Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft: Beiträge auf der 12. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2010 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428536719, 9783428136711

Das Vertrauen in Demokratie und Marktwirtschaft sinkt. Dazu gibt es gerade in jüngerer Zeit Anlass genug. Ein Beispiel i

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Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft: Beiträge auf der 12. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2010 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428536719, 9783428136711

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 211

Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft Beiträge auf der 12. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2010 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Hans Herbert von Arnim

Duncker & Humblot · Berlin

HANS HERBERT VON ARNIM (Hrsg.)

Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 211

Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft Beiträge auf der 12. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2010 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von Hans Herbert von Arnim

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 978-3-428-13671-1 (Print) ISBN 978-3-428-53671-9 (E-Book) ISBN 978-3-428-83671-0 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Das Vertrauen in Demokratie und Marktwirtschaft sinkt. Dazu gibt es gerade in jüngerer Zeit Anlass genug. Das süße Gift der Staatsverschuldung droht nicht nur die Zukunft zu verspielen, sondern auch die Gegenwart. Die Politik scheint vielfach nur noch im Kielwasser der Großwirtschaft zu segeln, die sich auf Kosten anonymer Massen saniert. Gerechtigkeit und Ethik bleiben leicht auf der Strecke. Dahinter stehen nicht selten auch systemische Defizite. Diesem Thema war die 12. Speyerer Demokratietagung gewidmet. Die neun, zum Teil erheblich überarbeiteten Referate sind in diesem Buch abgedruckt. Herrn Diplomvolkswirt Andrei Kirly danke ich für die redaktionelle Betreuung des Buches. Speyer, im Juni 2011

Hans Herbert von Arnim

Inhaltsverzeichnis Staatsverschuldung: Sind Stabilitätspakt und Schuldenbremse nur noch Makulatur? Von Joachim Wieland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Entscheidungen der Politik in eigener Sache: eine Form der Korruption? Von Hans Herbert von Arnim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wahlen allein genügen nicht. Zur Notwendigkeit und Ausgestaltung direkter Demokratie auf Bundesebene Von Hermann K. Heußner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Amfortas-Syndrom der Politikverdrossenheit, oder: Mißtrauen in der Demokratie und Vertrauen in die Demokratie Von Karsten Fischer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hat Marx doch Recht? Die Instrumentalisierung der Politik durch die Wirtschaft Von Sahra Wagenknecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus … Von Heinz-Günther Borck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zum Zustand unserer Nation Von Arnulf Baring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Aushöhlung der Demokratie durch Europäische Union und Währungsunion Von Karl Albrecht Schachtschneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Volksparteien ohne Volk? Ursachen und Konsequenzen Von Gerd Langguth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Staatsverschuldung: Sind Stabilitätspakt und Schuldenbremse nur noch Makulatur? Von Joachim Wieland Die Staatsverschuldung ist in Deutschland auf 1,72 Billionen Euro gestiegen. 12 % des Ausgabenvolumens des Bundeshaushalts werden für den Schuldendienst verwendet. Das strukturelle Defizit des Bundeshaushalts, das also unabhängig von der Konjunkturentwicklung besteht, beträgt 2010 zwischen 50 und 55 Milliarden Euro. Angesichts dieser Zahlen ist die Frage, ob Stabilitätspakt und Schuldenbremse nur noch Makulatur sind, mehr als berechtigt. Ich werde mich in 7 Schritten um eine Antwort bemühen. Zunächst nehme ich das Problem der Staatsverschuldung näher in den Blick. Dann widme ich mich dem Stabilitätspakt und der Schuldenbremse. Daran schließt sich die Frage an, ob es sich bei den einschlägigen Vorschriften des Europarechts und des deutschen Verfassungsrechts nur um law in the books im Sinne der Rechtssoziologie handelt, um Recht, das zwar im Gesetzbuch steht, in der Lebenswirklichkeit aber keine steuernde Kraft zu entfalten vermag. Danach wende ich mich möglichen Lösungsansätzen zu. Dazu gehört nach meiner Auffassung notwendig die Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Abschließend fasse ich mein Ergebnis kurz zusammen. I. Problemaufriss Deutschlands Schuldenstand betrug schon 2006 67,6 % des Bruttoinlandsprodukts. Mitte dieses Jahres war der Schuldenstand auf 76,7 % gestiegen. Am heutigen Tag ist er höher als 80 %. Die Schuldenquote, das heißt das jährliche Defizit, beläuft sich in diesem Jahr auf 4 % des Bruttoinlandsprodukts. Die wesentliche Ursache für den steilen Anstieg der Staatsverschuldung bildet in der jüngsten Vergangenheit die Finanzkrise. Ich rufe noch einmal in Erinnerung: Das Finanzmarktstabilisierungsgesetz hat 2008 eine Garantieübernahme in Höhe von 400 Milliarden Euro für Refinanzierungsinstrumente vorgesehen. Da selbst größte Optimisten nicht davon ausgehen konnten, dass diese Garantien des Bundes für Verpflichtungen der Finanzinstitute überhaupt nicht zu Zahlungen führen würden, hat man eine haushaltsrechtliche Vorsorge in Höhe von 5 % getroffen, das sind 20 Milliarden Euro. 80 Milliarden Euro an Steuermitteln wurden für die Rekapitalisierung von Banken und die Übernahme von deren Risiken durch den Erwerb problematischer Aktiva – also vor allem neuartiger Finanzierungsinstrumente – vorgesehen. Im gleichen Jahr 2008 hat sich der Staat mit 8,2 Milliarden Euro an der Commerzbank beteiligt und eine Garantie für deren Schuldverschreibungen in Höhe von 15 Milliarden Euro gegeben. 2009 folgte eine

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weitere stille Einlage in Höhe von 8,2 Milliarden Euro, begleitet von dem Erwerb von 295 Millionen neuen Inhaberaktien. Damit ist der Bund zum größten Aktionär der Commerzbank geworden. Sie kann mit Fug und Recht als Staatsbank bezeichnet werden. Die Hypo Real Estate (HRE) war 2009 praktisch insolvent. Der Bund gab ihr eine Garantie über 52 Milliarden Euro. Außerdem erwarb er alle Anteile der Bank für mehrere Milliarden Euro. Der Preis von 1,30 Eure pro Aktie war für ein insolventes Finanzunternehmen bemerkenswert, führte aber dennoch zu Klagen von Altaktionären, insbesondere eines großen Hedgefonds, der sich enteignet fühlte. Er hätte gern die Früchte der vom Staat finanzierten Rettung der HRE mitgeerntet. Daneben erscheinen die 3 Milliarden Euro Eigenkapital für die Westdeutsche Landesbank, die aus Steuermitteln finanziert wurden, fast vernachlässigenswert. Zu erwähnen sind weiter zwei Konjunkturpakete zu je 50 Milliarden Euro. Auf Einzelheiten kann ich hier aus Zeitgründen nicht näher eingehen. Ich wende mich dem Rettungsschirm für den Euro zu, der im Mai dieses Jahres aufgespannt wurde. Die Staaten der Eurogruppe haben in Luxemburg die Zweckgesellschaft „European Financial Stability Societ¤ Anonyme“ gegründet. Sie darf Kredite in Höhe bis zu 440 Milliarden Euro aufnehmen. Bemerkenswert ist sowohl, dass die Eurostaaten ausgerechnet das Instrument einer Zweckgesellschaft gewählt haben. Zweckgesellschaften wurden von den Banken vor der Krise genutzt, um Risiken aus ihren Bilanzen auszulagern und sie damit der Finanzaufsicht zu entziehen. Diese wusste zwar von diesen Risiken, griff aber nicht ein, weil sie sich für die Zweckgesellschaften nicht zuständig fühlte. Die in Luxemburg gegründete Zweckgesellschaft lagert keine Bilanzrisiken im engeren Sinne aus, sondern dient der Umgehung des Verbots der Kreditaufnahme, von dessen Geltung für die Europäische Union bisher jedermann ausgegangen war. Die Kosten der Griechenland-Hilfe belaufen sich für Deutschland vermutlich auf knapp 150 Milliarden Euro. Im September dieses Jahres hat dann allein die Gründung der sogenannten Bad Bank der Hypo Real Estate die Staatsverschuldung um 191,1 Milliarden Euro erhöht. Das gilt jedenfalls nach den Regeln der europäischen Statistikbehörde Eurostat. Die zweifelhaften Finanzinstrumente der HRE sind mit der Bad Bank von der Gesellschaft auf den Bund verlagert worden und belasten dessen Haushalt, auch wenn noch nicht klar ist, wie viel Geld die Bad Bank für die ihr übertragenen schlechten Risiken letztlich erzielen wird. Deutschlands Schuldenstand ist jedenfalls um 8 Prozentpunkte gestiegen. Insgesamt ist festzuhalten, dass die finanziellen Belastungen des Bundes aus den von ihm übernommenen Garantien noch nicht zu übersehen ist.

II. Stabilitätspakt Lassen Sie uns nun einen Blick auf den Stabilitätspakt werfen. Art. 126 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union stellt kurz und knapp fest, dass die Mitgliedstaaten übermäßige öffentliche Defizite vermeiden sollen. Mäßige öf-

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fentliche Defizite sind also erlaubt. Wo ist aber der Unterschied zwischen einem mäßigen und einem übermäßigen öffentlichen Defizit? Das Recht der Europäischen Union versucht diese Grenze mit zwei Kriterien zu ziehen: Sie beziehen sich auf das Verhältnis des öffentlichen Defizits zum Bruttoinlandsprodukt und auf das Verhältnis des öffentlichen Schuldenstands zum Bruttoinlandsprodukt. Es gibt allerdings jeweils Ausnahmen. Ein Defizit, das höher ist als der jeweilige Referenzwert, ist dann zulässig, wenn der Referenzwert nur ausnahmsweise und vorübergehend überschritten wird, das Defizit aber in der Nähe des Referenzwertes bleibt. Der Schuldenstand darf höher sein als der Referenzwert, wenn sein Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt hinreichend rückläufig ist und sich dem Referenzwert nähert. Die Referenzwerte finden sich in dem Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit. Nach dem Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt darf der öffentliche Schuldenstand den Referenzwert von 60 % des Bruttoinlandsprodukts nicht überschneiden. Ich erinnere noch einmal an den deutschen Wert, der gegenwärtig höher liegt als 80 % des Bruttoinlandsprodukts. Beim jährlichen Defizit beträgt der europarechtlich vorgegebene Referenzwert 3 % des Bruttoinlandsprodukts. In Deutschland beläuft sich das öffentliche Defizit in diesem Jahr ungefähr auf 4 % des Bruttoinlandsprodukts, es soll im nächsten Jahr auf 3 % sinken. Aufschlussreich ist insoweit ein Blick auf die Höhe der öffentlichen Defizite in der Europäischen Union im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt. Ich nenne hier einige ausgewählte Mitgliedstaaten: Irland 14,4 %, Großbritannien 11,4 %, Spanien 11,1 %, Lettland 10,2 %, Portugal 9,3 %, Litauen 9,2 %, Rumänien 8,6 %, Slowakei 7,9 %, Frankreich 7,5 % und Polen 7,2 %, Der Referenzwert von 3 % wird von diesen Staaten also weit überschritten. Dem gegenüber wies Estland 2009 nur ein öffentliches Defizit von 1,7 % aus. Bei Schweden betrug der Betrag sogar nur 0,9 % und bei Luxemburg 0,7 %. Amtliche Zahlen für Griechenland hat Eurostat noch nicht veröffentlicht. Die griechischen Angaben werden gegenwärtig überprüft und werden erst im nächsten Monat veröffentlicht. Für das laufende Jahr schätzt die EU-Kommission das öffentliche Defizit wie folgt: Irland größer als 11 %, Spanien größer als 9 %, Griechenland größer als 9 %, Portugal größer als 8 %, Frankreich ungefähr 8 %, Zypern größer als 7 %, Niederlande größer als 6 %, Slowenien ungefähr 6 %, die Slowakei ebenfalls so ungefähr 6 %, Italien größer als 5 %, Belgien ungefähr 5 %, Österreich größer als 4 %, Malta größer als 4 %, Finnland größer als 3 % und Luxemburg ebenfalls größer als 3 %. Das öffentliche Defizit ist also tendenziell rückläufig, absolut aber immer noch sehr hoch. Aufschlussreich sind auch die Zahlen über den Schuldenstand der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2009: Italien 116 %, Belgien 96,2 %, Ungarn 78,4 %, Frankreich 78,1 %, Portugal 76,1 %, Deutschland 73,4 %, Malta 68,6 %, Großbritannien 68,2 %, Österreich 67,5 %, Irland 65,5 % und die Niederlande 60,8 %. Der öffentliche Schuldenstand aller dieser Staaten liegt also – zum Teil deutlich – über dem Referenzwert von 60 %. Niedriger ist der öffentliche Schuldenstand in folgenden Staaten: Litauen 29,2 %, Rumänien

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23,9 %, Bulgarien 14,7 %, Luxemburg 14,5 % und Estland 7,2 %. Wiederum liegen noch keine amtlichen Zahlen für Griechenland vor. Auch diese Zahlen sollen nach einer Überprüfung im November dieses Jahres veröffentlicht werden. Hat die deutliche Überschreitung der vorgegebenen Referenzwerte nun rechtliche Folgen? Das Recht der Europäischen Union sieht ein langwieriges Sanktionsverfahren vor, das in mehreren Stufen abläuft und jeweils Ratsbeschlüsse mit qualifizierter Mehrheit voraussetzt. Dieses Verfahren ist so konstruiert, dass es kein Zufall sein dürfte, dass bislang noch nie Strafmaßnahmen verhängt worden sind. Im bekanntesten Fall hat Deutschland gemeinsam mit Frankreich 2005 so großen politischen Druck ausgeübt, dass im Ergebnis die Stabilitätskriterien aufgeweicht wurden. Aufgrund dieser Erfahrungen verlangen die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank automatische Sanktionen, die also unabhängig von politischen Entscheidungen erfolgen. Die Task Force, die sich dem Problem unter der Leitung des neuen Ratspräsidenten van Rompuy gewidmet hat, ist nach längerem Hin und Her zu dem Ergebnis gekommen, dass weiterhin eine politische Mehrheitsentscheidung erforderlich sein soll. Deutschland hat vor gut zehn Tagen nach einem Treffen der Bundeskanzlerin mit dem französischen Staatspräsidenten Sarkozy in Deauville die Forderung nach einem automatischen Sanktionsmechanismus aufgegeben. Führt man sich diese Tatsachen und Entwicklungen vor Augen, kommt man kaum umhin, den Stabilitätspakt als bloß symbolisches Recht zu bezeichnen.

III. Schuldenbremse Im Jahr 2009 ist das Grundgesetz in Art. 109 Abs. 3 GG um eine neue Regelung der Begrenzung der Staatsverschuldung erweitert worden. Es handelt sich um die sogenannte „Schuldenbremse“, die auf ein Schweizer Vorbild zurückgeht. Danach sind die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Kredite auszugleichen. Während dem Bund ein strukturelles Defizit in Höhe von 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts erlaubt ist, dürfen die Haushalte der Länder überhaupt kein strukturelles Defizit mehr aufweisen. Bei ihnen ist dem Grundsatz, dass ihre Haushalte ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind nur dann entsprochen, wenn keine Einnahmen aus Krediten zugelassen werden. Von diesem Grundsatz gibt es jedoch eine Reihe Ausnahmen. Wenn die konjunkturelle Entwicklung von der Normallage abweicht, dürfen Bund und Länder zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkung einer solchen Abweichung Regelungen treffen. Ausnahmeregelungen sind auch für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, vorgesehen. Für alle Ausnahmeregelungen ist eine entsprechende Tilgungsregelung zu treffen. Die Regelungen über die Schuldenbremse gelten im Prinzip ab 2011. Bis 2019 dürfen die Länder jedoch von ihnen abweichen. Dem Bund ist eine Abweichung bis 2015 erlaubt. Allerdings soll schon im Haushaltsjahr 2011 mit dem Abbau des bestehenden

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Defizits begonnen werden. Auch sind von 2011 an die jährlichen Haushalte so aufzustellen, dass im Haushaltsjahr 2016 das strukturelle Defizit auf 0,35 von Hundert des Bruttoinlandsprodukts reduziert ist. Von Verfassungs wegen ist dem Bund allerdings nicht vorgegeben, dass die Rückführung des strukturellen Defizits in gleichen Schritten erfolgt. Für die Länder ist die Regelung über die Schuldenbremse vor allem deshalb problematisch, weil sie wenig Autonomie in ihren Einnahmen und Ausgaben haben. Der Bund regelt nicht nur seine eigenen Einnahmen, sondern auch die Einnahmen der Länder weitgehend über seine Kompetenz zur Steuergesetzgebung. Ein hoher Ausgabenanteil der Länder wird durch die Sozialgesetzgebung des Bundes bestimmt. Die Länder können weder aus eigener Kraft ihre Einnahmen maßgeblich erhöhen, noch können sie die bundesgesetzlich vorgeschriebenen Ausgaben autonom senken. Folglich geraten die Länder durch die Einführung der Schuldenbremse in ein strukturelles Problem: Sie müssen auf eine Kreditaufnahme verzichten, können aber ihre Einnahmen und Ausgaben nur sehr begrenzt verändern. Damit ist ihre Staatlichkeit in Gefahr. Wenn der Bund Steuern in merkbarem Umfang senkt oder höhere Ausgaben der Länder gesetzlich vorschreibt, können sie in eine Situation geraten, in der sie nicht mehr über eine aufgabenangemessene Finanzierung verfügen. In einer solchen Situation ist der Bund zu Ausgleichszahlungen an die Länder verpflichtet. Das folgt aus dem Gesichtspunkt der Ingerenz, weil der Bund mit der Regelung der Schuldenbremse vor dem Hintergrund seiner weitreichenden Gesetzgebungskompetenzen zugleich die Verantwortung dafür übernommen hat, dass die Länder nicht aus finanziellen Gründen an der Entfaltung ihrer eigenen Staatlichkeit gehindert werden. Eine interessante Frage ergibt sich aus einer Ausnahmeregelung, die in RheinlandPfalz für den Fall vorgesehen ist, dass durch Steuersenkungen oder Ausgabenerhöhungen auf der Grundlage eines Bundesgesetzes der Landeshaushalt nicht sofort ausgeglichen werden kann. Für eine solche Situation sieht das Land in seiner geplanten Ausnahmeregelung die Möglichkeit vor, bis zu vier Jahre von dem Verschuldungsverbot abzuweichen. Damit stellt sich aus bundesverfassungsrechtlicher Sicht die Frage, ob eine erhebliche bundesgesetzliche Steuersenkung oder Ausgabenerhöhung für die Länder eine außergewöhnliche Notsituation darstellt, die sich ihrer Kontrolle entzieht und ihre Finanzlage erheblich beeinträchtigt. Zur Sicherung der Haushaltsstabilität von Bund und Ländern wird ihre Haushaltswirtschaft in Zukunft von einem Stabilitätsrat überwacht. Er soll die Voraussetzungen und das Verfahren zur Feststellung bestimmen, wann eine Haushaltsnotlage droht. Zugleich soll er über die Grundsätze zur Aufstellung und Durchführung von Sanierungsprogrammen zur Vermeidung von Haushaltsnotlagen entscheiden. Seine Beschlüsse werden veröffentlicht. Damit ihre Haushalte überhaupt konsolidiert werden können, erhalten das Land Berlin, die Freie Hansestadt Bremen, das Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein zusammen insgesamt 800 Millionen Euro Konsolidierungshilfen. Angesichts der bestehenden Haushaltsdefizite dieser Länder darf man allerdings bezweifeln, ob eine Konsolidierung ihrer Haushalte mit einer Summe

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in dieser Größenordnung möglich ist. Vor wenigen Tagen hat der Stabilitätsrat für das Land Berlin, die Freie Hansestadt Bremen, das Saarland und Schleswig-Holstein einstimmig eine drohende Haushaltsnotlage festgestellt. Nun prüft ein sogenannter Evaluationsausschuss gemäß § 4 Abs. 2 und 3 Stabilitätsratsgesetz die Haushaltsstruktur der betroffenen Länder. Der nächste Schritt wäre dann die Aufstellung und Durchführung von Sanierungsprogrammen für alle vier Länder. Man wird abwarten müssen, inwieweit dieses Verfahren geeignet ist, eine Haushaltsnotlage in den Ländern zu vermeiden. Der Finanzminister des reichen Landes Baden-Württemberg hat jedenfalls schon festgestellt, dass es für alle Länder schwierig sei, eine Nullverschuldung zu erreichen. IV. Law in the books? Führt man sich die Regelungen über den Stabilitätspakt und die Schuldenbremse vor Augen, drängt sich der Eindruck auf, dass beide Instrumente wenig steuernde Wirkung zu entfalten vermögen. Sanktionen wegen einer Verletzung des Stabilitätspakts lassen sich offensichtlich nicht durchsetzen. Die dafür erforderlichen politischen Entscheidungen werden nicht getroffen. Zugleich besteht ganz überwiegend unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union keine Bereitschaft, zu einem automatischen Sanktionsmechanismus überzugehen. Aus der Sicht betroffener Länder ist folglich mit einem Verstoß gegen den Stabilitätspakt kaum ein Risiko verbunden. Die Wirkungskraft der verfassungsrechtlichen Schuldenbremse krankt schon daran, dass sie für sechs beziehungsweise neun Jahre suspendiert ist. Bis 2016 steht es dem Bund und bis 2019 steht es den Ländern frei, ob sie die Vorgaben der Schuldenbremse beachten oder nicht. Art. 109 Abs. 3 enthält damit zunächst einmal unverbindliches Verfassungsrecht. Unverbindliches Recht vermag aber keine steuernde Wirkung zu entfalten. Zudem sind die Vorschriften über die Schuldenbremse jederzeit abänderbar. Wenn spätere Parlamente den Eindruck gewinnen, die dann verbindlich werdenden Vorgaben seien zu streng, werden sie kaum zögern, die ihnen von ihren Vorgängerparlamenten angelegten engen Fesseln durch eine erneute Änderung der Verfassung abzustreifen. Immerhin wirken Stabilitätspakt und Schuldenbremse auf das öffentliche Bewusstsein ein. Sie halten das Schuldenproblem für die öffentliche Meinung in Erinnerung. Wenn man optimistisch ist, kann man darauf hoffen, dass allein aus diesem Bewusstsein eine Bereitschaft erwächst, sich dem Problem der Staatsverschuldung zu stellen. Ob es aber aus der Sicht von Politikern verheißungsvoll erscheinen wird, mit einem Wahlprogramm zum Schuldenabbau in eine Bundestags- oder Landtagswahl zu gehen, wird man mit Fug und Recht bezweifeln können. Rechtlich sind sowohl die Vorschriften über den Stabilitätspakt als auch die Regelungen der Schuldenbremse schwer durchsetzbar. Es handelt sich in der Wirkung eher um sogenanntes soft law, wie es aus dem Völkerrecht bekannt ist. Letztlich stellt die Reduzierung der Staatsverschuldung eine politische Aufgabe dar, die auch im politischen Prozess bewältigt werden muss. Die Steuerkraft von Europarecht und Verfassungsrecht ist insoweit überschaubar. Nötig sind Ausgabensenkungen und Einnahmesteigerungen. Solche Maßnahmen finden aber erfahrungsgemäß wenig An-

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hänger, wenn sie so konkret werden, dass sie in praktische Politik umgesetzt werden können. V. Lösungsansätze Dennoch will ich im Folgenden nach Ansätzen für eine Lösung des Problems der hohen Staatsverschuldung suchen. Es scheint mir auf der Hand zu liegen, dass eine Reduzierung der Staatsausgaben nötig ist, wenn das strukturelle Haushaltsdefizit beseitigt werden soll. Diese Reduzierung ist nicht einfach. Solange die Finanzkrise nicht überwunden ist, kann der Staat systemrelevanten Banken Finanzhilfen nicht verweigern. Er kann auch Sozialausgaben nur begrenzt reduzieren. Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar dieses Jahres noch einmal ausdrücklich den Anspruch auf Sicherung des Existenzminimums aus der Garantie der Menschenwürde abgeleitet. Es hat zwar die Verfassung nicht in Richtung auf bestimmte Summen konkretisiert, das Gericht hat aber klare Verfahrensanforderungen aufgestellt. Die reichen allerdings nicht aus, um Streit zu vermeiden. Das zeigt deutlich die gegenwärtige Auseinandersetzung um die Erhöhung der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Weiter begrenzt werden die Handlungsmöglichkeiten des Staates dadurch, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Rentenansprüche von der Eigentumsgarantie umfasst werden, soweit sie auf eigenen Leistungen der Berechtigten beruhen. Das erschwert es für den Staat zumindest, seinen hohen Zuschuss zur Finanzierung der Rentenversicherung zu reduzieren. Da die Krankenversicherungskosten von den Arbeitskosten getrennt werden sollen, um die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu fördern oder jedenfalls die Vernichtung von Arbeitsplätzen zu verhindern, ist der Staat gezwungen, Zuschüsse zur Finanzierung der Krankenversicherung aus Steuermitteln zu gewähren. Eine Kürzung bei den Bildungsausgaben scheint deshalb nicht durchsetzbar, weil sie allgemein als notwendige Zukunftsinvestitionen angesehen werden. Und blickt man schließlich auf die hohen Versorgungslasten für Angehörige des Öffentlichen Dienstes, so muss man feststellen, dass diese längst entstanden sind und als wohl erworbene Rechte durch die Verfassung geschützt werden. Wegen dieser Beschränkung der Möglichkeit von Ausgabensenkungen scheinen mir Steuererhöhungen unvermeidbar zu sein. Hält man die gute Infrastruktur und die hohen Sozialleistungen dagegen, wie sie in Deutschland üblich sind, ist unsere Steuerquote mit 23 % zu niedrig. Darauf deutet auch ein Vergleich mit der Steuerquote anderer, vergleichbarer Staaten hin. So beträgt die Steuerquote nach Zahlen der OECD in Belgien 30 %, in Dänemark 47 %, in Frankreich 27 % und selbst in der Schweiz 22,6 %. In Großbritannien beläuft sich die Steuerquote auf 28,8 %. Nur in den USA liegt sie mit 20,3 % merkbar niedriger. Dort ist aber auch das soziale Netz wesentlich weniger dicht geknüpft als in Deutschland. Zudem ist die öffentliche Infrastruktur in vielen Staaten der USA mit Mängeln behaftet. Kalifornien ist insoweit nur ein Beispiel unter vielen. Steuererhöhung sollten aber nicht im Bereich der indirekten Steuern vollzogen werden, der mit über 50 % schon jetzt zu hoch ist. Zwar bietet sich Politikern eine

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Erhöhung der Umsatzsteuer regelmäßig schon deshalb an, weil sie besonders ertragreich ist und auf relativ geringen Steuerwiderstand stößt. Die Umsatzsteuer ist aber regressiv. Sie belastet Leistungsfähige relativ geringer als Leistungsschwächere. Wer ein niedriges Einkommen hat, muss das im Wesentlichen für seinen Konsum ausgeben, der umsatzsteuerpflichtig ist. Verfügt man dagegen über ein hohes Einkommen, verwendet man das üblicherweise nur zum Teil auf den Konsum und trägt deshalb eine relativ zum Einkommen geringe Umsatzsteuerpflicht. VI. Besteuerung nach Leistungsfähigkeit Eine Bewältigung des Schuldenproblems wird dem Staat nur gelingen, wenn er das Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit strikter verwirklicht. Das wird immer noch durch die Hinterziehung von Kapitalertragsteuer verletzt. Im Vergleich zu den Rechten, die sich die Vereinigten Staaten von Amerika gesichert haben, erhält Deutschland immer noch zu wenig Amtshilfe aus der Schweiz, um der Steuerpflicht effektiv entgegenwirken zu können. Es ist zu hoffen, dass das neue Doppelbesteuerungsabkommen und die im Zusammenhang damit getroffenen Vereinbarungen über die Amtshilfe in Steuersachen auch im Verhältnis zwischen Deutschland und der Schweiz insoweit Abhilfe schaffen werden. Unter Gesichtspunkten der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit wäre es auch dringend geboten, das Verhandlungsangebot von Singapur für den Abschluss eines neuen Doppelbesteuerungsabkommens endlich anzunehmen. Steuerpflichtige, die ihre Kapitalerträge nicht versteuern wollen und über nicht versteuertes Einkommen verfügen, haben längst Singapur als neue Steueroase entdeckt. Da Singapur offenbar bereit ist, dem durch Regelungen in einem neuen Doppelbesteuerungsabkommen entgegen zu wirken, sollte Deutschland diese Chance nicht ungenutzt lassen. Zur Besteuerung nach Leistungsfähigkeit gehört auch eine gerechte Regelung des Zugriffs auf Einkommen und Gewinne in Europa. Der Europäische Gerichtshof hat mit seiner Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten lange Zeit hindurch Raum für die Verlagerung insbesondere von Unternehmensteuererträgen in Staaten der Europäischen Union mit niedrigem Steuerniveau geschaffen. Erfreulicherweise hat er diese Rechtsprechung in den letzten Jahren korrigiert und erkennt das Recht der Mitgliedstaaten an, auf ihrem Territorium erwirtschaftete Erträge auch angemessen zu besteuern. Hinzu gekommen ist die Einsicht vieler Niedrigsteuerländer, die erheblich unter der Finanzkrise leiden, wie etwa Irland, dass sie an ihrer Niedrigsteuerpolitik nicht in gleichem Ausmaß festhalten können wie vor der Finanzkrise. Zur Begrenzung der Staatsverschuldung durch eine gleichmäßige Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit der Steuerpflichtigen gehört nach meinem Verständnis auch die Erhebung der Vermögensteuer. Zwar verpflichtet das Grundgesetz den Staat nicht dazu, eine Vermögensteuer zu erheben. Es geht aber durch die Erwähnung der Vermögensteuer bei der Verteilung der Steuerertragskompetenzen im Grundgesetz von der Erhebung der Vermögensteuer aus. Dafür spricht auch, dass nach den Zahlen der OECD das Aufkommen vermögensbezogener Steuern 2008 in Deutschland weniger als 1 %

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des Steueraufkommens betrug. Demgegenüber lag es in der Schweiz bei mehr als 2 %, in Frankreich und den USA bei mehr als 3 % und in Großbritannien sogar bei über 4 % des Bruttoinlandsprodukts. Das sollte auch dem deutschen Steuergesetzgeber zu denken geben. Vermögen erhöht als solches die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Immerhin betrug das Aufkommen aus der Vermögensteuer im Jahr 1995 – dem letzten Jahr, in dem sie erhoben wurde – 4,6 Milliarden Euro. Der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit würde es auch dienen, wenn bei der Gewerbesteuer die Unterscheidung zwischen freien Berufen und Gewerbetreibenden aufgehoben würde. Für diese Unterscheidung gibt es keinen sachlichen Grund. Sie beruht allein auf der Tradition. Gewerbetreibende und freie Berufe sind aber in Bezug auf die Gewerbesteuer beide wirtschaftlich gleich leistungsfähig. Auch wer unternehmerisches Vermögen erbt, steigert dadurch seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Deshalb ist es schwer nachzuvollziehen, warum die Erbschaftsteuer nur in ungefähr 5 % aller Nachlassfälle erhoben wird und betriebliches Vermögen praktisch steuerfrei bleibt. Auf die immer wieder vorgebrachten Liquiditätsprobleme könnte der Steuergesetzgeber mit einer großzügigen Stundungsregelung reagieren. Eine gleichmäßige Besteuerung auch des unternehmerischen Vermögens in Nachlassfällen würde zudem der Steuerumgehung durch die Verlagerung von Privatvermögen in Unternehmensvermögen ein Ende setzen. Weiter erhöhen auch landwirtschaftliche Einkünfte wie andere Einkünfte die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Beim heutigen Stand der Informationstechnik ist kein sachlicher Grund für die Pauschalierung und damit erhebliche Subventionierung landwirtschaftlicher Einkünfte mehr ersichtlich. Allein die starke Interessenvertretung der Landwirte reicht jedenfalls nicht aus, um das bestehende Steuerprivileg zu rechtfertigen. Abschließend weise ich noch darauf hin, dass aus meiner Sicht kein Grund für die Mehrwertsteuerermäßigung zu Gunsten des Hotel- und Gastgewerbes besteht. Auch ist die Gewährung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes für Langusten, Hummer und Austern sachlich nicht begründet. VII. Ergebnis Kurz zusammengefasst lautet mein Ergebnis wie folgt: Die Staatsverschuldung ist gerade in den letzten Jahren bedrohlich gestiegen. Zwar besteht eine rechtliche Pflicht zum Schuldenabbau, die im Stabilitätspakt des Unionsrechts und in der Schuldenbremse des Grundgesetzes zum Ausdruck kommt. Beide Instrumente vermögen jedoch in der Rechtswirklichkeit nur so geringe Steuerungswirkung zu entfalten, dass sie als weithin symbolisches Recht qualifiziert werden müssen. Die Begrenzung der Staatsverschuldung ist nicht nur eine rechtliche, sondern vor allem eine politische Aufgabe. Sie setzt eine Ausgabensenkung voraus, der allerdings durch rechtliche Garantien Grenzen gesetzt sind. Deshalb muss zu einer Ausgabensenkung eine konsequentere Durchsetzung des Prinzips der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit treten.

Entscheidungen der Politik in eigener Sache: eine Form der Korruption? Von Hans Herbert von Arnim I. Begriff der Korruption Das Thema habe ich bewusst so formuliert, dass es aufregt und polarisiert. Was also ist Korruption? Sehen wir mal vom Strafrecht mit seinen fein ziselierten Tatbeständen der Bestechung, der Bestechlichkeit, der Vorteilsannahme und der Vorteilsgewährung ab und suchen nach dem Kern des Begriffs Korruption, so ergibt sich folgende Definition, die auch in den Sozialwissenschaften gebräuchlich ist: Korruption ist der „Missbrauch anvertrauter Macht zur Erlangung persönlicher Vorteile“. Darunter fällt natürlich auch die Bestechung eines Amtsträgers durch einen anderen. Darunter können aber auch Entscheidungen von Amtsträgern in eigener Sache fallen. So, wenn der zuständige Beamte sich selbst einen günstigen Kredit, eine Subvention oder sonst einen Vorteil zuschanzt. Das ist „Missbrauch anvertrauter Macht zum persönlichen Vorteil“, also ein Fall von Korruption, auch wenn hier das – sonst für Korruption typische – Zwei-Personen-Verhältnis nicht vorliegt, sondern beide Rollen in einer Person zusammenfallen. Man spricht hier von Auto-Korruption, von SelbstKorruption. Da es meist nur schwer zu beweisen ist, ob wirklich ein Missbrauch vorliegt, setzt unsere Rechtsordnung regelmäßig schon auf einer Vorstufe an und sucht Situationen von vornherein zu verhindern, in denen es zu Interessenkollisionen kommen muss. Im Korruptionsrecht gilt deshalb der Grundsatz, dass bereits der böse Schein vermieden werden soll. Die Folge ist: Nach unserem Recht darf grundsätzlich kein Amtsträger in eigener Sache entscheiden. II. Entscheidung des Parlaments in eigener Sache Wie ist es nun beim Parlament, wenn es zum Beispiel über die Diäten seiner Abgeordneten entscheidet. Zweifellos handeln die Abgeordneten hier in eigener Sache. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht erkannt. Andererseits bestimmen das Grundgesetz und die Landesverfassungen, dass die Bezahlung von Abgeordneten durch Gesetz festzulegen ist. Wer aber ist der Gesetzgeber in der repräsentativen Demokratie? Natürlich das Parlament! Damit stellt sich ein fundamentales Kontrollproblem. Von Haus aus hat das Parlament die Aufgabe, andere zu kontrollieren, vor allem

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die Regierung und die Verwaltung. Wer aber kann den Kontrolleur, wenn er in eigener Sache entscheidet, kontrollieren? Dabei ist es für die Analyse hilfreich, sich klarzumachen, welche eigentlichen Kräfte im Parlament das Sagen haben: Dies sind die Parteien und die zugehörige politische Klasse von Berufspolitikern – mit ihrem höchst eigenen Interesse an Macht, Posten, Geld und sonstige Ressourcen. Das Eigeninteresse ist zwar nicht alles; es wäre unfair zu leugnen, dass es Politikern auch um die Gestaltung des Gemeinwesens geht. Doch oft ist das Hemd des Eigeninteresses eben doch näher als der Rock des Gemeinwohls. III. Wer kontrolliert den Kontrolleur? Zur Kontrolle des Parlaments kommen – theoretisch – folgende Instanzen in Betracht, und die Gretchenfrage lautet, ob sie die politische Klasse im Parlament am Missbrauch ihrer Macht hindern können: 1. das Volk, oder unabhängige Instanzen wie 2. die Verfassungsgerichte, 3. die Rechnungshöfe, 4. die Wissenschaft, der die Verfassung ebenfalls Unabhängigkeit garantiert, oder 5. die öffentlich-rechtlichen Medien und 6. die Medien allgemein, sprich: die öffentliche Kontrolle insgesamt. 7. Auch der Bundespräsident gehört hierher. Er ist ein auf fünf Jahre gewähltes unabhängiges Verfassungsorgan, welches keiner Partei und keiner Fraktion Rechenschaft schuldet und keinem Misstrauensvotum unterworfen ist, und er kann der Politik ganz kräftig ins Gewissen reden. Ich will versuchen, jeden dieser sieben möglichen Kontrolleure durchzuchecken im Hinblick auf ihre Fähigkeit, die politische Klasse am Missbrauch ihrer Macht in eigener Sache zu hindern. IV. Wie (ohn)mächtig ist der nominelle Souverän: das Volk? Zunächst zum Volk. Idealerweise übt der Wähler die Kontrolle aus und verhindert den Missbrauch. Doch das ist nur ein schöner Schein. Typisch für Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache ist, dass Regierungs- und Oppositionsparteien sich absprechen, gemeinsam die Regelung beschließen und gegen mögliche Kritik verteidigen. Was kann der Wähler dann noch mit seinem Stimmzettel ausrichten? Welche Partei auch immer er wählt, alle sind ja in das politische Kartell eingebunden. Und einzelne Abgeordnete, die sich vielleicht dem Kartell entzogen und im Parlament anders votiert haben, kann der Bürger regelmäßig gar nicht wählen und mit seiner Stimme belohnen. Denn nach unserem Wahlsystem, das die Parteien auch wieder in eige-

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ner Sache ausgestaltet haben, bestimmen letztlich die Parteien und nicht die Wähler, wer ins Parlament kommt. Natürlich kann der Bürger – aus Protest gegen die politische Klasse – außerparlamentarische Gruppierungen und deren Kandidaten wählen. Doch der Diäten-Beschluss ist nur eine von vielen Entscheidungen, die das Parlament getroffen hat. Deshalb wird er sich meist nicht allein davon bestimmen lassen, wenn er am Wahlsonntag nicht ohnehin aus Frust zu Hause bleibt. Aber auch das tut den Etablierten überhaupt nicht weh, jedenfalls, wenn sich die sinkende Wahlbeteiligung halbwegs gleichmäßig auf die Parlamentsparteien verteilt. Eine – aus demokratischer Sicht – höchst wirksame Kontrolle kann das Volk ausüben, wenn die Verfassung ihm die Möglichkeit gibt, selbst zu entscheiden, wenn die Bürger zum Beispiel durch Referenden Entscheidungen des Parlaments außer Kraft setzen oder selbst im Wege von Volksbegehren und Volksentscheid Gesetze erlassen können. Bloß, auf Bundesebene gibt es Derartiges bisher bekanntlich nicht. Das müsste vom Bundestag und vom Bundesrat mit 2/3-Mehrheiten eingeführt werden, wäre aber auch wieder eine Entscheidung des Parlaments in eigener Sache. Denn damit installierte das Parlament einen zweiten Gesetzgeber neben sich, einen ständigen Konkurrenten, der seine Kreise stören könnte. Auf Landesebene sind inzwischen zwar in allen Bundesländern direkt demokratische Entscheidungen eröffnet. Siehe zum Beispiel das Rauchverbot in Bayern und die Verhinderung der Schulreform in Hamburg; beide sind durch Volksentscheid zu Stande gekommen. Die Landesverfassungen und die Ausführungsgesetze enthalten aber vielfach strenge Voraussetzungen und Ausnahmebestimmungen. So sind zum Beispiel für ein Volksbegehren in Baden-Württemberg Unterschriften von einem Sechstel der Wahlberechtigten erforderlich; das ist praktisch prohibitiv und macht einen volksinitiierten landesweiten Entscheid etwa über Stuttgart 21 fast unmöglich. Über die Senkung dieses Quorums entscheidet das Parlament womöglich wieder selbst. Im Demokratie-Ranking der 16 Bundesländer, welches die NGO Mehr Demokratie gerade herausgegeben hat, nimmt Baden-Württemberg denn auch den vorletzten Platz ein. Und über die zahlreichen, generalklausel-artig formulierten Ausnahmen urteilen Richter, die wiederum die Parteien selbst ans Gericht entsandt habe. Damit sind wir schon bei den Verfassungsgerichten als möglicher Kontrollinstanz.

V. Die politische Klasse wählt ihre Kontrolleure selbst Hier zeigt sich ein weiteres Problem: Das Parlament oder genauer: die im Parlament vertretenen politischen Parteien, suchen sich ihre Kontrolleure selbst aus – oder verfügen über andere Mittel, beim Versuch sie genehm zu stimmen. Und auch dabei handeln sie in eigener Sache. So werden die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts formal zwar vom Bundestag und vom Bundesrat, jeweils mit Zweidrittelmehrheit, gewählt. Tatsächlich aber bestimmen CDU/CSU und SPD, wer Verfassungsrichter wird; bei kleinen Regierungskoalitionen darf auch der Juniorpartner ein wenig

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mitbestimmen. Kann man dann, wenn der Rechtsstreit etwa um die staatliche Finanzierung der Abgeordneten, der Parteien, der Parlamentsfraktionen, der Parteistiftungen oder um das Wahlsystem geht, wirklich immer völlige Unbefangenheit der von den Begünstigten gewählten Richter erwarten? Oder nehmen Sie die Rechnungshöfe. Auch ihre Spitze wird regelmäßig von den Parteien im Parlament bestellt. Kann man dann von ihnen eine strenge Kontrolle etwa der Fraktionsfinanzierung erwarten? Dazu sei angemerkt: Die Fraktionen im Bundestag und in den Landesparlamenten bekommen inzwischen sehr viel mehr Staatsgeld als die Parteien. Die Fraktionen scheuen bei der Selbst-Bewilligung ihrer Mittel die öffentliche Kontrolle und suchen diese auch bei ihrer Verausgabung zu unterlaufen. Dasselbe gilt für die Rechnungshofkontrolle. In diesem praktisch kontrollfreien Raum haben zum Beispiel die Bundestagsfraktionen ihre Staatsgelder seit Beginn der Republik um mehrere 10.000 % erhöht. Dazu ein aktuelles Beispiel. Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass alle voll alimentierten Abgeordneten gleich hohe Diäten bekommen. Damit ist die Wahrnehmung besonderer Funktionen grundsätzlich mit abgegolten. Zulagen sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichts nur für drei Gruppen besonders hervorgehobener Parlamentarier erlaubt: die Präsidenten der Parlamente, ihre Stellvertreter und die Fraktionsvorsitzenden. Doch in den Parlamenten wird das insgeheim massiv unterlaufen, indem auf dem Umweg über die staatsfinanzierten Fraktionen eine Fülle von Abgeordneten Extra-Diäten erhalten. So beziehen im Bund und in den Ländern hunderte von Abgeordneten verfassungswidrige Zulagen, insgesamt viele Millionen E jährlich. Und manche Rechnungshöfe tolerieren das. Auch bei den öffentlich-rechtlichen Hörfunk- und Fernsehanstalten bestellt die Politik ihre Kontrolleure selbst. Wie das abläuft, haben wir zuletzt bei der Ausbootung des ZDF-Intendanten Nikolaus Brender durch den parteilich besetzten Verwaltungsrat des ZDF gesehen. Bei der Wahl Christian Wulffs zum Bundespräsidenten im Mai dieses Jahres haben die Parteivorsitzenden Merkel, Seehofer und Westerwelle praktisch alleine entschieden, wer auf Horst Köhler folgt. Die aufwändige Bundesversammlung, der nach dem Grundgesetz eigentlich die Wahl obliegt, war, genau genommen, nur Staffage. Die Politik bestimmt also ihre eigenen Kontrolleure. Ist das eigentlich fair? Wir haben uns an diese Bestellungs-Verfahren schon so sehr gewöhnt, dass uns die Frage nach der Angemessenheit und Fairness gar nicht mehr in den Sinn kommt – und wenn doch, hindert uns die Schere der politischen Korrektheit im Hinterkopf daran, solche Fragen öffentlich zu stellen. Da mein Ruf, als so genannter Parteienkritiker, ohnehin ruiniert ist, kann ich mir solche Fragen ganz ungeniert leisten. Erlauben Sie, dass ich mich dem Thema mit einem Beispiel aus dem Profi-Fußball nähere: Was würden Sie sagen, wenn zum Beispiel Bayern München sich die Schieds- und Linienrichter für seine Begegnungen stets selbst mitbringen dürfte? Sie meinen vielleicht, der Vergleich tauge nicht. Aber ist das Parlament, sind die Parteien bei Auswahl der Verfassungsrichter, der Präsidenten der Rechnungshöfe und

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Zentralbanken, der Intendanten und Bundespräsidenten nicht tendenziell versucht, solche Personen zu bevorzugen, die auf ihrer Seite stehen, wenn es zum Beispiel um die staatliche Parteienfinanzierung geht, die Entmündigung des Volkes durch das Wahlsystem oder die Schwächung direkter Demokratie zu Gunsten eines selbstreferentiellen Parteienstaates? Haben solche Kontrolleure nicht fast zwangsläufig eine Neigung für diejenige Seite, die sie berufen hat, die gesamte politische Klasse nämlich – ganz ähnlich dem Schiedsrichter, den eine Mannschaft mitgebracht hat und der – so jedenfalls der böse Schein – im Zweifel für seine eigene Mannschaft pfeift? Diese, zugegeben, etwas grobkörnigen Überlegungen – aber ich habe wie allen Referenten nur 20 – 30 Minuten Zeit für meinen Vortrag – bedürfen der Ergänzung in zwei Richtungen: VI. Beckett-Effekt Einmal darf der so genannte Beckett-Effekt nicht unterschätzt werden. Die Mitglieder der Verfassungsgerichte und der Rechnungshöfe sind von der Politik unabhängig gestellt und können es sich deshalb durchaus leisten, – wie einst Thomas Beckett –, die Aufgaben ihrer Ämter höher zu gewichten als die Dankbarkeit und Ergebenheit gegenüber denen, die sie berufen haben. Und, Gott sei Dank, tut dieser Effekt vielfach durchaus seine Wirkung, zum Beispiel auch bei den Landesrechnungshöfen, von denen einige die erwähnten verfassungswidrigen Extra-Diäten von Abgeordneten massiv kritisieren. VII. Ämterpatronage untergräbt den öffentlichen Dienst Andererseits aber praktizieren die Parteien Ämterpatronage ja nicht nur bei der Besetzung der genannten Kontroll-Instanzen, sondern versuchen es praktisch überall, wo es um lukrative Staatsposten und die Sicherung ihrer Macht geht. Auch hier sind sich die etablierten Parteien im Wesentlichen einig; jede patroniert, wie sie gerade kann. Ämterpatronage gelingt ihnen zwar zum Glück noch nicht überall und immer, aber doch immer öfter. Aktuelle, auch vor der Öffentlichkeit nicht mehr zu verheimlichende Beispiele ergaben sich nach der letzten Bundestagswahl. Der neue Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel versorgte einen Teil seiner FDP-Bundesgeschäftsstelle mit Posten in seinem Ministerium. Ämterpatronage kann mit der Zeit den öffentlichen Dienst verderben. Das Berufsbeamtentum hat nach dem Grundgesetz eine besondere, wichtige Funktion. Es soll, so formuliert das Bundesverfassungsgericht, „gegründet auf Sachwissen, fachliche Leistung und loyaler Pflichterfüllung, eine stabile Verwaltung sichern“ und einen „ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatsleben gestaltenden politischen Kräften darstellen.“ Kurz, der erfahrene und gut ausgebildete Beamte soll seinen Minister vor allzu vielem Dilettieren und vor parteilicher Einseitigkeit möglichst bewahren. Doch diese Funktion, um derentwillen Beamten eine auf Lebenszeit gesicherte Position innehaben, wird durch parteipolitische Ämterpatronage leicht untergraben.

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VIII. Wissenschaft Erlauben Sie mir noch ein – gewiss nicht weniger heikles – Wort über meine eigene Profession, die Wissenschaft. Auch sie hat eine Kontrollaufgabe, und ist auch deshalb unabhängig gestellt. Doch die wenigen Politikwissenschaftler und Staatsrechtslehrer, die sich wirklich in Sachen Politikfinanzierung und den Eigenheiten der politischen Klasse auskennen, versucht diese durch Gutachtens- und Prozessführungsaufträge, durch ehrenvolle Berufungen oder durch Finanzierung ihrer Institute mundtot zu machen, auch wenn das – das sei zur Ehre manches Kollegen gesagt – keineswegs immer gelingt. IX. Regeln des Machterwerbs und Machterhalts Derzeit wird viel über die Bürgerferne der Politik geklagt. Es sind, wenn ich recht sehe, vor allem vier Strategien, mit denen die politische Klasse ihre abgehobene Position aufrecht zu erhalten und das Volk klein zu halten sucht: – mittels ausgiebiger Ämterpatronage – mittels üppiger Staatsfinanzierung der Parteien – mittels eines zurechtgestutzten Wahlrechts und – mittels hinhaltenden Widerstandes gegen die Einführung beziehungsweise Verbesserung direkter Demokratie. Ämterpatronage haben wir schon angesprochen. Mit ihr sichert sich die politische Klasse die Ernennung ihrer Kontrolleure und den Einfluss auf den öffentlichen Dienst und auf öffentliche Unternehmen und Einrichtungen aller Art. Hinsichtlich der Parteienfinanzierung sei nur darauf hingewiesen, dass die 133 Millionen E unmittelbare Staatsfinanzierung der politischen Parteien, die das Parteiengesetz offen ausweist, nur einen kleiner Bruchteil der gewaltigen Summe darstellen, die den Parteien auf allerlei hintergründigen Kanälen zufließt: insgesamt ein Vielfaches der offen ausgewiesenen 133 Millionen. Damit machen sich die Parteien von den eigenen Mitgliedern, die den ehemaligen Volksparteien seit einiger Zeit in Scharen davonlaufen, unabhängig und zum Teil auch von den Wählern. Zentral ist das Wahlrecht. Darüber entscheidet das Parlament ebenfalls in eigener Sache, wie auch das Bundesverfassungsgericht bestätigt, oder: das Parlament entscheidet, wenn es um notwendige Reformen geht, eben in eigener Sache gerade nicht. Seitdem wir in Deutschland ein Fünf- (oder Mehr-) Parteiensystem haben, kann der Wähler oft nicht einmal mehr voraussehen, welche Regierung er mit seiner Wahlstimme fördert. Die Jamaika-Koalition im Saarland, die Peter Müller, obwohl eigentlich abgewählt, als Ministerpräsident an der Regierung hält, hatten weder CDU- noch Grünen-Wähler voraussehen können – und vielfach auch gar nicht gewollt. Und die Abgeordneten – das wurde schon erwähnt – kann der Wähler schon gar nicht bestimmen. Ich habe deshalb jüngst beim Bundesverfassungsgericht Beschwer-

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de gegen die deutsche Europawahl vom Juni letzten Jahres eingelegt mit dem Ziel, dass die starren Listen, die dem Wähler die Personalauswahl nehmen, und die Fünfprozentklausel, die bei Europawahlen nicht zu rechtfertigen ist, für verfassungswidrig erklärt zu bekommen. Meiner Beschwerde sind 530 Bürgerinnen und Bürger, darunter 30 Staatsrechtslehrer, auch mehrere Speyerer Kollegen, beigetreten. Die Beschwerde wurde dem Parlament, der Regierung und den Parteien zugestellt, und im Mai 2011 war mündliche Verhandlung. Bei den genannten vier Bereichen – Ämterpatronage, Parteienfinanzierung, Wahlrecht und direkte Demokratie – geht es um so genannte Regeln des Machterwerbs und des Machterhalts. Sie sind besonders wichtig, weil von ihrer angemessenen Ausgestaltung die Legitimation des ganzen politischen Systems abhängt. Sie sind aber auch besonders gefährdet, weil die politische Klasse darüber in eigener Sache entscheidet und dabei versucht ist, sie so zu deformieren, dass sie alles unter sich abmachen und den Bürger außen vor lassen kann. In den Defiziten dieser grundlegenden Regeln des Machterwerbs und Machterhalts liegt m. E. ein wesentlicher Grund für den tiefen Graben zwischen Bürgern und Politik und das gewaltige Misstrauen der Bürger gegen „die da oben“, welches in letzter Zeit besonders deutlich geworden ist. Diese Zusammenhänge werden bisher aber kaum erkannt und öffentlich thematisiert. Das beruht auch darauf, dass es den Medien, vor allem dem Fernsehen, das auf Personalisierung und anderes Vordergründiges fliegt, schwer fällt, Strukturprobleme darzustellen. Auch die Politik – mit ihren tausenden von abhängigen Sprachrohren – hat größtes Eigeninteresse daran, von den selbst gemachten Schwachpunkten unseres Systems abzulenken. Besonders beliebt ist neuerdings die Behauptung, „Legitimation durch Verfahren“ (Niklas Luhmann) reiche – angesichts der anschwellenden Protestkultur – nicht mehr aus. Doch das lenkt nur vom eigentlichen Problem ab. Denn Verfahren benötigen wir immer. Es geht um die Art und Weise der Verfahren der politischen Willensbildung und darum, dass die derzeitigen Verfahren einfach überholt sind und durch bessere, bürgernähere und die politische Klasse wirksam kontrollierende Verfahren ersetzt werden müssen. Am Anfang hatte ich die Frage gestellt, ob Entscheidungen der Politik in eigener Sache Korruption oder vielleicht wenigstens eine Form der Interessenkollision darstellen. Ich überlasse Ihnen die Antwort. Ich wollte mit dieser Wortwahl jedenfalls die Problematik unseres hintergründigen Systems hinter den offiziellen System herausstellen. Im Jahr 2001, als ich ein Buch mit dem Titel „Das System“ veröffentlichte, wurde dieses Wort noch von vielen Betroffenen empört und als politisch unkorrekt zurückgewiesen, neuerdings aber ist es in vielen Kommentaren zu lesen.

X. Postdemokratie? Worum es letztlich geht, wird in der Diskussion um die so genannte Postdemokratie deutlich. Der Schöpfer dieses Begriffs, Colin Crouch, verweist darauf, dass die Demokratie zwar formal weiterbestehe, sich aber in der Substanz zunehmend entlee-

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re. Die Prozedur von Wahlen zur Legitimation von Macht und Führungspersonal werde zwar weiterhin praktiziert, ohne dass es jedoch tatsächliche Wahlmöglichkeiten und Selbstbestimmung für das Volk gebe. So falsch erscheint mir diese Diagnose nicht. Die Schlüsselfrage lautet damit heute: Nehmen wir diese Entwicklung hin, wie es die Vertreter des Konzepts der Postdemokratie stillschweigend befürworten, oder lehnen wir uns mit aller Kraft dagegen auf? Vor diesem Hintergrund könnte Stuttgart 21 geradezu zu einem Symbol für eine paradigmatische Wende in der Beurteilung von Politik, Parteien und Staat werden. Meine Antwort kennen Sie sicher. Der erste Schritt besteht darin, fiktive und verlogene Begriffe, die die Macht der politischen, der wirtschaftlichen und der medialen Klasse verhüllen, zu durchstoßen und ihre mangelnde reale Substanz offen zu legen wie im politischen Bereich zum Beispiel Volkssouveränität, den Satz „Alle Gewalt geht vom Volke aus“, Wahlen, Gewaltenteilung und Parteienfinanzierung. Wichtig erscheint es mir auch, Politiker zu zwingen, das Sprechen mit zwei Zungen, wie Karl Mays Winnetou gesagt haben würde, aufzugeben und es schonungslos zu entlarven, wenn Politiker öffentlich das Gemeinwohl beschwören, tatsächlich aber ihr eigenes Interesse an Macht, Posten und Geld meinen. XI. Abhilfe? Wie kann letztlich den Mängeln im – für das Gemeinwesen – zentralen Bereich der Politik abgeholfen werden? Gegen Machtmissbrauch der politischen Parteien gibt es, neben den Verfassungsgerichten, in Wahrheit nur ein wirksames Gegengewicht, die Aktivierung der Bürger, des Volkes, selbst: – durch direkte Demokratie, – durch Reform unseres Parlamentswahlrechts, – durch Direktwahlen von Exekutivorganen, zum Beispiel des Bundespräsidenten und der Ministerpräsidenten (nach dem Vorbild der Direktwahlen von Bürgermeistern und Oberbürgermeistern) und – durch Direktwahl der Verfassungsrichter und der Präsidenten der Rechnungshöfe. Vieles davon kann allerdings nur die politische Klasse selbst beschließen. Einiges aber können auch die Verfassungsgerichte und die Bürger durch Volksbegehren und Volksentscheid auf Landesebene erzwingen. Jedenfalls gilt – mit Popper –, dass es in der Demokratie unsere Aufgabe ist, die nötigen Reformen durchzusetzen und wir nicht erwarten können, dass sie auf irgend eine wunderbare Weise von selbst geschehen. Demokratie ist zu wichtig, als dass man sie Berufspolitikern alleine überlassen dürfte. Und schließlich ist da ja auch noch die öffentliche Kontrolle durch unabhängige Wissenschaftler und Medienleute. Bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache verlangt das demokratisch-rechtsstaatliche Prinzip, dass die öffentliche Kontrolle funktioniert. Denn sie ist in solchen Fällen – mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts – oft „die einzige wirksame Kontrolle.“

Wahlen allein genügen nicht Zur Notwendigkeit und Ausgestaltung direkter Demokratie auf Bundesebene Von Hermann K. Heußner I. Einleitung In den letzten Jahren hat der „Siegeszug“ der direkten Demokratie in Deutschland weiter an Fahrt aufgenommen. So kamen in den Bundesländern allein in den drei Jahren 2008 bis 2010 vier Volksentscheide zur Abstimmung.1 Dazu kommt u. a. der Protest um das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“, der die Diskussion um direkte Demokratie in Deutschland weiter stark befeuert.2 Dies wirft mit Nachdruck die Frage auf, ob die rein repräsentative Demokratie, wie sie auf Bundesebene nach wie vor besteht, an einem Systemmangel leidet, der nur durch Verfahren direkter Demokratie behoben werden kann. Wie sich unter II. zeigt, ist dies der Fall: Wahlen allein genügen nicht und müssen durch Volksgesetzgebung ergänzt werden. Allerdings ist Volksgesetzgebung in bestimmter Weise auszugestalten, um u. a. dem demokratischen Rechtsstaat, Erkenntnnissen aus der Praxis im In- und Ausland und Einwänden der Gegner gerecht zu werden. Dazu erfolgen unter III. einige Anmerkungen und Vorschläge.3 Der Beitrag schließt mit einem Fazit (IV.). Die Demokratie ist nur lebensfähig, wenn sich kontinuierlich Menschen für das Gemeinwohl einsetzen. Dafür sind Parlamente und Parteien als Institutionen unentbehrlich. Das Plädoyer für mehr direkte Demokratie ist deshalb kein Misstrauensvotum gegenüber der repräsentativen Demokratie und den politischen Parteien an sich. Es geht um eine Ergänzung, nicht um eine Ersetzung. Ziel ist eine „gemischte“ Demokratie.

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Zu Nachweisen vgl. Hermann K. Heußner, Schriftliche Stellungnahme zur Anhörung im Haupt- und im Innenausschuss des Hessischen Landtages am 1. Dezember 2010 zu diversen Gesetzentwürfen zur Reform der Volksgesetzgebung, Anlagen 3 und 4, http://www.hessischerlandtag.de/icc/Internet/med/b5c/b5c30e18 – 1d93 – 8c21-ffec-e8352184e373,11111111-11111111-1111-111111111111.pdf (Zugriff: 15. 2. 2011). 2 Vgl. nur Der Spiegel Nr. 35/2010 v. 30. 8. 2010, S. 64 ff. mit der Titelüberschrift „Die Dagegen-Republik“, oder Sebastian Beck: Frieden für Stuttgart, in: SZ v. 30. 9. 2010, S. 4. 3 Aufgrund der Erfahrungen und Erkenntnisgewinne der letzten 15 Jahre hat Verfasser seit Erscheinen von Hermann K. Heußner: Volksgesetzgebung in den USA und in Deutschland, 1994, zu einigen Fragen der direkten Demokratie seine Ansicht modifiziert.

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II. Zur Notwendigkeit direkter Demokratie auf Bundesebene 1. Selbstbestimmung und rein repräsentative Demokratie Demokratie bedeutet im Kern Selbstbestimmung des Volkes nach der Mehrheitsregel.4 Dem liegt die Überzeugung zugrunde, dass Staatsgewalt als Herrschaft über Menschen nur dann zu rechtfertigen ist, wenn die Staatsgewalt von den Herrschaftsunterworfenen selbst ausgeht. Die Bürger als Gleiche und Freie sollen die Staatsgewalt legitimieren.5 Dies stellt sicher, dass möglichst viele Menschen frei sind, d. h. ihr persönlicher Wille mit dem des Staates, also dem Inhalt der Gesetze übereinstimmt.6 Nur dies ist mit der Menschenwürde zu vereinbaren. Anderenfalls würde die Minderheit herrschen. Frei könnte nur eine Minderheit leben, die Gleichheit aller Bürger wäre aufgehoben. Die Demokratie will also die Freiheit der Bürger auf der Basis der Gleichheit maximieren. Entscheidend ist der Inhalt der Gesetze, der dem Willen der Mehrheit entsprechen muss. Dies ist der Maßstab, an dem demokratische Herrschaft zu messen ist. Auf Bundesebene besteht in Deutschland eine rein parlamentarischen Demokratie. In dieser können die Bürger nur durch Wahlen unmittelbar an der Ausübung der Staatsgewalt mitwirken. Sie können nur Parlamentsabgeordnete bestimmen, die ihrerseits die Gesetze beschließen. Die einzelnen Bürger haben also keinerlei direkten Einfluss auf den Inhalt der Bundesgesetze. Diese werden letztlich allein durch die relativ extrem kleine Anzahl der Bundestagsabgeordneten und ggf. der Vertreter der 16 Bundesländer im Bundesrat beschlossen. Dies führt immer wieder dazu, dass das Parlament eine Gesetzeslage produziert, die augenscheinlich dem Willen der Mehrheit der Bürger nicht entspricht. Dabei kann das Handeln des Parlaments in einem Tun und einem Unterlassen bestehen. Ein besonders prominentes Beispiel für ein Tun ist die Senkung der Mehrwertsteuer für Hotelübernachtungen von 19 auf 7 % durch die Koalition von CDU/CSU und FDP kurz nach ihrem Wahlsieg 2009.7 Dies wurde gegen den Willen der Mehrheit der Bürger durchgesetzt. Denn diese sprachen sich in Umfragen kontinuierlich gegen Steuersenkungen aus.8 Weitere Beispiele für ein dem Mehrheitswillen zuwiderlaufendes Tun 4 BVerfGE 44, 125,141 ff.; 107, 59, 92; Dreier, in: Horst Dreier (Hrsg.): Grundgesetz, Bd. 2, 2. Aufl., 2006, Art. 20 (Demokratie), Rz. 66 ff.; Reinhold Zippelius/Thomas Würtenberger: Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, § 10, Rz. 4, 26. 5 Vgl. Dreier (Fn. 4), Rz. 87. Aktuell Andreas Gross: Mehr Demokratie wagen, in: Cicero 12/2010, S. 74. 6 Vgl. Hans Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie, Neudruck der 2. Aufl. von 1929, 1981, S. 9 f.; Horst Dreier/Fabian Wittreck: Repräsentative und direkte Demokratie im Grundgesetz, in: Lars P. Feld/Peter M. Huber/Otmar Jung/Christian Welzel/Fabian Wittreck (Hrsg.): Jahrbuch für direkte Demokratie 2009, S. 12. 7 Art. 5 des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes, BGBl. 2009 I S. 3953. 8 Vgl. etwa Politbarometer November 2009, http://www.forschungsgruppewahlen.de/Um fragen_und_Publikationen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2009/November/ (Zugriff: 22. 10. 2010); Politbarometer Januar I 2010, http://www.forschungsgruppewahlen.de/Umfra

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lassen sich anführen.9 Ein aktuelles Beispiel für ein dem Mehrheitswillen zuwider laufendes Unterlassen des Bundestages ist die grundsätzliche Ausrichtung der gesetzlichen Krankenversicherung. Eine große Mehrheit der Bürger wünscht nämlich ein einheitliches solidarisches Krankenversicherungssystem, in dem alle Bürger Mitglied sind unter Auflösung der privaten Krankenversicherung.10 Die Regierungsmehrheit hat diese Versicherung jedoch nicht eingeführt. Stattdessen hat sie – ganz im Gegenteil – den Einstieg in ein unbegrenztes „Kopfpauschalen“-System gesetzlich festgeschrieben.11 In den genannten Beispielen besteht am Maßstab der Selbstbestimmung gemessen keine Demokratie sondern Minderheitenherrschaft. Es stellt sich deshalb die Frage, ob insofern nur „Betriebsunfälle“ vorliegen, oder ob das repräsentativdemokratische Instrumentarium der Bürger, indirekt auf die Gesetzesinhalte Einfluss zu nehmen, strukturell so wirkt, dass es unmöglich ist, dem Mehrheitswillen hinreichend zum Durchbruch zu verhelfen. Dann würden sich Lücken demokratischer Selbstbestimmung offenbaren, die politische Ohnmacht der Bürger erzeugen und einen erheblichen Systemmangel der rein repräsentativen Demokratie darstellen. 2. Instrumente der Selbstbestimmung auf Bundesebene Den Bürgern stehen in der rein repräsentativen Demokratie des Bundes im Wesentlichen folgende Instrumente indirekter Einflussnahme auf Bundesgesetze zu: Bundestagswahlen, Ausübung der politischen Grundrechte, Meinungsumfragen, Engagement in Parteien und Wahlen auf über- bzw. untergeordneter Ebene. a) Bundestagswahlen Die Parteien präsentieren vor Wahlen nicht nur Kandidaten, sondern auch Wahlprogramme. Die Wähler treffen deshalb nicht nur Personalentscheidungen, sondern

gen_und_Publikationen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2010/Januar_I/ (Zugriff: 22. 10. 2010); Politbarometer April 2010, http://www.forschungsgruppewahlen.de/Umfra gen_und_Publikationen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2010/April/ (Zugriff: 22. 10. 2010); Politbarometer Juni I 2010, http://www.forschungsgruppewahlen.de/Umfragen _und_Publikationen/Politbarometer/Archiv/Politbarometer_2010/Juni_I/ (Zugriff: 22. 10. 2010). 9 Vgl. u. II.2.a)aa) zur Frage der Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken. 10 Vgl. Klaus Jacobs: Baustellen der Bürgerversicherung, Fachgespräch am 11. 10. 2010, Berlin, Folie 7: 72 % aller Befragten, http://www.gruene-bundestag.de/cms/gesundheit/dok bin/357/357088.praesentation_buergerversicherung_jacobs.pdf (Zugriff: 22. 10. 2010). 11 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit: Wesentliche Regelungen des GKV-Finanzierungsgesetzes, I. u. II., http://www.bmg.bund.de/krankenversicherung/gesundheitsreform/ge setz.html (Zugriff: 16. 2. 2011); dasselbe: Zusatzbeitrag, http://www.bmg.bund.de/krankenver sicherung/gesundheitsreform/zusatzbeitrag.html (Zugriff: 16. 2. 2011); Art. 1 Nr. 17 ff. GKVFinG, BGBl. 2010 I S. 2313 ff.

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votieren indirekt auch für politische Inhalte. Insoweit haben Wahlen einen direktdemokratischen Abstimmungscharakter.12 aa) Programmpakete Allerdings bietet dies keinen hinreichenden Einfluss. Denn die Wähler können durch die Stimme für eine Partei nur die jeweiligen Programme insgesamt, also ganze Programmpakete wählen. Nach Politikbereichen und Themen differenzierte Voten sind nicht möglich.13 Dies „Alles oder Nichts“- Prinzip hat zur Folge, dass sich die inhaltlichen Präferenzen der Bürger in der Wahl nur unvollständig abbilden lassen. Zudem werden viele Fragen nicht präzise angesprochen. Insofern ist die Wahl ein unterkomplexes Instrument. Hier liegt das wesentliche Strukturproblem und Systemdefizit der rein parlamentarischen Demokratie. Die Frage des Ausstiegs aus der Atomenergie, die im Rahmen der letzten Bundestagswahl vom 27. 9. 2009 eine Rolle gespielt hat, illustriert diese Problematik. Es ist nämlich nicht auszuschließen, dass eine Mehrheit der Bürger gegen eine Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken votiert hätte, wenn eine differenzierte Stimmabgabe möglich gewesen wäre. Denn im September 2009 sprachen sich vor der Bundestagswahl in einer von Greenpeace in Auftrag gegebenen Umfrage 60 % gegen die Verlängerung von Restlaufzeiten aus. Immerhin auch 48 % der CDU-Wähler fanden Laufzeitverlängerungen falsch.14 Das Wahlprogramm der Unionsparteien sah jedoch die 12 Klassisch Gerhard Leibholz: Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, S. 104. Weitere Nachweise bei Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 421. Für Leibholz ist die parteienstaatliche Massendemokratie deshalb eine rationalisierte Erscheinungsform der plebiszitären Demokratie, ein Surrogat der unmittelbaren Demokratie im Flächenstaat, vgl. Leibholz, S. 21, 23, 93 f. Allerdings verabsolutiert Leibholz den plebiszitären Parteienstaat, wenn er in diesem für Volksgesetzgebung keine Notwendigkeit oder innere Rechtfertigung mehr sieht, weil allein Parteien in der Lage seien, das Volk zu organisieren, ebenda S. 22 f., 76, 104 f., Fn. 74. Denn zum einen sind nicht nur Parteien fähig, in großen Flächen- und Bevölkerungsstaaten Volksgesetzgebungskampagnen zu organisieren. Dies beweist Kalifornien, so z. B. die breiten Organisationsbündnisse für und gegen Proposition 8, das Volksbegehren gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, das 2008 in Kalifornien zur Abstimmung stand, vgl. Hermann K. Heußner: Direkte Demokratie in den US-Gliedstaaten im Jahr 2008, in: Feld et al. (Fn. 6), S. 185; s. auch derselbe, Aktive Bürgergesellschaft durch bundesweite Volksentscheide? Erfahrungen aus dem Ausland: Das Beispiel USA, in: Gerhard Hirscher/Roman Huber (Hrsg.): Aktive Bürgergesellschaft durch Bundesweite Volksentscheide?, Hanns-Seidel-Stiftung, Akademie für Politik und Zeitgeschichte, 2006, S. 42 f. Außerdem können Volksbegehren, die von Oppositionsparteien getragen werden, die Zustimmung des Volkes finden. Auch der „Paketcharakter“ („mixed issues“) und die „Blankoscheckwirkung“ von Wahlen, also die Ermächtigung zur Entscheidung von Fragen, die zum Zeitpunkt der Wahlen noch nicht erkennbar waren, sollen nach Leibholz Volksgesetzgebung nicht rechtfertigen, Leibholz, S. 107; dazu aber sogleich u. II.2.a)aa) u. ee). Lediglich ein Selbstauflösungsrecht fordert Leibholz, um bei existenziellen Fragen das Votum des Volkes einholen zu können, ebenda S. 105, 107 f. 13 Vgl. Reinhold Zippelius: Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl., 2010, § 23 II 6. 14 Greenpeace e.V. Pressestelle: Greenpeace Umfrage: CDU-Mehrheit für Atomausstieg, http://www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/themen/atomkraft/Emnid_LZV_detail _0909.pdf (Zugriff: 25. 9. 2010). Bei etwas variierter Fragestellung ergeben sich sogar Mehr-

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Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken vor.15 Unionswähler waren also gezwungen, die „Kröte“ der Laufzeitverlängerung „zu schlucken“, wenn sie anderen thematischen Präferenzen, für welche die Unionsparteien im Gegensatz zu SPD, Grünen und Linken standen, zum Durchbruch verhelfen wollten. Ihren Ankündigungen entsprechend, hat die Koalition von CDU/CSU und FDP die Laufzeitverlängerung im Herbst 2010 beschlossen.16 Hätte nicht die „zufällig“ hereinbrechende Atomkraftwerkskatastrophe im japanischen Fukushima vom 11. 3. 2011 die Regierungskoalition dazu bewogen, die Laufzeitverlängerung im Sommer 2011 wieder rückgängig zu machen17, hätte dies dazu geführt, dass – sofern nicht Klagen vor dem BVerfG erfolgreich gewesen wären18 – eine Mehrheit der Bürger nicht entsprechend ihrem Willen, also frei hätte leben können. Es hätte Minderheitenherrschaft bestanden. Das „Alles oder Nichts“- Prinzip verführt die siegreichen Parteien dazu, aus dem Wahlprogramm für ein bestimmtes politisches Ziel auch dann einen „Regierungs-“ oder „Wählerauftrag“ abzuleiten, wenn die Mehrheit der Wähler dieses Programm nicht wegen, sondern trotz dieses Zieles gewählt hat. Dies geschah auch zur Rechtfertigung der Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken.19 Eine solche Argumentation ist jedoch unzulässig. Denn die Wähler werden aufgrund der Unterkomplexität der Wahlen strukturell zu einer undifferenzierten Entscheidung genötigt, sofern sie sich nicht völlig der Wahl enthalten wollen. Die Ableitung eines Wählerauftrages beruht somit auf dem „Verschleierungseffekt pauschaler Entscheidungen (…) Die heiten von 63 % bzw. 52 %, vgl. ebenda. Im Juni 2009 hatten sich noch in einer vom Deutschen Atomforum in Auftrag gegebenen Umfrage 65 % der Befragten dafür ausgesprochen, die Laufzeiten solange zu verlängern, bis deren Stromerzeugung problemlos von erneuerbaren Energien übernommen werden könne, http://www.kernenergie.de/kernenergie/documentpool/ Themen/Umfrage_Kernenergie_DAtF_tnsEmnid_201006.pdf (Zugriff: 25. 9. 2010). – Umfragen stellen nur Momentaufnahmen dar, denen kein geordneter Meinungsbildungsprozess vorausgegangen ist. Daher können sie nur auf mögliche Mehrheiten im Volk hinweisen. Welche „belastbaren“ Mehrheiten tatsächlich zustande kämen, wenn über sie gesondert abgestimmt werden könnte, kann nur in einem geordneten Volksgesetzgebungsverfahren festgestellt werden, vgl. u. II.2.b)bb). 15 Regierungsprogramm 2009 – 2013, verabschiedet in gemeinsamer Sitzung des Bundesvorstandes der CDU und des Parteivorstandes der CSU, Berlin, 28. 6. 2009, S. 25, http://www. cdu.de/doc/pdfc/090628-beschluss-regierungsprogramm-cducsu.pdf (Zugriff: 25. 9. 2010). 16 Vgl. Deutscher Bundestag: Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken zugestimmt, http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2010/32009392_kw43_de_atompolitik/index .html (Zugriff: 17. 2. 2011); Art. 1 Elftes Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes, BGBl. 2010 I S. 1814 f. 17 Vgl. SZ v. 7. 6. 2011, S. 1; Der Spiegel Nr. 12/2011 v. 21. 3. 2011, S. 24 ff., 88 ff. 18 Die Opposition im Bundestag und SPD-geführte Länder hatten Klagen eingereicht, u. a. wegen Verletzung der Zustimmungspflicht des Bundesrates, vgl. SZ v. 1. 3. 2011, S. 5. 19 Vgl. etwa parlamentarische Staatssekretärin im Bundesumweltministerium, Katherina Reiche (CDU), in der Phoenix-Sendung „Unter den Linden“ am 20. 9. 2010: Man habe vor der Bundestagswahl 2009 gegenüber den Wählern ein klares Bekenntnis zur Atomkraft abgegeben: „Wir haben den Regierungsauftrag dafür, und diesen werden wir umsetzen“. http://presse. phoenix.de/news/pressemitteilungen/2010/09/20100920_UDL_Kuhn_Reiche/20100920_UD L_Kuhn_Reiche.phtml (Zugriff: 25. 9. 2010).

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mehrheitliche Billigung eines komplexen Vorschlages, der sich aus mehreren Teilvorschlägen zusammensetzt, erlaubt nicht den Schluss, dass auch jeder der Teilvorschläge mehrheitlich gebilligt ist.“20 Das „Alles oder Nichts“- Problem stellt sich verschärft durch die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft. Die alten politischen Milieus erodieren. Mit einem Parteiprogramm alle wesentlichen politischen Präferenzen einer großen Wählergruppe abbilden zu können, wird deshalb immer illusorischer. Parteibindungen lösen sich daher immer mehr auf. Blindes Vertrauen in die eigene Partei schwindet.21 Wer für schärfere Sicherheitsgesetze ist, muss nicht für weniger Umweltschutz sein. Und wer für höhere Steuern für Reiche eintritt, kann sich auch für eine restriktive Ausländerpolitik aussprechen wollen.22 bb) Wahl anderer/neuer Parteien Das „Alles oder Nichts“-Prinzip macht es für die Wähler, die ein bestimmtes politisches Anliegen haben, häufig auch unzumutbar, auf die Möglichkeit der Wahl einer anderen Partei verwiesen zu werden. Denn mit der Wahl einer anderen Partei muss deren ganze Programmatik bzw. Nichtprogrammatik als Paket in Kauf genommen werden. Dies kann besonders unerträglich sein, wenn alle etablierten Parteien, die sich grundsätzlich bewährt haben, in einer bestimmten Frage eine einheitliche Meinung vertreten. Denn dann bleibt entweder gar keine Wahl, weil keine Partei zur Wahl steht, die das entsprechende Anliegen vertritt. Oder es bleibt nur die Möglichkeit, (z. T. obskure) Einpunkteparteien zu wählen, die zudem objektiv kaum Wahl- bzw. Durchsetzungschancen haben. Als Beispiel können hier die verschiedenen Kleinstparteien dienen, welche die Einführung des Euro verhindern wollten, etwa die sog. „Pro DM“-Partei, die 1998 zu Bundestagswahl antrat,23 oder der „Bund freier Bürger“, der sich allerdings nie an Bundestagswahlen, sondern nur an der Europawahl 1994 und einigen Landtagswahlen beteiligte.24 Die Möglichkeit, bei der nächsten Wahl eine andere Partei wählen zu können, ist im Übrigen häufig auch deshalb nicht zielführend, weil aufgrund der Länge der Legislaturperioden eine Korrektur der Parlamentsentscheidungen zu spät käme.25 20

Zippelius (Fn. 13), § 23 II 6. Vgl. etwa Frank Decker: Parteiendemokratie im Wandel, in: Frank Decker/Viola Neu (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien, 2007, S. 32 ff.; Tilman Weigel: „Keiner will mehr Mitte sein“, Bericht über Sinusstudie, in: SZ v. 22. 9. 2010, S. 18. 22 Vgl. auch Otmar Jung: Möglichkeiten, Chancen und Risiken direkdemoktratischer Mittel im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, unveröffentlichtes Typoskript eines Vortrages, gehalten auf dem Seminar „Demokratie – Wahrheit oder Wunschvorstellung?“ vom 6.–8.11.2009 in Passau, veranstaltet von The European Law Student’s Association (ELSA), S. 22. 23 Hartleb, in: Decker/Neu (Fn. 21), S. 309 f. 24 Hartleb, in: Decker/Neu (Fn. 21), S. 198. 25 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 77 mwN. 21

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cc) Wortbruch Auch soweit die Wahlaussagen der Parteien zumindest einem Teil der wesentlichen politischen Präferenzen der jeweiligen Wähler entsprechen, besteht immer die Gefahr, dass die Parteien nach der Wahl nicht das einhalten oder einhalten können, was sie vor der Wahl versprochen haben. Der Wortbruch ist möglich, weil die Wahlprogramme rechtlich unverbindlich sind.26 Dies müssen sie auch sein, da die Abgeordneten keinen Aufträgen und Weisungen unterliegen, Art. 38 I 2 GG.27 Als folgenschweres Beispiel kommt die 2003 beschlossene Kürzung des Arbeitslosengeldes I in Betracht. Vor der Bundestagswahl vom 22. 9. 2002 hatte die sog. „Hartz-Kommission“ in ihrem am 16. 8. 2002 vorgelegten Bericht empfohlen, dass Höhe und Dauer des Arbeitslosengeldes I im Grundsatz dem bisherigen Regelwerk entsprechen solle.28 Kanzler Schröder erklärte nach Übergabe des Abschlussberichts, die Vorschläge der Kommission seien ein großer Wurf, den er, „so wie er vorliegt“, umsetzen wolle.29 Auch im SPD-Wahlprogramm war von Kürzungen keine Rede.30 In der von Schröder in seiner Regierungserklärung vom 14. 3. 2003 angekündigten „Agenda 2010“ war die Kürzung des Arbeitslosengeldes I jedoch enthalten.31 Sie wurde von der Rot-Grünen Koalition Ende 2003 umgesetzt.32

26 Vgl. Kunig, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, 3. Aufl., 2005, § 40, Rz. 84. 27 Der Wortbruch ließe sich nur verhindern, wenn sich die Parteien vor der Wahl inhaltlich überhaupt nicht positionierten. Aus der Sicht der Wähler hätte dies jedoch noch mehr Nachteile. Denn dann fehlte die inhaltliche Orientierung, die Wähler hätten also noch weniger Einfluss auf die Gesetzesinhalte. Das „Blankoscheck“-Problem würde maximal vergrößert, vgl. u. II.2.a)ee). 28 Kommission zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit: Bericht „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“, Berlin, August 2002, S. 125, 127 f., http://www.ak-sozialpolitik.de/doku/02_politik/hartz_kommission/berichte/ 2002_08_16_gesamt.pdf (Zugriff: 30. 8. 2010). 29 Vgl. Spiegel Online v. 16. 8. 2002, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,15 18,druck-209667,00.html (Zugriff: 29. 9. 2010). Auch von Umsetzung „eins zu eins“ ist die Rede, vgl. Handelsblatt v. 16. 8. 2002, http://www.handelsblatt.com/schroeder-will-hartz-kon zept-1-1-umsetzen/2190476.html (Zugriff: 29. 9. 2010). Zuvor war in der Kommission die Kürzung zwar diskutiert worden. Sie fand jedoch keinen Eingang in den Abschlussbericht. Vgl. näher – auch zur Position Kanzler Schröders – Christine Trampusch: Sozialpolitik in Post-Hartz Germany, 2005, S. 11 f. u. Fn. 19, http://www.mpifg.de/people/tr/PDF/Trampusch%20PostHartz%20Langfassung%20WeltTrends.pdf (Zugriff: 29. 9. 2010); Anke Hassel/Christof Schiller: Die politische Dynamik von Arbeitsmarktreformen in Deutschland am Beispiel der Hartz IV-Reform, Hans-Böckler-Stiftung, 2010, S. 78 f., http://www.boeckler.de/pdf_fof/S2007-996-4-6.pdf (Zugriff: 29. 9. 2010); dieselben: Der Fall Hartz IV, 2010, S. 225 f. 30 SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Erneuerung und Zusammenhalt. Regierungsprogramm 2002 – 2006, S. 26 – 28. 31 Bundestagsplenarprotokoll 15/32 v. 14. 3. 2003, S. 2489. 32 Art. 1 Nr. 2 Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt, BGBl. 2003 I S. 3004.

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dd) Koalitionsbildung Insbesondere droht ein Wortbruch, wenn Koalitionen gebildet werden müssen, weil keine Partei die absolute Mehrheit erreicht hat. Dies ist im Verhältniswahlsystem häufig der Fall und umso wahrscheinlicher, je mehr Parteien sich im Parlament etabliert haben. In einem Fünf-Parteiensystem, wie es in Deutschland mittlerweile weitgehend besteht, ist die Koalition die Regel. Das Problem verschärft sich, wenn sich Parteien zusammen finden, die sich vor der Wahl (in Teilen) als Koalitionspartner abgelehnt haben.33 Ein Beispiel ist hier die Frage der Mehrwertsteuererhöhung im Zusammenhang mit der Bundestagswahl vom 18. 9. 2005.34 Vor der Wahl schloss die SPD eine Mehrwertsteuererhöhung aus.35 CDU und CSU kündigten eine Erhöhung von lediglich 2 %-Punkten an.36 Nach der Wahl erhöhte die Koalition aus Unionsparteien und SPD die Mehrwertsteuer sogar um 3 %-Punkte und beschloss damit die größte Steuererhöhung seit 1949.37 ee) Blankoscheck Zu vielen Themen machen die Parteien vor der Wahl keine oder keine hinreichend präzisen Aussagen. Dies kann einmal der Fall sein, wenn sich zum Zeitpunkt der Wahl 33 Auch im Mehrheitswahlsystem ist der Einfluss der Wähler begrenzt. Zwar fällt die Koalitionsbildung nach der Wahl meist weg, andererseits stehen den Wählern im Wesentlichen von vornherein nur zwei „Programmpakete“ zur Auswahl. Es entstehen „künstliche politische Mehrheiten, denen keine wirkliche Mehrheit in der Wählerschaft entspricht …“, vgl. Dieter Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Aufl., 2009, S. 155, zu Vorzügen von Mehrheits- und Verhältniswahl nach normativem Ansatz. 34 Ein klassisches Beispiel auf Landesebene für einen Wortbruch aufgrund Koalitionsbildung war die geplante Einführung der sechsjährigen Primarschule in Hamburg durch die Koalition von CDU und Grünen nach der Bürgerschaftswahl 2008, vgl. u. III.2.a. u. 4. „Sie war eine politische Sturzgeburt. Nachdem die CDU im Wahlkampf immer wieder den Erhalt der Gymnasien betont hatte und die Grünen mit dem Konzept „neun macht klug“ einer Gemeinschaftsschule punkten wollten, kam aus den Verhandlungen völlig überraschend ein neunmalkluger Kompromiss heraus …“, Matthias Iken: Die Lehren des 18. Juli, Hamburger Abendblatt v. 20. 7. 2010, S. 6. Im Gegensatz zur Bundesebene sieht Hamburg Volksgesetzgebung vor. Die Bürger verwarfen die Pläne der Bürgerschaft im Volksentscheid v. 18. 7. 2010, vgl. u. III.2.a). 35 Vgl. SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Wahlprogramm der SPD „Vertrauen in Deutschland. Das Wahlmanifest der SPD“ v. 4. 7. 2005, S. 39, Ziff. 22, http://www.archive.org/details/Ver trauenInDeutschlandDasWahlmanifestDerSpd (Zugriff: 25. 9. 2010), und entsprechende Wahlkampfslogans auf Plakaten, Flyern und Aufklebern (u. a. „Nein zur Erhöhung der Mehrwertsteuer“), vgl. Carsten Volkery: SPD schließt sich auf Merkel ein, Spiegel Online v. 26. 7. 2005, „http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,366874,00.html (Zugriff: 25.9. 2010). 36 Vgl. Wahlprogramm von CDU/CSU „Deutschlands Chancen nutzen“ v. 11. 7. 2005, Ziff. 1.4, S. 14, http://www.cducsu.de/upload/regierungsprogramm.pdf (Zugriff: 25. 9. 2010). 37 Art. 4 HBeglG 2006, BGBl. 2006 I S. 1403. Vgl. Spiegel Online v. 19. 5. 2006, http:// www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,417118,00.html (Zugriff: 25. 9. 2010).

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bestimmte Fragen noch gar nicht oder nicht in der später aktuell werdenden Form oder Dringlichkeit gestellt und deshalb auch keine Rolle im Wahlkampf gespielt haben bzw. spielen konnten. Zum anderen ist dies denkbar, wenn die Aussagen der Parteien zu im Wahlkampf diskutierten Fragen nicht eindeutig sind, um sich „alle Türen offen zu halten“. Wählt man eine Partei, deren Position nicht bekannt oder nicht eindeutig ist, so ist man gezwungen, dieser für die gesamte Dauer der Legislaturperiode von vier Jahren38 einen „Blankoscheck“ auszustellen.39 Eine ähnlich Wirkung liegt vor, wenn Positionen zwar grundsätzlich bekannt sind, im Wahlkampf jedoch andere Themen dominiert haben. Eine Gemengelage dieser Konstellationen könnte für wesentliche Teile der Agenda 2010 zutreffen. Zwar hatte die Hartz-Kommission ihren Bericht am 16. 8. 2002 gut einen Monat vor der Bundestagswahl vom 22. 9. 2002 vorgelegt. Darin war z. B. auch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe vorgesehen.40 Auch SPD und CDU/CSU etwa hatten dazu Aussagen in ihren Wahlprogrammen gemacht. Präzisierungen fehlten aber u. a. zur Frage der Bedürftigkeit bzw. des Schonvermögens.41 Im letzten Monat vor der Wahl hatte außerdem das Hochwasser im Osten Deutschlands das Thema Arbeitslosigkeit von der öffentlichen Agenda verdrängt. Das Hochwasser und die Irak-Frage waren wahlentscheidend.42 Es ist anzunehmen, dass viele Wähler sich keine oder keine genauen Vorstellungen von dem machen konnten, was nach der Wahl auf sie zukommen würde.

38 Zuweilen wird sogar eine Verlängerung der Legislaturperiode des Bundestages auf fünf Jahre gefordert, z. B. von Bundestagspräsident Norbert Lammert, vgl. SZ v. 6. 4. 2009, S. 6. In den Bundesländern ist dies – abgesehen von Bremen und Hamburg – schon der Fall, vgl. Christian Pestalozza: Einführung, in: Verfassungen der deutschen Bundesländer, 9. Aufl., 2009, Rz. 110. Dort ist dies allerdings weniger problematisch, weil alle Länder – wenn auch in unterschiedlichem Maße – Volksgesetzgebung zur Verfügung stellen. 39 Zu nur unzureichenden Einflussmöglichkeiten zwischen den Bundestagswahlen s. sogleich II.2.b). 40 Kommission (Fn. 28), S. 127 f. 41 SPD-Parteivorstand, Regierungsprogramm 2002 – 2006 (Fn. 30), S. 27; Gemeinsames Wahlprogramm von CDU und CSU für die Bundestagswahl 2002 „Leistung und Sicherheit. Zeit für Taten. Regierungsprogramm 2002/2006, Mai 2002, Abschnitt „Aus Arbeitslosen wieder Arbeitnehmern machen“, http://www.documentarchiv.de/brd/2002/wahlpro gramm_cdu_2002.html (18. 2. 2011). – Zur Leistungshöhe hieß es im SPD-Programm immerhin, „im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau“ zu wollen, vgl. SPD-Parteivorstand, Regierungsprogramm 2002 – 2006 (Fn. 30), S. 27. Allerdings entsprachen dann die später beschlossenen Transferleistungen des neuen Arbeitslosengeldes II regelmäßig doch dem Niveau der Sozialhilfe, vgl. Andreas Hänlein/Florian Tennstedt: Geschichte des Sozialrechts, in: Bernd Baron von Maydell/Franz Ruland/Ulrich Becker (Hrsg.): Sozialrechtshandbuch, 4. Aufl., 2008, § 2, Rz. 105. Zu entsprechender Kritik schon im Vorfeld vgl. etwa Hassel/Schiller, Fall Hartz IV (Fn. 29), S. 272; Birgit Helms: Parteiinterne Kritik am Leitantrag, Stern.de v. 28. 5. 2003, http:// www.stern.de/politik/deutschland/spd-parteiinterne-kritik-am-leitantrag-507754.html (Zugriff: 29. 9. 2010). 42 Vgl. Sven T. Siefken: Die Arbeit der sogenannten Hartz-Kommission und ihre Rolle im politischen Prozess, in: Svenja Falk et al. (Hrsg.): Handbuch der Politikberatung, 2006, S. 384 f.

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b) Einflussnahme zwischen Bundestagswahlen aa) Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit, Versammlungsfreiheit, Petitionsrecht Die Ausübung der politischen Grundrechte ist die klassische Form, in der die Bürger zwischen den Wahlen auf die staatliche Willensbildung und damit indirekt auch auf den Inhalt von Gesetzen in einer rein parlamentarischen Demokratie Einfluss nehmen können.43 Sie sind Elemente unmittelbarer politischer Willensbildung und Demokratie.44 Die Meinungs-, Informations- und Medienfreiheit (Art. 5 I GG) ist für die Demokratie konstituierend.45 Sie ermöglicht, unterschiedliche Inhalte in die politische Willensbildung des Volkes einzuspeisen, zu diskutieren, die Parteien und Abgeordneten gegebenenfalls zu überzeugen und/oder entsprechenden Druck auf diese auszuüben. Die Chancen der Einflussnahme sind um so größer, je massiver die öffentliche Meinung und die Medien sich eines Themas annehmen. Der öffentliche und mediale Druck und damit die demokratische Offenheit werden verstärkt, wenn viele Bürger mit Hilfe der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) Demonstrationen durchführen. Insbesondere die Versammlungsfreiheit gewährleistet so „ein Stück ursprünglicher ungebändigter unmittelbarer Demokratie“.46 Ähnlich ermöglicht das Petitionsrecht (Art. 17 GG) Gesetzgebungsanliegen an den Bundestag heranzutragen. Auf Öffentlichkeitswirksamkeit sind Massenpetitionen einer Vielzahl von Bürgern angelegt.47 Insbesondere die Online-Petition (E-Petition) in Form der öffentlichen Petition ist dazu geeignet: Sofern innerhalb von drei Wochen mindestens 50.000 Bürger eine öffentliche Petition unterstützen, werden in der Regel der Petent oder mehrere Petenten in öffentlicher Sitzung des Petitionsausschusses angehört.48

43 Vgl. etwa Konrad Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., 1999, Rz. 149 ff.; Zippelius (Fn. 13), § 23 II 4; Walter Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 26), § 38, Rz. 11 ff.; Paul Kirchhof: Gutachtliche Stellungnahme zum Antrag der SPD im Landtag von Baden-Württemberg für eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm, 2010, S. 16, http://www.stm.bwl.de/fm7/2028/ 101005_Anlage_Kirchhof_Gutachten.pdf (Zugriff: 27. 10. 2010). 44 Vgl. Hesse (Fn. 43), Rz. 151 a.E.; Zippelius (Fn. 13), § 23 II 4, 5. 45 Vgl. Jarass, in: Hans D. Jarass /Bodo Pieroth: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 11. Aufl. 2011, Art. 5, Rz. 2, 14, 23, 34 jeweils mwN. 46 BVerfGE 69, 315, 346 f.; Hesse (Fn. 43), Rz. 404. 47 Vgl. Bauer, in: Horst Dreier (Hrsg.): Grundgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 17, Rz. 13, 16 f. 48 Deutscher Bundestag, Grundsätze des Petitionsausschusses über die Behandlung von Bitten und Beschwerden (Verfahrensgrundsätze) v. 25. 11. 2009, Ziff. 8.4 IV iVm Ziff. 8.2.1, 7. Spiegelstrich, http://www.bundestag.de/bundestag/ausschuesse17/a02/grundsaetze/verfahrens grundsaetze.html (Zugriff: 15. 1. 2011). Die Sitzungen werden im Parlamentsfernsehen übertragen und sind im Internet abrufbar, vgl. http://www.bundestag.de/bundestag/parlamentsfern sehen/vod/ausschuesse/a02.html (Zugriff: 15. 1. 2011).

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Die Ausübung dieser Grundrechte kann zwar dazu führen, dass Gesetze erlassen werden, die dem Mehrheitswillen entsprechen. Systematisch garantiert ist dies jedoch nicht. Denn zum einen wirkt die Grundrechtsbetätigung nur im Vorfeld der politischen Willensbildung. Sofern die Abgeordneten nicht gewillt sind, den geäußerten Ansichten zu folgen, verharren die Bürger faktisch in der Stellung von „Bittstellern“ oder „politischer Bettelei“.49 Zum anderen lässt das politisch Engagement vieler Bürger für eine Sache nicht den Schluss zu, dass dies dem Mehrheitswillen entspricht. Vielmehr ist denkbar, dass es sich um aktive Minderheiten handelt, die Anliegen vertreten, welche diese Minderheiten besonders intensiv empfinden. Dies gilt insbesondere für die häufige Teilnahme an Demonstrationen. Deren Zeitaufwand kann für „Durchschnittsbürger“, die gegebenenfalls eine gegenteilige Meinung haben, unzumutbar sein. Die Ausübung politischer Grundrecht kann eine Abstimmung also nicht ersetzen. bb) Demoskopie Eine besondere Form der Ausübung der Kommunikationsgrundrechte und der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 I, III GG) sind Meinungsumfragen. Sie spielen eine bedeutsame Rolle für die Rückkopplung der Parteien und Abgeordneten an die im Volk vertretenen Auffassungen. Parteien und Abgeordneter reagieren sensibel auf die jeweils festgestellten Werte.50 Im Unterschied zu anderen Einwirkungsmöglichkeiten der Bürger haben repräsentative Meinungsumfragen den Vorteil, dass sie die Mehrheitsauffassungen differenziert abbilden können. Auch sie sind jedoch unverbindlich. Insbesondere sind sie nur flüchtige Momentaufnahmen, denen kein geordneter Meinungsbildungsprozess vorausgegangen ist. Daher können sie nur auf mögliche Mehrheiten im Volk hinweisen. Welche „belastbaren“ Mehrheiten tatsächlich zustande kämen, wenn über die jeweiligen Fragen in einem Volksentscheid abgestimmt werden könnte, kann jedoch nur in einem geordneten Volksgesetzgebungsverfahren festgestellt werden.51 Meinungsumfragen können Volksabstimmungen also ebenfalls nicht ersetzen.52 cc) Vereinigungsfreiheit Dasselbe gilt für die Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG), die für eine Demokratie ebenso konstituierend ist wie die bereits behandelten Grundrechte. In einer pluralistischen Gesellschaft ermöglicht sie den Bürgern, die sich in den unterschiedlichsten Vereinen, Verbänden, Gesellschaften und Initiativen zusammenschließen, ihre Anlie-

49 Dies kommt im Ausdruck des „Petenten“ im Rahmen des Petitionsrechts schon sprachlich zum Ausdruck, da Petenten nicht nur „Fordernde“, sondern auch „Bittsteller“ sind. 50 Vgl. Zippelius (Fn. 13), § 23 II 4, 5, 6. 51 Vgl. schon o. Fn. 14. 52 Vgl. näher Hans Herbert v. Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie, 2000, S. 194 f.

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gen organisiert in die politische Willens- und Entscheidungsbildung einzubringen.53 Sie eröffnet damit ebenfalls Chancen, zwischen den Wahlen auf die Gesetzgebung einzuwirken. Ob die Abgeordneten den organisierten Anliegen und Interessen folgen, ist jedoch ebenfalls nicht garantiert. Noch schwerer wiegt jedoch: Gerade dann, wenn sie bestimmten, häufig nur Partikularinteressen darstellenden Forderungen der faktisch sehr unterschiedlich starken Lobbygruppen mit ihrem zuweilen auch verdeckten Einfluss auf Ministerialbürokratie, Parlament und Parteien nachkommen, ist sehr fraglich, ob dies den Mehrheitswünschen im Volk entspricht.54 dd) Parteienfreiheit Es scheint auf Hand zu liegen, dass die Bürger mit Hilfe der Parteienfreiheit (Art. 21 GG) im Parteienstaat des Grundgesetzes durch parteipolitisches Engagement die Chance haben, auch zwischen den Wahlen auf die Gesetzgebung einzuwirken.55 Denn die Parteien sind Zwischenglieder zwischen den Bürgern und den Staatsorganen, die als Mittler den Bürgerwillen auch zwischen den Wahlen verwirklichen können.56 Die Parteien sind deshalb „Sprachrohre“ des Volkes,57 die über ihre Fraktionen im Bundestag die Gesetze bestimmen. Auch dieser Einwirkungskanal ist jedoch unzureichend. Abgesehen davon, dass Parteibeschlüsse aufgrund des freien Mandats (Art. 38 GG) für die Bundestagsabgeordneten rechtlich unverbindlich sind,58 ist es für Bürger, die sich nicht mit dem Gesamtprogramm einer Partei identifizieren können, unzumutbar, einer Partei nur deshalb beizutreten und diese u. a. aufgrund des Mitgliedsbeitrages insgesamt zu unterstützen, wenn nur eine oder einige Sachfragen betrieben werden sollen. Aber selbst wenn Bürger einer Partei beitreten, ist parteipolitisches Engagement mit dem Ziel, die Beschlusslage einer Partei auf Bundesebene inhaltlich zu beeinflussen, faktisch so gut wie unmöglich. Denn die innerparteiliche Willensbildung der Parteien basiert im Wesentlichen auf rein repräsentativen Delegiertensystemen.59 Dies bedeutet, dass die inhaltliche Mitwirkung des einfachen Mitglieds über die verschiedenen Parteiebenen hinweg fast vollständig „versickert“. Nur Parteimitglieder, die Bundesparteitagsdelegierte sind, können inhaltlich an Bundesbeschlüssen mitbestimmen, während Parteimitglieder, die nicht Bundesparteitagsdelegierte sind, insoweit keinerlei 53

Vgl. Hesse (Fn. 43), Rz. 409, 151; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Fn. 45), Art. 9, Rz. 1 mwN; Bauer, in: Dreier (Fn. 47), Art. 9, Rz. 20, 23 ff., 38 ff. mwN. 54 Zum Eindruck der Dominanz von Partikularinteressen mit Hilfe des Lobbyismus vgl. nur Thomas Leif: Von der Symbiose zur Systemkritik, in: APuZG 19/2010, S. 3 ff.; v. Arnim (Fn. 52), S. 195 ff. Aus der Perspektive eines Bundestagsabgeordneten vgl. Marco Bülow: Wir Abnicker, 2. Aufl. 2010, S. 154 ff. 55 Vgl. Hesse (Fn. 43), Rz. 151. 56 BVerfGE 44, 125, 145. 57 Leibholz (Fn. 12), S. 76. 58 Vgl. Morlok, in: Dreier (Fn. 4), Art. 38, Rz. 146; Kunig, in: Isensee/Kirchhof (Fn. 26), § 40, Rz. 86; vgl. schon o. II.2.a)cc) speziell zu Wahlprogrammen der Parteien. 59 Dies gilt jedenfalls für die Volksparteien, s. sogleich.

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Mitentscheidungsrecht besitzen. Die Wahrscheinlichkeit, Bundesparteitagsdelegierter zu werden, geht für ein „Durchschnittsparteimitglied“ jedoch gegen Null. Für ein SPD-Mitglied beträgt sie z. B. zur Zeit rechnerisch lediglich 0,09 %.60 Die Chance auf Bundesebene mitentscheiden zu dürfen, kann nur durch ein äußerst hohes, viele Jahre dauerndes, kontinuierliches, über die verschiedenen Stufen der Parteigliederungen führendes Engagement gesteigert werden. Ein solcher Einsatz ist für die meisten Bürger nicht darzustellen und unzumutbar, insbesondere wenn sie in der Familienphase stehen.61 Dies trägt dazu bei, dass die Delegierten auf Bundesparteitagen keinen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung bilden. Dies lässt erwarten, dass die Bundesbeschlüsse der Parteien häufig vom Mehrheitswillen des Gesamtvolkes abweichen. Der „Versickerungs- und Verfälschungsmechanismus“ des Delegiertensystems ließe sich abmildern, wenn die Parteien anwendungsfreundliche Mitgliederbegehren und Mitgliederentscheide einführen würden. Dies ist in den großen Volksparteien bisher jedoch nicht geschehen. Die Unionsparteien sehen Mitgliederbegehren und Mitgliederentscheid gar nicht vor.62 Selbst die SPD, die Mitgliederbegehren und -entscheid auf Bundesebene bereits 1993 eingeführt hat,63 fordert bisher für ein Mitgliederbegehren die Unterschriften von 10 % aller Parteimitglieder und für einen erfolgreichen Mitgliederentscheid die Zustimmung von einem Drittel aller Mitglieder.64 Wenn man davon ausgeht, dass an örtlichen Parteiversammlungen in der Regel nur 10 – 15 % aller Mitglieder teilnehmen, wird deutlich, dass diese Quorumshöhen prohibitiv hoch sind.65 In fast 20 Jahren konnte bisher nicht ein einziges Mal die notwendige Anzahl von Unterschriften gesammelt werden.66 60 Bei einer Gesamtmitgliedschaft von 512.520 (Stand: 31. 12. 2009), vgl. Oskar Niedermayer: Die Entwicklung der Parteimitgliedschaften von 1990 bis 2009, in: ZParl. 2010, S. 425, und 480 gewählten Bundesparteitagsdelegierten, vgl. § 15 I Nr. 1 S. 1 Organisationsstatut der SPD (Stand: 14. 11. 2009), http://www.spd.de/linkableblob/1852/data/Organisationsstatut.pdf (Zugriff: 23. 1. 2011). 61 Privilegiert sind „Zeitreiche“, neben Berufspolitikern (im Hinblick auf politisches Engagement) vor allem Rentner und Kinderlose. Diese Gruppen sind auch in der Parteimitgliedschaft schon überrepräsentiert. Zur Überrepräsentation der älteren Altersgruppen in den Parteimitgliedschaften vgl. Niedermayer, Parteimitgliedschaften (Fn. 60), S. 423, 432, 434. Die Chance, Bundesparteitagsdelegierter zu werden, ist für „Durchschnittsbürger“ somit noch weit geringer als die durchschnittlichen 0,09 %. 62 Sie gestatten lediglich eine Mitgliederbefragung, § 6a Statut der CDU, Stand: 4. 12. 2007, http://www.cdu.de/doc/pdfc/080121-CDU-statut.pdf (Zugriff: 19. 2. 2011); § 7 Satzung der CSU, Stand: 29. 10. 2010, http://www.csu.de/dateien/partei/partei/satzung/100930_satzung _komplett.pdf (Zugriff: 19. 2. 2011). 63 Vgl. § 9 S. 3, § 11 II a, § 39 a, § 39 b Organisationsstatut, abgedruckt in: Vorstand der SPD (Hrsg.), Politik, Organisationspolitik, Satzungsänderungen, Beschlüsse des SPD-Parteitages, Wiesbaden, 16.–19. November 1993, S. 6 f.; Elmar Wiesendahl: Mitgliederparteien am Ende?, 2006, S. 155. 64 Vgl. § 13 III 3, IV 2 Organisationsstatut (Fn. 60). 65 Die FDP verlangt lediglich 5 % der Mitglieder für ein Mitgliederbegehren und ein Beteiligungsquorum von einem Drittel der Mitgliedschaft im Mitgliederentscheid, § 21 Bundes-

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Aber auch anwendungsfreundliche Regelungen von Mitgliederbegehren und Mitgliederentscheid in den Bundestagsparteien können Volksentscheide nicht ersetzen. Denn die Mehrheitsverhältnisse zu einer Sachfrage im Volk einerseits und in den jeweiligen Mitgliedschaften der unterschiedlichen Parteien andererseits, müssen nicht identisch sein, so dass auch dann, wenn die Fraktionen den Ergebnissen etwaiger Mitgliederentscheide jeweils folgen sollten, im Bundestag andere Mehrheiten zustande kommen können als dies in einem Volksentscheid der Fall wäre. Denn die Mitgliedschaften der Parteien bilden insgesamt keinen Querschnitt der stimmberechtigten Bevölkerung, geschweige denn, dass sich in allen Parteien jeweils ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung bzw. der sich an Volksentscheiden beteiligenden Bürger wiederfinden würde.67 ee) Landtagswahlen Im Bundesstaat bzw. Staatenverbund können auch Wahlen der gegenüber dem Bund unteren und ggf. übergeordneten Ebenen als sog. „Second Order“-Wahlen (u. a.) zu Abstimmungen über bundespolitische Sachfragen geraten. Insbesondere die Wahlentscheidungen bei Landtagswahlen werden durch eine Mischung aus bundes- und landespolitischen Erwägungen bestimmt.68 Der mit solchen „Mischwahlen“ verbundene Nachteil besteht darin, dass das „Alles oder Nichts“-Prinzip von Wahlen durchschlägt und Landesaspekte disfunktional an Bedeutung verlieren können bzw. Landesregierungen aus bundespolitischen Erwägungen abgewählt werden, weil kein direktdemokratischer Hebel zur Verfügung steht, der die Entscheidung isoliert und sachgerecht auf der Bundesebene ersatzung, http://www.fdp-bundespartei.de/files/363/Bundessatzung-2010.pdf (Zugriff: 19. 2. 2011). Die Grünen fordern ebenfalls nur 5 % der Mitglieder für einen Antrag auf Urabstimmung, § 24 II Nr. 1 Satzung des Bundesverbandes Bündnis 90/Die Grünen, http://www.gruenepartei.de/cms/files/dokbin/32/32483.die_satzung_von_buendnis_90die_gruenen.pdf (Zugriff: 19. 2. 2011). Die Linke fordert 5.000 Unterschriften für ein Begehren und die Beteiligung von 25 % der Mitglieder am Entscheid, § 8 Bundessatzung der Partei Die Linke, http://die-linke.de/ partei/dokumente/bundessatzung_der_partei_die_linke/ (Zugriff: 19. 2. 2011). 66 Bisher gab es zwei Versuche, Mitgliederbegehren durchzuführen: 2003 gegen die „Agenda 2010“ und 2009 gegen die Bahnprivatisierung. Für das Mitgliederbegehren gegen die „Agenda 2010“ waren ca. 3 % Unterschriften zusammen gekommen, vgl. n-tv.de v. 15. 6. 2003, http://www.n-tv.de/politik/Faktisches-Aus-beschlossen-article107540.html (Zugriff: 30. 9. 2010). Für das Mitgliederbegehren gegen die Bahnprivatisierung wurden bis zum Ablauf der dreimonatigen Sammelfrist ca. 5 % Unterschriften gesammelt, so telefonische Auskunft von Roland Fischer, dem Initiator des Mitgliederbegehrens, an Verfasser v. 26. 5. 2009. 67 Zu den Disparitäten zwischen Parteimitgliedschaften und Bevölkerung im Hinblick auf Alter, Geschlecht und Konfession vgl. Niedermayer, Parteimitgliedschaften (Fn. 60), S. 423 f., 430, 432, 434 ff. 68 Vgl. etwa Klaus Detterbeck: Zusammenlegung von Bundes- und Landtagswahlen?, Bertelsmann Stiftung 2006, S. 8 ff., 24 mwN, http://www.bertelsmann-stiftung.de/bst/de/ media/xcms_bst_dms_16913__2.pdf (Zugriff: 20. 2. 2011); Kerstin Völkl: Reine Landtagswahlen oder regionale Bundestagswahlen?, 2009. Vgl. auch Nachweise bei Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 77, Fn. 273.

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möglicht. Ein Beispiel könnte die hessische Landtagswahl von 1999 sein.69 Im Wahlkampf hatte die von der rot-grünen Bundesregierung geplante doppelte Staatsbürgerschaft – also ein Bundesthema – eine wesentliche Rolle gespielt. Die Ablehnung des „Doppelpasses“ war für viele Wähler, die von der SPD zur CDU wechselten, entscheidend gewesen.70 Wenn sich mit der Abwahl einer Landesregierung aus bundespolitischen Gründen die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat entscheidend ändern, hat das quasiplebiszitäre Votum der Landeswähler einen hohen Wirkungsgrad auf Bundesebene. Dies war 1999 aufgrund der hessischen Landtagswahl der Fall. Denn in Folge des Regierungswechsels verloren die SPD-dominierten Länder ihre Mehrheit im Bundesrat. Dies veranlasste die Bundesregierung, sich auf eine zeitlich befristete doppelte Staatsbürgerschaft als Kompromiss einzulassen.71 Vielfach ist ein solcher Wirkungsgrad jedoch nicht zu erzielen. Denn es stehen nicht immer dann Landtagswahlen an, wenn Bundesthemen „auf den Nägeln brennen“ und nicht bei jeder Landtagswahl steht die Bundesratsmehrheit „auf der Kippe“. Im Übrigen sind überhaupt nur ca. 40 – 50 % aller Bundesgesetze im Bundesrat zustimmungspflichtig.72 Schließlich können Landtags- und Kommunalwahlen Volksentscheide auf Bundesebene schon deshalb nicht ersetzen, weil in diesen Wahlen immer nur Teile des Bundesvolkes ein Votum abgeben. 3. Ergänzung des repräsentativen Systems um Volksgesetzgebung a) Objektiver Systemmangel und Notwendigkeit von Volksgesetzgebung Wie sich gezeigt hat, ist das repräsentativdemokratische Instrumentarium nicht ausreichend, um sicher zu stellen, dass die Gesetze dem Mehrheitswillen der Bürger entsprechen und damit dem Maßstab der politischen Selbstbestimmung genügen. 69

Die Landtagswahlen vom 27. 3. 2011 in Baden-Württemberg als Abstimmung über die zivile Nutzung der Atomenergie dürften ein weiteres Beispiel darstellen. 58 % der CDU-Abwanderer gaben Umwelt/Energiepolitik als wahlentscheidendes Thema an, vgl. Kristina Kaul: Energiepolitik entschied Landtagswahl. Tagesschau.de, 27. 3. 2011, http://www.tagesschau.de/ inland/werwaswarumbwrp100.html (Zugriff: 15. 6. 2011); Tagesschau-Wahlarchiv, http://stat. tagesschau.de/wahlen/2011-03-27-LT-DE-BW/umfrage-wahlentscheidend.shtml (Zugriff: 15. 6. 2011); s. auch Nico Fried: Die kleine Bundestagswahl, in: SZ v. 26./27. 3. 2011, S. 4. 70 Vgl. näher Rüdiger Schmitt-Beck: Die hessische Landtagswahl vom 7. Februar 1999: Der Wechsel nach dem Wechsel, in: ZParl 2000, S. 12 ff. Nach Völkl (Fn. 68), S. 241 soll die Zufriedenheit mit der Bundesregierung jedoch so gut wie keine Rolle für die Erklärung des Landtagswahlverhaltens von Bürgern spielen, die in Umfragen angeben, entweder für die CDU oder die SPD votieren zu wollen. 71 Vgl. Schmitt-Beck (Fn. 70), S. 15. 72 Vgl. Roland Preuß: Macht der Länder ist ungebrochen, in: SZ v. 15./16. 5. 2010, S. 6.

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Deshalb ist die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene objektiv notwendig. Erst eine solche Volksgesetzgebung versetzt die Bürger in die Lage, unabhängig von Parteien und Abgeordneten Gesetzesinhalte selbst jederzeit auswählen und im Rahmen eines für Durchschnittbürger zumutbaren zeitlichen und inhaltlichen Engagements verbindlich entscheiden zu können. Das Volk kann auf diese Weise Parlamentsgesetze verwerfen („Bremse“) und neue Inhalte beschließen („Gaspedal“).73 Dadurch kann ein Beitrag zur Behebung des repräsentativdemokratischen Systemdefizits geleistet und die Selbstbestimmung des Volkes maximiert werden.74 Diese theoretischen Überlegungen entsprechen auch den Erfahrungen, die in Staaten mit direktdemokratischer Praxis gemacht wurden. Denn empirische Untersuchungen zeigen, dass in der Schweiz und US-Gliedstaaten direkte Demokratie Lösungen hervorbringt, die näher an den Präferenzen der Bevölkerung liegen.75 b) Subjektive Wahrnehmung der real existierenden Demokratie Eine direktdemokratische Ergänzung des rein parlamentarischen Systems wäre nicht dringlich, wenn die Bürger in Deutschland mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden wären. Dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr sind zwischen 54,6 und 73,5 % der Meinung, dass sie keinen Einfluss auf das Regierungshandeln haben.76 25 % wollen mit der Demokratie, wie sie in Deutschland heute besteht, nichts zu tun haben. Weitere 34 % stimmen dem zwar nicht zu, können diese Aussage aber nachvollziehen.77 In den zehn Jahren von 2000 bis 2009 waren auf der Basis der Umfragewerte des Eurobarometers durchschnittlich nur 61 % mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland „alles in allem gesehen“ funktioniert, sehr bzw. ziemlich zufrieden.78 2008 zeigten sich in Umfragen gar nur 44 % mit dem Funktionieren 73 Die Bezeichnungen „Bremse“ und „Gaspedal“ stammen aus der Schweiz. Dabei hat das fakultative Gesetzesreferendum die Funktion der Bremse und die Volksinitiative die Funktion des Gaspedals, vgl. Wolf Linder: Schweizerische Demokratie, 2. Aufl., 2005, S. 264. 74 Freilich stellt auch Volksgesetzgebung insofern ein nichtidentitäres Verfahren dar, als das Volk als Ganzes auch in Verfahren direkter Demokratie darauf beschränkt ist, mit Annahme oder Verwerfung auf eine ihm von einer Gruppe vorgegebene Frage zu antworten. Insofern kann man davon sprechen, dass auch Volksgesetzgebung Repräsentationscharakter hat, so Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 72 f. Die Defizite der rein parlamentarischen Repräsentation werden jedoch minimiert. 75 Vgl. Gebhard Kirchgässner: Direkte Demokratie, 2010, S. 12, 23 mwN, http://www.vwa. unisg.ch/RePEc/usg/dp2010/DP-1026-Ki.pdf (Zugriff: 1. 10. 2010); Gebhard Kirchgässner/ Lars P. Feld/Marcel R. Savioz: Die direkte Demokratie, 1999, S. 115 ff., 139 mwN. 76 Vgl. Wilhelm Heitmeyer: Disparate Entwicklungen in Krisenzeiten, Entsolidarisierung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, in: derselbe: Deutsche Zustände, Folge 9, 2010, S. 27. In 2009 waren es zwischen 57,1 und 74,3 %, vgl. SZ v. 4. 12. 2009, S. 2. 77 Vgl. Serge Embacher: Demokratie! Nein Danke?, 2009, S. 70, bezogen auf eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2008. 78 Vgl. Eurobarometer, für 2000: EB 54.1; 2001: EB 56.2; 2002: EB 58.1; 2003: Durchschnitt von EB 59.1 und EB 60.1; 2004: Durchschnitt von EB 61 und EB 62; 2005: EB 63.4; 2006: nicht berücksichtigt, da nur Wert für Deutschland, vgl. Daten für Schweiz , Fn. 82; 2007:

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zufrieden,79 2010 waren es in einer Umfrage für die Friedrich-Ebert-Stiftung 46 %.80 Die Bürger nehmen die objektiv bestehende, strukturelle politische Ohnmacht wahr. Folgerichtig fordern große Mehrheiten den Volksentscheid auf Bundesebene, zuletzt 79 %.81 Die Zufriedenheitswerte Deutschlands stehen in starkem Kontrast zu den Werten in der Schweiz. Dort waren in den zehn Jahren von 2000 bis 2009 auf der Basis des Eurobarometers Schweiz und ähnlicher Erhebungen durchschnittlich 83 % mit dem Funktionieren der Demokratie sehr bzw. ziemlich zufrieden.82 Diese Werte haben vor allem mit der direkten Demokratie zu tun.83 Denn in der Schweiz besteht ein ausgebautes System direkter Demokratie auf allen drei Ebenen des Staates.84 Dies führt dazu, dass 77 % der Schweizer der Auffassung sind, dass direkte Demokratie eine stabile und ausgewogene Politik produziert, und mehr als zwei Drittel, dass die Behörden (Staatsorgane) in der Schweiz mehr auf das Volk hören als anderswo. Dementsprechend verneinen 79 %, dass es die Volksrechte (direkte Demokratie) nicht brauche, da die Volksvertreter im Interesse des Volkes entscheiden.85 Folgerichtig EB 68.1; 2008: keine Daten; 2009: EB 72.4, http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/ eb_arch_en.htm (Zugriff: 16. 5. 2010); eigene Berechnungen. 79 Vgl. Oskar Niedermayer: Bevölkerungseinstellungen zur Demokratie, in: ZParl 2009, S. 393. 80 Vgl. Oliver Decker/Marliese Weißmann/Johannes Kiess/Elmar Brähler: Die Mitte in der Krise, Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010, 2010, S. 100, http://library.fes.de/ pdf-files/do/07504.pdf (Zugriff: 25. 1. 2011). 81 Forsa Umfrage von Ende Oktober 2010, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ 0,1518,728640,00.html (Zugriff: 3. 12. 2010). Im Juli 2010 waren es 76 %, vgl. infratest-dimap, http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/grosse-mehr heit-fuer-mehr-volksentscheide-knappe-mehrheit-erwartet-dass-schwarz-gelb-durchhaelt/ (Zugriff: 26. 9. 2010). Vgl. auch Vertrauen in Deutschland. Eine qualitative Wertestudie der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2009, insbesondere S. 7, 11, wo eine besondere Wertschätzung der Bürger für direkte Demokratie deutlich wird, http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/ xbcr/SID-69D07EDE-891 A6F88/bst/Vertrauensstudie_BST_2009.pdf (Zugriff: 6. 1. 2010). 82 Vgl. Eurobarometer in der Schweiz, für 2000: EBCH 2000; 2001/2002: EBCH 2001; 2002/2003: EBCH 2002; 2003: EBCH/ISSP 2003; 2004/2005: ESSCH 2004; 2005: MOSAiCH/ISSP04/05; 2006: keine Daten für Schweiz; 2007: MOSAiCH 2007; 2008: keine Daten; 2009: MOSAiCH 2009, http://fors-nesstar.unil.ch/webview/index.jsp (Zugriff: 11. 9. 2010); eigene Berechnungen. In 2004/2005 und 2005 wurde der Wert der neutralen Kategorie 5, die nur in diesen Umfragen enthalten ist, jeweils zur Hälfte den positiven bzw. negativen Bewertungen zugeschlagen. 83 Vgl. Claude Longchamp/Bianca Rousselot: Bürger und Politik in der Schweiz, in: Oscar W. Gabriel/Fritz Plasser: Deutschland, Österreich und die Schweiz im neuen Europa, 2010, S. 248. 84 Vgl. Linder, Schweizerische Demokratie (Fn. 73), S. 158 f., 162 f., 241 ff., 333 ff.; Adrian Vatter: Direkte Demokratie in der Schweiz, in: Markus Freitag/Uwe Wagschal (Hrsg.): Direkte Demokratie, 2007, S. 71 ff.; Hermann K. Heußner/Otmar Jung: Die direkte Demokratie in der Schweiz, in: Hermann K. Heußner/Otmar Jung (Hrsg.): Mehr direkte Demokratie wagen, 2.Aufl., 2009, S. 115 ff. 85 Vgl. Longchamp/Rousselot (Fn. 83), S. 248 f.; gfs.bern: Direkte Demokratie, Bevölkerungsbefragung bei 1021 Stimmberechtigten, Juni 2007.

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sind 89 % sehr bzw. ziemlich stolz auf die Volksrechte86 und gehören diese zu den populärsten Teilen der politischen Kultur der Schweiz.87 III. Zur Ausgestaltung von Volksgesetzgebung auf Bundesebene Volksgesetzgebung ist so auszugestalten, dass sie sich in den grundgesetzlichen Rahmen des demokratischen Rechtsstaats einfügt, Erfahrungen, insbesondere aus der Schweiz und den US-Gliedstaaten, wo es eine über hundertjährige volksgesetzgeberische Praxis gibt,88 aufnimmt und so möglichen Einwänden89 Rechnung trägt. Im Folgenden wird auf einige Regelungskomplexe eingegangen, nämlich auf Fragen des Rechtsstaats, des Verhältnisses von Volks- und Parlamentsgesetzgebung, der Regulierung finanzieller Macht und der Abstimmungsbeteiligung von Unterschichtsangehörigen. 1. Rechtsstaat a) Aktuelle Volksentscheide in der Schweiz und in Kalifornien Die Kalifornier haben 2008 im Rahmen einer Verfassungsinitiative (Proposition 8) mit 52,3 % Ja-Stimmen in ihre Landesverfassung die Bestimmung aufgenommen, dass nur die Ehe zwischen Mann und Frau rechtlich anerkannt wird. Sie hoben damit die Wirkung eines zuvor ergangenen Urteils des kalifornischen Supreme Courts auf, wonach die Vorenthaltung der Ehe für homosexuelle Paare gegen das

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gfs bern: Schlussbericht zum Spezialteil des Sorgenbarometers 2009 im Auftrag vom Bulletin der Credit Suisse, S. 9, http://www.gisi.ch/fileadmin/Dateien/PDF/Economy/ 49112_IdentitaetCH_Bericht.pdf (Zugriff: 15. 12. 2009). 87 Vgl. Wolf Linder: Direkte Demokratie, in: Ulrich Klöti/Peter Koepfel/Hanspeter Kriesi/ Wolf Linder/Yannis Papadopoulos/Pascal Sciarini: Handbuch der Schweizer Politik, 4. Aufl., 2006, S. 119. 88 Vgl. Nachweise Fn. 84; Silvano Möckli: Direkte Demokratie in den Gliedstaaten der USA, in: Freitag/Wagschal (Fn. 84), S. 19 ff.; Hermann K. Heußner: Mehr als ein Jahrhundert Volksgesetzgebung in den USA, in: Heußner/Jung, Demokratie (Fn. 84), S. 135 ff.; derselbe: US-Gliedstaaten 2008 (Fn. 12), S. 165 ff.; derselbe, Volksgesetzgebung (Fn. 3). 89 Vgl. aus neuerer Zeit etwa Sebastian Müller-Franken: Die Geister, die ich rief. Zu Risiken und Nebenwirkungen von Plebisziten, in: Horst Meier/Gerhard Panzer (Hrsg.): Direkte Demokratie im Grundgesetz?, Hofgeismarer Protokolle, Bd. 353, 2010, S. 45 ff.; Christoph Schwennicke: Wo es brodelt, Spiegel Online v. 1. 12. 2009, http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/0,1518,664646,00.html (Zugriff: 2. 12. 2009); Heinrich Wefing: Volkes wahre Stimme, in: Die Zeit v. 10. 12. 2009, S. 1; Josef Joffe: Wie Schnaps, in: Die Zeit v. 22. 7. 2010, S. 4. Zur Widerlegung typischer Einwände vgl. etwa Otmar Jung: Direkte Demokratie in Deutschland, in: Vorgänge 2010, S. 100 ff.; Gerd Habermann/Diana Schaal: Pro und Contra direkte Demokratie, in: Heußner/Jung, Demokratie (Fn. 84), S. 431 ff.

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Grundrecht auf Ehe und das Diskriminierungsverbot der kalifornischen Verfassung verstoße.90 Die Schweizer beschlossen 2009 in einem Volksentscheid eine Änderung der Bundesverfassung (BV) mit 57,5 % Ja-Stimmen, die den Bau von Minaretten verbietet. Sie schränkten damit zu Lasten von Muslimen die Religionsfreiheit, das Diskriminierungsverbot und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein. Gleichzeitig verstößt das Bauverbot gegen die in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und in dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR/ UNO-Pakt II) garantierte Religionsfreiheit und das in diesen Verträgen niedergelegte Diskriminierungsverbot.91 Nur ein Jahr später beschlossen die Schweizer 2010 im Rahmen einer Verfassungsinitiative mit einer Mehrheit von 52,9 %,92 dass Ausländer ohne Ermessensspielraum der Behörden auszuweisen sind, wenn sie bestimmte Delikte begangen haben, so z. B. auch bei missbräuchlichem Bezug von Leistungen der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe. Das Ausweisungsgebot schränkt nicht nur den verfassungsmäßig garantierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein, sondern verstößt u. a. auch gegen das in der EMRK und im IPbpR/UNO-Pakt II geschützte Recht auf Familienleben, in das nur verhältnismäßig eingegriffen werden darf. Die Automatik der Ausweisung verstößt außerdem gegen die UN-Kinderrechtskonvention und das Freizügigkeitsabkommen der Schweiz mit der EU.93 b) Rechtsstaatliche Ausgestaltung in Deutschland Diese Volksentscheidresultate zeigen, dass Volksgesetzgebung in Konflikt mit rechtsstaatlichen Prinzipien, insbesondere dem Minderheitenschutz geraten kann.94 Es stellt sich deshalb die Frage, ob bei Einführung von Volksgesetzgebung auf Bun90

Vgl. näher Heußner, US-Gliedstaaten 2008 (Fn. 12), S. 183 ff. Vgl. Hermann K. Heußner: Minarettverbot in der Schweiz: Argument gegen Volksentscheide in Deutschland?, in: RuP 2010, S. 19 f. 92 Schweizerische Bundeskanzlei: Volksabstimmung v. 28. 11. 2010, vorläufige amtliche Endergebnisse, http://www.admin.ch/ch/d/pore/va/20101128/det552.html (Zugriff: 18. 1. 2011). Der Gegenvorschlag des Parlaments erreicht nur 45,8 % Ja-Stimmen. 93 Vgl. Schweizerischer Bundesrat: Botschaft zur Volksinitiative „für die Ausschaffung krimineller Ausländer (Ausschaffungsinitiative)“ und zur Änderung des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer, BBl. 2009, S. 5107 ff., http://www.admin.ch/ch/d/ff/2009/ 5097.pdf (Zugriff: 28. 1. 2011). Vgl. auch NZZ, int. Ausg. v. 29. 11. 2010, S. 23; v. 30. 11. 2010, S. 21. 94 Zu weiteren Volksinitiativen in der Schweiz, die Menschenrechte verletzen, vgl. etwa Axel Tschentscher: Direkte Demokratie in der Schweiz – Länderbericht 2008/2009, in: Feld et al. (Fn. 6), S. 219 f. Zu Initiativen mit minderheitenbeeinträchtigenden Inhalten in den USGliedstaaten vgl. Hermann K. Heußner: Minorities and Direct Democracy in the USA: Direct Legislation Concerning Minorities and Instruments of Minority-Protection, in: Wilfried Marxer/Bruno Kaufmann/Zoltan T. Pallinger/Theo Schiller (Eds.), Direct Democracy in Modern Europe, Vol. 3, Direct Democracy and Minorities, 2011, i.E.; Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 117 ff.; derselbe: Jahrhundert (Fn. 88), S. 147 ff. 91

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desebene ebenfalls solche Konflikte zu erwarten sind bzw. durch Regulierung vermieden werden können. aa) Bindung an Grundgesetz Das Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes bindet die Gesetzgebung vollständig an die Verfassung und insbesondere die Grundrechte, Art. 1 III, 20 III GG. Dieser Vorrang der Verfassung gilt auch für das Volk im Rahmen direkter Gesetzgebung. Denn als Gesetzgeber fungiert das Volk als verfasste Staatsgewalt und steht nicht als Verfassungsgeber über der Verfassung.95 Bei Einführung direkter Gesetzgebung auf Bundesebene müssten sich Volksgesetze deshalb nicht nur an die föderale Kompetenzenordnung und die Gewaltenteilung halten, sondern auch an alle minderheitenschützenden Bestimmungen, insbesondere die Grundrechte. Minarettverbote, bedingungslose Ausweisungsgebote oder Diskriminierungen Homosexueller, die gegen Grundrechtsgarantien und das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstoßen, wären für einfache Volksgesetzgebung von Verfassungs wegen also ausgeschlossen. bb) Grundgesetzänderungen (1) Ewigkeitsgarantie Auch Grundgesetzänderungen im Wege der Volksgesetzgebung wären nicht schrankenlos, sondern hätten die ewigkeitsgarantierten Bindungen des Art. 79 III i.V.m. Art. 1 und Art. 20 GG zu beachten. Verfassungsinitiativen wären auf Bundesebene daher ebenfalls rechtsstaatlich eingebunden. Dies hätte z. B. zur Folge, dass ein Minarettverbot – sofern man der Auffassung ist, dass dieses gegen Grundelemente des Gleichheitssatzes und damit gegen die Menschenwürde verstößt96 – auch im Wege einer Verfassungsinitiative nicht eingeführt werden dürfte. Die Rechtslage in der Schweiz und in Kalifornien ist prinzipiell anders. Dort bestehen solche Beschränkungen des verfassungsändernden Gesetzgebers nicht. Die schweizerische Bundesverfassung enthält keine Art. 79 III GG entsprechende Vorschrift. Es ist deshalb strittig, ob ewigkeitsgarantierte Rechtssätze existieren; sie werden von der h.M. und Praxis nicht anerkannt.97 Auch die kalifornische Verfassung enthält keine Art. 79 III GG

95 Vgl. Johannes Rux: Direkte Demokratie in Deutschland, 2008, S. 87 ff. mwN; Bernd J. Hartmann: Volksgesetzgebung und Grundrechte, 2005, S. 98 ff., 112; Uwe Berlit, Soll das Volk abstimmen, in: KritV 1993, S. 344 f.; Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 115 f., 70 ff., 94 f. 96 Unentschieden Heußner, Minarettverbot (Fn. 91), S. 22 f.; verneinend Jacob Nolte: Kann der Souverän rechtswidrig handeln?, in: DÖV 2010, S. 808 f. 97 Vgl. Nolte (Fn. 96), S. 808 f. mwN; Ulrich Häfelin/Walter Haller/Helen Keller: Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 7. Aufl., 2008, Rz. 1760, 27 f. In der Schweiz sind lediglich die zwingenden Vorschriften des Völkerrechts zu beachten, Art. 139 III, 194 II BV, vgl. Häfelin et al., ebenda, Rz. 28; Nolte (Fn. 96), S. 810.

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analoge Bestimmung. Entsprechend hat der dortige Supreme Court entschieden, dass es kein Naturrecht oder unveräußerliche Rechte gibt, die über der Verfassung stehen.98 (2) Verfassungsändernde Mehrheiten Für Verfassungsänderungen ist entscheidend, welche Mehrheiten für ihre Annahme notwendig sind. In der Schweiz erfordert die Änderung der Bundesverfassung im Wege der Volksgesetzgebung lediglich die Mehrheit der Stimmenden in der Volksabstimmung (Volksmehr) und zusätzlich die Mehrheit der Stimmenden in der Mehrheit der Kantone (Ständemehr).99 Diese vergleichsweise niedrigen Hürden sind der Grund, warum sich die Minarettverbotsinitiative mit nur 57,5 % und die Ausschaffungsinitiative mit nur 52,9 % Ja-Stimmen durchsetzen konnten. Am Erfordernis einer 2/3-Mehrheit wären sie deutlich gescheitert.100 Dasselbe gilt für die US-Gliedstaaten, die Verfassungsinitiativen zulassen. Sie fordern – von wenigen Ausnahmen abgesehen – im Volksentscheid ebenfalls lediglich einfache Mehrheiten,101 so auch Kalifornien.102 Nur deshalb war dort die Verfassungsinitiative Proposition 8 zum Verbot der Ehe für Homosexuelle mit lediglich 52,3 % Ja-Stimmen erfolgreich. Auch sie hätte das Erfordernis einer 2/3-Mehrheit deutlich verfehlt.103 Die Lage in der Schweiz und den US-Gliedstaaten zeigt, dass im Rahmen von Verfassungsinitiativen für einen effektiven Minderheitenschutz qualifizierte Mehrheitserfordernisse notwendig sind. Anderenfalls laufen die Regelungen des verfassungsrechtlichen Minderheitenschutzes, insbesondere die Grundrechte weitgehend leer. Denn einfache Mehrheiten, vor denen diese Regelungen Schutz bieten sollen, könnten diese einfach beiseite schieben bzw. die Verfassung für ihre Anliegen instrumentalisieren.104 „If the people can amend their constitution by petition and simple majority vote, constitutional rights are up for grabs“.105 Deshalb ist in Deutschland bei Einführung der Verfassungsinitiative auf Bundesebene eine 2/3-Mehrheit und ein ent98 Strauss v. Horton, 207 P.3d 48, 116 ff. (Cal. 2009); vgl. Heußner, US-Gliedstaaten 2008 (Fn. 12), S. 186. Allerdings ist das Recht der US-Gliedstaaten auch an der US-Verfassung und deren Grundrechtsgarantien zu messen, vgl. John E. Nowak/ Ronald D. Rotunda, Constitutional Law, 8. Aufl, 2010, S. 19 f.; Kenneth P. Miller: Direct Democracy and the Courts, 2009, S. 10. 99 Art. 140 I a, 142 II BV. Das Ständemehr scheint keine besonders hohe Hürde darzustellen. Denn bisher scheiterten daran weniger als zehn Verfassungsvorlagen, die im Volksmehr eine Mehrheit bekommen hatten, vgl. Schweizerische Bundeskanzlei: Am Ständemehr gescheiterte Verfassungsvorlagen, http://www.admin.ch/ch/d/pore/va/vab_2_2_4_4.html (Zugriff: 30. 1. 2011). 100 Vgl. Heußner, Minarettverbot (Fn. 91), S. 19 mit weiteren Initiativen, die gescheitert wären. 101 Vgl. The Council of State Governments: The Book of The States 2009, Bd. 41, 2009, S. 16. 102 Cal. Const. Art. II Sec. 10 (a). 103 Zu weiteren minderheitenrelevanten Initiativen in den US-Gliedstaaten, die gescheitert wären, vgl. Heußner, Minorites (Fn. 94); Heußner, Jahrhundert (Fn. 88), S. 147 f., 150. 104 Vgl. Heußner, Minarettverbot (Fn. 91), S. 19 f.; derselbe, Minorities (Fn. 94). 105 Miller (Fn. 98), S 10.

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sprechendes Ländermehr zu fordern.106 Zusätzlich könnte ein Zustimmungsquorum die Legitimation von Volksentscheiden steigern und strukturell durchsetzungsschwache Minderheiten schützen. Ein solches Quorum muss jedoch fair bemessen sein und darf sich deshalb insbesondere nicht an der Anzahl der Stimmberechtigten sondern muss sich dynamisch an der Beteiligung bei den jeweils letzten Bundestagswahlen orientieren.107 Auch in den Bundesländern werden für Verfassungsänderungen erhöhte Mehrheiten verlangt.108 Zustimmungsquoren von 50 % der Stimmberechtigten sind jedoch überhöht. cc) Normenkontrolle Da das Volk als verfasstes Staatsorgan im Rahmen der Volksgesetzgebung denselben Bindungen unterliegt wie das Parlament, sind Volksgesetze ebenso wie Parlamentsgesetze zu kontrollieren. Dementsprechend hätte das BVerfG die Kompetenz, volksbeschlossene Bundesgesetze ex post zu überprüfen und ggf. zu verwerfen.109 Sofern konfliktschwache Minderheiten beteiligt sind, die von einem Gesetz nachteilig berührt werden, sollte die Prüfung besonders streng ausfallen.110 Darüber hinaus müsste eine präventive Normenkontrolle eingeführt werden. Dies entspricht der Lage in den Bundesländern.111 Eine solche weit vorgelagerte, bereits vor Beginn der Unterschriftensammlung für das Volksbegehren im Zulassungsstadium einsetzende umfassende formelle und materielle Prüfung durch das BVerfG hat nicht nur den Vorteil zu verhindern, dass die enormen Mühen eines erfolgreichen Volksbegehrens bzw. Abstimmungskampfes bei nachträglich festgestellter Verfassungswidrigkeit der Vorlage vergeblich gewesen wären. Sie sichert auch in höherem Maße, dass die minderheitenschützenden Bestimmungen der Verfassung zum Tragen 106

Vgl. Reglung im Gesetzentwurf der Rot-Grünen Koalition von 2002, BT-Drs. 14/8505, S. 3; Heußner, Jahrhundert (Fn. 88), S. 155; s. auch Berlit (Fn. 95), S. 357; Otmar Jung: Das Quorenproblem beim Volksentscheid, in: ZPol. 1999, S. 893. 107 Vgl. Heußner: Jahrhundert (Fn. 88), S. 155; derselbe: Größe des Gemeinwesens und gesellschaftliche Struktur, in: Thüringer Landtag (Hrsg.): Demokratie lebendiger gestalten, Ettersburger Gespräche am 10. und 11. November 2000, Erfurt 2001, S. 88 ff.; derselbe., Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 367 ff. Ablehnend etwa Jung, Quorenproblem (Fn. 106), S. 863 ff., 891 ff. – BayVerfGH, DÖV 2000, S. 28 ff. fordert im Rahmen volksgesetzgeberischer Verfassungsänderungen zwingend Abstimmungsquoren. Dagegen etwa Horst Dreier: Landesverfassungsänderung durch quorenlosen Volksentscheid aus der Sicht des Grundgesetzes, in: BayVBl. 1999, S. 513 ff.; Otmar Jung: 50 Jahre verfassungswidrige Praxis der Volksgesetzgebung in Bayern?, in: BayVBl. 1999, S. 417 ff. 108 Vgl. Peter Neumann: Regelungsbestand der Sachunmittelbaren Demokratie in Deutschland 2009, in: Peter Neumann/Denise Renger (Hrsg.): Sachunmittelbare Demokratie im interdisziplinären und internationalen Kontext 2008/2009, 2010, S. 17 ff. 109 Vgl. Thomas von Danwitz: Plebiszitäre Elemente in der staatlichen Willensbildung, in: DÖV 1992, S. 607 f.; Berlit (Fn. 95), S. 345; Rux (Fn. 95), S. 89; Hartmann (Fn. 95), S. 183 f., 212 f. 110 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 144; derselbe, Minorities (Fn. 94). 111 Vgl. näher Hartmann (Fn. 95), S. 203; Rux (Fn. 95), S. 295 ff. S. zuletzt entsprechende Änderungen in §§ 12 und 17 BerlAbstG, GVBl. 2010, S. 359.

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kommen. Denn der durch Volksgesetze erzeugte Druck, der auf den Gerichten lastet, ist möglicherweise wesentlich höher als derjenige, der von Beschlüssen im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren ausgeht.112 „It is one thing for a court to tell a legislature that a statute it has adopted is unconstitutional; to tell that to the people of a state who have indicated their direct support for the measure through the ballot is another.“113 Zudem werden den Gegnern verfassungswidriger Volksvorlagen Belastungen erspart, insbesondere Minderheiten vor u. U. emotionalisierenden Abstimmungskämpfen geschützt.114 Diese Vorteile bestehen in der Schweiz und den meisten US-Gliedstaaten nicht. Denn in der Schweiz fehlt es an einer ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene. Volksbegehren, die auf Bundesebene nur in Form der Verfassungsinitiative vorkommen – die Gesetzesinitiative existiert auf dieser Ebene nicht115 –, werden lediglich vom Parlament überprüft. Die Prüfung findet zudem erst im Anschluss an die Unterschriftensammlung für das Volksbegehren statt.116 In den US-Gliedstaaten besteht zwar eine ausgebaute richterliche Normenkontrolle.117 Eine umfassende materielle Prüfung ist jedoch erst zulässig, wenn die Vorlage im Volksentscheid erfolgreich war.118 dd) Völker- und Europarecht Von Deutschland abgeschlossene völkerrechtliche Verträge haben innerstaatlich lediglich den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. Denn das gem. Art. 59 II GG notwendige Vertragsgesetz kann dem Vertrag keinen höheren Rang einräumen, als es sel112 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 224, 248 ff.; derselbe: Demokratiereformen durch das Volk am Beispiel der USA, in: RuP 2000, S. 155; s. auch Nachweise bei Rux (Fn. 95), S. 296, Fn. 3. 113 So der frühere kalifornische Verfassungsrichter Joseph Grodin, s. Joseph R. Grodin: In Pursuit of Justice, 1989/1991, S. 105. Entsprechend der amerikanischen prozessualen Tradition spricht sich Grodin letztlich jedoch gegen eine umfassende präventive Normenkontrolle aus, vgl. ebenda, S. 106 f. S. sogleich. 114 Vgl. Heußner, Minorities (Fn. 94). 115 Vgl. Linder, Schweizerische Demokratie (Fn. 73), S. 255. 116 Vgl. Nolte (Fn. 96), S. 811 f., 813 f.; Heußner, Minarettverbot (Fn. 91), S. 20, 22. Maßstab ist lediglich zwingendes Völkerrecht, vgl. o. Fn. 97 – Adrian Vatter: Synthese: religiöse Minderheiten im direktdemokratischen System der Schweiz, in: Adrian Vatter (Hrsg.): Vom Schächt- zum Minarettverbot. Religiöse Minderheiten in der direkten Demokratie, 2011, S. 290, stellt fest: „Die bestehende deutsche Praxis auf Länder- und Kommunalebene, Volksund Bürgerbegehren einer scharfen formalen und materiellen Vorabkontrolle zu unterziehen, ist (…) eines der möglichen Rezepte, um eine plebiszitäre Mehrheitstyrannei im Keim zu ersticken.“ Vgl. derselbe: Ohne Volkes Segen: Die direkte Demokratie beschneidet die Freiheitsrechte von religiösen Minderheiten. Sechs Lösungsvorschläge, in: Zeit Online v. 17. 1. 2011, http://www.zeit.de/2011/03/CH-Minarettverbot?page=2 (Zugriff: 12. 2. 2011). 117 Vgl. u. a. Hunter v. Erickson, 393 U.S. 385, 392 (1968); Heußner, Minorities (Fn. 94). 118 Vgl. Miller (Fn. 98), S. 98 ff.; Philip L. Dubois/Floyd Feeney: Lawmaking by Initiative, 1998, S. 43 ff.; Nicolas v. Arx: Ähnlich, aber anders. Die Volksinitiative in Kalifornien und der Schweiz, 2002, S. 228 ff.; Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 233 ff.

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ber hat. Da die lex posterior-Regel anzuwenden ist, hat dies zur Folge, dass später erlassene Bundesgesetze oder Verfassungsänderungen, die mit dem Vertragsinhalt in Widerspruch stehen, die innerstaatliche Geltung ganz oder teilweise aufheben. Dies kann einen Konflikt zwischen völkerrechtlicher Außenbindung und staatsrechtlicher Innengeltung erzeugen.119 Um diesen Konflikt zu vermeiden, ist bei Einführung von Volksgesetzgebung auf Bundesebene verfassungsrechtlich festzulegen, dass Volksgesetze und -verfassungsänderungen nicht gegen völkerrechtliche Bindungen verstoßen dürfen. Eine Kompetenz des Volkes, völkerrechtliche Verträge kündigen zu können, ist aus Gründen der Gewaltenteilung abzulehnen. Die Einhaltung der Grenzen des bindenden Völkerrechts wäre vom BVerfG präventiv zu kontrollieren. Dies sichert das völkerrechtliche Gebot, völkerrechtliche Verpflichtungen und insbesondere völkerrechtliche Verträge einzuhalten, dient damit der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und entspricht dem Geist des rechtstaatlichen Grundsatzes der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung. Konsequenterweise müsste das Verbot auch auf die Parlamentsgesetzgebung ausgedehnt werden.120 Anders als in der Schweiz, wo das Parlament lediglich prüft, ob zwingende Vorschriften des Völkerrechts verletzt werden, und deshalb die Minarett- und die Ausschaffungsinitiative zum Volksentscheid gelangen konnten,121 wären entsprechende Initiativen in Deutschland unzulässig. Die Sicherungen der EMRK wären gewährleistet. Auch EU-Recht muss Maßstab der präventiven Normenkontrolle sein. Zwar ist zwischen EU-Recht und deutschem Recht ein Geltungswiderspruch nicht möglich, da EU-Recht Anwendungsvorrang genießt. Bei der Setzung deutschen Rechts ist aber dennoch Rücksicht auf EU-Recht zu nehmen, da bereits nach Inkrafttreten einer EU-Richtlinie keine Vorschriften mehr erlassen werden dürfen, die das Erreichen des Ziels der Richtlinie ernsthaft in Frage stellen würden, und zur Sicherung des Vorranges des EU-Rechts und im Interesse der Rechtssicherheit Vorschriften aufzuheben oder anzupassen sind, die gegen EU-Recht verstoßen.122 2. Verhältnis von Volks- und Parlamentsgesetzgebung a) Indirekte Initiative Volksgesetzgebung ist eng mit der parlamentarischen Gesetzgebung zu verzahnen, um die parlamentarischen Diskussions-, Verhandlungs- und Kompromisspoten119

Vgl. Heußner, Minarettverbot (Fn. 91), S. 23; Nolte (Fn. 96), S. 811. Vgl. Heußner, Minarettverbot (Fn. 91), S. 24. 121 Für eine Liste völkerrechtswidriger aber dennoch für gültig erklärter Initiativen vgl. Tschentscher (Fn. 94), S. 220, Fn. 68; Häfelin et al. (Fn. 97), Rz. 1757a. Vgl. auch Nolte (Fn. 96), S. 812 f. 122 Vgl. Heußner, Minarettverbot (Fn. 91), S. 24; s. auch Andreas von Arnauld, „Refolution“ an der Elbe: Hamburgs neue direkte Demokratie – Die Verfassungsänderungen der Jahre 2008 und 2009 im Kontext, in: Feld et al. (Fn. 6), S. 108, wonach außer Frage steht, dass der Volksgesetzgeber Europäisches Gemeinschaftsrecht achten muss. 120

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tiale auch im Volksgesetzgebungsverfahren zu nutzen.123 Ein zulässiges Volksbegehren, für das die notwendigen Unterschriften gesammelt worden sind, darf deshalb nicht direkt dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden („Direct Initiative“), sondern hat vorher Interaktionsphasen mit dem Parlament zu durchlaufen und kann ggf. erst dann zum Volksentscheid gelangen („Indirect Initiative“). Ein im Grundsatz dreistufiges Verfahren mit Zulassungs-, Volksbegehrens- und Volksentscheidphase eignet sich dafür. Nach Sammlung der für die Zulassungsprüfung notwendigen, noch relativ wenigen Unterschriften, müssen obligatorische öffentliche Anhörungen und Debatten im Parlament stattfinden, in denen die Initiatoren das Recht und die Pflicht haben, ihr Anliegen zu verteidigen.124 In den Hearings sind insbesondere betroffene Minderheiten und Sachverständige zu hören. Im Anschluss daran müssen die Initiatoren zum einen die Kompetenz besitzen, den ursprünglichen Entwurf auf dem Hintergrund der Anhörungen und Debatten zu modifizieren. Sie können dadurch die Beratungsergebnisse aufgreifen, die Qualität ihres Entwurfes verbessern und diesen kompromisshafter gestalten. Dies ist für die Initiatoren attraktiv, weil sie so die Erfolgschancen im anschließenden Volksbegehren bzw. Volksentscheid steigern können. Zum anderen müssen die Initiatoren auch das Recht haben, ihren Antrag zurück zu ziehen. Dies schafft sowohl für das Parlament als auch die Initiatoren den Anreiz, über Kompromisse zu verhandeln. Einigen sich beide Seiten auf ein Gesetz, welches das Parlament beschließt, erspart dies den Initiatoren die erheblichen Mühen der Qualifikation des Volksbegehrens und des Abstimmungskampfes und das Risiko, im Volksentscheid (ganz) zu verlieren. Die im Parlament vertretenen gegnerischen Kräfte ersparen sich ebenfalls die Mühen eines eventuellen Abstimmungskampfes und das Risiko der Niederlage im Volksentscheid. Die Fristen sind großzügig zu gestalten, um ausreichend Zeit für Verhandlungen zu bieten.125 Kommt es in dieser ersten Parlamentsphase zu keinem Kompromiss und Rückzug, muss der Anhörungs-, Diskussions- und Verhandlungsprozess im Anschluss an eine ggf. erfolgreiche Qualifizierung des Volksbegehrens in einer zweiten Parlamentsphase wiederholt werden. Auch hier ist es den Initiatoren zu gestatten, ihren Vorschlag zu modifizieren oder zurück zu ziehen.126 In dieser zweiten Parlamentsphase nimmt der Kompromissdruck für das Parlament relativ zu und der für die Initiatoren relativ ab, da die große Anzahl von Unterschriften, die für die Qualifizierung des Volksbegehrens 123

Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 82 ff., 88 ff. Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 250 ff., 255 f. ( z. T. nun anders). 125 Zur Bedeutung großzügiger Fristen vgl. Andreas Gross: Das Design der Direkten Demokratie und ihre Qualitäten, in: Theo Schiller/Volker Mittendorf: Direkte Demokratie, 2002, S. 337 f. 126 Ablehnend noch Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 308 ff. – Um Enttäuschungen bei den Unterzeichnern einer Initiative vorzubeugen, ist gesetzlich vorzuschreiben, dass die Eintragungslisten eine vorbehaltlose Modifikations- und Rückzugsklausel enthalten. Eine entsprechende Pflicht für eine Rückzugsklausel enthält Art. 68 I c) des Schweizerischen Bundesgesetzes über die politischen Rechte. 124

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zu sammeln ist, dem Parlament vor Augen führt, dass es sich um ein intensives, im Volk weit verbreitetes Anliegen handelt. Kommt es in den Interaktionsphasen mit dem Parlament zu keinem Kompromiss, muss dieses das Recht haben, im Volksentscheid einen eigenen Gegenentwurf mit zur Abstimmung zu stellen. Das Volk hat dann die Möglichkeit, eine differenzierte Entscheidung zu treffen. Gleichzeitig erhöht dies den Druck auf die Initiatoren, bereits im Vorfeld des Volksentscheids einem Kompromiss zuzustimmen. Wie im Parlament, stehen auch am Ende des Volksgesetzgebungsverfahrens im Volksentscheid Ja/Nein-Entscheidungen zur Abstimmung.127 Das vorgelagerte Verfahren ermöglicht jedoch Verbesserungen und Kompromisse. Die Seite, die sich nicht hinreichend auf Kompromisse einlässt, steigert das eigene Risiko, im Volksentscheid zu unterliegen. In den deutschen Bundesländern besteht die indirekten Initiative in unterschiedlicher Ausprägung.128 In der Regel haben die Parlamente ein Gegenvorschlagsrecht und die Initiatoren in bestimmten Phasen des Verfahrens die Möglichkeit, die Initiative nicht weiter zu verfolgen, und in vielen Ländern die Kompetenz, festgestellte Mängel zu beheben.129 Hervorzuheben ist Hamburg, wo ein beispielgebendes, dreistufiges Verfahren implementiert ist.130 Nach der ersten Parlamentsphase, die sich an die „Volksinitiative“ anschließt, bleibt es den Initiatoren überlassen, ob sie die Durchführung des Volksbegehrens beantragen, Art. 50 II 4 HmbVerf. Sie können den Entwurf für das Volksbegehren auch überarbeiten, Art. 50 II 5 HmbVerf. Dieselben Möglichkeiten bestehen nach der zweiten Parlamentsphase, die sich an ein erfolgreiches Volksbegehren anschließt, Art. 50 III 3, 4 HmbVerf.131 Auch in der Schweiz ist das Verfahren indirekt angelegt.132 In den US-Gliedstaaten dominiert hingegen die direkte Initiative. Es bestehen in der Regel keine hinreichend institutionalisierten Vorkehrungen und Anreize, um Diskussionsergebnisse aufzunehmen und zu Kompromissen zu gelangen.133 127

Dreier/Wittreck (Fn. 6), S. 27. Vgl. Gunther Jürgens/Frank Rehmet: Direkte Demokratie in den Bundesländern – Ein Überblick, in: Heußner/Jung, Demokratie (Fn. 84), S. 197 ff.; Neumann (Fn. 108), S. 16 ff. 129 Vgl. näher Rux (Fn. 95), S. 421 ff.; Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 255 f., 226 ff., 298 ff. 130 Vgl. Dreier/Wittreck (Fn. 6), S. 28. 131 Vgl. dazu v. Arnauld (Fn. 122), S. 107 f., 126 f. 132 Vgl. von Arx (Fn. 118), S. 67 ff.,130 ff., 194 f., 195 ff., 197, 308, 335; Linder, Schweizerische Demokratie (Fn. 73), S. 305 ff.; Yvan Rielle/Christian Bolliger: Der politische Entscheidungsprozess in der Schweiz, in: Wolf Linder/Christian Bolliger/Yvan Rielle: Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848 – 2007, 2010, S. 687 ff.; Heußner/Jung, Schweiz (Fn. 84), S. 119 f., 126; Gross, Design (Fn. 125), S. 336 ff. 133 Vgl. v. Arx (Fn. 118), S. 70, 89 ff., 195 ff.; Center for Governmental Studies (CGS), Democracy by Initiative: Shaping California’s Fourth Branch of Government, 2. Aufl., 2008, S. 111 ff., http://www.cgs.org/images/publications/cgs_dbi_full_book_f.pdf (1. 4. 2009); Heußner, US-Gliedstaaten 2008, (Fn. 12) S. 171; Gross, Design (Fn. 125), S. 336 ff. 128

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Auch wenn das Volksgesetzgebungsverfahren Kompromisspotentiale zur Verfügung stellt und Anreize ausübt, müssen sie freilich von den Beteiligten wahrgenommen und genutzt werden. Dies setzt hinreichende Sensibilität und Kompromissbereitschaft auch seitens des Parlaments voraus. Das hamburgische Volksbegehren gegen die sechsjährige Primarschule 2009/2010 zeigt, dass hier Parlamente zuweilen noch einen Lernprozess vor sich haben. So war die Bürgerinitiative bereit, einen Schulversuch mit 50 Primarschulen auf freiwilliger Basis zuzulassen. Dies sollte einen Vergleich des alten mit dem neuen System ermöglichen. Nach einem mindestens dreijährigen Prozess sollte das System, das sich aufgrund einer Evaluation durch eine unabhängige Kommission als überlegen erweisen würde, eingeführt werden. Die Koalition wollte jedoch mit der flächendeckenden Einführung sofort beginnen. Der Vorschlag der Initiative führe zu einem unvertretbaren Wettbewerb der Systeme über mehrere Jahre.134 Angesichts der Tatsache, dass 14,8 % der Stimmberechtigten und damit fast dreimal soviel wie nötig das Volksbegehren unterzeichnet hatten,135 hätte das Parlament Anlass zu größerer Kompromissbereitschaft gehabt. Diese fehlte. Die Initiative gewann den Volksentscheid mit 58 % Ja-Stimmen.136 b) Abänderbarkeit volksbeschlossener Gesetze und Verfassungsänderungen Dem Parlament muss es grundsätzlich möglich sein, volksbeschlossene Gesetze und Verfassungsänderungen seinerseits ohne Volkszustimmung zu ändern. Anderenfalls droht Inflexibilität und Erstarrung mit insbesondere negativen Folgen für die Finanz- und Haushaltspolitik. Dies ist in Kalifornien der Fall und wird verstärkt, weil das Volk in den US-Gliedstaaten Verfassungsinitiativen schon mit einfacher Mehrheit beschließen kann.137 In den Bundesländern haben die Parlamente jedoch ein Abänderungsrecht138 und Verfassungsinitiativen erfordern qualifizierte Mehrheiten.139 Um zu verhindern, dass das gegenüber dem Parlament langsamere Volksgesetzgebungsver134

Vgl. Peter Ulrich Meyer: Streit um die Zukunft der Kinder, in: Hamburger Abendblatt v. 19. 7. 2010, S. 8.; Jens Schneider: Schul-Kompromiss gescheitert, in: Süddeutsche Zeitung v. 11.2. 2010, S. 7. 135 Vgl. Mehr Demokratie e.V., Volksbegehrensbericht 2009, 2010, S. 16. 136 Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein: Volksentscheid über die Schulreform am 18. 7. 2010, Endgültiges Ergebnis, http://www.statistik-nord.de/uploads/ tx_standocuments/Ber__92_Tab_HH.pdf (Zugriff: 11. 8. 2010). 137 Vgl. Joe Mathews/Mark Paul: California Crackup, 2010, S. 166 ff.; CGS (Fn. 133), S. 114 ff.; Heußner, US-Gliedstaaten 2008 (Fn. 12), S. 171; Heußner, Jahrhundert (Fn. 88), S. 146. – Vgl. o. III.1.b)bb)(2). 138 Vgl. Rux (Fn. 95), S. 89 mwN; Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 100 ff., 188. Lediglich in Bayern und Hessen muss das Volk jeder parlamentarischen Verfassungsänderungen im obligatorischen Verfassungsreferendum zustimmen, in Rheinland-Pfalz ist dies umstritten. In Berlin muß das Volk Änderungen der direktdemokratischen Verfassungsgrundlagen zustimmen, vgl. Jürgens/Rehmet (Fn. 128), S. 207; Neumann (Fn. 108), S. 21. 139 Vgl. o. III.1.b)bb)(2).

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fahren generell ins Hintertreffen gerät, muss es dem Volk jedoch möglich sein, seinerseits Änderungen des Parlaments im Wege eines fakultativen Referendums unter erleichterten Bedingungen zur Abstimmung zu stellen. Dies ist das „Hamburger Modell“. Dort tritt ein parlamentarisches Änderungsgesetz nicht vor Ablauf von drei Monaten nach seiner Verkündung in Kraft. Innerhalb dieser Frist können 2,5 % der Stimmberechtigten einen Volksentscheid über das Änderungsgesetz verlangen, Art. 50 IV HambVerf.140 3. Regulierung finanzieller Macht Um die Selbstbestimmung der Bürger zu sichern, darf Volksgesetzgebung nicht dem Zugriff einseitiger finanzieller Macht ausgesetzt sein. a) Qualifikation des Volksbegehrens Es ist deshalb auszuschließen, dass die Unterschriften zur Qualifikation eines Volksbegehrens mit Hilfe kommerzieller Sammler zusammengetragen werden können. Das formelle Eintragungsverfahren ist dafür besonders geeignet und deshalb zu empfehlen. Das formelle Eintragungsverfahren trennt die Werbung für die Unterschriften einerseits und die Leistung der Unterschriften andererseits (Trennungsprinzip). Für das Leisten der Unterschrift müssen die Bürger gesonderte Eintragungsstellen aufsuchen oder ggf. eine Briefeintragung beantragen. Dazu dürften jedoch nur diejenigen bereit sein, die über den Vorschlag informiert und von ihm – zumindest als wichtiges Thema, das zur Abstimmung gestellt werden sollte – überzeugt sind und denen deshalb der Volksentscheid ein echtes Anliegen ist. Das formelle Eintragungsverfahren bietet die beste Gewähr für die Integrität der Sammlung und dafür, dass das Qualifikationsverfahren als „Intensity Check“ wirkt und nur Vorlagen zum Volksentscheid gelangen, die einer Vielzahl von Bürgern wirklich wichtig sind. Bei der freien Sammlung besteht demgegenüber die Gefahr, dass Unterschriften „im Vorbeigehen“141 oder gar mittels Täuschung oder Druck gesammelt werden, ohne dass der Gesetzesvorschlag den unterschreibenden Passanten hinreichend bekannt und ein wirkliches Anliegen wäre.142 Diese jedenfalls nicht ganz fern liegenden Risiken, die sich bei kommerzieller Sammlung steigern, aber auch bei rein ehrenamtlichen Sammlungen gegeben sind, und sich durch die Regulierung der freien Sammlung nur eingeschränkt reduzieren lassen – dies gilt jedenfalls für leichtfertiges Unterzeichnen im Vorbeigehen –, rechtfertigen es, die freie Unterschriftensammlung auszuschließen. Denn schon der Anschein, dass sich Volksbegeh-

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V. Arnauld (Fn. 122), S. 117 f. Rux (Fn. 95), S. 896 spricht von „Spontaneintragungen“. 142 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 274 ff.; derselbe, Gemeinwesen (Fn. 107), S. 83; derselbe, Anhörung (Fn. 1), S. 4. 141

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ren qualifizieren könnten, die nicht auf hinreichend weit verbreiteten und intensiven Anliegen basieren, diskreditiert das Instrument der Volksgesetzgebung.143 Das formelle Eintragungsverfahren erfordert allerdings relativ lange Eintragungsfristen. Es ist auch gesetzlich sicher zu stellen, dass ausreichend viele Eintragungsstellen eingerichtet und offen gehalten werden.144 In acht Bundesländern ist das amtliche Eintragungsverfahren üblich, in den anderen ist die freie Sammlung zulässig.145 In der Schweiz wird hingegen nur die freie Unterschriftensammlung praktiziert. Kommerzielle Sammler dürfen fast überall eingesetzt werden.146 Dasselbe gilt für die US-Gliedstaaten. Dort führt dies dazu, dass bei hinreichend hohem finanziellen Aufwand mit Hilfe kommerzieller Sammler die Qualifikation eines Volksbegehrens weitgehend garantiert ist.147 Dies zeigt, dass das Risiko der Qualifikation von Volksbegehren „im Vorbeigehen“ durchaus real und auch in Deutschland damit zu rechnen ist, wenn Volksgesetzgebung auf Bundesebene und damit auf dem großen Feld der Bundeskompetenzen eingeführt würde.148 b) Abstimmungskampf Um im Abstimmungskampf den Einfluss einseitiger finanzieller Macht einzuschränken, ist am in Deutschland geltenden Verbot kommerzieller politischer Rundfunkwerbung festzuhalten.149 Danach ist im Rahmen eines Volksgesetzgebungsver143

A.A. Frank Meerkamp: Die Bedeutung der Eintragungsmodalitäten beim Volksbegehren in den deutschen Ländern, in: RuP 2010, S. 139 ff., 143 ff., der durch Regulierung der freien Unterschriftensammlung vor Übereilung und Missbrauch schützen will. 144 Heußner, Anhörung (Fn. 1), S. 4 f. mwN. 145 Vgl. Jürgens/Rehmet (Fn. 128), S. 203 f. 146 Uwe Serdült/Beat Kuoni: Finanzielle und mediale Rahmenbedingungen von Volksabstimmungen in der Schweiz und Deutschland, in: Neumann/Renger (Fn. 108), S. 241; Heußner/ Jung, Schweiz (Fn. 84), S. 119. 147 Vgl. CGS, (Fn. 133), S. 71, 182, 197, 284 ff.; Heußner: Bürgergesellschaft (Fn. 12), S. 47 mwN; derselbe, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 274 ff. Zu Missbräuchen bei der Unterschriftensammlung vgl. Ballot Initiative Strategy Center: Ballot Integrity: A Broken System in Need of Solutions, Washington D.C. 2009, http://bisc.3cdn.net/1fb0aa12d865ddd8c6_ wwm6b9zwc.pdf (Zugriff: 24. 7. 2009). 148 Auch im Rahmen des gegen die sechsjährige Primarschule gerichtete Volksbegehrens „Wir wollen lernen“ 2009 in Hamburg sollen Sammler bezahlt worden sein, vgl. Sandra Schäfer: Bei der Stimmenjagd gehtÍs auch um Geld, in: Hamburger Morgenpost v. 30. 10. 2009, http://archiv.mopo.de/archiv/2009/20091030/hamburg/politik/bei_der_stimmenjagd_geht_s_ auch_um_geld.html (Zugriff: 31. 10. 2009); Peer Hinrichs: Schulreform-Gegner erreichen nur mühsam 3000 Namen pro Tag, in: Welt-Online v. 2. 11. 2009, http://www.welt.de/regionales/ hamburg/article5061035/Gegner-muessen-3000-Namen-pro-Tag-sammeln.html (Zugriff: 3. 11. 2009). 149 Vgl. § 7 IX Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien v. 31. 8. 1991, zuletzt geändert durch Art. 1 des 13. Änderungsstaatsvertrages v. 30. Oktober/20. November 2009, Hess. GVBl. I 2010, S. 55 ff. Vgl. zu dessen Zielsetzung der Pluralismussicherung etwa Albrecht Hesse: Rundfunkrecht, 3. Aufl., 2003, 3. Kap., Rz. 51; Nino Goldbeck, in: Marian Paschke/Wolfgang

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fahrens nur solche Rundfunk- und Fernsehwerbung im Vorfeld von Abstimmungskämpfen bzw. während der Eintragungsfrist von Volksbegehren zulässig, die an Chancengleichheit ausgerichtete ist.150 Denn der Rundfunk darf nicht einseitig bestimmten gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert werden.151 Finanzielle Ressourcen dürfen deshalb für den Zugang zu politischer Werbung im Rundfunk keine entscheidende Rolle spielen. „Es gelten dieselben Regeln, die auch die Wahlwerbung der politischen Parteien prägen.“152 Sodann ist eine substanzielle öffentliche Erstattung der Abstimmungskampfkosten für beide Seiten zu etablieren. In sechs Bundesländern gibt es dazu erste Ansätze.153 Eine einzuführende offizielle Abstimmungsbroschüre für alle Stimmberechtigten, in der u. a. Befürworter und Gegner der Vorlage ihre Positionen darlegen können, würde ebenfalls der Chancengleichheit dienen. Erste Regelungen hierzu gibt es in Hamburg.154 Strenge Offenlegungsvorschriften für Befürworter und Gegner müssen dafür sorgen, dass der Öffentlichkeit bekannt ist, welche Personen und dahinter stehenden Interessen sich finanziell in Abstimmungskämpfen engagieren. Auf diesem Feld sind Hamburg und Berlin bisher die einzigen Bundesländer, die erste Ansätze bieten.155 Wird politische Werbung mit großem finanziellen Aufwand betrieben, ist sicher zu stellen, dass der Geldgeber in der Werbung selbst (Plakat, Zeitungsinserat, Internetauftritte etc.) klar ersichtlich ist. Der Name muss die wirtschaftlichen oder sonstigen „Special Interests“ deutlich machen („Truth in Advertising“), um Interessenverschleierung zu verhindern.156 Die isolierte Veröffentlichung der Spender im Internet allein genügt nicht. Falls sich die genannten Regulierungen als nicht ausreichend erweisen, kann im Rahmen der Verhältnismäßigkeit auch an Spenden- und Ausgabenbeschränkungen gedacht werden, um Chancengleichheit herzustellen.157 In der Schweiz und den US-Gliedstaaten besteht jeweils nur ein Teil der notwendigen Regulierungen. Zwar ist in der Schweiz politische Werbung im Rundfunk verboten und eine informative Abstimmungsbroschüre ergeht an alle StimmberechtigBerlit/Claus Meyer (Hrsg.): Hamburger Kommentar zum gesamten Medienrecht, 2008, 28. Abschn., Rz. 182; Karl-Heinz Ladeur: in: Werner Hahn/Thomas Vesting (Hrsg.): BeckÌscher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2008, § 7 RStV, Rz. 77. 150 Vgl. BVerfGE 37, 84, 91 im Hinblick auf Volksbegehren und Volksentscheide gem. Art. 29 II-VI GG. Zu Volksgesetzgebung in Bayern vgl. näher BayVerfGH, BayVBl. 2008, S. 302, 304 ff.; Art. 4 III BayRG und Art. 5 VII BayMG; Volksbegehren- und Volksentscheidwerbesatzung, BayStAnz. v. 16. 5.2008; Serdült/Kuoni (Fn. 146), S. 247 ff. 151 BVerfGE 57, 295, 322; 73, 118, 172; 83, 238, 296. 152 BayVerfGH, BayVBl. 2008, S. 302, 304; BVerfGE 37, 84, 91. 153 Vgl. Serdült/Kuoni (Fn. 146), S. 244; Jürgens/Rehmet (Fn. 128), S. 207 ff. 154 § 19 II HmbVAbstG. S. auch Ansätze in Thüringen, § 20 III ThürBVVG. 155 Vgl. Serdült/Kuoni (Fn. 146), S. 245. In Hamburg sind kalenderjährliche Spenden von mehr als 2.500 Euro zu melden, § 42 IV 2 HmbVAbstVO. In Berlin sind Spenden im Wert von mehr als 5.000 Euro anzugeben, § 40 b I BerlAbstG. 156 Vgl. Heußner, US-Gliedstaaten 2008 (Fn. 12), S. 197 mit Verweis auf Kalifornien. 157 Vgl. Heußner/Jung, Schweiz (Fn. 84), S. 120; zurückhaltend Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 345 ff.

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ten; es gibt aber keine öffentliche Abstimmungskampfkostenerstattung, Transparenzregeln für den Einsatz privater Gelder finden sich nur in zwei Kantonen und es existieren auch keine Spenden- bzw. Ausgabenbegrenzungen.158 Die US-Gliedstaaten haben zwar strenge Transparenzregeln einschließlich „Truth in Advertising“-Vorschriften und verschiedene Staaten stellen z. T. vorbildliche Abstimmungsbroschüren zur Verfügung. Jedoch gibt es weder ein Verbot kommerzieller Rundfunkwerbung, noch eine öffentliche Abstimmungskampfkostenerstattung oder gar Spenden- und Ausgabenbeschränkungen.159 Dementsprechend zeigen Studien zur Schweiz, dass der Einsatz finanzieller Mittel Sieg oder Niederlage im Volksentscheid zwar nicht kaufen kann. Insbesondere in knappen Rennen kann Geld jedoch eine zentrale Rolle spielen.160 So könnte z. B. auch die finanzielle Unterlegenheit der Gegner der Ausschaffungsinitiative für den Sieg dieser Initiative verantwortlich sein.161 Auch in den US-Gliedstaaten kann man Sieg und Niederlage in einem Volksentscheid nicht kaufen. Erhebliches Finanzübergewicht kann jedoch die Annahme- oder Ablehnungswahrscheinlichkeit bestimmter Vorlagen steigern.162 Abschätzungen gehen davon aus, dass ca. 10 – 15 % der Volksentscheide entscheidend durch Finanzübergewicht beeinflusst werden.163 4. Abstimmungsbeteiligung von Unterschichtsangehörigen a) Geringere Beteiligung Unterschichtsangehörige partizipieren an Volkabstimmungen zuweilen unterproportional. Dies gilt sowohl für die Schweiz164 als auch für die US-Gliedstaaten.165

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Serdült/Kuoni (Fn. 146), S. 240 ff., 245 ff.; Heußner/Jung, Schweiz (Fn. 84), S. 120. Vgl. Heußner, Bürgergesellschaft (Fn. 12), S. 40 mwN; derselbe, US-Gliedstaaten 2008 (Fn. 12), S. 168, 197; derselbe, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 318 ff., 325 ff.; CGS (Fn. 133), S. 302 ff. 160 Hanspeter Kriesi: Sind Abstimmungen käuflich?, in: Adrian Vatter/Fr¤d¤ric Varone/ Fritz Sager: Demokratie als Leidenschaft, Festschrift für Wolf Linder zum 65. Geb., 2009, S. 104; Serdült/Kuoni (Fn. 146), S. 249 f.; Heußner/Jung, Schweiz (Fn. 84), S. 120. 161 Vgl. NZZ, int. Ausg. v. 1. 12. 2010, S. 25; Baseler Zeitung v. 5. 12. 2010, http://bazon line.ch/schweiz/standard/SVP-hat-vier-Millionen-in-Abstimmungskampf-gesteckt/story/2347 2653/print.html (Zugriff: 11. 2. 2011). Auf abstimmungsrelevante finanzielle Unterlegenheit wird z. B. auch im Zusammenhang mit der Steuergerechtigkeitsinitiative der SP im Volksentscheid v. 28. 11. 2010 hingewiesen, vgl. NZZ, int. Ausg. v. 29. 11. 2010, S. 23. Ähnliches gilt für die Minarettverbotsinitiative von 2009, vgl. Andreas Gross: Sie sind nicht richtig angetreten, in: Die Weltwoche v. 3. 12. 2009, S. 14. 162 Vgl. CGS (Fn. 133), S. 281 ff., 299 ff. mwN; Heußner, Jahrhundert (Fn. 88), S. 151 f.; Heußner, Bürgergesellschaft (Fn. 12), S. 47 f. 163 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 330, 528 ff. 2008 waren es 17,6 %, vgl. Heußner, US-Gliedstaaten 2008 (Fn. 12), S. 197 f., 204. 164 Vgl. Linder, Schweizerische Demokratie (Fn. 73), S. 289 f.; Heußner/Jung, Schweiz (Fn. 84), S. 121. 159

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Auch in Deutschland ließ sich dies beim Hamburger Schulvolksentscheid 2010, an dem insgesamt 39,3 % der Stimmberechtigten teilnahmen,166 beobachten.167 So beteiligten sich z. B. in den sechs Stadtteilen mit weniger als 2 % Arbeitslosigkeit zwischen 43,9 und 60,1 %168 der Stimmberechtigten, während in den acht Stadtteilen mit mehr als 10 % Arbeitslosigkeit sich nur zwischen 12,5 und 27,5 %169 beteiligten.170 Auch bei Wahlen ist dieser Trend in den USA171 und Deutschland172 zu beobachten.173 Es scheint jedoch, dass er sich bei Volksentscheiden noch verstärkt. Dies ist in den US-Gliedstaaten zu beobachten174 und könnte auch beim Hamburger Schulvolksentscheid gegeben sein. So ging z. B. in Groß Flottbek die Beteiligung gegenüber der Bürgerschaftswahl von 2008 von 81,0 auf 60,1 %, also nur um 25,8 % zurück, während in Billbrook der Rückgang von 31,8 auf 12,5 % wesentlich mehr, nämlich 60,7 % ausmachte.175 b) Unterschichtsadäquate Ausgestaltung Diese Befunde unterstreichen die Notwendigkeit, auf die Bedürfnisse von Unterschichtangehörigen bei der Ausgestaltung des Volksgesetzgebungsverfahrens Rücksicht zu nehmen. Für diese kann es einfacher sein, sich an Parteien zu orientieren als Sachfragen zu beantworten. Es kommt also darauf an, für diese Bürger die Komple165

Vgl. David Magleby: The Initiative and Referendum in the United States: A Centennial Perspective. Typoskript eines Vortrages, gehalten auf der Tagung „Die Zukunft der Direkten Demokratie“ am 20.–22. 2. 2001 in Tutzing, veranstaltet von der Akademie für politische Bildung Tutzing und der Bayerischen Amerika Akademie, S. 18; Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 373.; Heußner, Jahrhundert (Fn. 88), S. 154. 166 Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein, Ergebnis (Fn. 136). 167 Vgl. Andrea Römmele/Henrik Schober, Warum die Primarschule in Hamburg scheiterte, Zeit Online v. 19. 7. 2010, http://blog.zeit.de/politik-nach-zahlen/2010/07/19/warum-die-pri marschule-in-hamburg-gescheitert-ist_2459 (Zugriff: 21. 2. 2011); Marco Carini: Die Primarschule ist gescheitert, TAZ v. 18. 7. 2010, http://www.taz.de/1/nord/hamburg/artikel/1/primar schule-vor-dem-scheitern/ (Zugriff: 19. 7. 2010). 168 Altengamme bzw. Groß Flottbek. 169 Billbrook bzw. Veddel. 170 Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein (Statistikamt Nord): Statistische Daten zu den Stadtteilen Hamburgs, Beteiligung am Volksentscheid 2010, http://statistik-nord. de/fileadmin/maps/referendum_hh_2010/Volksentscheid_18_07_2010_download.xls (Zugriff: 12. 2. 2011). 171 Vgl. z. B. zu Kalifornien etwa Lawrence Giventer: Governing California, 2. Aufl., 2008, S. 50 f.; Mona Field: California Government and Politics Today, 12. Aufl., 2009, S. 62. 172 Vgl. Petra Böhnke: Ungleiche Verteilung politischer und zivilgesellschaftlicher Partizipation, in: APuZG 1 – 2/2011, S. 19 mwN; Dirk Jörke: Bürgerbeteiligung in der Postdemokratie, in: APuZG, 1 – 2/2011, S. 15. 173 Nach Linder, Schweizerische Demokratie (Fn. 73), S. 290 ist in der Schweiz bei Wahlen kein Effekt der Diskriminierung unterer sozialer Schichten feststellbar. 174 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 372 f. 175 Vgl. Statistisches Amt für Hamburg und Schleswig-Holstein, Beteiligung (Fn. 170); eigene Berechnungen.

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xität der Volksabstimmung deutlich zu reduzieren. Die Abstimmungsempfehlung von Parteien und anderen Akteuren sind ein solches Instrument. Sie helfen Bürgern mit geringerer Bildung zu erkennen, inwiefern ihre Interessen betroffen sind.176 Damit die Bürger und insbesondere Unterschichtsangehörige von diesen Abstimmungsempfehlungen leicht Kenntnis erhalten, ist bei der Ausgestaltung einzuführender offizieller Abstimmungshefte auf Verständlichkeit und darauf zu achten, dass neben den Stellungnahmen und Argumenten von Befürwortern und Gegnern einschließlich Regierung bzw. Parlamentsmehrheit und Opposition auch die parlamentarischen Abstimmungsergebnisse und die Abstimmungsempfehlungen von Parteien, Verbänden, sonstigen Gruppierungen und bekannten Persönlichkeiten deutlich aufgeführt werden. Dasselbe gilt für kostenlos zur Verfügung zu stellende Abstimmungskampfwerbespots in Rundfunk und Fernsehen.177 Diese sind insbesondere auch in Sendern auszustrahlen, die von Unterschichtsangehörigen bevorzugt werden. Truth in Advertising-Vorschriften178 helfen ebenfalls.179 Denn von den finanziellen Befürwortern und Gegnern einer Initiative können die Bürger auf die jeweils dahinter stehenden Werte und Interessen schließen.180 Diese können sie mit den eigenen Interessen und Werten vergleichen und so auch in komplizierten Sachfragen zu angemessenen Entscheidungen gelangen.181 Bei der Formulierung der Abstimmungsfrage ist auf Verständlichkeit für Bürger mit einfacher Bildung zu achten. Die Anzahl der Abstimmungen darf nicht überborden. Auch an der Wahlbeteiligung ausgerichtete faire Zustimmungsquoren182 können helfen, ein allzu starkes Abweichen von Disparitäten, die auch bei Wahlen toleriert werden, zu verhindern.183 c) Interessen von Unterschichtsangehörigen Entscheidend ist, Bürger mit geringerer Bildung in die Lage zu versetzen, ihre Interessen zu erkennen und selbst wahrnehmen zu können. Dass dies grundsätzlich möglich ist, demonstriert z. B. der erfolgreiche Freiburger Bürgerentscheid von 2006 gegen den Verkauf städtischer Wohnungen. Hier partizipierten die in benach176

Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 373; Heußner/Jung, Schweiz (Fn. 73), S. 121. Heußner, Gemeinwesen (Fn. 107), S. 87 f.; derselbe, Bürgergesellschaft (Fn. 12), S. 42. 178 Vgl. o. III.3.b). 179 Vgl. Heußner, US-Gliedstaaten 2008 (Fn. 12), S. 197. 180 Vgl. Elizabeth Garret/Elizabeth R. Gerber: Money in the Initiative and Referendum Process: Evidence of its Effects and Prospects for Reform, in: M. Dane Waters (Hrsg.), The Battle over Citizen Lawmaking, 2001, S. 90 ff. 181 Vgl. Arthur Lupia: Dumber than Chimps? An Assessment of Direct Democracy Voters, in: Larry J. Sabato/Howard R. Ernst/Bruce A. Larson (Hrsg.): Dangerous Democracy? The Battle over Ballot Initiatives in America, 2001, S. 66 ff. mwN; Lars P. Feld/Gebhard Kirchgässner: Wirkungen direkter Demokratie. Was sagt die moderne politische Ökonomie?, in: Heußner/Jung, Demokratie (Fn. 84), S. 424 f. mwN; Heußner, Jahrhundert (Fn. 88), S. 153 f. 182 Vgl. o. III.1.b)bb)(2). 183 Heußner, Jahrhundert (Fn. 88), S. 154 f.; derselbe, Gemeinwesen (Fn. 107), S. 87 f.; derselbe, Bürgergesellschaft (Fn. 12), 2006, S. 42; derselbe, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 374. 177

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teiligten Wohngebieten lebenden Bürger an der Abstimmung z. T. überdurchschnittlich.184 Auf der anderen Seite ist es auch nicht zwingend, dass die unterproportionale Beteiligung von Unterschichtsangehörigen in jedem Fall zu Ergebnissen führt, die deren Interessen zuwider laufen und bei angemessener Beteiligung anders ausgefallen wären. Dies zeigt der Hamburger Schulvolksentscheid von 2010. Denn dass die vom Parlament geforderte flächendeckende Einführung der sechsjährigen Primarschule tatsächlich zu besseren Schulleistungen bzw. mehr Bildungsgerechtigkeit führt, scheint nach Ansicht mancher führender Bildungsexperten eher eine Vermutung und keineswegs empirisch belegt zu sein.185 Die Ablehnung der Primarschule widerspricht also nicht zwangsläufig den Interessen von Kindern aus bildungsfernen Schichten. Und auch wenn sich die unteren sozialen Schichten wesentlich stärker beteiligt hätten, hätte es zu einer Ablehnung der Primarschule kommen können. Denn in einer repräsentativen Umfrage gut eine Woche vor der Abstimmung gaben von den 62 % der Stimmberechtigten, die bereits per Briefwahl abgestimmt hatten bzw. angaben, noch abstimmen zu wollen, 41 Prozent an, gegen die Primarschule zu sein, während 38 Prozent für die Primarschule waren. Zudem befanden sich unter den Reformgegnern besonders viele Hauptschüler.186 d) Zumutbarkeit von Volksentscheiden, Abstimmungspflicht Die unterdurchschnittliche Abstimmungsbeteiligung von Unterschichtsangehörigen kann es nicht rechtfertigen, das Abstimmungsrecht aller Bürger substanziell zu beschneiden oder von vornherein nicht einzuführen. Denn es ist unverhältnismäßig, den Schutz der Unterschicht, die lediglich eine Minderheit darstellt,187 dadurch zu er184 Vgl. Peter Höfflin, Der Freiburger Bürgerentscheid über den Verkauf des städtischen Wohnungsbestandes, in: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 6/2007, S. 50, 53 f.; Fabian Reidinger/Jürgen Zinnel: Sanierung der Kommunalfinanzen durch den Verkauf städtischer Wohnungen? Der Fall Freiburg, in: Heußner/Jung, Demokratie (Fn. 84), S. 375. 185 So gibt der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Jürgen Baumert, an, „belastbare empirische Evidenz für die Wirkungen einer zweijährigen Verlängerung der Grundschule kenne ich nicht.“ Der Spiegel Nr. 24/2010 v.14. 6. 2010, S. 42. Vgl. auch Thomas Kerstan: Der Glaubenskrieg, in: Die Zeit v. 15. 7. 2010, S. 1. 186 Vgl. Insa Gall: Ausgang des Volksentscheids steht auf Messers Schneide, in: Welt Online v. 9. 7. 2010, http://www.welt.de/die-welt/regionales/hamburg/article8382155/Aus gang-des-Volksentscheids-steht-auf-Messers-Schneide.html (Zugriff: 9. 7. 2010). Verfasser geht davon aus, dass sich die Gruppe derer, die sich noch beteiligen wollen, aus den beiden Frage-Gruppen derjeniger zusammensetzt, die noch „sicher“ bzw. noch „wahrscheinlich“ abstimmen wollen. – Inwiefern in den Stadtteilen mit benachteiligter Sozialstruktur mehrheitlich für die Primarschule gestimmt wurde, lässt sich nicht feststellen. Denn eine Differenzierung des Abstimmungsergebnissen nach Stadtteilen liegt nicht vor, da die Briefabstimmung, die den größten Teil der Abstimmungsbeteiligung ausmacht, nicht nach Stadtteilen ausgezählt wurde. So Auskunft des Statistischen Amts für Hamburg und Schleswig-Holstein an den Verfasser. 187 Die Berechnungen der Wirtschaftsforschungsinstitute, die im einzelnen etwas schwanken, geben Werte von ca. 20 % der Bevölkerung an, vgl. Philip Plickert: Die Mittel-

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kaufen, dass der Mehrheit das Selbstbestimmungsrecht vorenthalten wird. So kommt auch niemand auf die Idee, das Wahlrecht zu beschneiden, weil auch an Wahlen Unterschichtsangehörige weit weniger teilnehmen als andere Bürger.188 Sind aber Wahlen für Unterschichtsangehörige zumutbar, sind es auch Sachabstimmungen, sofern die oben dargestellten Regelungen eingeführt werden. Dann ist nämlich jeder in der Lage, die Abstimmungsempfehlung der Partei zu kennen, die er bei der letzten Wahl gewählt hat oder jetzt wählen würde, und dieser zu folgen. Damit würde der Sache nach aber die Situation hergestellt, die auch bestünde, wenn es gar keine Volksgesetzgebung gäbe. Denn dann würden ebenfalls die Parteien die Sachfragen entscheiden. Eine unterschichtsadäquate Ausgestaltung des Volksgesetzgebungsverfahrens garantiert freilich nicht, dass die Bürger sich auch tatsächlich an Abstimmungen beteiligen. Es ist deshalb grundsätzlich zu empfehlen, eine Abstimmungspflicht (und ebenso Wahlpflicht) einzuführen. Denn zum einen ist „die Wahl- und Abstimmungsdemokratie ein Kollektivgut. Sie funktioniert nur, wenn sich viele daran beteiligen. Nichtwähler sind Trittbrettfahrer … Die liberale Ansicht, Volksrechte schlössen auch das unbelastete Recht auf Nichtteilnahme ein, ist zwar verlockend, aber einseitig. Sie übersieht, dass diejenigen, welche teilnehmen, eine Leistung erbringen, von der auch die Nichtteilnehmer profitieren.“189 Zum anderen führen Wahl- bzw. Abstimmungspflichten sowohl zu größerem politischen Interesse und einem besseren Informationsstand der Bürger,190 als auch zu einer höheren und sozial gleichmäßigeren Beteiligung an Urnengängen.191 IV. Fazit Selbstbestimmung nach der Mehrheitsregel ist der Maßstab demokratischer Herrschaft. Daran gemessen, weist die rein repräsentative Demokratie ein Systemdefizit auf. Denn die systemtypischen Instrumente repräsentativdemokratischer politischer Teilhabe wie Wahlen, Ausübung der politischen Grundrechte, Demoskopie und das Engagement in Parteien sind nicht in der Lage, den Mehrheitswillen der Bürger hinreichend differenziert, verlässlich und verbindlich sowohl abzubilden als auch durchschicht schrumpft, in: FAZ.NET v. 15. 6. 2010, http://www.faz.net/s/Rub050436 A85 B3 A4C64819D7E1B05B60928/Doc~ED146CC246F2 A40BC9384F84B8CCC0972~ATpl~ Ecommon~Scontent.html (Zugriff: 14. 2. 2011); derselbe: Forscher: Massenabstieg aus der Mittelschicht ist Mythos, in: FAZ v. 18. 1. 2011, S. 10. 188 Vgl. Heußner, Volksgesetzgebung (Fn. 3), S. 375. 189 Linder, Schweizerische Demokratie (Fn. 73), S. 290 f. 190 Vgl. Linder, Schweizerische Demokratie (Fn. 73), S. 290, 67 f. 191 Vgl. Linder, Schweizerische Demokratie (Fn. 73), S. 290, 67 f.; Interview mit Armin Schäfer: „Der Zwang kann moderat sein“, in: SZ v. 23. 9. 2009, S. 6; Interview mit demselben: Forscher fordert neue Diskussion um Wahlpflicht, in: Welt-Online v. 14. 5. 2010, http://www. welt.de/politik/nrw-wahl/article7627263/Forscher-fordert-neue-Diskussion-ueber-Wahlpflic ht.html (Zugriff: 14. 2. 2011). Freilich liegt die Hauptwurzel der zunehmenden Wahlenthaltung unterer sozialer Schichten in der sozialen Ungleichheit selbst, die deshalb vor allem zu bekämpfen ist, vgl. derselbe: Politische Parallelwelten. Wo die Nichtwähler wohnen, in: Magazin Mitbestimmung 06/2010, http://www.boeckler.de/107_107464.html (Zugriff: 14. 2. 2011).

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zusetzen. Deshalb produziert der Bundesgesetzgeber immer wieder Gesetze, die nicht dem Mehrheitswillen entsprechen. Dies legen nicht nur die angeführten Beispiele nahe, sondern lassen auch empirische Studien aus der Schweiz und den USGliedstaaten annehmen, wonach direkte Demokratie Lösungen hervorbringt, die näher an den Präferenzen der Bürger liegen. Wahlen allein genügen also nicht. Das repräsentativdemokratische System muss deshalb auf Bundesebene um Volksgesetzgebung ergänzt werden. Dies sehen auch die Bürger selbst so und fordern mit großen Mehrheiten die Einführung des Volksentscheids auf Bundesebene. Es ist daher auch kein Wunder, dass sie mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland deutlich weniger zufrieden sind als die Schweizer mit ihrer „gemischten“ Demokratie. Volksgesetzgebung muss in bestimmter Weise ausgestaltet sein, um eine gute Volksgesetzgebungspraxis zu gewährleisten. Dabei sind u. a. folgende Aspekte wichtig: Die einzuführende Volksgesetzgebung hat sich in den grundgesetzlichen Rahmen des demokratischen Rechtsstaats einfügen. Sie unterliegt daher allen Bindungen, denen auch der parlamentarische Gesetzgeber unterworfen ist, insbesondere den grundrechtlichen Garantien. Verfassungsänderungen müssen die Ewigkeitsgarantie beachten. Um den Minderheitenschutz zu sichern, ist für erfolgreiche Verfassungsinitiativen zudem eine 2/3-Mehrheit zu fordern. Minderheitenbeeinträchtigende Initiativen, wie sie in jüngster Zeit in der Schweiz (Minarettverbot, zwingende Ausweisung von Ausländern) und Kalifornien (Verbot der Ehe gleichgeschlechtlicher Paare) erfolgreich waren, u. a. weil dort für Verfassungsänderungen einfache Mehrheiten ausreichen, wären so schon deshalb weitgehend ausgeschlossen. Der Minderheitenschutz wird effektuiert, wenn das BVerfG Volksvorlagen präventiv einer umfassenden materiellen Normenkontrolle unterziehen kann. Maßstab muss auch das für Deutschland verbindliche Völker- und Europarecht sein. Volksgesetzgebung ist eng mit der parlamentarischer Gesetzgebung zu verzahnen, um die parlamentarischen Diskussions-, Verhandlungs- und Kompromisspotentiale im Volksgesetzgebungsverfahren zu nutzen. Ein Volksbegehren muss deshalb im Rahmen der „Indirect Initiative“ Interaktionsphasen mit dem Parlament durchlaufen. Dem Parlament solltes es grundsätzlich auch möglich sein, volksbeschlossene Gesetze und Verfassungsänderungen seinerseits ohne Volkszustimmung zu ändern. Anderenfalls droht Inflexibilität. Dies ist in Kalifornien zu beobachten. Allerdings muss das Volk das Recht haben, Änderungen des Parlaments unter erleichterten Bedingungen zur Volksabstimmung stellen zu können. Um die Selbstbestimmung der Bürger zu sichern, darf Volksgesetzgebung nicht dem Zugriff einseitiger finanzieller Macht ausgesetzt sein. Es ist deshalb auszuschließen, dass die Unterschriften zur Qualifikation eines Volksbegehrens mit Hilfe kommerzieller Sammler zusammengetragen werden können. Das formelle Eintragungsverfahren ist dafür besonders geeignet. Um im Abstimmungskampf den Einfluss einseitiger finanzieller Macht einzuschränken, ist am Verbot kommerzieller politischer

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Rundfunkwerbung festzuhalten. Sodann ist eine substanzielle öffentliche Erstattung der Abstimmungskampfkosten für beide Seiten zu etablieren. Eine einzuführende offizielle Abstimmungsbroschüre dient ebenfalls der Chancengleichheit. Strenge Transparenzregeln für Befürworter und Gegner müssen dafür sorgen, dass der Öffentlichkeit bekannt ist, welche Personen und dahinter stehenden Interessen sich finanziell in Abstimmungskämpfen engagieren. Falls sich diese Regulierungen als nicht ausreichend erweisen, ist auch an Spenden- und Ausgabenbeschränkungen zu denken. Die zuweilen unterdurchschnittliche Abstimmungsbeteiligung von Unterschichtsangehörigen kann es nicht rechtfertigen, das Abstimmungsrecht aller Bürger substanziell zu beschneiden oder von vornherein nicht einzuführen. Dies wäre unverhältnismäßig und hätte große Selbstbestimmungsverluste zur Folge. Es ist jedoch auf eine unterschichtsadäquate Ausgestaltung des Volksgesetzgebungsverfahrens zu achten. Insbesondere empfiehlt sich eine Abstimmungspflicht.

Das Amfortas-Syndrom der Politikverdrossenheit, oder: Mißtrauen in der Demokratie und Vertrauen in die Demokratie* Von Karsten Fischer Die Debatte über politisches Vertrauen garantiert verläßlich Aufregung: Die Bevölkerung vertraut den Politiker(inne)n weniger als zu den zwangsläufig unbestimmt bleibenden, aber stets Autorität heischenden, „früheren Zeiten“. Im Gegenzug vertrauen auch die Politiker(innen) der Bevölkerung immer weniger und versuchen stattdessen, den aus ihrer Sicht zum unsicheren Kantonisten gewordenen Volkssouverän durch allgegenwärtige Demoskopie auszurechnen, durch Theatralisierung zu beeinflußen und seinen Willen unter Berufung auf vorgebliche Sachzwänge abzuwehren. Und über diesen Zustand wechselseitigen Mißtrauens ist die Bevölkerung ebenso beunruhigt wie die „politische Klasse“, weil als ausgemacht gilt, daß Vertrauen in der Demokratie wichtig, ja unerläßlich sei, und man sich also mit dem eigenen Mißtrauen unwohl fühlt. Kurz und salopp gesagt gilt für das Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten: Jeder regt sich über jeden auf. Unhinterfragt bleibt dabei nur der Glaube, daß das vermeintlich verschwundene Vertrauen vordringlich sei (Fischer/Huhnholz 2010), und dieser Glaube zeigt sich ungebrochen auch auf Wahlplakaten, auf denen versucht wird, aus der unerfüllten Vertrauenssehnsucht politisches Kapital zu schlagen, sei es, daß 1983 für Helmut Kohl plakatiert wurde „Dieser Kanzler schafft Vertrauen“, sei es, daß Gerhard Schröder im Jahr 2005 „Vertrauen in Deutschland“ artikulierte, um hieraus den Nachsatz „Gerhard Schröder muss Kanzler bleiben!“ abzuleiten. Aber ist ein solches Vertrauen auf Vertrauen richtig? Ist in freiheitlichen Ordnungen Mißtrauen womöglich sogar wichtiger und richtiger als Vertrauen? Oder genauer: Muß zwischen Mißtrauen in der Demokratie als einer positiven Erscheinungsform gesunder Skepsis gegenüber politischen Amtsträgern und Vertrauen in die Demokratie als einem notwendigen, institutionellen Systemvertrauen unterschieden werden? Zur Klärung dieser Fragen bietet es sich an, zunächst einen kurzen Blick in die Geschichte der Vertrauensthematik zu werfen, um die Selbstverständlichkeit des Vertrauens auf Vertrauen kritisch beurteilen zu können (I.). Von hieraus lassen sich dann systematische Reflexionen auf das Verhältnis von Vertrauen und Mißtrauen in der

* Für wertvolle Hinweise und Anregungen danke ich Sebastian Huhnholz.

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modernen Demokratie anstellen (II.).1 Diese lassen sich dann nutzen, um mit einigen aktuellen Überlegungen zu schließen (III.). I. Angesichts der Allgegenwart der vielschichtig, ja gegensätzlich verstehbaren Vertrauensthematik in den Befindlichkeitsdebatten unserer liberalen Demokratie könnte man meinen, daß Vertrauen seit jeher eine zentrale Kategorie des Nachdenkens über die Bestandsbedingungen freiheitlicher politischer Ordnung gebildet hat. Doch das Gegenteil ist der Fall: Im Zuge der mit der Ausbildung demokratischer Regierungsprinzipien gleichursprünglichen „Entstehung des Politischen bei den Griechen“ hatte man im wahrsten Sinne des Wortes noch andere Sorgen (Meier 1983). Die Trennung zwischen politischer Gleichheitsordnung und fortbestehender sozialer Ungleichheit ließ Vertrauen gar nicht erst thematisch werden, weil die bestehenden sozialen Beziehungen und ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse gar nicht erst hinterfragt, geschweige denn geändert wurden. Für die christliche politische Theologie des Mittelalters wiederum war, gemäß dem Wort des Apostels Paulus (Röm 13, 1), alle Obrigkeit – auch tyrannische – von Gott eingesetzt und also sakrosankt; politisches Vertrauen reduzierte sich damit auf Gottvertrauen. Erst die demokratische Renaissance im Zuge des mit der Idee des Gesellschaftsvertrages verbundenen, neuzeitlichen Staatsdenkens ließ dann Vertrauen als Erfordernis demokratischer Ordnung oder gar des sozialen Zusammenhalts insgesamt aufkommen. Im Rahmen des kontraktualistischen Denkens wurde Vertrauen nun zum Schlüsselbegriff aller fortan vornehmlich rechtsförmig gedachten Sozialbeziehungen, und in politischer Hinsicht hat die Wiederentdeckung der Demokratie der Vertrauensthematik einen besonders nachhaltige Bedeutung verschafft. Denn nun auf einmal hatte man die Chance, den vormals allenfalls gefürchteten Regierenden zu vertrauen. Dadurch stieg die Verantwortung für die eigene Wahlentscheidung und diejenige der Mitbürger für die ihre ganz erheblich, was das Folgeproblem nach sich zog, wie man seinen Mitbürgern trauen kann (Offe 2001). Und dieses Problem, daß nicht nur die Regierenden das mit ihrer Wahl ausgesprochene Vertrauen rechtfertigen müssen, sondern auch die Regierten den in der Zuschreibung ihrer Volkssouveränität liegenden Vertrauensvorschuß dadurch rechtfertigen müssen, daß sie vertrauenswürdig mit ihrer Macht, Macht zu delegieren, umgehen, liegt nicht nur gleichsam auf der horizontalen Ebene wechselseitigen Bürgervertrauens. Es kennzeichnet auch die eingangs genannte Problematik, daß mangelndes Vertrauen auch auf Seiten der Regierenden vorliegen kann und durch Vertrauenskrisen auf Seiten der Regierten in der Regel verstärkt wird. Von hieraus vermochte Vertrauen geradezu zu einem Schlüsselbegriff – um nicht respektloser zu sagen: zum running gag – der politischen Moderne zu werden. Wenn 1 Die Überlegungen in diesen beiden Abschnitten übernehme ich weitgehend aus meinem Essay Fischer 2011.

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man ein gesellschaftstheoretisches Verständnis dessen anlegt, kann man hieran wesentliche Aspekte der Thematik identifizieren, die zum systematischen Verständnis unserer Begriffe und Probleme genutzt werden können. II. Vormoderne Gesellschaften sind Gesellschaften, die Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft und Religion noch nicht als soziale Funktionssysteme unterscheiden und dadurch auf ihre jeweilige Funktion begrenzen. Diese Gesellschaften besitzen in der Regel ein hohes Maß an Vertrautheit, weil es sich um überschaubare Gesellschaften mit einem hohen Grad wechselseitiger persönlicher Bekanntschaften, Verflechtungen und Verpflichtungen handelt. Man kennt den politischen Entscheidungsträger aus der Religionsgemeinschaft und ist außerdem sein Geschäftspartner, also vertraut man seinen Intentionen. Moderne Gesellschaften hingegen unterscheiden soziale Funktionssysteme und richten Ämter und Organisationen zur Erfüllung ihrer Funktionen ein. An die Stelle der Vertrautheit persönlicher Bekanntschaften und des Vertrauens auf die Intentionen von Bekannten treten dabei komplexe soziale Institutionen, die ohne Ansehung von Personen arbeiten (sollten). Man muß also zwischen Vertrautheit und Vertrauen unterscheiden, und hierin liegt ein Charakteristikum der modernen Gesellschaft schlechthin (Luhmann 1989), die nicht auf vormodernes Personenvertrauen, sondern auf Systemvertrauen als Institutionenvertrauen (Lepsius 1997) basiert. In gewisser Weise kann man demnach sagen, daß die Besorgtheit des modernen Vertrauensdiskurses, insbesondere sein sorgenvoller Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt, paradox ist, insofern das Erfordernis sozialer Kohäsion in der Moderne zunehmend von einem funktionierenden, aufeinander abgestimmten Ensemble politischer, rechtlicher und administrativer Institutionen ersetzt wurde. Nichtsdestotrotz hat der Vertrauensdiskurs eine konstruktive Funktion in der politischen Kommunikation, denn über nichts läßt sich endloser und also besser kommunizieren als über dauerhafte Probleme. Die Anschlußfähigkeit der Kommunikation ist mithin gewährleistet, und nur darauf kommt es politisch an. Zudem werden staatliche Interventionen in Wirtschaft, Recht und Wissenschaft am liebsten durch die Behauptung sozio-moralischer Probleme und Erfordernisse legitimiert, und hierzu gehört das angebliche Auseinanderdriften der Gesellschaft ebenso wie eine vermeintliche Erosion von Vertrauen (Fischer 2006). An die Stelle von Personenvertrauen tritt also in der Moderne Institutionenvertrauen. Dieses bleibt wiederum paradox, weil Institutionen die Organisationsform des Mißtrauens in Personenvertrauen sind: Intakte und stabile, also vertrauenswürdige Institutionen sind ein Ausdruck effektiven Mißtrauens, das heißt jener erfolgreichen, wechselseitigen Kontrolle, die den Rechtsstaat auszeichnet (Schmalz-Bruns 2002).

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Man kann von hieraus also feststellen, daß die moderne Demokratie auch in puncto Vertrauen jene Position maßvoller Mitte einnimmt, die sie generell sowohl gegenüber autoritären oder gar totalitären Diktaturen als auch gegenüber vormodernen Systemen auszeichnet. Konkret bedeutet dies, daß der liberal-demokratische Verfassungsstaat weder im Sinne des berühmten, Lenin zugeschriebenen Zitates, Mißtrauen sei gut, Kontrolle besser, auf repressive Kontrolle setzt, noch sich an einem vormodernen, auf reziproke Interaktionsverhältnisse gestützten Vertrauen auf Vertrauen beteiligt. Kennzeichnend für den demokratischen Rechtsstaat ist vielmehr das Vertrauen auf effektives Mißtrauen im Rahmen seines institutionellen Arrangements und, komplementär hierzu, das Mißtrauen gegenüber Personenvertrauen. An diesen Überlegungen kann man unschwer erkennen, daß das Verhältnis zwischen Vertrauen und Mißtrauen in der politischen Moderne weitaus komplizierter ist als es ein „politisch korrektes“, aber naives Vertrauen auf Vertrauen erfassen könnte: Wie gesagt ist nicht Vertrauen an und für sich positiv, sondern worauf es ankommt, ist die bewußte Unterscheidung zwischen problematischem Personenvertrauen und jenem die rechtsstaatlichen Kontrollfunktionen anleitenden Institutionenvertrauen als paradoxer Organisationsform des Mißtrauens in Personenvertrauen. Daran sieht man, um welch voraussetzungsvolle Angelegenheit es sich beim Institutionenvertrauen handelt: Nicht nur ist es gesellschaftsgeschichtlich und sozialpsychologisch naheliegender, Personen zu vertrauen, die Institutionen beeinflußen können, als Institutionen die Kontrolle von Personen zuzutrauen. Generell ist und bleibt Vertrauen eine riskante Vorleistung, vor allem aber eine weitgehend vor-rationale: Man kann sich schlecht bewußt dafür entscheiden beziehungsweise im Zweifelsfall dazu durchringen zu vertrauen. Vertrauen ist eine intuitive Angelegenheit und also kaum entscheidungsfähig. Deshalb entbehrt der Begriff politisches Vertrauen nicht einer gewissen Paradoxie, denn in der Politik geht es um die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen (Luhmann 2000) – Vertrauen aber ist, wie gesagt, kaum entscheidbar, so daß das Adjektiv politisch in einem Spannungsverhältnis zu dem Substantiv Vertrauen steht. Die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Institutionenvertrauen und Personenvertrauen zeigt sich auch in den empirischen bzw. demoskopischen Befunden zur Thematik. So war beispielsweise einerseits jüngst in einem Beitrag des Instituts für Demoskopie Allensbach in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen, der mühsame „Aufbau eines tiefempfundenen, nicht allein rational erfassten Vertrauens in das demokratische System“ sei heute in ganz Deutschland „trotz aller Klagen über die Tagespolitik weit gediehen“ (Petersen 2010). Als Beleg für solches Systemvertrauen sollte dienen, daß der Satz, man verbrenne sich bei politischem Engagement nur die Finger und verzichte besser darauf, von 55 Prozent der Befragten abgelehnt werde. Genau die umgekehrte Diagnose wird andererseits von der Eliteforschung verbreitet, in der man nachlassendes Vertrauen auf Eliten wahrnimmt und vor dessen demokratischer Brisanz warnt (Kaina 2008). Offensichtlich meint die Allensbach-Stu-

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die Institutionenvertrauen, die pessimistische Analyse von Viktoria Kaina hingegen Personenvertrauen. Sämtliche alarmistischen Befunde hinsichtlich abnehmenden Personenvertrauens kranken indes daran, daß sie weder empirisch noch theoretisch belegbar sind. So besteht zwar ein Zusammenhang zwischen Personen- und Institutionenvertrauen, was sich beispielsweise daran zeigt, daß im Zuge von Regierungswechseln das größer oder geringer werdende Vertrauen in das politische Personal teilweise auf die politischen Institutionen projiziert wird (Brunner/Walz 2000; Gabriel 1999). Doch noch niemals ist eine Demokratie an mangelndem Vertrauen zugrunde gegangen, allenfalls im Gegenteil, wie im Fall der Weimar Republik, an „einem vom Vertrauen des Volkes getragenen Führer- bzw. Obrigkeitsstaat“ (Sontheimer 1968: 255; zur Fernwirkung Weimars vgl. Kersten 2003 und Ullrich 2009), mithin an einem zu geringen Mißtrauen. Schließlich bekämpfte der Nationalsozialismus die liberal-demokratische Trennung zwischen Personen- und Institutionenvertrauen und zielte darauf ab, daß der „Führer“ zugleich als Institution galt, so daß sich absolutes Systemvertrauen im bedingungslosen Gehorsam gegenüber dem politischen Willen Hitlers ausdrücken sollte. Dies bestätigt die generell plausible Vermutung, daß ein komplementäres Verhältnis zwischen einem sich auf die Akteursebene richtenden, gesunden Mißtrauen in der Demokratie und einem sich auf die von wechselnden Akteuren unabhängigen und solchen Wechsel garantierenden Institutionen richtenden Vertrauen in die Demokratie besteht und gewahrt werden muß (vgl. Almond/Verba 1965; Gabriel 1999: 204; Walter-Rogg 2005: 141). Diese nur selten berücksichtigte Komplementarität ermöglicht auch einige abschließende Überlegungen aus aktuellem Anlaß.

III. Anläßlich der Affäre um die plagiierte Dissertation des daraufhin zurückgetretenen Bundesministers der Verteidigung, Karl-Theodor zu Guttenberg soll Bundestagspräsident Norbert Lammert, unbestätigten Presseberichten zufolge, geäußert haben, dieser Skandal sei „ein Sargnagel für das Vertrauen in unsere Demokratie“. Während dies, gemessen an den vorstehend befürworteten Differenzierungen, eine mindestens unsinnige, wenn nicht gar fahrlässige Bemerkung darstellte, sollte sie so gefallen sein, ist mindestens bestätigt, daß Lammert die Online-Meinungsumfragen zur Haltung der Bevölkerung hinsichtlich Guttenbergs Rücktritt kritisiert hat, und dies dürfte in der Tat das weitaus ernstere Problem darstellen als der eigentliche Plagiatsskandal. Denn abgesehen von der inakzeptablen Entwicklung, politische Entscheidungen auf demoskopischem Wege beeinflußen zu wollen, liegt in der beinahe unbeeinträchtigten Zustimmung, die Guttenberg ungeachtet seines Vergehens erfährt, ein Vertrauensproblem besonderer Art, nämlich das Fehlen von Mißtrauen. Schließlich zeigt die mehrheitliche öffentliche Reaktion auf den Fall Guttenberg, daß die vieldiskutierte

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Politikverdrossenheit reflexiv geworden ist: Ein ephemer stilisierter Hoffnungsträger soll der vieldiskutierten Politikverdrossenheit abhelfen, und diesbezüglich irritiert die Mehrheit nicht einmal, daß dieser Hoffnungsträger genau denjenigen Klischees über Politk entspricht, die zur Politikverdrossenheit beigetragen haben. Eine Mehrheit des Volkes beobachtet sich also offenbar selbst als politikverdrossen, stellt über diese Nabelschau die analytische Beobachtung der politischen Akteure zurück, und hofft wider besseres Wissen auf einen Effekt, den man als das Amfortas-Syndrom der Politikverdrossenheit ironisieren könnte: Die lasterhafte politische Klasse, die die Politikverdrossenheit herbeigeführt hat, soll sie auch wieder heilen, und über diese Seltsamkeit apotropäischen Denkens täuscht „das neue politische Bußritual“ (Lübbe 2001) der zerknirschten Entschuldigung hinweg. Unschwer zu prognostizieren ist, daß unter solchen Bedingungen jeder an sich selbst gescheiterte, charismatische Politiker nach dem Motto des rosaroten Panthers verfahren kann: „Heute ist nicht alle Tage, ich kommÌ wieder, keine Frage.“ Hierin aber liegt das eigentliche Vertrauensproblem: Die Personalisierung der Politik führt dazu, daß Personenvertrauen notorisch überdeterminiert ist, während doch der liberal-demokratische Konstitutionalismus an die Stelle des Vertrauens auf die guten Intentionen politischer Akteure das Funktionieren ausbalancierter Institutionen gesetzt hat: Man kann auf die Demokratie vertrauen, weil sie zu ihrem eigenen Schutz das Mißtrauen institutionalisiert hat. Konkret bedeutet dies, daß die Demokratie davon lebt, daß das Vertrauen auf die langfristige historische Vernunft ihres Verfahrens größer ist als das Vertrauen auf die Vernunft der eigenen politischen Überzeugung. Wäre es anders, dann schwände die Akzeptanz demokratischer Mehrheitsentscheidungen, und die seit Alexis de Tocqueville (1976) befürchtete „Tyrannei der Mehrheit“ verkehrte sich in eine Tyrannei der Minderheit. In den von Tocqueville seinerzeit untersuchten USA ereignet sich vor allem im konservativen Lager gerade eine gefährliche Entwicklung in diese Richtung, die eigenen politischen Überzeugungen weltanschaulich zu überhöhen und einen demokratischen Wahlerfolg politisch Andersdenkender nicht als bei der nächsten Wahl revidierbare, zyklische Normalität anzusehen, sondern als Weltuntergangsszenario. Demokratie ist aber seit ihrer Entstehung bei den Griechen kein Mittel zur Wahrheitsfindung (Meier 1983), sondern die Organisationsform der Einsicht, daß Politik nicht „wahrheitsfähig“ (vgl. Habermas 1973: 230) ist, sondern auf Kontingenz beruht (Greven 2009, 2010). Aus diesen Richtigstellungen ergibt sich, wie verfehlt das wie auch immer wohlmeinende Verständnis ist, die Demokratie könne und solle, bis hin zu ubiquitärer Demoskopie, die Überzeugungen der Bevölkerung ermitteln und zur Geltung bringen, um auf diesem Wege dem vermeintlichen Ideal einer identitären Demokratie näher zu kommen. Diesem Verständnis, das es Politikern möglich macht, ihr eigenes Fehlverhalten mit dem Hinweis zu entschuldigen, in einer Demokratie seien die politischen Entscheidungsträger nur so gut wie diejenigen, die sie legitimiert hätten, ist ein zunächst irritierendes, auf den zweiten Blick aber um so überzeugenderes, tiefgründiges

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Zitat von Thomas Dehler entgegenzusetzen, der in der Debatte des Deutschen Bundestages über die Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1952 dem Argument, die Mehrheit der Bevölkerung wünsche sie, entgegenhielt: „Ich glaube, man verkennt das Wesen der Demokratie, wenn man glaubt, das Parlament sei der Exekutor der Volksüberzeugung. Ich meine, das Wesen der repräsentativen Demokratie ist ein anderes, es ist das der parlamentarischen Aristokratie. Die Parlamentarier haben die Pflicht und die Möglichkeit, aus einer größeren Einsicht, aus einem besseren Wissen zu handeln, als es der einzelne kann.“ (Dehler 1952: 10612). Diese auf den Federalist Papers gründende Überzeugung, daß der Parlamentarismus die institutionelle Remedur individueller Defizite und die einzige Chance auf Verbesserung moralischer (und intellektueller) Qualitäten bietet, ist ebenso unzeitgemäß wie sie zutreffend sein dürfte. Würde sie befolgt, anstatt das Heil zunehmend in partizipatorischer Demokratie zu suchen, erübrigte sich auch ein ritualisiertes Vertrauens- beziehungsweise Mißtrauenslamento. Literaturverzeichnis Almond, Gabriel A./Verba, Sidney (1965): The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Boston. Brunner, Wolfram/Walz, Dieter (2000): Das politische Institutionenvertrauen in den 90er Jahren, in: Jürgen W. Falter/Oscar W. Gabriel/Hans Rattinger (Hg.): Wirklich ein Volk? Die politischen Orientierungen von Ost- und Westdeutschen im Vergleich, Opladen, S. 175 – 208. Dehler, Thomas (1952): In: Verhandlungen des deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode 1949, Stenographische Berichte Band 13 von der 228. Sitzung am 10. September 1952 bis zur 239. Sitzung am 27. November 1952, Bonn 1952, S. 10610 – 10616. Fischer, Karsten (2006): Moralkommunikation der Macht. Politische Konstruktion sozialer Kohäsion im Wohlfahrtsstaat, Wiesbaden. – (2011): Politisches Vertrauen in der Ära „TINA“, in: Herbert Quandt-Stiftung (Hg.): 30. Sinclair-Haus-Gespräch. Vertrauen und das soziale Kapital unserer Gesellschaft, Freiburg, S. 20 – 29. Fischer, Karsten/Huhnholz, Sebastian (2010): Vertrauen und Sozialkapital. Konturen einer politischen Debatte, in: Heinz Bude / Karsten Fischer / Sebastian Huhnholz: Vertrauen. Die Bedeutung von Vertrauensformen für das soziale Kapital unserer Gesellschaft. Schriftenreihe „Gedanken zur Zukunft“ (H. 19) der Herbert Quandt-Stiftung, Bad Homburg v.d. Höhe, S. 16 – 41. Gabriel, Oscar W. (1999): Integration durch Institutionenvertrauen. Struktur und Entwicklung des Verhältnisses der Bevölkerung zum Parteienstaat und zum Rechtsstaat im vereinigten Deutschland, in: Jürgen Friedrichs/Wolfgang Jagodzinski (Hg.): Soziale Integration, Wiesbaden (KZfSS-So.-H. 39), S. 199 – 238. Greven, Michael Th. (2009): Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, Wiesbaden.

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– (2010): Verschwindet das Politische in der politischen Gesellschaft? Über Strategien der Koningenzverleugnung, in: Thomas Bedorf/Kurt Röttgers (Hg.): Das Politische und die Politik, Berlin, S. 68 – 88. Habermas, Jürgen (1973): Wahrheitstheorien, in: Helmut Fahrenbach (Hg.): Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, Pfullingen, S. 211 – 265. Kaina, Viktoria (2008): „Declining Trust in Elites and Why We Should Worry About It – With Empirical Evidence from Germany“, in: Government and Opposition, S. 405 – 423. Kersten, Jens (2003): Parlamentarische oder stabile Regierung, in: Christoph Gusy (Hg.): Weimars lange Schatten „Weimar“ als Argument nach 1945, Baden-Baden, S. 281 – 309. Lepsius, M. Rainer (1997): Vertrauen zu Institutionen, in: Stefan Hradil (Hg.): Differenz und Integration, Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996, Frankfurt/M./New York, S. 283 – 293. Lübbe, Hermann (2001): Ich entschuldige mich. Das neue politische Bußritual, Berlin. Luhmann, Niklas (1989): Vertrauen. Ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart. – (2000): Die Politik der Gesellschaft, hg. v. Andr¤ Kieserling, Frankfurt/M. Meier, Christian (1983): Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. Offe, Claus (2001): „Wie können wir unseren Mitbürgern vertrauen?“, in: Martin Hartmann/ Claus Offe (Hg.): Vertrauen. Die Grundlage des sozialen Zusammenhalts, Frankfurt/M., S. 241 – 294. Petersen, Thomas (2010): „Die engagierte Gesellschaft“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 22, S. 5. Schmalz-Bruns, Rainer (2002): „Vertrauen in Vertrauen? Ein konzeptueller Aufriss des Verhältnisses von Politik und Vertrauen“, in: Ders./Reinhard Zintl (Hg.): Politisches Vertrauen. Soziale Grundlagen reflexiver Kooperation, Baden-Baden, S. 9 – 35. Sontheimer, Kurt (1968): Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik: Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. Studienausg. mit einem Ergänzungsteil: Antidemokratisches Denken in der Bundesrepublik, München. Tocqueville, Alexis de (1976): Über die Demokratie in Amerika, München. Ullrich, Sebastian (2009): Der Weimar-Komplex. Dass Scheitern der ersten deutschen Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, Göttingen. Walter-Rogg, Melanie (2005): Politisches Vertrauen ist gut – Misstrauen ist besser? Ausmaß und Ausstrahlungseffekt des Politiker- und Institutionenvertrauens im vereinigten Deutschland, in: Oscar W. Gabriel/Jürgen W. Falter/Hans Rattinger (Hg.): Wächst zusammen, was zusammengehört? Stabilität und Wandel politischer Einstellungen im wiedervereinigten Deutschland, Baden-Baden, S. 285 – 313.

Hat Marx doch Recht? Die Instrumentalisierung der Politik durch die Wirtschaft Von Sahra Wagenknecht I. Einfluss auf die Gesetzgebung Im Jahr 2008 erschien in erster Auflage das Buch „Der gekaufte Staat“ der Journalisten Sascha Adamek und Kim Otto. In ihm schildern die Autoren das seinerzeit von Rot-Grün initiierte „Personalaustauschprogramm“ zwischen Staat und Wirtschaft. Dieses Programm läuft darauf hinaus, dass Konzern- und Verbandslobbyisten Schreibtische in Ministerien beziehen und dort – teils direkt, mindestens aber indirekt – an Gesetzen und Gesetzesprojekten mitarbeiten. Mehr als 300 solcher von der Wirtschaft bezahlten und ihren Interessen verpflichteter „Leihbeamten“ sollen nach einer Prüfung des Bundesrechnungshofes in den letzten Jahren ihre Schreibtische in diversen Ministerien bezogen haben. Zwar wurden im Jahr 2008 angesichts wachsenden öffentlichen Drucks die Regeln ein wenig verschärft. An der Praxis, dass Mitarbeiter von Unternehmen extern in Bereichen arbeiten, die unmittelbar die Geschäftsinteressen ihrer Arbeitgeber betreffen, hat sich jedoch seitdem nichts geändert. Institutionalisiert ist das Engagement der Wirtschaft auch in Brüssel. In der dortigen Bürokratie arbeiten Vertreter aus nahezu allen Wirtschaftsbereichen an Gesetzen und Verordnungen der EU mit. Am Ende schreiben so Banker an genau den Bankenrettungsgesetzen mit, die sie mit Milliarden von Steuergeld von den Ergebnissen ihrer missglückten Zockerei befreien. Die Pharmalobby sitzt stets mit am Tisch, wenn Gesundheitsreformen auf den Weg gebracht werden. Es wundert daher wenig, dass eines der drängendsten Probleme in diesem Bereich, nämlich das der explodierenden Arzneimittelpreise, nie ernsthaft angepackt wird. Die Wirtschaftsberatung KPMG, deren Geschäft darin besteht, Unternehmen beim Steuersparen zu beraten, wird selbstverständlich zur Mitarbeit an einer Richtlinie zur Unternehmensberatung eingeladen. Und ein Lobbyist des Chemie-Multis BASF durfte – ausgestattet mit offiziellem Schreibtisch in der EU-Kommission – an der Verwässerung der Chemikalienrichtlinie REACH arbeiten. Doch es ist nicht nur auf die Leihbeamten zurückzuführen, dass es der Wirtschaftslobby bestens gelingt, sich staatliche Gesetze nach ihren Wünschen zu basteln: In die gleiche Richtung wirkt auch die immer mehr zunehmende Praxis, die Abfassung von Gesetzen ganz aus den Ministerien auszulagern. Unversehens werden nicht mehr Mi-

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nisterialbeamte, sondern Wirtschaftskanzleien wie Freshfield oder Linklaters mit der Erarbeitung der Gesetzestexte betraut, also Kanzleien, die sich über ihre Kunden, nämlich große Wirtschaftskonzernen finanzieren. Von diesen Wirtschaftskanzleien eine unabhängige Beratung zu erwarten, wäre geradezu sträflich naiv. Bei dieser Auslagerung originär staatlicher Aufgaben geht es nicht um Expertise, sondern um Interessen, denn private Unternehmen sind selbstredend keine gemeinwohlorientierte Einrichtung, sondern Institutionen, die für sich das Gewinnoptimum herausholen wollen. Der Auftrag des Gesetzgebers sollte eigentlich ein anderer sein! II. Legale Korruption? Hinzu kommt noch etwas anderes, etwas, das sich als „legale Korruption“ bezeichnen lässt. Das Motto hierfür ist: „Bezahlt wird später!“ Ich meine die Praxis, dass ehemalige Minister, Staatssekretäre und Abteilungsleiter, die sich für eine bestimmte Lobby besonders engagiert haben, unmittelbar nach ihrem Ausscheiden aus der Politik, sei es durch eigene Entscheidung oder durch Abwahl, gut bezahlte Stellen in eben dem Bereich erhalten, den sie zu Zeiten ihrer politischen Tätigkeit besonders begünstigt haben. Die Reihe derer, auf die dieses zutrifft, ist lang. Hier nur einige Beispiele: Wolfgang Clement wurde nach seiner Tätigkeit als Bundesminister für Arbeit und Wirtschaft in der Regierung von Gerhard Schröder mit einem Posten als Aufsichtsrat bei der RWE Power AG und bei einem führenden Leiharbeitsunternehmen belohnt. Bundeskanzler Gerhard Schröder übernahm bereits wenige Wochen nach Ende seiner Kanzlerschaft den Vorsitz des Aufsichtsrats der Betreibergesellschaft der Ostseegaspipeline, die er während seiner Kanzlerschaft aktiv gefördert hatte. SPD-Arbeitsminister Walter Riester, dessen privates Altersvorsorgemodell seinen Namen trägt, ist passenderweise mittlerweile Aufsichtsrat des Finanzdienstleisters Union Asset Management Holding. Auch Caio Koch-Weser wechselte von seiner Tätigkeit als Finanzstaatssekretär unmittelbar in die private Finanzbranche und ist seither Vorstandsmitglied der Deutschen Bank. Ex-Außenminister Joschka Fischer fördert die Pipeline Nabucco. Bert Rürup wurde vom Berater der Bundesregierung in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen zum Chefökonomen und Sonderberater in Fragen der Altersvorsorge beim Finanzdienstleister AWD. Und so weiter und so fort. Sie alle machten im Anschluss an ihre politischen Ämter Karriere in der Privatwirtschaft in eben dem Bereich, in dem sie vorher politisch tätig gewesen waren. In anderen Ländern wird diese Verfilzung von Wirtschaft und Politik teilweise noch offener gehandhabt. So kommt etwa der Finanzminister in den USA mit schöner Regelmäßigkeit aus den Reihen der Investmentbank Goldman Sachs. Wer diese enge Querverbindung zwischen Politik und Privatwirtschaft im Hinterkopf hat, wundert sich nicht mehr sonderlich, dass Gesetze heute so aussehen, wie sie aussehen: dass in ihnen nämlich die Profitinteressen vor allem großer Unternehmen viel umfangreichere Berücksichtigung finden als die Bedürfnisse und Nöte von Ar-

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beitnehmerinnen und Arbeitnehmern, aber auch von kleineren und mittleren Unternehmen. Politik ist zu weiten Teilen gekauft. Und selbst diejenigen, denen dies zu weit geht, werden zustimmen müssen, dass Politik unter einem massiven Einfluss der großen Unternehmen, der Finanzinstitute und Banken steht.

III. Globale Unternehmenskonzentration Es ist deshalb kein Wunder, dass sich immer mehr Menschen von der Politik abwenden und viele Politiker als korrupt und gekauft empfinden. Das Vertrauen in die Politik sinkt immer weiter. Das ist eine durchaus gefährliche Entwicklung. Hintergrund dessen ist allerdings nicht nur politischer Opportunismus, Unterwürfigkeit gegenüber den Wirtschaftsmächtigen und Korruption. Es geht um reale Machtverhältnisse. Die Privatisierung der Gesetzgebung ist Teil eines generellen Trends, nämlich des Trends zur Privatisierung der Welt. Die neoliberale Form der Globalisierung und auch die Liberalisierung des europäischen Binnenmarktes haben einen enormen Machtzuwachs der Großunternehmen ermöglicht. Dies ist kein naturwüchsiger Prozess, sondern ein politisch gelenkter: Staaten haben sich mit dem Abbau aller Hemmnisse für eine unbegrenzte globale Unternehmensexpansion und -konzentration, mit der Deregulierung der globalen Finanzmärkte und des globalen Kapitalverkehrs faktisch selbst entmachtet. Um die Gefahren einer solchen Entwicklung zu erkennen, hätte noch nicht mal ein Blick ins Marxsche Kapital Not getan. Es hätte genügt, Walter Eucken zu lesen, auf dessen ordoliberales Lehrgebäude sich die heutige Politik so gern beruft – auch wenn es offensichtlich ist, dass kaum einer derjenigen, die Eucken so gerne im Munde tragen, ihn je gelesen hat. Walter Eucken war bekanntlich einer der Väter des Konzepts einer sozialen Marktwirtschaft, der sich nach den Erfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts massiv für eine soziale Bändigung des Kapitalismus eingesetzt hat. Eucken hat dabei wiederholt auf die Bedingungen hingewiesen, die gewährleistet sein müssen, damit der Kapitalismus überhaupt sozial und ordnungspolitisch gebändigt werden kann. Die wichtigste dieser Bedingungen ist die Verhinderung wirtschaftlicher Macht. Und zwar aus einem einfachen Grunde: Weil sich wirtschaftliche Macht – so die eindringliche Warnung der Ordoliberalen – nicht kontrollieren lässt. Nur wenn wirtschaftliche Macht bereits am Entstehen gehindert wird, bleibt die Politik unabhängig genug, um der Wirtschaft einen sozialen Rahmen aufzuzwingen. Es war mit der industriellen Revolution, dass nach Eucken „das Zeitalter der Wucherung wirtschaftlicher Macht.“ begonnen hat. Eucken warnt: „Die Machtkörper gewinnen … ihrerseits einen großen politischen Einfluss in einem Staat, in dem sie zu wuchern beginnen. Der Staat wird dadurch selbst unfähig, die Monopolkontrolle wirksam durchzuführen.“ Daraus schließt er: „Nicht in erster Linie gegen den Missbrauch vorhandener Machtkörper sollte sich die Wirtschaftspolitik wenden, sondern

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gegen die Entstehung der Machtkörper überhaupt. Sonst besitzt sie keine Chance, mit dem Problem fertig zu werden.“1 Der Laissez-faire-Liberalismus – das haben die Ordoliberalen noch gewusst, während die Neoliberalen neuzeitlicher Prägung davon nichts mehr wissen wollen –, der Laissez-faire-Liberalismus ist deshalb fatal, weil er Großunternehmen entstehen lässt, die nicht nur die Märkte dominieren, sondern deren enorme wirtschaftliche Macht fortan auch jede gegen ihre Interessen gerichtete Politik verhindert. Auch Ludwig Erhard, der die ordoliberalen Ideen noch kannte und verinnerlicht hatte, wandte sich mit Nachdruck gegen die Einmischung von Wirtschaftslobbys in die Politik. Er plädiert dafür, „… dass ein auf Verbot gegründetes Kartellgesetz als das unentbehrliche, wirtschaftliche ,GrundgesetzÍ zu gelten hat. Versagt der Staat auf diesem Felde, dann ist es auch bald um die ,Soziale MarktwirtschaftÍ geschehen.“2 Jeder Markt tendiert dazu, Unterschiede zwischen Stark und Schwach, Groß und Klein zu verstärken und nicht etwa zu nivellieren. Unregulierten Märkten ist deshalb nicht etwa eine Tendenz zum Gleichgewicht innewohnend, wie die MainstreamLehre der Volkswirtschaft bis heute proklamiert, sondern im Gegenteil die Tendenz zur Konzentration und zur Entstehung markt- und am Ende auch staatsbeherrschender Oligopole. Als in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der europäische Binnenmarkt liberalisiert wurde, ging das mit einer massiven Verwässerung der Kartellkontrolle einher. Die Nonchalance gegenüber den sich herausbildenden europaweiten Zusammenschlüssen, in deren Ergebnis Wirtschaftsgiganten beispielloser Größe entstanden, begründete man gern damit, dass auf einem größer gewordenen Markt auch größere Anbieter Raum hätten, ohne dass der Wettbewerb eingeschränkt würde. Dieses Argument war jedoch schon deshalb verlogen, weil Marktmacht nicht erst da entsteht, wo es keinen Wettbewerb mehr gibt. Marktmacht entsteht bereits, wenn eine überschaubare Zahl von Unternehmen einen Markt dominiert. Das ist heute in der EU auf wichtigen Märkten vom Automobilsektor bis zum Einzelhandel der Fall – von der Energie- oder Wasserbranche ganz zu schweigen. IV. Wirtschaftsmacht und Politik Wichtiger aber noch ist, dass bei dem Verweis auf größer gewordene Märkte genau jene Frage ausgeklammert wurde, die für die ordoliberale Schule im Mittelpunkt gestanden hatte: die Frage nach den politischen Folgen von Wirtschaftsmacht. Anders als die Märkte waren die Nationalstaaten nämlich nicht größer geworden, sahen sich aber jetzt Konzernen gegenüber, die oftmals gewaltigere Summen bewegten als die Regierungen ganzer Länder. In dieser Mästung von Wirtschaftsmacht lag einer der schlimmsten Geburtsfehler der Europäischen Union, der ihre Entwicklung zum Lobbyverbund der Konzerne, der 1 2

Alle Zitate: Eucken, a.a.O. S. 172. Erhard, a.a.O. S. 17.

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gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung handelt, vorherbestimmt hat. Dies gilt in gleichem Maße für die von WTO, G8 und IWF durchgesetzte Variante der Globalisierung. Von Anfang an ging es dabei vor allem um die Absicherung sämtlicher Absatz- und Investitionsfreiheiten für global expandierende Unternehmensgiganten. Die Vertreter der ordoliberalen Schule brauchten die Erfahrungen aus der EU-Binnenmarktliberalisierung und der unregulierten Globalisierung nicht. Ihnen genügte die Erfahrung mit der Kartell- und Oligopolbildung des frühen 20. Jahrhunderts und der sich daraus ergebenden politischen Konsequenzen. Es ist schon bezeichnend, wie schnell in der Rezeption der ordoliberalen Schule verdrängt und vergessen wurde, dass es keineswegs nur die Sorge um die Funktionsfähigkeit von Markt und Wettbewerb war, die sie für die Förderung kleinerer und mittlerer Unternehmen, für Entflechtung, Monopolaufsicht und strikte Kartellverbote streiten ließ. Vielmehr wurden die Ordoliberalen immer auch getrieben von der Sorge um die Möglichkeit einer von den Interessen der Wirtschaftsmächtigen unabhängigen Politik. Ohne eine solche Unabhängigkeit, das haben sie vorhergesehen, würde und musste aus dem schönen Entwurf einer „sozialen Marktwirtschaft“ über kurz oder lang erneut ein ausschließlich profitgetriebener, dem Gemeinwohl hoch gefährlicher Kapitalismus werden. Denn wo vier oder fünf oder auch zehn Unternehmen die Entwicklung einer ganzen Branche bestimmen, haben ihre Investitionsentscheidungen, ihre Entscheidung über Einstellung oder Entlassung, über Betriebserweiterung oder -verlagerung eine derartige Relevanz für das Schicksal ganzer Regionen, dass die Politik sich den Wünschen und Begehrlichkeiten solcher Unternehmen kaum noch widersetzen kann. Schließlich gilt überall: Wer bezahlt, der bestimmt. Dieses Prinzip gilt auch in der Gesellschaft. Wer das ganz große Geld bewegt, dirigiert diejenigen, die auf das Geld letztlich angewiesen sind. Und es ist dabei völlig egal, auf welche Art und Weise er zu diesem Geld gekommen ist und ob dies legitim ist. Kurz gesagt: Marktmächtige kaufen sich die Politik, die sie brauchen. Dies gilt erst recht für die Finanzmärkte: Ein Land, das eine andere Politik betreibt, wird rigoros abgestraft. Auch Deutschland ist dem ausgeliefert. Die Ratingagentur Standard & Poor’s drohte völlig unverblümt vor der Bundestagswahl im Jahre 2005, dass eine Herabstufung des deutschen Kreditratings erfolgen könne, wenn das kommende Regierungsprogramm nicht auf einer bestimmten Linie liege. Und es war der ehemalige Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer, der die These aufstellte, „dass die Politik der Kontrolle der Finanzmärkte unterworfen ist“ – allerdings fand er diese Situation nicht im mindesten bedenklich. Katastrophal für Staaten ist auch das angesichts der wirtschaftlichen Machtverhältnisse grassierende Steuer- und Sozialdumping: Wenn Unternehmen sich aussuchen können, wo sie Steuern zahlen, wo sie investieren und wo sie Arbeitsplätze schaffen, dann entsteht ein Wettlauf um die niedrigsten Unternehmenssteuern, um die jämmerlichsten Löhne oder auch um die größten Subventionen. In der EU kann man dies sehr deutlich sehen. Seit der Binnenmarktliberalisierung sinken die Unternehmens- und Vermögenssteuern. Auf der anderen Seite steigen die Ver-

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brauchssteuern, und die Staatsquoten sinken. Das bedeutet in der Konsequenz, dass die Staaten ärmer werden und so auch stetig schlechter ausgestattete Aufsichts- und Gesetzgebungsorgane haben. Dieser Prozess verstärkt sich von selbst immer weiter, denn: Je erfolgreicher das Kartell der Wirtschaftsmächtigen in der Durchsetzung ihrer Interessen ist, desto mehr Geld diesen zur Verfügung steht, um ihre Interessen durchzusetzen, desto ärmer und handlungsunfähiger werden die Staaten. Steuerdumping bedeutet in der Konsequenz die Auszehrung der Staaten. Den staatlichen Behörden fehlt für die Erfüllung ihrer Aufgaben immer mehr Geld, was sich auch in einem Verlust an Kompetenz in den unterbezahlten Staatsbehörden widerspiegelt. Je weniger Geld, desto weniger effektiv sind Finanzaufsicht oder Steuerprüfer. Sie können damit nicht mehr einlösen, was ihr Auftrag ist: das Allgemeinwohl gegen wirtschaftliche Partikularinteressen zu verteidigen. Damit ist das erreicht, was man unter regulatory capture versteht: An entscheidenden Stellen verfügt die Wirtschaft über die Hebel und kann so bewirken, das die ökonomische Regulierung durch den Staat zu ihren Gunsten abläuft. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz beschrieb das Phänomen in seinem Buch Corporate Welfare folgendermaßen: Unter dem Begriff regulatory capture lasse sich die US-amerikanische Politik seit langem zusammenfassen; in der Krise sei dies besonders deutlich geworden: „Die Banken waren nicht nur so groß geworden, dass der Staat sie vor dem Zusammenbruch retten musste, sie besaßen auch so viel politische Macht, dass die Regierung ihnen keine Beschränkung mehr auferlegen konnte.“ Der globalisierte Kapitalismus hat zu einer extremen Konzentration ökonomischer Macht geführt. 500 Wirtschaftsgiganten kontrollieren etwa die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung. Daher ist es im heutigen Kapitalismus nicht mehr die Politik, die die Rahmenbedingungen für die Unternehmen setzt, sondern die Konzerne schaffen sich das ihnen genehme und für sie profitable Umfeld und zwingen staatlichem Handeln den von ihnen gewünschten Rahmen auf. Diese Wirtschaftsmonster wurden von den Zauberlehrlingen der neoliberalen Politik aus der Flasche gelassen. Jetzt blockieren sie mit ihrer Macht und ihrem Einfluss jede grundlegende Veränderung, die ihren Interessen widerspricht: ob in der Umweltpolitik, auf den Finanzmärkten oder im sozialen Bereich. V. Neuordnung des Eigentums Das bedeutet jedoch nicht, dass die Politik sich in dem derart gesetzten Rahmen fügen muss. Es bedeutet lediglich, dass eine Veränderung der Entwicklungslogik nur dann möglich ist, wenn dem Wirtschaftskartell die Grundlage seiner Macht entzogen wird: nämlich das Eigentum an den wirtschaftlichen Ressourcen und Kapazitäten dieser Welt.

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Wer allerdings glaubt, durch ein paar bessere Regeln ließe sich die Deutsche Bank zur Förderin des Mittelstands und der Energieriese Eon zum Vorkämpfer einer solaren Energiewende machen, ist im besten Fall naiv, im schlimmeren Fall zynisch. Denn jede neue Regel und jede neue Steuer setzt in den Konzernzentralen ganze Stäbe in Aktion, die sich mit nichts anderem befassen als damit, Möglichkeiten zu schaffen, wie sich die neuen Bestimmungen umgehen lassen. Ein Großteil der „Finanzinnovationen“ hat schließlich keinen anderen Zweck als den, regulatorische Vorschriften zu umgehen oder Steuern zu sparen. Eines ist deshalb klar: Das herrschende Ungleichgewicht zwischen Wirtschaft und Politik und die damit verbundene Aushöhlung der Demokratie ist nur durch eine Neuordnung des wirtschaftlichen Eigentums zu überwinden. Wer den Leuten einredet, es gäbe eine kleinere Lösung, macht ihnen etwas vor. An diesem Punkt verlasse ich nun die ordoliberale Welt: Zwar ist es richtig, dass privates Unternehmertum und Wettbewerb ein Leistungsstimulator sind. Dies gilt allerdings nur, solange niemand stark genug ist, Angebot, Preise und Rahmenbedingungen zu diktieren, also im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen. Hingegen dort, wo heute große und vielfach global agierende Oligopole existieren, gibt es kein Zurück zu einer vollständigen Konkurrenz. Und ein weiterer Aspekt ist von essentieller Bedeutung. Die britischen Wissenschaftler Richard Wilkinson und Kate Pickett werfen in ihrem Buch „Gleichheit ist Glück“ die richtige Frage auf: „Es ist unmöglich, über die Verringerung von Einkommensunterschieden zu diskutieren, ohne sich Gedanken auch darüber zu machen, was mit diesen Bastionen von Reichtum, Macht und Privilegien geschehen muss.“ Die Frage nach dem Eigentum ist entscheidend, und es lohnt sich sehr nachzulesen, was in den Grundlagen unserer Gesellschaft dazu fixiert ist. So heißt es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 14 unmissverständlich: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“. In einigen Landesverfassungen gibt es sehr präzise Formulierungen, was das Eigentum betrifft. So heißt es in der Verfassung des Saarlandes in Artikel 52: „Schlüsselunternehmungen der Wirtschaft (Kohlen-, Kali- und Erzbergbau, andere Bodenschätze, Energiewirtschaft, Verkehrs- und Transportwesen) dürfen wegen ihrer überragenden Bedeutung für die Wirtschaft des Landes oder ihres Monopolcharakters nicht Gegenstand privaten Eigentums sein und müssen im Interesse der Volksgemeinschaft geführt werden. Alle wirtschaftlichen Großunternehmen können durch Gesetz aus dem Privateigentum in das Gemeinschaftseigentum übergeführt werden, wenn sie in ihrer Wirtschaftspolitik, ihrer Wirtschaftsführung und ihren Wirtschaftsmethoden das Gemeinwohl gefährden. Solche Unternehmungen können, wenn begründete Veranlassung hierzu gegeben ist, nach Maßgabe eines Gesetzes von Fall zu Fall der öffentlichen Aufsicht unterstellt werden. Im Gemeineigentum stehende Unternehmen sollen, wenn es ihrem wirtschaftlichen Zweck entspricht, in einer privatwirtschaftlichen oder gemeinwirtschaftlichen Unternehmungsform geführt werden. Bei Überführung von Unternehmen in Gemeineigentum ist durch Beteiligung der im Betrieb tätigen Arbeitnehmer, von Gemeinden oder Gemeindeverbänden oder sonstigen

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kommunalen Zweckvereinigungen eine übermäßige Zusammenballung wirtschaftlicher Macht zu verhindern.“ Und Artikel 27 der nordrhein-westfälischen Landesverfassung besagt: „Großbetriebe der Grundstoffindustrie und Unternehmen, die wegen ihrer monopolartigen Stellung besondere Bedeutung haben, sollen in Gemeineigentum überführt werden.“ Die Frage drängt sich ja auch auf: Mit welchem Recht sollten solche wirtschaftlichen Machtpositionen eigentlich in privater Hand liegen? Eine Wirtschaftsverfassung, die dies duldet, ist nicht leistungsmotivierend, sondern im Gegenteil, sie ist leistungs- und wirtschaftsfeindlich! Denn sie führt dazu, dass diejenigen, die den Reichtum tatsächlich erarbeiten, die also im Sinne des Wortes etwas leisten, einen immer geringeren Anteil an eben diesem Reichtum haben. Die Reallöhne sinken seit Jahren oder stagnieren. Immer mehr Menschen sind gezwungen, in ungesicherten Jobs zu Hungerlöhnen zu arbeiten oder werden in Leiharbeit und Billigjobs abgedrängt. Auf der anderen Seite explodieren die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen: Diese sind seit dem Jahr 2000 um 56 Prozent angeschwollen! Daran sieht man, dass bereits der letzte Aufschwung eigentlich nur noch in den Unternehmensbilanzen und Gewinn- und Vermögenseinkommen stattgefunden hat. Für den aktuellen Aufschwung gilt das gleiche. Auch dieser Aufschwung hängt bisher fast völlig vom Export ab. Dies zeigt sich auch an der Vermögensentwicklung. Das Land ist tief gespalten. Auf der einen Seite gibt es immer mehr Millionäre, auf der anderen Seite sind immer mehr Menschen in Deutschland gezwungen, in Armut zu leben. Der Bruch, der sich durch die Bundesrepublik zieht, spiegelt sich auch darin wider, wie Politik gemacht wird. Unter den heutigen Bedingungen geschieht dies nur noch im Interesse einer Minderheit: nämlich der Renditejäger in den Großunternehmen und der großen Banken. Damit wird ins Gegenteil verkehrt, was Jean-Jacques Rousseau in seinem Contrat Social so hellsichtig und klar ausdrückte: „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.“ Etwas läuft grundlegend falsch, wenn das Gesetz nicht mehr befreit, sondern den Starken noch stärker und den Schwachen noch schwächer macht! In Frage gestellt werden so letztlich die Grundfesten der demokratischen Gesellschaft. In der Konsequenz heißt dies, dass unsere wirtschaftliche Eigentumsverfassung im Widerspruch zu demokratischen Grundprinzipien steht. Wirkliche Demokratie setzt eine andere Ordnung der Wirtschaft und des wirtschaftlichen Eigentums voraus.

Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus … Von Heinz-Günther Borck* Die letzten Monate haben eine an Heftigkeit zunehmende öffentliche Diskussion über parlamentarische Entscheidungsabläufe und veröffentlichte Parteienmeinungen sowie wachsenden Widerstand des Staatsvolkes gegen seine wirkliche oder vermeintliche Bevormundung – Stichwort Stuttgart 21, Sarrazin, neuerdings Sarkozy u. a. – erkennen lassen, der manchmal Züge einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit annahm und damit einen Zusammenhang zwischen Verfassung und innerer Sicherheit erkennen ließ, der im Grunde seit 250 Jahren bekannt ist: „Es ist aber die innerliche Sicherheit des Staats diejenige wohl eingerichtete Verfassung desselben, wodurch alle Theile des Staatskörpers in ihrem erforderlichen Zusammenhange und der daraus fließenden Ruhe erhalten, die Personen und das Vermögen der einzelnen Unterthanen aber vor allem Unrecht und Gewaltthätigkeiten beschützet werden“, so hieß es beim bedeutenden preußischen Kameralisten Justi.1 Haben wir heute eine „wohl eingerichtete“ Verfassung, und wie steht es um ihr Ansehen? Im Jahre 2009 wurde mit großem Aufwand – der Festakt fand wegen der Neuwahl des Bundespräsidenten einen Tag zu früh statt – des 60jährigen Bestehens unseres Grundgesetzes gedacht – mit Recht, denn in den letzten 200 Jahren hat keine deutsche Verfassung länger gegolten2. Das Grundgesetz erfreut sich mit einer Zustimmungsrate von 77 % (West) bzw. 65 % (Ost)3 so hohen Ansehens, wie es das allenfalls die Bismarcksche Reichsverfassung von 1867/71 zuwege brachte. Gleichzeitig sinkt jedoch seit Jahren die Wahlbeteiligung4, und das Ansehen der vermeint*Da die Rede mit einer elektronischen Präsentation verbunden war, die historische und aktuelle Unterlagen enthielt, sind diese, soweit angängig, in den nachfolgenden Text als Fußnoten eingearbeitet worden. 1 Johann Heinrich Gottlob von Justi, Staatswirthschaft, 1. Theil, 2.A. 1748, S. 108. 2 Deutsche Bundesakte 8. 6. 1815, Reichsverfassung 28. 3. 1849, Norddeutscher Bund/ Deutsches Reich 16. 4. 1867/16. 4. 1871, Weimarer Reichsverfassung 11. 8. 1919, Grundgesetz seit 23. 5. 1949. 3 Tagesschau-Umfrage (www.tagesschau.de) vom 21. 5. 2009. 4 Nach der Repräsentativen Statistik des Statistischen Bundesamtes und den Auswertungen der Bundeszentrale für Politische Bildung stieg der Nichtwähleranteil bei Bundestagswahlen zwischen 1972 und 2005 von 8,9 % auf 22,3 %, bei Landtagswahlen von 20,0 auf 35,3 % (http:// www.bpb.de/files/RXB5 A6.pdf) und erreichte bei der Bundestagswahl 2009 mit 29,8 % (http://www.bundeswahlleiter.de/de/bundestagswahlen/BTW_BUND_09/ergebnisse/bundes ergebnisse/index.html) den höchsten Wert seit Bestehen der Bundesrepublik; an den Europawahlen beteiligten sich in Deutschland im Jahre 1979 immerhin 63 %, 2009 gerade noch 43,3 % (Bundeszentrale für Politische Bildung im Internet unter http://www.bpb.de/wissen/

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lichen politischen Elite, genauer gesagt: der Parteipolitiker nähert sich dem Nullpunkt.5 I. Wie erklären sich die Widersprüche? Werfen wir dazu einen Blick auf eine der tragenden Bestimmungen des Grundgesetzes, nämlich Artikel 20(2)6, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Das Volk als Souverän: das führt uns zurück in die frühe Demokratiediskussion des 18. Jahrhunderts. Es war der französische Staatsphilosoph Jean Jacques Rousseau – in Festreden oft genannt, aber selten gelesen –, dessen Lehre vom Gemeinwillen7 sich in der französischen Verfassung von 1793 niedergeschlagen hat: Erstmals tritt in Europa das souveräne Volk an die Stelle der Könige von Gottes Gnaden8. Im nachrevolutionären Deutschland herrschte zunächst das monarchische Prinzip, von der bayerischen Verfassung des Jahres 1818 auf die klassische Formel gebracht: „Der König … vereiniget in sich alle Rechte der Staatsgewalt“.9 Endgültig übernahm erst die Weimarer Reichsverfassung die Lehre von der Volkssouveränität10. Das tat dem Wortlaut nach, freilich nicht in der von kommunistischer Willkür beherrschten Wirklichkeit übrigens auch die Verfassung der DDR von 1949, die Volksbegehren und Volksentscheide kannte11; im Grundgesetz sind diese nur bei Länderneugliederung und einer das Grundgesetz ablösenden neuen Verfassung zugeGD4JIU,0,0,Wahlbeteiligung_19792009.html; amtliches Ergebnis des Bundeswahlleiters unter http://www.bundeswahlleiter.de/de/europawahlen/EU_BUND_09/ergebnisse/bundeser gebnisse/index.html). 5 Es sank laut Allensbacher IfD-Umfragen von 27 %(1972) auf 6 – 7% (2008). 6 Art. 20. (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. 7 Du contrat social, 1762, u. a. Bd. 2, Kap. 7.(„Das Volk kann sich, selbst wenn es wollte, dieses unübertragbaren Rechtes (= der gesetzgebenden Gewalt) nicht entkleiden, weil … nur der Gemeinwille die einzelnen verpflichtet und man erst sicher weiß, ob ein Einzelwille mit dem Gemeinwillen übereinstimmt, wenn man ihn der freien Volksabstimmung unterworfen hat.“) 8 Art. 25. „Die Souveränität ruht im Volke; …“ (http://www.verfassungen.eu/f/fverf93-i. htm). 9 Verf. v. 26. 5. 1818, Tit. II §1 (Bayerisches Gesetzblatt 1818, S. 101 und http://www. verfassungen.de/de/by/bayern18-index.htm). 10 Weimarer Verfassung vom 11. 8. 1919 Art. 1: Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volke aus. (Reichsgesetzblatt 1919, S. 1383 und http://www.verfassun gen.de/de/de19 – 33/verf19-i.htm) 11 Verfassung der DDR vom 7. 1. 1949 Art. 3: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Jeder Bürger hat das Recht und die Pflicht zur Mitgestaltung in seiner Gemeinde, seinem Kreise, seinem Lande und in der Deutschen Demokratischen Republik.“ Das Mitbestimmungsrecht der Bürger wird wahrgenommen durch: Teilnahme an Volksbegehren und Volksentscheidungen; … (Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik 1949 S. 5 und http://www.verfassungen. de/de/ddr/ddr49-i.htm).

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lassen, was übrigens anfangs nicht den Wünschen der Alliierten und auch nicht aller Parteien, wohl aber denen der Ministerpräsidenten entsprach12, deren Ansicht sich erst ganz zum Schluss im Parlamentarischen Rat durchsetzte13. Seit 1949 hat sich mit Hilfe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Beteiligung des souveränen Volkes am Staatsleben auf vierjährlich wiederkehrende Wahlen beschränkt – den Abgeordneten war für vier Jahre ein Blankoscheck ausgestellt, für das Volk war politischer Tiefschlaf angesagt und damit trotz der in Art. 20(2) ausdrücklich aufgeführten „Abstimmungen“ fast unwidersprochen ein rein repräsentatives System ohne Volksabstimmungen erstanden. Nach mehreren gescheiterten Anläufen seit der Wiedervereinigung14 waren es die von der eigenen Partei überwiegend abgelehnten, auf mehr direkte Demokratie zielenden Vorschläge des beliebten Bundespräsidenten Köhler15, die eine noch andauernde Diskussion ausgelöst haben: Sie gibt den Anhängern einer direkten Demokratie viel Aufwind, denn zwei Drittel bis drei Viertel der Anhänger aller Parteien sprachen sich für Volksentscheide auf Bundesebene aus16, und auch unter den am 27. 9. 2009

12 Vgl. dazu die Veröffentlichung Der Parlamentarische Rat, Akten und Protokolle, Bd. 1 ff, Boppard 1975 ff., hier besonders Bd.1 (bearb. Volker Wagner), S. 22 ff. (Frankfurter Dokumente), S. 60 ff. (Rittersturzkonferenz), und Bd. 2 (bearb. Peter Bucher), 1981, insbes. S. 43 (Verfassungskonvent Herrenchiemsee): „Über den Beschluß ist eine Volksabstimmung in den Ländern durchzuführen; einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheidet. Der Beschluß wird wirksam, sobald er durch Volksabstimmung in zwei Dritteln der Länder bestätigt worden ist.“ 13 Noch am 9. 12. 1948 beantragte die Zentrumsvertreterin Helene Wessel im Plenum: „… es ist ein selbstverständliches demokratisches Recht, daß man dem Volk den Volksentscheid zubilligen soll. Es ist wohl nur ein Versehen, daß man dieses Recht bisher in den Entwurf unseres Grundgesetzes nicht aufgenommen hat. Lediglich bei verfassungsändernden Gesetzen sieht der Entwurf des Grundgesetzes die Möglichkeit eines Volksentscheides vor und außerdem noch bei Neugliederung des Bundesgebietes … Wir sind der Auffassung, daß darüber hinaus dem Volk das Recht gegeben werden muß, in den entscheidenden Fragen durch Volksabstimmung seine Meinung kundzutun.“ ebda (Anm. 12) Bd. 9, 1996, S. 665. Erst in der Schlussabstimmung am 8. 5. 1949 scheiterten die Anhänger einer Volksabstimmung über das Grundgesetz mit 16 von 65 Stimmen (ebda. S. 504 ff., bes. S. 595 ff.). Demgegenüber ging noch das Zehnpunkteschreiben der drei Militärgouverneure vom 12. 5. 1949 (Parl. Rat (Anm. 12) Bd. 8 (Militärregierungen), 1995, S. 273 f. davon aus, dass die neue Verfassung dem Deutschen Volke unterbreitet werden solle. 14 U.a. 1993, 1999, 2005. 15 Eine im Juni 2008 für Spiegel online durchgeführte Allensbacher IfD-Umfrage hatte ihm noch einen Beliebtheitsgrad von 67 % bescheinigt. 16 Forsa-Umfrage vom 5. Juni 2009 (http://www.volksentscheid.de/media/uploads/Forsa UmfrageMDJuni2009.pdf) und infratest dimap am 23. 7. 2010 (http://www.infratest-dimap.de/ umfragen-analysen/bundesweit/umfragen/aktuell/grosse-mehrheit-fuer-mehr-volksentschei de-knappe-mehrheit-erwartet-dass-schwarz-gelb-durchhaelt/) ergaben bundesweit 68 % bzw. 76 % Zustimmung für Volksentscheide auf Bundesebene.

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gewählten Bundestagsabgeordneten17 ergab eine Umfrage nahezu eine Zweidrittelmehrheit für die unmittelbare Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen. II. Worum geht es eigentlich? Die Weimarer Verfassung kannte in Art. 7318 Volksbegehren und Volksentscheide als demokratische Kontrolle des Reichstages und als Mittel gegen die Allmacht des Parlaments19. In der Gemeinsamen Verfassungskommission 1992/93 verwarf man jede Art direkter Demokratie mit der Behauptung, plebiszitärer Druck habe zum Versagen der Weimarer Republik geführt20- mit einer Behauptung, die eher ein Abwehrmärchen ist, denn nicht an den gescheiterten zwei Volksentscheiden, sondern an der die verfassungsmäßige Mehrheit weit übertreffenden Zustimmung der politischen Parteien zum verfassungsaufhebenden Ermächtigungsgesetz von 193321 ist die Weimarer Republik zugrunde gegangen. Das Grundgesetz räumte gleichwohl den Parteien erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte eine Mitwirkung bei der politischen Meinungsbildung ein22, obgleich schon im Parlamentarischen Rat das Gespenst einer Selbstprivilegierung – u. a. durch die von den Ministerpräsidenten im Einvernehmen mit den Militärgouverneuren herbeigeführte 5 %-Klausel – beschworen wurde23. Damit erhielt Verfassungsrang, was lange einen zweifelhaften Ruf hatte: Schon der griechische Philosoph Py17

Umfrage des Vereins Mehr Demokratie e.V. (http://www.volksentscheid.de/ergebnis/) 2009 bei den neugewählten Bundestagsabgeordneten. 18 Artikel 73. „Ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung zum Volksentscheid zu bringen, wenn der Reichspräsident binnen eines Monats es bestimmt. Ein Gesetz, dessen Verkündung auf Antrag von mindestens einem Drittel des Reichstags ausgesetzt ist, ist dem Volksentscheid zu unterbreiten, wenn ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten es beantragt. Ein Volksentscheid ist ferner herbeizuführen, wenn ein Zehntel der Stimmberechtigten das Begehren nach Vorlegung eines Gesetzentwurfs stellt. Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zu Grunde liegen …“ 19 So der Abgeordnete Koch von der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei – DD (Stenograph. Berichte der Nationalversammlung v. 5. 7. 1919, S. 1345). 20 Gemeinsame Verfassungskommission 1992/93, Bundesratsdrucksache 800/93 S. 23 ff. 21 Artikel 2 Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung abweichen (Reichsgesetzblatt 1933 I, S. 141). Das Gesetz wurde am 24. 3. 1933 mit 441:91 Stimmen (erforderlich waren 252 Stimmen) angenommen (Verhandlungen des Reichstages Bd. 457 S. 40). 22 Art. 21. (1) „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.“ 23 Im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates mehrfach abgelehnt, von Militärregierungen und Ministerpräsidenten entgegen dem Beschluss des Parlamentarischen Rates vom 5. 5. 1948 (Wahlgesetz) eingeführt (vgl. Parlamentar. Rat (Anm. 12) Bd. 14, 2009, S. 1418 ff., S. 1657 ff.; Synopse von beschlossenem Wahlgesetzentwurf und tatsächlichem Wahlgesetz in Bd. 6, 1994, S. 804 ff.).

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thagoras wollte vor 2500 Jahren „mit Feuer und Schwert vom Leib die Krankheit, von der Seele die Unwissenheit, vom Staat die Parteiung …“ fernhalten24, und selbst Rousseau, der Erfinder der Volkssouveränität, sah in ihnen eher das Gemeinwohl gestört und bloße Privatinteressen vertreten25. Im Parteiengesetz von 1967 erwachte das Gespenst zum Leben – die Parteien bewilligten sich Mittel für die Gestaltung, d. h. Beherrschung der politischen Willensbildung, an der sie doch nur mitwirken sollten – über die wichtigsten Staatsorgane zu bestimmen waren sie ja ohnehin befugt, denn Parteimitglieder aus Bundestag und Landtagen wählen verfassungsgemäß den Bundespräsidenten26und auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts – was umso mehr Gewicht hat, als dessen Beschlüssen teilweise Gesetzeskraft beigelegt ist: mittelbar gewählte Richter dürfen praktisch Bundesgesetze ohne das Volk machen27. Wie ausgeufert die „Mitwirkung“ der Parteien inzwischen ist, zeigt beispielhaft ein Blick auf Verwaltungsräte in Funk, Fernsehen und Staatsbanken28; über Kostenexplosion bei den einen, vom Steuerzahler aufgehaltenen Bankrott bei den anderen berichten bis in diese Tage die Zeitungen, und in der Öffentlichkeit werden die Zweifel an Eignung der Parteivertreter und überhaupt ihrer Fähigkeit, Lösungen für die Fragen der Zeit zu finden, immer deutlicher29, von der kaum hinterfragten Verfassungsmäßigkeit30 derartiger Stellenbesetzungen einmal ganz zu schweigen. III. Wie ist es heute um den übriggebliebenen Kern der Volkssouveränität, die direkte Wahl der Abgeordneten, bestellt?31 Ein Blick auf die Stimmzettel bei der Bundestagswahl – und das gilt sinngemäß auch für Landtags- und Europawahlen – lehrt, dass dem Wähler für seine maßgebende Zweitstimme eine Gruppe nicht von ihm ausgesuchter Personen (Parteiliste) aufge24 25 26 27 28

aus. 29

Fragment 4 Reclam. Du contrat social …, 1762, Buch 2 Kap. 3. Art. 54 GG. Art. 93 f GG und §31 BVerfGG 1951/1993. Parteipolitiker als Mitglieder machen meist zwei Drittel der jeweiligen Ratsmitglieder

Schon im von der ARD in Auftrag gegebenen infratest dimap Deutschlandtrend vom Juni 2008 sprachen 82 % der Befragten den Parteien gar keine oder geringe Problemlösungskompetenz zu (http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschland trend/2008/juni/). 30 Art. 33GG: „ (1) Jeder Deutsche hat in jedem Lande die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten. (2) Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte.“ 31 Art. 38. (1) „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

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zwungen wird – Funktionäre bevormunden den Souverän. Dabei hatte man schon im Parlamentarischen Rat über offene Listen32 debattiert, aber der Wunsch, dem in Wahrheit für unmündig gehaltenen Souverän, dem gern niedriges Niveau bescheinigt wurde, wirkliche Entscheidungen nicht zu überlassen, setzte sich durch – was einem lange gepflegten Vorurteil entspricht33. Dabei sind diese Vorurteile längst widerlegt, wie z. B. in Rheinland-Pfalz die Untersuchung der Kommunalwahlen durch das Statistische Landesamt zeigt: weniger als die Hälfte der Wähler nimmt die Parteilisten hin, die Mehrheit kumuliert und panaschiert34 und stellt damit manchmal die Parteilistenfolge geradezu auf den Kopf, entscheidet sich nämlich für Kandidaten nach deren persönlicher Eignung, d. h. oft über die Parteigrenzen hinweg, wofür z. B. die letzten Kommunalwahlen in Koblenz 2009 lehrreiche Beispiele gaben. Ein solches Verhalten ist auch durchaus systemgerecht, denn die Unabhängigkeit der Abgeordneten rechtfertigt sich allein aus dem im 19. Jh. erkämpften direkten Wahlrecht, das dem Wähler und nicht den Parteien den unmittelbaren Einfluss auf die Zusammensetzung der Volksvertretungen gab. Als dieses System im Norddeutschen Reichstag 1869 endgültig durchgesetzt wurde, war § 11 des Wahlgesetzes über die direkte Wahl die einzige völlig unstrittige Passage35. IV. Verfassungsänderungen Ich komme noch einmal auf die Frage der Verfassungsänderungen zurück: Im Parlamentarischen Rat waren sie kurz vor Tores Schluss der Entscheidung des Volkes entzogen worden36, aber einige Landesverfassungen hatten bereits anders entschie32

Dr. Georg Diederichs (SPD), 1961 – 1970 Ministerpräsident Niedersachsens, sah in offenen Listen die beiden Systeme Verhältnis- und Persönlichkeitswahl optimal vereinbart, stieß aber bei der CDU auf Widerstand (Parlamentarischer Rat (Anm. 12), Bd. 6 (Wahlrechtsausschuss) 1994, S. 45 ff.). 33 Es reicht vom altgriechischen Philosophen Heraklit (fr. B 49: „Einer gilt mir Zehntausend, wenn er der Beste ist.“) über Schiller (Demetrius: „Was ist die Mehrheit? Die Mehrheit ist der Unsinn. Verstand ist stets bei wenigen nur gewesen!“) bis zu Adolf Hitler (Mein Kampf, Bd. 2, Kap. 3: „Es gibt keine Majoritätsentscheidungen, sondern nur verantwortliche Personen …“) – von neueren Beispielen sehe ich ab. 34 Landeswahlleiter Rheinland-Pfalz (Hrsg.), Kommunalwahlen in Rheinland-Pfalz am 13. Juni 2004 – Auswertung des Wählerverhaltens, Bad Ems 2008, S. 41, woraus hervorgeht, dass weniger als die Hälfte der Kandidaten aus dem Wahlverfahren ungeschoren, d. h. unter Beibehaltung ihres Listenplatzes, hervorging. 35 Stenograph. Berichte des Norddeutschen Reichstages vom 20. 3. 1869, S. 196. 36 Im Entwurf des Verfassungskonvents Herrenchiemsee vom 23. 8. 1948 hieß es noch in Art. 90(1): „Ein Gesetz, das das Grundgesetz ändert, bedarf im Bundestag und Bundesrat der Zustimmung von zwei Dritteln der gesetzlichen Stimmenzahl und außerdem der Annahme durch Volksentscheid.“ Seit der 4. Lesung des Grundgesetzentwurfes im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates am 5. 5. 1949 waren Volksentscheide ausgeschlossen (vgl. auch Anm. 13).

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den. So bedürfen in Bayern Verfassungsänderungen der Zustimmung durch Volksentscheid37, aber auch dort sind wie in Rheinland-Pfalz bei ähnlicher Verfassungslage Entscheidungen des souveränen Volkes nicht gerade begünstigt und auch kaum gewollt38– vermutlich gilt immer noch das Wort Rousseaus39vom korrigierenden Einfluss des souveränen Volkes als Schutzwehr gegen Machtmissbrauch, der nicht nur beim Gewaltherrscher, sondern auch bei Parteien anzutreffen sein kann. Abgesehen von kurzen Fristen, schlecht zugänglichen Eintragungsorten für Unterschriftenlisten u. dgl. sind vor allem zwei Hürden zu nennen: 1. Kosten (die Parteien bedienen sich aus Steuermitteln, die freien Bürger tragen das Kostenrisiko selbst)40 2. Quoren, also Mindestbeteiligung aller Wahlberechtigten für die Gültigkeit von Volksbegehren. Angesichts der Wahlgesetze ist das eine reine Verhinderungsstrategie, wenn man bedenkt, dass die sog. Wahlerfolge der Parteien nur an den abgegebenen gültigen Stimmen, nicht an der Zahl der Wahlberechtigten gemessen werden: mehr Wahlberechtigte, nämlich 37, 65 %, sind im Bundestag nicht vertreten, als SPD und CDU zusammen Stimmen gewannen, und in Rheinland-Pfalz ist sogar die absolute Mehrheit aller Wahlberechtigten, nämlich 50, 52 %, im Landtag nicht vertreten41. 37 Verf. v. 2. 12. 1946 Art. 73 (2) „Beschlüsse des Landtags auf Änderung der Verfassung bedürfen einer Zweidrittelmehrheit der Mitgliederzahl. Sie müssen dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden.“ 38 Man werfe nur einen Blick auf die Quoren- und Ausschlussregelungen, die jedem Volksentscheid erhebliche Hürden entgegenstellen. 39 Buch 3 Kap. 14: „Volksversammlungen sind der Schutzschild des politischen Körpers und eine Bremse der Regierung – sie waren zu allen Zeiten der Schrecken der Gewaltherrscher.“ (Vgl. Anm. 7.) 40 Vgl. § 76 LandeswahlG RLP: (1): „Die Kosten des Zulassungsantrags, der Herstellung der Eintragungslisten und ihrer Versendung an die Gemeindeverwaltungen fallen den Antragstellern zur Last. (3) Kommt im Fall des § 61 Abs. 1 Nr. 3 das Volksbegehren zu Stande oder entfällt der Volksentscheid nach § 74 Abs. 2 Satz 1 oder Abs. 3 Satz 1, sind den Antragstellern auf Antrag die erforderlichen Kosten der Herstellung der Eintragungslisten und ihrer Versendung an die Gemeindeverwaltungen zu erstatten. Das Gleiche gilt, wenn das durch Volksbegehren unterbreitete Gesetz im Wege des Volksentscheids nach § 81 Abs. 1 angenommen oder der Landtag durch Volksentscheid nach § 81 Abs. 2 aufgelöst wird.“ Dagegen lautet § 18(1) Parteiengesetz 1967/1994: „Die Parteien erhalten Mittel als Teilfinanzierung der allgemein ihnen nach dem Grundgesetz obliegenden Tätigkeit. Maßstäbe für die Verteilung der staatlichen Mittel bilden der Erfolg, den eine Partei bei den Wählern bei Europa-, Bundestags- und Landtagswahlen erzielt, die Summe ihrer Mitglieds- und Mandatsträgerbeiträge sowie der Umfang der von ihr eingeworbenen Spenden.“ 41 Diese Zahlen ergeben sich bei Errechnung des Anteils der jeweils erzielten Stimmen der in den Parlamenten vertretenen Parteien an der wirklichen Gesamtzahl der Wahlberechtigten. Amtliches Endergebnis der Bundestagswahl 2009 unter http://www.bundeswahlleiter.de/de/ bundestagswahlen/BTW_BUND_09/ergebnisse/bundesergebnisse/index.html. Das Landtagswahlergebnis Rheinland-Pfalz von 2006 unter http://www.wahlen.rlp.de/ltw/wahlen/2006/ land/index.html?mode=hideMenu

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Ich sagte vorhin, dass auch das Bundesverfassungsgericht mit seiner Rechtsprechung das System der repräsentativen Demokratie lange bedingungslos geschützt hat. Im Falle eines schleswig-holsteinischen Volksbegehrens hat das Gericht42 mit dem – im doppelten Sinne des Wortes – merkwürdigen Argument, auch mittelbare Haushaltsauswirkungen dürften von einem Volksbegehren nicht ausgehen, dessen Fortgang unterbunden – als könnte es irgendwelches staatliche Handeln geben ohne Kosten! In Wahrheit wurde damit jede Mitwirkung der Bürgergesellschaft jenseits der Volksvertretungen unmöglich gemacht. Hier entpuppt sich das repräsentative System als geradezu vordemokratisch – bei Zedler43 bedeutet „repräsentiren“ rechtlich noch „in die Rechte eines Verstorbenen eintreten“(!), wie wir ihn jenseits der Zonengrenze hatten, als die DDR-Verfassung von 1968/74 ein rein repräsentatives System einführte44 und damit in Wahrheit die auf die Nationale Front45gestützte SED-Diktatur legitimierte. V. Mag mancher es sich anders wünschen Wie die Erfolge von Bürgerinitiativen und Freien Wählergruppen zeigen, ist unser Staatsvolk durchaus lebendig, lebendig blieb aber eben auch die Furcht der Herrschenden vor dem souveränen Volk, vor der Selbstorganisation freier Bürger. Im 13. Jh. riefen die aufkommenden Landesherren den König zu Hilfe gegen ihre Untertanen46, und im 16. Jh. musste Kaiser Karl V. in der ersten aller Wahlkapitulationen47 – im Heiligen Römischen Reich waren das die wichtigsten Reichsgrundgesetze – den Fürsten seine Hilfe gegen aufsässige Untertanen versprechen ( übrigens auch die Bindung seiner Regierung an Verfassung, Recht und Gesetz, wie es heute Art. 20(3)GG verlangt). Allerdings billigte das damals in Deutschland geltende Recht den Unter-

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Beschluss vom 3. 7. 2000 – 2 BvK 3/98. Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste Bd. 31, 1742, S. 649. 44 Art. 5. (1) „Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik üben ihre politische Macht durch demokratisch gewählte Volksvertretungen aus.“ 45 Art. 3(1) der Verf. v. 1968/74: „Das Bündnis aller Kräfte des Volkes findet in der Nationalen Front der Deutschen Demokratischen Republik seinen organisierten Ausdruck.“ 46 Kaiser Friedrich II. Gesetz gegen Gemeindevertretungen vom April 1232: „… Wir widerrufen in jeder Stadt Deutschlands die Gemeindevertretungen, Gemeinderäte, Bürgermeister …, die von der Gesamtheit der Bürger ohne Zustimmung der Erzbischöfe … eingesetzt werden …“ (revocamus in inritum … in omni civitate … Alemannie communia, Consilia, Magistros civium …, qui ab universitate civium sine archiepiscoporum … beneplacito statuuntur …) in: MGH Const. II, 156 S. 192 – 194. 47 Vom 3. 7. 1519: „§ 6 Wir sollen und wollen auch alle unziemliche, gehässige Bündnisse Verstrickung und Zusammentun der Untertanen, des Adels und gemeinen Volks… aufheben und abschaffen…“ (in: Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung …, 2. A. Tüb.1913, S. 309 ff. nach Reichstagsakten, Jg. Reihe I, 1893, Nr. 387, S. 864 ff.). 43

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tanen auch den Widerstand gegen unrechte Herrschaft zu48, wie es bei uns seit 196849 ebenfalls Verfassungsrecht ist. Die Aussperrung des souveränen Volkes aus den politischen Entscheidungsprozessen ist mithin sozusagen Tradition, entfremdet aber die politische Klasse notwendigerweise immer stärker den freien Bürgern, die eine Bevormundung nach 60 Jahren freiheitlich-demokratischer Grundordnung nicht mehr hinnehmen wollen. Selten wurde die Kluft zwischen Volksvertretern und Volk so deutlich wie beim Streit um das Schweizer Minarettverbot, das die Parteipolitiker fast einhellig als populistischen Missbrauch der Islamfurcht ablehnten, das bei den Bürgern aber auf überwältigende Zustimmung stieß50. Mögen Meinungsumfragen auch bestreitbare Ergebnisse liefern – die Ablehnung des in der Hamburgischen Bürgerschaft einstimmig angenommenen Schulgesetzes durch Volksentscheid zeigt, wie weit sich die herrschende politische Klasse vom Volke entfernt hat, übrigens auch das Niveau einiger Regierender51. Selbst wenn die langjährige einseitige Förderung repräsentativer Elemente im Grundgesetz eine hinreichende Unterstützung fände, hieße das noch nicht, dass die Gesellschaft freier Bürger weiterhin vor der Türen der Parteizentralen ausgesperrt bleiben müsste. Die für das repräsentative System immer wieder – zu Unrecht, wie ich gleich zeigen werde – herangezogenen Ewigkeitsentscheidungen des Grundgesetzes – wenn es so etwas denn überhaupt entgegen jeder historischen Erfahrung geben kann; die französische Verfassung von 1793 hat dies ausdrücklich für unmöglich erklärt52 – wären nicht mehr als leere Willensbekundungen, wenn sie, statt ihre Verankerung im Volke zu finden, nur auf dessen Ausschluss gegründet wären. Tatsächlich scheint aber im Gegenteil selbst das Bundesverfassungsgericht dies inzwischen erkannt zu haben, wenn es in seiner Lissabonentscheidung vom

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Sachsenspiegel Landrecht 3,78,1 und 2 (um 1230). Gesetz vom 24. Juni 1968 Art. 20(4) GG eingefügt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ 50 Im Schweizer Volksentscheid vom 29. 11. 2009 lehnten 57,5 % den Bau von Minaretten ab; elektronische Meinungsumfragen bei Welt online und Bild im Dezember 2009 ergaben zwischen 82 % und 88 % Zustimmung zum Schweizer Ergebnis, während die Politiker überwiegend die Ausbeutung von Islamängsten beklagten. Übrigens sei angemerkt, dass in einem Lande wie Deutschland, in dem seit 1200 Jahren die Zustimmung des Volkes (lateinisch populus) rechtsbegründend ist, wie sich erstmals aus den Kapitularien ergibt („lex consensu populi et constitutione regis fit …“, so im Edictum Pistense von 864, abgedruckt MGH CAP. II Nr. 273 C.6), die Verwendung des Wortes Populismus für demagogische Haltungen ein bedenkliches Verfassungsverständnis erkennen lässt. 51 Im Volksentscheid vom 18. 7. 2010 wurde das einstimmig beschlossene Schulreformgesetz vom 22. 7. 2008 verworfen – ein Ergebnis, das die Regierenden z. T. mit Ausdrücken der Fäkalsprache kommentierten. 52 Art. 28 der Verf. v. 24. 6. 1793 (… Eine Generation kann nicht die folgenden Generationen ihren Gesetzen unterwerfen.) 49

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30. Juni 200953 ausdrücklich gerade Wahlen und Abstimmungen zu den unverzichtbaren Bestandteilen des durch Art. 79 geschützten, keiner Abwägung unterworfenen Demokratieprinzips erklärte. Nach 60 Jahren schleichender Eroberung des Staates und seiner Organe durch die Parteien, 20 Jahre nach der vom Volke, nicht den Parteien erreichten Wiedervereinigung ist die Zeit gekommen, den freien Bürgern, d. h. dem souveränen Volk zumindest Kontroll- und Korrekturbefugnisse zurückzugeben und damit die Art. 20, Art. 21 und Art. 38 GG mit neuem Leben zu füllen, mit anderen Worten: 1. muss das Wahlrecht zu Landtagen, Bundestag und Europaparlament jedem Mitglied unserer freien Bürgergesellschaft eine unmittelbare Wahlentscheidung ermöglichen – sozusagen „kommunales Wahlrecht“ auf allen Ebenen! 2. sind die Bedingungen für Volksentscheide und Wahlen einander anzugleichen und mindestens Verfassungsänderungen dem Volke vorzulegen, wenn die Parteien nicht Richter in eigener Sache bleiben sollen; 3. sind die mittelbaren Wahlen von Verfassungsorganen zu überprüfen. Lassen Sie mich am Ende noch einmal zu Justi54 zurückkehren, der vor einem Vierteljahrtausend dem Herrscher in das Stammbuch schrieb: „ (Es kommt darauf an), daß niemand in dem Staate eine solche Macht und Reichthum erlange, vermittelst deren er sich der obersten Gewalt zu widersetzen imstande wäre; wie nicht weniger, daß niemand sich solcher Gewalt, Vorzüge und Gerechtsame über seine Nebenunterthanen anmaße, die zu ihrer Unterdrückung gereichen, und mit der Wohlfahrt des Staats nicht verträglich sind.“ Können nicht seine Mahnungen auch im Jahre 2010 noch durchaus Gültigkeit für das Verhältnis von Parteienherrschaft und Staatsvolk beanspruchen? Literatur Arnim, Hans Herbert von: Vom schönen Schein der Demokratie, München 2002 – Volksparteien ohne Volk. Das Versagen der Politik, München 2009 Dufft, Hermann: Parlamentsbeschluß und Volksentscheid, jur. Diss. Lpz.1929 Freitag, Markus/Wagschal, Uwe (Hrsg.): Direkte Demokratie. Bestandsaufnahme und Wirkungen im internationalen Vergleich, Berlin 2007 (= Policy-Forschung und vergleichende Regierungslehre Bd. 3) Jung, Otmar: Grundgesetz und Volksentscheid, Opladen 1994 53 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009 Rd.zf. 211: b) Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips. Der Anspruch auf freie und gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) verankert. Er gehört zu den durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG als unveränderbar festgelegten Grundsätzen des deutschen Verfassungsrechts. 54 Wie Anm. 1, hier S. 112.

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Schmidt, Christopher: Unmittelbare Gemeindedemokratie im mittel- und süddeutschen Raum der Weimarer Republik, Hann. 2007 (= Hannov. Forum der Rechtswissenschaften Bd. 31, zugleich Diss. Universität Hannover 2006) Schwieger, Christopher: Volksgesetzgebung in Deutschland, Berlin 2005 (= Tübinger Schriften zum Staats- und Verwaltungsrecht Bd. 71) Veil, Winfried: Volkssouveränität und Völkersouveränität in der EU, Baden-Baden 2007 (= Interdisziplinäre Stud. zu Recht und Staat Bd. 42, zugleich Diss. Dt. Hochschule f. Verw.wiss. Speyer 2005) Wiegand, Hanns-Jürgen: Direktdemokratische Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte, Berlin 2007 (=Jur. Zeitgesch. Abt. 1 Bd. 20)

Zum Zustand unserer Nation Von Arnulf Baring Meine Damen und Herren, verehrte Anwesende, liebe Landsleute, den Titel meines Beitrages, das Thema meiner Ausführungen, hat mir Herr von Arnim vorgegeben. Ich war ihm dankbar dafür, weil ich selbst – wie vermutlich viele von Ihnen – immer wieder Hemmungen habe, im Blick auf uns Deutsche von einer Nation zu sprechen; dergleichen trauen wir uns im Grunde nicht mehr zu. In seiner Einführung hat Herr Brink seinerseits die Lage der Nation zum Thema gemacht und dabei den Gesamtzustand unseres Landes angesprochen. Ich fühle mich dadurch ermutigt, einer Frage nachzugehen, die viele unter uns beschäftigt. Was ist eigentlich mit unserem Lande los? Wie kommt es, dass dieses tüchtige Deutschland von sich selbst einen eher zwergenhaften Eindruck hat und dieses Schrumpfbild auch dem Ausland vermittelt? Zum Kleinmut besteht momentan ja schon deshalb an sich kein Anlass, weil es der Wirtschaft erstaunlicherweise glänzend geht. Wenn gerade Deutschland so erfolgreich aus der Krise herauskommt, liegt das nicht so sehr an unseren Großunternehmen, die einige unserer früheren Kanzler immer für entscheidend gehalten haben. Unserer Wirtschaft geht es im Augenblick deshalb so gut, weil wir über eine breite Schicht leistungsfähiger mittelständischer Unternehmen verfügen, die sich in ihrem Geschäftsgebaren oft als erstaunlich weit blickend erwiesen haben. Den kreativen Kern unserer ökonomischen Leistungsfähigkeit entdecke ich bei vielen mittelständischen Familienunternehmen, vor allem in den Regionen, in denen wir uns hier aufhalten. Als Berliner konstatiert man das mit Melancholie. Die Zeiten, in denen Berlin die führende Industriemetropole Europas war, sind längst dahin. Heute sind der Süden und der Südwesten Deutschlands erstklassig. Der ganze Nordwesten bildet die zweite Klasse, während die frühere DDR und Berlin in der dritten natürlich hinterher hinken. Berlin darf man allerdings nicht unterschätzen. Die Stadt hat eine Ausstrahlung, mobilisiert Potentiale. Es ist auffällig, wie stark sie auf junge Leute wirkt, sie anzieht, kreativen Talenten Raum gibt. Das hat natürlich nicht nur – und vielleicht nicht einmal in erster Linie – mit ökonomischen Gegebenheiten zu tun. Gerade junge Leute – und da bin ich wieder bei Herrn Brink und seiner Rede von der Nation – suchen, brauchen offenbar eine Hauptstadt, die wirklich eine ist. Das Land ist noch nicht in Berlin angekommen, immer noch auf dem Wege. Unsere Verzwergung führt nach wie vor dazu, dass wir immer noch so tun, als ob wir auf der kleinen provisorischen Bonner Bühne zugange wären, während wir doch an einem Ort gelandet sind, der in den

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Augen der Welt historisch und politisch ein ganz anderes Gewicht hat als jene sympathische Universitätsstadt am Rhein. Die größere Bühne der Hauptstadt wird bisher noch nicht ausreichend bespielt. Es fehlen immer noch angemessene Symbole, Rituale, die die Republik in den Köpfen und Herzen der Bürger lebendig repräsentieren. Das liegt an der Politik. So leistungsfähig sich unsere Wirtschaft darstellt, so kümmerlich präsentiert sich unsere Parteiendemokratie. Das wird noch immer viel zu selten ernst genommen. Ich glaube, dass die Parteiendemokratie in einer viel größeren Krise steckt, als die Öffentlichkeit wahrhaben will. Der schleichende Niedergang der Parteien lässt sich seit Jahrzehnten beobachten. Weimar hatte ein schwaches Führungspersonal, und man hätte annehmen können, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht besser aussehen würde angesichts der Millionen Kriegstoten, der Emigration, der Vernichtungslager, der Opfer des 20. Juli. Man hätte also eine sehr ausgedünnte demokratische Führungsschicht nach 1945 erwarten können. Das Gegenteil war der Fall. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir in den drei Parteien, die die Bundesrepublik aufgebaut und getragen haben, eine herausragende politische Führung. Das lag natürlich auch an ökonomischen Gegebenheiten. Weimar begann mit einer gewaltigen Geldentwertung zu Beginn, und ging am Ende an der Weltwirtschaftskrise zugrunde. Die wenigen guten Jahre dazwischen reichten nicht aus, den Parteienstaat zu stabilisieren. Ganz anders ging es der Bundesrepublik. Der rasche ökonomische Aufstieg, das Wirtschaftwunder, machte es den Parteien leicht, in der Bevölkerung Fuß zu fassen, sich durch Wahlgeschenke beliebt zu machen. Diese Gewohnheit, Zustimmung der Wähler durch Wohltaten zu gewinnen, haben die Parteien auch beibehalten, als es keine Überschüsse mehr zu verteilen gab. Seit Beginn der siebziger Jahre haben wir über unsere Verhältnisse gelebt. Schulden im ganz großen Stil wurden gemacht, als man sich entschloss, die Wiedervereinigung nicht durch Steuererhöhungen, sondern auf Pump zu finanzieren. Zuletzt kam in einer dritten großen Welle die Finanz- und Eurokrise hinzu. Als Folge von alledem haben wir nicht, wie es immer heißt, eine an sich schon horrende Staatsschuld von 1,6 Billionen Euro, sondern eine von 7 oder sogar 8 Billionen. Niemand macht sich wirklich klar, dass damit Deutschland Ländern wie Griechenland oder Irland viel vergleichbarer ist, als die meisten Beobachter wahrnehmen wollen. Das dürfte uns der eigenen Zukunft unserer Kinder und Enkel wegen nicht gleichgültig lassen. Die Schuldenlast ist die eine, unsere alternde und dann schrumpfende Bevölkerung die zweite große Krise unseres Landes. Wir haben ja seit Menschengedenken nicht erlebt, zu altern und dann zu schrumpfen. Wir wuchsen lange, hatten das entsprechende jugendliche Selbstgefühl, den Tatendrang. Das sieht jetzt ganz anders aus, und dieser Mentalitätswandel wird sich verstärken. Ich kann mich an ein Gespräch mit Wolfgang Schäuble vor Jahren erinnern, in dem ich Schäuble fragte, was denn wohl aus uns Deutschen würde, wenn wir am Ende dieses 21. Jahrhunderts nur noch dreißig Millionen wären. Schäuble sah mich erstaunt an und meinte, ich hätte den entscheidenden Punkt gar nicht genannt: von den dreißig Millionen am

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Ende des Jahrhunderts würden zwanzig Millionen über sechzig sein. Da wurde mir schlagartig klar: von Deutschland, wie wir es heute kennen, gar von einer Nation wird keine Rede mehr sein können, wenn nur noch zehn Millionen Autochthone auf unserem Territorium leben und arbeiten. Warum werden zentrale Probleme der Zukunftsfähigkeit von den Parteien stillschweigend beiseite gelassen, ja geleugnet? Die Erklärung ist einfach. Politiker reden ungern, am liebsten nie, über Fragen, auf die sie keine Antwort wissen. Das gilt für die Herausforderungen der Demographie oder unsere enorme Verschuldung oder auch die stockende Verwurzelung nicht integrierbarer oder nicht integrationswilliger Zuwanderer. Alle solche Themen können schwer Menschen plausibel gemacht werden, die von der Politik über Jahrzehnte hinweg daran gewöhnt worden sind, dass sie immer auf Zuteilungen rechnen dürfen. Die Zustimmung zur Parteiendemokratie wurde bis in jüngste Zeit erkauft – auch als fehlende Überschüsse längst nicht mehr ein solches Verhalten erlaubten. Inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass unsere Verschuldung ein Ausmaß angenommen hat, das öffentliche Wohltaten generell verbietet. Wir sind mittleweile in Zeiten angelangt, wo Zumutungen aller Art den Menschen nahe gelegt werden müssen. Doch dazu fehlt den Parteien völlig das Vokabular. Wenn man Zumutungen in der eigenen Familie, am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis plausibel machen will, muss man auf früher erfolgreich gelöste Krisen, auf historische Erfahrungen zurückgreifen, muss heutige Herausforderungen geschichtlich einordnen und damit verkleinern, ertragbar machen. Man muss dann sagen können: „Was wir jetzt zu tun haben, ist schwierig. Aber verglichen mit früheren Katastrophen, die wir zu überstehen hatten, geht es letztlich jetzt doch um Kleinigkeiten.“ Die zwei großen Herausforderungen, vor die wir im vergangenen Jahrhundert gestellt waren, waren die beiden Weltkriege, außenpolitische Desaster. Das von Bismarck neu geschaffene Reich von 1871 fand in Europa keinen festen Platz – diese zentrale Problematik, diese äußere Unsicherheit haben uns – durch eigene Schuld, aber auch in Folge des Verhalten anderer – in die beiden Weltkriege geraten lassen. Während unsere Innenpolitik sich, auf Ganze gesehen, von Bismarck bis Merkel kontinuierlich weiterentwickelt hat, also sehr viel stabiler, sehr viel konfliktfreier war als in anderen Nationen, ist uns die mangelhafte außenpolitische Einbindung und das Fehlen fester, verlässlicher Partnerschaften zum Verhängnis geworden. Wenn man also heute die Bürger zu Opfern aufruft, müsste man darauf hinweisen, dass die alten außenpolitischen Albträume verschwunden sind, weil sich im Zuge der europäischen Einigung und einer allseitigen Friedenspolitik die Lage unseres Landes stabilisiert hat. Heutige innenpolitische Probleme sollten vor diesem völlig veränderten außenpolitischen Hintergrund vergleichsweise einfach anzupacken und zu lösen sein. Warum findet die Politik, warum finden alle Parteien keinen Zugang zu diesen einfachen Wahrheiten? Dafür gibt es viele Gründe, wobei der wichtigste ist, dass die Deutschen – Politiker wie Landsleute – ihre lange, eindrucksvolle Vergangenheit in-

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zwischen weitgehend vergessen haben, die uns aber doch Selbstvertrauen, Zukunfstzuversicht bei der Lösung der Gegenwartsprobleme vermitteln könnte. Eine andere Ursache ist, dass niemand in der Republik sich um die Heranbildung eines qualifizierten Führungsnachwuchses kümmert. Welche unserer Parteien oder auch welche Kombination von Parteien hat sich in den vergangenen Jahrzehnten je konstruktive Gedanken darüber gemacht, wie man einen leistungsfähigen Kreis junger Männer und Frauen für Führungsaufgaben gezielt schulen könnte? Niemand, irgends. Dabei müsste natürlich auch bedacht werden, wie das Fortkommen dieser jungen Menschen zu sichern wäre, falls sie in der Politik nicht zum Zuge kommen. Das ist in anderen Ländern anders, zumal in den drei alten Demokratien, an denen wir uns in der Regel messen. Denken Sie an Frankreich, an Großbritannien, an die Vereinigten Staaten: sie haben alle drei erprobte Rekrutierungsverfahren, wenn auch ganz unterschiedliche. Wir hingegen gehen im Grunde davon aus, dass sich Führung von selbst bildet, keiner besonderen Anstrengung und Förderung bedarf. Wenn wir nach 1945 eine erstaunlich qualifizierte und hoch motivierte Führungsmannschaft hatten und zwar in den drei Parteien, die ich nach wie vor für die eigentlichen Träger der Republik halte, dann lag das wesentlich daran, dass das Dritte Reich, so furchtbar es gewesen war, relativ rasch das Feld hatte räumen müssen. Ein großer Teil des Führungspersonals der Weimarer Republik hatte das Regime überlebt. Ich bin fest davon überzeugt, dass der große Anfangserfolg der Bundesrepublik – außer an Ludwig Erhard, dem Vater des Wirtschaftswunders –, wesentlich an Konrad Adenauer lag. Und warum an ihm? Weil er aus einer Generation stammte, die mit dem Selbstgefühl des wilhelminischen Zeitalters groß geworden war. Man vergisst häufig, dass Adenauer mit seinem rheinischen Hintergrund und der kommunalpolitischen Orientierung aus einem sehr selbstbewussten Deutschland kam. Er hatte das Dritte Reich erlebt in einem Alter, zwischen sechzig und siebzig, in dem seine Persönlichkeit längst geformt war, seine Überzeugungen nicht mehr ins Wanken gebracht werden konnten. Alle Nachfolger, die viel jünger waren, sind in der Mitte ihres Lebens unter den Einfluss des Dritten Reichs geraten. Sie haben jene zwölf Jahre als die schlechthin prägende Phase ihres Daseins erlitten, auf welcher Seite sie auch immer standen. Das hätte sie stärker verunsichert als den Alten von Rhöndorf, wenn sie statt seiner Gründungskanzler geworden wären. Adenauer hat, wie schon gesagt, das Dritte Reich im Pensionsalter an sich vorüberziehen lassen. Es konnte ihn im Kern nicht mehr erschüttern und verwandeln. Er fühlte sich lebenslang selbstverständlich Deutschland verbunden, widmete die Erinnerungen seinem Vaterland. Was möchte ich Ihnen an diesem Beispiel verdeutlichen? Natürlich darf man die zwölf Jahre des Dritten Reiches nie vergessen. Selbst wenn wir es versuchten, würden uns andere sehr rasch an die Phase der Schande erinnern. Aber wir müssen gleichzeitig immer wissen, dass diese zwölf Jahre nicht die Essenz unserer Geschichte sind, Deutschland nicht zwangsläufig auf die Hitler-Herrschaft zulief, keine unabwendbare Unheilsgeschichte hinter sich hat. Die vielen Jahrhunderte, in denen wir vor 1933

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eine zentrale, insgesamt positive Rolle in Europa spielen konnten, und die Jahrzehnte nach 1945, die wir doch sehr ordentlich hinter uns gebracht haben, müssen mindestens ebenso deutlich im Bewusstsein präsent gehalten werden. Das nimmt den zwölf Jahren nichts von ihrem Schrecken, aber es erlaubt doch, wenn wir auf die ganze lange deutsche Geschichte blicken, eine versöhnlichere, optimistischere Sicht unseres Landes. Mich hat immer die Behauptung des früheren Außenministers Fischers gestört, Auschwitz sei das Zentrum unserer Identität. Aus einer solchen Menschheitskatastrophe kann natürlich kein Volk seine Identität ableiten. Völkern geht es wie jedem einzelnen von uns. Man hat Erfolge und Misserfolge erlebt, muss mit Fehlschlägen, mit Schuldgefühlen leben. Aber um das Leben zu bestehen, muss man sich im Kern für einen anständigen Menschen halten. Und das gilt natürlich auch für Völker. Dieses selbstverständliche Gefühl für den eigenen Wert und die eigenen Würde ist den Deutschen durch Hitler abhanden gekommen. Das scheint mir im Kern zu erklären, warum die Deutschen sich keine eigene Zukunft mehr zutrauen, schon gar nicht eine gestaltende Verantwortung für Europa. Ich habe vor einiger Zeit meine Umgebung damit genervt, jeden Gesprächspartner zu fragen, wie er sich denn Deutschland in hundert Jahren vorstelle. (Sie sollten das mal ihre Verwandten, Bekannten und Freunde fragen, und ich wäre gespannt, was Sie dann zu hören bekommen.) Ich machte die traurige Erfahrung, dass die meisten, wie aus der Pistole geschossen, sagten: „In hundert Jahren gibtÌs uns doch gar nicht mehr!“ Die Optimisten waren dabei diejenigen, die glaubten, das in hundert Jahren Deutsche, Franzosen und Italiener einander so ähnlich sein werden wie Bayern, Friesen und Sachsen heute. Die Pessimisten hingegen gingen wie jetzt Thilo Sarrazin davon aus, dass die Deutschen als Minderheit in einer Überzahl nicht integrierter Ausländer untergehen werden. Wenn wir uns der Gegenwart zuwenden, dann kann man kaum den Eindruck vermeiden, dass unsere Parteien allesamt den Anspruch, die Erwartung aufgegeben haben, die Zukunft Deutschlands zu gestalten. Das gilt für die schwarz-gelbe Koalition ebenso wie für die drei Oppositionsparteien. Wie gesichtslos, wie gewichtlos die heutige Regierung ist, wurde mir deutlich, als ich im Dezember vergangenen Jahres einen Vortrag in Paris hielt und der Diskussionsleiter Daniel Vernet, der frühere außenpolitische Kopf und Deutschlandkenner des „Monde“, mich zum neuen Kabinett beglückwünschte. Mit ihm habe Deutschland wieder die bewährte Führung, die die Bundesrepublik groß gemacht habe. Da war ich doch platt, was sich Vernet in seinem Pariser Beobachtungsposten zusammen reimte. Denn ich hatte durchaus nicht den Eindruck, dass wir wieder die christlich-liberale Regierung hätten, mit der das Land so erfolgreich aufgestiegen ist. Ich glaube nicht, dass die meisten von Ihnen das anders sehen. Man kann heute kaum das Gefühl haben, sich in den Landschaften und Mannschaften der gewohnten Bundesrepublik wieder zu finden. Es scheint mir eine große Gemeinsamkeit, ein Konsens aller Parteien zu sein, nur ganz enge Meinungs-

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korridore zuzulassen, innerhalb derer offen diskutiert werden darf, während große Felder von der Eisschicht der politischen Korrektheit bedeckt sind und ernsthaften Diskussionen entzogen bleiben. Zur Meinungsfreiheit gehört natürlich auch die Freiheit, Unsinn zu reden. Wer weiß denn überhaupt, was richtig ist oder irrig, bevor eine breite öffentliche Diskussion das Thema behandelt hat? Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder betont, dass die Meinungsfreiheit das wichtigste Grundrecht ist, gewissermaßen das Fundament einer freien Demokratie. Immer wieder drängt sich der Eindruck auf, dass unsere Medien in allen ihren Erscheinungsformen ihrer Aufgabe, eine breite offene Diskussion anzuregen und lebendig zu halten, nur in unzulänglicher Weise gerecht werden. Die Verzwergung unseres Selbstgefühls bekommt uns nicht gut. Wir sollten uns ab und an daran erinnern, dass wir im 19. Jahrhundert eine Leitkultur für die ganze Welt gewesen sind, vielleicht mit einem, allenfalls zwei Mitbewerbern. Und heute streiten wir darüber, ob wir innerhalb unserer eigenen Grenzen für die Deutschen ebenso wir für die Zuwanderer eine Leitkultur brauchen. Der Kern unserer gemeinsamen Anstrengungen muss sein, gelassen und damit auch zuversichtlich auf unser Land und unsere Landsleute zu blicken und damit uns alle zu ermutigen, die Aufgaben der Zukunft beherzt anzupacken.

Die Aushöhlung der Demokratie durch Europäische Union und Währungsunion Von Karl Albrecht Schachtschneider I. Einleitung Das Europarecht, das Recht der europäischen Integration, gründet auf völkerrechtlichen Verträgen, ist also Völkerrecht, das aber auch Staatsrecht ist, weil die Europäische Union gemeinschaftlich die ihr übertragenen Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten ausübt und damit in deren Organisation integriert ist, als Staatenverbund, wie das das Bundesverfassungsgericht sieht1, oder richtiger als Bundesstaat2, und damit zur Staatlichkeit der Mitgliedstaaten, also zum Staat im engeren Sinne gehört. Darum wird das Europarecht (unspezifisch) auch als supranationales Recht oder als Recht sui generis bezeichnet3. Zwar unterscheiden sich Völkerrecht und Staatsrecht nach ihren Gegenständen, nicht aber nach ihrer Eigenart als Freiheitsrecht. Ihr Zweck ist die Verwirklichung des guten Lebens aller in allgemeiner Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Europa ist nur europäisch, wenn es die europäische Kultur bewahrt. Diese Kultur kommt wesentlich in den Strukturprinzipien Deutschlands zum Ausdruck. Die Strukturprinzipien, die der Integrationsartikel des Grundgesetzes, Art. 23 Absatz 1 Satz 1, nennt, sind die grundlegenden Freiheits-, Rechts- und Staatsprinzipien Deutschlands, die in Art. 20 Abs. 1 GG stehen und aus Art. 1 GG, der in Absatz 1 Satz 1 die Menschenwürde für unantastbar erklärt und sich in Absatz 2 zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ bekennt, folgen. Diese Prinzipien stehen ausweislich Art. 79 Abs. 3 GG nicht zur Disposition der Politik, auch nicht zur Disposition der Integrationspolitik4. Sie werden im übrigen, freilich außer 1

Maastricht- Urteil, BVerfGE 89, 155 (190); Lissabon-Urteil, BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009,BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 229, 233, 294. 2 K. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa“, in: W. Hankel, K. A. Schachtschneider, J. Starbatty (Hrsg.), Der Ökonom als Politiker, Europa, Geld und die Soziale Frage. Festschrift für W. Nölling. 2003, S. 279 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde vom 25. Juli 2008 gegen das Zustimmungsgesetz Deutschlands zum Vertrag von Lissabon, 3. Teil, A, nachzulesen in der Homepage: KASchachtschneider.de, unter Downloads. 3 Th Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, § 12, Rdn. 6 ff., S. 274 f. 4 BVerfGE 34, 271 (279); 73, 339 (386 f.); 89, 155 (171 ff., 181 ff.); 123, 267 ff., Abs. 177, 241. K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staat-

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dem Sozialprinzip, in den Werten der Union in Art. 2 EUV zugrunde gelegt. Es genügt nicht, daß diese Prinzipien propagiert, sie müssen verwirklicht werden. Das setzt voraus, daß sie ihrer Idee gemäß dogmatisiert werden. Das ist eine Aufgabe der praktischen Philosophie und damit eine Aufgabe der Ethik, zu der die Rechtslehre gehört. Die folgende Erörterung beschränkt sich auf ein Strukturprinzip, das in der europäischen Entwicklung verloren zu gehen droht, ja weitestgehend verdrängt ist, das aber mit der Idee der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, dem Weltrechtsprinzip5, untrennbar verbunden ist, das demokratische Prinzip. Ohne Demokratie gibt es keinen Rechtsstaat, schärfer: kein Recht und damit keine Freiheit, keine Gleichheit, keine Brüderlichkeit6. Ohne Demokratie gibt es keinen Sozialstaat, dessen Wirtschaftsordnung die der marktlichen Sozialwirtschaft7 ist. Die Darlegungen beschränken sich auf fünf Aspekte des demokratischen Defizits der Europäischen Union, nämlich die Entdemokratisierung der Rechtsetzung, die Entdemokratisierung der Rechtsprechung, die Entdemokratisierung des Wirtschaftsrechts durch das Herkunftslandprinzip, dem entdemokratisierten Großstaat und der entdemokratisierenden Währungsunion. Die Texte der Verträge sind schwer verständlich, die Entwicklung der Integrationspraxis kaum durchschaubar. Das verschafft der Integrationspropaganda die Möglichkeit, der Öffentlichkeit das demokratische Defizit zu verschleiern, ja sogar Fortschritte an Demokratie vorzuspielen. Der Beitrag will dem Informationen entgegensetzen und kann darum auf ein hinreichendes Maß an Text- und Rechtsprechungsbericht, Begrifflichkeit und Dogmatik nicht verzichten. II. Freiheitliche Demokratie Ein Gemeinwesen, in dem die Menschen frei, gleich und brüderlich zusammen leben, eine Republik also, muß demokratisch sein. Das demokratische Prinzip grün-

liche Integration der Europäischen Union. Ein Beitrag zur Lehre vom Staat nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag über die Europäische Union von Maastricht, in: W. Blomeyer./ders. (Hrsg.): Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 104. 5 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi. Grundlegung einer Allgemeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, 1994, S. 1 ff., 71 ff., 253 ff.; ders., Sittlichkeit und Moralität, in: ders., Freiheit – Recht – Staat. hrsg. v. D. I. Siebold./A. Emmerich-Fritsche, 2005, S. 23 ff.; ders., Freiheit in der Republik, 2007, S. 19 ff. 6 J. Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskursethik des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, 1992, S. 154; ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, 1996, S. 277 ff., 293 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 14 ff., 685 ff., 735 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 636 ff. u. ö.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, 2006, S. 22 ff. 7 Dazu K. A. Schachtschneider, Marktliche Sozialwirtschaft, in: K. Farmer/W. Harbrecht (Hrsg.), Theorie der Wirtschaftspolitik, Entwicklungspolitik und Wirtschaftsethik, Festschrift für Werner Lachmann zum 65. Geburtstag, 2006, S. 41 ff.; ders., Verfassungsrecht der Europäischen Union, Teil 2: Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, 2010, S. 25 ff.

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det in der Freiheit als der Autonomie des Willens8. Nur wenn jeder Mensch unter dem eigenen Gesetz lebt, das Gesetz, das er sich selbst gibt, nur wenn jeder Mensch Gesetzgeber seines Handelns ist, ist er frei. Die Freiheit ist aber das mit jedem Menschen geborene Recht9. Alle Menschen also sind Gesetzgeber ihres Handelns. Weil sie ein gemeinsames Leben führen und weil all ihr Handeln auf alle einwirkt, muß jeder Gesetze geben, die für alle gelten. Die Gesetze müssen somit allgemein sein. Die Allgemeinheit liegt im Begriff des freiheitlichen Gesetzes. Das demokratische Prinzip folgt aus der Allgemeinheit der Freiheit. Es soll die Verwirklichung der allgemeinen Freiheit durch allgemeine Gesetzlichkeit bestmöglich gewährleisten. Nur der übereinstimmende Wille aller Bürger kann Gesetze geben10. Der Wille der Bürgerschaft, die volont¤ g¤n¤rale, zielt nach dem Staatszweck auf das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit und damit Gleichheit und Brüderlichkeit11. Die Materie des guten Lebens aller, Gegenstand aller Politik, bedarf der Erkenntnis. Diese Erkenntnis ist Sache der Vertreter des ganzen Volkes (repräsentative, mittelbare Demokratie), wenn sie nicht dem Volk in seiner Gesamtheit (unmittelbare Demokratie) vorbehalten bleibt. Es ist Aufgabe der Besten des Volkes, das Richtige für das gute Leben aller auf der Grundlage der Wahrheit zu erkennen12. Diese republikanische Elite auszuwählen, ist Sache des Volkes. Das Auswahlverfahren muß den größtmöglichen Einfluß des Volkes, d. h. jedes Bürgers, auf die Vertreter des Volkes sicherstellen, soweit die Bürgerschaft nicht unmittelbar die Politik beschließen kann, was oft undurchführbar ist. Niemand kann und muß darauf vertrauen, daß eine Elite, die sich selbst einsetzt oder von einem Teil des Volkes, etwa Parteien, eingesetzt wird, die Politik so betreibt, wie es dem allgemeinen Wohl, der der Wille des Volkes ist, entspricht. Demgemäß sind um der allgemeinen Freiheit willen Wahlen der Vertreter des ganzen Volkes unverzichtbar. Diese Wahlen müssen gewährleisten, daß die Gleichheit der Bürger in der Freiheit gewährleistet ist. Sie müssen also egalitär sein13. Die skizzierten Elementaria des demokratischen Prinzips stehen nicht zur Disposition irgendwelcher Zweckmäßigkeiten. Irgendeine Legitimität gubernativer Rechtsetzung oder gar irgendeine Effizi-

8 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 519 ff., 637 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 160 ff. u. ö. 9 Zur kantianischen, grundgesetzlichen und weltrechtlichen Freiheitslehre K. A. Schachtschneider: Res publica res populi, S. 1 ff., 35 ff., 71 ff., 253 ff., 325 ff., 410 ff., 427 ff., 441 ff.; ders., Freiheit in der Republik. S. 281 ff., 405 ff., u. ö.; ders., Sittlichkeit und Moralität, S. 23 ff. 10 Kant, Metaphysik der Sitten, §§ 45, 46, 52, ed. Weischedel, Bd. 7, 1968, S. 431 ff., 464 f.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 318 ff. 11 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1 ff., 54 ff., 297 ff., 350 ff., 494 ff., 573 ff., 625 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 297 ff. 12 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 431 ff. u. ö. 13 BVerfGE 1, 208 (247, 249); 4, 31 (39 f.); 4, 375 (383 ff.); 11, 266 (272); 11, 351 (360 f.), und ständig; BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 282 ff.

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enz (Funktionalität)14 vermögen die demokratische Legitimation durch freiheitliche und gleichheitliche, also allgemeine, Parlamentswahlen nicht zu ersetzen, auch nicht mittels gewisser Transparenz elitärer Politik15. Legalität gründet ausschließlich auf dem Willen der Bürgerschaft, auf der volont¤ g¤n¤rale, der bestmöglich hervorgebracht werden muß, nicht auf dem Willen einer Elite, welche die Macht usurpiert. Nicht der Wille einzelner Menschen, gar der von Führern, schafft Verbindlichkeit, sondern nur der Wille aller Menschen, die zusammenleben, der Bürgerschaft. Die Vertreter des Volkes sind nicht die Herren des Volkes, sondern haben eine spezifische Aufgabe, nämlich die Erkenntnis des Willens des Volkes, also des gemeinen Wohls, der salus publica. Herrschaft und Freiheit sind unvereinbar16. Ein Freiheitsbegriff, der nicht mehr leistet, als Herrschaft in Grenzen zu weisen, dogmatisiert lediglich Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und verfehlt sowohl das demokratische Prinzip als auch die politische Form der Republik17. Mit dem liberalistischen Freiheitsverständnis, das Herrschaft nicht nur voraussetzt, sondern geradezu legitimiert, begnügt sich aber die europäische Integrationsentwicklung. Sie fällt damit in den vom monarchischen Prinzip gekennzeichneten Konstitutionalismus der Trennung von Staat und Gesellschaft zurück18. Das demokratische Prinzip ist nicht nur die Logik der allgemeinen Freiheit und damit der Menschheit des Menschen, sondern ausweislich Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG Strukturprinzip des Grundgesetzes, welches nicht zur Disposition der europäischen Integration steht. Die Demokratie ist nach Art. 3 S. 1 EUV ein Wert, auf dem die Union gründet. Weil dieser Wert verbunden ist mit dem der Freiheit und Gleichheit und auch mit denen der Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit, aber beide auch mit der Wahrung der Menschenrechte, kann der Begriff der Demokratie nur freiheitlich im Sinne der allgemeinen Gesetzgeberschaft der Bürger, wie das soeben skizziert wurde, verstanden werden. Das gegenwärtig geltende Verfassungsrecht der Europäischen Union jedoch mißachtet ausweislich des Vertrages von Lissabon nicht anders als die bisherigen Vertragswerke das demokratische Prinzip, wie es die Gleichheit in der Freiheit19, aber auch Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit gebieten. Die Europäische Union ist nicht demokratisch und, schlimmer noch, die Mitgliedstaaten haben ihren demokratischen

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I.d.S. aber A. von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, 2000, S. 28 ff., 35 ff., 107 ff., 304 ff. (S. 443 ff.). „Demokratie und Effizienz“ verbindet die Präambel des EUV im 7. Erwägungsgrund. 15 Transparenz wollen Art. 11 Abs. 2 und 3 EUV fördern. 16 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 71 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 115 ff. 17 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 441 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 343 ff. 18 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 159 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 207 ff. 19 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 405 ff.

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Status durch die Integration in die Europäische Union weitgehend eingebüßt. Das ist im Folgenden darzulegen. III. Entdemokratisierte Rechtsetzung 1. Europäisches Parlament Vor allem ist die politische Willensbildung der Europäischen Union entdemokratisiert. Das Europäische Parlament ist nicht demokratisch legitimiert, erstens weil es mangels eines Unionsvolkes kein Volk vertritt, zweitens weil dessen Wahl nicht gleichheitlich, sondern „degressiv proportional“ ist (Art 14 Abs. 2 S. 3 EUV). Diese Versammlung (so noch Art. 137 EWGV) der „Vertreter der Völker“ (so noch Art. 189 Abs. 1 EGV)20 ist kein Parlament21: Es wird nur so genannt, zum einen, um der Öffentlichkeit Demokratie vorzutäuschen, zum anderen, um den Status der Abgeordneten, insbesondere deren übermäßige Diäten22, zu rechtfertigen. Dem Europäischen Parlament komme für die Legitimation der Rechtsakte der Gemeinschaft „eine stützende Funktion“ zu, hat das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil23 ausgesprochen und das im Lissabon-Urteil24 wiederholt, mehr nicht. Das ändert der Lissabon Vertrag trotz sprachlicher Aufwertung des Europäischen Parlaments zum Gesetzgeber (gemeinsam mit dem Rat, Art. 14 Abs. 1 S. 1 EUV) in der Sache nicht, jedenfalls nicht wesentlich. Das für ein Parlament konstitutive und für die allgemeine Freiheit unverzichtbare Prinzip der Repräsentation des Volkes als Volksvertretung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) erfüllt das Europäische Parlament keinesfalls. Dem Europäischen Parlament wird durch den Lissabon-Vertrag trotz des größeren Einflusses im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 Abs. 1, 294 AEUV) keine eigenständige Gesetzgebungsbefugnis eingeräumt, nicht einmal ein Gesetzesinitiativrecht im eigentlichen Sinne. Das Gesetzesvorschlagsmonopol hat abgesehen von einigen Ausnahmen die Kommission (Art. 17 Abs. 2 EUV, Art. 289 Abs. 4 und Art. 293 AEUV). Es soll an den Rechtsetzungsverfahren mit Rechten zur Anhörung und zur Stellungnahme beteiligt werden, bis hin zum Recht, im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren den Standpunkt des Rates (nach Vorschlag der Kommission) mit der Mehrheit seiner Mitglieder (Art. 294 Abs. 7 lit. b AEUV) oder im Vermittlungsverfahren sogar den gemeinsamen Entwurf des Vermittlungsausschusses mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 294 Abs. 8 lit. b und Abs. 10 – 20 Vgl. i. d. S. das Lissabon-Urteil BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009,BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 280 ff., 286. 21 Dazu K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil J I. 22 Dazu H. H. von Arnim, Diätenwildwuchs im Europäischen Parlament – Verschleierte Einkommen und Doppelversorgungen: unangemessen und rechtswidrig. NJW 2004, 1422 ff. 23 BVerfGE 89, 155 (186). 24 BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009 BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 262, 276 ff., 280 ff., 289 ff. insb. Abs. 262, 271.

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14 AEUV) abzulehnen. Maßgebliche Rechtsetzungsorgane in der Europäischen Union bleiben wie in der bisherigen Europäischen Gemeinschaft (Art. 251, 252 EGV) die Kommission und der Rat (Art. 289, 294 AEUV), also prinzipiell zur Gesetzgebung nicht legitimierte Exekutivorgane, denen an sich nur Gesetzesinitiativrechte zukommen. Zwar ist der Einfluß des Europäischen Parlaments gestärkt, doch ist dies auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren begrenzt, welches nur in bestimmten Politikbereichen durchgeführt werden soll. In existentiellen Politikbereichen, wie insbesondere der Bestimmung der Grundzüge der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten nach Art. 121 Abs. 2 ff. AEUV und im Haushaltsdisziplinierungsverfahren nach Art. 126 AEUV soll das Parlament lediglich von Beschlüssen über Sanktionsmaßnahen unterrichtet werden (Abs. 11 Unterabs. 2). In die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ist das Parlament nur marginal eingebunden. Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik hört es regelmäßig zu den „wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und unterrichtet es über die Entwicklung der Politik in diesen Bereichen. Er achtet darauf, daß die Auffassungen des Parlaments gebührend berücksichtigt werden.“ Das Parlament „kann Anfragen und Empfehlungen an den Rat und den Hohen Vertreter richten“. „Zweimal jährlich führt es eine Aussprache über die Fortschritte bei der Durchführung“ dieser Politiken (Art. 36 EUV). Kein Politikbereich ist in der globalisierten Welt wichtiger als der der Außen- und Sicherheitspolitik. Für wichtige Agenden ist das besondere Gesetzgebungsverfahren vorgesehen (Art. 289 Abs. 2 AEUV), an denen das Parlament lediglich beteiligt ist, d. h. es wird nur angehört, beispielsweise bei der Festlegung der Bestimmungen über das System der Eigenmittel, die auch neue Kategorien von Eigenmitteln, also Unionssteuern, einführen können (Art. 311 Abs. 3 AEUV), prinzipiell immer, wenn der Rat einstimmig zu entscheiden hat. Kommission und Rat wären allenfalls in engen Grenzen gemäß einem wirklichen Prinzip der begrenzten Ermächtigung25 demokratisch legitimiert, nicht aber für ihre umwälzende, so gut wie alle Lebensbereiche erfassende Integrationspolitik. Die Ermächtigungen in den Unionsverträgen durch die Übertragung von Hoheitsrechten (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG), welche die Zustimmung der nationalen Gesetzgeber gefunden haben (vgl. Art. 59 Abs. 2 und Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG), sind einerseits zu weit und zu offen,26 und andererseits haben die Legislativorgane ihre Zustimmung nicht wirklich an dem Willen der Völker orientiert, sondern sich dem Integrationsdruck gebeugt.

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BVerfGE 89, 155 (181 ff., 191 ff.); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 226, 234 ff., 262, 265, 272, 275, 298 ff., 300 ff., 326; K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 96; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 71 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, B, C, D, F, H, K. 26 K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, B, auch C, F, H.

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Nach Art. 10 Abs. 2 EUV sollen die „Bürgerinnen und Bürger auf Unionsebene unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten“ sein. Das Parlament soll somit nicht mehr Versammlung der Vertreter der Völker, sondern Gesetzgebungsorgan der Bürger der Europäischen Union, der Unionsbürgerschaft, sein, welche dadurch gewissermaßen als Unionsvolk konstituiert wird. Damit soll dem Europäischen Parlament und dessen Gesetzgebungsakten eine unmittelbare demokratische Legitimationskraft zugesprochen werden. Das wirft unüberwindliche demokratierechtliche Verfassungsprobleme auf, solange der demokratische Fundamentalsatz des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, geachtet wird. Das Volk in diesem Satz ist das Deutsche Volk27; denn das Volk ist staatsrechtlich die Bürgerschaft eines existentiellen Staates, wie es Deutschland (noch) ist28. Weil dieser, im übrigen menschheitliche, Grundsatz unabänderlich ist, wie Art. 79 Abs. 3 GG, aber auch Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG klarstellen, bedarf es der Staatsgründung eines neuen existentiellen Staates, also der Europäischen Union als eines existentiellen Staates, der dann kein Staatenverbund mehr ist, sondern ein existentieller Bundesstaat, um durch die Konstituierung eines neuen Staatsvolkes, des Unionsvolkes, dem fundamentalen Prinzip der Demokratie die Geltung und auch die Wirkung zurückzugeben. Ohne Volksentscheid, der die existentielle Staatlichkeit des existentiellen Staates zugunsten eines europäischen Bundesstaates als existentiellem Staat (wie das in Deutschland der Bund, aber auch die Länder sind29) einschränkt, wenn auch nicht gänzlich aufhebt, ist eine so verordnete (existentielle) Staatswerdung der Europäischen Union mit dem Grundgesetz nicht vereinbar, zumal damit neben dem jeweiligen Volk des Mitgliedstaates, etwa der Deutschen, ein neues Volk im existentiellen Sinne, das Unionsvolk, geschaffen wird. Eine Nationalisierung der Europäischen Union zu einem existentiellen Staat ist ohne ein Verfassungsreferendum der Deutschen mit dem Verfassungsprinzip der existentiellen deutschen Staatlichkeit unvereinbar30. Für einen solchen Volksentscheid ist ein Verfahren noch gar nicht erörtert, geschweige denn geklärt. Die Integrationspolitik des Lissabon-Vertrages gefährdet den „Bestand der Bundesrepublik Deutschland“ und ist, wie Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG erweist, verfassungswidrig. Solange jedenfalls in Deutschland alle Staatsgewalt vom Volke und das heißt: vom Deutschen Volke ausgeht, kann es rechtens in Deutschland keine Gesetzgebung geben, welche ihre Legitimation, genauer: ihre Verbindlichkeit31, nicht vom Deutschen Volk, sondern von einem europäischen Unionsvolk herleitet. Das hat das Bundesverfassungsgericht zu der Dogmatik von der „be27

BVerfGE 83, 37 (50 ff.); 83, 60 71 f.); vgl. auch BVerfGE 89, 155 (184 ff.); i. d. S. auch BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 228. 28 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 16 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 58 ff.; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 76 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, A, I, II, IV. 29 K. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa“, S. 289 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, A, II. 30 K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 87 ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, ARSP Beiheft 71 (1997), S. 153 ff., 170 ff. 31 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff., insb. S. 707 ff.

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grenzten Einzelermächtigung“ gezwungen32, die zumindest fingieren kann, daß die Rechtsakte der Gemeinschaft, jetzt der Union durch die nationalen Parlamente demokratisch legitimiert seien, weil diese die Politik der Gemeinschaft verantworten können würden, die im Wesentlichen in den Gemeinschafts/Unionsverträgen, denen die nationalen Parlamente zugestimmt hätten, vereinbart wäre. Einen meßbaren Einfluß haben die Abgeordneten der nationalen Parlamente auf die Verträge nicht, weil die Materie der Verträge völkervertraglich festgelegt ist und die nationalen Regierungen sich bereits gebunden haben. Jedenfalls nehmen sich die durch ihre Parteiführer disziplinierten und im parteiengeprägten parlamentarischen Regierungssystem33 leicht zu disziplinierenden Abgeordneten den Einfluß nicht. Sie pflegen ihren Führern zu akklamieren. Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil Art. 10 Abs. 1 S. 1 EUVals Anmaßung zurückgewiesen34 und ist meiner staatsrechtlichen Dogmatik gefolgt, daß der Schritt zum europäischen Bundesstaat einer neuen Verfassung Deutschlands gemäß Art. 146 GG bedarf35. Freilich hat das Gericht bisher nicht zugestanden, daß die Union ein Bundesstaat ist36. Nach der Entwicklung der Währungsunion zur Finanz- und Transferunion wird es schwer, das weiterhin abzustreiten. Nach wie vor hält das Bundesverfassungsgericht daran fest, daß die Rechtsakte der Union wesentlich von den nationalen Parlamenten legitimiert werden37. Dafür genügt die Bestimmtheit der Ermächtigungen der Union, die vom Prinzip der begrenzten Ermächtigung postuliert wird, keinesfalls. Die Ermächtigungen sind weit und offen und umfassen fast den gesamten Bereich möglicher Politik38. Die Grenzen zieht der Zu32 BVerfGE 89, 155 (181, 191 ff.); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 226, 234 ff., 262, 265, 272, 275, 298 ff., 300 ff., 326; P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration. HStR, Bd. VII, 1992, § 183, Rdn. 47; K. A. Schachtschneider, Die Europäische Union und die Verfassung der Deutschen. Aus Politik und Zeitgeschichte, BpB B 28/93, S. 6; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 96; ders./A. Emmerich-Fritsche/Th. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz. JZ 1993, 751 f.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 71 ff. 33 BVerfGE 11, 77 (85); 26, 338 (395 f.); 45, 1 (46); dazu K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 677 ff.; P. Badura, Die parlamentarische Demokratie. HStR, Bd. I, 1987, § 23, Rdn. 10 ff.; Klein, H.H.: Aufgaben des Bundestages. HStR, Bd. II, 1987, § 40, Rdn. 30 ff.; M. Schröder, Bildung, Bestand und parlamentarische Verantwortung der Bundesregierung. HStR, Bd. II, 1987, § 51, Rdn. 49 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 176 ff. 34 BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 280: „Das Europäische Parlament ist auch nach der Neuformulierung in Art. 14 Abs. 2 EUV-Lissabon und entgegen dem Anspruch, den Art. 10 Abs. 1 EUV-Lissabon nach seinem Wortlaut zu erheben scheint, kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes“. 35 BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 203, 228. 36 BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 228, 277, 296; erneute Kritik K. A. Schachtschneider, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 zum Vertrag von Lissabon, FS. H. Herrmann, 2011 S. 345 ff. 37 BVerfGE 89, 155 (184, 186, 188 ff.)) BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 262, 263. 38 Dazu Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, B bis H.

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ständigkeitskatalog der Art. 3 bis 6 AEUV. Der ist umfassend. Das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EUV ist, geschwächt durch das Verfahren des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ein mehr als klägliches Instrument der nationalen Parlamente und hat noch so gut wie keine Wirkung entfaltet39. Aber die Parlamente der Völker hätten die Möglichkeit, ihre Integrationsverantwortung weitaus wirkungsvoller wahrzunehmen, als sie es zu tun pflegen. Sie haben nicht nur die Ausübung der Hoheitsrechte der Völker weitestgehend aus der Hand gegeben, sondern sich bereitwillig aus der politischen Verantwortung verabschiedet, weil die meisten Abgeordneten dieser nicht gewachsen sind und sich mehr um ihre Karriere als um das Wohl des Volkes kümmern. Die nationalen Parlamente werden von jedem Entwurf eines Gesetzgebungsaktes unterrichtet (Art. 12 lit a EUV), allein schon um die Subsidiaritätsverantwortung (lit b) wahrnehmen zu können. Sie könnte somit das Subsidiaritätsprinzip zur Geltung bringen. Das aber pflegt auch der Deutsche Bundestag nicht zu tun, obwohl Deutschland allemal in der Lage ist, die Politik, welche die Union macht, selbst zu bewerkstelligen. Für Deutschland hat die Europäische Union keinerlei Notwendigkeit. Vielmehr dient diese der Einbindung Deutschlands und mehr noch der Umverteilung deutscher Wirtschaftsleistungen auf die Mitgliedstaaten der Union, wie sich in der Finanz- und Staatsschuldenkrise erweist. Darüber hinaus hat der Bundestag die Möglichkeit, jeden Rechtsetzungsakt der Union politisch zurückzuweisen. Seine Stellungnahmen hat die Bundesregierung bei ihren Verhandlungen in der Union aber nur zu berücksichtigen (Art. 23 Abs. 3 GG). Die ernsthafte auch öffentliche Befassung des Bundestages wie auch des Bundesrates mit der Politik der Union würde das demokratische Defizit der Unionsrechtsetzung für Deutschland deutlich mindern. Aber es findet nicht statt. Weiterhin könnte der deutsche Gesetzgeber, was durchgehend übersehen wird, das Zustimmungsgesetz zu den Verträgen nicht nur aufheben40, sondern auch ändern und einschränken. Der Sache nach wird das Zustimmungsgesetz aus Verfassungsgründen auch in jeder Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Grenzen der Integration eingeschränkt, ohne daß das völkerrechtliche Probleme bereitet. Die Verträge haben in Deutschland einen anderen Gehalt als in anderen Mitgliedstaaten. Das kann auch der Gesetzgeber bewirken; denn er vertritt die Hoheit des Deutschen Volkes. Die Völker, pflegt das Bundesverfassungsgericht zu sagen, sind „Herren der Verträge“41, nicht nur alle zusammen, sondern jedes einzelne. Eine Politik, die Deutschland nicht will, muß es nicht hinnehmen. Es ist der überzogene Europaeifer der politischen Klasse, der dieser die Fähigkeit nimmt, Politik im Interesse Deutschlands zu machen. Das demokratische Defizit der Unionspolitik ist wesentlich ein Verantwortungsdefizit des Bundesgesetzgebers, ganz abgesehen von dem der Bundesregierung.

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K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, H V. BVerfGE 89, 155 (190); dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 75 f. mit weiteren Hinweisen in Fn. 303. 41 BVerfGE 89, 155 (190); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 238. 40

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Die Politik wird von den wenigen Parteiführern bestimmt, nicht wirklich von den Abgeordneten, die zwar formal, nicht jedoch hinreichend material Vertreter des Volkes sind. Parteienstaaten sind eben nicht demokratisch, weil die Abgeordneten nicht unabhängig nach ihrem Gewissen entscheiden, wie das Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG, die Magna Charta echter Volksvertreter, gebietet42, sondern fraktionsgebunden, wie es ihre Parteiführer wollen. Das ist die Logik der Geschlossenheit der Parteien. Im Parteienstaat fehlt der Vertretung des Volkes die demokratische Substanz43. Mag die politische Willensbildung in Deutschland und in anderen Ländern Europas formal demokratisch sein, material ist sie es nicht. Bloß formale Demokratie entartet zur Parteiendiktatur44. Schon den Gemeinschafts- und Unionsverträgen fehlte bzw. fehlt somit die demokratische Legitimation im freiheitlichen Sinne. Erst recht mangelt der sekundären und tertiären Gesetzgebung der Union diese Legitimation. Wenn diese gewonnen werden soll, müssen alle Völker, auch das Deutsche Volk, über die europäische Integration entscheiden können. Dem deutschen Volk wird aber die unmittelbar demokratische Abstimmung über sein Schicksal entgegen Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG von der Parteienoligarchie verweigert. Solange die Deutschen über die Integrationsverfassung nicht direktdemokratisch abstimmen, ist die Integration nicht demokratisch legitimiert, abgesehen von den demokratischen Defiziten der europäischen Organisation selbst. Die Volksvertretungen entbehren somit in den Angelegenheiten der Union in den Strukturen der europäisch integrierten Parteienstaaten der Macht, die nach dem demokratischen Prinzip die politische Freiheit der Bürger gewährleistet45, so daß sie die Integrationsverantwortung wahrnehmen können, die ihnen das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil zu Recht zuspricht46. Die Deutschen werden nach wie vor nicht als Bürger geachtet, sondern von der obrigkeitlichen Parteienoligarchie zu Untertanen degradiert. Es ist allerdings Sache der Deutschen selbst, die Unmündigkeit abzuschütteln und ihre Bürgerlichkeit zu behaupten47. Die selbstverschuldete Unmündigkeit der Menschen ist die Chance der Parteienoligarchie, die sich gar erdreistet, ihre propagandistische Desinformation Aufklärung zu nennen. 2. Kommission Die Kommission (Art. 17 EUV, Art 244 ff. AEUV), von Korruption belastet, entwickelt die europäische Integration zugunsten der Interessen, welche wirkungsmäch42

Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 810 ff. Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 772 ff., 1060 ff., 1184 ff., 1113 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 45 ff., 176 ff. 44 K. Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, 1966, 10. Aufl. 1988, S. 141 ff., 146 ff., 194 ff. 45 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff. 46 BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 236 ff., 264, 365, 375, 409 ff. 47 Zum Postulat der Aufklärung Kant, Beantwortung der Frage: Was ist die Aufklärung? ed. Weischedel, Bd. 9, S. 53 ff. 43

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tig vertreten werden, vor allem zugunsten ihres eigenen Interesses an der Ausweitung ihrer Macht. Dieser teuer bezahlte Behördenapparat, zentralistisch und bürokratisch wie ein Politbüro, ist die eigentlich treibende Kraft in der Europäischen Union. Die Kommission hat ein prinzipiell exklusives Vorschlagsrecht für Gesetzgebungsakte der Union (Art. 17 Abs. 2 S. 1 EUV, Art. 294 Abs. 2 AEUV), die vom Rat unter abgestufter Beteiligung des Parlaments beschlossen werden. Nach Art. 293 Abs. 1 und Art. 294 Abs. 9 AEUV kann der Rat Vorschläge der Kommission, von Ausnahmefällen abgesehen, nur einstimmig ändern. Die Bürokratie hat zwar nicht allein die Gesetzgebungsbefugnis, aber doch die wesentliche Rechtsetzungsmacht der Union, wie die Bürokratie in exekutivistischen Staatsorganisationen immer. Besondere Interessen der Mitgliedstaaten, der Länder und Regionen, namentlich besondere Unternehmensinteressen, durch ein Heer von Lobbyisten mit oft fragwürdigen Mitteln durchgesetzt, bestimmen die Bürokratie Brüssels in hohem Maße. Die Verträge, deren Anwendung die Kommission nach Art. 17 Abs. 1 S. 2 und 3 EUV verantwortet, werden eingehalten, soweit das opportun ist, wie (u. a.) die Duldung der Haushaltsdefizite und Staatsschulden der Mitgliedstaaten und die krassen Vertragsverletzungen durch die gegenwärtigen Eurorettungsmaßnahmen zeigen48. Die demokratische Legitimation und die demokratische Kontrolle der Kommission sind unzureichend, obwohl die Kommission des Vertrauens des Europäischen Parlaments bedarf und obwohl dieses (selbst nicht hinreichend demokratische) Parlament die Kommission durch Mißtrauensvotum stürzen kann (Art. 17 Abs. 7 und 8 EUV, Art. 234 AEUV). Jeder Mitgliedstaat stellt zur Zeit einen Kommissar (Art. 17 Abs. 4 EUV), Malta nicht anders als Deutschland. Gemäß Art. 17 Abs. 5 EUV soll die Kommission ab dem 1. November 2014 nur noch „aus einer Anzahl von Mitgliedern, die zwei Drittel der Zahl der Mitgliedstaaten entspricht“, bestehen, sofern der Europäische Rat nicht einstimmig eine Änderung dieser Anzahl beschließt“ (Unterabs. 1), und sollen die Kommissare „in einem System der strikt gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten so ausgewählt“ werden, „dass das demografische und geografische Spektrum der Gesamtheit der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt (Unterabs. 2 S. 1). Kleine Mitgliedstaaten werden nicht anders berücksichtigt als große, insbesondere als der größte, nämlich Deutschland. Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor. Das Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder zum Präsidenten. Im Einvernehmen mit dem gewählten Präsidenten nimmt der Rat (mit qualifizierter Mehrheit, Art. 16 Abs. 3 EUV) die Liste der anderen Persönlichkeiten an, die er als Mitglieder der Kommission vorschlägt. Als Kollegium stellen sich der Präsident, der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik und die übrigen Mitglieder der Kommission einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments. Wenn dieses zustimmt, wird die Kommission vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit 48 Dazu die Verfassungsbeschwerden der Professoren Dres. W. Hankel, W. Nölling, K. A. Schachtschneider, D. Spethmann, J. Starbatty zu den Aktenzeichen 2 BvR 987/10 und 1485/10, nachlesbar in meiner Homepage: www. KASchachtschneider.de, unter Downloads.

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ernannt (Art. 17 Abs. 7 EUV). Dem Präsidenten der Europäischen Kommission ist eine ähnliche Macht über die Mitglieder der Kommission zugedacht (Art. 17 Abs. 6 Unterabs. 2 EUV) wie den Staats- und Regierungschefs über ihre Minister und Beamten. Eine tragfähige demokratische Legitimation der Kommission zumal durch die großen Völker der Union ist in diesem Besetzungsverfahren nicht zu erkennen. Sie dürfte auch nicht bezweckt sein. Die Kommissare sind eine Art Europaminister, aber den Völkern meist fremd. Sie haben keine Legitimation durch demokratische Wahl, weil das Parlament sie mangels egalitärer Wahl nicht legitimieren kann und der Rat, dessen Mitglieder jeweils nur einen Mitgliedstaat vertreten, keine Legitimationskraft für alle Unionsbürger hat, schon gar nicht die der Völker, die wegen des Rotationsverfahrens nicht repräsentiert sind. Hinzu kommt, daß alle Auswahlbeschlüsse mit Mehrheit gefaßt werden. Wegen der substantiellen Demokratiedefizite der europäischen Integration haben die Interessen der Völker und Bürger wenig Rückhalt in den Brüsseler Ämtern. Die Wirkung des demokratischen Defizits ist augenscheinlich. Der Spiegel hat (zu Recht) die „Diktatur der Bürokraten“ getitelt49. Art. 10 Abs. 3 S. 1 EUV spricht „allen Bürgerinnen und Bürgern das Recht“ zu, „am demokratischen Leben der Union teilzunehmen.“ Diese obrigkeitliche Vergünstigung verhöhnt die politische Freiheit, aus der das fundamentale demokratische Prinzip folgt. Die Bürger geben ihren staatlichen Organen Befugnisse. Aber die politische Freiheit ist mit dem Menschen geboren und Substanz der Bürgerlichkeit des Bürgers50. Sie muß ihnen nicht als kleines Teilhaberecht am demokratischen Leben, das aussagegemäß von der Unionselite beherrscht wird, zugesprochen werden, schon gar nicht von der Union, die legitimatorisch eine Organisation der Völker und deren Bürger ist und nicht die eines eigenen Unionsvolkes. Alles staatliche Handeln ist Handeln der Bürger oder Bürgerschaften, in deren Name die Vertreter des Volkes oder der Völker handeln. Diese Vertreter haben keine quasimonarchische Hoheit, an der sie die Bürger gnädigst teilhaben lassen. Die stetig propagierte Bürgernähe (Art. 10 Abs. 3 S. 2 EUV), die bereits als Begriff die demokratiewidrige Ferne des obrigkeitlichen Apparats zu den Menschen einräumt, kann im Großstaat Europa nicht hergestellt werden, schon gar nicht durch integrationistische Propaganda. Nach Art. 9 S. 1 EUV soll den „Bürgerinnen und Bürgern“ „ein gleiches Maß an Aufmerksamkeit seitens der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union zuteil“ werden; das dürfte sich als die neue Formel einer weitentwickelten Bürokratisierung, des vormundschaftlichen Staates also, erweisen.

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Nr. 23/2005, S. 94 ff., 104 ff., 106 ff., Nr. 24/2005, S. 114 ff. Dazu K. A. Schachtschneider, Die Bürgerlichkeit des Bürgers, Zeit-Fragen 18. Jg. Nr. 45/46, 22. November 2010, S. 8 – 12. 50

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3. Rat, Europäischer Rat Der Rat (Art. 16 EUV, Art. 237 ff. AEUV) der Minister der Mitgliedstaaten wird grundsätzlich auf Vorschlag der Kommission gemeinsam mit dem Europäischen Parlament als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit diesem die Haushaltsbefugnisse aus (Art. 14 Abs. 1 S. 1 EUV). Das schon angesprochene ordentliche Gesetzgebungsverfahren ist in Art. 294 AEUV näher geregelt. Allerdings nimmt der Rat nur die Rechtsakte wirklich zur Kenntnis, über die in der Bürokratie, nämlich im Ausschuß der ständigen Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (Art. 16 Abs. 7 EUV, Art. 240 Abs. 1 AEUV, „kleiner Ministerrat“), dem Coreper (Commission des representants permanente), keine Einigung erzielt wurde51. Jedenfalls ist die wesentliche Rechtsetzung in der Europäischen Union Sache der Exekutive geworden, zu der der Rat fraglos gehört. Allenfalls die Minister des jeweiligen Mitgliedstaates sind von deren Volk (mittelbar) legitimiert, nicht aber der Rat insgesamt; denn der Rat besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaates auf Ministerebene (Art. 16 Abs. 2 EUV). Das wäre in einem Konsenssystem demokratierechtlich gerade noch tragfähig, nicht aber im Mehrheitssystem, in dem der Wille ganzer Völker entgegen dem Prinzip der Willensautonomie, der Freiheit also, überstimmt werden kann52. Der Rat beschließt, soweit in den Verträgen nichts anderes bestimmt ist, mit qualifizierter Mehrheit (Art. 16 Abs. 3 EUV). Die Rechtsetzungsbefugnisse der Union sind allzu weit, als daß diese Art von Fremdbestimmung unter Freiheitsgesichtspunkten hinnehmbar wäre. Das demokratische Defizit ändert sich durch die neuen Kriterien der qualifizierten Mehrheit im Rat nach Art. 16 Abs. 4 EUV, die ab dem 1. November 2014 greifen, nicht merklich. Danach muß die Mehrheit nicht nur der Mehrheit der Mitglieder des Rates (mindestens 55 % und mindestens 15 Mitglieder) entsprechen, sondern auch 65 % Bevölkerung der Union ausmachen53. Für die Sperrminorität sind dann mindestens vier Mitglieder des Rates erforderlich. Im Europäischen Rat (Art. 15 EUV) haben nach dem Vertrag von Lissabon außer den Staats- und Regierungschefs die Präsidenten des Europäischen Rates und der Kommission (Art. 15 Abs. 2 S. 1 EUV) Sitz. Stimmrecht haben die beiden Präsidenten nicht (Art. 235 Abs. 1 Unterabs. 2 S. 2 AEUV). Bislang haben die Außenminister der Mitgliedstaaten den Europäischen Rat unterstützt, nach dem Lissabon-Vertrag nimmt (nur noch) der Hohe Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 18 EUV) an der Arbeit des Europäischen Rates teil (Art. 15 Abs. 2 S. 2 EUV). Der Europäische Rat „gibt der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse 51

Dazu Th. Oppermann, Europarecht. Rdn. 291, 295, S. 122, 123 f. Dazu K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 75 ff. 53 Das gilt nur, wenn der Rat auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik beschließt, sonst ist eine Mehrheit von 72 % der Mitglieder des Rates nötig, die aber auch Mitgliedstaaten vertreten müssen, die mindestens 65 % der Bevölkerung ausmachen (Art. 238 Abs. 2 AEUV). 52

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und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten hierfür fest“ (Art. 15 Abs. 1 S. 1 EUV). Nach Satz 2 des Absatz 1 von Art. 15 EUV wird der Europäische Rat nicht gesetzgeberisch tätig. Er hat aber mannigfache besondere Befugnisse zumal im Bereich der Gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, d. h. den Entscheidungen über Krieg und Frieden (Art. 22, 24 Abs. 2, Art. 26, 31 EUV), bis hin zu der Befugnis, das Vertragswerk weitestgehend im vereinfachten Änderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 6 EUV umzugestalten, die ihn auch nach seinen Befugnissen zum mächtigsten Organ der Union machen. Er bündelt aber die Macht der Führer Europas, die sich in ihren Staaten und deren Regierungen und Parlamenten regelmäßig durchzusetzen vermögen, durch Absprachen derart, daß die unmittelbar demokratisch legitimierten Parlamente der Völker so gut wie jeden bestimmenden Einfluß auf die Politik einbüßen. Weil die Minister und leitenden Amtswalter der Mitgliedstaaten von ihren Staats- oder Regierungschefs allein schon durch deren regelmäßiges Entlassungsrecht abhängig (von Koalitionszwängen einmal abgesehen) sind (etwa Art. 64 Abs. 1 GG), hat sich gegen das demokratische Prinzip wieder das Führerprinzip durchgesetzt, gestützt durch die Parteiendemokratie und den Integrationismus. Absprachen der führenden Politiker ersetzen den demokratischen Diskurs der Völker und Bürger. Zur demokratischen Legitimation tragen Europäischer Rat und Rat nicht bei, obwohl sie im Leben der Unionsvölker außerordentlich mächtig sind. IV. Demokratiewidrig entgrenzte Ermächtigungen „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), auch die Staatsgewalt, die auf Grund der übertragenen Hoheitsrechte von den Unionsorganen gemeinschaftlich ausgeübt wird54. Gestützt auf das grundrechtsgleiche Recht des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG haben alle Deutschen einen Verfassungsanspruch darauf, daß die wesentliche Politik von den von ihnen gewählten Vertretern im Deutschen Bundestag (und auch im Bundesrat) beschlossen wird55 (Wesentlichkeitslehre56). Die Unionspolitik ist demgemäß nur demokratisch legitimiert, wenn sie von den Abgeordneten des Bundestages verantwortet werden kann und verantwortet wird. Das setzt voraus, daß sie „hinreichend voraussehbar normiert“ ist, und das hängt davon ab, daß die vom Bundestag verabschiedete Politik hinreichend bestimmt ist. Der Bundestag (wie der Bundesrat) verabschiedet aber nur das Zustimmungsgesetz zu dem Unionsvertrag, welches die deutschen Hoheitsrechte zur gemeinschaftlichen Aus54

BVerfGE 89, 155 (188 f.); K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz vom 7. 02. 1992 zum Vertrag über die Europäische Union vom 18. 12. 1993 (Maastricht-Verfassungsbeschwerde), in: I. Winkelmann, I. (Hrsg.): Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. 10. 1993, 1994, S. 115 ff., 129 ff., 142 ff.; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 97 ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, S. 163 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 74 ff. 55 BVerfGE 89, 155 (181 f.); K. A. Schachtschneider, Maastricht-Verfassungsbeschwerde, S. 115 ff., 380 ff. 56 BVerfGE 33, 1 (10 f.); 33, 303 (137); 59, 89 (126 f.); 89, 155 (191 f.); 89, 218 (151 ff.); K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 116 ff.

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übung auf die Europäische Union überträgt (Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG). Die Ermächtigungen der Union müssen demnach um der Demokratie willen begrenzt sein. Nur durch die „parlamentarische Verantwortbarkeit des Zustimmungsgesetzes“ entspricht sie dem Willen der Völker. Den demokratierechtlich zwingenden „Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung“57 hat der Vertrag von Lissabon in Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV und Art. 7 AEUVaufgenommen, aber nur in den deutschen Text, und der Sache nach in Absatz 2 des Art. 5 EUV wieder aufgehoben. Unmittelbar durch eine Unionsbürgerschaft legitimierte Gesetzgebung beeinträchtigt den Status der Bürger, weil diese, soweit das Europäische Parlament an der Gesetzgebung der Union mitwirkt, nicht mehr durch die nationalen Parlamente vertreten sind, die Union aber mangels Unionsvolkes keine originäre Hoheit hat, aus der sich eine unabgeleitete, eigenständige Gesetzgebungsbefugnis ergeben könnte. Die unmittelbare Vertretung der Unionsbürger im Europäischen Parlament (Art. 10 Abs. 2 EUV) schließt die zusätzliche Vertretung der Bürger der Mitgliedstaaten in deren nationalen Parlamenten auch in Angelegenheiten der Union zwar nicht gänzlich aus (vgl. Art. 23 Abs. 2 bis 6, Art. 45 GG), ist aber widersprüchlich, weil die Rechtsakte, die als Akte der Staatsgewalt Akte eines (gemeinschaftlich mit den Vertretern der anderen Völker handelnden) Organs des Volkes, also Akte eines gemeinschaftlichen in die nationale Organisation integrierten Organs58, sein müssen, nunmehr Akte eines unmittelbar die Unionsbürger, also gewissermaßen ein Unionsvolk vertretenden Unionsorgans sind. Subjekt des politischen Willens, das die Verbindlichkeit der Rechtsakte begründet, kann aber nur ein bestimmtes Volk sein, nicht zwei verschiedene Völker, das jeweils nationale Volk zum einen und das Unionsvolk zum anderen, weil die Willen der beiden Willensträger/Völker unterschiedlich sein können. Welcher Wille soll maßgeblich sein, wenn beide Willensträger nicht abgeleitete Willensmacht haben, nämlich Völker oder eben Bürgerschaften sind? Dieser essentielle legitimatorische Widerspruch wird durch das Mehrheitsprinzip nicht aufgehoben, weil nicht die Mehrheit den Willen bildet, sondern das Vertretungsorgan59 nach der Mehrheitsregel60, also das nationale Parlament, etwa der Deutsche Bundestag, zum einen und zum anderen das Europäische Parlament. Allein die Dogmatik der begrenzten Ermächtigung der gemeinschaftlichen Rechtsetzungsorgane, welche die nationale Verantwortbarkeit der Unionspolitik mit der Bestimmtheit der die Hoheitsrechte übertragenden Unionsverträge verbindet, hat die wesentliche Legitimation des Unionsrechts durch die nationalen Parlamente und damit durch die Völker der Mit57

BVerfGE 89, 155 (181 ff., 191 ff.), BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 226, 234 ff., 262, 265, 272, 275, 298 ff., 300 ff., 326. 58 Dazu K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 87 ff. 59 So BVerfGE 80, 188 (217, 221); 84, 304 (321); 90, 286 (342 f.); auch BVerfGE 44, 308 (316); K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 714 ff.; zum Unterschied von Mehrheitsprinzip und Mehrheitsregel auch ders., Freiheit in der Republik, S. 150 ff. 60 Zum Unterschied von Mehrheitsprinzip und Mehrheitsregel K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 106 ff.; ders., Freiheit in der Republik, 3. S. 115 ff.

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gliedstaaten zu dogmatisieren vermocht und damit den Widerspruch vermieden; denn dem Europäischen Parlament wurde nur eine die demokratische Legitimation „stützende Funktion“ zugemessen61. Die Gesetzgebungsbefugnis des Europäischen Parlaments (gemeinsam mit dem Rat) nach Art. 14 Abs. 1 S. 1 und Art. 16 Abs. 1 S. 1 EUV will dieses Parlament zu dem verantwortlichen und entscheidenden Verfassungsorgan der Unionsbürger als eines Unionsvolkes im Bereich der gesetzgeberischen Befugnisse des Parlaments machen. Mit Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG ist das schlechterdings unvereinbar, weil die Gesetze nicht der Wille des Deutschen Volkes wären62, sondern (bestenfalls) Wille der Unionsbürger, abgesehen von dem exekutivistischen Einfluß der Kommission und des Rates, und damit, wenn der deutsche Ratsvertreter den Rechtsakt ablehnt, ausschließlich fremder Wille; denn eine Zustimmung der deutschen Vertreter im Europäischen Parlament ist keine Vertretung des Deutschen Volkes, sondern gehört zur Vertretung der Unionsbürger. Die deutschen Stimmen werden auch gar nicht eigens gezählt. Allenfalls übereinstimmende Beschlüsse der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments könnten über das Legitimationsproblem hinweghelfen, weil kein Willenswiderspruch bestünde. Die demokratierechtlich widersprüchliche Konzeption wäre tolerierbar, wenn die im wesentlichen exekutive Unionsrechtsetzung sich in engen Grenzen, gemäß einem wirklichen Prinzip der begrenzten Ermächtigung63, hielte und darum durch den Lissabon-Vertrag wie schon durch die bisherigen Gründungsverträge demokratisch legitimiert wäre, ähnlich den exekutiven Rechtsverordnungen gemäß Art. 80 GG durch die Ermächtigungsgesetze, die nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt sein müssen, derart, daß Gegenstand, Programm und Tendenz der Rechtsverordnung schon aus der Ermächtigung erkennbar werden64. Die Unionspolitik ist aber in der Sache fast unbegrenzte Integrationspolitik, zumal die als Rechtsprechung konzipierte (funktionale) Rechtsetzung des Europäischen Gerichtshofs65. Die Ermächtigungen schon in den Gemeinschaftsverträgen und erstrecht im Vertrag von Lissabon66, die Übertragung der Hoheitsrechte also (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG), welche 61

BVerfGE 89,155 (185 f.); auch BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 262, 271; vgl. zur Bestimmtheit des Grundvertragswerkes schon BVerfGE 58, 1 (37); 68, 1 (98 f.); dazu K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 111 ff., (113, 117); kritisch H. P. Ipsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften. HStR, Bd. VII, 1992, § 181, Rdn. 91. 62 Zur Vertretungsdogmatik bei der Gesetzgebung allgemein K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 637 ff. insb. S. 707 ff. 63 BVerfGE 89, 155 (181 ff., 191 ff.); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 226, 234 ff., 262, 265, 272, 275, 298 ff., 300 ff., 326. 64 BVerfGE 1, 14 (60); 5, 71 (77); 8, 274 (307 ff.); 41, 251 (266); 56, 1 (12); 58, 257 (277); 62, 203 (210); 85, 97 (105); auch BVerwGE 80, 1 (20); 89, 121 (131); K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 193, 275 f. 65 Dazu näher K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 207 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, F. 66 Dazu näher K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon Vertrag, 3. Teil, B und C, D, H.

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die Zustimmung der nationalen Gesetzgeber gefunden haben (vgl. Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG), sind weit und offen. Sie lassen allenfalls den Gegenstand, nicht aber Programm und Tendenz der Gesetzgebung der Union erkennen, so daß deren Politik durch die nationalen Parlamente (Gesetzgeber) „verantwortbar“ sein kann, wie dies das demokratische Prinzip gebietet67. Diese demokratisch unabdingbare Dogmatik des Prinzips der „begrenzten Einzelermächtigung“ steht denn auch nur im deutschsprachigen Vertragstext des Vertrages von Lissabon (Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV, Art. 7 AEUV), wohl mit Rücksicht auf das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Im britischen Vertragstext steht „principle of conferral“, im französischen „le principe dÌattribution“. Das spricht lediglich aus, daß die Union keine originären Kompetenzen (competences, comp¤tences) hat, sondern nur übertragene, abgeleitete Kompetenzen. Der entscheidende demokratierechtliche Aspekt der Begrenztheit der Ermächtigungen, deren Bestimmtheit und damit der Verantwortbarkeit der Unionspolitik für die nationalen Parlamente kommt in diesen gegenüber dem deutschen Text nicht minder verbindlichen Formulierungen des Vertrages nicht zum Ausdruck. Allemal sind die britische und die französische Formulierung ehrlicher; denn der Vertrag überträgt die Hoheitsrechte weit und offen, nicht aber begrenzt und bestimmt, so daß die Politik der Union von den nationalen Parlamenten erwartet und verantwortet werden könnte. Daß der „Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung“ in Art. 5 Abs. 1 EUV auch nicht mehr benennen soll, als das Prinzip nicht der originären, sondern derivativen Hoheitsgewalt der Union, erweist auch Absatz 2 dieser Vertragsregelung, der den Grundsatz dahin definiert, daß „die Union innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig“ werden soll, „die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben“. Diese Definition, die dem britischen und französischen Text entspricht, läßt von demokratierechtlicher Bestimmtheit und damit von einer von den nationalen Parlamenten verantwortbaren Unionspolitik nichts übrig, wie das auch der Praxis entspricht. Der Lissabon Vertrag ist unverbesserlich demokratiewidrig. Die Kompetenz-Kompetenzen, welche die Unionsorgane, insbesondere der Europäische Rat, ohne nähere Bestimmtheit und damit eindeutig gegen das Prinzip der begrenzten Ermächtigung zu autonomen Vertragsänderungen ermächtigt haben, hat das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil jedenfalls für Deutschland dadurch demokratiefähig gemacht, daß es diese unter Art. 23 Abs. 1 S. 2 und 3 GG subsumiert und damit von der Zustimmung sowohl des Deutschen Bundestages als auch des Bundesrates abhängig macht (Absätze 306 ff., 322 ff.). Das war ein wesentlicher Erfolg der Kritik an dem Vertrag von Lissabon in den Verfassungsbeschwerden gegen diesen Vertrag, die ich namens eines Bundestagsabgeordneten der CSU und im eige-

67 BVerfGE 89, 155 (185 ff., 191 ff.); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 236 ff.; K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 111 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S.71 f.

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nen Namen erhoben habe68. Ohne diese vertragsändernde verfassungskonforme Interpretation wären diese Befugnisse Ermächtigungen diktatorischer Art gewesen. Es handelt sich neben den verschiedenen Brückenklauseln, welche das Rechtsetzungsverfahren zu ändern (sprich: weiter zu entdemokratisieren) erlauben, u. a. um das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 6 EUV, das alle wichtigen Politiken der Union außer der Außen- und Sicherheitspolitik erfaßt. Davon hat der Europäische Rat im Dezember 2010 Gebrauch gemacht, um Art. 136 AEUV so umzugestalten, daß Eurorettungsmaßnahmen jedenfalls in der Zukunft eine freilich allzuwenig bestimmte Vertragsgrundlage finden. Dadurch sind jedoch derartige Maßnahmen nicht schon rechtmäßig. Sie entwickeln vielmehr die Union endgültig zu einem Bundesstaat, der jedenfalls solange mit dem Grundgesetz unvereinbar ist, als sich nicht die Deutschen nach Art. 146 GG ein Verfassungsgesetz gegeben haben, das Deutschland für einen solchen Bundesstaat öffnet. Das bedarf, wie schon zur Volkskonstituierung gesagt, einer verfassungsgebenden Volksabstimmung, wie das Gericht ausgesprochen hat (Absatz 179). Weiterhin ist es die Ermächtigung des Art. 311 Abs. 2 S. 2 AEUV, „neue Kategorien von Eigenmitteln“ der Union einzuführen, also die Befugnis der Union zu begründen, eigene Steuern zu erheben. Hinzu kommt die Ermächtigung des Art. 352 Abs. 1 AEUV, neue Befugnisse zu begründen, wenn diese erforderlich erscheinen, um eines der (grenzenlosen) Ziele der Union zu verwirklichen (sog. Flexibilisierungsklausel)69. Ohne auf die unterschiedlichen Verfahren der Ermächtigungen einzugehen, ist zu kritisieren, daß die Verträge der Union durchgehend keine relevante Beteiligung der nationalen Parlamente an den Vertragsänderungen vorgeschrieben und diese dadurch weitestgehend zu entmachten versucht haben. Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht durchgehen lassen, allerdings sich zur Steuererhebungsermächtigung verschwiegen. Wie die anderen Mitgliedstaaten mit den Ermächtigungen zu autonomen Vertragsänderungen verfahren werden, insbesondere Irland, das jede Vertragsänderung an eine Volksabstimmung bindet, steht dahin. V. Entdemokratisierte Unionsrechtsprechung 1. Usurpierte Integrationsmacht des Gerichtshofs Der Europäische Gerichtshof hatte, orientiert an der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte, aber auch an den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV a. F.), eine gemeinschaftliche Grundrechteverantwortung in Anspruch genommen und Rechtsgrundsätze entwickelt, die keine textliche Grundlage hatten70. Die Lebens- und vor allem die Wirt68

Vgl. K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon Vertrag, 3. Teil, H III. K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon Vertrag, 3. Teil, H I, II. 70 Z. B. EuGH v. 14. 5. 1974 – Rs. 4/73 (Nold/Kommission), Slg. 1974, S. 491 (507, Rdn. 13); EuGH v. 13. 12. 1979 – Rs. 44/79 (Hauer/Rheinland-Pfalz), Slg. 1979, S. 3727 (3745, Rdn. 15); EuGH v. 11. 7. 1989 – Rs. 265/87 (Schräder/Hauptzollamt Gronau), Slg. 1989, 69

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schaftsordnung ist in hohem Maße vergemeinschaftet, aber über die Vereinbarkeit der europäischen Rechtsakte (Richtlinien und Verordnungen u. a.) mit den Grundrechten läßt das Bundesverfassungsgericht den Europäischen Gerichtshof entscheiden, soweit nicht der Grundrechtestandard, der Wesensgehalt der Grundrechte, allgemein mißachtet wird71. Die richterliche Verantwortung für die Rechtsgrundsätze hat der Europäische Gerichtshof an sich gezogen. Es kann in einem Staatenverbund, in dem die Gemeinschaftsorgane in die staatliche Organisation der Mitgliedstaaten integriert sind, nicht zweifache Maßstäbe des Rechts geben. Die Rechtsgrundsätze, die mit den Grundrechten verbunden werden, erheischen ein einheitliches Verständnis72. Der Vorrang und die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschafts/Unionsrechts in den Mitgliedstaaten, die erst der Gerichtshof kreiert hat73, in Verbindung mit den aus den Grundfreiheiten, dem Binnenmarktprinzip, folgenden weiten Möglichkeiten, Harmonisierungsinteressen im Klagewege durchzusetzen, welche auch erst der Gerichtshof zu subjektiven Rechten der Unionsbürger74 entwickelt hat, hat dem Europäischen Gerichtshof eine außerordentliche Gestaltungsmacht gegeben. Die Vorabentscheidungsbefugnis des Gerichtshofs aus Art. 234 EGV (jetzt Art. 267 AEUV) hatte (und hat) dem Gerichtshof zusätzlich weite politische Möglichkeiten verschafft, die ihn zu einem außerordentlich mächtigen Akteur der europäischen Integration hat werden lassen. Diese Befugnis(Macht)erweiterung des Gerichtshofs (eine Usurpation), der eigentliche Wechsel der Europäischen Gemeinschaft von einem völkerrechtlichen Staatenbund zum staatsrechtlichen Bundesstaat, haben die Mitgliedstaaten bei der Vertragsentwicklung zugrunde gelegt und folglich stillschweigend als gemeinschaftlichen Besitzstand in die Verträge aufgenommen, also akzeptiert. Seit dem Vertrag von Amsterdam 1997 folgt die Befugnis des Gerichtshofs zur Grundrechtejudikatur aus Art. 46 lit. d EUV i.V. mit Art. 6 Abs. 2 EUV a. F. Es hat die Integration erleichtert und befördert, daß der Gerichtshof die Grundrechte judikativ ohne Verträge und damit an den Völkern und den Volksvertretern vorbei, insbesondere ohne Kontrolle einer (demokratischen) Öffentlichkeit75, vorangetrieben hat. Diese Entwicklung war demokratiewidrig. Die Grundrechtechar-

S. 2237 (2267, Rdn. 14); EuGH v. 13. 7. 1989 – Rs. 5/88 (Wachauf/Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft), Slg. 1989, S. 2633; dazu Th. Oppermann, Europarecht, § 6, Rdn. 20 ff., S. 144 ff., Rdn. 26 ff., 33 ff., S. 146 ff. 71 BVerfGE 89, 155 (174 f.); 102, 147 (160 ff.); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 331 (grundrechtlicher Substanzschutz); vgl. auch die SolangeEntscheidungen BVerfGE 37, 271 (277 f.); 73, 339 (374 ff.). 72 K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon Vertrag, 3. Teil, F, V. 73 EuGH v. 05. 02. 1963 – Rs. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1 (24 f.); dazu K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon Vertrag, 3. Teil, F, I. 74 Grundlegend EuGH v. 5. 2. 1963 – Rs. 26/62 (van Gend & Loos/Niederländische Finanzverwaltung), Slg. 1963, 1 (25 f., Rdn. 7 ff.); EuGH v. 15. 7. 1964 – Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251 (1273). 75 Zur demokratischen Öffentlichkeit Hinweise in Fn. 126.

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ta der Europäischen Union, die in Nizza im Dezember 2001 deklariert wurde76 und so gut wie unverändert zunächst als Teil II des Verfassungsvertrages und schließlich mit dem Vertrag von Lissabon (Art. 6 Abs. 1 EUV) als Charta der Grundrechte der Europäischen Union übernommen wurde, formuliert den bisher vermißten Grundrechtetext, den die Union und die Mitgliedstaaten „bei der Durchführung des Rechts der Union“, in Unionssachen also, judizieren sollen (Art. 51 Abs. 1 S. 1 der Charta). 2. Richter ohne demokratische Legitimation Ein Gemeinschaftsorgan eines Staatenverbundes muß eine gewisse Schwäche der demokratischen Legitimation ihrer Amtswalter hinnehmen, die nicht in gleicher Weise gewählt oder berufen sein können, wie es das demokratische Prinzip eines Volkes an sich verlangt77. Aber die Legitimation der Gerichte der Europäischen Union unterschreitet das demokratische Minimum, zumal im Verhältnis zu ihrer politischen Macht. Ein Gericht bedarf in der Funktion des Verfassungsgerichts einer starken demokratischen Legitimation78, weil vor allem die Verfassungsgerichte Menschheitsfragen entscheiden, die ihre Antwort in der Sittlichkeit des Volkes finden müssen. Deren Vertretung ist die Substanz der demokratischen Legitimation79. Für die große politische Verantwortung, insbesondere die Grundrechteverantwortung, fehlt es dem Europäischen Gerichtshof an der (notwendig starken) demokratischen Legitimation80. Die Rechtsgrundsätze, welche der Europäische Gerichtshof praktiziert, sind allzu offen, als daß sie den Gerichtshof im Sinne der die Rechtsprechung definierenden Gesetzesunterworfenheit (vgl. Art. 97 Abs. 1 GG) zu binden und allein durch diese Bindung zu legitimieren vermöchten. Durch Bestimmtheit die-

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Zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union (kritisch) K. A. Schachtschneider, Eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union. Recht und Politik 1/2001, 16 ff.; ders., Eine Charta der Grundrechte für die Europäische Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52 – 53/2000, 13 ff.; R. Streinz, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: ders., EUV/EGV, 2003, S. 2571 ff.; 2003; C. Calliess, C.: Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers, D. (Hrsg.): Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten. 2003, § 19, S. 447 ff. 77 Vgl. BVerfGE 47, 253 (275); 83, 60 (71); 89, 155 (183 ff.); G. Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht. VVDStRL 60 (2001), S. 247 ff., 261 f., kritisch zum „Nichtübertragbarkeitsgrundsatz“. 78 K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon Vertrag, 3. Teil, F, VI; ders., Demokratierechtliche Grenzen der Gemeinschaftsrechtsprechung, in: Brink, St./Wolff, H.A. (Hrsg.), Gemeinwohl und Verantwortung. Festschrift für Hans Herbert v. Arnim, 2004, S. 779; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 210 ff. 79 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 644 ff., 666 ff., 725 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 424 ff., ders., Sittlichkeit und Moralität, S. 44 ff. 80 K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 130 ff., 210 ff.; ders., Sittlichkeit und Moralität, S. 49 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, 2005, S. 184 ff. (194); wenig demokratisch F. C. Mayer, Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, Gerichtliche Letztentscheidung im europäischen Mehrebenensystem, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 276.

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ser Rechtsprinzipien wird jedenfalls das demokratische Legitimationsniveau81 der Gemeinschaftsrechtsprechung nicht gestärkt. Die Richter des Gerichtshofs werden „im gegenseitigen Einvernehmen von den Regierungen der Mitgliedstaaten … auf sechs Jahre ernannt“ (Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 3 S. 2 EUV, Art. 253 Abs. 1 Halbsatz 2 AEUV) und finden dadurch nur eine mehr als mäßige Akzeptanz aller Mitgliedstaaten, eben nur die der Regierungen. Zunächst einmal vermag die Exekutive Richter nicht zu legitimieren, zumal nicht Grundrechterichter, schon gar nicht die Regierungen, von denen die größten Gefahren für die Grundrechte ausgehen und die sich darum nicht selbst ihre Richter auswählen dürfen. Die Richter müssen aber vornehmlich das Vertrauen der Staats- und Regierungschefs, die sich als Führer Europas verstehen, haben, nicht das Vertrauen der Völker. Die erforderliche starke Legitimation ist das nicht. Jeder Mitgliedstaat, Malta wie Deutschland, stellt einen Richter (Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 EUV), der durch den Vorschlag der jeweiligen Regierung allenfalls eine schwache demokratische Legitimation seines Staates hat. Die Richter der anderen Staaten haben nur eine eingeschränkte demokratische Legitimation des Mitgliedstaates, dessen Regierung sie benannt hat, und keinerlei demokratische Legitimation der Völker, aus denen sie nicht stammen. Die Legislativen und die Judikativen der Mitgliedstaaten sind an der Auswahl der Richter im Gegensatz zur innerstaatlichen Richterauswahl in Deutschland (vgl. etwa Art. 95 Abs. 2 GG, § 4 RiWahlG, Art. 34 ff. BayRichterG) meist nicht beteiligt, nicht einmal das Europäische Parlament. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts werden demgegenüber „je zur Hälfte vom Bundestage und Bundesrate gewählt“ (Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG)82. Weil in den Gerichten der Europäischen Union ein Richter aus jedem Mitgliedstaat stammt und somit allenfalls erwarten läßt, dessen Rechtsordnung und das Unionsrecht hinreichend zu kennen, fehlt dem Gerichtshof auch die notwendige Fachkompetenz, welche die Legitimation stärken könnte. Demokratierechtlich ist eine Gerichtsbarkeit wie die der Europäischen Union angesichts der Verantwortung für die Grundsatzfragen des Rechts untragbar. Vor der Ernennung der Richter gibt ein Ausschuß, der „zur Eignung der Bewerber für die Ausübung des Amtes eines Richters oder Generalanwaltes beim Gerichtshof“ eine Stellungnahme ab. In dem Ausschuß sitzen sieben Persönlichkeiten aus dem Kreis der ehemaligen Mitglieder des Gerichtshofs und des Gerichts, der Mitglieder der höchsten einzelstaatlichen Gerichte und der Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung (Art. 253 Abs. 1 2. Halbsatz, Art. 255 AEUV). Dieser Ausschuß mag krasse Fehlberufungen verhindern können, irgendeine demokratische Legitimation vermittelt er 81 Zu diesem Topos BVerfGE 83, 60 (71 f.); 89, 155 (182); 93, 37 (66 f.); BVerfG 2 BvE 2/ 08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 262, 274 ff., 290 ff.; K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 216, 263; vgl. auch ders., Res publica res populi, S. 970 ff.; G. Lübbe-Wolff, VVDStRL 60 (2001), S. 280 f., kritisch („Verdünnung repräsentativ-demokratischer Legitimationszusammenhänge“). 82 Zur Kritik der übermäßigen Einbindung der Richter in die Parteienoligarchie W. K. Geck, Wahl und Status der Bundesverfassungsrichter. HStR, Bd. II, 1987, § 55, Rdn. 2 ff., 13 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 939 f., 964 f., 975 ff.

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nicht. Für das Gericht gilt nach Art. 254 AEUV das gleiche Auswahlverfahren wie für den Gerichtshof. 3. Gerichtshof kein Gericht eins Volkes Der Gerichtshof der Europäischen Union, der Gerichtshof und auch das Gericht, sind mangels demokratischer Legitimation in der jeweiligen Gesamtheit des Spruchkörpers nicht Gerichte eines Volkes. Sie können nicht namens eines Volkes und damit letztlich auch nicht namens der Völker Europas Recht sprechen. Richter eines Volkes kann nicht sein, wen das Volk nicht kennt und wer nicht im Volk lebt, schon gar nicht, wer die Sprache des Volkes nicht spricht und dessen Gesetze nicht kennt. Die unzureichende Legitimation der Gemeinschaftsrichter wird nicht dadurch gerechtfertigt, daß sie für viele Völker Recht sprechen sollen. Ein Gericht muß das Vertrauen des Volkes dahinein haben, daß es Recht spricht, ein Unionsgericht das Vertrauen aller verbundenen Völker. Ein solches Vertrauensverhältnis kann nur demokratisch institutionalisiert werden83. Ohne demokratische Legitimation ist eine Institution der verbindlichen Rechtsklärung, also der Rechtsprechung84, kein Gericht im republikanischen Sinne, sei sie Gericht genannt, sei sie wie ein Gericht ausgestattet, zumal mit Unabhängigkeit der Richter, verfahre sie wie ein Gericht und sei sie um Rechtserkenntnis mit rechtswissenschaftlichen Methoden bemüht. Sie ist kein Organ eines Volkes, das allein die Staatsgewalt des Volkes auszuüben befugt sein kann, wie Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG klarstellt85. Nur das Volk oder Organe des Volkes können Staatsgewalt ausüben, wenn das Gemeinwesen freiheitlich, also eine Republik oder eine Demokratie im freiheitlichen Sinne, sein soll. Auch die Rechtsprechung ist staatlich und kann nur vom Staat als Organisation des Volkes für die Verwirklichung des gemeinen Wohls, des guten Lebens aller in allgemeiner Freiheit86, ausgeübt werden. Die europäischen Gerichte sind keine Organe des Volkes im Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG, weil sie weder ein Volk vertreten noch demokratisch in die Organisation der Völker integriert sind87. Gemein-

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I.d.S. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze. ed. Karl Weigand, Reclam, 1965, XI, 6 (S. 214): „Richterliche Befugnis darf nicht einem unabsetzbaren Senat verliehen werden, vielmehr muß sie von Personen ausgeübt werden, die nach einer vom Gesetz vorgeschriebenen Weise zu gewissen Zeiten im Jahr aus dem Volkskörper ausgesucht werden“. Ähnlich Kant, Metaphysik der Sitten, S. 436; dazu T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 106 ff., 184 ff. 84 Zum Begriff der Rechtsprechung K. A. Bettermann, Die rechtsprechende Gewalt. HStR, Bd. III, 1988, § 73, Rdn. 33, 38; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 870 ff., 885 ff., 1137 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 135 ff., 210 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 41 ff. 85 Zur Organlehre K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 707 ff. 86 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 519 ff. (S. 573 ff.); ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 19 ff., 58 ff. 87 K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, in: W. Nölling/ K. A. Schachtschneider/J. Starbatty (Hrsg.), Währungsunion und Weltwirtschaft, FS W. Han-

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schaftsorgane können Organe der Mitgliedstaaten sein, wenn die jeweilige Staatsgewalt der Völker gemeinschaftlich ausgeübt wird88. Das ist die Struktur der europäischen Integration. Ein derart integriertes Organ darf aber um der demokratischen Legitimation willen nur mit begrenzten Befugnissen ausgestattet sein89. Diese Begrenzung respektiert die Grundsatz- und vor allem die Grundrechterechtsprechung der Unionsrechtsprechung gerade nicht. Jeder Unionsrichter hat die uneingeschränkte Verantwortung für das Recht jedes mitgliedstaatlichen Volkes. Während das Mehrheitsprinzip im Rat als ein (begrenzt) hinnehmbares Kompromißprinzip demokratierechtlich tragfähig ist, rechtfertigt die Mehrheitsregel90 in Gerichten keinen Kompromiß, sondern trifft eine Entscheidungsregel bei divergenten Erkenntnissen der Richter. Die Beschlüsse des Rates sind durch die Mitwirkung des mitgliedstaatlichen Regierungsvertreters in gewisser Weise, wenn auch nur begrenzt, demokratisch legitimiert. Eine solche Dogmatik ist für Richtersprüche eines Kollegialgerichts nicht möglich, weil richterliche Erkenntnisse nicht ausgehandelt werden dürfen. Ohne spezifisch rechtsprechungsgemäßen demokratischen Organstatus der Gerichte gibt es keine Rechtsprechung des Volkes und auch keine Rechtsprechung der verbundenen Völker. Die Gerichte der Union können die Rechtsprechungsgewalt der Völker nicht ausüben. Sie können aus demokratischen Gründen nur völkerrechtliche Einrichtungen der Streitschlichtung sein91. Damit wird der Anwendungsvorrang des Unionsrechts insgesamt fragwürdig. Er wird durch den Willen der verbundenen Völker getragen92. Die Völker können auch nach der Vollzugslehre den Rechtsanwendungsbefehl, der nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Geltung des Gemeinschafts-/Unionsrechts trägt93, aufheben94 oder einschränken. Die Rechtsprechungskel, 1999, S. 137 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 212; ders., Sittlichkeit und Moralität, S. 49 ff.; T. Mähner, Der Europäische Gerichtshof als Gericht, S. 106 ff., 184 ff. 88 K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 87 ff. (97 ff.); ders., Die Republik der Völker Europas, S. 163 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 74 ff. 89 Zum Prinzip der begrenzten Ermächtigung Hinweise in Fn. 25. 90 Zur Mehrheitsregel (im Unterschied zum Mehrheitsprinzip) K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 106 ff., 119 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 150 ff. 91 K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, F, VIII; allgemein zu völkerrechtlichen Streitschlichtung A. Emmerich-Fritsche, Recht und Zwang im Völkerrecht, insbesondere im Welthandelsrecht, in: K. A. Schachtschneider (Hrsg.), Rechtsfragen der Weltwirtschaft, 2002, S. 176 ff.; D. I. Siebold., Die Welthandelsorganisation und die Europäische Gemeinschaft. Ein Beitrag zur globalen wirtschaftlichen Integration, 2003, S. 131 ff. 92 Das ist auch völkerrechtlich richtig, aber nur auf der Grundlage des umgekehrten Monismus, der keinesfalls die Praxis des EuGH stützt; vgl. K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 110 ff.; C. Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus in den Völkerrechtslehren, 2003, S. 261 ff. 93 BVerfGE 73, 339 (367 f., 375); 89, 155 (190); so etwa P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, HStR, Bd. VII, § 183, Rdn. 45; E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 67 ff., 79; R. Bernhardt, Verfassungsrecht und völkerrechtliche Verträge, HStR, Bd. VII, 1992, § 174, Rdn. 28; kritisch K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas,

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gewalt darf wegen Art. 20 Abs. 2 GG nicht entdemokratisiert werden, weil die Gerichte des Volkes das letzte Wort in Sachen des Rechts haben müssen. Der Europäische Gerichtshof hat sich zu einer geradezu obrigkeitlichen Ordnungsmacht entwickelt. Er pflegt mit aller Härte die Integrationspolitik der Kommission gegen die Mitgliedstaaten und deren Bürger durchzusetzen, hatte aber in dem gut ersten halben Jahrhundert seiner Tätigkeit nicht einmal einen Rechtsetzungsakt der Gemeinschaft wegen Mißachtung der Grundrechte verworfen. Erst in jüngster Zeit hat der Gerichtshof zweimal in wenig wichtigen Fällen Grundrechte gegen Rechtsetzungsakte der Union durchgesetzt95. Der Gerichtshof ist bemüht, den Schein des Rechts zu wahren. Jedoch: „Die höchste Ungerechtigkeit ist, daß man gerecht scheine, ohne es zu sein“96. VI. Entdemokratisierung durch das Herkunftslandprinzip Diskriminierungsverbote, insbesondere das allgemeine des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 EUV und das besondere des Art. 18 AEUV „aus Gründen der Staatsangehörigkeit“, gebieten, die Rechtsvorschriften des Bestimmungslandes auf die StaatsangehöS. 99 f.; ders., Die Republik der Völker Europas, S. 165; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 75 ff. 94 BVerfGE 89, 155 (190); für die ständige Freiwilligkeit der Mitgliedschaft im Staatenverbund K. A. Schachtschneider, Aussprache zum Thema: Der Verfassungsstaat als Glied der Europäischen Gemeinschaft. VVDStRL 50 (1991), S. 178; ders., Maastricht-Verfassungsbeschwerde, S. 444 ff.; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 101 f.; ders., Die Republik der Völker Europas, S. 167 f.; ders./A. Emmerich-Fritsche/Th. C. W. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, 758 f.; auch schon H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., 1966, S. 767. Der Maastricht-Vertrag hatte die Integration entgegen dem Prinzip ständiger Freiwilligkeit der Mitgliedschaft in den Gemeinschaften unumkehrbar festgelegt und ist vom Bundesverfassungsgericht auch insoweit verfassungskonform korrigiert worden; P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, HStR, Bd. VII, § 183, Rdn. 46, wo er allerdings die Vertragsauflösung durch „actus contrarius“ den Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ vorbehält, im Widerspruch zur Dogmatik vom nationalen Rechtsanwendungsbefehl als Geltungsgrund der Rechtsordnung der Gemeinschaft (Rdn. 45); der Sache nach wie im Maastricht-Urteil allerdings ders., Rechtsschutz durch Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof, in: D. Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, 1990, S. 109 f. 95 Urteil vom 3. 9. 2008 – Rs. C-402/05 P und C-415/05 P (Kadi und Barakaat International Foundation / Rat und Kommission): Die VO (EG) Nr. 881/2002 des Rates vom 27. 5. 2002 über die Anwendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Oganisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen, und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 467/2001 des Rates über das Verbot der Ausfuhr bestimmter Waren und Dienstleistungen nach Afghanistan, über die Ausweitung des Flugverbots und des Einfrierens von Geldern und anderen Finanzmitteln betreffend die Taliban von Afghanistan wird für nichtig erklärt, soweit sie Herrn Kadi und die Al Barakaat International Foundation betrifft. Urteil vom 9. 11. 2010 – Rs. C-92/09 u.C-93/09 (V. und M. Schecke GbR bzw. H. Eifert/Land Hessen), zur Vorratsdatenspeicherung von Subventionen im Agrarbereich. 96 Platon, Politeia/Der Staat, 361a.

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rigen aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterschiedslos anzuwenden (Inländerbehandlung). Das führt zum Bestimmungslandprinzip97. Werden die Grundfreiheiten nicht nur als Diskriminierungsverbote, sondern auch als allgemeine Beschränkungsverbote praktiziert98, wie das inzwischen, angestoßen durch die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs, für die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit (seit dem Maastricht-Vertrag) und für die Niederlassungs- und die Dienstleistungsfreiheit (seit dem Vertrag von Amsterdam) in das Vertragswerk geschrieben wurde, werden trotz Inländerbehandlung aller Unionsbürger und damit auch der Unionsunternehmen Beschränkungen der Grundfreiheiten (Warenverkehrs-, Niederlassungs-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit, sowie Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 34 ff., Art. 49 ff., Art. 56 ff., Art. 63 ff. und nach Art. 45 ff AEUV) als Vertragsverletzung behandelt. Wenn in den Staaten unterschiedliche Standards, etwa im Lebensmittelrecht, im Handelsrecht (usw.) und sogar im Arbeitsrecht bestehen, können höhere Standards als die Grundfreiheiten beschränkende Maßnahmen die Rechte der Marktteilnehmer verletzen, wenn die Unterschiede nicht nach der sogenannten Cassis-Formel durch „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ geboten sind und die Beschränkungen sich als verhältnismäßig rechtfertigen lassen, worüber im Streitfall der Europäische Gerichtshof entscheidet99. Ein Weg, solche Beschränkungen zu minimieren, ist die Rechtsangleichung, ein anderer die Anerkennung der Standards nach dem Herkunftslandprinzip100. Während die Rechtsangleichung auf eine Harmonisierung zielt, führt das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zum Wettbewerb der Standards, in dem sich einheitliche Regelungen (nur) durch faktische Angleichung aufgrund der Präferenzen der Marktteilnehmer gemeinschaftsweit herauszubilden vermögen101. Seit den 80er Jahren setzt man in Anlehnung an die Cassis-de-Dijon-Rechtsprechung102, einem Prinzip gegenseitigen Vertrauens folgend103, auf die gegenseitige An97

Th. C. W. Beyer, Rechtsnormanerkennung im Binnenmarkt, 1998, S. 28. Dazu Th. Oppermann, Europarecht. § 19, Rdn. 2 ff., S. 407 ff., § 26, Rdn. 40, S. 547; kritisch K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, B. 99 EuGH v. 20. 2. 1979 – Rs. 120/78 (Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein/ Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649 (662, Rdn. 8); EuGH v. 31. 3. 1993 – Rs. C-19/92 (Kraus), Slg. 1993, I-1663 (Rdn. 32); EuGH v. 30. 11. 1995 – Rs. C-55/94 (Gebhard), Slg. 1995, I-4165 (Rdn. 37); dazu Th. Oppermann, Europarecht, § 19, Rdn. 3, S. 407 ff., § 26, Rdn. 15, S. 538; A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der Gemeinschaftsrechtsetzung. Mit Beiträgen zu einer gemeineuropäischen Grundrechtslehre sowie zum Lebensmittelrecht, 2000, S. 421 ff.; K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, B, III. 100 Dazu K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, B, IV; umfassend Th. C. W. Beyer, Rechtsnormanerkennung im Binnenmarkt, S. 25 ff., 55 ff. 101 Th. C. W. Beyer, Rechtsnormanerkennung im Binnenmarkt, S. 33 f. 102 EuGH v. 20. 02. 1979 – Rs. 120/78 (REWE/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein), Slg. 1979, 649 (664, Rdn. 14); dazu weitgehend das Weißbuch der Kommission, Kom (85) 310 endg., S. 22 Nr. 77. 103 Th. Oppermann, Europarecht, § 19, Rdn. 28, S. 417, § 26, Rdn. 14, S. 538, Rdn. 41, S. 548. 98

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erkennung der mitgliedstaatlichen Regelungen, also auf das Herkunftslandprinzip. Ob dieses Vertrauen besteht und gerechtfertigt ist, ist angesichts der unterschiedlichen Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten mehr als fraglich. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung fördert die Integration, aber auch die existentielle Staatlichkeit der Europäischen Union, also deren Staatswerdung, größtmöglich. Das Herkunftslandprinzip führt aus ökonomischen Zwängen zu einer faktischen Angleichung der Standards auf dem unionsweit niedrigsten Niveau104. Insbesondere werden, wenn die Standardwahl der Präferenz der Unternehmer oder Verbraucher überlassen wird, die Gesetze des Bestimmungsstaates unterlaufen und damit dessen Rechtsordnung marginalisiert. Das Herkunftslandprinzip105 läßt sich aus den Ermächtigungen oder aus sonstigen Vereinbarungen des Gemeinschaftsvertrages nicht herleiten. Auch der Vertrag von Lissabon enthält keine Bestimmung, welche eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Anerkennung von Rechtsakten anderer Unionsstaaten ausspricht. Eine solche Pflicht aus dem Prinzip zur gegenseitigen Treue, dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, abzuleiten (Art. 4 Abs. 3 EUV)106 wäre zu bedenken, wenn die Europäische Union ein existentieller Bundesstaat wäre107. Die Praxis ist aber Ausdruck eines solchen Integrationsstandes, dem freilich die Verfassungsgrundlage fehlt. Sie widerspricht kraß dem für eine demokratische Integration unverzichtbaren Prinzip der begrenzten Ermächtigung der Gemeinschaft. Die Fülle der anzuerkennenden Vorschriften aus 27 und irgendwann mehr Mitgliedstaaten, die sich jederzeit ändern können, ohne daß hierauf die anderen Staaten Einfluß nehmen können, war in keiner Weise „voraussehbar“ und „verantwortbar“. Wegen des Herkunftslandprinzips gelten in Deutschland vornehmlich, aber nicht nur im Bereich der Wirtschaft, nämlich in dem des Binnenmarktes, 27 Rechtsordnungen, nicht die eine Rechtsordnung, die sich die Deutschen gegeben haben. Im übrigen ist eine Rechtsvereinheitlichung durch Angleichung der mitgliedstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften gemäß Art. 114 ff. AEUV für das Funktionieren des Binnenmarktes durchaus entbehrlich108. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem weichenstellenden Urteil Cassis de Dijon den Grundsatz aufgestellt, daß jede Ware, die in einem Mitgliedstaat legal hergestellt oder auch nur legal in Verkehr gebracht wurde, im gesamten Gemeinschaftsgebiet verkehrsfähig sei109. Das Bestimmungslandprinzip wird seit der Keck-Recht104 So schon die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme zu EuGH v. 20. 02. 1979 – Rs. 120/78 (REWE/BfB), Slg. 1979, 649 (656); entsprechende Bedenken äußerte der Bundesrat im Rahmen der Beratungen des Weißbuchs der Kommission über den Binnenmarkt und die EEA, BR-Drs. 289/85 v. 14. 3. 1986, Rdn. 15; BR-Drs. 150/86 v. 16. 5. 1986, S. 7. 105 Dafür schon E. Steindorf, Gemeinsamer Markt als Binnenmarkt. ZHR 150 (1986), S. 687 (689). 106 Th. Oppermann, Europarecht, § 6, Rdn. 23, S. 145. 107 Vgl. BVerfGE 11, 6 (19 ff.); Th. C. W. Beyer, Rechtsnormanerkennung, S. 46 f. 108 W. Frenz, Handbuch Europarecht. Bd. 1. Europäische Grundfreiheiten, 2004, S. 70. 109 Hinweis in Fn. 99.

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sprechung immerhin (wieder) für Maßnahmen praktiziert, die den Marktzugang nicht behindern110. Im Interesse der Personenfreizügigkeit müßten, judizierte der Gerichtshof, ausländische Diplome und sonst erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten anerkannt werden, außer sie würden mit den inländisch geforderten Qualifikationen nicht übereinstimmen; dann bedürfe es zumindest deren adäquater Berücksichtigung111. Im Falle der Gleichwertigkeit der Qualifikation dürfe ein Mitgliedstaat Angehörige anderer Mitgliedstaaten nicht durch irgendwie mit mangelnder Qualifikation begründete Entscheidungen belasten. Für die Niederlassungsfreiheit hat der Gerichtshof entschieden, daß in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig gegründete Unternehmen auch im Inland als rechts- und handlungsfähig anzusehen seien112. Diese Rechtsprechung versetzt der deutschen Unternehmensmitbestimmung, für die die Gewerkschaften seit den Anfängen der Industrialisierung gekämpft haben113, den Todesstoß114, weil die Unternehmen in ausländischer Rechtsform nicht der deutschen Mitbestimmungspflicht unterliegen und Deutschland den ausländischen Gesetzgebern die Mitbestimmungspflicht ihrer Unternehmen nicht vorschreiben kann. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs läßt sich zwar kein Grundsatz formeller Anerkennung oder ein bedingungsloses Herkunftslandprinzip herleiten, weil die Anerkennung von Standards anderer Mitgliedstaaten von einer Äquivalenzkontrolle abhängig gemacht und, falls erforderlich, mit zusätzlichen Anforderungen verbunden wird. Der Gerichtshof setzt aber das Herkunftslandgegenüber dem Bestimmungslandprinzip weitestgehend und folgenreich durch115. Diese Rechtsprechung erübrigt die schwierige Rechtsangleichung durch die Politik. Die Befugnis zur formellen Anerkennung von Rechtsvorschriften der anderen Mitgliedstaaten, die der Rat nach Art. 100 b EGV beschließen konnte, ist durch den Vertrag von Amsterdam aus dem Vertragswerk herausgenommen worden, weil die Rechtsprechung die heikle Politik im Sinne einer „neuen Strategie“ ohne demokratische Hemmnisse bewerkstelligt116. Sicherheitsstandards, deren Regelungen und deren Beachtung die Verbraucher nicht erkennen können, dürfen nicht der Marktregulierung überlassen bleiben. Der Markt orientiert sich vornehmlich am Preis. Die 110

EuGH v. 24. 11. 1993 – Rs. C-267 u. 268/91 (Keck), Slg. 1993, I-6097 (6131, Rdn. 16); W. Frenz, Handbuch Europarecht. Bd. 1. Europäische Grundfreiheiten. Rdn. 177 ff., S. 74. 111 EuGH v. 07. 05. 1991 – Rs. C-340/89 (Vlassopoulou), Slg. 1991, I-2357 (2382 ff., Rdn. 10 ff.). 112 EuGH v. 05. 11. 2002 – Rs. C-208/00 (Überseering), Slg. 2002, I-9919 (9968, Rdn. 72 ff.); EuGH v. 30. 09. 2003 – Rs. 167/01 (Inspire Art), Slg. 2003, I-10155 (Rdn. 99 ff.); dazu K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, B, II, 4. 113 Vgl. BVerfGE 50, 290 ff. 114 K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, B, II, 4. 115 Vgl. W. Frenz, Handbuch Europarecht. Bd. 1. Europäische Grundfreiheiten. Rdn. 175 ff., S. 73 f.; K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, B, IV. 116 Vgl. Th. Oppermann, Europarecht, § 26, Rdn. 37 ff., S. 546 ff., mit Hinweis auch EuGH v. 21. 6. 1974 – Rs. 2/74 (Reyners), Slg. 1974, 631 (652); EuGH v. 3. 12. 1974 – Rs. 33/74 (van Binsbergen), Slg. 1974, 1299.

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Nivellierung der Standards auf das niedrigste Niveau ist die Konsequenz dieser Politik. Für Banken und Versicherungen erstreckt sich das Anerkennungs- oder Herkunftslandprinzip sogar auf Aufsichtsmaßnahmen, für die der Herkunftsstaat zuständig bleibt117. Das hat erwartungsgemäß die Banken- und Versicherungsaufsicht erheblich geschwächt und wesentlich zur Finanzmarktkrise beigetragen. Jetzt wird folgerichtig an einem unionalen Aufsichtssystem gearbeitet. Aus dem Herkunftslandprinzip folgt insbesondere im Bereich der Finanzdienstleistungen das fragwürdige Prinzip der Sitzlandkontrolle. Die Entsenderichtlinie118 verhindert nur für einen schmalen Bereich der Wirtschaft, daß die deutschen Arbeitsrechts- und Sozialstandards durch das Herkunftslandprinzip ausgehöhlt werden. Zwar sieht die Entsenderichtlinie vor, daß für die in Art. 3 der Richtlinie genannten arbeitsrechtlichen Standards (Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten, bezahlter Mindestjahresurlaub, Mindestlohnsätze, Bedingungen für die Überlassung von Arbeitskräften, insbesondere durch Leiharbeitsunternehmen, Sicherheit, Gesundheitsschutz und Hygiene am Arbeitsplatz, Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit den Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für Schwangere, Wöchnerinnen, Kinder und Jugendliche, Gleichbehandlung von Männern und Frauen sowie andere Nichtdiskriminierungsbestimmungen) die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträge oder Schiedssprüche des Bestimmungslandes gelten sollen, jedoch betreffen die tarifrechtlichen Regelungen (gemäß Art. 3 Abs. 1 2. Spstr. in Verbindung mit dem Anhang der Richtlinie) bisher nur den Bereich des Bauhaupt- und Nebengewerbes (z. B. Aushub, Erdarbeiten, Bauarbeiten i. e.S., Umbau, Renovierung …). Wenn in allen wesentlichen Aspekten auf das Recht des Herkunftslandes verwiesen wird, tritt das Recht des Volkes des Bestimmungslandes, in seinem Staat das Recht zu geben, der Kern der Freiheit, die Staatsgewalt der Bürger nämlich, deren Hoheit, hinter die Gesetzgebungsmacht oder eben die Staatsgewalt des Volkes des Herkunftslandes zurück. Eine demokratische Legitimation hat nur das Recht des Bestimmungslandes, nicht auch das des Herkunftslandes im Bestimmungsland. Die Grundfreiheiten werden zur Ermächtigung, andere Völker fremdzubestimmen, das Gegenteil der Freiheit als Selbstbestimmung, nämlich Heteronomie anstelle von Autonomie des Willens. Die Grundfreiheiten werden durch eine solche Richtlinie gegen das demokratische Prinzip und damit gegen den Kern der existentiellen Staatlichkeit gewendet. Die Bürger eines Mitgliedstaates, die hohe Standards geschaffen hatten, wie etwa Deutschland, verlieren durch das Herkunftslandprinzip den politischen Ein117 Art. 26 Abs. 1 der Kreditinstitutsrichtlinie, Art. 13 der Direktversicherungsrichtlinie (RL 73/240/EWG v. 24. 7. 1973, ABl. EG Nr. L 228/20) und Art. 15 der Lebensversicherungsrichtlinie 92/96/EWG ABl. Nr. L 360 /1, geändert durch Richtlinie 95/26/EG v. 29. 6. 1995, ABl. EG Nr. L 168/7 und Richtlinie 2000/64/ EG v. 7. 11. 2000, ABl. EG Nr. L 290/27. 118 Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 16. 12. 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ABl. Nr. L 18/1.

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fluß auf ihr Land, eine schmerzliche Entdemokratisierung. Ein hohes Gemeinschaftsniveau ist augenscheinlich nicht gewollt. Es wäre auch für die weniger entwickelten Mitgliedstaaten schwer erreichbar und würde die bezweckten arbeits- und wettbewerbspolitischen Wirkungen, vor allem den Zwang zu Lohnsenkungen, vereiteln. Die Praxis der Dienstleistungsfreiheit setzt die neoneoliberale Umwandlung der Arbeitsverhältnisse in Warenverhältnisse (Arbeit als Ware, Menschen als Humankapital) fort. Die Würde der Menschen wird durch den Preis für Menschen verdrängt. Die Grundfreiheiten sind entgegen ihrer eigentlichen Materie von der Rechtsprechung zu Deregulierungsprinzipien umgewandelt119 und weitgehend, vertrags- und demokratiewidrig, vom Europäischen Gerichtshof als Grundlage eines Herkunftslandprinzips genutzt worden, das den Weg zum Unionsstaat zügig weiterschreitet, freilich einem Unionsstaat nivellierter Lebensverhältnisse, in dem eine elitäre Bürokratie über entrechtete Untertanen herrscht, denen das wichtigste Recht aus der Hand gewunden wurde, das Recht, unter eigenen Gesetzen zu leben, das Recht der Gesetzgebung, die Freiheit. Vclav Klaus, der Präsident Tschechiens, kritisiert die „künstliche Unifizierung“ der Union und plädiert für die Freiheit der Europäer120. Aus der genannten Treuepflicht der Mitgliedstaaten und aus der Integrationsoffenheit und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes121 folgt durchaus die Pflicht, die Rechtsordnungen anderer Mitgliedstaaten grundsätzlich zu „achten“122. Dieses Vertrauen darf aber nicht dazu führen, daß Schutzpflichten vernachlässigt werden und daß das demokratische Prinzip durch das Integrationsprinzip verdrängt wird. Das Volk verliert den Einfluß auf die Schutzstandards, insbesondere für Lebensmittel, sogar entgegen den grundrechtlichen Schutzpflichten123, und für das Arbeitsleben. Grundlage der gegenseitigen Anerkennung ist das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der anderen Mitgliedstaaten. Immerhin dürfen nur demokratische Rechtsstaaten, welche die Menschenrechte achten, Mitglied in der Europäischen Union sein (Art. 49 i.V.m. Art. 2 EUV), aber was heißt das schon angesichts des demokratischen Niveaus der europäischen Integration? Grund des Demokratieprinzips ist nicht das Vertrauen in die Obrigkeit, sondern das Mißtrauen gegenüber den Menschen, welche sich die Herrschaft anmaßen. Im übrigen sind die Schutzpflicht des Staates und das Wahlrecht der Bürger untrennbar verbunden. Das weitgespannte Anerkennungsprinzip ist Ausdruck der existentiellen Staatlichkeit der Europäischen Union, aber demokratiewid-

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B, II. 120

Dazu näher K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil,

Freiheit für die Europäer, Handelsblatt, Montag, 7. Februar 2011, S. 56. BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009 BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 240 f. 122 Vgl. BVerfGE 18, 112 (117 f., 120 f.) zur Todesstrafe in Staaten völkerrechtlicher Vertragspartner (Frankreich). 123 Th. C. W. Beyer, Rechtsnormanerkennung im Binnenmarkt, S. 40; K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, S. 142 ff.; zur Schutzpflichtdogmatik K. A. Schachtschneider, Umweltschutz, in: ders., Fallstudien zum Öffentlichen Wirtschaftsrecht, 4. Aufl., Nürnberg 2005, S. 303 ff. 121

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rig. Es verletzt die politische Freiheit des Art. 2 Abs. 1 GG, aber auch das Wahlprinzip des Art. 38 Abs. 1 GG, welches der Freiheit erwächst. VII. Entdemokratisierter Großstaat 1. Prinzip der kleinen Einheiten Das Demokratiedefizit der Europäischen Union124 ist nicht behebbar. Demokratie setzt die kleine Einheit voraus125. Große Staaten wie Deutschland müssen um des demokratischen Prinzips willen föderalisiert und kommunalisiert sein. Die Europäische Union hat keine Chance, zur Demokratie zu finden, erst recht nicht, wenn sie noch weiter überdehnt wird. Allein Wahlen machen noch keine Demokratie aus, wenn sie auch der Kern der Demokratie sind. Zur Demokratie gehört die gelebte Öffentlichkeit126. Demokratie erfordert die Möglichkeit, „effektiven Einfluß“127 auf die politische Willensbildung nehmen zu können. Zumindest muß die Bürgerschaft ihre Vertreter in den staatlichen Organen, vor allem die Abgeordneten des Parlamentes, kennen können und selbst wählen, in einem Verfahren, das dem demokratischen Prinzip genügt, also freiheitlich und gleichheitlich ist, möglichst im Mehrheitswahlsystem, weil das Verhältniswahlsystem unausweichlich zur Parteienoligarchie und zur Negativauslese der Abgeordneten führt128. Der für die Demokratie unverzichtbare politische Diskurs erfordert eine einheitliche Sprache. Diese Sprache muß die Sprache des Volkes sein, nicht eine oktroyierte Fremdsprache, in der sich Eliten mehr oder weniger zu verständigen vermögen, nicht aber das Volk im für den politischen Diskurs erforderlichen substantiellen Sinne. Die politische Kommunikation in fremden Sprachen schließt das Volk von der Politik aus. Völker mit unterschiedlichen Sprachen können nicht in einer Republik leben, die de124 Dazu K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, S. 119 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, A, B, C, D, F, H, K. 125 Zum Prinzip der kleinen Einheit K. A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, ARSP Beiheft 71 (1997), S. 173; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S.45, 58, 171, 229; wegweisend J.J. Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag. Reclam, 1977, III, 4 (S. 77), III, 15 (S. 103, 105); eindrucksvoll K. Lorenz, Der Abbau des Menschlichen. 2. Aufl., 1983, S. 222 f.; G. Habermann, Nonzentralisation. Kleinstaat und Direktdemokratie. in: St. Brink/H. A. Wolff (Hrsg.), Gemeinwohl und Verantwortung. FS v. Arnim, H.H., 2004, S. 327 ff. 126 Zur demokratischen Öffentlichkeit (Publizitätsprinzip) Kant, Zum ewigen Frieden, ed. Weischedel, Bd. 9, 1968, S. 244 ff.; K. Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen. 1966, 10. Aufl. 1988, S. 194 f.; J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 1962, 9. Aufl. 1978, S. 127 ff.; ders., Faktizität und Geltung, S. 435 ff., 532 ff.; O. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, 1999, S. 320 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 584 ff., 602 ff., 1073 f., 1141 ff. 127 BVerfGE 83, 60 (71). 128 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 772 ff., 1045 ff.; ders., Der republikwidrige Parteienstaat, in: D. Murswiek/ U. Storost/H. A. Wolff (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, 2000, S. 151 ff.

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mokratisch sein muß. Das Beispiel der Schweiz widerlegt dieses Argument nicht. Die Schweiz ist recht klein. Insbesondere leben die Eidgenossen in 26 Kantonen, welche nicht nur die wesentlichen politischen Einheiten (Staaten) der Schweizer, sondern auch in hohem Maße homogen sind, in Sprache, Religion, Kultur. Die Rede muß zudem frei sein und frei sein dürfen, wie das die große freedom of speech in den Vereinigten Staaten von Amerika (First Amendment vom 15. Dezember 1791 zur Verfassung vom 17. September 1787) in der Kultur der Amerikaner gewährleistet. Eine wirklich gelebte Freiheit der Rede, Konstituens der Demokratie129, gibt es in Deutschland jedenfalls nicht, wenn es um nationale Fragen geht. Ein Gemeinwesen, in dem die öffentliche Meinung wesentlich durch staatliche, zumal integrationistische Propaganda und von oligopolistischen oder monopolistischen Medien130 bestimmt wird, in der kritische Meinungsäußerungen entweder nicht zur Geltung kommen oder mit Mitteln des Verfassungsschutzes und sogar des Strafrechts unterdrückt werden, ist nicht freiheitlich und folglich nicht demokratisch. Ohne die kleinen Einheiten, ohne die nationalen Staaten, hat Europa keine Chance, die Prinzipien zu verwirklichen, welche die Menschheit des Menschen gebietet, nämlich Freiheitlichkeit, Gleichheitlichkeit und Brüderlichkeit, gelebte Rechtlichkeit durch freiheitliche demokratische Staatlichkeit, Republikanität131. Die europäische Wertegemeinschaft, zu der die Demokratie gehört (Art. 2 EUV), findet in der Europäischen Union keine tragfähige Organisation. Durch die Entstaatlichung der Völker gerät vor allem die Demokratie in Gefahr. Der Staatsbegriff ist durch die Bürgerlichkeit der Bürger bedingt, die ein Recht auf Recht, ein Recht auf einen Staat haben, weil sie frei sind132. Nur eine Rechtsgemeinschaft, welche die allgemeine Freiheit substantiell zu verwirklichen vermag, kann ein Staat des Rechts und damit ein Staat im existentiellen Sinne sein133. Europa kann schon wegen seiner Größe und wegen der Vielfalt der Völker ein solcher Staat nicht sein134.

129 BVerfGE 7, 198 (212); 42, 133 (141); 54, 129 (139); 60, 116 (150); 61, 1 (11); 68, 226 (232); 71, 206 (220); K. A. Schachtschneider, Medienmacht versus Persönlichkeitsschutz, in: ders., Freiheit – Recht – Staat, hrsg. v. D. I. Siebold/ A. Emmerich-Fritsche, 2005, S. 268 ff. (280). 130 Dazu M. Bullinger, Freiheit von Presse, Rundfunk und Film. HStR, Bd. VI, 1989, § 142, Rdn. 45 ff.; K. A. Schachtschneider, Medienmacht versus Persönlichkeitsschutz, S. 294 ff.; vgl. auch BVerfGE 73, 118 (172 mit S. 157 ff.); vgl. H. Roper, Bewegung im Zeitungsmarkt 2004. Media Perspektiven 6/2004, 268 ff.; H. Meyn, Massenmedien in Deutschland. 2004, S. 75 ff., 185 ff.; Th. Koch, Die Zeitung in der Republik, 2007, S. 27 ff. 131 Ganz so V. Klaus, Freiheit für die Europäer, Handelsblatt 7. 02. 2011, S. 56. 132 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 14 ff., 290 ff., 519 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 44 ff., 288 ff., 5546 ff., u. ö.; ders. (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution. Kritik der Altschuldenpolitik, Ein Beitrag zur Lehre von Recht und Unrecht, 1996, S. 27 ff., S. 50 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 50. 133 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 14 ff., 519 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 44 ff.; 49 ff.; ders. (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 27 ff., S. 50 ff.; insbesondere ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 50 ff., 94 ff.

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Der Großstaat nimmt allen Einrichtungen die Substanz, welche in den Nationalstaaten für die Verwirklichung der aufklärerischen Ziele der Menschheit des Menschen entwickelt worden sind. Insbesondere entzieht das großstaatliche Europa dem Prinzip Recht die demokratische und damit die freiheitliche Grundlage. Der Gesetzgeber ist kein freiheitlicher Gesetzgeber mehr; denn er ist nicht demokratisch legitimiert und verwirklicht nicht das Prinzip Recht. Die Exekutive ist nicht mehr die vollziehende Gewalt, die den Willen der Bürgerschaft verwirklicht, sondern hat sich zur Obrigkeit entwickelt, welche über die riesige Menge isolierter Untertanen herrscht. 2. Führerstaatliche Rechtlosigkeit Die Staatsgewalt haben die Staats- und Regierungschefs, die Führer Europas, weitgehend usurpiert. Im „vereinfachten Änderungsverfahren betreffend die internen Politikbereiche der Union“ gibt der Vertrag von Lissabon in Art. 48 Abs. 6 EUV den Führern Europas, nämlich dem Europäischen Rat, die Befugnis, „alle oder einen Teil der Bestimmungen des Dritten Teils des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union über die internen Politikbereiche der Union zu ändern“. Dieser Dritte Teil umfaßt alle wichtigen Politiken der Union, nämlich den Binnenmarkt, die Wirtschafts- und Währungsunion, die Politik in anderen Bereichen (Beschäftigung, Sozialpolitik, wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt, Landwirtschaft und Fischerei, Umwelt- und Verbraucherschutz, Verkehr, transeuropäische Netze, Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt), den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie weitere Bereiche (öffentliche Gesundheit, Industrie und Kultur, Tourismus, allgemeine Bildung, Jugend, Sport und berufliche Bildung, Katastrophenschutz und Verwaltungszusammenarbeit). Der Europäische Beschluß bedarf zwar „der Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit den jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften“, nicht aber der Ratifikation und damit nach dem Vertrag nicht der Zustimmung der Gesetzgebungsorgane, jedenfalls in Deutschland, schon gar nicht nach Art. 59 Abs. 2 GG, weil der Beschluß kein völkerrechtlicher Vertrag ist. Die Zustimmung der Bundesregierung oder auch nur des Bundesaußenministers genügt völkerrechtlich135. Diese ungeheuerliche Entmachtung der Völker und ihrer Parlamente erinnert an das nationalsozialistische Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich, das der Hitlerschen Reichsregierung unumschränkte Gesetzgebungsgewalt eingeräumt hat. Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil dieser Machtusurpation die Spitze abgebrochen und die Vertragsänderungen gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG dem Verfahren der Art. 79 Abs. 2 und 3 GG unterworfen, also von der Zustimmung mit verfassungsgesetzändernder Mehrheit des Deutschen Bundestages und des Bun134 Vgl. P. Kirchhof, Der Staat als Organisationsform politischer Herrschaft und rechtlicher Bindung – Kontinuität und Erneuerung des deutschen Verfassungsstaates in Freiheitlichkeit, Weltoffenheit und demokratischer Solidarität, DVBl. 1999, 649. 135 Vgl. BVerfGE 90, 286 (Ls. 7a, S. 287, S. 357 ff.) zur Entwicklung der NATO-Doktrin; auch schon BVerfGE 68, 1 (84 ff.).

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desrates abhängig gemacht. Aber was bedeuten diese Zustimmungserfordernisse von Gesetzgebungsorganen, die ihrer Entmachtung durch weitere Integrationsschritte schlimmer noch als der Reichstag der Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 zuzujubeln pflegen. Damals haben sich immerhin die Sozialdemokraten widersetzt. Die Kommunisten wurden an der Abstimmung gehindert. Fraglos führt die europäische Integration nicht in eine satanische Tyrannis, aber doch in eine Despotie, einen Unrechtsstaat. Das innerstaatliche Demokratiedefizit des Parteienstaates hat ohnehin den faktischen Verlust der nationalen Hoheit möglich gemacht. Erst eine andere Besetzung der gesetzgebenden Häuser vermöchte dem ein Ende zu bereiten. Das wiederum ist ein Problem der demokratiefernen Medienunternehmer, die in der politischen Klasse eine herausragende Macht und auf die die Deutschen nur geringen Einfluß haben. Die Parteigänger im Parlament pflegen ihren Führern zu folgen. Die Republik, wie sie das Grundgesetz verfaßt hat, ist längst ein demokratiewidriger Parteienstaat, ein Staat der Parteien, geworden136. Parteienstaaten sind Führerstaaten137. Der Kanzler hat als der mächtigste Politiker, gestützt durch das Kanzlerprinzip des Grundgesetzes (Art. 64 ff.) und die illegale Ämterpatronage138 auch im Staat die Macht eines Führers, weil er Vorsitzender der stärksten Partei ist. Die Macht der Führer Europas ist immerhin dadurch beschränkt, daß sie einstimmig entscheiden müssen. Zusammen aber könnten sie die Verfassung der Europäischen Union umwälzen und wenn sie einig sind, pflegen ihre Gefolgsleute keinen Widerspruch zu wagen. Gerade wegen einer solchen „Kompetenz-Kompetenz“ hatte das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil dem Art. F Abs. 3 EUV (Art. 6 Abs. 4 EUV), der in weiter Interpretation die gleiche verfassungsgebende Macht begründet hätte, als Bekundung „politisch-programmatischer Absicht“ die Verbindlichkeit abgesprochen139. Das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EUV kommt gegenüber dieser Ermächtigung nicht zum Tragen140. Im Lissabon-Urteil hat das Gericht dieses Verdikt gegen 136 W. Maihofer, Abschließende Äußerungen der Herausgeber, HVerfR, 2. Aufl. 1994, S. 1709 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 772 ff., 1945 ff.; ders., Der republikwidrige Parteienstaat, FS H. Quaritsch, S. 141 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 45 ff., 176 ff.; H. H. v. Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse – selbstbezogen und abgehoben, 1997, S. 21 ff., passim. 137 C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 4. Aufl. 1965, S. 243, 247, 314 f., 319, 325; W. Leisner, Der Führer –Persönliche Gewalt – Staatsrettung oder Staatsdämmerung, 1983, insb. S. 183 ff., 186 ff.; K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1122 ff.; ders., Der republikwidrige Parteienstaat, FS H. Quaritsch, S. 151 ff. (158). 138 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1113 ff., 1120; ders., Der republikwidrige Parteienstaat, FS M. Quaritsch, S. 151; H. H. v. Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, S. 226 ff., 230 ff.; R. Wassermann, Die Zuschauerdemokratie, 1986/1989, S. 133 ff., 174 ff.; schon J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Teil 2, 2. Kapitel. 139 BVerfGE 89, 155 (194, 197 f.). 140 Zu den Generalermächtigungen des Verfassungsvertrages, nämlich die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV, die Generalermächtigung zur Mittelbeschaffung in Art. 311 Abs. 1 AEUV und die vereinfachten Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 Abs. 7 (Passerelleverfahren) und dem genannten Art. 48 Abs. 6 EUV für die vereinfachte Vertragsänderung sowie

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Art. 311 Abs. 1 AEUV, der zwar denselben Wortlaut wie Art. F Abs. 3 EUV a. F. hat, aber durch seine Stellung auf die Finanzverfassung beschränkt ist, aufrechterhalten141. Die pluralen Parteienoligarchien der Europäischen Union haben sich die Möglichkeit eines unionsweiten Führerstaates geschaffen. Führerschaft ist nicht freiheitlich, sondern herrschaftlich, also rechtlos142. Rechtlosigkeit ist das Definiens von Despotie. Die Deutschen werden nach wie vor nicht als Bürger geachtet, sondern von der obrigkeitlichen Oligarchie zu Untertanen degradiert. Es ist allerdings Sache der Deutschen selbst, die Unmündigkeit abzuschütteln und ihre Bürgerlichkeit zu behaupten143. Die selbstverschuldete Unmündigkeit der Menschen ist die Chance der Parteienoligarchie, die sich gar erdreistet, ihre propagandistische Desinformation Aufklärung zu nennen. Der Europäische Gerichtshof ist trotz mancher nachvollziehbarer Rechtserkenntnisse kein Gericht im freiheitlichen, demokratischen Sinne und stellt deswegen keine gewaltenteilige Gegenmacht dar. Er trägt als Motor der Integration tatkräftig zur Entdemokratisierung der Lebensverhältnisse bei. 3. Erweiterung der Europäischen Union nach Asien Die großstaatliche Erweiterung wird die Europäische Union über die gegenwärtig 27 Mitgliedstaaten hinausführen. 2007 sind Bulgarien und Rumänien Mitglieder der Union geworden, obwohl dieser Mitgliedschaft wirtschaftlich und politisch große Bedenken entgegenstanden. Kroatien und andere Balkanstaaten drängen in die Union, in nicht allzu ferner Zukunft die Ukraine, vielleicht sogar Weißrußland, und, bereits in Verhandlungen, die Türkei, danach Israel, folgend die Staaten des Nahen Ostens und Nordafrikas, irgendwann vielleicht auch die GUS-Staaten, vielleicht sogar das große Rußland, ein ebenso europäischer wie asiatischer Großstaat. Die Erweiterung ist auch eine Rechtsfrage, weil jedenfalls Deutschland sich durch das Grundgesetz, sowohl in der Präambel als auch in dem Integrationsartikel, entschieden und verpflichtet hat, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ bzw. „zur Verwirklichung eines vereinten Europas … bei der Entwicklung der Europäischen Union“ mitzuwirken (Art. 23 Abs. 1 S. 1). Nach Art. 49 EUV kann „jeder Europäische Staat, der die in Artikel 2 genannten Werte (sc.: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Persodas wirkungslose und verfahrensmäßig entwertete Subsidiaritätsprinzip vgl. K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, H. 141 BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 323 f. 142 Zum Widerspruch herrschaftlicher Staatsgewalt zur Freiheit K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 71 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 115 ff. 143 Zum Postulat der Aufklärung Kant, Beantwortung der Frage: Was ist die Aufklärung? ed. Weischedel, Bd. 9, S. 53 ff.

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nen, die Minderheiten angehören) achtet und sich für ihre Förderung einsetzt“, beantragen, Mitglied der Union zu werden. Nicht jedes Gebiet dieser Welt gehört zu Europa. Der Europabegriff ist wenn nicht schlicht politisch, also formal, geographisch144 und bezeichnet einen Erdteil, nicht eine Kultur und schon gar nicht ein strategisches Gebiet. Die Türkei ist ein asiatischer Staat, der seit der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 mit dem kleineren Teil des jetzigen Istanbul nach Europa hineinragt. Das verschafft keinen europäischen Status, wenn auch der Türkei seit dem Assoziierungsvertrag vom 12. September 1963 die spätere Mitgliedschaft zunächst in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft versprochen und in der Regierungskonferenz vom 13. Dezember 2002 ihr Status als Beitrittskandidat zur Europäischen Union begründet wurde. Über den Beitritt wird ergebnisoffen, politisch weitestgehend gebunden, seit dem 3. Oktober 2005 verhandelt. Die Versprechen der Regierungen verpflichten nicht die Völker, die gemäß ihren Verfassungsgesetzen über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zu entscheiden und damit auch zu befinden haben, ob die Türkei zu Europa gehört145. Der Idee der europäischen Integration entspricht die Aufnahme der Türkei keinesfalls, weil trotz aller (mißverstandener146) Religionsfreiheit die kulturelle Bindung der Europäer aus dem gemeinsamen Christentum erwächst, sei dies auch noch so sehr säkularisiert und durch Aufklärung überlagert. Die Türkei ist ihrerseits trotz des säkularisierenden Kemalismus, dessen Wirkung schwächer und schwächer wird, ein islamisches Land. Wenn die Europäische Union den Weg zum existentiellen Bundesstaat weitergeht, den der Vertrag von Lissabon beschreitet, ist ein Mindestmaß an religiöser Homogenität unverzichtbar147. Die Religionsfreiheiten verpflichten nicht, bei der Entscheidung über die gemeinsame existentielle Staatlichkeit, die Religion des beitretenden Volkes zu ignorieren. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind berechtigt, ihre religiöse Homogenität zu wahren, wenn sie auch die Religionsgrundrechte jedes einzelnen Menschen in ihrem Staat (Art. 18 AEMR, Art. 9 EMRK, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) zu wahren verpflichtet sind. Kein Mensch muß jedoch die Hand dafür reichen, daß aus seinem christlichen oder aufklärerischen ein islamisches Land wird. Wenn freilich die Integration auf eine Wirtschaftsgemeinschaft und die Grundfreiheiten, wie sie ursprünglich vereinbart waren, auf völkerrechtliche Verpflichtungen zurückgeführt werden, welche vor allem das Bestimmungslandprinzip respektieren, stellt sich die Frage

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Th. Oppermann, Europarecht, § 21, Rdn. 8, S. 699 („grundsätzlich“ (?); D. Murswiek, Der Europa-Begriff des Grundgesetzes, in: J. Brohmer u. a. (Hrsg.): Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte. FS für G. Ress, 2005, S. 657 ff. 145 Dazu Th. Oppermann, Europarecht, § 32, Rdn. 31 f., S. 710, selbst skeptisch („Schicksalsfrage des europäischen Einigungsprozesses“). 146 Dazu K. A. Schachtschneider, Grenzen der Religionsfreiheit am Beispiel des Islam, 2010, 2. Aufl. 2011. 147 Zur republikanischen Homogenität K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1177 ff.

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nach dem Beitritt der Türkei anders, jedenfalls ist das Problem der unterschiedlichen Religionen dann weniger bedeutsam. Maßgeblich ist jedoch der Begriff Europa. VIII. Entdemokratisierende Währungsunion 1. Existentielle nationale Währungshoheit Zur existentiellen Staatlichkeit eines Volkes gehört die Währungshoheit. Mittels der Währungspolitik wird die Geld- und Kreditpolitik gesteuert. Die Währungspolitik ist essentiell für die wirtschaftliche Entwicklung eines Gemeinwesens148. Sie hat wesentlichen Einfluß auf die wirtschaftliche Stabilität einer Volkswirtschaft, nicht nur auf die Preisstabilität, sondern auch auf die Beschäftigungslage, das Wachstum und das außenwirtschaftliche Gleichgewicht149. Das Bundesverfassungsgericht hat im Maastricht-Urteil die außerordentliche Bedeutung der Währungspolitik für die Stabilität Deutschlands herausgestellt und dies im Euro-Beschluß unterstrichen150. Die außerordentliche Relevanz der Währungspolitik für die existentielle Staatlichkeit wird durch die fast allgemeine Erkenntnis unterstrichen, daß eine einheitliche Währung die Wirtschafts- und Sozialunion, letztlich die Politische Union, erzwinge151. Demgemäß ist die Einführung der Währungsunion als der Hebel zur Politischen 148 A. Tietmeyer, Währungsunion, ein Weg ohne Umkehr, Integration 15 (1972), S. 17 ff.; ders., Probleme einer Europäischen Währungsunion und Notenbank, in: J. Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1993, S. 45 ff., 49, 54 f.; F. U. Willeke, Die Europäische Währungsunion als ordnungspolitische und stabilitätspolitische Fehlkonstruktion, in: E. Kantzenbach/O. G. Mayer, Europäische Gemeinschaft – Bestandsaufnahme und Perspektiven, 1993, S. 41 ff.; H. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 16, Fn. 20; K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 129 f.; ders., Wirtschaftliche Stabilität als Rechtsprinzip, in: W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Illusion. Ist der Euro noch zu retten? 2001, S. 314 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, C II, auch zum Folgenden. 149 Dazu W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, 1998, insb. die volkswirtschaftliche Analyse, S. 25 ff., aber auch die rechtliche Würdigung, S. 192 ff.; dies., Die Euro-Illusion. Ist Europa noch zu retten? 2001, insb. J. Starbatty, Euro – der Stabilitätsbruch, S. 53 ff., W. Hankel, Euro – der Integrationsbruch, S. 191 ff. 150 BVerfGE 89, 155 (200 ff.); 97, 350 (370 ff.); dazu K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 129 ff.; ders., Wirtschaftliche Stabilität als Rechtsprinzip, S. 314 ff. 151 H. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 16 Fn. 20; i.d.S. H. Tietmeyer, Probleme einer europäischen Währungsunion und Notenbank, S. 45, 53 ff. (Währungsunion erfordert die politische Union); auch M. Seidel, Probleme der Verfassung der Europäischen Gemeinschaft als Wirtschafts- und Währungsunion, in: FS B. Börner, S. 417 ff., 424 f.; vgl. auch J. Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung 1992, S. 39; K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche/Th. C. W. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, 752; klar W. Hankel, Europas Währungsunion kommt zu früh, in: M. Brunner (Hrsg.), Kartenhaus Europa?, 1993, S. 69 ff.; ders. u. a., Die Euro-Klage, S. 27 ff., 247 ff.; W. Hankel/J.

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Union, zur Entwicklung des existentiellen Unionsstaates, angesehen und eingesetzt worden152. Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, haben als solche keine währungspolitischen Befugnisse mehr, vielmehr hat die Europäische Union nach Art. 3 Abs. 1 lit c AEUV die ausschließliche Zuständigkeit für deren Währungspolitik. Dennoch ist den Euroländern ein wesentlicher Einfluß auf die Währungspolitik geblieben, wie die Maßnahmen erweisen, welche den Euro zu retten versuchen153. Die Währungsunion ist dem eigenständigen Europäischen System der Zentralbanken und insbesondere der Europäischen Zentralbank überantwortet (Art. 127 ff. AEUV). Nach Art. 130 AEUV dürfen weder die Europäische Zentralbank noch die nationalen Zentralbanken noch ein Mitglied ihrer Beschlußorgane Weisungen von Organen, Einrichtungen, sonstigen Stellen der Union, Regierungen der Mitgliedstaaten oder anderen Stellen einholen oder entgegennehmen. Die Unabhängigkeit des Zentralbanksystems mit allen ihren Einrichtungen ist in der Erwartung, daß dadurch das vorrangige Ziel der Währungspolitik, die Preisstabilität, bestmöglich gefördert wird, extrem weit getrieben, durchaus weiter als vormals die Unabhängigkeit der Deutschen Bundesbank. Das Europäische System der Zentralbanken und die Europäische Zentralbank sind lediglich an die Unionsverträge (einschließlich der Protokolle) über ihre Satzung (Art. 129 Abs. 2 AEUV) gebunden154. Die währungspolitisch erfolgreiche Deutsche Bundesbank war zwar nach § 12 BbankG ebenfalls unabhängig, aber diese Unabhängigkeit beruhte auf Gesetz, nicht auf einem schwer änderbaren völkerrechtlichen Vertrag und im übrigen war die Bundesbank dem einfachen Gesetz unterworfen, das seine Ziele, seine Aufgaben, seine Befugnisse und seine Instrumente ändern konnte. Die außerordentliche Unabhängigkeit des Zentralbanksystems und zumal der Europäischen Zentralbank ist mit dem demokratischen Prinzip unvereinbar, wie mehr oder weniger auch das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil eingeräumt hat155. Die Entdemokratisierung der Währungspolitik ist nicht mit der fachlichen Aufgabe Starbatty, Nizza: Es wird keine politische Union geben, in: W. Hankel u. a., Die Euro-Illusion, S. 241 ff.; auch W. Hankel, Euro – der Integrationsbruch, daselbst, S. 191 ff., insb. S. 225 ff. 152 Dazu (kritisch) W. Hankel/J. Starbatty, Nizza: Es wird keine politische Union geben, S. 241 ff. 153 Dazu die von mir vertretenen Verfassungsbeschwerden der Professoren W. Hankel, W. Nölling, K. A. Schachtschneider, D. Spethmann, J. Starbatty gegen die Griechenlandhilfe und den Eurorettungsschirm zu den Aktenzeichen 2 BvR 987 und 1485, nachzulesen: www. KASchachtschneider.de, unter Downloads; näher K. A. Schachtschneider, Die Rechtlosigkeit der Euro-Rettungspolitik, i. E. 154 Absatz 3 des Art. 129 AEUV ermöglicht die Änderung gewisser Satzungsbestimmungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren entweder auf Empfehlung der Kommission und nach Anhörung der Europäischen Zentralbank oder auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank nach Anhörung der Kommission. Absatz 4 dieser Vorschrift ermöglicht dem Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der Europäischen Zentralbank oder auf Empfehlung der Europäischen Zentralbank und nach Anhörung der Kommission die in bestimmten Artikeln genannten Bestimmungen zu erlassen. 155 BVerfGE 89, 155 (199, 207 ff.); dazu (kritisch) K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 130 f.

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der Zentralbank zu rechtfertigen. In der Republik muß jede Aufgabe fachgerecht, meist wissenschaftlich, bewältigt werden. Gerade im Interesse größtmöglicher Fachlichkeit und Sachlichkeit ist das demokratische Prinzip entwickelt156. Art. 48 Abs. 6 EUV ermöglicht im freilich vereinfachten Vertragsänderungsverfahren auch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank aufzuheben157. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank hat schon die erste Bewährungsprobe nicht bestanden. Die Bank unterstützt entgegen Art. 123 AEUV die Eurorettungsversuche der Regierungen mit Ankäufen von wertlosen Anleihen überschuldeter Euroländer158. Ein Staat hat seine existentielle Staatlichkeit wesentlich aufgegeben, wenn er die Währungspolitik aus der Hand gegeben hat. Er kann dann die Wirtschaft nicht mehr geld- und kreditpolitisch, also nicht mehr wirksam steuern. Auch die Sozialpolitik wird dadurch erheblich behindert, wie die reale (nicht die statistisch vorgetäuschte) Entwicklung der Arbeitslosigkeit in Deutschland, in dem sich eine neue Soziale Frage entwickelt (hat), zeigt. 2. Währungsunion als Integrationshebel Währungspolitik ist Vertrauenssache. Es ist viel Geld aufgewandt worden, um Vertrauen in den Euro zu erschleichen. Diese das demokratische Prinzip der Transparenz tief verletzenden Täuschungsversuche waren erfolglos. Manipulation und Propaganda können kein Vertrauen begründen. Das Bundesverfassungsgericht hätte im Euro-Prozeß 1998 ein Minimum an Vertrauen in die Rechtlichkeit der Politik wieder herstellen können. Es hat diese Chance nicht wahrgenommen, weil daran das Projekt Währungsunion gescheitert wäre. Obwohl die reale Konvergenz der mitgliedstaatlichen Volkswirtschaften für eine einheitliche Währung fehlte und wohl auf absehbare Zeit auch nicht erreichbar ist159, genügte der Wille der Führer Europas und der Opportunismus der Verfassungsorgane, jedenfalls in Deutschland, um der Währungsunion den Weg zu ebnen. Das erweist, daß es den Parteiführern in den staatlichen Organen nicht auf die Stabilität der Währung ankam und ankommt, sondern auf ein anderes Ziel, nämlich den existentiellen Staat Europa, welches, wenn die Völker gefragt würden, nicht zu erreichen zu sein dürfte. Darum ist der Hebel der Währungsunion, welcher die weitere Integration Europas erzwingen soll, angesetzt worden. Es geht darum, Deutschland, das gar keinen Sonderweg in Europa gehen will und auch nicht gehen kann, institutionell einzubinden, koste es, was es wolle. Entgegen dem Amtseid, seine „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, dessen Nutzen zu mehren, Schaden von diesem zu wenden“, hat der damalige Bundeskanzler Helmut 156 K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 130 f.; ders., Res publica res populi, S. 560 ff., insb. S. 567 ff. 157 Dazu K. A. Schachtschneider Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, H II. 158 Dazu die Verfassungsbeschwerde gegen den Eurorettungsschirm zum Aktenzeichen 2 BvR 1485. 159 W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, S. 25 ff., 63 ff., 214 ff.

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Kohl nicht nur seine Hand zu dieser Politik gereicht, sondern sich zum eifrigsten Aktivisten der gegen die deutschen und der Sache nach auch gegen die europäischen Interessen gerichteten Maastricht-Politik gemacht. Sein Nachfolger Gerhard Schröder hat genauso wie dessen Nachfolgerin Angela Merkel die Politik des Vorgängers fortgesetzt. Die Pflichten aller anderen Organwalter sind keine anderen als die des Bundeskanzlers nach Art. 56 i. V. m. Art. 64 Abs. 2 GG. Auch sie haben das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen, ihre Pflichten gewissenhaft zu erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben. Die Erwartung, daß diese Organwalter diese ihre Verpflichtung erfüllen würden, haben die meisten von ihnen, vor allem die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gründlich enttäuscht und damit der Demokratie schweren Schaden zugefügt. Die Schäden des von vornherein zum Scheitern verurteilten Projekts Währungsunion160, die ins Unermeßliche wachsen, müssen die betroffenen Völker, vornehmlich das Deutsche Volk, tragen. Die Währungsunion, wie sie die Unionsverträge gestaltet haben, ist gescheitert. Um die Währungsunion zu verwirklichen, wird jetzt die Union umgestaltet, gegen die Verträge und gegen die Verfassungsgesetze. Der Weg von einer politischen Union und damit vor allem von einer Wirtschafts- und Sozialunion zur Währungsunion, den die Ökonomen als Krönungstheorie konzipieren161, war nicht durchsetzbar. Darum versucht die Politik, Deutschland gedrängt von den Mitgliedstaaten, die sich davon vor allem wirtschaftliche Vorteile versprechen, wie schon im Maastricht-Vertrag angelegt, den umgekehrten Weg zu gehen, nämlich den von der Währungsunion zur Wirtschafts- und Sozialunion, letztlich zur politischen Union. Der Hebel ist gut angesetzt; denn die Währungsunion erzwingt die Wirtschaftsund vor allem die Sozialunion. Sonst kann eine solche nur scheitern und die der Union ist gescheitert. Die volkswirtschaftlichen Leistungsunterschiede konnten und können nicht mehr durch Veränderungen der Währungsverhältnisse (Abwertungen/Aufwertungen administrativer oder faktischer Art) ausgeglichen werden. Der Faktor Arbeit ist nicht wie in den Vereinigten Staaten von Amerika derart flexibel, daß er das zu kompensieren vermag162, im übrigen ein ökonomisches Postulat, welches das Menschenrecht der Freizügigkeit zu einer existenzsichernden Pflicht umwandelt. Jeder Mensch ist berechtigt, in 160

W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage. Warum die Währungsunion scheitern muß, 1998. In dieser Schrift ist das Scheitern des Euro, das sich gegenwärtig vollzieht, in seinem Ablauf vorausgesagt, bereits mit den lange tabuisierten Aspekten wie Finanzunion und Transferunion, die unvermeidbar werden, wenn die Währungsunion eine Chance haben soll (Euro-Klage, ökonomisch S. 130 ff., rechtlich S. 252 ff.). Die Bedenken haben die Autoren in der Schrift: Die Euro-Illusion. Ist Europa noch zu retten, 2001, weiterentwickelt. 161 Dazu J. Starbatty, Die politische Dimension der EURO – Zehn Thesen, S. 43 ff.; auch C. Watrin, Währungsunion und supranationale Staatlichkeit, in: R. Hasse/J. Starbatty (Hrsg.), Wirtschafts- und Währungsunion auf dem Prüfstand, 1997, S. 38; K. Biedenkopf, in: H.-U. Jörges (Hrsg.), Der Kampf um den Euro, S. 41. 162 Zur Belastung des Arbeitsmarktes durch eine einheitliche Währung J. Starbatty, Die politische Dimension des EURO – Zehn Thesen, S. 55 ff.; zur Notwendigkeit eines flexiblen Arbeitsmarktes, wenn Abwertungen nicht möglich sind, W. Hankel, Europa wird am EURO scheitern, in: H.-U. Jörges (Hrsg.), Der Kampf um den Euro, S. 149 ff.

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seinem Land zu leben, dessen Sprache er spricht, in dem seine Familie und seine Freunde leben und dessen Lebensverhältnisse er gewohnt ist, in seiner Heimat also, ein Prinzip, das Integrationisten gern tabuisieren. Auch das Recht zu bleiben gehört zu den Menschenrechten163. Niemand darf aus seinem Gemeinwesen herausgedrängt werden, auch nicht ökonomisch. Solche Maßnahmen sind mit dem Solidarprinzip oder Sozialprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG, ja mit dem Staatsprinzip eines Volkes unvereinbar. Jetzt dient die gescheiterte Währungsunion als Hebel zur politischen Union. Aber er besteht nur noch aus der unbegründeten Verängstigung der Menschen, der Schritt zurück zu nationalen Währungen werde den Wohlstand ruinieren. Ökonomisch ist das Gegenteil richtig, wenn auch erhebliche Umstellungsschäden nicht zu vermeiden sein werden. Diesen Schaden hat die politische Klasse verschuldet und der Schaden, den die Währungsunion bereits verursacht hat und weiter verursachen wird, ist weitaus größer, nicht nur für Deutschland und die anderen Euroländer mit tragfähiger Zahlungsbilanz, sondern auch und vor allem für die Euroländer, die sich entgegen ihrer Leistungsfähigkeit auf Grund der Zinssubvention in nicht tragbare Schulden gestürzt haben und zudem gerade wegen der einheitlichen Währung nicht in der Lage waren, ihre Wirtschaft weltmarktfähig zu entwickeln. Die politische Klasse will keinesfalls das politische Projekt „Europa“, d. h. die Integration der Union zum Bundesstaat, aufgeben, durch wen und wodurch auch immer motiviert, jedenfalls ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Vernunft und ohne die Völker gefragt zu haben. Der politische Hebel kann halten, wenn er nicht am Recht bricht, weil das Bundesverfassungsgericht dem verfassungswidrigen Unternehmen Einhalt gebietet. Sonst bleibt dem Volk nur der Widerstand, den Art. 20 Abs. 4 GG als Grundrecht schützt und der gegen das große Unrecht sittliche Pflicht ist. Die Währungsunion hat Reparationsfunktion und dient wie die Union überhaupt der Einbindung Deutschlands. Sie wird aber ihren politischen Zweck, den Unionstaat herbeizuzwingen, der den Kampf um den Euro bestimmt, verfehlen, aus wirtschaftlichen und aus rechtlichen Gründen. Die Währungsunion dient gerade durch ihr Scheitern als Hebel zur Staatswerdung der Europäischen Union und ist dadurch ein Instrument der Entdemokratisierung. Diese Politik ist ein Umsturzversuch. 3. Ökonomische Fehler der Währungsunion164 Die Währungsunion schadet Deutschland ebenso wie ihren anderen Mitgliedern dauerhaft, trotz gewisser Anfangsvorteile der Euro-Länder mit schwacher Produkti163

K. Hailbronner, Freizügigkeit, HStR, Bd. VI, 1989, § 131, Rdn. 31, S. 156. Dazu W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Die Euro-Klage, 1998; dies., die Euro-Illusion, 2001, beide Schriften haben die Systemfehler der Währungsunion, die sich jetzt beweisen haben, aufgezeigt; dazu weiter die von mir vertretenen Verfassungsbeschwerden gegen die Griechenlandhilfe und gegen den Eurorettungsschirm zu den Aktenzeichen 2 BvR 987 und 1485, insbesondere die volkswirtschaftlichen Gutachten von W. Hankel, W. Nölling. D. Spethmann/J. Starbatty, einzusehen in meiner Homepage: www. KASchachtschneider.de, unter Downloads; näher W. Hankel, die Euro-Lüge und andere volks164

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vität und hohen Inflationsraten. Alle Euroländer haben einen falschen Leitzinssatz, weil die Europäische Zentralbank diesen an der durchschnittlichen Inflations- und Konjunkturentwicklung aller dieser Länder ausrichtet und auszurichten genötigt ist. Deutschland bezahlt den geldpolitischen Mißgriff nicht nur mit Zins- und Wechselkursnachteilen, sondern auch mit Kapitalverlusten und außerordentlichen zahlungsbilanztechnischen Transferleistungen. Die Währungsunion hat die Deutschen im letzten Jahrzehnt ein gutes Drittel ihres möglichen Einkommens gekostet und die deutsche Volkswirtschaft bisher insgesamt gut eine Billionen Euros. Das sind abgesehen von den unbezahlbaren Kosten, welche die Eurorettungsmaßnahmen mit sich bringen können und werden, die Opfer, die Deutschland die Union bringt, nicht nur die Nettozahlungen an diese. Transferleistungen an den Finanzmärkten werden Deutschland dadurch abgefordert, daß es wegen der Währungsunion nicht allein und auch nicht gegenüber den Währungspartnern aufwerten kann, während andere Euroländer abwerten müßten, insbesondere die inflationierenden, exportschwachen und zugleich überschuldeten PIIGS, Griechenland voran und weiter Portugal, Irland, Italien und Spanien. Belgien und Frankreich werden bald mit genannt werden. Der Exportüberschuß kommt Deutschland währungstechnisch nicht zugute. Nach Aufwertungen hätte Deutschland eine stärkere Kaufkraft, vor allem am Weltmarkt, aber auch am Binnenmarkt. Die deutschen Produkte, die weitgehend aus ausländischen Zulieferungen, also Importwaren, hergestellt werden, würden nicht merkbar verteuert. Viele halten den für Deutschland schwachen Durchschnittseuro für eine Exportförderung. Er mag einzelnen exportorientierten Unternehmen, die in scharfen Preiswettbewerb stehen, zugute kommen, ist aber gesamtwirtschaftlich eher ein Nachteil, insbesondere schwächt er die Kaufkraft im Innern, die der Menschen im Lande. Die für die meisten Nachbarstaaten durch das Abwertungsverbot165 leistungswidrig starke und zinsgünstige Währung, welche allein durch die politisch vermittelten Zinssätze der Währungsunion ermöglicht worden sind, hat diese zu übermäßiger staatlicher und privater Verschuldung verführt. Wegen deren Insolvenzgefahr, die sich in den abgesenkten Ratings ankündigt, werden vor allem die Deutschen, aber auch alle anderen zahlungsfähigen Euroländer166 politisch genötigt, deren Schulden vor allem gegenüber den kreditgebenden Banken mittels der Eurorettungsmaßnahmen auszugleichen. Diese Maßnahmen sind mit Sparauflagen verbunden. Die Importfähigkeit der PIIGS leidet unter der erzwungenen konjunkturellen Schrumpfung zusätzlich, auch zu Lasten des deutschen Exports. Als die DM stetig aufgewertet wurde, zeichnete sich Deutschland dennoch durch exzellenten Export aus, der auf der hohen Produktqualität und der Produktivität beruhte und beruht, und hatte mit Abstand das wirtschaftliche Märchen. 3. Aufl. 2010; auch K. A. Schachtschneider, Die Rechtlosigkeit der Euro-Rettungspolitik, Zweiter Teil. 165 W. Hankel/W. Nölling/K. A. Schachtschneider/J. Starbatty, Euro-Klage , S. 126 ff. 166 Außer Slowenien, das es ablehnt, sich an den Rettungsmaßnahmen jedenfalls für Griechenland zu beteiligen, weil das Pro-Kopf-Einkommen der Griechen höher ist als das der Slowenen.

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höchste Pro-Kopf-Einkommen in Europa und nach den USA in der Welt. Jetzt liegen die Deutschen in der unteren Hälfte im OECD-Bereich und große Teile der Bevölkerung verarmen zusehends. Die durch die Inflation in den leistungsschwachen Ländern gemäßigten realen Zinssätze haben zu einem außerordentlichen Abfluß des vor allem in Deutschland erwirtschafteten Kapitals geführt, weil dessen Investition in Deutschland, in dem Kredite mit einem etwa 4 Prozentpunke höheren Realzinssatz zu bezahlen waren, der Kapitaleinsatz weniger Gewinn zu erwirtschaften erlaubte. Der Investitionsrückstand schadet Deutschland langfristig. Der Kapitaleinsatz hat in den PIIGS freilich zu Fehlinvestitionen, insbesondere im Immobilienbereich, geführt, welche die Schuldenkrise zum Teil ausgelöst, jedenfalls verstärkt hat. Es handelt sich um Fehlallokationen durch staatlich, nämlich durch die falsche Währung, veranlaßte Fehlanreize Es ist ausgeschlossen, die Fehlentwicklung der öffentlichen und privaten Haushalte durch irgendwelche steuer- oder sozialpolitischen Maßnahmen in Ordnung zu bringen. Inflation wird nicht reichen, um mit den Staats- und Bankenschulden fertig zu werden. Eher erfolgt nach einer ruinösen Rezessions- und Deflationsphase eine Währungsreform. Seine Wirtschafts- und Finanzkrise konnte beispielsweise Argentinien 2001/2 nur durch ein Moratorium, die Lösung des Pesos von der Dollar-Parität, eine Abwertung von 70 % und schließlich dadurch eine Schuldenkürzung von ebenfalls 70 % bewältigen. Ähnliche Schritte werden von den Eurostaaten gemacht werden müssen, letztlich auch von Deutschland. Die kreditäre Finanzierung der Staaten ist wesentlich ein Politikum, weil Staaten zwar insolvent werden können, die Völker aber bleiben. 4. Keine Währungsunion ohne politische Union Ohne politische Union war und ist die Währungsunion zum Scheitern verurteilt. Das war nie zweifelhaft, wurde aber zur Täuschung der Öffentlichkeit auch von willfährigen Ökonomen stetig bestritten. Die Finanz- und Währungskrise hat das allgemein vor Augen geführt und die Maßnahmen, mit denen versucht wird, die Währungsunion zu retten, sind weitere große Schritte zur Wirtschafts- und Sozialunion, also zur politischen Union. Die Hebeltheorie verwirklicht sich, freilich nur mittels politischer Maßnahmen, allerdings Maßnahmen, die nicht nur vertragswidrig, sondern verfassungswidrig ist Für eine politische Union fehlten der Europäischen Gemeinschaft und fehlen der Europäischen Union wesentliche politische und rechtliche Vorbedingungen, die nicht durch einen Vertrag ersetzt werden können, nämlich die wirtschaftliche und die soziale Homogenität der Völker167, aber auch deren politischer Wille, die eigene existentielle Staatlichkeit zu beenden und in einem Großstaat Europa, wie auch

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I. d. S. auch BVerfGE 89, 155 (186).

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immer föderalisiert oder regionalisiert, zu leben168. Vor allem müßten zunächst die verfassungsgesetzlichen Voraussetzungen geschaffen werden, weil die Verfassungsgesetze der meisten Mitgliedstaaten die existentielle Staatlichkeit der Völker169, vom Bundesverfassungsgericht und den meisten Autoren noch Souveränität genannt170, gar nicht aufzugeben erlauben. Das Grundgesetz Deutschlands verankert die existentielle Staatlichkeit Deutschlands in Art. 20 GG, der wegen der sogenannten Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG nicht zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers steht171 und dem volksfernen Integrationismus der politischen Klasse Grenzen zieht. Die Führer Europas aber betreiben die Integration der Union zu einem existentiellen Großstaat intensiver den je. Sie nutzen dafür die Eurokrise. Die Auflösung der existentiellen Staatseigenschaft der Völker und damit der Völker selbst ist der stärkste Verrat am demokratischen Prinzip; denn Demokratie ist die politische Form eines freien Volkes. Die Integration Deutschlands in einen existentiellen Staat Europa, durch welche die Bundesrepublik Deutschland als existentieller Staat aufgelöst würde, kann nur das Deutsche Volk in einem verfassungsgebendem Referendum gemäß Art. 146 GG entscheiden, weil ein solcher Schritt die verfaßte Staatlichkeit transzendiert und deshalb die Befugnisse aller Staatsorgane übersteigt. Diese sind nicht befugt, den Staat als die Organisation des Volkes für die Verwirklichung des guten Lebens aller in allgemeiner Freiheit aufzulösen und in einen neuen Staat, sei dieser auch eine Rechtsgemeinschaft, zu überführen. Die existentielle Staatlichkeit Deutschlands jedenfalls ist in Art. 20 GG verankert. Art. 20 GG aufzuheben oder auch nur zu „berühren“, verbietet Art. 79 Abs. 3 GG, der Unabänderlichkeitsgrundsatz des Grundgesetzes172. Nach Art. 21 Abs. 2 GG sind Parteien, die den „Bestand der Bundesrepublik Deutschland gefährden“ verfassungswidrig. Der „Bestand der Bundesrepublik Deutschland“ ist auch deren existentielle Staatseigenschaft, zur der die existentielle Staatlichkeit gehört173. Im übrigen beeinträchtigt die Verletzung der existentiellen Staatlichkeit Deutschlands auch die 168 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 1194; ders., Die Republik der Völker Europas, S. 153 (168); i.d.S. auch P. Kirchhof, Deutsche Sprache, HStR, Bd. I, 18, Rdn. 1 ff., S. 746 ff.; i.d.S. BVerfGE 89, 155 (185 f.). 169 I.d.S. BVerfGE 89, 155 (185 f.); dazu K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, S. 87 ff.; ders., Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa“, S. 279 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, A. 170 BVerfGE 89, 155 (189); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 216, 228 f., 263, 275, 298, 329, 339. 171 BVerfGE 89, 155 (186 f., 188 ff.); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 228, 277, 296; Hinweise in Fn.169. 172 I.d.S. BVerfGE 89, 155 (188 ff.); K. A. Schachtschneider, Maastricht-Verfassungsbeschwerde, S. 125 ff., insb. S. 129 ff.; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 114 ff.; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HStR, Bd. I, 1987, § 19, Rdn. 51 ff.; U. Penski, Bestand nationaler Staatlichkeit als Bestandteil der Änderungsgrenzen in Art. 79 Abs. III GG, ZRP 1994, 194, 195. 173 W. Henke, Bonner Kommentar, GG, Drittbearbeitung, 1991, Art. 21, Rdn. 354; Ph. Kunig, Parteien, HStR, Bd. II, 1987, § 33, Rdn. 42.

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„freiheitliche demokratische Grundordnung“, weil ein existentieller Unionsstaat nicht demokratisch und schon gar nicht freiheitlich im Sinne des Freiheitsbegriffes des Grundgesetzes sein kann174. Das Bundesverfassungsgericht hat im Lissabon-Urteil zugestanden, daß der Schritt zu einem Unionsbundesstaat ein neues Verfassungsgesetz, welches das Deutsche Volk sich gemäß Art. 146 GG geben muß, voraussetzt175. Darum betont es immer wieder, daß die Gemeinschaft oder die Union kein Staat und kein Bundesstaat seien176 – zu Recht, insoweit das die existentielle Staatseigenschaft anspricht. Hinsichtlich der funktionalen Staatlichkeit ist die Europäische Union schon lange ein echter Bundesstaat177, dessen Organe gemäß dem Willen der Völker durch die Gemeinschaftsverträge in die nationale Staatsorganisation integriert sind, um die gemeinschaftlichen Angelegenheiten (nach Maßgabe der Ziele, Aufgaben und Befugnisse der Verträge) gemeinschaftlich durch Gemeinschaftsorgane zu bewältigen178. Aber nach wie vor geht die Staatsgewalt von den Völkern aus, wie das Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG für Deutschland klarstellt179. Es gibt keine eigenständige, etwa autonome, Staatsgewalt der Union, weil ein europäisches Volk nicht organisiert ist180. Die Union ist (noch) ein echter Bundesstaat von Nationalstaaten. Das demokratische Prinzip verwirklicht sich darum national. Das Bundesverfassungsgericht nennt demgemäß Deutschland „einen der ,Herren der VerträgeÍ“181. Dem Recht nach kann die Union nur eine Republik der Republiken sein, wenn das auch nicht die Wirklichkeit der republikwidrigen Parteienstaaten entspricht182. Eine Republik Europas könnte auch die Völker als strukturelle, vor allem legitimatorische Voraussetzung ihrer Staatlichkeit überwinden, etwa als unechter Bundesstaat oder als

174 K. A. Schachtschneider, Demokratiedefizite in der Europäischen Union, FS W. Hankel, S. 119 ff.; vgl. ders., Die Republik der Völker Europas, S. 172 ff.; zum Parteienverbotskriterium „freiheitliche demokratische Grundbedingung“ i.d.S. W. Henke, Bonner Kommentar, GG, Art. 21, Rdn. 351 f.; Ph. Kunig, Parteien, HStR, Bd. II, § 33, Rdn. 41. 175 BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 228, 277, 296. 176 BVerfGE 89, 155 (188 f.); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 263; so schon BVerfGE 22, 293 (296); 37, 271 (278); 75, 223 (242). 177 Dazu näher K. A. Schachtschneider, Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa“, FS W. Nölling, S. 279 ff. 178 K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 87 ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, S. 165 ff. 179 I.d.S. BVerfGE 89, 155 (181 ff.); K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 76 f.; ders., Die Republik der Völker Europas, S. 161 f. 180 BVerfGE 89, 155 (188); 123; BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 280 ff., 286. 181 BVerfGE 89, 155 (190, vgl. auch 199); vgl. auch BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009, BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 298. 182 K. A. Schachtschneider, Republik der Völker Europas, S. 154 ff., 174 f.; vgl. die Parteienstaatskritik dess., Res publica res populi, S. 772 ff., 1045 ff.

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föderativer Einheitsstaat183. Das würde aber den Willen der europäischen Völker zu einer existentiellen Staatseigenschaft der Union voraussetzen. Bisher hat die Politische Klasse in Deutschland es nicht gewagt, die Deutschen nach ihrem Integrationswillen zu fragen. Wahlen sind von anderen als Integrationsinteressen bestimmt und ersetzen die Abstimmung des deutschen Volkes über das Maß der europäischen Integration nicht. Andere Unionsstaaten respektieren die Mündigkeit ihrer Bürger weitaus mehr. 5. Das nationale Prinzip der europäischen Sozialstaaten Das Sozialprinzip, in Deutschland das die Wirtschaftsverfassung der marktlichen Sozialwirtschaft bestimmende Leitprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG184, kann sich in der Europäischen Union nicht entfalten, weil die Grundfreiheiten des Binnenmarktes in der Praxis der Kommission und des Gerichtshofs wesentlich liberalisierende und deregulierende Wirkung haben. Sie werden denn auch mit aller Härte und über ihren Wortlaut hinaus durchgesetzt, entgegen den mitgliedstaatlichen Verfassungen185. Nicht das Sozialprinzip, sondern das Marktprinzip ist das Leitprinzip der Wirtschaftsverfassung der Union. Das hat wegen der Einbettung der europäischen in die globale wirtschaftliche Integration dem internationalen Kapitalismus, der die internationalen Unternehmen, vor allem bestimmte Banken, zu den Herren der Welt gemacht hat, Hindernisse aus dem Weg geräumt, insbesondere die Kapitalverkehrsfreiheit des Art. 63 Abs. 1 AEUV. Danach ist es verboten, den Kapitalverkehr gegenüber allen Ländern der Welt zu beschränken, mit gewissen Ausnahmen vor allem zugunsten der Währungsunion186. Diese Vertragsregelung ist die europarechtliche Grundlage des entgrenzten Kapitalismus, insbesondere der kreditären Geldschöpfung, die mehr als das Zehnfache des für die Realwirtschaft erforderlichen Geldumlaufs ausmacht, immer mit erheblichen Zinserwartungen. In einer freiheitlichen Ordnung hätte die Wirtschaft eine dienende Funktion für die Menschen. In der Europäischen Union sind die Menschen zu Objekten der Banken, Versicherungen und Großunternehmen geworden, die sie als Arbeitnehmer und Verbraucher ausbeuten. Die in den europäischen und globalen Verträgen angelegte Wirtschaftsordnung, die ein geschlossenes System bildet, übt einen nivellierenden Druck auf die sozialen Besitzstände aus187. Für das Recht ist die Politik verantwortlich. Wer die globale Kapitalverkehrsfreiheit ins Haus holt, darf sich nicht wundern, wenn sozialwidrige Verhältnisse entstehen. Wer eine Politik globalen Kapitalismus betreibt, hat eine soziale, de-

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K. A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S. 170 ff., 174 ff.; ders., Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa“, S. 279 ff. 184 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 25 ff. 185 K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, B. 186 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 111 ff. 187 K. A. Schachtschneider, Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit, S. 289 ff.; ders., Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 624 ff.

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mokratische, republikanische Politik, eine Politik der Freiheit und des Rechts, aufgegeben188. Eine einheitliche Sozialpolitik ist (zu Recht) von dem Prinzip der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse189 bestimmt. Das erfordert einen Finanzausgleich unter den Mitgliedstaaten, der nicht leistbar große Finanztransfers notwendig macht. In Anlehnung an das System des deutschen Finanzausgleichs wurde schon bei Einführung des Euro ein Transferbedarf von 860 Milliarden DM jährlich genannt, wenn die Lebensverhältnisse in der Europäischen Union dem Durchschnitt der sozialen Besitzstände angepaßt werden sollen190. Der Bedarf der Länder, die noch nicht Mitglieder der Union waren, war dabei noch nicht berücksichtigt. Jetzt dürfte der Bedarf weitaus höher liegen; denn allein schon der Rettungsschirm, der 750 Milliarden Euro umfaßt, gilt allgemein als unzureichend. Das Beispiel der deutschen Einheit erweist den Umfang an Transferleistungen, die politisch durchgesetzt werden und werden können, weil die sichtbaren Unterschiede unerträglich sind, zumal wenn eine einheitliche Sozialpolitik betrieben wird. Die Sozialunion ist Ziel der Europäischen Union, das in Art. 3 EUV mit dem Ziel „wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ benannt ist. Transfers, welche die Union, gemessen an den Standards der wohlhabenden Mitgliedstaaten, in etwa sozial befrieden, sind zwar die Erwartung der weniger wohlhabenden Völker, aber nicht leistbar, ohne die Volkswirtschaften der ersteren zu ruinieren. Das trifft vor allem Deutschland. Die Währungsunion muß aber eine Transferunion werden191, wenn sie nicht in den Mitgliedstaaten mit schwachen Volkswirtschaften zu sozialen Verwerfungen führen soll, welche die freiheitliche Demokratie in Gefahr bringen können und werden. Eine solche Politik ohne die unmittelbar demokratische Zustimmung des Volkes ist jedoch nicht nur eine Verletzung der Eigentumsgewährleistung, sondern eine tiefgreifende Verletzung des demokratischen Prinzips, weil die Solidargemeinschaft verändert wird und das Volkseinkommen nicht mehr dem Volk verbleibt, sondern weitgehend an fremde Völker gegeben wird. Die Transfermaßnahmen zur Rettung der Währungsunion ist Verteilungspolitik und agiert, als gebe es das Unionsvolk bereits, zu dessen Konstituierung die Völker nicht befragt wurden, ob sie ihre existen188 K. A. Schachtschneider, Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit, S. 308 ff.; ders., Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 636 ff. 189 H. F. Zacher, Das soziale Staatsziel, HStR, Bd. I, 1987, § 25, Rdn. 32 ff., 45 ff., 48 ff., 61 ff., 68 ff., S. 1065 ff., 1075 ff., 1078 ff., 1083 ff., 1086 ff. („ökonomische Mitte des ,SozialenÍ“); vgl. auch Art. 106 Abs. 3 S. 4, Nr. 2 GG aus der Finanzverfassung, dazu R. Wendt, Finanzhoheit und Finanzausgleich, HStR, Bd. IV, 1990, §104, Rdn. 42, S. 1050. 190 K.-D. Grüske, Föderalismus und Finanzausgleich, Vortrag bei den Atzelsberger Gesprächen der Dr. Alfred Vinzl-Stiftung in Marloffstein am 17. 7. 1997, Manuskript, S. 20. 191 Schon O. Issing, Geld stiftet noch keine Staatlichkeit, FAZ v. 15. Juli 1995, Nr. 162, S. 1; auch E. Steindorff, Währungsunion, Beitritt, Finanzausgleich und Maastricht II, EuZW 1996, S. 6 (7 f.); H. Siebert, Stabilitätspakt – Die Geldpolitik in der Währungsunion entpolitisieren, Wirtschaftsdienst 1997, S. 7 ff.; C. Watrin, Währungsunion und supranationale Staatlichkeit, S. 38; R. Jochimsen, Nach dem Tag X – Anforderungen an eine langfristige Stabilitätsgemeinschaft, in: H.-U. Jörges (Hrsg.), Der Kampf um den Euro, S. 185 ff.; K. Schiller, Deutschland ohne DM?, DER SPIEGEL 50/1991, 130.

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tielle Staatseigenschaft aufzugeben bereit sind, der Sache nach, um die Banken zu stützen, die gewinnorientiert riskante Kredite ausgebracht haben. Einheitliche Lebensverhältnisse können wegen der wirtschaftlichen Leistungsgrenzen nur nivellierten Standards folgen. Das Modell der Sozialunion ist trotz der Vertragstexte angesichts dessen, daß die Währungsunion auf absehbare Zeit nicht vom wirtschaftlichen Fortschritt begleitet sein wird, das der sozialen Deregulierung und damit das der sozialen Demontage und folglich ein Neokapitalismus, der den Namen soziale Marktwirtschaft nicht verdient, geschweige denn eine marktliche Sozialwirtschaft, wie sie dem Grundgesetz gemäß ist. Die Hoffnung auf eine kapitalistische Prosperität, welche die soziale Frage durch Wachstum mit Vollbeschäftigung beantwortet, ist Illusion, zumal immer größere Transferleistungen an die Jungen, Alten, Kranken, Hilflosen, Migranten geleistet werden müssen. In der zunehmend technisierten und intellektualisierten Wirtschaft verlieren mehr Menschen denn je die Arbeitsmöglichkeit. Diese beginnt später und hört früher auf. Das Leben währt länger. Die Krankheiten nehmen zu. Der Sozialstaat ist notwendig, mehr denn je. Die neokapitalistische und globalistische ,RevolutionÍ zur „Freiheit des Kapitals“192 ist in Europa nicht zukunftsfähig. Sie behindert den Nutzen der technischen Möglichkeiten für das Wohl aller; denn sie ist das Modell des übermäßigen Eigennutzes. Ein wohlgeordnetes Verhältnis von Eigen- und Fremdnützigkeit können nur Regulierungen, also Gesetze, gewährleisten. Besser ist das die Sittlichkeit der Republik zu nennen. Die disharmonische Gestalt der Union, in der Wirtschaft und Währung, Markt und Wettbewerb gemeinschaftlich geregelt, das Soziale aber national bewältigt werden soll, ist nur durchführbar, wenn die Sozialpolitik minimiert wird, zumal die finanziellen sozialpolitischen Möglichkeiten der Mitgliedstaaten (auch wegen der Schuldenlasten) knapper werden. Die Desozialisierung ist aber in demokratischen Gemeinwesen schwer durchsetzbar. Auch deswegen war und ist die Währungsunion spezifisch ohne die Sozialunion ein Projekt der sozialen Demontage in den Völkern, sowohl derer mit schwächerer als auch derer mit stärkerer Volkswirtschaft, das aber, wie die Krise erweist, in demokratischen Gemeinwesen nur mittels Entdemokratisierung durchsetzbar ist. Ein Wachstum wird im übrigen durch Zinslasten in Anspruch genommen, um die im großen Umfang kreditär begründeten, richtigerweise illegalen, Geldvermögen zu bedienen. Auch Deutschland gefährdet mit der Integrationspolitik seine politische Stabilität, weil sein existentielles Sozialprinzip in einer Europäischen Union der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (Art. 120 AEUV) zurückgedrängt werden muß; denn Marktlichkeit und Wettbewerblichkeit lassen in einem unbegrenzten Markt langfristig keine unterschiedlichen Sozialordnungen zu, jedenfalls nicht, wenn eine gemeinsame Staatlichkeit organisiert ist und gelebt wird wie im Bundesstaat der Union. Wirtschafts-, Sozial- und Währungspolitik müssen einheitlich verantwortet werden. Ohne die umfassende politische Einheit der Lebensverhältnisse, insbesondere 192 W. Frenz, Europäische Grundfreiheiten, Rdn. 2743 f., S. 1034: „Das Kapital ist selbst ,befreitÍ“; J. C. W. Müller, Kapitalverkehrsfreiheit in der Europäischen Union, 2000, S. 149, 197 ff.; vgl. K. A. Schachtschneider, Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 112.

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die Einheit der Verantwortung für die Wirtschaft und das Soziale, läßt sich ein freiheitliches Gemeinwesen, eine Republik also, nicht gestalten. Ohne politische Union, d. h. Sozialunion, aber ist die Wirtschaft- und Währungsunion ein unvollkommener Staat, der die soziale Frage gerade auch wegen der Währungsunion nicht bewältigen kann. Er läßt den Mitgliedstaaten wegen der wettbewerbsorientierten Deregulierung, die sich Wirtschaftsunion nennt, keine hinreichenden Möglichkeiten, sie zu bewältigen. Die Währungsunion vollendet durchaus den Binnenmarkt der verwirklichten Grundfreiheiten, führt aber auch die Lösung der Wirtschaft aus der staatlichen Verantwortung, die notwendig Verantwortung für die Sozialpolitik als integralem Teil der Wirtschaftspolitik ist, zu dem Ende, an dem die Mitgliedstaaten nicht mehr über die notwendigen Mittel verfügen, die es ihnen ermöglichen, Wirtschaftspolitik auch als Sozialpolitik zu gestalten. Insbesondere können die Mitgliedstaaten keine wirksame, ihrer Sozialwirtschaft gemäße Geldpolitik mehr betreiben, weil diese einem Unionsorgan, das im übrigen niemandem verantwortlich ist193, übertragen ist, der Europäischen Zentralbank. Damit ist insgesamt der Europäischen Union ein solches Maß an Aufgaben und Befugnissen überantwortet, nämlich weitgehend die Rechtsetzung und mit ihr die Rechtsprechung, die Wirtschafts- und Wettbewerbspolitik, weitgehend auch, zumal durch das Beihilferegime, die Industriepolitik u. a.m., daß die substantielle Staatlichkeit Sache der Europäischen Union geworden ist194. Der Union mangelt nicht nur die demokratische Legitimation für die substantielle Staatlichkeit, die kraft der in der Sache offenen Ermächtigungen weit über die demokratiedogmatisch tragfähigen begrenzten Ermächtigungen195 hinausgeht196, sondern vor allem die soziale Verantwortbarkeit ihrer Politik. Das Sozialprinzip, das die Wirtschaftsordnung leitet, gebietet auch wirtschaftliche Stabilität197, der die Wirtschafts- und Währungsunion in ihrer Ausgestaltung durch die Vertragswerke nicht gerecht zu werden vermag, wie deren Krise beweist. Eine Sozialunion aber schafft endgültig den existentiellen Staat und bedarf der politischen Union. Für eine solche fehlt es aber, wie gesagt, am Willen der Völker. Sie wäre im übrigen angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Heterogenität auch nicht empfehlenswert, geschweige denn angesichts der Gefahren für die Freiheit im durch Banken, Industri193

Vgl. BVerfGE 89, 155 (207 f.). K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 122 ff.; ders./A. Emmerich-Fritsche/Th. C. W. Beyer, JZ 1993, 751 ff.; i.d.S. auch C. Watrin, Währungsunion und supranationale Staatlichkeit, S. 36; ders., Verfassungsbeschwerde LissabonVertrag, 3. Teil. 195 BVerfGE 89, 155 (181, 192 f., 195, 198, 209 f.); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009 BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 226, 234 ff., 262, 265, 272, 275, 298 ff., 300 ff., 326. 196 Schon K. A. Schachtschneider/A. Emmerich-Fritsche/Th. C. W. Beyer, JZ 1993, 751 f.; K. A. Schachtschneider Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 71 ff.; dazu auch Th. C. W. Beyer, Die Ermächtigung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, Der Staat 35 (1996), 189 (190 ff., 195 ff., 219 f.); a.A. BVerfGE 89, 155 (181, 207). 197 K. A. Schachtschneider, Wirtschaftliche Stabilität als Rechtsprinzip, S. 314 ff. 194

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en, Medien, Parteien- und Verbandsoligarchien sowie organisierter Kriminalität beherrschten großen Staat. Freiheitlich ist nur die bestmöglich gestaltete kleine Einheit. Das bezweckt das Subsidiaritätsprinzip (Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, auch Art. 5 EUV)198. Die Währungsunion nimmt den Völkern demokratiewidrig die Möglichkeit, ihr wirtschaftliches Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Mit der Währungsunion überschreiten die Aufgaben und Befugnisse der Union und ihrer Gemeinschaften das Maß an (übertragener) Gemeinschaftsgewalt, welches „noch“199 mit der substantiellen Staatlichkeit der Völker vereinbar ist, zumal die Währungsunion eine (vollendete) Wirtschafts- und eine (weitentwickelte) Sozialunion, die bereits in den Verträgen angelegt und mehr oder weniger weit entfaltet sind200, von vornherein nach sich ziehen sollte. Der wirtschaftliche Hebel, die Wirtschaftsund Währungsunion zu einer sozialen und damit politischen Union weiterzuentwickeln, wird in der gegenwärtigen Schulden- und Währungskrise mit dem Argument angesetzt, das sei alternativlos. Die wirtschaftliche vernünftige und allein rechtmäßige Politik ist die Auflösung der Währungsunion, jedenfalls das Ausscheiden Deutschlands aus derselben. Die Integration muß wegen der existentiellen Staatlichkeit der Völker, welche die Wirklichkeit von deren Freiheit und damit die Wirklichkeit des notwendig demokratisch legitimierten Rechts ist, eine Grenze haben, die ohne den Willen der Völker, in einem von einem europäischen Volk verfaßten existentiellen Staat zu leben, nicht mißachtet werden darf201. Wenn die Integrationsdynamik diese Grenze zu überschreiten zwingt, besser zu erzwingen scheint, so ist sie durch den letzten Schritt, der die grenzüberschreitende Entwicklung erzwingt, verletzt. Dieser die existentielle Staatlichkeit der Völker negierende Schritt war bereits die Vereinbarung der Währungsunion, weil diese die Wirtschafts- und Sozialunion um ihres Erfolges willen nach sich ziehen muß, zumal das erklärtes Ziel der Politik ist202. Mit 198

H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip: Strukturprinzip der Europäischen Union, 1993, S. 33 ff., 64 ff.; K. A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S. 173 f.; vgl. ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 134 ff.; zum Subsidiaritätsprinzip BVerfGE 89, 155 (210 ff.); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009 BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 240 f., 304 f., 327, 362, 403 f., 407 f., zu Verfahrensfragen. 199 „Noch“ nicht ist die entscheidende, wenn auch in keiner Weise materialisierte Vokabel sowohl des Maastricht- als auch des Lissabon-Urteils, mit der das Bundesverfassungsgericht die Verträge gegen den Vorwurf der Entstaatlichung Deutschlands verteidigt, BVerfGE 89, 155 (181, 207); BVerfG 2 BvE 2/08 vom 30. 6. 2009 BVerfGE 123, 267 ff., Abs. 275 ff., auch 298 ff. 200 Zur Sozialunion J. C. K. Ringler, Die Europäische Sozialunion, 1997, S. 21 ff. 201 K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 111 ff.; ders., Die Republik der Völker Europas, S. 170 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde LissabonVertrag, 3. Teil, C V. 202 H. Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50 (1991), S. 16 Fn. 20; K. A. Schachtschneider, Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag über die Europäische Union v. 7. 2. 1992, in: I. Winkelmann, S. 137; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 129 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, C; ders./A. Emmerich-Fritsche/Th. C. W. Beyer, JZ 1993, 752; kritisch auch K. Biedenkopf, Der EURO – Herausforderung mit Chancen und Risiken, S. 8 ff.

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den Eurorettungsmaßnahmen hat sich die Politik weit auf das Feld des Unrechts vorgewagt. Das „noch“ des Bundesverfassungsgerichts überzeugt nicht. Weil eine Währungs- ohne die Wirtschafts- und Sozialunion keinen Erfolg verspricht, verletzt die Währungsunion im übrigen das durch das demokratische Prinzip der kleinen Einheit fundierte Subsidiaritätsprinzip. Ohne hinreichend entwickelte Wirtschafts- und Sozialunion können die Mitgliedstaaten nur national sachgerechte Währungspolitik verantworten, was die Kooperation in der Union nicht ausschließt, aber eben das supranationale System der Europäischen Zentralbanken der Art. 127 ff. AEUV und der Europäischen Zentralbank, deren Charakteristikum die Unabhängigkeit im Besonderen von den Mitgliedstaaten ist (Art. 130 AEUV). Insbesondere darin unterscheidet sich das ESZB demokratierechtlich und damit freiheitsrechtlich substantiell von dem deutschen Zentralbanksystem203, das dem Gesetz unterworfen war und ist. Einer Republik entspricht die marktliche Sozialwirtschaft, ein Begriff, der die Verantwortung des staatlichen Gemeinwesens für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit und damit die Wirtschaft als Dienst für die Gemeinschaft im Interesse der allgemeinen Wohlfahrt erfaßt, aber auch die Erfahrung zugrundelegt, daß der vom Staat geordnete Markt das bestmögliche Institut der Prosperität ist, weil Markt und Wettbewerb die Bereitschaft aller, sich bestmöglich nicht nur für sich selbst, sondern auch für das gemeine Wohl einzusetzen, wirksam fördern. Noch immer ist der Dienst aller für das gemeine Wohl die beste Gewähr für das gute Leben aller. Das aber setzt die Möglichkeit einheitlicher Politik voraus, zumal diese demokratisch legitimiert sein muß, wenn die politische Freiheit gewährleistet werden soll, der einzige Weg, den die Würde des Menschen zuläßt. Deregulierung muß verantwortete Wirtschaftsund Sozialpolitik sein, die den besten Weg zur allgemeinen Wohlfahrt steuert. Folglich kann ein Gemeinwesen nur gelingen, wenn es eine politische Union ist. Vor allem die soziale Gemeinschaft, das Grundprinzip der Brüderlichkeit, untrennbar mit der Freiheit und der Gleichheit verbunden, gerät sonst in Not. Kein Staat darf um der Menschheit des Menschen willen das Sozialprinzip vernachlässigen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind (seit 1789) Grundlage des Modernen Staates, wie Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, das Weltrechtsprinzip, erweist. Aber das Sozialprinzip läßt sich vor allem aus demokratischen Gründen, die oben dargelegt sind, nur national, von den Völkern Europas, verwirklichen, auch weil die Währungs- und Wirtschaftspolitik nur national erfolgreich sein können und vor allem demokratisch verantwortet werden müssen. Wirtschafts-, Währungsund Sozialpolitik sind, wenn sie demokratisch gestaltet sein sollen, eine nationale Sache, als eine res publica eine res populi.

203 Dazu W. Nölling, Die Europäische Zentralbank – Machtzentrum oder Spielball der europäischen Politik, in: H.-U. Jörges (Hrsg.), S. 281 ff.

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IX. Schlußbemerkungen Die demokratierechtliche Bilanz der Europäischen Union und der Währungsunion ist betrüblich. Das in die Europäische Union integrierte Deutschland ist nicht demokratisch. Deutschland ist darum auch kein Rechtsstaat mehr, wenn auch beachtliche Elemente des Rechtsstaates noch gelebt werden. Die Gewaltenteilung, genauer die Teilung der Ausübung der Staatsgewalt204, ist nicht nur durch den republikwidrigen Parteienstaat, sondern vornehmlich durch die entdemokratisierte Europäische Union verlorengegangen. Ein Staat aber, in dem die Gewalten nicht geteilt sind, hat keine Verfassung, stellt bereits Art. 16 der Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers von 1789 klar. Das gilt nach dieser großen Erklärung auch für einen Staat, in dem die Rechte nicht gesichert sind, wie allein schon wegen des Demokratiedefizits in dem Staat der Europäischen Union. Der Verfall des Rechts ist zugleich ein Verfall des Staates. Die Europäische Union hat zu unvollkommener Staatlichkeit geführt, in dem die Völker die Politik, die ihre Lebensverhältnisse bestimmt, nicht mehr verantworten können. Ein Staat, wie er der Idee der Freiheit entspricht, nämlich ein Staat des Rechts205, ist Deutschland im integrierten Europa nicht mehr. Die Wirkungen der Entrechtlichung werden von Tag zu Tag spürbarer. Die europäische Integration hat eine staatsähnliche Hülse gelassen, in der noch manche Staatlichkeit im Sinne von Rechtlichkeit und Freiheitlichkeit Wirklichkeit hat, die aber den substantiellen Verlust an Freiheit, Recht und Staat kaum noch zu kaschieren vermag. Nur Republiken, in denen die Völker die wirkliche Verantwortung für das gemeinsame Leben und damit für das Recht haben, sind Staaten im existentiellen Sinne206. In Republiken hat das Volk die Gewalt, die Staatsgewalt207. Diese ist das Vermögen, die Rechtlichkeit zu verwirklichen. Dieses Vermögen dient der allgemeinen Gesetzlichkeit als Wirklichkeit der allgemeinen Freiheit208. Es ist freiheitlich, nicht herrschaftlich209. Darum stellt Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG klar, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Staatsdiener sollen dem Volk dienen. Wer meint, das Volk beherr204

Dazu K. A. Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, S. 167 ff. K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 14 ff., 275 ff., 519 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 44 ff., 49 ff., 281 ff.; ders., Sittlichkeit und Moralität, S. 40 ff., 54 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 50 ff., 94 ff., 118 ff., 149 ff., durchgehend. 206 Dazu K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 75 ff.; ders., Deutschland nach dem Konventsentwurf einer „Verfassung für Europa“, S. 38 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, A. 207 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 14 ff., 637 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 58 ff.; ders., Der Anspruch auf materiale Privatisierung des staatlichen und kommunalen Vermessungswesens in Bayern, 2000, S. 270 ff., insb. 289 ff., 297 ff., 300 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, A. 208 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 14 ff., 275 ff., 325 ff., 519 ff., 635 ff.; ders., Freiheit in der Republik, S. 49 ff., 194 ff., 281 ff., 420 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 50 ff. 94 ff. 209 Kant, Metaphysik der Sitten, ed. Weischedel, Bd. 7, S. 338 f.; K. A. Schachtschneider, Der Anspruch auf materiale Privatisierung, S. 297 ff. 205

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schen zu dürfen, ist kein moralischer Politiker210, auf die die Republik angewiesen ist und die allein sie hervorbringen kann. Wer glaubt, ein Recht zu haben, Herrschaft über das Volk ausüben zu dürfen, ist in einer Republik als Amtswalter ungeeignet. Wer aber das Volk für unmündig hält, sein Schicksal zu bestimmen, verachtet das Volk. Die Griechen hatten eine demokratische Einrichtung, die Verbannung derer, die sich über das Volk gestellt haben oder auch nur zu stehen kamen; denn von ihnen drohte Gefahr für die Freiheit und Gleichheit der Griechen. Längst hat sich die politische Klasse weit von dem Volk entfernt211. Die Völker sind durch die europäische Integration entstaatlicht, ohne daß die Europäische Union trotz ihrer existentiellen Staatlichkeit (durch ihre Aufgaben und Befugnisse zur gemeinschaftlichen Ausübung der Staatsgewalt aufgrund der übertragenen Hoheitsrechte und deren vertragswidriger extensiver Nutzung) ein existentieller Staat, der nur ein zum Staat verfaßtes Volk sein kann, geworden wäre oder auch nur werden sollte. Der angestrebte existentielle Staat Europa wird nicht frei, wird nicht gleich und wird nicht brüderlich sein. Er wird, strukturell notwendig, obrigkeitlich sein, so wie es seine Politik auch schon jetzt ist. Diese entrepublikanisierte Herrschaftsordnung führt zur Neuen Sozialen Frage, weil sie, wie auch schon gegenwärtig, die Verarmung weiter Teile der Völker, insbesondere des deutschen Volkes, durch entsolidarisierende europäische und globale Integration, welche zwingend mit Entdemokratisierung verbunden ist, mit sich bringt212. Ein europäisches Europa kann um des gemeinsamen Lebens auf diesem Erdteil willen nur eine Republik der Republiken sein213, in der die Völker als nationale Republiken die Verantwortung für ihr Schicksal tragen, aber die gemeinsamen Angelegenheiten durch eine völkerrechtliche Organisation ordnen und befrieden. Die Befugnisse dieser Organisation dürfen über das unabdingbar Notwendige für das friedliche Zusammenleben der Europäer nicht hinausgehen. Der europäische Großstaat ruiniert die besten Entwicklungen der europäischen Kultur, insbesondere das Recht. Der Ökonomismus der europäischen (und globalen) Integration mag den Interessen großer Versicherungen, großer Banken und großer Industrien, insgesamt der Plutokratie, entsprechen, er mag auch die Macht der Parteiführer und der internationalistischen Bürokratie stärken. Er schadet aber den Völkern Europas. Durch materiellen Wohlstand wird der Verlust an Freiheitlichkeit, Rechtlichkeit und Staatlichkeit nicht ausgeglichen werden, vor allem aber auch nicht ausgeglichen werden können. Europa kann nur als Europa der Staaten, als lÌEurope des patries, wie das Charles de 210

Dazu Kant, Zum ewigen Frieden, ed. Weischedel Bd. 9, S. 233. H. H. v. Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, S. 21 ff., passim, ders., Das System. Die Machenschaften der Macht, S. 31 ff. 212 Dazu K. A. Schachtschneider, Grenzen der Kapitalverkehrsfreiheit, S. 253 ff., auch S. 289 ff., 308 ff.; ders., Demokratische und soziale Defizite der Globalisierung, in: H. Neuhaus (Hrsg.): Der Mensch in der globalisierten Welt. Atzelsberger Gespräche 2004, 2004 S. 9 ff.; ders., Verfassungsbeschwerde Lissabon-Vertrag, 3. Teil, C; ders., Wirtschaftsverfassung mit Welthandelsordnung, S. 624 ff. 213 Dazu K. A. Schachtschneider, Die Republik der Völker Europas, S. 153 ff. 211

Die Aushöhlung der Demokratie durch Europäische Union und Währungsunion

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Gaulle in den Mund gelegt wird, in Frieden leben. Die Europäische Union entwickelt sich zu einer Art Viertem Reich. Der Widerspruch gegen die europäische Integration wird kaum noch gehört. Er wird diffamiert, bald womöglich bestraft. Dem Deutschen Volk bleibt das Recht zum Widerstand (Art. 20 Abs. 4 GG), das ewige Recht der Menschen gegen die Tyrannis. Der Widerstand wäre eine Revolution. Revolution ist Befreiung zum Recht214, welches es ohne soziale Gerechtigkeit nicht gibt215. Jederzeit haben die Menschen das Recht auf Recht216. Meine Hoffnung ist, daß Europa seine Seele zurückgewinnt, die Selbstbestimmung der Völker, ihre Nationalität, für die sich die Völker auf die Charta der Vereinten Nationen berufen können. Die europäische Integration ist eine Fehlentwicklung Europas, wenn sie an den Prinzipien der Freiheit, des Rechts und des Staates gemessen wird.

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50 ff. 215

K. A. Schachtschneider (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 29 ff.,

K. A. Schachtschneider, Das Sozialprinzip, S. 17 ff., 31 ff.; ders., Res publica res populi, S. 234 ff.; ders., Prinzipien des Rechtsstaates, S. 103 f.; auch ders., Freiheit in der Republik, S. 636 ff. 216 K. A. Schachtschneider, Freiheit in der Republik, S. 44 ff., 281 ff.; w. H. in Fn. 132.

Volksparteien ohne Volk? Ursachen und Konsequenzen Von Gerd Langguth Die Parteien werden gerne als „machtversessen“ und „machtvergessen“ bezeichnet. Man denke an ein Verdikt des damaligen Bundespräsidenten Richard Freiherr von Weizsäcker, der allerdings in erster Linie seinem Feind Helmut Kohl galt. Wenn man sich mit Politik und Politikern beschäftigt, tut man dies sehr häufig in erster Linie im Kontrast zu den hauptberuflichen Politikern auf Bundes-, Europa- und Landesebene. Die vielen Tausende von Politikern in den Kommunalparlamenten, die nur eine dürftige Aufwandsentschädigung für viel Arbeit erhalten – an die denkt man dabei häufig nicht. Hier sind wir schon beim Thema: Vielfach gelingt es – zumindest im Osten Deutschlands – nicht mehr, genügend Kandidaten in der Kommunalpolitik aufzubieten. Die Basis der Parteien verflüchtigt sich. Zunächst müssen wir wissen, was unter „Volkspartei“ zu verstehen ist, deren Ende manche vorhersagen: I. Definition „Volkspartei“ Eine Volkspartei ist vom Typus her das Gegenteil einer Klientelpartei. Letztere bedient nur einzelne Interessen. Volksparteien hingegen zielen immer auf das Ganze der Gesellschaft. Sie orientieren sich also nicht an peripheren Interessen, sondern an den alten Ideen wie dem „Gemeinwohl“, was heißt, dass keine Gruppe der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben soll. Von einer Volkspartei sprechen wir dann, wenn sie verschiedene Milieus abdeckt und sich der kulturelle Pluralismus unserer Gesellschaft in einer solchen Partei widerspiegelt. Ein Charakteristikum von Volksparteien besteht darin, dass in ihnen eine breite Flügelbildung wirkt: In der CDU gab es immer schon drei historische Strömungen: die christlich-soziale, die liberale und die konservative. „CDU pur“ hat es nie gegeben. Peter von Zahn sagte einmal: Die CDU gleiche „eher einem englischen Garten als einem französischen Park.“ Bis zum Jahre 1959 waren die beiden Unionsparteien die einzigen Volksparteien; dann kam das „Godesberger Programm“ der SPD. Dies führte dazu, dass breitere Schichten des Volkes die SPD wählten – insbesondere im Zusammenhang mit der Ostpolitik unter Willy Brandt. Doch ist die SPD heute noch eine Volkspartei? Zumindest für die neuen Länder kann man das bezweifeln.

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II. Wahlentwicklung in Deutschland Zweifelsohne befindet sich das Parteiensystem in der Bundesrepublik Deutschland unter starkem Veränderungsdruck. Ist das aber nicht ganz natürlich? Entspricht es nicht einer generellen Tendenz zum Alarmismus, wenn immer sofort von einer „Krise“ gesprochen wird? Sicher, die stabilen, „guten alten“ Zeiten der westdeutschen Republik sind dahin, als die beiden großen Fraktionen in der Regel 90 Prozent – und das bei hoher Wahlbeteiligung – auf sich vereinigen konnten. Die höchste Wahlbeteiligung lag 1972 bei 91,1 Prozent, die Union erhielt 44,9, die SPD 45,8 Prozent der Stimmen – beide zusammen hatte also 90,7 Prozent. Das war in Zeiten hoher Polarisierung der Politik, dem Kampf Willy Brandts für seine Ostpolitik. Heute haben die beiden großen Parteien zusammen nur noch 56,8 Prozent – bei einer Wahlbeteiligung von 70,8 Prozent. Kehren wir zu den bunteren Anfängen der Bundesrepublik zurück? Bei der ersten Bundestagswahl im Jahre 1949 beteiligten sich 16 Parteien am Bundestagswahlkampf, im ersten Deutschen Bundestag waren zu Beginn der Wahlperiode elf Parteien und acht Fraktionen vertreten, am Ende dieser Wahlperiode gab es aufgrund des Integrationsprozesses in Richtung Union nur noch fünf Fraktionen. Wie bunt der erste Deutsche Bundestag 1949 war, zeigt die Tatsache, dass es neben den seither im Bundestag vertretenen Parteien CDU/CSU, SPD und FDP folgende weitere Fraktionen gab: Deutsche Partei (DP), Bayernpartei (BP), Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), Wirtschaftliche Aufbauvereinigung (WAV), das Zentrum, sowie eine Gruppe der Nationalen Rechten, sodann zwei fraktionslose Abgeordnete. Mit der 1953 bundesweit eingeführten Fünfprozenthürde wurde die Parteienfragmentierung deutlich gebremst. Mit dieser Fünf-Prozent-Hürde kam es dann zu einer Konzentration der Parteien. Der CDU und dem „Patriarchen“ Konrad Adenauer gelang es letztlich, mit Ausnahme der Liberalen, die unterschiedlichen Strömungen rechts von der SPD wie mit einer Staubsaugermethode in sich aufzunehmen. Aber was waren das für Zeiten? Es ging um die fundamentale Neuausrichtung deutscher Politik. Westbindung, wie sie Adenauer wollte, versus Neutralitätskurs, den die SPD einforderte. Für oder gegen die NATO, für oder gegen Soziale Marktwirtschaft. Zwischen den Parteien gab es damals also klare Alternativen. Politiker von Erich Ollenhauer (SPD) über Konrad Adenauer (CDU) bis hin zu „Sonntagsreden“ des Vertriebenenpolitikers Hans-Christoph Seebohm (Deutsche Partei; später CDU) – das waren Zeiten, als die Emotionen hoch gingen. Diese Polarisierung in der Ära des Ost-West-Konflikts hat sicherlich die Bindung an die Parteien erhöht. Aber schön war die Auseinandersetzung nicht immer. Lange Zeit schien es so, als würden die großen Volksparteien CDU/CSU und SPD die Wählerstimmen weitestgehend unter sich verteilen. Die dramatischen Veränderungen des Parteiensystems wurden indes immer offenkundiger. Mit dem Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag 1983 und der „Partei des demokratischen Sozialismus (PDS)“ bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen 1990 erweiterte sich

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das Parteien- und Fraktionsspektrum vermutlich für eine längere Dauer. Aus einem Drei-Fraktionen-System wurde zunächst ein Vier-Fraktionen-System, mit der Deutschen Einheit ein Fünf-Fraktionen-System. III. Kleinstparteien und Reststimmen Ein Indikator, dass die Integrationsfähigkeit der Altparteien nachließ, ist meist übersehen worden: Denn kontinuierlich erhöhte sich die Zahl der sogenannten „Reststimmen“ in den letzten Jahrzehnten, die sich in der Regel auf die kleinen und Kleinstparteien verteilen. Bei den aktuellen Wahlanalysen werden häufig die „sonstigen“ Parteien vergessen. In manchen Umfragen und Wahlstatistiken tauchen sie im Einzelnen kaum auf. Doch bei einem knappen Wahlergebnis können sie ungewollt als Mehrheitsbeschaffer für die eine oder andere Koalition fungieren. Auch zur Bundestagswahl 2009 traten viele Splitterparteien an, die an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Dennoch haben ihre Stimmen Gewicht – weil sie für Parlamentsmehrheiten unterhalb der 50-Prozent-Marke sorgen. Die geringste Zahl von Parteien, die sich am Wahlkampf beteiligten, war 1972 zu verzeichnen. Damals standen lediglich acht Parteien auf den bundesdeutschen Wahlzetteln. Nach diesem Tiefstand stieg die Zahl 1976 bereits auf 19 an, 1987 waren es 21, seit 1990 sind es in der Regel um die 30 Parteien. Am krassesten sichtbar wurde das bei den thüringischen Landtagswahlen vor sechs Jahren, wo zudem die Grünen und die FDP nicht in den Landtag zogen – 16,5 Prozent der Wählerstimmen kamen so gar nicht zur Geltung. Das reichte für Dieter Althaus und seine CDU, mit 43 Prozent die absolute Mehrheit zu erzielen. Wer eine „sonstige“ Partei wählt, die nicht über die Fünf-Prozent-Hürde kommt, kann also einen Beitrag dazu leisten, dass eine Mehrheit im Parlament deutlich unterhalb der 50-ProzentMarke möglich wird. Schon seit Jahren kann man beobachten, dass die Zahl der an den Bundestagswahlen teilnehmenden Parteien immer größer wird. Beim Bundeswahlleiter sind derzeit 103 Parteien registriert. Von ihnen wurden für die Bundestagswahlen am 27. September vorletzten Jahres insgesamt 29 Parteien zugelassen. Zwei Parteien wurden wegen des Fehlens einiger formaler Voraussetzungen nicht zugelassen, so die Partei der ehemaligen CSU-Aktivistin und einstigen Fürther Landrätin Gabriele Pauli. Zu den beim Bundeswahlleiter registrierten 103 Parteien gehören nicht nur die Traditionsparteien wie etwa CDU/CSU, SPD, FDP, Die Grünen und Die Linke, sondern auch Parteien mit zum Teil nur einer Handvoll Mitgliedern, mit teilweise ziemlich skurrilen Namen wie etwa Deutsche Partei zum Wohle des Volkes, Deutsche Realisten Partei, Warum-Partei Deutschlands, Männerpartei. Eine Technokratische Partei Deutschlands hat sich genauso registrieren lassen wie eine Partei mit dem klangvollen Titel Vorfahrt für Deutschland oder Wir Rentner machen mobil bis hin zur WIR-Partei.

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Wenn 29 Parteien zur Bundestagswahl zugelassen wurden, heißt das nicht, dass sie in allen Bundesländern gleichermaßen präsent sind. In Nordrhein-Westfalen und in Bayern sind es lediglich 20 Parteien, im Saarland oder in Sachsen sind es jeweils nur zehn Parteien. Die rechtsradikalen Parteien machen sich gegenseitig Konkurrenz, wenn auch nicht gleichzeitig in allen Bundesländern. Es treten an: die Nationaldemokratische Volkspartei Deutschlands (NPD), die Deutsche Volksunion (DVU) und die Republikaner. Ferner: Von den kleinen Parteien trat die kommunistische Splittergruppe Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) in allen Bundesländern an. Die junge Piratenpartei kandidierte mit Ausnahme des Freistaates Sachsen in allen Bundesländern. Die Partei Bibeltreuer Christen (PBC) beispielsweise trat nur in Niedersachsen, Bremen, Sachsen, Rheinland-Pfalz, Bayern und Baden-Württemberg an. Einer der Gründe für das vermehrte Auftreten von Kleinstparteien besteht sicherlich auch in einer insgesamt üppigen Parteienfinanzierung: Um am System der staatlichen Teilfinanzierung teilzunehmen, muss eine Partei bei der letzten Bundestagsoder Europawahl mindestens 0,5 % der gültigen Stimmen oder bei einer der jeweils letzten Landtagswahlen 1,0 % der gültigen Stimmen erhalten haben. In einem differenzierten System erhalten die Parteien 0,70 Euro für jede für ihre jeweilige Liste abgegebene gültige Stimme (Zweitstimme) beziehungsweise für jede für sie in einem Wahl- oder Stimmkreis abgegebene gültige Stimme, wenn in einem Land eine Liste für diese Partei nicht antrat. Für die ersten 4 Millionen Stimmen – ein Bonus vor allem für die FDP, die Grünen und die Linkspartei – erhöht sich der Wert auf 0,85 Euro. Außerdem erhalten die Parteien 0,38 Euro für jeden Euro, den sie als Zuwendung (Mitglieds- oder Mandatsträgerbeiträge sowie rechtmäßig erlangte Spenden) erhalten haben. Dabei werden jedoch nur Zuwendungen bis zu 3300 Euro je natürliche Person berücksichtigt. Die staatlichen Mittel an eine Partei können den Betrag nicht übersteigen, der sich aus den Einnahmen der Partei aus anderen Quellen wie z. B. Mitgliedsbeiträgen oder Parteispenden ergibt. Gleichwohl beträgt die absolute Obergrenze des jährlichen Gesamtvolumens der staatlichen Parteienfinanzierung 133 Millionen Euro. Das Parteienrecht gibt den Kleinstparteien zudem viele Möglichkeiten öffentlicher Präsentation – etwa durch zahlreiche kostenlose Fernsehspots. Dadurch werden Kleinstgruppen geradezu animiert, sich an Wahlen zu beteiligen. Bei der Verrechnung der „Reststimmen“ hat die stärkste Partei einen Vorteil. 2005 erhielten auf Bundesebene die „sonstigen Parteien“ 3,9 Prozent, was in der Umrechnung nach Hare/ Niemeyer dazu führte, dass theoretisch schon an die 49 Prozent für eine Mehrheitsbildung ausreichten. Auch nach dem neuen Verfahren (Sainte LaguÙ/Schepers) ist ein ähnlicher Effekt zu erwarten, vor allem deshalb, weil die Zahl der sonstigen Parteien und ihr Stimmenanteil stetig wachsen. Nicht nur die zunehmende Zahl von kleinen und Kleinstparteien ist ein Indikator für die allgemeine Zerfaserung des bundesdeutschen Parteiensystems. Ein weiterer Hinweis dafür ist, dass bei der letzten Bundestagswahl 166 Personen als Einzelbewer-

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ber in den insgesamt 299 Wahlkreisen antraten. So viele gab es noch nie. 2005 waren es noch 60 Kandidaten. Einzelbewerber haben im Wahlsystem der Bundesrepublik faktisch keine Chance, in den Bundestag zu gelangen, aber sie bestätigen den Trend, dass das Feld der Bewerber für den Bundestag bunter und vielfältiger wird. IV. Wahlbeteiligung und Nichtwähler Zweifellos haben wir Entwicklungen, die uns nachdenklich stimmen müssen. Das ist die Höhe der Wahlbeteiligung (Gesamt-Bundesrepublik 2009: 71,4 Prozent), die im Übrigen im Osten Deutschlands deutlich geringer ist als im Westen (Westdeutschland 72,9, Ostdeutschland 65,1 Prozent). Generell kann man sagen, dass in den westlichen Bundesländern eine Wahlbeteiligung von über 70 Prozent vorliegt (am höchsten in Hessen mit 73,8 Prozent, gefolgt vom Saarland mit 73, 7 Prozent), währenddessen die Wahlbeteiligung in den Neuen Ländern in Brandenburg bei 67,0 Prozent und Sachsen bei 65,0 Prozent lag. Das Schlusslicht war Sachsen-Anhalt mit 60,5 Prozent. Gelegentlich kommen noch Sonderfaktoren hinzu: So wurde die Wahlbeteiligung in Brandenburg auch durch die Tatsache beeinflusst, dass zum gleichen Zeitpunkt Landtagswahlen stattfanden (ähnlich wie in Schleswig-Holstein, das bei den Bundestagswahlen 73,6 Prozent Wahlbeteiligung hatte). Andererseits ist die Höhe der Wahlbeteiligung nicht alleine ein Indikator für Zustimmung zur Politik und zur Institution Demokratie. Allerdings wissen wir im Prinzip zu wenig über die Motive der Nichtwahl. Ich kenne persönlich eine Reihe von Nichtwählern oder temporären Nichtwählern, die das nicht als eine Absage an die Demokratie als Institution verstanden wissen wollen, sondern eher als einen Protest gegenüber derjenigen Partei, die sie bislang gewählt haben. Die Nichtwahl-Situation ist bei vielen so etwas wie ein Warteraum, bei dem man sich entscheidet, ob man bei der nächsten Wahl eine andere Partei wählt oder wieder zurück zu alten geht. Im Übrigen gibt es auch hart gesottene Nichtwähler, die zwar gut im gesellschaftlichen Leben integriert sind, sich selber jedoch als absolut unpolitisch empfinden. Insgesamt kann man sagen, dass Menschen mit niedriger Bildung weniger dazu neigen, zur Wahl zu gehen. Auch liegt in den Stadtteilen, in denen viele Bürger von Transferleistungen abhängig sind, eine niedrigere Wahlbeteiligung vor. In Köln war etwa bei den Landtagswahlen vom Mai 2010 in dem „Problemviertel“ Köln-Chorweiler eine Wahlbeteiligung von 32 Prozent zu verzeichnen, in dem „betuchteren“ Köln-Hahnwald waren es jedoch 78 Prozent. Die Wahlforschung zeigt, dass etwa Frauen häufiger Wahlverweigerer sind als Männer, Ostdeutsche häufiger als Westdeutsche, Geringverdiener öfters als Bessergestellte und Wahlberechtigte mit niedriger formaler Bildung häufiger als höher Gebildete. Die Motive hinsichtlich der Nichtteilnahme an Wahlen sind mit diesen Hinweisen jedoch nicht klar. Ich kenne manche Nichtwähler, die nicht generell politikverdrossen, allenfalls wahlverdrossen sind. 84 Prozent der Nichtwähler geben als wichtigstes Motiv für ihre Wahlenthaltung an, Parteien und Politiker überzeugten

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sie nicht; rund drei Viertel meinen, der Wahlkampf spreche sie nicht an. Viele Nichtwähler bekennen sich nicht zur zu ihrer Wahlabstinenz. Befragungen nach dem Wahlverhalten beim letzten Urnengang führen zu einem erheblich geringeren zugegebenen „Nichtwähleranteil“, als dieser bei der Wahl tatsächlich betragen hatte. Hohe Wahlbeteiligungen sind im Übrigen auch das Zeichen einer sehr polarisierten Situation, so etwa kurz vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Auch wenn dem manche sicher nicht zustimmen: Man kann sogar sagen, dass eine geringere Wahlbeteiligung auch ein Stück weit Zufriedenheit mit der politischen Ordnung wiedergibt. Im internationalen Vergleich ist die Höhe der Wahlbeteiligung in Deutschland keine Besonderheit. Einige ausgewählte Beispiele zeigen, wie differenziert die Situation je nach Land zu betrachten ist: Bei der letzten Parlamentswahl in Schweden im September 2010 gingen 82 Prozent zur Wahl. Generell kann man sagen, dass das Königreich eines der europäischen Länder ist, das an der Spitze der Wahlbeteiligungen in Europa liegt (2006: 81,99 Prozent; 2002: 80,1 Prozent). In Großbritannien, dem „Mutterland der Demokratie“, gingen 2010 hingegen lediglich 65,1 Prozent zur Wahlurne (2005: 61,3 Prozent). Belgien, wo indes Wahlpflicht vorliegt, liegt mit einer Wahlbeteiligung von über 90 Prozent deutlich über dem Schnitt der gesamten Union und hat auch von allen Einzelstaaten den kleinsten Nichtwähleranteil. Belgische Bürger müssen an Wahlen teilnehmen, andernfalls droht eine Geldstrafe von 50 Euro. In Österreich lag bei den Nationalratswahlen des Jahres 2008 eine Wahlbeteiligung von 78,8 Prozent vor. Bei den Nationalratswahlen der Schweiz gab es 2007 lediglich eine Wahlbeteiligung von 49, 9 Prozent. Bei den Präsidentschafts- und Kongresswahlen der Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 2008 wurde eine Beteiligung von 66,6 Prozent vermeldet – die höchste Beteiligungsrate seit Jahrzehnten. Zum Vergleich: 1996 lag die Wahlbeteiligung lediglich bei 49 Prozent, 2000 waren es 50,3 Prozent, 2004 55,5 Prozent. V. Gesellschaftliche Entwicklung Die Entwicklung der Parteien ist ohne Hinweis auf die gesellschaftliche Entwicklung nicht zu verstehen. Wir haben dramatische gesellschaftliche Veränderungen, die alle Großinstitutionen unserer Republik beeinträchtigen. Mit dem Schwinden des Einflusses sinnstiftender Institutionen wie etwa der Kirchen, aber auch der Gewerkschaften, verschwand eine äußere Klammer, die zum Zusammenhalt der Gesellschaft beitrug. Die Bedrohung durch den Osten während des Kalten Krieges hat Ulrich Beck (in: Eigenes Leben: Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft in der wir leben) wie folgt beschrieben: „An die Stelle des Gleichgewichts des Schreckens tritt so das Gleichgewicht der Nörgler – alle sind uneins mit allem und allen. Nicht der ewige Frieden, sondern der ewige Streit hebt die kulturelle Ernstfallbereitschaft auf. Mit fortschreitender Individualisierung könnte so zum ersten Mal in der Geschichte der Satz wahr werden: Staaten, die bellen, beißen nicht.“

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Wir haben zwei Großtendenzen, nämlich die der Individualisierung auf der einen Seite sowie der Pluralisierung der Lebensstile auf der anderen. Pflicht- und Akzeptanzwerte verloren ständig an Bedeutung, währenddessen gleichzeitig Selbstentfaltungswerte und individuelle Interessen besonders für junge Menschen immer wichtiger wurden. Immer größer wird der Anteil des Typus des Wählers, der sich von der Stimmabgabe für eine bestimmte Partei persönliche Vorteile verspricht. Das hat Anthony Dowens schon vor Jahrzehnten in der „Ökonomischen Theorie des Wählens“ beschrieben (Anthony Dowens, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968). Hinzu kommt, dass die Komplexität der politischen Probleme eher zunimmt, die Erklärungsfähigkeit der Politik jedoch ab. Das Lösungsversprechen der Politik, die sich für allzuständig erklärt, kann nicht eingehalten werden. Viele Fragen wandern auf die europäische oder transnationale Ebene aus. Ein weiteres Momentum der Politikverdrossenheit ist der vielfach festzustellende Traum von einer im Grunde genommenen „unpolitischen Politik“, wie sie schon Thomas Mann in seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ beschrieb. Gefordert wird eine Politik, die von Harmonie und dem Streben nach Überparteilichkeit geprägt ist, die auf hohem ethischen und moralischen Niveau steht. „Runde Tische“ stehen hoch im Kurs. Die gegenwärtige Streitschlichtung zu „Stuttgart 21“ entspricht dem romantisierenden Ideal des Einsatzes greiser Überväter – in diesem Falle von Heiner Geißler –, die nur an die „Sache“, an das Gemeinwohl, nicht aber an die persönliche Macht denken. Konflikte, die in einer Partei ausgetragen werden, werden häufig als eher abstoßend empfunden, obwohl Konflikte – inner- wie außerparteilich – das Normalste in einer Konfliktdemokratie, in der wir nun mal leben, sind. Konflikte in einer Partei – vielleicht noch am wenigsten bei den „Grünen“ – werden als Schwäche derselben aufgefasst, obwohl Konflikte das Parteileben erst interessant machen. Nebenbei bemerkt: Wir haben in Deutschland eine politische Diskussionskultur, die sehr stark vom Konventionellen als einer Art Leitkultur der Debattenkultur geprägt ist. Der Konsens ist ein Wert an sich. Jede dissidente Meinung, die von der „political correctness“ abweicht, wird als „Provokation“ empfunden. VI. Konsequenzen Nach Ansicht des einstigen grünen Außenministers Joseph Fischer sind die Parteien „unfruchtbar, sind nicht fortpflanzungsfähig im Sinne wissenschaftlicher, kultureller Neugierde“. Sind Parteien, so sollte man fragen, überhaupt reformierbar? Aber was sollte, was könnte an die Stelle von politischen Parteien treten? Das Grundproblem: Programmatisch sind die Parteien verkümmert, weil sie nicht wagen, ihre Kernkompetenzen im Sinne eines Alleinstellungsmerkmals gegenüber anderen Parteien herauszudestillieren. Das gehört aber zum Kernbereich jeder Führung. Auf der anderen Seite zeichnen sich Volksparteien schon immer durch eine programmatische Unschärfe aus, weil sie nur so die ganze Bandbreite der Gesellschaft erreichen. Je schwieriger allerdings das Wahlverhalten prognostizierbar wird, umso

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komplexer sind die strategischen Herausforderungen für die jeweiligen Parteiführungen. Eine breite innerparteiliche Diskussion muss auch „von oben“ gefördert werden. Welche Konsequenzen sollten gezogen werden? a) Wir sollten in pauschaler Form nicht zulassen, dass Politik als ein „schmutziges Geschäft“ bezeichnet wird. Wir sollten mehr, insbesondere junge Menschen, dazu motivieren, dauerhaft – also im Rahmen einer politischen Partei – politisch aktiv zu werden. Die pauschale Aussage, dass sich die Parteien den Staat „zur Beute“ gemacht haben, sollte – trotz mancher berechtigter Argumente – immer wieder neu überprüft werden. Nur wenn es genügend Parteimitglieder gibt, sind die Parteien auch tatsächlich in der Bürgerschaft verwurzelt. Der Rückgang von Parteimitgliedschaften ist jedenfalls alarmierend; es fehlen „Botschafter“ von politischen Überzeugungen in der Gesellschaft. b) Politik und Parteien müssen sich auf ihre Kernaufgaben beschränken. Die Parteien müssen auch die Grenzen ihrer eigenen Kompetenz eingestehen. Die Parteien müssen den Auftrag des Grundgesetzes, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, ernst nehmen. Welche gesellschaftlichen Institutionen könnten an ihre Stelle treten? Sind nicht Parteien – zumindest prinzipiell – mehr dem Gemeinwohl verpflichtet als einzelne bürgerschaftliche Organisationen, die häufig genug nur an einzelne Interessen denken? Schon Niklas Luhmann hat darauf hingewiesen, dass die Bürgergesellschaft keine „Verlegenheitsalternative“ ist. Bürgergesellschaft und Parteien, darauf kommt es an! c) In der praktischen Politik der Gegenwart haben wir es mit so etwas wie einer „desorientierenden Pragmatisierung“ zu tun. Parteien brauchen so etwas wie einen Markenkern, gewachsene Grundüberzeugungen, ja so etwas wie einen „ideologischen Background“, auf dem Ideen und Visionen entstehen können. Der Pragmatismus ist zwar einerseits der Komplexität der Probleme geschuldet, andererseits aber führt das dazu, dass die Politik immer weniger kommunikabel ist. Der Politik fehlen sicht- und vermittelbare Zukunftsvorstellungen unserer Gesellschaft, die ideell begründet und klar formuliert werden. Das Phänomen der besonderen Wirkung etwa eines Joachim Gauck oder eines Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg bestätigt, dass es zudem eine gewisse Sehnsucht nach unabhängigen, charismatischen Führungsfiguren statt Technokraten der Macht gibt. Politiker müssen wieder über die von Max Weber eingeforderten Fähigkeiten verfügen: Leidenschaft, Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein. d) Insbesondere muss der Charakter einer Volkspartei wieder sichtbarer werden, auch muss deutlich werden, dass sich Volksparteien per se von kleineren klientelistischen Parteien unterscheiden. Wäre der Bundestag in erster Linie eine Ansammlung von Fraktionen, die sich an eher klientelistischen Interessen orientieren, wäre damit die Fragmentierung unserer Gesellschaft auch symbolhaft vollzogen. e) Wir brauchen eine Verlebendigung der Parteien (Ämtertrennung, Amtszeitbegrenzung, Vorwahlsystem). Manche Selbstüberschätzung von Politikern und Parteien rührt auch daher, dass es in unserer Leistungs- und Erfolgsgesellschaft keine „Kul-

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tur des Verlierens“ gibt. Wichtige Funktionsträger von Parteien sind – wenngleich aus einsichtigen Gründen – so abgesichert, dass ihnen trotz eventueller großer Wahlverluste ihrer Partei wenig passiert. Aber das Abberufen durch den Wähler gehört auch zu einer Demokratie. Die Parteimitgliedschaft muss zudem „interessanter“ gemacht werden. Ein Großteil des jugendlichen Idealismus wird aber teilweise schon in den Strukturen der kommunalen Parteiorganisationen ausgebremst. Der Karriereweg in einer Partei steht meist im Gegensatz zum Erfordernis eines modernen Querdenkertums. Wer mit zu eigenständigen Positionen in der politischen Diskussion aufwartet, gilt leicht als unberechenbar. Parteien müssen sich mehr als Denkfabriken verstehen, die kluge Leute versammeln und vernetzen wollen. Das spricht junge Menschen an und wäre zugleich ein enormer Gewinn für den intellektuellen Output einer Partei. f) Die Forderung nach plebiszitären Entscheidungsmechanismen auf Bundesebene führt in die Irre, da viele Fragen nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantwortet werden können. Plebiszite sind Ausdruck von Einzelinteressen – meistens um etwas Neues zu verhindern –, währenddessen sich Parteien, insbesondere Volksparteien, am Gemeinwohl orientieren müssen. g) Wir brauchen ein Wahlrecht, das eine klare Mehrheitsbildung erleichtert, ohne dass kleinere Parteien vom politischen Erdboden verschwinden. Ein reines Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien hätte zur Folge gehabt, dass nach den letzten Bundestagswahlen von 2009 weite Teile der politischen Landschaft von Unionspolitikern repräsentiert würden. Gleichzeitig sollte darüber nachgedacht werden, dass der Wähler auch eine Vorzugsstimme auf einer Landesliste vergeben kann. Auch kann ein Konzept von Vorwahlen dazu beitragen, dass „bessere“Abgeordnete ins Parlament geschickt werden. Die Auswahl von innerlich unabhängigen Abgeordneten ist nur dann möglich, wenn die politischen Parteien nicht einen „closed shop“ darstellen, sondern wenn auch die Bereitschaft zur Mitgliedschaft besteht. Die zahlenmäßige Begrenzung von Parteiämtern ist notwendiger denn je. h) Prinzipiell sollte darüber nachgedacht werden, wie unsere Demokratie neu organisiert werden kann. Die Föderalismusreform ist auf halber Strecke stecken geblieben. Solange die Bundesländer keine eigene Finanzautonomie haben, bleiben sie hoch entwickelte Verwaltungseinheiten des Bundes. Wir haben neben dem Bundesrat in unserer Republik viele Veto-Spieler (Bundesverfassungsgericht als ein Ersatzgesetzgeber, Lobby, Medien), die alle ihre Legitimation haben. Die Bundesrepublik Deutschland ist jedoch faktisch eine Konsensdemokratie, in der politische Führung – auch durch die Tatsache, dass seit 1949 alle Bundesregierungen Koalitionsregierungen waren – äußerst erschwert ist. Neben der Einführung eines mehrheitsbildenden Wahlrechts sollte darüber nachgedacht werden, ob nicht ein Präsidialsystem größere Vorteile für die Effizienz des Regierens hätte.

Autorenverzeichnis1 Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Arnulf Baring, Freie Universität Berlin Prof. Dr. Heinz-Günther Borck, Universität Trier Prof. Dr. Karsten Fischer, Ludwig-Maximilians-Universität München Prof. Dr. Hermann K. Heußner, Fachhochschule Osnabrück Prof. Dr. Gerd Langguth, Staatssekretär a.D., Universität Bonn Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Sahra Wagenknecht, Mitglied des Deutschen Bundestags, Berlin Prof. Dr. Joachim Wieland, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

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Stand Oktober 2010.