber. Weinheim u.a. Mikos, Lothar (1996): Parasoziale Interaktion und indirekte Adressierung. In: Peter Vorderer (Hrsg.): Fernsehen als „Beziehungskiste“. Parasoziale Beziehungen und Interaktionen mit TV-Personen. Opladen, 97–106.

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Rubin, Alan M. / Perse, Elizabeth M. / Powell, Robert A. (1985): Loneliness, Parasocial Interaction, and Local Television News Viewing. In: Human Communication Research 12/2, 155–180. Suckfüll, Monika (2003): Parasozial interagieren mit Medienfiguren. In: Dieter Herbst (Hrsg.): Der Mensch als Marke. Göttingen, 135–149. Vorderer, Peter (1996): Vorwort. In: Ders. (Hrsg.): Fernsehen als „Beziehungskiste“. Parasoziale Beziehungen und Interaktionen mit TV-Personen. Opladen, 7–9. Wulff, Hans Jürgen (1988): Saal- und Studiopublikum: Überlegungen zu einer fernsehspezifischen Funktionsrolle. In: TheaterZeitSchrift 26, 31–36. Wulff, Hans Jürgen (1993): Phatische Gemeinschaft / Phatische Funktion. Leitkonzepte einer pragmatischen Theorie des Fernsehens. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 2/1, 142– 163. Wulff, Hans Jürgen (1994): Situationalität, Spieltheorie, kommunikatives Vertrauen: Bemerkungen zur pragmatischen Fernseh-Analyse. In: Knut Hickethier (Hrsg.): Aspekte der Fernsehanalyse. Methoden und Modelle. Münster, 187–203. Wulff, Hans Jürgen (1996): Parasozialität und Fernsehkommunikation. In: Medienpsychologie 8/3, 163–181. Online wiederveröffentlicht auf http://www.derwulff.de/2-64, 07.01.2011.

P ERSONA Das Fernsehen schafft sich in Form der Persona einen eigenen Typ von Persönlichkeiten, „deren Existenz eine Funktion der Medien selbst ist“.1 Die Persona ist weder ein Star, wie das Kino ihn hervorbringt, noch eine Person der Lebenswelt. Personae sind Exponenten der Distanz-, nicht der Präsenzkommunikation; allerdings sind sie konstitutives Element der → parasozialen Interaktion, die eine Simulation von Präsenzkommunikation unter distanzkommunikativen (dimissiven) Bedingungen darstellt. Für den Zuschauer übernehmen sie die Rolle eines kommunikativen Gegenübers. Für das Fernsehen stellt das Konstrukt der Persona ein wichtiges Potential zur scheinbaren Überwindung der räumlichen und/oder zeitlichen Entkopplung dar. Die Persona bietet dem Zuschauer medienpsychologisch gesehen die Möglichkeit, zu ihr ein Band der Intimität und somit auch eine dauerhafte Beziehung zum entsprechenden Fernsehprogramm auf-

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Horton/Wohl (2002 [1956], 76).

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zubauen. Die gesamte Diskussion um den Begriff ‚Persona‘ bewegt sich im Spannungsfeld von gefühlter Intimität auf Seiten des Adressaten oder Zuschauers bei gleichzeitiger, faktisch unüberbrückbarer fernsehmedialer Distanzkommunikation. Rhetorisch bildet die Persona eine Art medial-virtuelles Analogon zum rhetorischen Akteur: dem Orator. Allerdings ist eine Fernseh-Persona in der Regel nicht mit dem Orator gleichzusetzen, weil die fernsehmediale Textproduktion oftmals von einem Oratorkollektiv oder einem korporativen Orator vorgenommen wird. Die Persona hat jedoch oft einen wichtigen Anteil an der Funktionsrolle des Orators, weil sie diese im Prinzip stellvertretend verkörpert und so die „inhärente Unpersönlichkeit der [Massen-]Medien“ kompensieren kann.2 Mit anderen Worten: In dem vom Fernsehen stimulierten psychischen Vorgang der Integration einer Persona ins lebensweltlich orientierte Denken von Adressaten kann sie zum Platzhalter des Orators werden und beträchtliches rhetorisches Botschaftspotential entwickeln. Der Begriff ‚Persona‘ wurde durch die Soziologen DONALD HORTON und R. RICHARD WOHL in Zusammenhang mit ihrem theoretischen Konzept der parasozialen Interaktion 1956 eingeführt.3 Die Zahl der Arbeiten, die das PersonaKonzept dezidiert aufgreifen oder theoretisch weiter zu differenzieren versuchen, ist überschaubar. Im englischsprachigen Raum streift JOSHUA MEYROWITZ das Konzept kurz.4 JOHN LANGER, der sich mit ‚Fernsehpersönlichkeiten‘ auseinandersetzt, entwickelt ganz ähnliche Überlegungen, allerdings ohne expliziten Bezug auf Horton und Wohl. Im deutschsprachigen Raum wird die ‚Persona‘ vor allem in fernsehpragmatischen und medienpsychologischen Arbeiten aufgegriffen, als Hauptimpulsgeber sind hier HANS JÜRGEN WULFF und KLEMENS HIPPEL zu nennen, deren Ansätze auch die Fernsehrhetorik fruchtbar gemacht hat.5 Für Horton und Wohl ist nicht jeder Akteur im Fernsehen eine Persona im terminologischen Sinn. Besonders Quizmaster, Ansager, Interviewer entsprechen diesem für sie neuen Typus von ‚Performern‘, die die Medien selbst erschaffen haben.6 Diese ‚Persönlichkeiten‘ seien ausschließlich innerhalb der sozialen Sphäre des Fernsehens prominent. Horton und Wohl gehen davon aus, dass Personae strategisch vom Mediensystem Fernsehen eingesetzt werden, um die Aufmerksamkeit

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Horton/Wohl (2002, 85). Horton/Wohl (1956); vgl. auch Hippel (2000). Vgl. Meyrowitz (1987, 95–97). Vgl. Ulrich (2012, bes. 58f., 154–164 und 215f.). Vgl. Horton/Wohl (2002, 76).

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des Publikums zu erregen und um Werte, die durch die Personae dargestellt werden, zu vermitteln.7 Die Autoren interessieren sich vorrangig für die Wirkung, die das Fernsehen und die darin erschaffenen Personae auf den Zuschauer entfalten. Ihre These lautet, dass die Zuschauer durch die Anwesenheit einer Persona ein Gefühl von Nähe und Intimität entwickelten. Dabei handele es sich jedoch immer nur um eine Simulation von Intimität, die „immens einflussreich und befriedigend sei für die Massen, die sie willig aufnehmen und daran teilhaben“.8 Der Zuschauer begebe sich somit in eine Kommunikationssituation mit der Persona in dem Bewusstsein, dass es sich nicht um die lebensweltliche Face-toFace-Kommunikation handelt. Die Persona stelle somit die Grundbedingung der parasozialen Interaktion dar, indem sie das Publikum dazu einlade, „sich vorzustellen, dass es in einen Face-to-face-Austausch involviert ist statt in passive Beobachtung.“9 Die Medienpsychologin MONIKA SUCKFÜLL schließt genau da an, wenn sie schreibt, dass die Persona dem Zuschauer „eine Beziehungsofferte“ mache.10 Horton hat das Konzept nach dem Tod von Wohl mit ANSELM STRAUSS etwas weiterentwickelt – zu einer ausgereiften Theoriebildung ist es jedoch nie gekommen. Horton und Strauss weisen darauf hin, dass die Persona in komplexen Beziehungen mit verschiedenen Publika steht.11 Dabei kontrolliere sie großenteils die Interaktionsprozesse, andererseits könne die Illusion von Intimität und Informalität aber nur aufrechterhalten werden, wenn beispielsweise das Studiopublikum der Sendung vorübergehend eine unvorhersehbare Note verleiht.12 Horton und Strauss zeigen somit am Beispiel von Partizipationsshows, dass sich eine Persona im Spannungsfeld zwischen Kontrollfunktion im Rahmen der Programmplanung und der Rolle, eine Bindung zum Zuschauer aufzubauen, bewegt (→ Programmstruktur). Die Beziehung, welche die Persona den Fernsehzuschauern anbietet, ist nach Horton und Wohl jedoch von einer Beziehung zwischen ‚realen‘ Personen deutlich zu unterscheiden. Obwohl sich zwischen Fernseh-Persona und Fernsehzuschauer aufgrund von regelmäßigen und verlässlichen ‚Begegnungen‘ die Vorstellung einer gemeinsamen Geschichte entwickele, sei dies eine „Art des Wachstums ohne Entwicklung, da die einseitige Natur der Verbindung eine pro-

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Vgl. Horton/Wohl (2002, 81). Vgl. Horton/Wohl (2002, 76). Horton/Wohl (2002, 77). Suckfüll (2003, 143). Vgl. Horton/Strauss (1957, 580). Vgl. Horton/Strauss (1957, 586).

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gressive und gegenseitige Neuformulierung ihrer Werte und Ziele ausschließt.“13 Das stellt den Autoren zufolge jedoch keinen Nachteil dar, sondern habe für die Persona den „eigenartigen Vorteil, dass ihr Charakter und ihre Darstellung gemäß der ‚Formel‘, die von ihr und ihren Managern ausgearbeitet wurde, standardisiert und in ein angemessenes Produktionsformat eingebettet sind. Daher bleiben Charakter und Handlungsmuster der Persona unverändert in einer Welt, die ansonsten durch verstörende Veränderungen geprägt ist“.14 (→ Format) Starr soll die Rolle der Persona jedoch nicht werden, daher empfehlen Horton und Wohl der Persona, einen Eindruck von Beiläufigkeit zu erwecken und zu suggerieren, dass die Sendung „im Moment der Aufführung eine Eigendynamik“ hat.15 Diese „inszenierte Zwanglosigkeit“16 entspricht dem rhetorischen Kunstgriff der Verbergung der Kunstfertigkeit (dissimulatio artis), ohne dass Horton und Wohl darauf explizit verweisen. Die Kunstfertigkeit ist dabei als eine explizit fernsehspezifische Fertigkeit zu verstehen, die in erster Linie darin besteht, dem Zuschauer das Gefühl zu vermitteln, als sehe er gar nicht fern, sondern befände sich mit der Persona in einer direkten Interaktion. Dabei werden nicht nur in spezifischer Weise Stimme (→ Oralität), Gestik und Mimik eingesetzt, sondern auch andere formale Mittel. Die Persona verdeckt letztlich also, dass hinter der Illusion der Face-to-Face-Beziehung ein Mediensystem mit eigenen Interessen und Strategien steht. Horton und Wohl schreiben der Persona die zentrale Funktion zu, den Zuschauer an das Fernsehen zu binden, denn auf ihr „liegt die volle Bürde, eine plausible Imitation der Vertrautheit herzustellen“.17 Spektakulär sei daran, dass die Personae „eine Intimität buchstäblich mit Massen von Fremden beanspruchen und erreichen; und diese Intimität ist, auch wenn es sich um eine Imitation […] handelt, immens einflussreich und befriedigend für die Massen, die sie willig aufnehmen und daran teilhaben“.18 Wulff zieht angesichts dessen den Begriff „Para-Intimität“ vor. Den Zuschauern sei durchaus bewusst, dass es sich um kei-

13 Horton/Wohl (2002, 77f.). 14 Horton/Wohl (2002, 78). Vgl. auch Langer (1981, 357): „The real world may be unstable and unbalanced, but the world of the television personality who explains that world to us is not.“ Diese These trifft auf zeitgenössische, vielschichtige Qualitätsserien wie etwa The Wire oder Fringe so nicht mehr zu, stellt es in diesen Formaten doch oft ein dramaturgisches Mittel dar, die Hauptfiguren charakterlichen Veränderungen auszusetzen oder auch ganz aus der Serie zu streichen. 15 Horton/Wohl (2002, 79). 16 Horton/Wohl (2002, 77). 17 Horton/Wohl (2002, 81). 18 Horton/Wohl (2002, 76).

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ne reelle Intimität zwischen ihnen und der Persona handele.19 Wulff kritisiert, dass der Begriff der Intimität von Horton und Wohl kaum spezifiziert worden sei, sondern lediglich ein Maß an Geborgenheit widerspiegeln solle. Die paradoxe Situation, dass gleichzeitig eine große Anzahl an Zuschauern zu ein und derselben Persona das Gefühl von Intimität aufbauen kann, hat maßgeblich damit zu tun, dass ihr Charakter standardisiert ist und unverändert bleibt.20 Wulff geht deshalb davon aus, dass Horton und Wohl ein Konzept vorgeschwebt sei, nach der die „Persona die Inkarnation positiver sozialer Charaktervorstellungen sein müsse“.21 Wulff widerspricht dieser Vorstellung jedoch und betont, dass Intimität auch über teilweise negative Charakterzüge hergestellt werden könne und dass zum Beispiel Streit eine intensive Interaktionsform sei, die zu sozialer Nähe führe. Abneigung könne somit ebenfalls das Fundament einer parasozialen Beziehung bilden, deshalb gelten für Wulff auch Provokateure als Personae (→ Reality TV). Hippel weist überdies darauf hin, dass das Gefühl von Intimität keinesfalls mit der Identifikation des Zuschauers mit der Persona gleichgesetzt werden dürfe. Trotz der Nähe, die Horton und Wohl der Beziehung zwischen dem Zuschauer und der Persona zuschreiben, komme es zu keiner Identifikation mit der Persona, denn der Zuschauer bewahre seine eigene Rolle im Kommunikationsprozess. Parasoziale Interaktion sei etwas völlig Normales, und nur in Extremfällen bildeten sich Formen heraus, in denen es zu Identifikation oder extremen Bindungen der Zuschauer mit der Persona komme.22 Im Normalfall werde die Perspektive der Persona nur teilweise eingenommen. Hippel betont deshalb, dass diese Sicht von Horton und Wohl eine Reihe von späteren Verarbeitungen ihres Konzepts ausschließe, die Identifikation mit Identität gleichsetzen würden.23 Eines der wesentlichsten Merkmale und auch eine der wesentlichen Techniken der Persona ist nach Horton und Wohl die direkte Adressierung der Kamera, über die sich auch Intimität oder Distanz etablieren lässt.24 Diesen Aspekt hat Hippel weiter ausgearbeitet, indem er unter Adressierung „solche textuellen Verfahrensweisen“ versteht, „die aus dem Text selbst hinaus auf den Zuschauer zie-

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Vgl. Wulff (1996a, 6, die Seitenzahl bezieht sich auf die Online-Publikation). Vgl. Horton/Wohl (2002, 78). Vgl. Wulff (1996a, 9). Vgl. Hippel (1992, 142). Vgl. Hippel (1992, 136). Vgl. Horton/Wohl (2002, 74 und 77). Eine Aufzählung aller Realisierungsmöglichkeiten findet sich bei Wulff (1996a, 8). Zur Verbindung von direkter Adressierung und Intimität siehe auch Mikos (2001, 187).

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len und ihn als Adressaten kennzeichnen“.25 Dabei sei es üblich, dass der Blick in die Kamera wesentlich länger anhält als ein direkter Blick in die Augen eines realen Gegenübers.26 Als pragmatische Funktion dieser direkten, fernsehmedial vermittelten Ansprache des Publikums sieht Hippel die ‚Verpflichtung‘ der Zuschauer aufs Fernsehprogramm, was ihnen gerade nicht die Rolle von Voyeuren zuschreiben würde, die im Fernsehen oft angenommen wird: „Kurz, der Konsument am Bildschirm soll nicht nur nebenbei, sondern ‚richtig‘ fernsehen.“27 Diese Form der direkten Adressierung ist normalerweise ein Kennzeichen nicht-fiktionaler Fernsehtexturen. In fiktionalen Fernsehtexturen sind solche Szenen die Ausnahme, weswegen ihnen dann umso mehr Bedeutung zukommt, wenn sie eingesetzt werden. So wirft etwa der von Kevin Spacey gespielte, machiavellistische Politiker Francis Underwood in der US-amerikanischen Serie House of Cards den Zuschauern immer wieder vielsagende Blicke zu und kommentiert das Geschehen in einer verschwörerischen Manier, dem Zuschauer auf diese Weise eine Beziehung anbietend, die dieser aufgrund des ebenso faszinierenden wie abstoßenden Charakters Underwoods möglicherweise überhaupt nicht eingehen will und die daher gerade nur in ihrer Parasozialität zu ertragen ist. Horton und Wohl, so kritisiert Wulff zu Recht, beschränkten sich mit ihrem Konzept auf „Shows und ähnliche Formen, in denen Zuschauer direkt adressiert werden können“.28 Ihre Überlegungen werden also nicht auf fiktionale Genres übertragen, ja, „fingierte Personen“ hätten Horton und Wohl, so Wulff, „expressis verbis aus dem Funktionskreis des Parasozialen herausgehalten“.29 Hier entwickelt Wulff selbst ein komplexes Modell zur Beantwortung der Frage, wie Fernsehzuschauer sich ein Bild von ‚Personae‘ in fiktiven Fernsehtexten machen, 30 die er auch „Parapersonen“ nennt. Darunter versteht er eine fiktive Figur wie etwa den Serienhelden Al Bundy, von dem man „eine Vorstellung“ habe, „die es möglich macht, ihn als individuelle Person anzusehen“.31 Er bezieht sich dabei auch auf einen Ansatz ANGELA KEPPLERS, die begrifflich zwischen ‚Per-

25 Hippel (2000, 87). 26 Vgl. Hippel (2000, 101). 27 Hippel (2000, 118). Vgl. ganz ähnlich Langer (1981, 362): „Through direct address, television personalities appear actively to be taking their viewers ‚into account‘. The spectator becomes the constant focus of television’s attention.“ Bei Langer ist zudem ausschlaggebend, dass der Zuschauer damit auch auf eine bestimmte ideologische Ordnung verpflichtet wird. 28 Wulff (1996a, 5). 29 Wulff (1996b, 30). 30 Vgl. Wulff (1996b, 41–48). 31 Wulff (1996b, 39).

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sonen‘ und ‚Figuren‘ trennt.32 So kann sie für Fernsehserien herausarbeiten, dass hier „Figuren wie Personen wahrgenommen werden können“ und verschiedene Formen der Identifikation mit diesen ‚Figuren‘ voneinander trennen.33 An dieser Stelle ist auf eine wichtige Unterscheidung zu rekurrieren. Vielfach erhält der Begriff ‚Persona‘ bzw. ‚personality‘ über die Abgrenzung zum Kino-‚Star‘ Kontur. Nach Langer sei letzterer durch das Dispositiv des Kinos zunächst als extrem überhöhte, gottgleiche Figur konzipiert worden, bevor sich das Publikum mehr und mehr nicht nur für die Rollen, sondern auch für die Persönlichkeit und das Privatleben der Stars zu interessieren begann. So wurde das Außergewöhnliche mit dem Gewöhnlichen, Privaten, Intimen kombiniert. Diese Entwicklung, bei der sich Langer u.a. auf RICHARD SENNETTS The Fall of Public Man von 1977 bezieht (siehe auch → Personalisierung), setzt sich mit dem „personality system“ des Fernsehens in Richtung → Alltäglichkeit, Intimität, Gewöhnlichkeit und Erwartbarkeit fort.34 Wichtig für das intime Verhältnis von Fernsehzuschauern und Fernsehpersönlichkeit sei – ganz wie bei Horton und Wohl – die Regelmäßigkeit und Häufigkeit, in der eine Persona kommunikativ dem Zuschauer ‚zur Verfügung steht‘. Während ein Star nur ein oder vielleicht ein paar Mal im Jahr auf der Leinwand zu sehen sei, könne man sich auf die Fernsehpersönlichkeit regelmäßig verlassen und finde in ihr ein mehr oder weniger unveränderliches Gegenüber. Der Star kann auch deswegen nicht dieselbe Beziehung anbieten wie die Persona, weil er immer wieder in unterschiedlichen Rollen erscheint.35 Wenn ein Star jedoch in Serien oder Sitcoms immer wieder in derselben Rolle zu sehen ist, wie Wulff und Keppler mit ihren Hinweisen auf Al Bundy & Co. betonen, kann diese Rolle ebenfalls zur Persona werden, indem sie eben als eine solche wahrgenommen wird. Langer spricht in diesem Fall dann nicht von Personae, sondern nennt diese Fernsehpersönlichkeiten dann „central

32 Keppler (1996, 15): „Personen nenne ich Individuen, die faktische oder potentielle Teilnehmer an einer wechselseitigen sozialen Praxis sind oder sein können. Figuren nenne ich fiktive Gestalten, die dies nicht sind und nicht sein können.“ 33 Keppler (1996, 17 und 20–24). 34 Vgl. Langer (1981, 353–355). 35 Wulff geht auch näher auf die Frage ein, ob die medialisierte Persona als lebensweltlich-reale Person konzeptualisiert sei, die eine bestimmte Rolle übernehme. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Personae in sozialen Sphären außerhalb des Mediensystems nicht berühmt sind, weil sie keinerlei spezifische Fähigkeiten in anderen sozialen Bereichen, wie zum Beispiel Schauspieler, Sportler oder Sänger, hätten. Somit ist für Wulff eine Persona jemand, der nur „sich selbst“ spielt. Ein Star sei hingegen in allen Lebenssphären ein Star, vgl. Wulff (1996a, 3f.) und Meyrowitz (1987, 95).

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‚characters‘ through whom the narrative is generated“.36 Oft trügen erfolgreiche Fernsehformate den Namen dieser Hauptfiguren auch im Titel, wie etwa bei Columbo oder, um ein aktuelleres Beispiel zu nennen, Dexter. Ob nun fiktional oder nicht-fiktional – Sendung und Persona sind oft unmittelbar miteinander verwoben, ja, manche Formate werden nach Langer sogar gerade um eine Fernsehpersönlichkeit herum ‚gestrickt‘: „Each of these genres is developed and organized around a central persona or sometimes personae – the news ‚reader‘, the current affairs ‚anchorman‘, the talk show ‚host‘, the variety programme ‚headliner‘, the quiz show ‚master of ceremonies‘ – each of whom appears to be essential to the programme’s unfolding action, pace and thematic directions, as well as providing his/her ‚on-air personality‘ as a crucial aspect of the programme’s televisual identity.“37 Nach Wulff werde vor allem das Gesicht der Persona mit einem bestimmten Programm in Verbindung gebracht. Wulff sieht jedoch, dass Personae ihre ‚eigene‘ Sendung auch verlassen und beispielsweise in anderen Sendungen auftreten können (z.B. als Gast in einer Talkshow).38 Die Persona bleibe dabei aber konsequent an ihre Rolle gebunden, die im Rahmen eines Produktionsformats festgelegt wird. Sowohl Wulff als auch Hippel stellen sich als Vertreter der Fernsehpragmatik die Frage, „ob die Persona eine spezifische mediale oder textuelle Funktion ist.“39 Hippel sieht es sogar als ein fernsehspezifisches Problem an, dass „der ‚Text‘ zu Zuschauern sprechende Personen [enthält], die ihrerseits den ‚Text‘ in einem gewissen Sinne erst herstellen.“40 Werde die Persona als Textelement konzipiert, so wiederum Wulff, erfülle sie die Rolle eines internen auktorialen Erzählers oder Conférenciers. Werde sie als mediale Funktion angenommen, sei es nicht ihre Aufgabe, einen Text zu vermitteln, sondern die parasoziale Situation innerhalb der Rollen- und Kommunikationskonstellation des Fernsehens erst eigentlich herzustellen.41 Hippel kommt vor diesem Hintergrund zu dem Schluss, dass die Persona gerade das „Spannungsfeld zwischen textueller und sozialer Interaktion“ bezeichne. Seiner Ansicht nach ist die parasoziale Interaktion als eine Art kommunikativer Kontrakt zu verstehen.42 Aus rhetorischer Sicht sind diese Überlegungen besonders in Hinblick auf die Frage relevant, inwiefern die Per-

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Langer (1981, 353). Langer (1981, 353). Vgl. Wulff (1996a, 5). Wulff (1996a, 5). Hippel (2000, 53). Vgl. Wulff (1996a, 5f.). Hippel (2000, 50 und 62f.).

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sona auch als Fernsehorator anzusehen ist. ANNE ULRICH schlägt hier vor, die Fernsehpersona als Personalisierung einer Oratorinstanz zu verstehen, die im Fernsehen stets nur als Oratorkollektiv oder korporative Identität abstrahiert werden kann. Die Personae bilden dann als Oratorfiguren „eine mögliche televisuelle Erscheinungsform der korporativen Instanz, die sich an der klassischen Idee der menschlichen Performanz orientiert – greift doch das Fernsehen trotz seiner mannigfaltigen Möglichkeiten gerne auf die Idee der einzelmenschlichen Repräsentation im Studio zurück. Dies zeigt, mit welcher Hartnäckigkeit sich der ‚Einzelmensch‘ gegenüber der anonymen und abstrakten Instanz“ im Fernsehen behaupte.43 Der ‚Handlungsraum‘ der rein textuell realisierten Oratorfigur muss innerhalb der vom Format vorgegebenen Strukturen bleiben – auf diese jedoch hat die Oratorinstanz einen Einfluss. Die Fernsehpersona ist im rhetorischen Sinne also immer nur als eine Hälfte zu verstehen, die auf ihre außerhalb des Textes liegende andere Hälfte verweist – eine Art aus dem Text heraus operierende interaktive Leitfigur. Literatur Hippel, Klemens (1992): Parasoziale Interaktion. Bericht und Bibliographie. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 1/1, 135–150. Hippel, Klemens (2000): Prolegomena zu einer pragmatischen Fernsehtheorie. Dissertation, FU Berlin. Online verfügbar unter http://www.diss.fu-berlin.de/2000/37/index.html, 20.06.2011. Horton, Donald / Strauss, Anselm (1957): Interaction in Audience-Participation Shows. In: The American Journal of Sociology 62/6, 579–587. Horton, Donald / Wohl, R. Richard (1956): Mass Communication and ParaSocial Interaction. Observation on Intimacy at a Distance. In: Psychiatry 19, 215–229. Horton, Donald / Wohl, R. Richard (2002): Massenkommunikation und parasoziale Interaktion. Beobachtungen zur Intimität über Distanz [1956]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 74–104. Keppler, Angela (1996): Interaktion ohne reales Gegenüber. Zur Wahrnehmung medialer Akteure im Fernsehen. In: Peter Vorderer (Hrsg.): Fernsehen als „Beziehungskiste“. Parasoziale Beziehungen und Interaktionen mit TVPersonen. Opladen, 11–24.

43 Ulrich (2012, 96f.).

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Langer, John (1981): Television’s ‚Personality System‘. In: Media, Culture and Society 3/4, 351–365. Meyrowitz, Joshua (1987): Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Aus dem Amerikan. von Michaela Huber. Weinheim u.a. Mikos, Lothar (2001): Fern-Sehen. Bausteine zu einer Rezeptionsästhetik des Fernsehens. Berlin. Suckfüll, Monika (2003): Parasozial interagieren mit Medienfiguren. In: Dieter Herbst (Hrsg.): Der Mensch als Marke. Göttingen, 136–149. Ulrich, Anne (2012): Umkämpfte Glaubwürdigkeit. Visuelle Strategien des Fernsehjournalismus im Irakkrieg 2003. Berlin. Wulff, Hans Jürgen (1996a): Parasozialität und Fernsehkommunikation. In: Medienpsychologie 8/3, 163–181. Online wiederveröffentlicht auf http://www.derwulff.de/2-64, 07.01.2011. Wulff, Hans Jürgen (1996b): Charaktersynthese und Paraperson: Das Rollenverhältnis der gespielten Fiktion. In: Peter Vorderer (Hrsg.): Fernsehen als „Beziehungskiste“. Parasoziale Beziehungen und Interaktionen mit TV-Personen. Opladen, 29–48.

Q UOTE Die Quote ist ein wichtiger Erfolgsindikator im Fernsehen – insgesamt fungiert sie als operatives Maß für die Fernsehproduktion, stellt Orientierungsdaten für die Programmplanung bereit und dient auch als Bezugsgröße in der Medienberichterstattung.1 Auf Basis der Quote können Werbepreise berechnet und die Bindung der Adressaten ermittelt werden. Für die Programmplanung und die Bereiche der Fernsehproduktion wird die Quote damit zum herausragenden Regulativ. Die Nutzungsdaten bilden für Fernseh- und Rundfunksender die Grundlage für programmbezogene Analysen, anhand derer sie Erfolge oder Misserfolge ihrer Programmstrategie oder einzelner Sendungen erkennen können. Die Quantifizierungsdoktrin, nach der sich Erfolg allein an Reichweiten und Quoten orientiert, gilt nicht nur für die Einstufungen der Werbenutzer des Fernsehens. Auch der thematische Erfolg oder die rhetorische Effektivität von Sendungen wird regelmäßig von Quoten abgeleitet. Unter qualitativen Gesichtspunkten kann man entsprechende Effektivitätsunterstellungen jedoch kritisieren. Die Quote bildet eine zentrale Bezugsgröße für das Fernsehen, die sich aus einer großen Zahl an ermittelten Zuschauernutzungsdaten je nach gewünschtem Er-

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Vgl. Thiele (2006, 306f.).

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gebnis unterschiedlich ermitteln lässt. Die wichtigsten Werte sind die Sehbeteiligung und der Marktanteil. Im Lexikon der Medienökonomie bestimmt JÜRGEN FRÜHSCHÜTZ die Einschaltquote als „Kennzahl zur Darstellung des Verhältnisses zwischen der Gesamtzahl aller empfangsbereiten und den eingeschalteten Empfängern in einem festgelegten Zeitraum“.2 Dies entspricht dem allgemeinen Verständnis der Sehbeteiligung, im Englischen auch „rating“ genannt.3 Der Marktanteil oder „share“ bezeichnet hingegen das Verhältnis der Zuschauer einer bestimmten Sendung zur Zahl der Zuschauer, die zum selben Zeitpunkt tatsächlich fernsehen.4 Allgemein wird die ‚Quote‘ jedoch eher über ihre Funktion als ‚Messinstrument‘ definiert, wie es etwa UDO GÖTTLICH im Metzler Lexikon Medientheorie / Medienwissenschaft tut: „Die Einschaltquote ist insbesondere für den privat-kommerziellen Rundfunk nicht nur das Maß für den Publikumserfolg, sondern für die mit diesem Erfolg unmittelbar verbundene Höhe der Werbeeinnahmen durch die Bereitstellung von ‚Anzeigenraum‘, die Sendezeit von Werbespots für die werbetreibende Privatwirtschaft“.5 Neben dem neutralen Begriff des Maßes werden auch Metaphern wie ‚Währung‘ oder ‚Leitwährung‘6, ‚Nervensystem‘7 oder gar ‚Fetisch‘8 für die Quote verwendet, die insbesondere für die Programmmacher, aber auch für die Fernsehkritik von großer Relevanz sind. So beginnt etwa das populäre Sachbuch Die TV-Falle des ehemaligen Sat.1-Geschäftsführers ROGER SCHAWINSKI mit einer anschaulichen Beschreibung der sich allmorgendlichen wiederholenden Spannung, kurz bevor die Marktanteile des Vortags als Vorabinformationen sein Mobiltelefon erreichen.9 Die Quote dient demnach als zentraler Maßstab für den Er-

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Frühschütz (2000, 122). Vgl. Abelman/Atkin (2011, 132): „a mathematical formula that calculates the percentage of the nation-wide audience watching a particular program of all the people in the nation with television sets (the total possible audience)“. Vgl. Abelman/Atkin (2011, 132): „a mathematical formula that calculates the percentage of the nation-wide audience watching a particular program of all the people in the nation with television sets on (the actual possible audience […])“. Göttlich (2002, 304). Vgl. etwa Lilienthal (1998, 967) oder Thiele (2006, 307). Vgl. etwa Beville (1998, 185). Vgl. etwa Gitlin (1983, 48). Vgl. Schawinski (2008, 11f.): „Es ist 8 Uhr früh. Die Spannung steigt mit jeder Minute. Es gelingt mir auch heute nicht, den Morgen locker anzugehen. […] Ich drücke die Taste, und ich fühle, wie mein Pulsschlag und mein Adrenalinpegel gleichzeitig in die Höhe schnellen. Vor mir präsentieren sich die Tagesmarktanteile aller größeren Sender, die als SMS-Vorabinformationen an die oberen Kader unseres Konzerns ver-

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folg von Fernsehsendungen und ist damit auch aus rhetorischer Sicht eine sehr einflussreiche Orientierungsgröße für das Fernsehen, weil sie geradezu als Handlungsimperativ aufgefasst wird. Dies gilt insbesondere für die privaten Fernsehanbieter – aber auch bei den öffentlich-rechtlichen haben sich Einschaltquoten und Marktanteile zu solch einer zentralen Orientierungsgröße für die strategische Gestaltung der → Programmstruktur und des einzelnen → Formats entwickelt. So werden etwa nach einer Sendung, die quotenstark ist, gern eher quotenschwache Sendungen platziert, um die Zuschauer mithilfe des → Flow-Phänomens zu halten und ein → Umschalten zu vermeiden. Der Forschungsgegenstand ‚Quote‘ ist dreifach perspektiviert: Erstens nehmen die beteiligten Akteure, also die von Rundfunk und Werbeindustrie finanzierte Marktforschung, die konstante Prüfung und Weiterentwicklung der Messmethode vor. Zweitens ist die Quote Gegenstand der empirischen Zuschauerund der allgemeinen Nutzerforschung. JÉRÔME BOURDON und CÉCILE MÉADEL betonen jedoch, dass die per Quote vorgenommene Quantifizierung des Publikums lange Zeit als Gegenstand von der Nutzerforschung vernachlässigt worden sei.10 Drittens hat sich die Medienwissenschaft immer wieder aus kritischkulturwissenschaftlicher Sicht mit dem Phänomen der Quote auseinandergesetzt. Neueste Publikationen wie diejenigen von Bourdon und Méadel sowie MARK BALNAVES und TOM O’REGAN versuchen alle drei Perspektiven zu integrieren,11 was auch einem rhetorischen Blickwinkel am meisten entgegenkommt. In Deutschland übernimmt die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) die Quotenmessung im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF), einem Zusammenschluss der wichtigsten deutschen Fernseh-Programmanbieter. Der Zuschauermessung liegt ein Panel von 5.640 Haushalten mit insgesamt rund 13.000 Personen zugrunde, in denen mit Hilfe des so genannten „people meter“

schickt werden. Sofort erfasse ich die Daten für Sat.1 und vergleiche sie mit den Schätzwerten, die ich mental für den gestrigen Tag festgehalten habe. […] Jeden Wert analysiere ich blitzschnell, als gut, zufriedenstellend oder ungenügend bewertet. Vor allem bei neuen Sendungen oder Programmen, die auf dem Prüfstand stehen, ist die Anspannung hoch. Gibt es sofortigen Handlungsbedarf? […] Wo muss ich eingreifen, umprogrammieren?“ – Eine amerikanische Variante dieser Szene findet sich bei Beville (1988, 185), siehe auch Ang (1991, 45). 10 Bourdon/Méadel (2011, 791): „the ‚audience as figure‘, in other words the audience which is central to the television industry, has been for the most part ignored by the academia or hastily dismissed as an ‚administrative‘, marketing-based vision of audiences.“ 11 Vgl. Bourdon/Méadel (2011) und (2014) sowie Balnaves/O’Regan (2011).

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bzw. „GfK-Meters“ u.a. Sehbeteiligung und Marktanteil erhoben werden.12 Jede Person im Haushalt meldet sich über einen eigenen Knopf auf der Fernbedienung an, sobald sie fernsieht – auch Gäste lassen sich auf diese Weise per Knopfdruck erfassen. Die in den Alltag der Adressaten (→ Alltäglichkeit) integrierte elektronische Messtechnik gilt als akkurat und verlässlich, da jedes Anund Umschalten sekundengenau dokumentiert wird.13 Über Nacht werden die Daten an die GfK übermittelt, welche sie auswertet. Die Sehbeteiligung kann dabei aufgeschlüsselt werden nach Bildung, Geschlecht, Alter oder Einkommen. Zudem lässt sich der audience flow nachvollziehen, also die Wanderungsbewegung der Zuschauer von Sendung zu Sendung bzw. von Programm zu Programm.14 In den Morgenstunden werden die Auswertungsergebnisse an die Programmverantwortlichen versendet,15 wo die Quoten, so Schawinski, bereits gegen neun Uhr morgens „in jedem Fahrstuhl“ hängen.16 ROBERT ABELMAN und DAVID J. ATKIN fassen die wichtigsten Kritikpunkte an dieser Methode (die in den USA prinzipiell ganz ähnlich zum Einsatz kommt, und zwar v.a. von der Nielsen Company) wie folgt zusammen:17 Zuallererst gebe es oft Zweifel an der soziodemografischen Repräsentativität des Panels. Da die ausgewählten Personen streng geheim gehalten werden,18 kann die Repräsentativität nicht von anderen Institutionen überprüft werden. In den USA ist ein häufiger Kritikpunkt, dass jüngere Menschen und Hispanics nicht adäquat erfasst werden – in Deutschland wurde eine lange Diskussion um ein sog. ‚Ausländerpanel‘ geführt.19 Aktuell werden lediglich Fernsehzuschauer aus EU-Staaten einbezogen, nicht etwa aber türkische Staatsbürger. Das relativ kleine Panel bringt es außerdem mit sich, dass spezifische Zielgruppen (etwa über 60-jährige Frauen mit Migrationshintergrund oder junge Eltern aus Norddeutschland) nur von sehr wenigen Panelmitgliedern abgedeckt werden – deren Fernsehverhalten also womöglich nicht differenziert genug erfasst wird.

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Vgl. GfK Fernsehforschung (2005, 14). Vgl. Buß (1998, 801). Vgl. Thiele (2006, 312). Vgl. hierzu auch Buß/Darschin (2004). Schawinski (2008, 12). Wie die GfK (2005, 18) klarstellt, sind die Zahlen am folgenden Tag allerdings nur vorläufige Zahlen – endgültige Ergebnisse stehen erst nach drei Tagen zur Verfügung, weil der Datenabruf aus den Haushalten nicht immer auf Anhieb funktioniere. 17 Vgl. zum Folgenden Abelman/Atkin (2011, 136–139). 18 Siehe auch Lilienthal (1998, 968). 19 Vgl. Lilienthal (1998, 969f.).

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So weist IEN ANG bereits 1991 auf das Problem der Publikumsfragmentierung hin, das sich im Zeitalter des digitalen und Multi-Plattform-Fernsehens noch einmal deutlich verstärkt. Die Quote sagt also immer nur so viel aus, wie die Messmethode zulässt.20 Neuere Auswertungsmethoden (Stichwort ‚Big Data‘) machen es mittlerweile möglich, Publikumserfolge jenseits des Massenerfolgs zu ‚schneidern‘, indem gezielte Vorlieben von interessanten Zielgruppen antizipiert werden.21 Hier finden wesentlich mehr Aspekte Eingang in das Auswertungsverfahren als bei der ‚klassischen‘ GfK-Meter-Methode, die letztlich doch insbesondere in Bezug auf die Zusammensetzung und die Motive des Zielpublikums eigentümlich unpräzise bleibt.22 Allerdings veröffentlicht die AGF seit Februar 2014 auch „Web-Quoten“, welche die Abrufzahlen von OnlineVideos im Verlauf einer Woche auswerten und aus ihnen ein Ranking pro WebPlattform (etwa ZDF oder RTL Now) erstellen. Hier zeigt sich im März 2014, dass die erste Folge der neunten Staffel der Casting-Show Germany’s Next Topmodel (ProSieben) auf gut 450.000 Abrufe kam.23 Somit wird auf neue Plattformen und Nutzungsweisen von Fernsehsendungen auf jeden Fall eingegangen – allerdings mit dem Ziel, die Web-Werbepreise besser festlegen zu können. Ein weiterer Mangel der Messmethode ist die Tatsache, dass sie nicht erfasst, ob die Panelmitglieder eine Fernsehsendung aufmerksam verfolgen oder nicht, genauso wenig können die Gründe für das Ein- oder Ausschalten ermittelt werden.24 Hinzu kommt, dass die Panelmitglieder zwar über einen Zeitraum von mehreren Wochen trainiert werden, sich im Laufe der Zeit jedoch nachlassende

20 Siehe auch Bourdon/Méadel (2011, 799). 21 Ein Beispiel hierfür ist die US-amerikanische Serie House of Cards, die vom OnlineStreaming-Dienst Netflix produziert wurde. Dieser „hatte die Sehgewohnheiten der weltweit 33 Millionen Kunden, die auf dem Portal jeden Tag 30 Millionen Filme und Serienfolgen anschauen, analysiert und war zu dem Schluss gekommen, dass sehr viele Kunden Filme von David Fincher lieben, Kevin Spacey schätzen und eine Vorliebe für die vergleichsweise unbekannte britische Politik-Serie ‚House of Cards‘ aufweisen. […] Netflix analysiert nicht nur die Playlist der Kunden, sondern auch Kommentare, Bewertungen und Tags, die das Genre Stimmung, Action-Gehalt und Altersfreigabe angeben.“ (Geiselberger/Moorstedt 2013, 298). 22 Vgl. auch Abelman/Atkin (2011, 129). 23 Vgl. die entsprechende Meldung des Branchendienstes Meedia: Schröder (2014). 24 Diese Messmethode wird als ‚passiv‘ bezeichnet und gilt daher als wesentlich präziser, weil sie nicht an das Gedächtnis der Panelmitglieder gebunden ist. Sollten Zuschauer in Form von Seh-Tagebüchern festhalten, welche Fernsehsendungen sie gesehen hatten, wurden mehr Unregelmäßigkeiten festgestellt als über die ‚passive‘ Methode; vgl. auch Gertner (2005).

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Disziplin beim Knopfdrücken einstellen kann (die sog. „push button fatigue“25). Abelman und Atkin betonen darüber hinaus, wie viele andere Autoren auch, dass über diese Messmethode nur häusliche Geräte (darunter zwar auch Aufzeichnungsgeräte und neuerdings auch Internetfernsehen), nicht aber mobile oder öffentliche Geräte integriert werden. Auch das Fernsehverhalten von Hotelgästen fällt auf diese Weise unter den Tisch. Zu guter Letzt gilt für die USA als wichtiger Kritikpunkt, dass die Quoten dort jedes Jahr im Mai neu festgelegt werden, weshalb die Fernsehsender in diesen Wochen eine andere Programmstrategie wählen, um die Werbeeinnahmen fürs gesamte Jahr künstlich in die Höhe zu treiben.26 Gegen manche dieser Schwächen lassen sich stichhaltige Argumente anführen, was MICHAEL BUSS beispielsweise in punkto Repräsentativität und ‚pushbutton fatigue‘ tut. Er kommt zu dem Ergebnis: „Die Daten aus der Fernsehzuschauerforschung stellen einen brauchbaren Maßstab für bestimmte Erfolgsdimensionen dar: Publikumszuspruch, Zielgruppengerechtigkeit, optimalen Programmablauf. Sie beschreiben unerbittlich zuverlässig, was das Publikum mit dem Angebot des Fernsehens macht, womit die Zuschauer sich binden lassen und was im Umfeld der heftig konkurrierenden Programme bei ihnen zwischen den Zeilen durchgefallen ist.“27 Für die strategische Programmplanung bietet die Quote also ein brauchbares Instrument, weil die Ein-, Um- und Abschaltbewegungen der Zuschauer relativ präzise nachvollzogen werden können. Somit haben sie sich aus Sicht der AGF bis heute als Maß für die Werbepreise bewährt. In gewisser Weise bringen sie, wie MATTHIAS THIELE anhand früher GfKeigener Quellen herausarbeitet, dadurch auch „[d]ie Stimme des Verbrauchers zum Klingen“ und verschaffen dieser „in der Wirtschaft Gehör und Geltung“.28 Oder in den Worten MARKUS SCHÖNEBERGERS: „Seit Einführung der Quote ist Lieschen Müller der einflußreichste deutsche Medienexperte.“29 Die am häufigsten geäußerte Kritik an der Quote bezieht sich nun allerdings nicht auf die Messung der Quote an sich, sondern auf die Konsequenzen, welche die Fernsehmacher aus ihr ziehen. Oft fungiert sie eben nicht als Orientierungsgröße, sondern als unmittelbarer Handlungsimperativ, wie auch Buß offen schreibt: „Jedes Auf und Ab wird auf die Goldwaage gelegt und entscheidet früher oder später über Wohl und Wehe einer Sendung, Reihe, Serie und der dahin-

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Siehe auch Bourdon/Méadel (2011, 798). Vgl. auch Gertner (2005). Buß (1998, 809). Vgl. Thiele (2006, 309). Schönberger (1995, 66), siehe auch Thiele (2006, 325).

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terstehenden Mannschaft, also der Redaktion und des Produktionsteams.“30 Gerade bei den privaten Programmanbietern ist demnach der Zuspruch aus der sogenannten werberelevanten Zielgruppe31 allein ausschlaggebend für das langfristige ‚Überleben‘ eines Fernsehformats. Die Fixierung auf Höchst- und Niedrigstwerte32 tut ihr Übriges dazu, diese reine Form der Quantifizierung noch zu verstärken. Auch nach der einflussreichen Studie von Ang (Desperately Seeking the Audience) von 1991 ist eine der wichtigsten Funktionen der Quotenmessungen folgende: „they exert influence primarily by enabling the putting together of a coherent, streamlined map of ‚television audience‘ – a map that charts the ways in which the industry defines the audience as market.“33 Mit anderen Worten: Die Messmethode oder vielmehr: der operative Zweck der Messung bestimmt auch das Bild des Publikums, das in diesem Fall nur als künstlich homogenisierte Gruppe wahrgenommen wird, die sich in Werbeeinnahmen gegenrechnen lässt. Diese These klingt auch nach, wenn Thiele 2006 schreibt, „dass durch die Quote als symbolisch aufgeladener, stark phantasiebezogener Größe das Fernsehen überhaupt erst als eine Ökonomie, als ein Markt und eine kapitalistische Unternehmung vorstellbar wird.“34 Thiele bezieht diesen Diskurs der Ökonomisierung nicht nur auf die Werbeindustrie und die Programmplanung, sondern sieht auch die dem Fernsehen eigene Prominenz (→ Persona) davon betroffen. Wenn Fernsehen ausschließlich als „ein Wettbewerbssystem“ präsentiert werde, „bei dem auf allen Ebenen – zwischen Sendern, Sendeplätzen, Formaten, Programmverantwortlichen und Stars – Konkurrenz vorherrscht“, dann werde auch der „Wert der Prominenz […] hochgradig bestimmt von der Quote und von Rankings […], die als Kontrolltechniken und Feedbacksysteme den Sendern und Stars stets eine ökonomische Optimierung von Qualität und Selbst ermöglichen.“35 Die Prominenz von Fernsehpersonae wird aufgrund der Deutungshoheit der Größe also in der Form einer Börsenkurve wahrgenommen, die andere Aspekte der Persönlichkeit, die nicht mit Beliebtheit und Zuspruch zu erklären sind, außen vor lassen. Rhetorisch gesehen erfüllt die Quote insofern in mehrfacher Hinsicht ihren Zweck als Argument im Persuasionsprozess: Für die Fernsehma-

30 Buß (1998, 808). 31 Dies war lange Zeit die Gruppe der 14- bis 49-Jährigen, was sich mit dem demografischen Wandel jedoch auch zu ändern beginnt, siehe etwa Gaßner (2006). 32 Vgl. Buß (1998, 808). 33 Ang (1991, 48). 34 Thiele (2006, 307). 35 Thiele (2006, 320).

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cher dient sie als Erfolgsindikator für die Programmplanung, für die Fernsehprominenz ist sie ebenfalls ein wichtiger Faktor zur Überprüfung der eigenen Reichweite und des eigenen Erfolgs, und für die Zuschauer ergibt sich durch die Ranglisten ebenfalls eine Orientierungsgröße, die im Sinne eines MainstreamGefühls von einer Sendung überzeugen kann. Interessanterweise befassen sich die meisten Autor/innen, die eine kritische Einordnung der Quotenmessung vornehmen, nicht mit der aus rhetorischer Sicht äußerst relevanten Frage, mit welchen Strategien eigentlich hohe Einschaltquoten zu erzielen sind, d.h. wie sich die offensichtlich ökonomische Vorgabe in eine publizistische Leitgröße umwandeln lässt. Oft ist nur pauschal davon die Rede, dass für gute Quoten offensichtlich einem Massengeschmack zu entsprechen ist, der auch nicht unbedingt mit demjenigen der Fernsehmacher selbst konform geht. So zitiert Ex-ZDF-Chef Dieter Stolte etwa in seinem kritischen, populären Sachbuch Wie das Fernsehen das Menschenbild verändert Ex-RTL-Chef Helmut Thoma mit dem zynischen Ausspruch „Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.“36 Doch womit lässt sich der Fisch nun angeln? Michael Buß und WOLFGANG DARSCHIN geben hierzu am Beispiel einer Geschichte der Zuschauer-Nutzungsmessung des ZDF nur wenige Hinweise. Daraus lässt sich schließen, dass besonders in der Anfangszeit des ZDF Sendungen mit „ausgeprägtem Unterhaltungscharakter“ große Erfolge feierten, ebenso aktuelle Übertragungen von nationalen Medienereignissen (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme). In den 1990er Jahren hingegen verschob sich der Fokus zudem hin zu Informationssendungen wie Politikmagazinen oder später auch Polit-Talks.37 Ansonsten lassen sich erfolgreiche Quoten-Strategien eher ex negativo erschließen. So beklagt etwa PIERRE BOURDIEU in seinem (zweiten) Fernsehvortrag Die unsichtbare Struktur und ihre Auswirkungen: „Das Gesetz ist altbekannt: Je breiter das Publikum ist, auf das ein Presseorgan oder überhaupt ein Kommunikationsmedium zielt, je stromlinienförmiger muß es sich verhalten; es muß alle Kontroverse meiden und sich befleißigen, ‚niemanden zu schockieren‘, wie es heißt, niemals Probleme aufzuwerfen, oder höchstens Scheinprobleme.“38 Dahinter steckt die These, dass sich Fernsehangebote ganz im Bereich des Gewöhnlichen und Vertrauten bewegen müssen, wollen sie bei einer Mehrheit der Zuschauer ankommen. Das Schielen nach den Einschaltquoten führt dem französischen Soziologen zufolge zur

36 Stolte (2004, 13). 37 Vgl. Buß/Darschin (2004, 17f. bzw. 24f.). 38 Bourdieu (1998, 62f.).

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Banalisierung und Homogenisierung des Programms.39 Außerdem wagt er sich an eine kühne Analogie: „‚Gute Gefühle‘, sagt Gide, ‚bringen schlechte Literatur hervor‘; aber gute Gefühle bringen hervorragende Einschaltquoten.“40 Was unter ‚guten Gefühlen‘, Banalisierung, Homogenisierung oder dem Aufwerfen von Scheinproblemen jedoch genau zu verstehen ist, bleibt offen – hier gibt sich Bourdieu mit eher oberflächlichen Eindrücken zufrieden. Sein Eindruck bringt uns dem Phänomen aber dennoch auf die Spur, indem wir Fernsehspezifika wie → Infotainment, → Personalisierung, → Emotionalisierung, → Dramatisierung oder auch → Unterhaltung nun als zentrale Erfolgsfaktoren im Sinne der Quote verstehen können. Diese Phänomene sind offensichtlich ausschlaggebende Spezifika für Fernsehkommunikation, gerade weil sie offensichtlich im Quoten-Sinne erfolgreich und deswegen in den unterschiedlichsten Programmbereichen zu finden sind. Literatur Abelman, Robert / Atkin, David J. (2011): The Televiewing Audience. The Art and Science of Watching TV. 2. Aufl. New York u.a. Ang, Ien (1991): Desperately Seeking the Audience. London, New York. Balnaves, Mark / O’Reagan, Tom (2011): Rating the Audience. The Business of Media. London, New York. Beville, Hugh Malcolm Jr. (1988): Audience Ratings. Radio, Television, and Cable. Überarb. Aufl. Hillsdale u.a. Bourdieu, Pierre (1998): Über das Fernsehen. Aus dem Franz. von Achim Russer. Frankfurt a.M. Bourdon, Jérôme / Méadel, Cécile (2011): Inside Television Audience Measurement: Deconstructing the Ratings Machine. In: Media Culture Society, 33/5, 791–800. Bourdon, Jérôme / Méadel, Cécile (2014): Television Audiences Across the World. Deconstructing the Ratings Machine. New York. Buß, Michael (1998): Das System der GfK-Fernsehforschung: Entwicklung und Nutzen der Forschungsmethode. In: Walter Klingler / Gunnar Roters / Oliver Zöllner (Hrsg.): Fernsehforschung in Deutschland. Themen, Akteure, Methoden. 2 Bde. Teilbd. 2. Baden-Baden, 787–813.

39 Vgl. Bourdieu (1998, 63). Zur Homogenisierung der Größe ‚Publikum‘ siehe auch Ang (1991, 86). 40 Bourdieu (1998, 64).

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Buß, Michael / Darschin, Wolfgang (2004): Auf der Suche nach dem Fernsehpublikum. Ein Rückblick auf 40 Jahre kontinuierliche Zuschauerforschung. In: Media Perspektiven 1, 15–27. Frühschütz, Jürgen (2000): Einschaltquote. In: Ders.: Lexikon der Medienökonomie: Beschaffung – Produktion – Absatz. Frankfurt a.M., 122. Gaßner, Hans-Peter (2006): Werberelevante Zielgruppen im Wandel. Konsum ist entscheidender als Alter. In: Media Perspektiven 1, 16–22. Geiselberger, Heinrich / Moorstedt, Tobias (Red.) (2013): Big Data. Das neue Versprechen der Allwissenheit. Berlin. Gertner, Jon (2005): Our Ratings, Ourselves. In: New York Times Magazine. 10.04.2005. Online verfügbar unter: http://www.nytimes.com/2005/04/10/magazine/10NIELSENS.html?_r=0 (08.05.2014). Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) Fernsehforschung (Hrsg.) (2005): Fernsehzuschauerforschung in Deutschland. Tägliche Informationen über das Fernsehpublikum in Deutschland. Nürnberg. Gitlin, Todd (1983): Inside Prime Time. New York. Göttlich, Udo (2002): Quote. In: Helmut Schanze (Hrsg.): Metzler Lexikon Medientheorie / Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar, 304–305. Lilienthal, Volker (1998): Leitwährung unter Druck. Politische Funktionen und Probleme der Fernsehforschung. In: Walter Klingler / Gunnar Roters / Oliver Zöllner (Hrsg.): Fernsehforschung in Deutschland. Themen, Akteure, Methoden. 2 Bde. Teilbd. 2. Baden-Baden, 967–985. Schawinski, Roger (2008): Die TV-Falle. Vom Sendungsbewusstsein zum Fernsehgeschäft. Reinbek b.H. Schönberger, Markus (1995): Zuschauerforschung und Programmplanung in der Praxis. In: Landeszentrale für private Rundfunkveranstalter (Hrsg.): TVZuschauerforschung – das Maß aller Dinge? LPR Medien Colloquium. Vortragssammlung. Ludwigshafen, 61–70. Schröder, Jens: „Topmodel“ und „Bachelor“ dominieren die Web-Quoten-Charts der AGF. In: meedia.de, 27.03.2014, online verfügbar unter http://meedia.de/2014/03/27/topmodel-und-bachelor-dominieren-web-quoten-charts/ (28.04.2014). Stolte, Dieter (2004): Wie das Fernsehen das Menschenbild verändert. München. Thiele, Matthias (2006): Zahl und Sinn. Zur Effektivität und Affektivität der Fernsehquoten. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften. Bielefeld, 305–330.

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R EALITY TV ‚Reality TV‘ ist ein Sammelbegriff für Formate, bei denen in aller Regel gewöhnliche Menschen in ihrem Alltag oder in einem künstlichen Setting beobachtet oder begleitet werden. Den Zuschauern wird in diesen Formaten meist ein Authentizitätsversprechen gegeben, d.h. sie sollen glauben, es handle sich um ‚wahre‘ Geschichten oder das ‚wirkliche‘ Alltagsleben der Protagonisten. Dabei werden diese Geschichten mit fernsehspezifischen Mitteln inszeniert und dramatisiert und folgen in manchen Fällen sogar einem vorher festgelegten Drehbuch. Reality TV ist von Anfang an ein Teil der Fernsehgeschichte, hat jedoch seit den 1980er Jahren einen Siegeszug angetreten und ist heute in einer Vielzahl ausdifferenzierter, zum Teil global vermarkteter Formate im Fernsehprogramm präsent. Die Palette reicht von Beziehungsshows über Daily Talks, Reality Soaps und Coaching-Formate bis zu Castingshows und Scripted-Reality-Sendungen. Die Formate des Reality TV können unterschiedliche Ziele verfolgen, wobei es aus rhetorischer Perspektive besonders interessant ist zu untersuchen, wie Reality TV eine Verknüpfung zur Lebenswelt der Zuschauer herstellt. Zunächst einmal gewährt Reality TV zum Teil intime Einblicke in den Alltag anderer Menschen, womit die Neugier und auch der Voyeurismus der Zuschauer angesprochen werden. Gleichzeitig bieten die ‚normalen‘ Protagonisten Gelegenheit zur Identifikation – selbst prominente Darsteller müssen sich als ‚gewöhnliche‘ Menschen bewähren. Die Involvierung der Zuschauer lässt sich aber auch über gezielte Provokationen oder Grenzüberschreitungen erreichen, zu denen sich die Zuschauer positionieren. Reality TV wird oft angesehen, um sich von den Protagonisten und den Situationen, in die sie geraten, vehement zu distanzieren. In manchen Formaten wie etwa Ich bin ein Star – Holt mich hier raus! haben die Zuschauer sogar die Möglichkeit, bestimmten Protagonisten gezielt Prüfungen aufzuerlegen und auf diese Weise ihre Sympathien und Antipathien auszudrücken (→ Interaktivität). Weil Reality TV oft Normen und Werte einer Gesellschaft thematisiert, könnte man die entsprechenden Formate auch als Angebote verstehen, die eine Wertdiskussion anregen und in die Gesellschaft hineintragen. In den meisten Fällen ist eine solche Diskussionsanregung jedoch nicht mit konkreten persuasiven Zielen verbunden, sondern zielt in erster Linie auf die Generierung von Aufmerksamkeit. Reality TV ist ein offensichtlich schwer zu definierendes Fernsehgenre, das zwar von Anfang an im Fernsehen existierte, jedoch erst in der fernsehhistorischen

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„era of availability“1 seit den 1980er Jahren richtig bedeutsam wurde und nach der ‚Überwachungsshow‘ Big Brother (1999) einen regelrechten Siegeszug im Fernsehen antrat. Als historischer Vorläufer wird oft die US-amerikanische Familienshow Candid Camera (ab 1948) genannt, eine Art Versteckte Kamera. Zu dieser Zeit wurde jedoch noch nicht die Bezeichnung ‚Reality TV‘ verwendet.2 Eine weitere historische Station bildet die nach dem cinema vérité-Prinzip gestaltete Sendung An American Family aus dem Jahr 1973, in der mit dem Alltagsleben der Familie Loud zum ersten Mal ‚authentisches‘, ‚nicht-fiktionales‘ Leben im Fernsehen ausgestrahlt wurde.3 JEAN BAUDRILLARD verweist bereits 1978 auf diejenigen Begriffe, welche die ‚Strategien des Realen‘ seiner Ansicht nach grundlegend konstituieren (von ‚Reality TV‘ ist hier allerdings noch nicht explizit die Rede): Überwachung, Authentizität und Banalität – wobei Letzteres als Alltagsdarstellung bzw. -inszenierung verstanden werden kann (→ Alltäglichkeit). In den 1980er und 1990er Jahren waren es besonders Polizei-, Rettungs- oder auch Aufklärungssendungen wie etwa Aktenzeichen XY… ungelöst, aber auch Beziehungs- oder Suchshows wie Bitte melde Dich, welche die Forschung beschäftigten. Heute existiert eine große Fülle an Reality-TV-Formaten – allein für den deutschen Markt zählen MARGRETH LÜNENBORG u.a. 418 Formate, die sich in zahlreiche Subformate einteilen lassen.4 Als Ausgangspunkt für die Bestimmung von Reality TV soll hier die Definition BERNADETTE CASEYS u.a. herangezogen werden: „The label ‚reality TV‘ encompasses a wide range of texts which take as their subject matter real lives, real-life-situations and events, and the first-person accounts of ordinary people (non-media professionals). Within this context, the personal, emotional and often intimate revelations of the first-person accounts are the driving behind the narrative structure of these programmes, supported with actual footage (or dramatic reconstructions) of the events concerned.“5 Wichtige Merkmale sind daher zwar der Bezug auf die ‚Wirklichkeit‘ und die Lebenswelt von Laienakteuren, genauso aber deren Inszenierung, auch mit Hilfe (der Simulation) von Amateuraufnahmen.6 CLAUDIA WEGENER, die sich im deutschsprachigen Raum als eine der

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Ellis (2000, 61–73). Zu Candid Camera vgl. Clissold (2004). Vgl. Baudrillard (1978, 44–51). Lünenborg u.a. (2011, 181 und 25–32). Die Zahlen beziehen sich auf den Zeitraum 2000 bis 2009. Zur Klassifikation siehe auch Klaus/Lücke (2003, 199f.). Die verschiedenen Phasen des Reality TV von der „camcorder generation“ über die „competition generation“ bis hin zur „celebrity generation“ beleuchtet Kavka (2012). Casey u.a. (2002, 196). Vgl. die Definition von Kilborn (1994).

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ersten mit Reality TV beschäftigt hat, nennt als dessen drei wichtigste Merkmale daher Strategien der → Personalisierung, → Dramatisierung und Stereotypisierung.7 Die rhetorische Vorgehensweise der verantwortlichen Redakteure und Moderatoren von Reality-TV-Sendungen (Wegener nimmt eine durchaus kommunikatororientierte Perspektive ein) wird in den Kontext der damals aktuellen ‚Erlebnisgesellschaft‘ eingeordnet.8 Mittels emotionalisierender und komplexitätsreduzierender Strategien versuchen die Fernsehoratoren also, den Zuschauer mit der Inszenierung und Überhöhung seines eigenen Alltags zu einem ‚Ausnahmeereignis‘ ans Programm zu binden und eine gute → Quote zu erzielen. ANGELA KEPPLER unterscheidet ebenfalls schon 1994 zwischen narrativem und performativem Realitätsfernsehen – eine Unterscheidung, die bis heute im deutschsprachigen Raum übernommen wird.9 Beim narrativen Realitätsfernsehen werden nach Keppler tatsächliche Katastrophen wiedergegeben oder nachgestellt. Im Gegensatz dazu handelt es sich beim performativen Realitätsfernsehen um „Unterhaltungssendungen, die sich zur Bühne herausgehobener Aktionen machen, mit denen gleichwohl direkt oder konkret in die Alltagswirklichkeit der Menschen eingegriffen wird. Hier […] werden soziale Handlungen ausgeführt, die als solche bereits das alltägliche soziale Leben der Akteure verändern.“10 Für Keppler gehören hierzu besonders Beziehungsshows oder das Format Versteckte Kamera. Ein künstliches Setting (das zentrale Kennzeichen der Docu Soap im Gegensatz zur Reality Soap, bei der die Akteure in ihrem eigenen Alltag gezeigt werden11) ist etwa bei Big Brother oder bei den Reality-TVElementen von Castingshows gegeben. Diese Sendungen ähneln gewissermaßen Versuchsanordnungen, bei denen Menschen in Grenzsituationen beobachtet werden können, was diese Formate nicht zuletzt zum Gegenstand höchst umstrittener moralischer Diskussionen gemacht hat. Der Modus der Beobachtung schließt dabei an das Cavell’sche Fernsehkonzept des → Monitoring an, dessen Inszenierungsmuster der Echtzeit und Spontaneität die Authentizität unterstützen (→ Liveness). ELISABETH KLAUS und STEPHANIE LÜCKE sehen in der Grenzübertretung ein konstitutives Merkmal des Reality TV. Es seien vorwiegend Grenzüberschreitungen zwischen Authentizität und Inszenierung, zwischen Information und Un-

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Wegener (1994, 51–80). Vgl. Wegener (1994, 144): „Im Reality-TV scheint sich der Erlebnischarakter der Gesellschaft widerzuspiegeln.“ 9 Vgl. etwa Göttlich (2001), Klaus/Lücke (2003) oder Lünenborg u.a. (2011). 10 Keppler (1994, 8f.). 11 Vgl. Klaus/Lücke (2003, 201).

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terhaltung und zwischen Alltag und Exotik,12 wobei der Ausdruck ‚Exotik‘ nicht sonderlich treffend ist – handelt es sich doch vielmehr um die Dialektik von → Ereignis, Normalität und Ausnahme, die hier gemeint ist. Der Alltag wird zwar so inszeniert und verfremdet, dass er aus dem Gewöhnlichen herausragt, das macht ihn aber keinesfalls schon ‚exotisch‘. Klaus und Lücke erheben die Grenzüberschreitung zwar zum zentralen Definiens, schreiben jedoch im selben Atemzug, dass die ‚wahren‘ Geschichten ‚gewöhnlicher‘ Menschen fürs Fernsehen immer möglichst spannend inszeniert würden, was aus ihnen dann „ein Stück Fiktion“ mache.13 Folglich geht es wohl weniger um eine tatsächliche Grenzüberschreitung und auch weniger um die Inszenierungsfrage als vielmehr um ein Kontinuum zwischen Fakt und Fiktion,14 auf dem die Reality-TV-Formate zwar näher bei der Faktizität angesiedelt werden müssen, aber keineswegs frei von fiktionalen Elementen sind. (Ähnliches gilt auch für das Kontinuum von Information und Unterhaltung, → Infotainment.) Dies bezeugen besonders Scripted-Reality-Formate, bei denen Laienakteure oder auch Laienschauspieler in alltäglichen Situationen Handlungen vollziehen, die von einem Drehbuch vorgeschrieben sind, aber als authentisch und dokumentarisch erscheinen wollen.15 Die dahinterstehende Strategie wird in der rhetorischen Tradition dissimulatio artis (Verbergung der Kunst) genannt und stellt eine der zentralen medienrhetorischen Inszenierungsstrategien dar.16 Für die Zuschauer ist dabei nicht immer ohne Weiteres entscheidbar, wie hoch der Inszenierungsgrad eines bestimmten Reality-TV-Formats ist. ANNETTE HILL hat in ihrer Rezeptionsstudie jedoch festgestellt, dass dies für viele Zuschauer gerade besonders reizvoll ist und sie sich dadurch ein profundes Wissen über die verschiedenen Inszenierungsstrategien von Authentizität aneignen und immer wieder neu überprüfen (siehe auch → Konstruktion von Wirklichkeit).17 Ein diesbezüglich interessantes RealityFormat ist Gogglebox (BBC), bei dem Laienakteure bei der Fernsehrezeption gezeigt werden. Tatsächliche Fernsehzuschauer können somit ausgewählten ‚Fernsehzuschauern‘ in verschiedenen Wohnzimmer-Settings zusehen, wie diese fernsehen und sich das Fernsehprogramm aneignen – der Prozess der Fernsehre-

12 Klaus/Lücke (2003, 204–208). 13 Vgl. Klaus/Lücke (2003, 205f.). Vgl. zum Inszenierungsaspekt auch Bourdieu (1998, 22), Plake (2004, 83) und Wittwen (1995, 20). 14 Vgl. Hill (2005, 49). 15 Vgl. zur ‚Rhetorik‘ des Dokumentarischen Fetveit (2002) und zu den verschiedenen Ästhetiken des Dokumentarischen und Nicht-Dokumentarischen Corner (2002). 16 Diese Technik ist auch aufgerufen, wenn Reichertz (2011, 229f.) feststellt, Reality TV habe „perfekt unperfekt“ zu sein. 17 Vgl. Hill (2005, 57–78). Zur immer stärkeren Hybridisierung vgl. auch Hill (2007).

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zeption wird hier auf einer Metaebene thematisiert und zum Gegenstand der Unterhaltung gemacht. Die für Reality TV konstitutiven Inszenierungsstrategien, um zu Klaus und Lücke zurückzukommen, sind in Erweiterung von Wegener Personalisierung, Emotionalisierung, Intimisierung, Stereotypisierung und Dramatisierung – nach Lünenborg u.a. kommt jüngst in einem Teil der Formate noch die Skandalisierung hinzu, verstanden als gezielte Provokation sowohl der Akteure als auch der Zuschauer.18 Hieraus wird ersichtlich, dass es weniger um die Inszenierung von Realität als um die unterhaltsame Inszenierung von Affekten geht, die mit einem „Authentizitätsversprechen als konzeptioneller Strategie“ verbunden wird.19 Im englischsprachigen Raum wird daher auch von „popular factual television“ oder „factual entertainment“ gesprochen (→ Unterhaltung).20 Die Unterhaltungssendungen sind deshalb so erfolgreich, weil sie kostengünstig sind, weltweit vermarktet werden können und mit ihrer immer feiner werdenden Ausdifferenzierung einen zunehmend fragmentarisierten Zuschauermarkt befriedigen können.21 Dies erklärt den Siegeszug des Reality TV in der gegenwärtigen „era of plenty“.22 DOMINIK KOCH-GOMBERT führt den Boom von Reality-TV-Shows außerdem vor allem auf die Identifikationsmöglichkeiten der Zuschauer mit den Sendungen und den Integrationsfaktor der Zuschauer in das Geschehen der Sendungen zurück.23 Auf einer etwas grundsätzlicheren Ebene lässt sich Reality TV auch als Ausdruck der Sehnsucht nach einer Echtheit verstehen, die im digitalen Zeitalter verloren ging oder fundamentalen Veränderungen unterworfen ist.24 Auf Casting-, Coaching- oder auch Makeover-Shows wird auch immer wieder das Selbstregierungstheorem MICHEL FOUCAULTS angewandt, nach dem die Zuschauer durch Reality-Formate im Fernsehen zu Praktiken der Selbsttechnologie angehalten werden.25 Aus rhetorischer Sicht ist jedoch die folgende Deutung zu bevorzugen, die von Klaus stark gemacht wird, sich in ähnlicher Form aber auch bei HANS JÜRGEN WULFF, JO REICHERTZ und Lünenborg findet und zudem durch die Re-

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Vgl. Klaus/Lücke (2003, 208–210) und Lünenborg u.a. (2011, 20). Lünenborg u.a. (2011, 181). Vgl. Hill (2005, 42), Göttlich (2001, 81) und Corner (2002, 260). Vgl. Lünenborg u.a. (2011, 18f.). Klaus (2008, 158) spricht daher auch von einer neuen „Grundform der Fernsehproduktion“. Ellis (2000, 162–178). Vgl. Koch-Gombert (2005, 361). Vgl. Fetveit (2002, 132). Vgl. hierzu beispielsweise den entsprechenden Themenschwerpunkt der Zeitschrift kultuRRevolution 2 (2008) und 1 (2009).

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zeptionsstudien von Hill unterstützt wird. Reality TV verhandle, so Klaus, die Normen und Werte der Gesellschaft. „Weil die Art und Weise, wie die Mitmenschen leben, nicht mehr selbstverständlich ist, vermitteln Sendungen, wie sie das Reality TV produziert, alltägliche Erfahrungen und zeigen Muster des menschlichen Miteinanders, die früher direkter beobachtet werden konnten. Normen und Werte, die mit der sozialen Positionierung, dem Hineingeborenwerden in bestimmte Milieus eng verbunden waren, müssen heute verhandelt werden, und das Fernsehen stellt dazu Material bereit.“26 Durch Reality-Formate macht sich das Fernsehen also zu einem Diskussionsforum, das die Gesellschaft – oft über gezielte Provokationen – dazu anhält, ihren eigenen Wertekosmos zu diskutieren. Auch Wulff ist der Ansicht, dass Reality TV „in aller Regel lehrhaftes Fernsehen“ sei: „Die einzelne Geschichte wird erzählt zum Nutz und Frommen der Zuschauer.“27 Als Reaktion könnten sich die Zuschauer mit den Amateur-Protagonisten entweder identifizieren oder sich umso dezidierter distanzieren. Reichertz behauptet sogar: „Reality-TV erbringt für nicht wenige Gesellschaftsmitglieder zunehmend (auch moralische) Orientierungshilfen bei fast allen Problemen der Lebensführung und der Lebensdeutung – Leistungen also, die bislang vor allem von historisch gewachsenen Institutionen wie der Religion, der Pädagogik, der Rechtsprechung, der Medizin, der Politik etc. fast exklusiv verwaltet und angeboten wurden.“28 Für manche Zuschauer mancher Formate mag dies möglicherweise zutreffend sein – Reichertz stützt sich bei seinen Überlegungen auf keinerlei empirische Ergebnisse –, im Ganzen jedoch erscheint die Aussage problematisch, weil sie distanzierte, ja, ironische Betrachtungsweisen nicht berücksichtigt. In vielen Fällen scheint es ja geradezu darauf hinauszulaufen, dass Coaching- oder Beratungsshows nur auf den allerersten Blick ein Beratungsversprechen anbieten – auf den zweiten Blick ergeben sich zahlreiche Hinweise auf Strategien der Uneigentlichkeit, welche bestimmte Zuschauer auch zur Distanzierung oder gar zum Spott anspornen. Daher ist die Einschränkung von Klaus sehr ernstzunehmen: „Die Angebote des Reality TV sollen nichts Bestimmtes erreichen, sie wollen nicht überzeugen. Die Formate wollen keine guten und in sich geschlossenen Geschichten erzählen wie das traditionelle Unterhaltungsprogramm, sollen keine Ansammlungen von Fakten und wahren Informationen über

26 Klaus (2008, 157f.). 27 Wulff (1995, 115). 28 Reichertz (2011, 235).

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die Welt liefern wie das traditionelle Informationsangebot. Stattdessen übertreten sie Grenzen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen.“29 Für die Rhetorik des Reality TV bedeutet dies eine strukturelle Analogie zu den Vorgehensweisen und Zielen der epideiktischen Rhetorik – der rhetorischen Gattung, die beim Publikum keinen Meinungswechsel erzeugen will, sondern primär in der Bestätigung der Normen und Werte der Gemeinschaft liegt. Die Festrede, auch Lob- und Tadelrede oder nach dem lateinischen Terminus genus demonstrativum auch schlicht Vorzeigerede genannt, hat eine schwierige Aufgabe: Sie muss kurzweilig und unterhaltsam sein, sich auf den Alltag und die Lebenswelt des Publikums beziehen, die Kunst der Beredsamkeit vorführen, ohne allzu künstlich zu wirken, und sie soll für eine breite Öffentlichkeit konsensfähig sein. Jeder einzelne Zuhörer soll über die Rede zu einem Teil der Kommunikationsgemeinschaft werden, Differenzen überwinden und sich mit dem identifizieren, was der Redner als den kleinsten gemeinsamen Nenner an Normen und Werten vorstellt. In rituell wiederkehrenden Situationen bringt dies die einzelnen Zuhörer einander näher und stärkt die Gemeinschaft genauso wie den Redner und seine Rolle als Identifikationsfigur und Orientierungsstifter. Ganz ähnlich lässt sich Reality TV verstehen, wie im vorherigen Abschnitt gezeigt wurde: In den verschiedenen Formaten werden auf mehr oder weniger provokative Weise soziale und moralische Themen verhandelt, die eine Diskussion über die Normen und Werte der Gesellschaft auslösen. Damit ist die Analogie jedoch schon erschöpft, denn Reality TV reduziert den Normen- und Wertediskurs zu einem Vehikel der Aufmerksamkeitsgewinnung. Es werden also die Muster der epideiktischen Beredsamkeit verwendet, ohne dasselbe Ziel zu verfolgen – mit den fernsehspezifischen Mitteln der Inszenierung von Authentizität. Interessanterweise sind die Macher von Reality-TV-Formaten in beiden Fällen erfolgreich – dann, wenn die Zuschauer fälschlicherweise denken, es gehe tatsächlich um ihre Normen und Werte, und dann, wenn den Zuschauern klar ist, dass über die Normverletzungen und Wertediskussionen nur ihre Aufmerksamkeit gewonnen werden soll. Literatur Baudrillard, Jean (1978): Agonie des Realen. Aus dem Franz. übers. von Lothar Kurzawa und Volker Schaefer. Berlin. Bourdieu, Pierre (1998): Über das Fernsehen. Aus dem Franz. von Achim Russer. Frankfurt a.M.

29 Klaus (2008, 162).

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U MSCHALTEN Das Umschalten (auch ‚Switching‘ oder ‚Zapping‘) bezeichnet einen Rezeptionsmodus des Zuschauers, in welchem dieser aufgrund unterschiedlicher Motive zwischen den Fernsehkanälen wechselt und dabei einzelne Sendungen oder Werbespots nicht komplett ansieht, sondern fragmentiert verarbeitet und zu einem selbst verantworteten neuen ‚Programm‘ zusammenstellt. Umschalten ist u.a. als Reaktion auf die fernsehmedialen Strukturdeterminanten der Linearität, der Simultaneität der verschiedenen Programmangebote (→ Programmstruktur), der mangelnden → Interaktivität und des generellen Charakters als Massenmedium anzusehen. Außerdem korrespondiert Zapping mit der → Flüchtigkeit des Mediums und ergänzt den Rezeptionsmodus der → Zerstreuung. Aus rhetorischer Sicht ist das Phänomen des Umschaltens prima facie als Widerstand für die Aufführung von einzelnen Texten zu betrachten, da diese durch die potentielle Unterbrechung der Kommunikation durch den Rezipienten nicht mehr ihre kompositionelle Struktur entfalten können und daher ein wichtiges Element ihrer Überzeugungskraft verlieren. Darauf können Fernsehoratoren in zweierlei Weise reagieren, die sich eigentlich gegenseitig ausschließen. Einerseits müssen sie sich mit dem Umschalten abfinden, indem sie ihren Text so gestalten, dass die Botschaft auch bei fragmentierter Rezeptionsweise erhalten bleibt. Dies kann etwa durch Wiederholung zentraler Kern-Botschaften oder durch die Zergliederung des Textes in kurze, in sich verständliche Segmente geschehen, die mit schnellen Schnitten den Umschalt-Effekt simulieren. Die Senderkennzeichen (als ‚Fliege‘ meist in der rechten oder linken oberen Bildschirmecke platziert) und die zunehmende Formatierung von Fernsehsendungen können den Zuschauer dabei unterstützen, sich nach einem Umschaltvorgang blitzschnell im neuen Programm zu orientieren und aufgrund seines Genrewissens

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und seiner Fernsehkompetenz auch das Telos des neuen Textfragments zu erfassen (→ Format). Andererseits müssen Fernsehoratoren versuchen, die Zuschauer vom Umschalten abzuhalten, indem sie sie mit Hilfe von → Emotionalisierung und insbesondere → Dramatisierung involvieren und für einen längeren Zeitraum ans eigene Programm binden. Dazu dienen auch permanente Ankündigungen und Versprechungen, welche die Erwartungen ans Programm anfachen, jedoch nicht sofort erfüllen (→ Flow). Die geschickte Platzierung von Werbeinseln und die dramaturgische Kombination von quoten-starken und quotenschwächeren Sendungen (→ Quote) kann ebenfalls zu Bindungseffekten führen. Kommen beide Strategien zusammen, kann dies in eine Art ‚Überdramatisierung‘ mit retardierenden Momenten münden, die die Spannung von Augenblick zu Augenblick weiter steigert, ohne Involvement zu generieren (etwa bei den künstlich verzögerten Jury-Entscheidungen in Castingshows). Umschaltphänomene lassen sich auf die dem Fernsehen inhärente Struktur der Simultaneität und damit auch der Konkurrenz verschiedener Kanäle und deren Programmangebote um die Aufmerksamkeit der Zuschauer zurückführen. Fernsehoratoren sind somit auch angehalten, ihre eigene Sendung immer vor dem Hintergrund konkurrierender Sendungen zu sehen, um über entsprechende Programmierung und Formatierung ‚Umschaltbewegungen‘ zum eigenen Programm zu motivieren bzw. das Umschalten abzuwenden. Umschaltphänomene werden häufig mit dem Begriff des Zapping in Verbindung gebracht. Mit RUTH AYASS lassen sich zwei Bedeutungsverwendungen von Zapping unterscheiden: eine enge Bedeutung, die sich ausschließlich auf das Umschalten bei Werbung bezieht, und eine weite, nach der Zapping jede Form des Programmwechsels bezeichnet.1 HARTMUT WINKLER hat einen engen ZappingBegriff und versteht darunter ausschließlich die Werbevermeidung, weswegen er in seiner Monographie, die sich in erster Linie mit dem Programmwechsel beschäftigt, konsequent vom ‚Switching‘ spricht.2 Die breitere Begriffsverwendung hingegen fasst Zapping als Oberbegriff für die verschiedensten UmschaltPhänomene, die dann mithilfe einer Vielzahl an Fachtermini weiter differenziert werden. Ayaß konstatiert hier zu Recht „ein Bedürfnis nach exzessiver Typenbildung“.3 LOTHAR MIKOS etwa unterscheidet intuitiv (d.h. nicht auf der Basis einer empirischen Studie) zehn Zapping-Typen von „Warte-Zapping“ über „Vermeidungs-Zapping“ bis zu „Redundanz-“ oder „Kompetenz-Zapping“. Hier

1 2 3

Ayaß (2012, 32). Winkler (1991, 9 bzw. 16). Ayaß (2012, 32).

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werden unterschiedliche Motive oder Muster des Umschaltens zum Kriterium gemacht.4 Systematischer und verbreiteter ist hingegen eine Typenbildung, wie sie etwa HANS-GEORG NIEMEYER und JÖRG MICHAEL CZYCHOLL vornehmen: Sie unterscheiden zwischen Werbevermeidung und Programmselektion und ordnen diesen beiden Reinformen jeweils Unterkategorien zu. Die von ihnen sogenannte „Programm-im-Programm-Selektion“ teilt sich auf in ‚Hopping‘, ‚Flipping‘ und ‚Switching‘ bzw. ‚Grazing‘.5 Hopping bezeichnet demnach das gleichzeitige Verfolgen von zwei oder mehr Programmen, indem zwischen diesen hin- und hergeschaltet wird. Flipping hingegen nennen die Autoren das Durchschalten sämtlicher Programme zu Beginn des Fernsehkonsums, mit dem sich die Rezipienten einen Überblick über das Programmangebot machen. Switching oder Grazing (Abgrasen) definieren Niemeyer und Czycholl in Anlehnung an Winkler als Programmwechsel, der dem Ziel dient, ein besseres Programmangebot zu finden. Bei Winkler heißt es explizit: „Switching meint also nicht Schaltvorgänge allgemein; wechselt der Rezipient die Programme, bevor eine neue Sendung beginnt, oder durchsucht er die Kanäle gezielt nach einer angekündigten Sendung, wird man nicht von Switching sprechen.“6 Umschaltvorgänge zur Werbevermeidung lassen sich nach Niemeyer und Czycholl in ‚Zapping‘ und ‚Zipping‘ unterteilen, wobei Zapping in Übereinstimmung mit der von Ayaß identifizierten engen Definition „der zu beobachtende Programmwechsel (hierzu dient auch das Herunterregeln von Ton oder Helligkeit)“ ist, „der ausschließlich dazu dient, jegliche Formen von Fernsehwerbung on air zu vermeiden“.7 Zipping schließlich bezeichnet die Werbevermeidung beim Abspielen von auf Video (o.ä.) aufgezeichneten Fernsehsendungen, etwa durch Vorspulen oder Unterbrechen der Aufnahme.8 Niemeyer und Czycholl fügen dieser Systematik noch den Typus des ‚Sticking‘ hinzu: „Sticker sind Personen, die im Gegensatz zu Zappern einen Werbeblock ohne Umschalten durchgängig verfolgen. Sie bleiben im Programm kleben.“9 Der Ursprung des Begriffs ‚Zapping‘ lässt sich nach BARRY M. KAPLAN, der einhellig zitiert

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Vgl. Mikos (1994, 93–97). Niemeyer/Czycholl (1994, 39 und zum Folgenden 39–45). Winkler (1991, 10). Niemeyer/Czycholl (1994, 55 und zum Folgenden 70). Dieselben Typen nennt auch Ottler (1998, 89f.). In der Regel werden zusätzlich „physische Abwesenheit“ und „physisches Zapping“ genannt, womit in beiden Fällen das Verlassen des Raumes gemeint ist. Niemeyer/Czycholl (1994, 56).

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wird, auf einen Ausdruck aus dem Comic zurückführen, der so viel heißt wie ‚abknallen‘ oder ‚auslöschen‘: „the term originated in the old Buck Rogers comic strip as the written description of the sound a ‚ray gun‘ made when the bad guys were being ‚vaporized‘ – or, to put it another way, Buck made them disappear.“10 Im Anschluss an diese Überlegungen wird hier vorgeschlagen, Zapping in der engen Bedeutung zu verwenden und als Oberbegriff für das Zapping und die übrigen Typen den schlichten Terminus ‚Umschalten‘ zu verwenden. Wie auch Ayaß in ihrem Überblicksartikel feststellt, entwirft die Forschungsliteratur ein widersprüchliches Bild vom Umschalten. Die Skala reicht dabei von der Pathologisierung des Umschaltens als hektisches ‚Zerhacken‘ von Sinnzusammenhängen11 bis hin zur Glorifizierung, bei welcher der Fernsehzuschauer in Anlehnung an Benjamins Beschreibung des Flaneurs im Passagenwerk zum ‚Téléflaneur‘ erhoben wird.12 Auch die methodischen Zugriffe sind deutlichen Unterschieden unterworfen: Empirisch-kommunikationswissenschaftliche Studien befassen sich v.a. mit dem Zapping und untersuchen dieses mit Hilfe von Befragungen, telemetrischen Messungen und sonstigen experimentellen Verfahren, andere nähern sich dem Phänomen aus hermeneutischmedienwissenschaftlicher Perspektive. Ein auch aus rhetorischer Sicht vollständiges Bild ergibt sich freilich erst aus einer Zusammenschau der unterschiedlichen Ansätze und aus einer wertneutralen Sicht auf das Phänomen des Umschaltens. Dabei helfen auch die zahlreichen Hinweise auf medienhistorische Vorläufer des Umschaltens, nämlich etwa das Durchblättern einer Zeitschrift oder das Quer-Lesen oder Parallel-Lesen von Büchern, die metaphorisch zur Beschreibung des Umschalt-Verhaltens beim Fernsehen eingesetzt werden.13 Es ist auffällig, dass die Forschung nicht mit der Durchsetzung der Fernbedienung in den 1960er Jahren einsetzt – stellte diese doch einen „manipulativen Eingriff in die textuellen Einheiten“ des Fernsehens dar: „Mechanismen, die zu-

10 Kaplan (1985, 9). Vgl. auch die diese Deutung stützenden Recherchen von Schmitz (1996, 16f.). 11 Die Position wird von Schmitz (1996, 19) treffend beschrieben (und tendenziell auch vertreten): „Er [der Zapper] ist gerade auf das bruchstückhafte, unvollständige, heterogene Konglomerat aus. Zumindest vordergründig ist der Zapper semiotischer Sadist; er schneidet Zeichen durch und hackt Sinnzusammenhänge kurz und klein. In pragmatischer Hinsicht geht es dem Zapper also nicht darum, einen Text zu verstehen. Er will nichts entdecken oder einordnen, weder Teile in Ganze noch Neues in Altbekanntes. Vielmehr sucht er, stärker noch als etwa der hektische Illustriertenblätterer, nach Zerstreuung und Sinnesreizung bis hin zur semiotischen Sucht.“ 12 Vgl. Ayaß (2012, 30) mit Bezug auf Rath (1983, 137f.). 13 Vgl. etwa Mikos (1994, 90) , Winkler (1991, 23) oder Schmitz (1996).

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vor als Spezifika des Fernsehens galten – etwa die zeitliche Ordnung der Programmschemata und die Flüchtigkeit des Gesendeten –, wurden in mehrfacher Hinsicht neu strukturiert.“14 Erst etwa Mitte der 1980er, in Deutschland gar erst Anfang bis Mitte der 1990er Jahre, entstehen die maßgeblichen Arbeiten.15 Die ambivalenten Beurteilungen des Umschalt-Phänomens offenbaren somit, dass der Fernsehkonsum bis in die 1990er Jahre hinein einem Idealbild unterlag, das Ayaß als dasjenige „einer konzentrierten und schweigenden Rezeption“ umschreibt, „vergleichbar vielleicht der Rezeption in Theater und Oper, in der kommunikative Aktivitäten während der Rezeption weitgehend verpönt sind“.16 Umschalten wurde als abweichendes, nicht vorgesehenes Verhalten begriffen, das sowohl der Idee der Autorintention als auch der Idee der Fernsehsendung als eines geschlossenen ‚Werkes‘ entgegensteht.17 In rhetorischen Begriffen lässt sich das Umschalten aus dieser Sicht als ein ‚Widerstand‘ auffassen, der möglichst zu vermeiden ist – entzieht sich der Zuschauer doch durch das Umschalten den dramaturgischen, konzeptionellen und argumentativen Strukturvorgaben der einzelnen Sendung, die sich für ihn normalerweise im Nachvollziehen erst Schritt für Schritt erschließen. Die daraus resultierende rhetorische Strategie wäre also, die Rezipienten mit allen Mitteln zum Dranbleiben oder Sticken zu bewegen – schaltet der Zuschauer dennoch um, wäre das als Scheitern zu interpretieren.18 Neutralere Forschungspositionen behaupten indes, dass Umschalten eine äußerst fernsehadäquate Rezeptionsweise darstellt: „Wer umschaltet, hat sich an die Angebotsweise des Fernsehens optimal adaptiert, er nutzt Fernsehen auf eine höchst effektive und rationale Weise“.19 Somit würde sich eine bloß auf Sehkontinuität fixierte Strategie womöglich als inadäquat erweisen. Ein Fernsehorator kann hier nur die Schlussfolgerung ziehen, dass er sich sowohl mit dem ‚Dranbleiben‘ als auch dem Umschalten als grundsätzlich widersprüchlichen Reaktionen auf sein Angebot auseinandersetzen und jede dieser Handlungsmöglichkeiten in sein antizipatorisches Medienkalkül einbeziehen muss.

14 Stauff (2005, 68). 15 Vgl. zur Forschungsliteratur auch die von Hans Jürgen Wulff zusammengestellte Online-Bibliographie der Kieler Medienwissenschaft (Stand 2000), online verfügbar unter http://www.uni-kiel.de/medien/zapping.html, 21.05.2014. 16 Ayaß (2012, 31). 17 Ähnlich ist es mit dem Phänomen der Neben- oder Paralleltätigkeiten beim Fernsehen, siehe hierzu etwa Neverla (1992). 18 Vgl. auch Winkler (1991, 63): „Switcht der Rezipient, ist das Programm als Programm, als allgemeine Vorgabe, zunächst gescheitert. Gescheitert vor allem auch in dem Anspruch, seine Zeit, seinen Rhythmus zu diktieren.“ 19 Wulff (1995, 2, die Seitenzahl bezieht sich auf die Online-Publikation).

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Die Forschung bietet allerhand Ergebnisse zu den Erscheinungsweisen und Motiven des Umschaltens wie auch zur Frage, ob bzw. wie das Umschalten den ‚Fernsehtext‘ als das zentrale oratorische Instrument eigentlich verändert. Aus diesen Befunden lassen sich dann Rückschlüsse für den Entwurf medienrhetorischer Strategien ziehen.20 Es gilt als erwiesen, dass die Umschalthäufigkeit abnimmt, wenn mehr als zwei Personen gemeinsam fernsehen – mit anderen Worten: Umgeschaltet wird vor allem allein oder zu zweit, wobei das Umschalten für denjenigen, der es nicht tut, oft anstrengend und ermüdend wirkt.21 Für die Produktion von Fernsehsendungen lässt sich daraus ableiten, dass Fernsehoratoren versuchen sollten, ganze Adressatengruppen vor den Fernsehgeräten zu versammeln, wenn sie ein Umschalten verhindern wollen. Das lässt sich etwa mit der Konstruktion von Medienereignissen oder mit dem Entwickeln von Kult-Shows oder -Serien erreichen (etwa Tatort oder der Eurovision Song Contest), die sich so vom Rest des Programms abheben, dass ihre Ausstrahlung beim ‚Public Viewing‘ oder in Kleingruppen vor dem Fernsehgerät regelrecht zelebriert werden kann (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme). Ein weiterer Befund der empirischen Forschung lautet, dass sich das Umschalten nicht an die Anzahl der Wahlmöglichkeiten koppeln lässt.22 Auch wird in der Regel nicht zwischen allen empfangbaren Kanälen hin- und hergeschaltet, sondern nur zwischen ausgewählten Kanälen oder auch ausgewählten Sendungen.23 Über die Umschalthäufigkeit lassen sich kaum generelle Aussagen treffen – dennoch gilt als gesichert, dass am frühen Nachmittag und insbesondere am späten Abend häufiger umgeschaltet wird als zu anderen Uhrzeiten.24 Über soziokulturelle Unterschiede beim Umschalten herrscht ebenfalls Uneinigkeit.25 In Großbritannien und den USA treffen wohl ein Drittel der Fernsehzuschauer ihre Programmentscheidung erst nach dem Einschalten und betreiben damit Flipping.26 In Jäckels Untersuchung wird zudem deutlich, dass bei längeren Nachrichten- und Politiksendungen die Zuschauer häufiger weg- bzw. umschalten. Zudem findet wohl ein hoher Austausch zwischen Unterhaltungssendungen statt,

20 Einen guten Überblick über die empirischen Studien zum Umschalten und Zappen geben Jäckel (1993), Ottler (1998) sowie Bellamy/Walker (1996). 21 Vgl. Jäckel (1993, 98); siehe auch Ayaß (2012, 41). 22 Vgl. Ottler (1998, 98f.). 23 Vgl. Jäckel (1993, 98f.). Ruth Ayaß (2012, 37–41) weist im Übrigen darauf hin, dass auch die von den Zuschauern selbst vorgenommene Reihenfolge der Fernsehprogramme Aufschluss über Sehgewohnheiten gibt. 24 Vgl. Jäckel (1993, 73). 25 Vgl. Bellamy/Walker (1995, 95–124). 26 Vgl. Ottler (1998, 102).

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d.h. der ‚Unterhaltungsslalom‘, der ursprünglich nur das Wegschalten von Informationssendungen einschloss, ist auf dieses Phänomen hin auszuweiten (→ Infotainment, → Unterhaltung).27 Zuschauer bleiben also thematisch oder vom Adressierungsmodus her ähnlichen Sendungen treu. Ayaß schließt daraus: „Die Rezipienten nutzen den Fernsehtext, um aus der Vielfalt des ‚flow‘ eigene, inhaltlich teils recht homogene ‚Themenabende‘ zusammenzustellen.“28 Aus fernsehrhetorischer Sicht können also Themenabend-Strategien, wie sie etwa die Kultursender arte und 3sat, aber auch Pro7 (der ‚Serien-Mittwoch‘) vornehmen, als strategische Reaktion auf das Umschalten gewertet werden. Was das Zapping betrifft, so kommt SIMON OTTLER bei der Auswertung telemetrischer Daten zu dem Ergebnis, dass es einen durchschnittlichen ZappingVerlust bei Werbepausen von (nur) 10,7 Prozent gibt. Während einer Werbepause wandern die Zuschauer besonders zu Beginn ab, während sie gegen Ende der Werbepause wieder zuschalten – insbesondere, wenn es sich um Unterbrecherwerbung handelt (Werbepause, die eine laufende Sendung unterbricht) und nicht um Scharnierwerbung (Werbepause zwischen zwei verschiedenen Sendungen).29 Seine Empfehlungen für die Programmplanung, die aus rhetorischer Sicht höchst anschlussfähig sind, lauten wie folgt: Werbespots müssen attraktiv und aktivierend gestaltet werden, um Zapping zu verhindern;30 Serien sollten mit einem ‚cold start‘ beginnen (also medias in res), bevor der übliche Vorspann eingeblendet wird, um die besonders umschaltempfindliche Scharnierstelle als solche zu verbergen; und generell seien Scharnierinseln zugunsten von Unterbrecherinseln abzuschaffen. Außerdem ist nach Ottler angesichts der Werbeablehnung durch die Zapper zu überlegen, ob sich nicht über alternative Werbeformen wie etwa Programmsponsoring mehr Zuschauer erreichen lassen.31 Ein Blick auf die Motive des Umschaltens kann ebenfalls zu Rückschlüssen auf die Programm- und Textstrategien der Fernsehmacher führen.32 Winkler nimmt hier eine aus medienrhetorischer Sicht vollkommen einleuchtende Analyse der „Zumutungen des Mediums“ Fernsehen vor, die als Strukturen dafür ausschlaggebend seien, dass in den Zuschauern ein gewisses „Unlustpotential“ und

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Vgl. Jäckel (1993, 88 und 96). Ayaß (2012, 37). Vgl. Ottler (1998, 108 und 112). Vgl. hierzu auch Gehrau (1999, 163). Vgl. Ottler (1998, 220–225). Vgl. dazu bes. Walker/Bellamy (1996, 107f.), die hier mit der Gratifikationstheorie arbeiten und als Hauptmotivation bei ihrer Meta-Analyse empirischer Studien ebenfalls die im Folgenden genannten Motive isolieren.

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somit der Wunsch nach Um- oder Abschalten entsteht. Erstens weise die mediale (wie auch die gesellschaftliche) Struktur den Produzenten ausschließlich eine aktive und den Rezipienten ausschließlich eine passive Rolle zu, was in den Rezipienten den „Wunsch nach Eingriff“ wecke. Zweitens seien Ablauf und Tempo der Fernsehtexte starr vorgegeben. Drittens könne das Massenmedium Fernsehen nicht auf die Stimmungslage und die Erwartungen des Einzelnen eingehen, sondern nur massentaugliche Stereotype und Klischees bedienen.33 Ein wichtiges Motiv des Umschaltens ist demnach die Befreiung aus diesen starren Strukturen und die Rückgewinnung von Souveränität. Winkler fragt sich nun, was im Augenblick des Programmwechsels eigentlich passiert, und kommt zu dem Ergebnis, dass der Rezipient „eine Alternative“ wähle, „die er nicht kennt“, was den Überraschungseffekt des Wechsels zu einem Reiz an sich mache.34 Dieser Reiz entspricht dem Rezeptionsmodus der Zerstreuung. Der Zuschauer springt in eine Szene hinein, die er nicht kennt und blitzschnell deuten muss. Am Punkt des Switchens wird er also mit Informationen überschüttet, da er den Kontext des einzelnen Textfragments noch nicht kennt und der Informationsgehalt via Redundanz noch nicht vermindert wurde. An dieser Stelle kann man einfügen, dass die zunehmende → Televisualität dazu dient, den Programmen und Sendungen eine eigene ästhetische Signatur zu verleihen, die nicht zuletzt die Orientierung nach dem Switch erleichtert. Nach einer Weile wird der Effekt aufgrund des Kontextwissens aber geringer.35 Winkler resümiert hier, dass sich ein Erkenntnisweg erschließt, der sonst nicht möglich gewesen wäre. Der kurze Moment der Verunsicherung beim Switching bringt den Rezipienten jedoch nicht zu beliebigen Assoziationen und Phantasien, die seinen subjektiv-individuellen Wünschen entsprechen, sondern schafft weiterhin eine Rückbindung an eine im Material angelegte Struktur. Mikos und HANS JÜRGEN WULFF weisen jedoch darauf hin, dass dem Rezipienten zwar die konkrete Alternative zum laufenden Programm unbekannt sein mag, dass er seine Umschaltentscheidung jedoch vor dem Hintergrund der Programmstruktur des Fernsehens trifft. Der Erwartungshorizont wird durch seinen Fernseh-Erfahrungsraum vorstrukturiert, daher stehe „eine Sendung“, so Wulff, stets „in einem Möglichkeitsfeld von [soundso vielen] anderen Sendungen.“36

33 Vgl. Winkler (1991, 56–62). 34 Winkler (1991, 87f.), Zitat im Original kursiv. 35 Vgl. Winkler (1991, 97–101). Er schließt hier insbesondere an Walter Benjamins ‚Schocktheorie‘ an, die Möglichkeiten aufzeigt, wie im Moment des Wechsels beim Zuschauer neue Sinnstrukturen der verarbeiteten Sequenzen entstehen können. 36 Wulff (1995, 1).

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Mikos nimmt an, dass Rezipienten Hypothesen über den Fortgang der Handlung und die weitere Entwicklung der eigenen Rezeption treffen, bevor sich dann ein „Möglichkeitsraum“ fürs Umschalten eröffnet.37 Dies zeige deutlich, so wiederum Wulff: „Zappendes Umgehen mit Fernsehen setzt Fernsehkompetenz voraus, einen Wissenszusammenhang und eine Kompetenz, dieses Wissen in eine Rezeption einfließen zu lassen.“38 Die Rezipienten müssen also gar nicht zwangsläufig mit der laufenden Sendung unzufrieden sein, wenn sie weiterschalten, sondern verleihen damit nur der Tatsache Ausdruck, dass auf einem anderen Kanal womöglich ein noch interessanteres Angebot sein könnte, das ihren Bedürfnissen besser entspricht. HERBERT SCHWAAB hat dieses Phänomen treffend mit der Aussage „Ich weiß ja nicht, was ich suche“ betitelt.39 Für Fernsehoratoren ist es schwierig, sich auf eine solche Motivlage adäquat einzustellen. Eine mögliche Konsequenz ist es, auf eine „Fernseh-Dramaturgie des Augenblicks“ zu setzen, wie sie LORENZ ENGELL beschrieben hat: „Die Dramaturgie des Fernsehens ist gerade auf der ständigen Präsenz der Möglichkeit eines Endes aufgebaut, indem sie sie ständig ausschließen will.“40 Auch Winkler beschäftigt sich mit der Frage: „Wie hat man sich Filme vorzustellen, die mit dem Switching rechnen? Die den Zuschauer gezielt zu binden versuchen oder Vorkehrungen treffen, um trotz Switching verständlich zu bleiben?“41 In amerikanischen Soap Operas wie etwa Dallas ist die Reaktion auf diese Rezeptionsform dann nach Winkler, dass jede Folge in „eine Fülle einzelner Episoden“, zerfalle, „die in sich ‚verständlich‘ sind, auch wenn der Zusammenhang fehlt, und die umgekehrt nicht vollständig gesehen werden müssen, damit ihr Zusammenhang entschlüsselt werden kann.“ Dies hält er jedoch für unbefriedigend.42 Auch bei ULRICH SCHMITZ findet sich eine ganz ähnliche Aussage: „In ziemlicher Abwandlung der Griceschen Relationsmaxime (‚Sei relevant‘) könnte die oberste Produktionsmaxime allenfalls lauten ‚Heische Aufmerksamkeit‘; und so

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Mikos (1994, 92f.). Wulff (1995, 1). Schwaab (2012). Engell (1989, 168). Dies gelte sowohl für die Innendramaturgie des Textes wie auch die Außen-‚Dramaturgie‘ des Zuschauerverhaltens. „Der Zuschauer könnte in jedem Moment ab- oder umschalten, und zwar wesentlich leichter, als er etwa ein Theater oder ein Kino verlassen kann, und so die Vorstellung vorzeitig beenden. Dieser Alternative als letzter Möglichkeit mag er sich bewußt sein oder nicht, sie ist präsent und verschafft daher dem Zuschauer eine weit größere zeitliche Handlungsfreiheit gegenüber dem Fernsehen als gegenüber anderen Zeit-Medien.“ 41 Winkler (1991, 35). 42 Winkler (1991, 35f.).

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sind denn die Sendungen oft auch gestaltet. […] Wenn der Textproduzent sich ‚kooperativ‘ darauf einlassen will, hat er nur die Chance, seine Texte von vornherein so zu gestalten, daß sie aus möglichst kurzen Fetzen in beliebiger Reihenfolge bestehen.“43 Diese Strategien setzen dann quasi die Ästhetik des auf Rezipientenseite vermeintlich entstehenden Konglomerats in den oratoreigenen Texten bereits um (man denke hier an die Ausführungen JOHN T. CALDWELLS zur Televisualität).44 Die für die Rhetorik so wichtige Bindung an eine Sendung lässt sich nach Wulff hingegen über die „Ganzqualität“ des Textes fördern, worunter er den „übergeordneten Rahmen“ versteht, „in dem sich der Rezipient bewegt und orientiert und den er in gewissen Phasen verlassen kann, ohne daß er befürchten müßte, die Entwicklung des Textes aus den Augen zu verlieren“.45 Des Weiteren erreichten Fernsehoratoren Bindung dadurch, dass sie den Zuschauer involvieren und sie über dramaturgische Techniken in Spannung versetzen.46 Die medienwissenschaftlichen Arbeiten interessieren sich jedoch weniger für die rhetorischen Strategien, mit denen auf das Umschalten reagiert werden kann, als vielmehr für die Frage, wie sich das Umschalten auf den Text auswirkt. So schreibt Ayaß: „Zappen fragmentiert die vorhandenen, ursprünglich zusammenhängenden Texte und montiert nach Art einer Collage die entnommenen Textteile zu einem neuen, der in dieser Komposition nur in der Rezeptionssituation (und vermutlich auch nur in dieser einen) besteht.“47 Für die Fernsehoratoren bedeutet dies einen Verlust, für die Rezipienten einen Zuwachs an Macht oder wenigstens an Aktivität.48 Schmitz weist zu Recht darauf hin, dass „Zap-Texte“ erst – wie alle anderen Texte auch – im Akt des Lesens konfiguriert werden. Dennoch hält er sie für „lineares Wirrwarr: Ketten aus zusammenhanglos ausgewählten Stücken ihrerseits linearer Texte“.49 Winkler arbeitet heraus, dass die im Fernsehen performierten Texte auf verschiedenen Ebenen Aussagen machen, die zwar von einem ‚Gesamtsinn‘ organisiert werden, aber von diesem auch nicht vollständig durchdrungen sind bzw. in diesem nicht vollständig aufgehen. Die vom Swit-

43 44 45 46 47 48

Schmitz (1996, 19). Vgl. Caldwell (1995). Wulff (1995, 3). Vgl. Wulff (1995, 3). Ayaß (2012, 35). Ayaß (2012, 35, Anm. 4) weist darauf hin, dass sich die Cultural Studies, denen – mit Bezug auf Stuart Hall – stets die Wende zum ‚aktiven‘ Zuschauer zugeschrieben wurde, interessanterweise nicht mit dem Zappen beschäftigt haben, obwohl die „traditionelle Medienforschung“ hier genau diese Wende schon vollzogen habe. 49 Schmitz (1996, 17f.).

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chenden rezipierten Einzelszenen sind also keine sinnlosen ‚Bilder‘, sondern zeichnen eigene Seitenwege, auf die auch ‚normal‘ Rezipierende durch Assoziationen und Gedanken stoßen.50 Switching rufe diese bewusst hervor. So werde aus kontextuell eingeordneten Sequenzen, also konsistenten Einheiten, eine Ansammlung von Bruchstücken, die keinen direkten Sinnzusammenhang auf einer Referenzebene mehr hätten. Sie würden also mehrdeutig. Das entstehende Produkt besitze Ähnlichkeit mit dem offenen Kunstwerk; der Rezipient müsse in seiner Phantasieproduktion aktiv werden und werde so zum Mitautor: „Der Rezipient muß die Lücken füllen, die durch das Zurücktreten der Intention des Autors entstehen“.51 Ein weiteres Spezifikum der Nachbearbeitung ist ihr prozessualer und flüchtiger Charakter. Der Switch-‚Produzent‘ sehe sein Werk nie als Ganzes, sondern nur im Prozess des Entstehens. Das Produkt ist nach Winkler im Bereich der Improvisation bzw. der Performance zu verorten,52 auch wenn das ‚Werk‘ des Umschaltenden weder genau kalkulierte Grenzen bekomme noch seine Intention klar fassbar sei, sondern vielmehr ein Produkt des Zufalls.53 Aus Winklers Ausführungen lässt sich schließen, dass Fernsehoratoren damit rechnen müssen, dass ihre Intentionen unterlaufen werden und ihr Text, wenn überhaupt, nur fragmentiert und in Verbindung mit anderen Text-Fragmenten auf Seiten des Rezipienten zu einem einzigartigen, ephemeren, improvisierten ‚Schalt-Text‘ zusammengefügt wird. Es reicht also nicht, einzukalkulieren, dass die Rezipienten dem Text womöglich eine andere Bedeutung geben als der Orator selbst – sie ‚produzieren‘ aus dieser Sicht gar ihren eigenen Text. Die Rhetorik, die produktionsorientiert denkt, hat damit natürlich Schwierigkeiten. Es wäre daher zu überlegen, ob es nicht angemessener wäre, zu sagen, dass sich der Rezipient eben nicht seinen ‚Text‘, sondern sein Programm zusammenstellt, das aus verschiedenen Texten und Textfragmenten besteht, die er sehr wohl voneinander zu unterscheiden weiß und nicht zu einem Gesamt-Text zusammenfügt, der ja wieder über eine eigene Kohärenz und Kohäsion verfügen müsste. Dazu passt nicht zuletzt die Flaneur-Metapher CLAUS-DIETER RATHS, wie dieses län-

50 Winkler (1991, 83). Vgl. hierzu auch Dienst (1994, 162): „The important point about zapping is not that it gives the viewers a new way to chase their pleasures across the channels. In fact, zapping draws on a force already built into the televisual image from the start, a cleaving force that refers the image not only to the innumerable points of visibility called viewers but also to other streams of images unseen, which nevertheless share the same moment and which always stand ready to emerge into a new present.“ 51 Winkler (1991, 85). 52 Winkler (1991, 124). 53 Winkler (1991, 126f.).

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gere Zitat zeigt: „Jede Epoche hat ‚ihr‘ Massenmedium. War es für das 19. Jahrhundert die Metropole, so ist es heute das Fernsehen. So wie der Flaneur durch die Straßen der Metropolen des 19. Jahrhunderts wandelte, so bewegt sich der heutige Zuschauer durch die Tele-Visions-Programme. Das Hin und Her auf der Straße, das Überwechseln von einer Straßenseite auf die andere, das Eintauchen in die Massen und das Promenieren auf Alleen und in Passagen findet seine Entsprechung im Switching, im Hin und Her zwischen den Programmteilen, Programmsparten und Genres, im beiläufigen Aufmerken und im (z.T. stummen, z.T. abgelenkten, z.T. geschwätzigen, z.T. grüblerischen) Sich-Treiben-Lassen.“54 Dass der Adressat sich treiben lässt, bedeutet nicht zuletzt: Trotz seiner Umschaltaktivität bleibt er passiv und wird gerade nicht als Textproduzent aktiv. Seine Tätigkeit beschränkt sich auf Akzeptanz (Sticken) und Ablehnung (Schalten) von Texten, die er als solche getrennt voneinander wahrnimmt und von denen er weiß, dass er sie nicht in ihrer Gesamtheit rezipiert, wenn er umschaltet, sondern nur als Fragment. Diese Deutung unterstützt auch Wulffs These: „Umschalten dient gerade nicht dazu, Texte des Sinns zu entleeren, sondern den Sinnhorizont des Fernsehfeldes immer wieder zu aktualisieren.“55 Damit ist gemeint, dass die Entscheidung für eine bestimmte Sendung immer wieder vor dem Hintergrund des Programmcharakters des Mediums überprüft, evaluiert und ggf. revidiert wird. Es wird also nicht umgeschaltet, um den ‚Sinn‘ eines Textes zu dekonstruieren und einen eigenen Text aus verschiedenen Sendungsfragmenten zusammenzustellen, sondern um das Angebot von Programmalternativen zu prüfen und sich selbst nach den eigenen Bedürfnissen und Interessenlagen Programmhöhepunkte zu bereiten. Das Wissen um simultan ablaufende, potentielle Programmalternativen ist stark mit der von AMANDA LOTZ beschriebenen fernsehhistorischen Phase der „multi-channel transition“56 verbunden und wird mit der Zunahme von OnlineMediatheken und Video-on-demand-Anbietern immer mehr an Bedeutung verlieren – können auf diese Weise doch gezielt die von den Rezipienten gewünschten Sendungen angewählt und angesehen werden. Dies fördert nicht zuletzt wieder das Ideal der konzentrierten Rezeption, die sich sogar zum sogenannten ‚binge viewing‘ steigern kann. Die Bindung ist hier so stark, dass Alternativen überhaupt keine Rolle mehr spielen. Für das aber weiterhin relevante ‚klassische‘ Fernsehen, das durch das gleichzeitige Programmangebot unzähliger Kanäle das Umschalten erlaubt und

54 Rath (1983, 137). 55 Wulff (1995, 3). 56 Vgl. Lotz (2007, 7–19).

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sogar fördert, lassen sich folgende rhetorische Strategien festhalten: Fernsehoratoren können in ihren Texten möglichst viele Einstiegs- und möglichst wenige Ausstiegsstellen einbauen, auf eine Dramaturgie des Augenblicks setzen, mit Spannungssteigerungen und Aufmerksamkeitsstrategien für Bindung sorgen, Themenabende konzipieren, Kultformate etablieren oder Medienereignisse inszenieren, die in der Gruppe rezipiert werden – und bei alledem immer berücksichtigen, dass sie mit ihrem Angebot nicht alleine stehen, sondern sich im permanenten Wettstreit mit parallel laufenden, potentiell genauso verheißungsvollen Angeboten befinden. Im Regelfall bedeutet dies, dass sich Fernsehoratoren eher nicht auf die hochkonzentrierte und dauerhafte Rezeption ihrer Texte einstellen dürfen, sondern vielmehr niedrigschwellige Angebote machen müssen, in denen sich die Adressaten beim Hinein-Switchen schnell zurechtfinden, aus denen sie dann aber so schnell nicht wieder aussteigen, weil dieses Angebot möglicherweise genau das ist, was sie gesucht haben. Literatur Ayaß, Ruth (2012): Zur Sozio-Logik der Fernbedienung. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 42/168, 28–45. Bellamy, Robert V. / Walker, James R. (1996): Television and the Remote Control. Grazing on a Vast Wasteland. New York, London. Caldwell, John T. (1995): Televisuality. Style, Crisis, and Authority in American Television. New Brunswick. Dienst, Richard (1994): Still Life in Real Time. Theory after Television. 2. Aufl. Durham, London. Engell, Lorenz (1989): Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens. Frankfurt a.M. Gehrau, Volker (1999): Zapping: Werbung als ein Grund für Fernsehzuschauer umzuschalten. In: Mike Friedrichsen / Stefan Jenzowsky (Hrsg.): Fernsehwerbung. Theoretische Analysen und empirische Befunde. Opladen, Wiesbaden, 147–166. Jäckel, Michael (1993): Fernsehwanderungen. Eine empirische Untersuchung zum Zapping. München. Kaplan, Barry M. (1985): Zapping – The Real Issue is Communication. In: Journal of Advertising Research 25/2, 9–12. Lischka, Gerhard Johann (2007): In der ZappingZone. In: Gerhard Johann Lischka (Hrsg.): ZappingZone. Bern, Zürich, 6–29. Lotz, Amanda D. (2007): The Television Will Be Revolutionized. New York.

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Mikos, Lothar (1994): Fernsehen im Erleben der Zuschauer. Vom lustvollen Umgang mit einem populären Medium. Berlin, München. Neverla, Irene (1992): Fernseh-Zeit. Zuschauer zwischen Zeitkalkül und Zeitvertreib. Eine Untersuchung zur Fernsehnutzung. München. Niemeyer, Hans-Georg / Czycholl, Jörg Michael (1994): Zapper, Sticker und andere Medientypen. Eine marktpsychologische Studie zum selektiven TVVerhalten. Stuttgart. Ottler, Simon (1998): Zapping. Zum selektiven Umgang mit Fernsehwerbung und dessen Bedeutung für die Vermarktung von Fernsehwerbezeit. München. Rath, Claus-Dieter (1983): Fernseh-Realität im Alltag: Metamorphosen der Heimat. In: Harry Pross / Ders. (Hrsg.): Rituale der Medienkommunikation. Gänge durch den Medienalltag. Berlin, 133–143. Schmitz, Ulrich (1996): ZAP und Sinn. Fragmentarische Textkonstitution durch überfordernde Medienrezeption. In: Ernest W.B. Hess-Lüttich / Werner Holly / Ulrich Püschel (Hrsg.): Textstrukturen im Medienwandel. Frankfurt a.M. u.a., 11–29. Schwaab, Herbert (2012): „Ich weiß ja nicht, was ich suche“. Betrachtungen zu Flow, Segmentierung, liveness und Subjektivität des Fernsehens im Internet. In: montage/av. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 21/1, 115–132. Stauff, Markus (2005): Das neue Fernsehen. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien. Münster. Winkler, Hartmut (1991): Switching, Zapping. Ein Text zum Thema und ein parallellaufendes Unterhaltungsprogramm. Darmstadt. Wulff, Hans-Jürgen (1995): Rezeption im Warenhaus: Anmerkungen zur Rezeptionsästhetik des Umschaltens. In: Ästhetik und Kommunikation 26/88, 61– 66. Online verfügbar unter: www.derwulff.de/2-49. (28.05.2014).

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U NTERHALTUNG Will man Unterhaltung als theoretisches Konzept näher bestimmen, so hat man es im Blick auf die Forschung mit zahlreichen Unklarheiten bei der Sachverhaltsbestimmung und beim wissenschaftlichen Umgang mit dem Begriff zu tun. Insbesondere muss man bedenken, dass hier unter kommunikations- und produktionstheoretischen Prämissen von einem (fernseh-)medial vermittelten Kommunikat gesprochen wird, das als theoretische Größe nach seinen Merkmalen systematisch abstrahierbar sein muss. Diese Vorbemerkung ist nötig, weil man in bestimmten, stark auf Praktizismus reduzierten Fachpublikationen bisweilen die Auffassung findet, von solchen wissenschaftlichen Abstraktionen absehen zu können. In diesem Sinn heißt es 1972 in BERNWARD FRANKS Forschungsbericht zur Unterhaltung im Fernsehen: „Die landläufige Trennung der Funktion der Medien in Information, Unterhaltung und Bildung ist bloß künstlich und entspricht nicht der Realität dessen, was angeboten wird und – noch bedeutsamer – wie etwas rezipiert wird.“1 Und nach Meinung von CLAUDIA MAST ist eine auf solche Abstraktionen rückführbare Kategorie wie „Infotainment“ dementsprechend ein „sozialwissenschaftliches Unding“.2 Daraus zieht CLAUDIA WEGENER 2001 die Schlussfolgerung, „dass es sich bei den Begriffen Unterhaltung und Information“ nur „um eine scheinbare Dichotomie handelt“.3 Bei solchen Bemerkungen geht dann doch einiges durcheinander. Wenn man die medialen Tatsachen von Hybrid-, Mix- und Crossover-Phänomenen systematisieren will, so kann man dies sinnvollerweise und mit explikativer Kraft nur tun, wenn man implizit gleichzeitig auf bestimmte abstrakte Modelle ungemischter Phänomene rekurriert. Vor diesem Hintergrund muss man feststellen, dass die theoretische Kategorie ‚Unterhaltung‘ letztlich immer aus dem systematischen Gegensatz zu menschlichen Praktiken der ‚Nicht-Unterhaltung‘ heraus bestimmt wird (nicht nur kommunikativen), z.B. auch zu dem, was man in der Fernsehtheorie unter ‚Information‘ fasst. Nach Ansicht vieler Fachleute liegt in theoretischer Hinsicht offensichtlich keineswegs nur eine „scheinbare Dichotomie“ beider systematischer Ebenen vor. Die Forschungsliteratur definiert Unterhaltung sowohl über die Textur-/Produktions- als auch über die Rezipientenseite. Je nachdem, welche Perspektive vorliegt, finden sich unterschiedliche implizite Bewertungen des Unterhaltungsbegriffes. Der Begriff ‚Unterhaltung‘ sollte letztlich über die Wech-

1 2 3

Frank, zit. n. Mast (1989, 106). Mast (1991, 185). Wegener (2001, 88).

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selwirkung zwischen der Angebotsseite und dem Adressaten definiert werden, denn zwischen dem Zuschauer, der Unterhaltung erlebt, und der Angebotsseite des Fernsehens bestehen kontinuierliche Feedbackschleifen. Die schon lange bestehende Modellvorstellung zu den beiden oben genannten Gegensätzen hat RONALD UDEN einmal auf den Begriff der „Unterhaltung als Gegenwelt des Nutzens“ gebracht, wobei Unterhaltung als „der zweckfreie, dem alltäglichen Nutzen enthobene Teil des Lebens“ verstanden wird.4 Hierauf beruht dann auch NEIL POSTMANS provokative These zur amerikanischen Fernsehkultur aus dem Jahr 1985: „Wir amüsieren uns zu Tode“.5 Solche Überlegungen gehen auf teils psychoanalytisch getönte Gratifikationsprämissen zurück, nach denen das Fernsehen als eine Unterhaltungsmaschine aufgefasst wird, die das menschliche Streben nach libidinöser und emotionaler Erregung (excitement, affective relief) bei gleichzeitiger Vermeidung von Unlust (avoiding discomfort) bedient, einer Unlust, die viele Menschen in der existenzsichernden Pflichtenwelt erleben und mit Hilfe des Fernsehens abzubauen suchen.6 ANDREAS WITTWEN weist darauf hin, dass jede Art von → Emotionalisierung zum ‚Unterhalten-Sein‘ führen könne, was deutlich in Richtung individueller Erlebenswertigkeit zeigt: „Die Empfindung des Unterhalten-Seins bezeichnet also einen bestimmten psychischen Zustand des Menschen, der schwer fassbar ist, weil das Empfindungsspektrum von angenehm erlebten Gefühlen wie Freude, Verehrung, Rührung über ambivalente Stimmungen wie Verlegenheit oder Unruhe bis hin zu unangenehm erlebten Gefühlen wie Trauer, Angst oder Abscheu reicht. Wegen dieser Vielfältigkeit, und weil eine klare Methode fehlt, um Gefühlswerte zu ermitteln und voneinander abzugrenzen, tut sich die Wissenschaft mit einer genaueren Bestimmung des Unterhaltungsbegriffs schwer.“7 Auf der einen Seite wird argumentiert, dass die eigenen Identifikationsmöglichkeiten und die Relevanz für das eigene Leben einen großen Einfluss auf den Unterhaltungswert haben, auf der anderen Seite lassen sich unter dem Begriff ‚Eskapismus‘ Ansätze zusammenfassen, die einen hohen Unterhaltungswert mit Ablenkung vom Alltag und den Problemen des Adressaten in Verbindung bringen (→ Zerstreuung). All dies korreliert mit dem alltäglichen Sprachgebrauch, der Unterhaltung in Hinblick auf die Adressatenseite mit Hilfe begrifflicher Gegensatzpaare folgender Art zu fassen versucht:8

4 5 6 7 8

Uden (2000, 10). Postman (1992). Vgl. Zillman/Bryant (1994) und Früh (2003, 19–29). Wittwen (1995, 25f.). Vgl. dazu etwa Bosshart (2006, 17f.).

264 | A DRESSATENORIENTIERTE DIMENSION • • •

Handlung: Arbeiten vs. Spielen; Existenz sichern vs. Luxus ausleben; Produzieren vs. Pausieren; Erwerbstätigkeit vs. Genuss. Ereignisstatus: Ernst vs. Spaß; Heteronomie vs. Autonomie; Notwendiges vs. Überflüssiges; sozialer Nutzen vs. sozial Nutzloses. Erleben: Anspannung vs. Entspannung; Anstrengung vs. Leichtigkeit; Regelmäßigkeit vs. Abwechslung: Fremdbestimmtheit vs. Selbstbestimmtheit; Bedrücktheit vs. Freude; Mühe vs. Lust; gedehnt erlebte Zeit vs. kurz erlebte Zeit (Langeweile vs. Kurzweil); Zeit nutzen vs. Zeit vertreiben (Zeitvertreib).

Mit Bezug auf die Kommunikation: •



Produktionsseitige Handlungsregulative: Rationale Appelle vs. Emotionalisierung; rhetorische Kalküle vs. ästhetische Kalküle; Referentialität vs. Selbstreferentialität. Rezeptionsseitige Handlungsregulative: Rationale Selbstkontrolle vs. emotionales Laissez-faire; sich der Realität stellen vs. Eskapismus; beständige Ergebnisse erwirtschaften vs. flüchtiger psychischer Kick.

Solche aus der Alltagserfahrung stammenden Entgegensetzungen, die auf Seiten der Unterhaltung immer den Hedonismus akzentuieren, haben Eingang in die wissenschaftliche Hypothesenbildung zur Unterhaltung gefunden und sind letztlich Hintergrundbestandteil aller älteren und neueren unterhaltungstheoretischen Konzepte.9 Das betrifft JOHAN HUIZINGAS klassisch-kulturwissenschaftliches Homo ludens-Konzept ebenso wie die Vorstellungen der Fernsehunterhaltungsforschung jüngeren Datums, für die etwa PERCY H. TANNENBAUMS schon 1980 formulierte Entertainment-Formel stehen kann: „It serves its audience in various ways – by providing escapism, amusement, fantasy, and diversion – all of which has a common element of some sort of emotional arousal“.10 Tannenbaum hebt hier die Arten und Weisen emotionaler Erregung als Kern des Gratifikationsangebots der fernsehmedialen Unterhaltungsformate hervor. Damit schlägt er eine Brücke zum Thema Emotionalisierung durch Fernsehen, aber in einem ganz bestimmten Sinn auch zum Rhetorikansatz. Diesbezüglich ergeben sich hier gewisse Bedenken, die mit dem theoretischen Kapitel Fundamentalrhetorik zusammenhängen (also mit der Frage, ob bei der Unterhaltung überhaupt der rhetorische Kommunikationsfall vorliegt). In der modernen Rheto-

9 Vgl. etwa Früh (2002, 68–240) und Pekar (2009). 10 Tannenbaum (1980, 116); vgl. Huizinga (1994).

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riktheorie ist man aus systematischen Gründen dazu übergegangen, die ästhetisch, poetologisch und sonst wie künstlerischen Produktionskalküle theoretisch von den rhetorischen Strategien und Kalkülen (die immer auf bestimmte Überzeugungshandlungen hinauslaufen) kategorisch zu trennen. Man spricht dann gegebenenfalls noch vom rhetorischen Faktor in der Kunst bzw. umgekehrt vom ästhetischen Faktor im Fall rhetorischer Aktivitäten.11 So gesehen wäre die vom Spielansatz, von (vulgär-)ästhetischen Kalkülen und selbstreferentiellen Strukturen geprägte Fernsehunterhaltung, wenn man sie pauschal nimmt, kaum ein Gegenstand rhetorischer Überlegungen. Doch auch in diesem Fall kann man vom rhetorischen Faktor in einem ansonsten überwiegend arhetorisch geprägten, weitgehend von den genannten außerrhetorischen Kalkülen und Strukturansätzen regierten Feld sprechen. Der rhetorische Faktor betrifft im Zusammenhang mit dem Unterhaltungsfernsehen zwei Aspekte: 1. die Mediensignatur und damit die Existenzräson des Mediums Fernsehen und 2. bestimmte rhetorikrelevante Fernsehformate und Genres, die ihrerseits einen Unterhaltungsfaktor integrieren. Der rhetoriktheoretisch gesehen komplizierte Status der Unterhaltung erfordert zunächst noch ein paar weitere Überlegungen zum rhetorischen Ansatz. Beginnen wir mit den generellen Zuschreibungen ans Medium. In der Forschung hat man seit langem gesehen, dass das Unterhaltungskonzept nicht nur für einzelne → Formate zu bestimmen ist, sondern in seiner Eigenart und Akzeptanz auch für die beiden grundlegenden Erwartungsparadigmen der Kommunikation: Standardkommunikation oder Sonderkommunikation.12 Das heißt, dass Sender und Adressat kommunikativen Äußerungen, also dem Text, einen bestimmten kommunikativen Status zusprechen. Wir können hier entweder vom normalkommunikativen Standardstatus sprechen oder vom spezialisierten Lizenzstatus.13 Der Frame der Normalkommunikation ist mit lebensweltlichem Sanktionsernst versehen, unter Umständen auch mit Gefahren existenzieller, juristischer oder wirtschaftlicher Risiken. „Dieser lebensweltliche Kommunikationsernst ist in Fällen von Sonderkommunikation (mit entpragmatisierten Texturen in den Künsten, in Literatur, theatralischem Spiel, Karneval, Fest usw.) nicht gegeben.“14 Wie im

11 Knape (2008). 12 Zur Unterscheidung normal- oder standardkommunikativer Erwartungsframes von sonderkommunikativen siehe Knape (2008, 898–906); Bauer u.a. (2010, 9f.); Knape (2011, 10–12, 19–23); Knape (2013, 14–17). 13 Vgl. Knape (2013, 15). 14 Bauer u.a. (2010, 9).

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Fall der Kunst treten auch auf Unterhaltung hin kalkulierte Fernsehtexte aus dem standardkommunikativen Erwartungsrahmen heraus, und man ordnet sie gesellschaftlich-systemisch oder ereignis-punktuell einem exklusiven oder lizenzkommunikativen Frame zu, mit all seinen Faszinationen, aber eben auch all seinen Unverbindlichkeiten.15 Man kann demnach sagen, dass ästhetische und Entertainment-Kalküle (bei Produktion und Rezeption) durch einen besonderen Handlungs-, Erwartungs- und Deutungsframe reguliert werden.16 Im Sinne ERVING GOFFMANS dienen Framings dieser oder ähnlicher Art der Systematisierung und Orientierung in Produktions- und Verstehensprozessen.17 Die noch zu diskutierende globale Einschätzung des Mediums Fernsehen als Unterhaltungsmedium steht für solch ein Framing, das auf einer generalisierten Merkmalszuschreibung basiert. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk unterscheidet in seinem Sprachgebrauch schon lange idealtypisch zwischen dem Unterhaltungsbereich (U) und dem seriösen oder ernsten Bereich (E) bzw. zwischen Unterhaltung und Information etc. Damit werden zwei Bereiche definiert, die sich zunächst einmal gegenüberstehen, aber heute in der Praxis mit zahlreichen Produktions- und StrukturSchnittmengen leben.18 Insofern bröckelt diese Unterscheidung in der Praxis längst. Nach dieser idealtypischen Vorstellung wäre die Unterhaltung nur für einen Teil des Fernsehgeschehens reserviert. Noch im Jahr 1979 konnte man die beiden Formatbereiche des Fernsehens der Bundesrepublik ohne Weiteres entsprechend typologisieren. In einem damals veröffentlichten Überblickswerk zu den Fernsehsendungen und ihren Formen tauchen die folgenden Fernsehtextformate auf, die sich in zwei Gruppen einteilen lassen:19 • •

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U-Formate: Fernseh-Serial, Volkstheater, Kinofilme, Oper, Unterhaltungsprogramme, Sportsendungen. E-Formate: Dokumentarspiel, Fernsehnachrichten, politische Fernsehmagazine, Wirtschaftsmagazine, Wissenschaftssendungen, Ratgebersendungen, Kulturmagazine, Fernsehdiskussionen.

Knape (2008, 898–906); Knape (2012b, 22–24). Zur Frame-Theorie siehe Goffman (1974). Knape (2013, 5f. und 144). Was eine Information ist und ob diese Information im Sinne des öffentlichen Bildungsauftrages ist, findet sich in den Rundfunkverträgen. 19 Vgl. Kreuzer/Prümm (1979).

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Doch schon damals gab es eine ganze Reihe von Formaten oder Genres, die sich einer klaren E-U-Einordnung entzogen und in beiden Bereichen aktivierbar waren: Fernsehinterview, Talkshow, biografische Sendeformen, Features, Fernsehwerbung, Jugendsendungen, Kinderfernsehen, Literaturverfilmung. Inzwischen haben sich die Grenzen weiter verschoben, und die Unterhaltungsstrategie hat sich nach Ansicht vieler Fachleute als Generalregulativ des Mediums etabliert. Die U-Strategie reicht danach weit in die rein informationalen Formate hinein – wie aber auch umgekehrt vorwiegend ‚unterhaltende‘ Sendungen mit ‚informationalen‘ Strategien verknüpft werden (→ Infotainment). Viele Fernsehforscher sehen eine so große Dominanz des Unterhaltungsansatzes im Fernsehen, dass sie diesen zur eigentlichen Existenzraison des Mediums erklären. Der Zurückdrängung von Sendungsformaten, die intellektuelle Arbeit einfordern – und nicht nur ein gedankliches Dahingleiten – und im Ergebnis sozial besonders ‚nützlich‘ zu sein scheinen, sowie deren Hybridisierung (im Sinne einer generellen Neigung zur Unterhaltung) ist nach Ansicht von Kritikern dieser Entwicklung kaum und wenn, dann nur noch mit gesetzlichen Regelungen zum Bildungsauftrag beizukommen. Insofern hat Postmans Analyse von 1985 den kritischen Punkt der Fernsehentwicklung erkannt. 1988 schließt sich KNUT HICKETHIER dessen Analyse an. Unterhaltung sei inzwischen eine alltägliche Kommunikationsform, die jedoch nicht primär auf einen rationalen Zweck, sondern nur noch auf Zerstreuung gerichtet sei. Fernsehen habe somit eine generelle Unterhaltungsfunktion, die nicht an einzelne Programme gebunden sei.20 So gibt es für Hickethier allen individuellen und situativen Nutzungsvarianten des Fernsehens zum Trotz „dramaturgische Grundmuster der Unterhaltung, die sich dominant in den Programmformen der Fernsehunterhaltung feststellen lassen.“21 Das mediale „Grundmuster Unterhaltung“ scheint die basale Überlebensstrategie des Fernsehens im Wettbewerb der neueren Medien zu sein. Das schlägt sich in entsprechenden Forschungsaktivitäten, wie etwa denen von WERNER FRÜH nieder, der dem Fernsehen in seiner triadisch-dynamischen Unterhaltungstheorie die Rolle zuschreibt, Rezipienten Unterhaltungspotentiale anzubieten.22 Die Beurteilung bzw. die Schlussfolgerungen aus solchen Analysen gehen in zwei Richtungen. Einerseits lebt MAX HORKHEIMERS und THEODOR W. ADORNOS aus der Kapitalismuskritik erwachsene Kritik der westlichen Unterhaltungskultur als ‚Züchtung‘ des eindimensionalen Menschen fort. Sie findet ihre Bestätigung in der programmatischen Einstufung vieler Formate als reine Werbeflä-

20 Vgl. Hickethier (1988, 7). 21 Hickethier (1988, 8). 22 Vgl. Früh (2003, 28).

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chen bei den privaten Fernsehsendern.23 Indikator für ein entsprechendes Unbehagen sind die immer wieder aufflammenden Qualitäts- und Ethikdebatten zu bestimmten Unterhaltungsformaten des Fernsehens (z.B. Big Brother, → Reality TV). Insbesondere der im bloßen Vergnügen wurzelnde Verzicht auf kritischen Impetus bleibt hier ein Angriffsziel (Horkheimer/Adorno: „Vergnügtsein heißt Einverstandensein“).24 Im Ergebnis werden das fernsehmediale Unterhaltungsphänomen und der daran geknüpfte Unterhaltungsbegriff pejorisiert. Unterhaltung wird dabei häufig von vornherein mit den Attributen trivial und minderwertig belegt.25 Fernseh-‚Unterhaltung‘ steht daher bei kritischen Medienwissenschaftlern sowie Vertretern der Cultural Studies im Kreuzfeuer: „Wer mit Genuss fernsieht, ist der produktiven Gesellschaft ein Dorn im Auge, denn er hat die puritanische Angst vor der Zeitvergeudung abgestreift. Fernsehen dispensiert vom Handeln und erlöst von der Zeit.“26 Für andere Analytiker versperren kulturpessimistische Ansätze die Sicht auf Grundbedürfnisse des Rezipienten, weil sie televisuelle Kommunikation nur aus der Perspektive des Senders heraus bewerten, dem der passive Rezipient wehrlos ausgeliefert sei. Andererseits kann man den gesamten Unterhaltungskomplex auch neutral betrachten – und rhetorisch besehen ist dies sogar geboten. Man akzeptiert dann die generalisierte Unterhaltungsfunktion des Mediums und bringt mit dem Schlagwort ‚Medienakzeptanzkultur‘ zum Ausdruck, dass das entscheidende Kriterium für den Fernsehproduzenten der Unterhaltungswert ist. Medienakzeptanzkultur fragt somit auf Adressatenseite nach der generellen positiven Erwartung von Vergnügung und Affektation (kurz: Unterhaltungswert), dem auf der anderen Seite die negative Erwartung (nicht von Information, sondern) von Langeweile entgegensteht.27 Wenn wir dies nun in einem rhetorischen Zusammenhang sehen, dann hätte das Medium bzw. dann hätten die konkurrierenden Sender genau dieses bei ihren Überzeugungs- oder Erfolgskalkülen zu berücksichtigen. Im konkreten Fernseherleben verhindert der Unterhaltungsfaktor Langeweile oder Ermüdung als Auslöser für das Um- oder Abschalten des Zuschauers, was unter dem Einschaltquotendiktat des Fernsehsystems (→ Quote) für einen Sender überlebenswichtig sein kann. Den Rezipienten zu unterhalten, ist also nicht nur für den Orator einer entsprechenden Einzelsendung von Belang, sondern auch ein zentrales

23 24 25 26 27

Rieder (2000, 234–236 und 240f.). Horkheimer/Adorno (1969, 153); vgl. Bosshart (1979, 112). Vgl. zu diesem Phänomen auch Uden (2000, 14). Bolz (2003, 260). Vgl. Brosius (2003, 75); siehe auch Klaus (2002).

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Anliegen aus Sicht der im Mediensystem verankerten kollektiven, wettbewerbsorientierten Oratorinstanz, die hinter dem Medium Fernsehen steht. Freilich hat man bei der Reichweiten- und Einschaltquotenfrage inzwischen eine differenzierte Sicht gewonnen. Quoten sind ein Akzeptanz- und Zustimmungsindikator, aber sie sagen nicht unbedingt etwas über die Eigenart und die Qualität der Unterhaltung aus. Der Blick auf die Einschaltquoten allein genügt nicht, um Unterhaltungskriterien hinreichend bestimmen zu können. Ob es zu einer Kongruenz zwischen dem Unterhaltungsprogramm auf der Angebotsseite und dem tatsächlichen Gefühl des Rezipienten, sich zu unterhalten, kommt, hängt von verschiedenen Faktoren ab: Konsens besteht innerhalb der mehr oder weniger ausgearbeiteten Unterhaltungsdefinitionen jedoch darüber, dass Unterhaltung stets etwas mit der Auslösung von Emotionen zu tun hat. Allerdings können Programmangebote, die nicht speziell auf Unterhaltung vom Sender ausgerichtet sind, genauso Emotionen hervorrufen. Auch Nachrichtenmeldungen vermögen Empathie oder Gefühle wie Aggression oder Wut beim Rezipienten zu erzeugen. Der Unterschied liegt für Wittwen wie auch für Früh nicht nur in der Art der Emotion, sondern insbesondere in der für die oben begrifflich eingeführten sonderkommunikativen Vorgänge typischen Unverbindlichkeit, die reinen Unterhaltungsangeboten innewohnt. Bei beiden Autoren finden wir die Ausgangsthesen, dass Unterhaltung sowohl tendenziell positives Erleben als auch autoreflexiv und unverbindlich sei. Die Mood-Management-Theorie geht davon aus, dass Menschen in der Lage sind, die eigene Stimmung zu kontrollieren. Das Fernsehen wird dabei als ein hervorragendes Instrument zur Regulation angesehen.28 Ob es dem Sender gelingt, den Zuschauer zu binden, hängt also zunächst von den Erwartungen des Rezipienten in der konkreten Situation ab, aber auch von den prinzipiellen Erwartungen des Rezipienten an das Fernsehen allgemein und an einen Sender oder ein Programmangebot, zum Beispiel Nachrichten im Speziellen. Früh bezieht sich in seiner triadisch-dynamischen Unterhaltungstheorie auf den Usesand-Gratifications-Ansatz, auf dem auch die Mood-Management-Theorie aufbaut. Er geht dabei von rationalen Rezipienten aus, welche durch den Fernsehkonsum ihren Energieeinsatz und ihre Gefühle optimieren möchten. Emotionen, die durch Fernsehen ausgelöst werden, müssen jedoch keinesfalls prinzipiell zur Unterhaltung beitragen, so Früh. ‚Abwechslung‘, ‚Souveränität‘ und ‚Kontrolle‘ seien die notwendigen Bedingungen, damit alle Emotionen des Zuschauers als

28 Vgl. Brosius (2003, 83) unter Bezug auf Zillmann (1988).

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Unterhaltung und somit als positive Gefühle verarbeitet werden können.29 ‚Abwechslung‘ habe demnach wenig mit einem abwechslungsreichen Textangebot zu tun, sondern ist als kognitive Kategorie, die nur bedingt mit abwechslungsreicher Darstellung korreliert, zu verstehen. Unter ‚Souveränität‘ versteht Früh nicht nur die Macht des Rezipienten über die Fernbedienung, sondern primär dessen Möglichkeit, sich mit verschiedenen Fernsehrollen identifizieren zu können und zwischen verschiedenen emotionalen Aktivierungsstufen hin und her zu wechseln. Die Haltung des Rezipienten ist dabei passiv, da sich aus dem Fernsehkonsum weder notwendig eine Anschlusskommunikation noch anderweitige Konsequenzen für den Rezipienten ergeben. Beim Zuschauer, so Früh, stellt sich darüber hinaus ein Kompetenzgefühl ein, wenn er seine eigenen Gedanken und Gefühle steuern kann. ‚Kontrolle‘, die sowohl das passive Verständnis und die Bewertung der Umwelt wie auch die aktive Einflussnahme und Veränderung des Rezipienten umfasst, muss jedoch zunächst aufs Spiel gesetzt werden, um ein Kompetenzgefühl zu erreichen. Je höher das Risiko, desto größer das Kompetenzerleben. Das Risiko in der Realität, in einer unkontrollierten Situation die Kontrolle nicht wiederzugewinnen, ist beim Fernsehen jedoch nicht gegeben. So kann der Rezipient auf der einen Seite ein sehr hohes imaginäres Risiko eingehen und in virtuelle Situationen eintauchen (Immersion), die für ihn in der Realität zu riskant wären. Auf der anderen Seite bleibt der Unterhaltungswert potentiell hinter realen Kompetenztests zurück. Deshalb ist das Unterhaltungserleben dann am intensivsten, wenn das Gefühl der Involviertheit in das Fernsehgeschehen im Vordergrund steht und das Bewusstsein der Vermitteltheit und Inszenierung sehr stark in den Hintergrund rückt.30 Die entscheidende Kategorie der Unterhaltungsqualität des Fernsehens ist in der Theorie Frühs somit der „kontrollierte Kontrollverlust“: Wenn also der Rezipient das Gefühl hat, die Situation souverän kontrollieren zu können und wenn sowohl die Vorerwartungen und die Emotionen des Rezipienten, die er durch Fernsehen erreichen will, mit dem Programm und der Rezeptionssituation kompatibel sind, liegt Unterhaltung vor.31 Wenden wir uns nun den Fernsehtextformaten zu. Sie werden entweder selbst als reine Unterhaltungsformate gesehen, vom Unterhaltungsansatz teilweise durchmischt oder aber ganz oder weitgehend freigehalten. Unterhaltung als Textfaktor, der auch in seriösen Genres inseriert sein kann, ist der Rhetoriktheo-

29 Vgl. Früh (2003, 35); für den Journalismus auch den Aufsatz von Klaus (2002) mit dem bezeichnenden Titel Der Gegensatz von Information ist Desinformation, der Gegensatz von Unterhaltung ist Langeweile. 30 Vgl. Früh (2003, 34). 31 Vgl. Früh (2003, 50).

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rie nicht fremd. Sie ist vorderhand zwar eine Text-Produktionstheorie, bezieht dabei aber selbstverständlich das Wissen über Rezeptionsvorgänge immer in die Strategien und Kalküle ein. Die klassische Rhetoriktheorie unterscheidet den textlichen Informationsmodus (docere/informieren) vom Ästhetisierungsmodus (delectare/sinnlich affizieren) und diesen wiederum vom Emotionalisierungsmodus (movere/affektiv bewegen).32 Als Textphänomen müssten sich Unterhaltungsangebote auf den Ebenen des sinnlichen Genusses und der emotionalen Anrührung bewegen (→ Dramatisierung). Dies führt im Apperzeptionsakt zur rhetorisch relevanten Geneigtheit, zum Wohlwollen (benevolentia) und zur Aufnahmebereitschaft allen anderen Botschaften gegenüber.33 Diese aus praktischer Kommunikationserfahrung gewonnenen und nach wie vor gültigen Einsichten der klassischen Rhetorik korrelieren mit Einschätzungen, wie wir sie bei Wittwen finden: „Der Effekt des Unterhalten-Seins stellt sich offenbar dann ein, wenn beim Zuschauer Gefühle aktiviert werden, er sich emotional beteiligt. Der Effekt wird sicher begünstigt durch ein ‚Set bestimmter Textmerkmale‘ oder ‚Unterhaltungsfaktoren‘. Wir wollen hier von Unterhaltungselementen sprechen. Ob sich der Zuschauer unterhalten fühlt, hängt allerdings auch von einer Reihe schwer messbarer Faktoren ab, so etwa von der historischen Situation mit ihren spezifischen Unterhaltungskonventionen, der soziokulturellen Einbindung des Rezipienten in eine bestimmte Geschmackskultur und seiner Persönlichkeitsstruktur, d.h. seiner individuellen Disposition und seinen Bedürfnissen in der aktuellen Situation.“34 Der Unterhaltungsfaktor in Fernsehtexturen, wie in allen anderen Arten von Texturen auch, bezieht sich auf Appeal-Strukturen, die bei entsprechend eingestellten Adressaten Wohlgestimmtheitsreaktionen aufgrund von Involvement oder Aufbau positiver Stimmungswerte evozieren.35 Was dem Fernsehen an Appellmöglichkeiten zur Erregung entsprechender Sympathien gegenüber bestimmten Formaten oder Einzelsendungen zur Verfügung steht, legt die Fachliteratur ausführlich dar (musikalische und optische Stimuli auf der Oberfläche, dramaturgische und thematische Mittel in der Tiefenstruktur usw.; Dramatisierung, In-

32 Quintilian: Institutio oratoria 12,10,59; für ihn ist klar, dass sich die sachliche Gewissheit und die Sicherheit auf dem Gebiet des Informationellen bestens mit Hilfe von Einbettungen in Zustände ästhetischer Affiziertheit (in delectatione) und emotionaler Erregtheit (in commovendis adfectibus) erzeugen lassen (5,8,3). 33 Quintilian: Institutio oratoria 6,2,9. 34 Wittwen (1995, 24f.). 35 Zum Lustfaktor (hêdonê/voluptas) vgl. Lausberg (2008, § 257,2); dort auch unter Bezug auf Quintilian: Institutio oratoria 4,1,49.

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fotainment, → Personalisierung). Nach der Dispositionstheorie DOLF ZILLMANNS wird Unterhaltung vorrangig durch Empathie erzeugt. Das heißt, dass Fernsehen seine Zuschauer über die Identifikationsangebote mit Personae bzw. Fernsehrollen überzeugt (→ parasoziale Interaktion). Solche Identifikationsmechanismen laufen auch bei fiktionalen Formaten ab.36 Um wissenschaftlich zu bestimmen, was als fernsehspezifisches Merkmal zu gelten hat, das Unterhaltung evoziert, kommt man um Rezipientenstudien nicht herum, welche die Variationsmöglichkeiten (wie Rezeptionssituation, Vorerwartungen des Rezipienten, Person des Rezipienten und Programmangebot) in das Forschungsdesign mit einbeziehen. Bisher besagen die Studien häufig nur, dass Unterhaltungsempfinden personen- und kontextabhängig ist. Die Frage, die sich aus rhetorischer Sicht stellt, ist jedoch, welches Programm in welchem Kontext und bei welcher Person Unterhaltung erzeugt, um für künftige Produktionskalküle Vorgaben oder Anregungen zu haben. Bei Klärung dieser Problematik lohnt es sich vermutlich, einzelne Genres in Hinblick auf ihre Spezifika, ihre Adressatenkreise oder auch ihre typische Zeit im Programm zu analysieren. Die offenen Fragen, die sich aus dem Versuch ergeben, Fernsehunterhaltung näher zu spezifizieren, finden sich in zahlreichen weiteren Kategorien wie → Flow, → Ereignis, Normalität und Ausnahme, parasozialer Interaktion oder → Programmstruktur wieder. Wohlgestimmtheit und Angeregtheit sind in der Kommunikation erstrangige Tuningkomponenten,37 die den Nährboden für jede Art von Beeinflussung, insbesondere für erfolgreiche rhetorische Intervention abgeben. Das Erleben von Unterhaltung verhindert Aufmerksamkeitsverluste aller Art und erhöht die Akzeptanz von Botschaften als dem Kernanliegen der Rhetorik. Darum streben Fernsehmacher auch bei Informationsformaten nach dem Einsatz gewisser ‚spielerischer‘ oder stärker ästhetisch überformter Komponenten. Es macht insofern Sinn, am Begriffspaar ‚Information‘ und ‚Unterhaltung‘ festzuhalten, wenn man sie nicht als trennscharfe Kategorien, sondern als einander gegenüberstehende, abstrakte Pole auf einer Skala ansieht. Indem Sender, auch die des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Ressorts einrichten, die sich auf das Unterhaltungsangebot konzentrieren, zeigt sich, dass sich Sender auf dem Markt nur behaupten können, wenn sie in der Lage sind, ihre Rezipienten zu unterhalten. Die Programmforschung betrachtet die Unterhaltung demnach auch als Programmkategorie, der dann „spielorientierte Angebotsformen wie etwa Showformate, aber auch erlebnisorientierte fiktionale Angebotsformen wie Spielfil-

36 Zillmann/Bryant (1994). 37 Knape (2012a, 57).

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me“ zugeordnet werden. Diese Formate zeichnen sich oft durch ähnliche Strukturelemente aus, etwa die additive Reihung von Einzelelementen und das Prinzip des offenen Ausgangs, aber auch alle Spielarten der Dramatisierung.38 Was in der Rhetorik unter das Schlagwort des antizipatorischen Adressatenkalküls fällt, beschreibt HANS-BERND BROSIUS als „rückgekoppeltes Rezeptionsverhalten“.39 Sender modifizieren ihr Angebot aufgrund von Befragungen, Einschaltquoten und Rezipientenstudien mit dem Ziel, eine Kongruenz zwischen der Rezipientenwahrnehmung, was unterhaltsam ist, und dem Angebot des Senders, was einen Unterhaltungsanspruch erhebt, zu erreichen. Nach Brosius ergibt sich aus der Dualität zwischen dem Sender- und Rezipientenbegriff von Unterhaltung ein Spannungsverhältnis.40 Aus Sicht der Rhetorik stellt sich die Frage, wie man dieses Spannungsverhältnis auflösen kann, etwa wenn der Rezipient beim Einschalten des Fernsehers nicht das Ziel verfolgt, sich unterhalten zu lassen, sondern sich beispielsweise zu informieren, aber auf ein Angebot trifft, das unterhaltende Elemente dominieren. An dieser Stelle treffen wir wieder auf das Problem des Antagonismus von Information und Unterhaltung, dem die Fernsehmacher mit intelligenten Strategien und Fernsehtextkalkülen begegnen müssen. Literatur Bauer, Matthias u.a. (2010): Dimensionen der Ambiguität. In: LiLi. Zeitschrift für Literatur und Linguistik 40/158, 7–75. Bleicher, Joan (2006): Unterhaltung. In: Hans-Bredow-Institut für Medienforschung (Hrsg.): Medien von A bis Z. Wiesbaden, 354–356. Bolz, Norbert (2003): Gute Unterhaltung. In: Harald Hillgärtner / Thomas Küpper (Hrsg.): Medien und Ästhetik. Festschrift für Burkhardt Lindner. Bielefeld, 260–274. Bosshart, Louis (1979): Dynamik der Fernseh-Unterhaltung. Eine kommunikationswissenschaftliche Analyse und Synthese. Freiburg/Schweiz. Bosshart, Louis (2006): Theorien der Medienunterhaltung. Aus dem Nichts zur Fülle. In: Brigitte Frizzoni / Ingrid Tomkowiak (Hrsg.): Unterhaltung. Konzepte – Formen – Wirkungen. Zürich, 17–29. Brosius, Hans-Bernd (2003): Unterhaltung als isoliertes Medienverhalten? Psychologische und kommunikationswissenschaftliche Perspektiven. In: Werner

38 Vgl. Bleicher (2006, 354f.). 39 Brosius (2003, 76). 40 Brosius (2003, 77).

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Früh / Hans-Jörg Stiehler (Hrsg.): Theorie der Unterhaltung. Ein interdisziplinärer Diskurs. Köln, 74–88. Früh, Werner (2002): Theorie der Fernsehunterhaltung. Unterhaltung als Handlung, Rezeptionsprozess und emotionales Erleben. In: Ders.: Unterhaltung durch das Fernsehen. Eine molare Theorie. Konstanz, 67–240. Früh, Werner (2003): Triadisch-dynamische Unterhaltungstheorie (TDU). In: Werner Früh / Hans-Jörg Stiehler (Hrsg.): Theorie der Unterhaltung. Ein interdisziplinärer Diskurs. Köln, 27–56. Goffman, Erving (1974): Frame Analysis. An Essay on the Organization of Experience. New York u.a. Hickethier, Knut (1988): Unterhaltung ist Lebensmittel. Zu den Dramaturgien der Fernsehunterhaltung – und ihrer Kritik. In: TheaterZeitSchrift 26, 5–16. Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W. (1969): Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug. In: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a.M., 128–176. Huizinga, Johan (1994): Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Aus dem Niederländ. übertr. von H. Nachod. Mit einem Nachw. von Andreas Flitner. Bibliogr. erg. Neuausg. Hamburg. Klaus, Elisabeth (2002): Der Gegensatz von Information ist Desinformation, der Gegensatz von Unterhaltung ist Langeweile. In: Irene Neverla / Elke Grittmann / Monika Pater (Hrsg.): Grundlagentexte zur Journalistik. Konstanz, 619–640. Knape, Joachim (2008): Rhetorik der Künste. In: Ulla Fix / Andreas Gardt / Ders. (Hrsg.): Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. 1. Halbbd. Berlin, New York, 894–927. Knape, Joachim (2011): Zur Problematik literarischer Rhetorik am Beispiel Thomas Bernhards. In: Ders. / Olaf Kramer (Hrsg.): Rhetorik und Sprachkunst bei Thomas Bernhard. Würzburg, 5–24. Knape, Joachim (2012a): Was ist Rhetorik? Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart. Knape, Joachim (2012b): Das Kunstgespräch. In: Ders. (Hrsg.): Kunstgespräche. Zur diskursiven Konstitution von Kunst. Baden-Baden, 11–62. Knape, Joachim (2013): Modern Rhetoric in Culture, Arts, and Media. 13 Essays. Berlin, Boston. Kreuzer, Helmut / Prümm, Karl (Hrsg.) (1979): Fernsehsendungen und ihre Formen. Typologie, Geschichte und Kritik des Programms in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart. Lausberg, Heinrich (2008): Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. 4. Aufl. Stuttgart. Mast, Claudia (1989): Tagesschau oder Tagesshow? Zur Präsentation politischer Information in den Medien. In: Frank E. Böckelmann (Hrsg.): Medienmacht

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Z ERSTREUUNG ‚Zerstreuung‘, alternativ auch ‚Ablenkung‘ oder engl. ‚distraction‘, bezeichnet einen komplexen Zusammenhang zwischen einer fernsehspezifischen Angebotsstruktur, einer spezifischen Rezeptionssituation und den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen, der eine gewissermaßen unkonzentrierte, unaufmerksame und daher für unabgeschlossene Sinnzusammenhänge und abrupte Ebenenwechsel offene Rezeption begünstigt. So kann es unter Umständen zu einer Vermischung verschiedener Realitätsebenen kommen – etwa wenn die Zuschauer zwischen dem Hier und Jetzt ihrer Rezeptionssituation und dem Anderswo des im Fernsehen performierten Textes nicht unterscheiden können. Wichtig ist dabei, dass sich das Fernsehen damit in den individuellen Alltag integriert und von den Adressaten zum Teil auch ganz gezielt zu diesem Zweck genutzt wird. Aus rhetorischer Sicht ist die Zerstreuung zunächst ein Hindernis, weil Persuasionsoperationen eigentlich – so könnte man zumindest meinen – die volle Konzentration und Aufmerksamkeit der Adressaten erfordern. Vor dem Kontext etwas offener konzipierter Persuasionsmodelle wie etwa dem Elaboration-Likelihood-Modell1 lässt sich jedoch sagen, dass die Fernsehrezeption in der Regel offenbar eine ‚low-involvement‘-Situation ist, in der andere Formen der Aufmerksamkeitslenkung und Adressierung nötig sind. Auch das breite Rhetorik-Konzept der Identifikation von KENNETH BURKE kann auf solchermaßen ‚unklare‘ Rezeptionssituationen angewandt werden.2 Wird der Zuschauer etwa dahingehend ‚zerstreut‘, dass er nicht mehr unterscheidet, ob ihn eine tatsächliche Person oder eine Fernseh-Persona anspricht (→ parasoziale Interaktion), kann dies zu einer deutlichen Kräftigung der Oratorpräsenz im Fernsehen führen und die Wahrscheinlichkeit von Persuasion erhöhen. Die Diskussion um Zerstreuung kann also erklären, wie das Fernsehen über andernorts möglicherweise periphere, um in der Diktion des Elaboration-Likelihood-Modells zu bleiben, im Fernsehen jedoch zentrale Wege zu ganz zeitgemäßen Darstellungs- und Überzeugungstechniken kommen und damit eine starke meinungsbildende Kraft entwickeln kann. Der Begriff der Ablenkung taucht in den unterschiedlichsten Kontexten der Medien- und Fernsehforschung auf und ist somit nicht als distinktes Konzept abzuhandeln. Als Zerstreuung lässt er sich auf kulturkritische Überlegungen zurückführen, die weit vor dem Siegeszug des Fernsehens von WALTER BENJAMIN und SIEGFRIED KRACAUER etabliert wurden und in manchen fernsehwissenschaftli-

1 2

Vgl. Petty/Cacioppo (1986). Vgl. Burke (1955, 57f.).

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chen Zusammenhängen wieder wirkmächtig gemacht worden sind. Außerdem spielt die Ablenkung in Verbindung mit dem → Umschalten eine wichtige Rolle. In der rezeptionsorientierten Uses-and-Gratifications-Forschung schließlich wird die Ablenkung als eine mögliche Form der Gratifikation angesehen, also dessen, was die Zuschauer sich von der Fernsehnutzung erwarten oder erhoffen. Alle Ansätze haben gemein, dass sie das Phänomen der Ablenkung oder Zerstreuung (im Englischen vorwiegend als ‚distraction‘ bezeichnet) tatsächlich dem Medium Fernsehen und weniger konkreten Inhalten zuordnen – oft ist diese Überlegung jedoch nicht von allgemeineren sozio-kulturellen, z.T. auch ideologisch eingefärbten Diskussionen zu trennen. Kracauer äußert sich bereits im Jahr 1926 in seinem Artikel Kult der Zerstreuung am Beispiel des Dispositivs Kino zum Thema.3 Dabei geht es ihm um den in den zeitgenössischen Lichtspielhäusern gepflegten „Prunk der Oberfläche“ und die „wohlgeratene Großartigkeit“ der darin gezeigten Darbietungen,4 um ein Inszenierungsphänomen also, das direkt mit dem Dispositiv Kino und der modernen Großstadt zusammenhängt. Die Zerstreuung ist dabei keineswegs negativ besetzt, sondern nach Kracauer eine zwingende Reaktion auf die moderne Form der Arbeit im Industriebetrieb. Im ‚Zerstreuungsbetrieb‘ wird die Sinneswahrnehmung stimuliert, nicht aber zum Nachdenken animiert, und im Gegensatz zu den älteren Unterhaltungseinrichtungen auch keine „Innerlichkeit“ suggeriert.5 Wenn die Zerstreuung nicht nur um ihrer selbst willen angestrebt wird, hat sie nach Kracauer – dieser Gedanke taucht bei Benjamin wieder auf – eine erkenntnisfördernde Bedeutung: Sie stellt die moderne Welt in ihrer Fragmentiertheit und Unbeherrschbarkeit aus. Die modernen Großstadtkinos erfüllen nach Kracauer ihre politische Aufgabe nur dann, wenn sie „radikal auf eine Zerstreuung abzielen, die den Zerfall entblößt, nicht ihn verhüllt.“6 Die Zerstreuung gilt hier somit als ein auf die Wahrnehmung der Massen einwirkendes, zutiefst modernes und über politische Sprengkraft verfügendes Inszenierungsphänomen – etabliert am Beispiel des Kinos (nicht des Films!). Kracauers ‚Zerstreuung‘, verstanden als „cultural consumption that ‚makes sense‘ as a response to the tensions and unfulfilled needs created by a reasonless society“, findet direkt Eingang in die Fernsehforschung, etwa in einer Untersuchung des Fernsehsports

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Kracauer (1963); der Artikel erschien am 4. März 1926 in der Frankfurter Zeitung. Kracauer (1963, 311). Das erste Zitat ist im Original kursiviert. Vgl. Kracauer (1963, 313f.); „Die Erregungen der Sinne folgen sich in ihnen [den Lichtspielhäusern] so dicht, daß nicht das schmalste Nachdenken sich zwischen sie einzwängen kann.“ (314). Kracauer (1963, 317).

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durch AVA ROSE und JAMES FRIEDMAN.7 Sie transponieren ‚distraction‘ als eine nunmehr fernsehspezifische Wahrnehmungsform ins postindustrielle Zeitalter, halten aber an der These fest, Zerstreuung sei eine angemessene Reaktion auf die zeitgenössischen Arbeitsverhältnisse – nicht mehr wie bei Kracauer durch einen Kult der Oberfläche, sondern durch seine Präsenz und → Liveness, aber auch durch seine lockere Aufmerksamkeitserregung.8 An dieser Stelle kommt JONATHAN CRARY ins Spiel, der die Zerstreuung als Komplementärbegriff zur Aufmerksamkeit auffasst. Er sieht Zerstreuung (als Form der ‚Geistesabwesenheit‘ oder Dissoziationserfahrung) und Aufmerksamkeit jedoch in einem Kontinuum angesiedelt, auf das „dieselben Kräfte und Imperative“ einwirken.9 Auch für Benjamin, der sich mit der Zerstreuung vor allem im berühmten Kunstwerk-Aufsatz befasst,10 ist diese ein spezifisch modernes Phänomen.11 Während es Kracauer um einen Zusammenhang von Darbietung und Rezeption geht, interessiert sich Benjamin eher für die Zerstreuung als Form der Rezeption und Erfahrung, und zwar einer Erfahrung von Fragmentierung, Schock und Zersplitterung.12 Diese Erfahrung macht Benjamin ebenfalls am Film fest (dieser sei das „eigentliche Übungsinstrument“ für die Zerstreuung); sie gilt darüber hinaus aber auch für andere Formen der ‚Kunst‘ oder Medienkultur, wie man heute sagen würde. Das Gegenteil der Zerstreuung ist nach Benjamin die „Sammlung“ oder Kontemplation, verstanden als traditionelle Wahrnehmungsform von Kunst. Zerstreuung findet dagegen in der Masse statt und ist ein „Symptom tiefgreifender Veränderungen der Apperzeption“.13 Wer sich also auf Benjamins Konzept der Zerstreuung beruft, geht in der Regel davon aus, dass auch das Fernsehen eine tiefgreifende Veränderung der „bewussten Wahrnehmung der Welt“14 mit sich bringt, indem diese Welt nicht als Ganzes und mit voller Aufmerksamkeit, sondern fragmentiert, flüchtig, unscharf wahrgenommen wird. KLAUS KREIMEIER sieht den Kunstwerk-Aufsatz sogar dezidiert als einen fernsehtheoretischen

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Rose/Friedman (1994, 23). Vgl. Rose/Friedman (1994, 24). Crary (2002, 48). Benjamin (1974). Vgl. Kiefer (2006, 228). Hierzu erklärt Kreimeier (2005, 90) erhellend: „Es liegt auf der Hand, dass Benjamins Rezeptionstheorie nicht auf der Beobachtung realer Rezeptionsverhältnisses basiert, sondern aus dem technischen Produkt selbst, genauer: aus dem der Filmform immanenten ‚Konstruktivismus‘ abgeleitet ist.“ 13 Benjamin (1974, 504f.). 14 So die Benjamin’sche Definition von ‚Apperzeption‘ nach Kiefer (2006, 226).

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Vorgriff.15 Er beruft sich dabei u.a. auf KARL SIEREK, der die Zerstreuung im Nachhinein nicht mehr dem Kino, sondern dem Fernsehen zuordnet. Das Fernsehen, so Sierek, rege zu einer vereinzelnden wie zerstreuenden „Redeweise“ an.16 Kreimeier lenkt sein Augenmerk mehr auf das Fernsehen als ‚Übungsinstrument‘, wenn er schreibt: „Der zerstreute ‚Examinator‘ […] – wer sollte das sein, wenn nicht der postmoderne Medienkonsument, der vor dem Bildschirm seine Auswahl aus dem globalen Service an Bildern und Tönen je nach Stimmungslage, nach dem Gradmesser seiner jeweiligen Informations- und Unterhaltungsbedürfnisse trifft? Seine Maxime ist es, dem Unbehagen, der Eintönigkeit und der Überforderung aus dem Weg zu gehen, und die Fernbedienung dient ihm dabei als ‚taktiles‘ Instrument.“17 MARGARET MORSE bezieht sich in ihrem zum Themenkomplex der Ablenkung einschlägigen Aufsatz An Ontology of Everyday Distraction: The Freeway, the Mall, and Television von 1990 zwar auch auf Benjamin, merkwürdigerweise jedoch nicht auf den Begriff der Zerstreuung.18 Sie verwendet, wie JOHN CORNER treffend zusammengefasst hat, „‚distraction‘ as a key term, indicating by it a degree of boundary collapse, a temporary inability to differentiate between different levels of reality“.19 Bei der Morse’schen ‚distraction‘ geht es also um die temporäre Ununterscheidbarkeit von verschiedenen Realitäts-, Zeit- oder Raumwahrnehmungen, welche besonders Einrichtungen wie die Autobahn, die Shopping-Mall oder eben das Fernsehen begünstigen: „Television and its analogs, the freeway and the mall, are conceptualized as a nexus of interdependent two- and three-dimensional cultural forms which don’t so much look alike as observe similar principles of construction and operation. [They] are the locus of an attenuated fiction effect, that is, a partial loss of touch with the here and now, dubbed here as distraction.“20 In einem Fernseh-Werbespot wird beispielsweise der Kauf eines Produktes in einem Kaufhaus simuliert, gleichzeitig oder sich daran anschließend kann eine Stimme aus dem Off den Fernsehzuschauer direkt ansprechen, ihn zum Produkterwerb auffordern oder ihm den Kauf empfehlen. Ein eingeblendeter Schrifttext unterstreicht die Qualität des Produktes durch das Heranziehen eines Expertenurteils. Der Modus des Rezipienten, in dem dieser Austausch möglich wird, ist der Zustand der Ablenkung (‚distraction‘). Morse

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Vgl. Kreimeier (2005, 94). Vgl. Sierek (1993, 75). Kreimeier (2005, 94). Morse (1990). Corner (1999, 184, Anm. 3). Morse (1990, 193).

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stellt jedoch keine explizite und explikative Definition auf, sondern gibt nur eine Charakterisierung des Begriffs als zwei Ebenen von Sprache, die gleichzeitig oder abfolgend dargestellt werden: die Ebene des Subjekts im Hier und Jetzt („discourse“) sowie die Ebene einer abwesenden bzw. nichtexistenten Person („story“).21 Dies spielt sich besonders in der vom Fernsehen maßgeblich geprägten Welt des Alltags ab (→ Alltäglichkeit), die auf diese Weise sowohl auf die Wahrnehmung von Raum und Zeit wie auf die psychische Erfahrung und damit auch auf die Unterscheidung verschiedener Realitätswahrnehmungen Einfluss nimmt. Die Erfahrung, nicht dort gewesen zu sein, wird auch von DANIEL DAYAN und ELIHU KATZ als ein zentrales Spezifikum des Fernsehereignisses bezeichnet, das sich nun mit Morse genauer fassen lässt (→ Ereignis, Normalität und Ausnahme).22 Während Morse das Ablenkungs-Konzept stark auflädt und in ihrem Aufsatz wenig auf dezidierte Spezifika des Fernsehens eingeht, thematisiert LORENZ ENGELL in seinem fernsehtheoretischen Entwurf einen wichtigen Aspekt von Zerstreuung, nämlich Langeweile. Auf die Zerstreuung geht er nur sehr kursorisch ein, dennoch ist sein Konzept mit den hier verhandelten Ansätzen verwandt. Im Gegensatz zu Theorien, die Fernsehen als Unterhaltungs- oder Informationsmedium begreifen (→ Infotainment, → Unterhaltung), geht es Engell nicht um die Frage, welchen Sinn Fernsehen erzeugt, sondern welche Zeiterfahrung beim Fernsehen vorherrschend ist. Die fernsehspezifische Form von Zeiterfahrung ist für ihn die Langeweile, und ähnlich wie bei Morse charakterisiert sie ein „Verschwimmen von Zeithorizonten“. Auch kann die Schwelle „zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Welt und Bewusstsein abgesenkt und tendenziell aufgehoben“ werden.23 Langeweile und Zerstreuung erscheinen so als äußerst ähnliche Konzepte, die sich einer rhetorischen Sichtweise jedoch eher verweigern. HARTMUT WINKLER bietet hingegen eine Diskussion des Zerstreuungs-Phänomens an, die für rhetorische Anschlussüberlegungen fruchtbar ist. Innerhalb seiner Monographie Switching/Zapping kommt er auch auf die Zerstreuung zu sprechen, wobei er zur Forschung erst generell treffend bemerkt, „daß der Zerstreuungsvorwurf im Verlauf der Debatte mehrfach nicht nur seinen Gegenstand, sondern auch dessen jeweiligen Bezugspunkt gewechselt hat: Verglich man in den zehner und zwanziger Jahren die Hast und die Oberflächlichkeit des Kinos mit der Ruhe und ‚Tiefe‘ der bildenden Kunst, war es mit Aufkommen des Fernsehens plötzlich das Kino, das für die konzentrierte, geduldige und kulturell

21 Vgl. Morse (1990, 193f.). 22 Dayan/Katz (2002 [1987], 449–452). 23 Vgl. Engell (2012, bes. 186–192) und Engell (1989).

ZERSTREUUNG

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wertvolle Rezeptionsweise stand. Vom Switching aus müßte man nun, folgte man diesem Muster, die Positionen ein weiteres Mal wechseln – ein Mechanismus, der den Zerstreuungsvorwurf als Ganzen in die Nähe der Beliebigkeit rückt und die versprengten Gegenargumente im Nachherein aufwertet.“24 Winkler bringt nun zunächst einmal Licht ins Dunkel, indem er drei Bedeutungsfacetten von Zerstreuung unterscheidet. Zum einen verstehe die Alltagssprache unter ‚Zerstreuung‘ Ablenkung, Entspannung und Erholung, was er unter anderem auch mit einem kurzen Verweis auf LOUIS BOSSHART illustriert, der in Zusammenhang mit der Fernsehunterhaltung von der Zerstreuung als Regeneration spricht. In Abgrenzung zur Eskapismus-These, auf die noch zurückgekommen wird, meint Bosshart: „Zerstreuung, Ausspannen oder Ablenkung scheinen jenen Sachverhalt besser zu bezeichnen, wo Rezipienten zeitweilig von ihrer Umwelt, deren Lebensbedingungen und von sich selber lösen, um einer Beschäftigung nachzugehen, die geistige und körperliche Kräfte ganz absorbiert, um sie hernach regeneriert zu entlassen.“25 Diese Bedeutung wird auch in der Uses-and-Gratifications-Perspektive wichtig. Zum zweiten werde Zerstreuung oft als „Gegenbegriff der Kontemplation“ verstanden, also als ein Mangel an Ruhe, Konzentration und Versenkung, der sich auf die Haltung des Rezipienten bezieht. Zum dritten könne die Zerstreuung auch die Struktur des Angebots selbst betreffen, dann bezeichnet sie einen mangelnden inneren Zusammenhang.26 Außerdem sei die Zerstreuung, so Winkler, immer mit Vorwürfen konfrontiert, und zwar mit dem Vorwurf der Oberflächlichkeit, dem Vorwurf der Passivität und dem Vorwurf der übermäßigen Stimulierung der Nerven.27 In allen Fällen wird deutlich, dass sich das Phänomen der Zerstreuung auf der Ebene der Vertextung, aber auch auf der Ebene der Rezeption ansiedeln lässt, dass es bei vielen Überlegungen einen Zusammenhang zwischen beiden gibt und dass es darüber hinaus auch um das Verhältnis des Vertextungs-Rezeptions-Komplexes zur sozialen Realität geht. Diese Relativität des Begriffs erklärt auch seine in vielen Fällen vorliegende semantische Vagheit. Die Fernsehspezifik der Zerstreuung sieht Winkler im Phänomen des Switchens, das auf einen Mangel an Konzentration und Aufmerksamkeit auf der Seite des Rezipienten hindeutet und damit zeigt, wie Fernsehen auf die Apperzeption einwirkt. Dies geschieht jedoch keineswegs im Kollektiv, kann aber eine ähnliche emanzipatorische Bedeutung entfalten wie bei Kracauer oder Benjamin. Winkler stellt zudem klar, dass der

24 25 26 27

Winkler (1991, 44f.). Bosshart (1979, 120). Winkler (1991, 41f.). Vgl. Winkler (1991, 43f.).

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Gegenpol der konzentrierten Fernsehrezeption in keiner Weise ein „als fix vorausgesetzter Referenzpunkt“ sei, sondern stetigen Veränderungen unterliege.28 Vom Zerstreuungsdiskurs eigentlich losgelöst, implizit aber dennoch auf ihn aufbauend, findet sich das Thema der Ablenkung schließlich im Kontext der Fernsehwirkungsforschung wieder, und zwar in der Uses-and-Gratifications-Perspektive, die eigentlich den Blick vom Medium weg und hin auf den Rezipienten oder vielmehr Nutzer richtet und danach fragt, welche Gratifikation sich die Zuschauer von ihrem Fernsehkonsum erwarten.29 Eine wichtige Gratifikation in diesem Zusammenhang stellt die Ablenkung dar – so gaben etwa im Jahr 2005 60 Prozent der Befragten neben einigen anderen Begründungen an, fernzusehen, „weil ich damit den Alltag vergessen möchte“.30 Die Ablenkung wird besonders unter dem Stichwort ‚Eskapismus‘ diskutiert, das ELIHU KATZ und DAVID FOULKES in die Wirkungsforschung eingebracht haben. Sie argumentieren gegen eine zum Teil auch künstlich aufgebauschte Gegenposition, die angeblich von einer starken, gar ‚narkotisierenden‘ Wirkung der Medien ausgehe,31 dass Eskapismus eine differenzierte, von vielen verschiedenen Variablen abhängige Nutzungsstrategie ist. Außerdem zweifeln sie daran, dass „‚escapist‘ drives or ‚escapist‘ content or ‚escapist‘ patterns of involvement with the media are invariably dysfunctional for the individual and society”.32 Im Gegenteil, eine eskapistische Mediennutzung könne die Nutzer auch dazu bringen, sich mit sich selbst oder der Gesellschaft besser zu identifizieren. Die Ablenkung lässt sich somit auf einer gesellschaftlichen (Stichwort ‚Entfremdung‘), auf einer interpersonalen oder auf einer psychologischen Ebene lesen, was wiederum mit den bereits vorgestellten Betrachtungsweisen korrespondiert. So unterschiedlich die einzelnen Ansätze zu ‚Ablenkung‘, ‚Zerstreuung‘, ‚distraction‘ oder zum ‚Eskapismus‘ auch sein mögen, weisen sie doch aus medienrhetorischer Perspektive auf einen äußerst wichtigen Umstand hin: nämlich dass das Fernsehen offensichtlich einen unaufmerksamen, unkonzentrierten, ja, nicht auf einen einheitlichen Gesamt-Sinn und Gesamt-Zusammenhang zielenden Rezeptionsmodus begünstigt und dass dieser Rezeptionsmodus unmittelbar mit gesellschaftlichen Verhältnissen zusammenhängt. Die → Audiovisualität

28 Winkler (1991, 52f.); vgl. auch Engell (2012, 129). 29 Für einen Überblick vgl. Rubin (2002). 30 So die ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation aus dem Jahr 2005, zit. n. Schenk (2007, 718). 31 Eine Überlegung, die sich dann auch in der Medientheorie McLuhans wiederfindet, vgl. McLuhan (1968, bes. 50–58). 32 Katz/Foulkes (1962, 387).

ZERSTREUUNG

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des Fernsehens, seine Fähigkeit zur Liveness sowie u.a. seine Programmorganisation im → Flow erlauben es, vielfältige Zeit-, Raum- und Realitätsbezüge anzubieten und zwischen diesen permanent zu wechseln. Der Zuschauer reagiert darauf – völlig angemessen – mit einer Wahrnehmungsform, die offen ist für diese Wechselhaftigkeit und Unabgeschlossenheit, was auch zu Unschärfen oder verschwimmenden Grenzen führt. Wer im Fernsehen also erfolgreich kommunizieren will, muss diese mentale Verfassung in seine Persuasionsstrategie einkalkulieren – wohl wissend, dass ein konzentrierter und kontemplativer Rezeptionsmodus einer erfolgreichen Überzeugung möglicherweise dienlicher wäre. Das Fernsehen bietet sich also für Persuasionsoperationen an, bei denen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion oder auch zwischen der Rezeptionssituation und den im Text dargestellten Situationen (die sogenannte Transparenzillusion) durchaus verschwimmen dürfen und die aus diesen Unschärfen und Verunsicherungen ein entscheidendes Potential ziehen können: zeitgemäß und absolut medienadäquat zu sein. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich besonders mit dem Wandel der Programm- und Angebotsstruktur des Fernsehens auch eine Veränderung des Phänomens der ‚Ablenkung‘ oder ‚Zerstreuung‘ ergibt. Ob dies jedoch zu einem verstärkten Sinnzerfall, zu einer noch komplexeren Überlagerung verschiedener Ebenen – oder zu zunehmender Konzentration und Aufmerksamkeit führen wird, lässt sich im vorliegenden Rahmen nicht klären. Literatur Benjamin, Walter (1974): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Zweite Fassung [1936]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M., 471–508. Bosshart, Louis (1979): Dynamik der Fernsehunterhaltung. Eine kommunikationswissenschaftliche Analyse und Synthese. Freiburg/Schweiz. Burke, Kenneth (1955): A Rhetoric of Motives. New York. Corner, John (1999): Documentary. The Transformation of a Social Aesthetic. In: Jostein Gripsrud (Hrsg.): Television and Common Knowledge. London, 173–184. Crary, Jonathan (2002): Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Aus dem Amerikan. von Heinz Jatho. Frankfurt a.M. Dayan, Daniel / Katz, Elihu (2002): Medienereignisse [1987]. In: Ralf Adelmann u.a. (Hrsg.): Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse. Konstanz, 413–453.

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Engell, Lorenz (1989): Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens. Frankfurt a.M. Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung. Hamburg. Katz, Elihu / Foulkes, David (1962): On the Use of the Mass Media as „Escape“: Clarification of a Concept. In: Public Opinion Quarterly 26/3, 377–388. Kiefer, Bernd (2006): Aufmerksamkeit und Zerstreuung der Wahrnehmung. Mit/nach Walter Benjamin. In: Thomas Koebner / Thomas Meder (Hrsg.): Bildtheorie und Film. München, 221–238. Kracauer, Siegfried (1963): Kult der Zerstreuung [1926]. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt a.M., 311–317. Kreimeier, Klaus (2005): Benjamin und die Medien. In: Christian Schulte (Hrsg.): Walter Benjamins Medientheorie. Konstanz, 87–97. McLuhan, Marshall (1968): Die magischen Kanäle. Understanding Media. Übers. von Meinrad Amann. Düsseldorf, Wien. Morse, Margaret (1990): An Ontology of Everyday Distraction: The Freeway, the Mall, and Television. In: Patricia Mellencamp (Hrsg.): Logics of Television. Essays in Cultural Criticism. Bloomington u.a., 193–221. Petty, Richard E. / Cacioppo, John T. (1986): Communication and Persuasion. Central and Peripheral Routes to Attitude Change. New York u.a. Rose, Ava / Friedman, James (1994): Television Sport as Mas(s)culine Cult of Distraction. In: Screen 35/1, 22–35. Rubin, Alan M. (2002): The Uses-and-Gratifications Perspective of Media Effects. In: Bryant, Jennings / Zillmann, Dolf (Hrsg.): Media Effects: Advances in Theory and Research. 2. Aufl. Mahwah, 525–548. Schenk, Michael (2007): Medienwirkungsforschung. 3., vollst. bearb. Aufl. Tübingen. Sierek, Karl (1993): Aus der Bildhaft. Filmanalyse als Kinoästhetik. Wien. Winkler, Hartmut (1991): Zerstreuung. Eine Merkwürdigkeit. In: Ders.: Switching, zapping. Ein Text zum Thema und ein parallellaufendes Unterhaltungsprogramm. Darmstadt, 33–53.

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