Demokratie vor neuen Herausforderungen: Vorträge und Diskussionsbeiträge auf dem 1. Speyerer Demokratie-Forum vom 29. bis 31. Oktober 1997 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428496938, 9783428096930

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Demokratie vor neuen Herausforderungen: Vorträge und Diskussionsbeiträge auf dem 1. Speyerer Demokratie-Forum vom 29. bis 31. Oktober 1997 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428496938, 9783428096930

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Demokratie vor neuen Herausforderungen

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 130

Demokratie vor neuen Herausforderungen Vorträge und Diskussionsbeiträge auf dem 1. Speyerer Demokratie-Forum vom 29. bis 31. Oktober 1997 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

herausgegeben von

Hans Herbert von Amim

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Demokratie vor neuen Herausforderungen : Vorträge und Diskussionsbeiträge auf dem 1. Speyerer Demokratie-Forum vom 29. bis 31. Oktober 1997 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer / hrsg. von Hans Herbert von Arnim. - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriftenreihe der Hochschule Speyer ; Bd. 130) ISBN 3-428-09693-2

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-09693-2 Gedruckt auf aIterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 §

Inhaltsverzeichnis Vorwort des Herausgebers .............................................................

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Begrüßung durch den Rektor der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Siegfried Magiera .....................................................................

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Einführung in das Tagungsthema von Hans Herbert von Amim ........................

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I. Kritische Bestandsaufnahme Fünf Jahre Demokratiediskussion in Deutschland - Hoffnung oder Resignation? Von Robert Leicht........................................................... . .......

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Perspektiven für Demokratie und Wirtschaft - Die Vordergründigkeit des Diskurses in unserer Politik Von Erwin K. Scheuch ..............................................................

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Wer ist schuld an der Reformblockade? Von Johannes Willms .... . ............... . ...........................................

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Bürgerpartizipation - Nachfrage ohne Angebot? Von Ola/Winkel .....................................................................

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Besonderheiten der Demokratie auf Gemeindeebene Von Hans-Georg Wehling ...........................................................

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11. Praktische Umsetzung demokratischer Reformkonzepte Siegeszug direktdemokratischer Institutionen als Ergänzung des repräsentativen Systems? Erfahrungen der 90er Jahre Von OtmarJung ..... ................................................................ 103

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Inhaltsverzeichnis

Ein Volksentscheid über den Bürgerentscheid: Die Einführung kommunaler Bürgerentscheide in Bayern Von Carsten Nemitz ........•........................................................ 139 Fünf Wege zur bürgernahen Demokratie Von Karlheinz Niclauß .............................................................. 161 Demokratiereform als Standortfrage. Ökonomische Auswirkungen falscher politischer Entscheidungsstrukturen Von Gerd Habermann ............................................................... 169 Die Demokratie braucht endlich den Bürger - Das Modell Planungszelle Von Peter C. Dienel ................................................................. 177 Mehr Demokratie in der Bildungspolitik. Das Beispiel Schulorganisation Von Gerhard Pfreundschuh . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

III. Demokratie-Konzepte der politischen Parteien Peter Caesar, F.D.P. ................................................................... 205 Amim Grein, Freie Wähler Bayern ..................................................... 208 Peter Müller, CDU ..................................................................... 212 Peter Porsch, PDS ...................................... .. ......................... .. .. 218 Michael Vesper, DIE GRÜNEN ........................................................ 221 Hans-Jochen Vogel, SPD .............................................................. 223

Verzeichnis der Autoren ............................................................... 227

Vorwort des Herausgebers Im Jubiläumsjahr der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer (gegründet 1947) fand vom 29. bis 31. 10. 1997 erstmals das "Speyerer Demokratieforum" statt. Auf dieser dreitägigen Fortbildungsveranstaltung referierten Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Verwaltung, Wirtschaft, Politik und Presse über grundlegende und aktuelle Fragen der Demokratie. Fragen der ,Herrschaft des Volkes' werden heute so heiß und kontrovers diskutiert wie kaum ein anderer Themenbereich. Der zunehmende und zunehmend evidente Problemdruck, den ungelöste Fragen unausweichlicher gesellschaftlicher (Um-)Gestaltungen ausüben, läßt die sogar von ,höchster Stelle' beklagte Problemlösungsschwäche unserer politischen Hauptakteure in einem neuen Licht erscheinen. Gleichzeitig sind Partizipationswille und -fähigkeit unserer Staatsbürger, glaubt man einschlägigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen, ungebrochen stark. Die tatsächlichen politischen Einflußmöglichkeiten des Volkes bleiben dahinter jedoch zurück. Die aus verschiedenen Perspektiven vorgetragenen Analysen der Probleme der heutigen Demokratie lieferten die Basis zur Erörterung von Reformvorschlägen, wie etwa die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene, von Kumulieren und Panaschieren auch bei Landtags- und Bundestagswahlen und der Direktwahl der Ministerpräsidenten der Länder. Aber auch Themen wie innerparteiliche Demokratie, Demokratie in der Schule und das Konzept der Planungszelle wurden erörtert. Besonderes Augenmerk galt den Möglichkeiten der praktischen Umsetzung von Reformen, wobei positive Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit im Bereich der direkten Demokratie für die Diskussion fruchtbar gemacht werden konnten. In einer Podiumsdiskussion hochrangiger Politiker wurden die Demokratie-Konzepte der politischen Parteien einbezogen, wobei die Stellungnahmen der Podiumsteilnehmer aber nicht selten darüber hinausgingen. In dem vorliegenden Tagungsband sind sämtliche in Schriftform zur Verfügung stehenden Vorträge der Tagung, teilweise in leicht überarbeiteter Fassung, wiedergegeben, um diese einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und damit einen Beitrag zur Analyse von Schwachstellen und zur Reform der Demokratie zu leisten. Hans Herbert von Amim

Begrüßung durch den Rektor der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Universitätsprofessor Dr. Siegfried Magiera Meine sehr geehrten Damen und Herren, im Namen der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer und zugleich persönlich begrüße ich Sie herzlich zu dem ersten Speyerer Demokratieforum, das unter dem Leitthema "Demokratie vor neuen Herausforderungen" steht. Ich freue mich, daß unsere Einladung auf so große Resonanz gestoßen ist und einen so hervorragenden Kreis von Referenten und Teilnehmern zusammengeführt hat. Mein Dank gilt Herrn Professor von Arnim dafür, daß er das Thema "Demokratie" in den Mittelpunkt einer Veranstaltungsreihe stellt, die hier und heute ihren Ausgang nimmt und, wenn sie weiterhin auf den erwarteten Zuspruch stößt, regelmäßig fortgesetzt werden soll. Daß dem Speyerer Demokratieforum eine erfolgreiche und dauerhafte Zukunft bevorsteht, dürfte kaum zweifelhaft sein. Dafür spricht die Person seines wissenschaftlichen Leiters ebenso wie sein Gegenstand. Das Demokratieprinzip gehört zu den änderungsfesten, nicht aber fest umrissenen Grundprinzipien unserer Verfassung, Herr von Amim zu seinen intensivsten Erforschern und herausragendsten Verfechtern. Wie kaum einem anderen Hochschullehrer ist es ihm gelungen, mit seinen Thesen zur Demokratie in Staat und Gesellschaft nicht nur die akademische Fachwelt zu interessieren, sondern auch Politik und breite Öffentlichkeit zu mobilisieren. Dazu trug nicht zuletzt seine Rektoratsrede an dieser Hochschule bei, die er vor knapp vier Jahren unter die herausfordernde und nicht nur rhetorisch gemeinte Frage stellte: "Hat unsere Demokratie Zukunft?". Die Antwort lautete zwar "ja", aber nur, wenn gewisse Voraussetzungen erfüllt sind, vor allem "dem Volk die erforderlichen Äußerungsformen gegeben werden." Daß dies nicht die letzten und abschließenden Worte zur Zukunft der Demokratie in Deutschland sein sollten und wohl auch nicht sein konnten, zeigt sich daran, daß Herr von Arnim das Speyerer Demokratieforum ins Leben gerufen hat. Selbstverständlich ist auch dieses, wie wir dem Rahmentherna, den Einzelthemen und der Auswahl an Referenten entnehmen können, so angelegt, daß es eine lebhafte und kontroverse Auseinandersetzung garantiert. Jedes Einzelthema reizt den Staats- und Europarechtler zur Stellungnahme. Doch erlaubten es die Zeit und auch die gebotene Zurückhaltung bei einer Begrü-

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Siegfried Magiera

ßung der Gäste nicht, auf Einzelheiten einzugehen. Gestatten Sie mir lediglich zwei Anmerkungen. Trotz aller Anstrengungen ist es bisher nicht gelungen, über den maßgeblichen Leitgedanken des Demokratieprinzips Einigkeit zu erzielen. Ist es die unmittelbare oder die mittelbare Volksherrschaft, das einfache oder das gesteigerte Mehrheitsprinzip oder etwas anderes? Selbst wenn es das eine oder das andere sein sollte, was bedeutet dann Volks- oder Mehrheitsherrschaft? Wo liegen vor allem deren Grenzen? Da auch Demokratie eine Herrschaftsform ist, kommt dem Minderheitsschutz eine besondere Bedeutung zu. Kann das Demokratieprinzip diesen Schutz gewährleisten oder bedarf es dazu anderer Prinzipien? Das Grundgesetz jedenfalls gewährleistet nicht nur das Demokratieprinzip als unabänderlich, sondern auch andere Prinzipien und darüber hinaus die Menschenwürde und einen Mindestbestand an Menschenrechten. Herrschaft unter dem Grundgesetz ist deshalb demokratisch und zugleich rechts staatlich, föderal und sozial sowie im Dienste des Menschen auszuüben. Sie ist eine schwierige, aber auch lohnenswerte Daueraufgabe, die durch die verfassungsrechtlich fest verankerten "checks and balances" gegenüber vordergründiger Vereinfachung und damit verbundener Mißbrauchsgefahr geschützt ist. Das bringt mich zu meiner zweiten Anmerkung, die sich auf das Demokratieprinzip in der Europäischen Union bezieht. Die soeben angedeuteten Schwierigkeiten, die mit der Umschreibung und Einordnung des Demokratieprinzips im Rahmen der traditionellen Strukturen staatlicher Hoheitsgewalt verbunden sind, finden sich auch und in besonderer Weise im Rahmen der neuartigen Strukturen gemeinschaftlicher Hoheitsgewalt. Aus dem demokratischen Defizit, das im allgemeinen eher nüchtern, wenn auch unterschiedlich akzentuiert, für die Europäische Union und dort vorrangig mit Blick auf das Europäische Parlament festgestellt wird, ist nunmehr - ausweislich des Programms der Tagung - ein demokratisches Fiasko geworden. Ob bei der Europäischen Union ein demokratisches Defizit, ein demokratisches Fiasko oder keines von beidem besteht, hängt von der Meßlatte ab, die angelegt wird. Damit ist jedoch noch nicht entschieden, welches die geeignete Meßlatte ist. Erinnert sei nur an die willkürliche Meßlatte, die von manchem Kritiker während der Weimarer Zeit an das Parlament angelegt wurde. Die zutreffende Meßlatte für die Europäische Union und die von ihr umfaßte Europäische Gemeinschaft zu finden, ist besonders schwierig. Die Union ist kein Staat und auch nicht darauf festgelegt, ein solcher zu werden, sondern ein Gemeinwesen ohne Vorbild, das einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker anstrebt. Deshalb verbietet sich eine unbesehene Übernahme staatlicher Strukturen und Prinzipien für den Bereich der Europäischen Union. Andererseits übt die Union wie die Staaten einseitig Hoheitsgewalt aus, so daß es folgerichtig erscheint, sie an

Begrüßung

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diejenigen Prinzipien zu binden, die sich bei der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt bewährt haben, wenn diese Prinzipien den Besonderheiten der Union angepaßt werden. Dazu gehören neben dem Demokratieprinzip vor allem das Rechtsstaatsprinzip und das Prinzip des Föderalismus. Diese Prinzipien sind im Unionsrecht verankert und durch die Organe der Union, insbesondere das Parlament, den Rat und den Gerichtshof, zu wahren und zu festigen. Selbstverständlich gibt es insoweit, wie könnte es bei einem Gemeinwesen im Werden anders sein, noch Unzulänglichkeiten und Verbesserungsmöglichkeiten. Nicht zu verkennen ist jedoch, daß mit der zunehmenden Übertragung von Aufgaben und Befugnissen auf die Europäische Union auch das demokratische, das rechtsstaatliche und das föderale Prinzip gestärkt worden sind, zuletzt durch die Vertragsergänzungen von Maastricht und von Amsterdam. Eine kritische Würdigung des Demokratieprinzips auf Unionsebene muß zudem nicht nur die Frage nach Inhalt und Grenzen des Demokratieprinzips im allgemeinen stellen, sondern auch nach dessen Verwirklichung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Sind demnach die Stellung und die Funktionen des Europäischen Parlaments an den Gegebenheiten in Deutschland, in Frankreich, im Vereinigten Königreich oder in einem anderen Mitgliedstaat zu messen oder vielleicht querschnittsartig an den Gegebenheiten in allen Mitgliedstaaten? Im Ergebnis dürfte die Antwort auf die Frage nach der Verwirklichung des Demokratieprinzips auf Unionsebene nicht leichter fallen als auf der zuvor angesprochenen staatlichen Ebene. Diesen und den zahlreichen weiteren Problemen, die sich für die Demokratie angesichts neuer Herausforderungen auf staatlicher und auf europäischer Ebene stellen, vertieft nachzugehen statt sich mit plakativen Wertungen zu begnügen, wird Reiz und Aufgabe des Speyerer Demokratieforums in dieser Woche sein. Ihnen allen, meine Damen und Herren, wünsche ich dazu anregende und ergebnisreiche Gespräche innerhalb und am Rande der Tagung. Eine verantwortungsvollere Aufgabe, als die Demokratie und andere tragende Prinzipien unseres Gemeinwesens zu überprüfen, kann es kaum geben. Ich freue mich deshalb, wenn die Hochschule Speyer dafür ein geeignetes Forum und förderliches Ambiente bieten kann.

Einführung in das Tagungsthema Von Hans Herbert von Amim Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist mir eine große Freude, Sie heute zum 1. Speyerer Demokratieforum begrüßen zu können. Die Tagung fällt ein wenig aus dem üblichen Rahmen der Hochschule, die sich sonst vor allem mit "der Verwaltung" befaßt. Hohe Verwaltungsbeamte sind auch heute unserer Einladung gefolgt - und darüber freue ich mich sehr! Aber der hier versammelte Kreis ist doch sehr viel umfassender: Ich begrüße besonders auch die hochrangigen Vertreter der Politik, der Medien, der Verbände, der politischen Bildung, der Verlage, die Teilnehmer aus Wirtschaft und Beratung, nicht zuletzt aber auch die anwesenden engagierten Bürger. Besonders herzlich begrüße ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus meinem Demokratieseminar dieses Sommersemesters, die sich nach dem Studium in Speyer die Teilnahme an dieser Fortbildungsveranstaltung nicht haben nehmen lassen. Kennzeichen der Speyerer Hochschule ist - jedenfalls der Idee nach - ein fächerübergreifender wissenschaftlicher Ansatz, die Verbindung von Wissenschaft und Praxis und die Betonung der Fortbildung auch nach Abschluß des Studiums. Diese drei Elemente sollen in unserer Tagung zusammenfließen. Im Verlauf des dreitägigen Forums wollen wir versuchen, den Problemstand aufzuarbeiten, aber auch mögliche Rezepte und Therapien zu diskutieren. Wir würden uns wünschen, daß Tagungen wie diese zu einem Kristallisationspunkt für Bemühungen um eine Verbesserung der Demokratie werden. Die Tagung wird eröffnet von Persönlichkeiten, die - sozusagen als eye-opener - die Öffentlichkeit auf bestimmte Probleme gelenkt haben. Einen besonders wichtigen Anstoß zum Überdenken unserer Demokratie gab Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1992 in einem Buch, das seinerzeit vorab in der Wochenzeitung Die Zeit abgedruckt und vom Chefredakteur der Zeit, Robert Leicht, seinerzeit präsentiert wurde. Ich begrüße Herrn Leicht ganz herzlich. Im gleichen Jahr veröffentlichte Erwin K. Scheueh, Soziologieprofessor in Köln, (zusammen mit seiner Frau Ute) seinen Bestseller "Cliquen, Klüngel und Karrieren", ein Titel, der inzwischen zum geflügelten Wort geworden ist. Ich begrüße Herrn Scheueh.

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Wie eine Bombe schlug im Jahre 1992 auch das Urteil des Verfassungsgerichts Hamburg ein, das die Bürgerschaftswahlen für verfassungswidrig erklärte. Bei den Neuwahlen zog die neu gegründete Statt-Partei, mit der sich damals viele Hoffnungen verbanden, in die Bürgerschaft ein. Spiritus rector war Markus Wegner. Ich begrüße Herrn Wegner sehr herzlich. In den drei Referaten des heutigen Nachmittags spiegelt sich die seitherige Erfahrung aus heutiger Sicht wider. Wenn man Demokratie mit Abraham Lincoln als Regieren durch das Volk und für das Volk definiert, hat das Demokratie-Thema zumindest zwei Seiten: die Herstellung inhaltlich möglichst ausgewogener und problemadäquater Entscheidungen und die Mitwirkung der betroffenen Bürger. Dem ersten Komplex ist der morgige Vortrag von Bundesminister a. D. Hans Apel, jetzt Professor an der Universität Rostock, gewidmet, der - neben vielem anderen - vor einigen Jahren mit seinem Bestseller "Die deformierte Demokratie" hervorgetreten ist. Ich begrüße Herrn Apel sehr herzlich. Johannes Willms, der Feuilleton-Chef der Süddeutschen Zeitung, wird sich heute abend auf dem Hambacher Schloß dem Thema "Reformblockade" widmen. Mit dem Hambacher Schloß haben wir eine symbolische Wiege der Demokratie - viele gibt es davon in Deutschland ja nicht - in unsere Veranstaltung einbezogen. Ein Beobachter hat bemerkt, daß gute Journalisten bei der Analyse der Politik der Politikwissenschaft oft um Längen voraus sind - und das hat nicht irgendwer gesagt, sondern der Vorsitzende der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft, Michael Greven. Um so mehr freue ich mich, daß es der Hochschule gelungen ist, mit Robert Leicht und Johannes Willms zwei der profiliertesten deutschen Journalisten zu gewinnen und daß wir auch im Plenum kongeniale Gesprächspartner aus den Medien haben. Das Wort "Reformblockade", das derzeit in vielen Leitartikeln auftaucht, scheint mir ein geeigneter Kandidat für das "Wort des Jahres 1997" zu sein. Ein - geradezu symptomatisches - Beispiel ist die Steuerreform. Obwohl sich dem Charme der Idee, die vielen Steuervergünstigungen zu beseitigen und gleichzeitig die Tarife erheblich zu senken und dadurch mehr Transparenz und mehr Gerechtigkeit zu schaffen, in der Theorie kaum einer entziehen kann, ist ihre Umsetzung gescheitert. Inzwischen erweist sich das Scheitern der Steuerreform auch wirtschaftspolitisch und fiskalisch als verhängnisvoll. Die hohen nominellen Steuersätze veranlassen immer mehr Steuerzahler, die gewichtigen Steuervergünstigungen auch wahrzunehmen oder ihr Einkommen auf andere Weise zu verlagern, was nicht nur zur volkswirtschaftlichen Fehlleitung knapper Resourcen beiträgt, sondern auch dazu, daß das Aufkommen besonders der veranlagten Einkommensteuer und Körperschaftsteuer - trotz hoher und zunehmender Unternehmensgewinne - rückläufig ist. Die Besteuerungsbasis erodiert, so daß von Halbjahr zu Halbjahr die Zahlen

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über eingegangene oder zu erwartende Steuereinnahmen nach unten korrigiert werden müssen. Bundespräsident Herzog hat in seiner Berliner Rede im April dieses Jahres gesagt: "Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem". Auf die Gründe ging er allerdings nicht ein. Lag es vielleicht daran, daß wir auch das System der politischen Willensbildung überprüfen müssen, was Herzog als oberster Repräsentant des Systems aber nicht aussprechen konnte? Müssen wir unser Wahlrecht überdenken und unsere spezifische Ausprägung des Föderalismus? Und merken wir plötzlich, daß solchen Systemänderungen die Eigeninteressen der politischen Klasse entgegenstehen, die sich wie eine Lehmschicht über derartige Möglichkeiten legen? So recht Herzog hat, daß Reformen notwendig sind und alle Besitzstände auf den Prüfstand müssen, so sehr ist zu fragen, ob nicht vielleicht die Reform des politischen Systems am dringendsten und die Besitzstände der politischen Klasse am aller überprüfungsbedürftigsten sind. Bezeichnend für das Umschlagen der öffentlichen Meinung in dieser Schlüsselfrage scheint mir, daß die gemeinsame Kommission des Bundestags und des Bundesrats zur Reform des Grundgesetzes noch vor vier Jahren wenig zustande gebracht hat, daß jetzt aber ihr damaliger Vorsitzender Rupert Scholz plötzlich in Interviews mit Magazinen mit grundstürzenden Vorschlägen, etwa zur Reform des Föderalismus, hervortritt. Wie die politischen Parteien auf die Herausforderungen antworten und welche neuen Konzepte sie entwickelt haben, ist Gegenstand des Podiums am Donnerstag vormittag, bei dem alle im Bundestag vertretenen Parteien zu Wort kommen und zusätzlich der Vorsitzende der Freien Wähler Bayerns, Armin Grein, die im Herbst nächsten Jahres zur bayerischen Landtagswahl antreten werden. Daß keine aktiven Bundespolitiker auf dem Forum dabei sind, liegt daran, daß in Bonn derzeit Sitzungen sind. Aber ich glaube, daß gerade unser Forum zeigt, wie attraktiv die landespolitische Ebene sein kann. Neben der staatlichen Ebene verdienen einerseits die Gemeinden, andererseits die Europäische Union besondere Aufmerksamkeit. Auf Gemeindeebene hat sich, von der Öffentlichkeit wenig bemerkt, eine grundlegende Verfassungsumwälzung ergeben: Die süddeutsche Ratsverfassung hat sich, wenn auch teilweise mit Modifikationen, auch in den anderen Flächenstaaten durchgesetzt. Darüber zu berichten (und diese Entwicklung einzuordnen) ist kaum jemand berufener als Hans-Georg Wehling, der 1984 mit seinem grundlegenden Werk über den süddeutschen Bürgermeister ein geistiger Vater der Entwicklung wurde. Unübersehbar wichtig ist natürlich der europäische Aspekt. Die hier drohenden demokratischen Defizite wird Wolf-Dieter Narr beleuchten - und dabei niemanden schonen, sondern sagen, was gesagt werden muß. Ich begrüße Herrn Wehling und Herrn Narr sehr herzlich.

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Wenn die politischen Probleme nicht mehr gelöst und dringende Refonnen blokkiert werden - dann wird dem Bürger gewahr, daß er selbst zu wenig Einwirkungsmöglichkeiten hat. Stichwort: "bürgerschaftliches Partizipationsdefizit". Den Möglichkeiten, die Mitwirkung der Bürger innerhalb und außerhalb der Parteien zu erweitern, sind vier Referate gewidmet. Otmar Jung behandelt den Siegeszug direktdemokratischer Institutionen in den 90er Jahren. Er ist durch grundlegende Forschungsarbeiten zu diesem Thema hervorgetreten. Olaf Winkel untersucht - auf der Grundlage des Wertewandels - die Diskrepanz zwischen zunehmenden Partizipationswünschen der Bürger und den begrenzten Möglichkeiten. Carsten Nemitz analysiert die von der ganzen Bundesrepublik beobachtete Erfolgsstory der bayerischen Initiative Direkte Demokratie, der es 1995 - gegen die in Bayern schier allmächtige CSU - gelang, durch einen landesweiten Volksentscheid Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in bayerischen Kommunen einzuführen. Karlheinz Niclauß zeigt ganz konkret fünf Wege zur Verbesserung der Bürgerpartizipation innerhalb und außerhalb der Parteien auf. Den Abschluß der Tagung am Freitag bilden drei konkrete Konzepte zur Veränderung der Struktur der Demokratie: Peter C. Dienei, der Vater der Planungszelle, die die Engländer anerkennend Citizens' Jury nennen, wird seine Vorschläge ebenso präsentieren wie Gerd Habermann die Demokratierefonnvorschläge der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer, die sich in. deren Denkschrift "Demokratierefonn als Standortfrage" niedergeschlagen haben. Den wichtigsten Einzelbereich, die Bildungspolitik, behandelt Gerhard Pfreundschuh am Beispiel der Schulorganisation. Pfreundschuh hat vor einigen Monaten ein Buch mit dem Titel "Den Staat neugestalten" vorgelegt, in dem sich die Erfahrungen eines ebenso theoretisch bewanderten wie praxiserfahrenen ehemaligen Landrats und aktiven Lehrbeauftragten an unserer Hochschule widerspiegeln. Die Abfolge der verschiedenen Vorträge finden Sie in der neuesten Fassung des Tagungsprogramms in Ihrer Tagungsmappe. Dabei haben wir - in Anbetracht des hochkarätigen Plenums - auch möglichst viel Zeit für Diskussionen vorgesehen. Diese Tagung ist zunächst einmal ein Versuch nach der Methode "Trial and Error". Die Erfahrungen, die wir heute, morgen und übennorgen machen, sollen am Schluß sorgfaltig ausgewertet werden. Dabei rechnen wir auch auf Ihre Hilfe. Wir wollen Sie bitten, die Veranstaltung zu kritisieren und mögliche Wege für Verbesserungen aufzuzeigen. Ein Bewertungsbogen, den Sie bitte am Freitag anonym ausgefüllt an das Tagungsbüro zurückreichen wollen, liegt der Tagungsmappe bei.

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Die Vorbereitungen für diese Tagung waren doppelt aufwendig, nicht nur weil sie erstmals stattfindet, sondern auch weil sie aus dem üblichen Rahmen herausfällt. Daß es dennoch alles bisher so schön vorbereitet wurde, ist nur dem ganz ungewöhnlichen Einsatz der Mitarbeiter unseres Tagungsbüros (Herrn Bucher, Frau Diehl und Frau Joos) zu verdanken und dem nicht weniger unermüdlichen Einsatz meiner Mitarbeiter, Frau Betz, Frau Schunda und Herrn Brink, denen auch an dieser Stelle ganz herzlich gedankt sei. Für alle Planungsmängel hafte ich selbst. Mein besonderer Dank gilt auch dem Rektor, Professor Dr. Siegfried Magiera, meinen Speyerer Kollegen, die die Leitung der Diskussionen übernommen haben - heute nachmittag wird Herr Kollege Merten die Diskussion leiten. Herzlichen Dank! Auch hier ersehen Sie die Einzelheiten aus dem aktualisierten Programm in Ihrer Tagungsmappe. Nun zum Eröffnungsreferat! Robert Leicht, den langjährigen Chefredakteur der Wochenzeitung "Die Zeit", braucht man nicht vorzustellen. Er führt eine der einflußreichsten und anerkanntesten Federn im Kreise des deutschen Journalismus. Er ist nach Abgabe der Chefredaktion im Rahmen eines Sabbaticals in der Abgeschiedenheit eines Tübinger Klosters dabei, Bilanz zu ziehen. Kaum einer scheint mir so geeignet wie er, unsere Tagung zu eröffnen. Wir sind alle sehr gespannt auf Ihren Vortrag.

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I. Kritische Bestandsaufnahme

Fünf Jahre Demokratiediskussion in Deutschland Hoffnung oder Resignation? Von Robert Leicht

Fünf Jahre Demokratiediskussion - Hoffnung oder Resignation? Zu gerne würde ich meiner Neigung nachgeben, den Stand unserer verfassungsrechtlichen Debatte en detail zu kommentieren, möglichst polemisch. Ich möchte dieser Inklination (oder der Erwartung, wenn sie mit der freundlichen Einladung hierher verbunden gewesen sein sollte) nicht nachgeben, sondern vielmehr - und prinzipiell - fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie, von erweiterter Demokratie. Wenn wir uns ein Bild der jüngsten Demokratiediskussion machen wollen, sollten wir uns zunächst ein Bild von der Gesamtlage der Demokratie skizzieren, in das dann die spezielle deutsche Diskussion einzupassen wäre. Ich greife zu diesem Zweck - in grober Schraffur - zurück auf den Begriff der Souveränität, wie er uns ja auch aus der Redensart vom Souverän des Volkes oder dem Volk als Souverän geläufig ist. Und zwar beziehe ich mich dabei auf die Figur des absoluten Fürsten, der die Souveränität nach außen wie nach innen in idealtypisch vollendeter Zuspitzung verkörperte: nach außen die Souveränität seines Staates, nach innen die Souveränität seiner Herrschaft. Die weitere Entwicklung ist Ihnen bekannt: Die innere Souveränität des Fürsten wurde im Laufe der Verfassungsgeschichte nach und nach abgelöst durch die Demokratisierung der Herrschaft. Aber festgehalten wurde zugleich an der Souveränität des Staates nach außen - worunter zu verstehen war zum einen die autonome Definition der außenpolitischen Ziele (nach Maßgabe der politischen Möglichkeiten, insbesondere definiert durch die autonom eingegangenen völkerrechtlichen Verpflichtungen), zum anderen die souveräne Entscheidung über die innere Verfassung des Staates. Das Letztere meinen wir, wenn wir vom Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes sprechen. Und diesem Prinzip zufolge kann eben auch jede Demokratie ihre eigene Demokratiediskussion führen. Wir sollten uns aber durchaus fragen, wie weit es eigentlich mit dieser äußeren Souveränität noch her ist in der Wirklichkeit. Je nachdem, ob wir hier zu veränderten Einschätzungen kommen, werden wir auf veränderte Bedingungen einer souve-

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ränen, im Rahmen unseres Nationalstaates zu führenden Demokratiediskussion stoßen. Es gibt jedenfalls ernstzunehmende Anhaltspunkte, die es uns unmöglich machen, über unsere Verfassung weiterhin zu diskutieren, als befänden wir uns auf einer einsamen Insel im Meer der Weltpolitik. Die Vorstellung, wir könnten die Bedingungen unserer inneren checks and balances sozusagen absolut setzen, als: abgelöst, absolut also von äußeren Umständen betrachten, erscheint mir zumindest diskussions bedürftig. Natürlich wollen und werden wir eine freie demokratische Gesellschaft bleiben (obwohl ich mir da manchmal auch nicht mehr so sicher bin, angesichts mancher Sympathien für Regime nach dem Modell Singapur). Aber weIche Möglichkeiten der Modifikation, der selbständigen, einseitigen Optimierung dieses Modells gibt es? Könnte es nicht sein, daß inzwischen folgendes Paradox gilt: Wesentliche Änderungen unserer Verfassung (verstanden als Ensemble aller staatsrechtlichen und ökonomisch-ordnungspolitischen Konstanten) sind, sofern sie mit dem Status unserer außenpolitischen und weltwirtschaftlichen Verflechtung kollidieren, gar nicht mehr möglich. Oder umgekehrt ausgedrückt: Die noch möglichen verfassungspolitischen Varianten sind außenpolitisch verflechtungsneutral - oder wie es unser derzeitiger Außenminister ausdrücken würde: Davon fällt kein Sack Reis in China um. Um zunächst nur ein Beispiel aus unserer jüngeren Vergangenheit zu nennen: Als die zweite deutsche Einigung bevorstand, gab es - ohne daß ich jetzt alte Wunden aufreißen (oder gar aus meiner Sicht unfruchtbare Diskussionen neu aufrollen) wollte - zwei verfassungsrechtliche Möglichkeiten der Gestaltung dieses Einigungsprozesses - das Verfahren nach Art. 23 des damaligen Grundgesetzes und nach Art. 146. Ohne daß dies damals besonders in den Vordergrund gestellt wurde (schon um unser Gefühl der äußeren Souveränität nicht zu beleidigen) war doch klar, daß in der Variante 146 ein erhebliches außenpolitisches Risiko lag, weil im Rahmen der EU es sehr darauf ankam, daß das vereinigte Deutschland staats- und verfassungsrechtlich und als EU-Mitglied mit sich selber identisch blieb. Jede Verschmelzung der beiden deutschen Staaten zu einem neuen Subjekt mit neuer Verfassung hätte von den EU-Partnern als Veränderung der Geschäftsgrundlage unserer Mitgliedschaft, ja als Definition eines neuen Mitglieds verstanden werden können - mit dem Ergebnis, daß die Verknüpfung von gestalteter Vereinigung mit weiterer Mitgliedschaft in der EU zustimmungsbedürftig geworden wäre in 14 europäischen Parlamenten; zumindest hätten wir uns die pauschale Hinnahme eines in der verfassungsrechtlichen Identität veränderten Staates möglicherweise mit vielen teuren Zugeständnissen erkaufen müssen. Schon aus diesem Grunde war die Alternative 23 gegen 146 keineswegs so offen, wie sich mancher es damals gedacht hatte. Dies also zur Illustration der Frage: Wie souverän ist heute auch ein demokratischer Staat in der Definition seiner inneren Ordnung. Streifen wir nur das Thema Europa: Noch ist nicht ausgemacht, was der europäische Grundrechtsschutz eines Tages für unseren nationalen Grundrechtsschutz be-

Fünf Jahre Demokratiediskussion in Deutschland

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deuten mag. Wenn ich es richtig sehe, herrscht darüber nicht einmal im Bundesverfassungsgericht Einigkeit. Noch ist nicht abzusehen, wie sich die Vorstellung der innen- und außenpolitischen Souveränität jedes Nationalstaates akkordieren läßt mit der immer dichteren Integration Europas nach dem Modell eines Staatenbundes, eines Regierungskongresses von demokratischen Regierungen, in der operativen Wirklichkeit freilich eines Ensembles vielfältig sich überschneidender Arbeitskreise leitender Beamter - jedenfalls nicht im Modus einer parlamentarischen Demokratie namens Europäische Union oder eben der Vereinigten Staaten von Europa. Wenn wir die bevorstehende Europäische Wahrungsunion ins Auge fassen, die ich an dieser Stelle gar nicht in ihrem Pro und Contra diskutieren möchte (ich bin freilich sehr entschieden dafür), so zeigt sich doch immer mehr: Die Behauptung, wir hätten es in der EU mit einem Bund restlos souveräner Staaten zu schaffen, dürfte schon rein formal nicht mehr zutreffen, materiell jedenfalls haben sich die Proportionen bereits umgekehrt: Die europäische Gemeinschaft ist im Grunde nicht mehr ein Attribut der einzelnen Nationalstaaten, sie existiert nicht als Funktion der Nationalstaaten, sondern umgekehrt: Die Nationalstaaten und deren Souveränität existieren immer mehr dank und zufolge der Europäischen Gemeinschaft. Es läßt sich sehr wohl behaupten, daß die kommunitäre Substanz viel weniger der demokratischen Kontrolle unterliegt als der verbleibende Rest der nationalstaatlich organisierten Souveränitäten. Wieso erscheint dies den aktiv Handelnden als ziemlich abträglich? Da ist zum einen die sachzwanghafte Einsicht, daß anders die Integration der EU derzeit nicht zu bewerkstelligen ist; dahinter steckt aber zum anderen wohl die verdeckte Option: Die Integration, übrigens in ihrem Zustandekommen makellos demokratisch legitimiert, die Integration als solche ist uns derzeit noch wichtiger als der unmittelbar demokratische Modus ihres Arbeitens. Und noch eines: Eine unmittelbar demokratische, eine direkt demokratische Konstitution der EU würde allen national staatlichen Instanzen, die ansonsten auf ihre eigene demokratische Rückkopplung so stolz sind, die ZUTÜckstufung ihrer eigenen Souveränität noch deutlicher vor Augen führen. Diese europäische Dimension ist aber nur ein Aspekt des Problems, nämlich der äußeren Relativierung der inneren Souveränität. Alles, was derzeit unter dem Stichwort der "Globalisierung" oder der ,,Entgrenzung nationaler Märkte" (insbesondere der Finanzmärkte) diskutiert wird, läuft auf die Frage hinaus: Was sind unsere nationalstaatlichen Anordnungen (etwa im Kartellrecht, im Sozialrecht, im Umweltrecht) in der weltweiten Vernetzung noch wert? Noch radikaler wird gefragt: Ob nicht die Globalisierung der Ökonomie den Nationalstaat weithin obsolet macht, weil Entscheidungen und ihre Träger nicht mehr territorial verhaftet sind, kurz: weil der spezifische Raum keine entscheidende Rolle mehr spielt. Ich möchte wiederum an dieser Stelle nicht untersuchen, wie mächtig diese Tendenzen wirklich sind, ob sie nicht übertrieben dargestellt werden, ob nicht überhaupt das

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Schlagwort von der Globalisierung zu den großen Entlastungs- und Bezichtigungsvokabeln national mißlungener Politik gehört - nur soviel: Was immer es damit auf sich hat - nichts davon läßt sich mit dem Auftrumpfen nationalstaatlicher Souveränität kompensieren oder rückgängig machen, sondern allenfalls in zwischenstaatlicher, ja zwischenkontinentaler (und natürlich: interkultureller) Kooperation. Beide Dimensionen, die europäische wie die weltwirtschaftliche Integration, sollen uns das eine verdeutlichen: Wir können unsere Demokratiediskussion nicht mehr führen im Bewußtsein jener Souveränität von äußeren Prozessen, die nach der Demokratisierung der inneren Fürstensouveränität einmal übrig geblieben war. Im Grunde gilt hier gewissermaßen analog das föderative Prinzip: Bundesrecht bricht Landesrecht - oder: Die transnationale Verfassung bedingt die nationale Verfassung, mit dem einen Unterschied freilich, daß die transnationalen Verhältnisse eben nicht verfaßt sind, jedenfalls nicht unmittelbar demokratisch. Selbst ein übrig gebliebener absoluter Souverän könnte seine inneren Verhältnisse auf Dauer nicht mehr ohne Rücksicht auf internationale Verflechtungen bestimmen. Und das ist doch unsere Hoffnung: daß dies auch Diktaturen nicht ewig so vermögen. Eine Hoffnung, die 1989 in Europa so weit eingelöst, wie sie im selben Jahr in China zunächst bitter enttäuscht wurde. Im gleichen Maße wie der Spielraum für eine national-souveräne Verfassungsdiskussion relativiert wird, verschärft sich allerdings unser Demokratieproblem: Selbst wenn die Europäische Gemeinschaft perfekt demokratisch regiert würde, stellten sich doch immer mehr Menschen die Frage: Welchen Einfluß habe ich denn selber noch auf die Verhältnisse, die mein eigenes Leben immer mehr bestimmen? Die Frage wird ja nicht schon dadurch weniger interessant, daß sie auch von immer mehr Ministern nationalstaatlicher Regierungen gestellt werden wird. Ich bitte Sie also um Nachsicht für diese einführenden Bemerkungen. Sie erscheinen mir notwendig zu sein, um unsere deutsche Verfassungsdiskussion vor der Gefahr einer provinziellen Verengung zu schützen. Denn wenn der Gegenstand meines Vortrags sein soll, einen Blick zurück auf fünf Jahre deutscher Verfassungsdiskussion zu werfen, dann muß man eben auch sagen: diese externen Umwälzungen aller Bedingungen unserer nationalstaatlichen Politik haben sich nach 1989, insbesondere aber nach Maastricht, also in den vergangenen fünf Jahren beschleunigt. Fünf Jahre Verfassungsdiskussion, das heißt dann aber auch: Wir sprechen nicht eigentlich über die verfassungspolitische Lage unmittelbar nach dem Fall der Mauer. Mir soll das recht sein, denn ich gestehe freimütig: ich fand diese Epoche verfassungspolitisch von vornherein nicht für ergiebig und innovativ. Wenn 17 Millionen Bürger, nachdem dies aufgrund außenpolitischer Konstellationen im damaligen Ostblock möglich geworden war, ihr kommunistisches Regime beiseitedrükken, weil sie in ihrer überragenden Mehrheit eben gerade nicht anders leben wollten als in der Bundesrepublik, dann erwuchs daraus jedenfalls nicht ein übermächtiger pouvoir constituant, der eine tabula-rasa-Situation verfassungsrechtli-

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cher Neuschöpfung schafft. Zudem war schon damals klar, daß die deutsche Einigung nicht die Frage nach einer neuen deutschen, sondern nach einer neuen europäischen Verfassung aufwerfen würde - siehe dann Maastricht, die europäische Wirtschafts- und Währungsunion als Vorgriff auf die politische Union. Und bei allem bleibenden Respekt vor der persönlichen Courage der ostdeutschen Bürgerrechtler: Mir hatte damals niemand klar machen können, welche der Erfahrungen im Verdrängen einer kommunistischen Diktatur im Maßstab eins zu eins hätten innovativ in die Verfassung einer Demokratie übertragen werden können. (Die reale Frage an unsere politische Verfassung war damals, nach 1989 die folgende: Sollten wir angesichts einer solchen Umwälzung nicht für eine Weile unsere Konkurrenzdemokratie zugunsten einer Großen Koalition, wenn schon nicht zugunsten einer Allparteien-Diskussion suspendieren? Aber wenn man glaubte, die Einigung gewissermaßen aus der Portokasse bewältigen zu können, sah man natürlich keinen Grund, solchen Überlegungen nahezutreten. Spätestens na'ih der nächsten Bundestagswahl, so meine gegenwärtige Annahme, stehen wir wieder einmal und immer noch vor derselben Frage.) Ich war damals, nach 1989, übrigens durchaus für eine Verfassungsdiskussion, freilich nicht rückwärtsgewandt, sondern nach vorne blickend. Die Stichworte hätten für mich gelautet: Europa, Ökologie (nämlich: Wie kann im Sinne eines Nachweltschutzes das subjektive Recht kommender Generationen auf eine intakte Umwelt heute schon, gewissermaßen antizipierend rechtsfähig und operativ gemacht werden?) - und schließlich: die Diskussion (skeptisch wie ich da bin: moderater) plebiszitärer Instrumente als Modus der Regulierung und Mäßigung unseres Parteienstaates. Nur: Diese Diskussion hätte man auch ohne 1989 führen müssen. Weil sie allerdings nicht spezifisch mit der deutschen Einigung verknüpft war, bekam sie durch diesen Prozeß keinen Schub, im Gegenteil. Fünf Jahre Verfassungsdiskussion, dieser Zeitraum ist wesentlich geprägt durch die Kritik am Parteienstaat, wie sie vor gut fünf Jahren der damalige Bundespräsident vom Zaune brach - und natürlich jederzeit vom Zaune bricht, zwar nicht der Rektor dieser Hochschule, aber doch der spiritus rector dieser Tagung. Die Parteienstaatskritik steht notwendigerweise im Zentrum jeder Verfassungsdiskussion, weil es unter den gegebenen Bedingungen keine Verfassungsänderung gibt, die nicht mit den Interessen fast aller Parteien übereinstimmt. Da zumindest die Liberalen und die Grünen stets potentielle Koalitionspartner einer der beiden Volksparteien bleiben, sind sie stets in den Bedingungskonsens jeder Verfassungskorrektur einbezogen. Das gilt für so gut wie alle Fragen einer Verfassungsänderung, das gilt natürlich erst recht für jede Veränderung oder gar Einschränkung des rechtlichen und faktischen Status der Parteien. Deshalb wäre ich zum Beispiel froh, wenn wir eine Möglichkeit hätten, Verfassungsänderungen durch ein Plebiszit, wenn nicht durchzusetzen, so doch verbindlich anzustoßen (und sei es nach der Verfahrensweise, die die bayerische Landesverfassung vorsieht). Anders kämen wir zu einer Verfassungsänderung, die das ge-

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mein same Interesse der Parteien rein als solche berührt, nur noch auf dem Wege der Revolution. In Wirklichkeit ist dieser Zustand aber längst erreicht. Der status quo des Parteienstaats ist inzwischen in der Realverfassung so gut abgesichert wie - wenn nicht noch besser, als - alles, was unter dem Schutz des Artikels 79 Absatz 2 steht. Das ist naturgemäß einer der Gründe dafür, daß alle Systemdebatten in praktischer Hinsicht völlig folgenlos verlaufen. Nur Fragen, die den Volkszorn so heftig erregen können wie die der Übel'Versorgung der Parlamentarier oder die ihrer Besoldung, vermögen noch, Korrekturen auszulösen. Aber da geht es nur um Geld, nicht unmittelbar um Macht. (Ich bin übrigens, anders als der eine oder andere in diesem Raum, durchaus der Meinung, daß es besser wäre, die Besoldung der Abgeordneten an eine Meßgröße zu koppeln, während ich der Kritik an der Überversorgung stets zustimmen konnte.) Die Leitfrage, die mir aufgetragen ist, lautet: Hoffnung oder Resignation? Mein Eindruck in summa: Eher Resignation als Hoffnung - jedenfalls eine erhebliche Ernüchterung. Das spüren wir ja allerorten in unserer politischen Kultur, spätestens seit den Ölschocks - und trotz des Volkerfrühlings von 1989: der politische Enthusiasmus ist dahin: Heute würde kein Kanzler irgendeiner Partei, auch solcher Parteien, die nie einen Kanzler stellen werden, jemals mehr sagen: Wir wollen mehr Demokratie wagen. Und manchmal denke ich: Aufgrund aller dort gemachten internen Erfahrungen noch am wenigsten ein Kanzler, der aus der Partei der Grünen stammt. Womit gesagt sein soll, daß auch Optimisten gerade im Nahkampf mit anderen Optimisten nüchterner geworden sind. Aber das Urteil, ob Hoffnung oder Resignation oder realistische Ernüchterung das hängt doch davon ab, was wir nun näher unter der Demokratiediskussion verstehen wollen, mit welchen Erwartungen wir an das Thema herangehen. Ich habe bisher den Begriff Verfassung und Demokratie als relativ austauschbar behandelt. Geht man genauer an die Sache heran, so zerfällt die allgemeiner verstandene Verfassungsdiskussion in lauter einzelne Teilthemen. So müssen wir also jeweils thematisch und sodann strukturell klären, wovon wir eigentlich sprechen wollen: Zunächst thematisch die Aspekte der Verfassungsdiskussion. Wir können sie aufteilen in den: a) Parlamentarismus-Diskurs (interne Kontrolle der Politik durch Politiker) b) Partizipations-Diskurs (externe Kontrolle der Politik durch Bürger) c) Pluralismus-Diskurs (Vielseitigkeit der Konkurrenz um politische Konzepte) d) Subsidiaritäts-Diskurs (Antizentralistische, antibürokratische Elemente der politischen Gestaltung auf problem- und bürgernaher Ebene)

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e) Grundrechts-Diskurs (Reservatrechte des Bürgers gegen staatliche Eingriffe überhaupt). Neben der thematischen Auffächerung des Themas steht aber auch eine strukturelle Differenzierung der Aspekte, unter denen wir an das Thema herangehen. Wir müssen also jeweils klären, ob wir: 1. Demokratie formal-prozessual oder material verstehen wollen im Sinne einer "Demokratisierung" aller gesellschaftlichen Lebensbereiche, also nicht nur der unmittelbaren Politik der staatlichen Institutionen; 2. von exogenen Beschränkungen oder endogenen Restriktionen der Demokratisierung oder des demokratischen Enthusiasmus sprechen. Also - wie oben schon skizziert: Wie weit ist es noch mit der äußeren Seite unserer Selbstbestimmung her? Oder genauer: mit den Bedingungen der Möglichkeit unserer Selbstbestimmung? Oder: Welche desillusionierenden Erfahrungen haben wir mit der Demokratisierung im Inneren gemacht - etwa bei der Demokratisierung der Hochschulen? 3. von einem statischen oder einem dynamischen Verständnis des demokratischen Prozesses ausgehen wollen. Ist also die Demokratie eine Staatsform, die irgendwann ein Optimum erreicht (oder schon erreicht hat), das es nur noch zu bewahren gilt - oder rechnen wir mit einer nach oben offenen Richter-Skala der Demokratisierung, auf der wir in der Zukunft immer weiter nach oben klettern? Und schließlich müssen wir klären, wie wir 4. die Prinzipien der Effizienz und der Expressivität des politischen Prozesses gewichten. Um es einmal grob vereinfacht auszudrücken: Was ist uns wichtiger daß wir schnell zu vernünftigen Entscheidungen kommen oder daß vor einer Entscheidung möglichst viele mitgeredet haben? Man könnte diese Alternative auch anders definieren: Was ist uns (im Rahmen natürlich von Mehrheitsentscheiden) wichtiger - das dezisionistische oder das deliberative Element? Sie werden von mir kaum erwarten, daß ich mit Ihnen alle Felder abschreite, die wir nun mit einer Matrix abgrenzen könnten - auf der Ordinate die Themen, auf der Abszisse die strukturellen Alternativen. Das geschieht ja in gewisser Weise in vielen Vorträgen dieser Tagung viel genauer. Ich kann hier nur einige grundsätzliche Bemerkungen über die Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie in ihren vielen Aspekten wagen - und ich tue dies, mangels eigener innerer Gewißheit, zunächst nur in vorsichtiger Frageform - auch dort, wo dies grammatisch nicht unmittelbar deutlich wird: Erstens: Es scheint ein Gesetz darin zu liegen, daß mit der Vergrößerung der politischen Räume (Europäische Union) oder gar der Entgrenzung des politischen Raums überhaupt (Stichwort Globalisierung) unvermeidbar verbunden ist eine weitere Entfernung der immer mehr urnfaßten Bürger von den politischen Entscheidungszentren. Läßt sich diese Entwicklung durch weitere Demokratisierung

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kompensieren? Ich bezweifle dies. Läßt sich diese Entwicklung durch kompensatorische Demokratisierung anderer, lokalerer Prozesse in der eigenen Provinz auffangen? Das könnte sein, aber darf nicht als Ablenkungsmanöver gemeint sein oder durchschaut werden. Zweitens: Solange die strukturellen Probleme der Industriegesellschaften (Arbeitslosigkeit vor allem) nicht gründlich saniert worden sind, ist das Interesse der wie es früher hieß - werktätigen Massen an der Demokratisierung alles andere als vital. Wie denn überhaupt in diesem Zustand jegliche Diskussion über die innere Liberalität (Stichwort Lauschangriff, Eingliederung der ausländischen Stammwohnbevölkerung) oder die innere Kreativität (Kultur- und Bildungspolitik) so merkwürdig weltfremd wirkt. Ich halte übrigens diesen Verstummenseffekt für unsere demokratische Kultur inzwischen für viel bedrohlicher als die Gefahr, daß eines Tages Rechtsextremisten die Regierung übernehmen. Andererseits wissen wir: Durch Demokratisierung rein als solche entstehen nicht mehr Arbeitsplätze. Daraus folgt für mich drittens: Über demokratietheoretische und demokratiepraktische Aspekte der oben genannten Themenfelder läßt sich trefflich und fruchtbar streiten. Aber das eigentliche Problem unserer Demokratie ist derzeit nicht die verfassungsrechtliche Diskussion, sondern der wirtschaftliche Erfolg. Ich bin also im Sinne der zeitlich beschränkten Präferenz dafür, zunächst - bei Wahrung des demokratischen Aquis, selbstverständlich - die Priorität einerseits auf das Vorankommen der europäischen Integration und Expansion zu legen und andererseits auf den Rückgewinn struktureller Weubewerbsfähigkeit. Aber wie ungeheuer schwierig dies ist, zeigt Ihnen ja alles, was Sie derzeit in jeder Zeitung lesen können. Jeder, der irgend etwas bewegen - oder auch nur diskutieren will - geht das Risiko ein, entweder sofort zensuriert oder in Widerständen verstrickt zu werden. Das ganze Feld steht voller heiliger Kühe - und mögen sie inzwischen auch vollkommen sklerotisiert sein. Mitunter geht die Abwehr inzwischen soweit, daß man nicht einmal das praktisch ohnehin Unmögliche denken darf, ohne abgestraft zu werden. Lassen Sie mich dies gegen Ende meiner Skizze an den Streit um einige Sätze von Hans-Olaf Henkel illustrieren, der sich - das sei zugegeben - schon zu oft und oft unnötigerweise Feinde gemacht hat. Aber ist dies ein Grund, ihn verbal unter allen Umständen niederzumachen? Ich meine natürlich seine Äußerungen zum Föderalismus und zum Wahlrecht. Ich möchte seine Ansichten an dieser Stelle nicht deshalb einigermaßen wohlwollep.d diskutieren, um im Einzelfall Recht zu behalten, obschon ich finde, daß sie dies verdient hätten, sondern um einer fatalen strukturellen Einsicht willen. Aber zunächst zu den Einzelheiten: Stichwort: Föderalismus. Es läßt sich ja kaum bestreiten, daß wir grosso modo auf dem Weg zu einem unechten Föderalismus sind. Die Länder haben immer weniger eigene Gestaltungshoheit (wozu natürlich stets eine entsprechende Finanzho-

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heit und entsprechend direkte, oder: scharfe Finanzverantwortung) gehören würde. Anstatt das zu fordern, was ihr Proprium sein müßte, zentralisierten sie auch noch ihre verbliebene originäre Kompetenz, die der Kulturhoheit, in der Kultusministerkonferenz, und entschädigten sie sich im übrigen durch eine exzessive Einrede in zentralstaatliche Angelegenheiten. Nicht zu reden von der Einmischung nun auch in die Außenpolitik, vgl. Art. 23 GG (neu). Jetzt haben wir es im Grunde mit einer doppelten, antagonistischen Zentral staatlichkeit zu schaffen: Was immer die parlamentarisch legitimierte Regierung will die im Bundesrat organisierte parlamentarische Opposition legt sich quer. Irgendwann, einmal bewußt laienhaft ausgedrückt, frage ich mich dann als derzeit norddeutsch dislozierter Bundesbürger schon, wozu ich eigentlich einen Bundestag (und damit indirekt eine Bundesregierung) wähle [oder nicht wähle], wenn der Ministerpräsident in Saarbrücken, auf den ich keinen Einfluß habe, bestimmt, was diese Regierung tun darf. Also: Wer wollte bestreiten, daß unser Föderalismus einer neuen Strukturierung bedürfte? Stichwort Wahlrecht: Gewiß, rein statisch betrachtet, ist ein Verhältniswahlrecht proportional immer gerechter als ein Mehrheitswahlrecht. Aber dynamisch betrachtet? - Ein im Effekt doch nach den Verhältniskriterien organisiertes Wahlrecht führt zu einer derartigen Mediatisierung der Regierungsbildung, daß ein Regierungswechsel de facto nicht mehr durch Wählerentscheid, sondern allein durch Koalitionstaktik zustandekommt - und das nicht unbedingt bei Wahlen, sondern mindestens ebenso oft gelöst von Wahlen, während einer Legislaturperiode. Ob es also psychohygienisch nicht gerechter wäre, das Wahlrecht so zu organisieren, daß es das Wählervotum selber ist, das Regierungen zensiert und zu Machtwechseln führt? Ich denke, diese Frage ließe sich mit Anstand diskutieren, auch wenn in Großbritannien der Trend gerade in die umgekehrte Richtung geht. Ich erwähne diese Kontroverse aber aus einem ganz anderen Grund: Wie immer wir über Henkels eher beiläufig angestellte Bemerkungen denken mögen, und wie immer Sie selber meine Thesen estimieren mögen - und alle sollte doch das Erschrecken darüber verbinden: Selbst wenn er recht hätte - wir wissen doch von vornherein, daß am status quo wegen der vielen vested interests sowieso nie etwas zu ändern ist, und daß dieses kategorische Nein zu einschlägigen Änderungen nicht etwa eine Funktion der mangelnden Berechtigung der Monita ist (das wäre tapfer hinzunehmen), sondern daß auch bei einem umfassenden Konsens aller vernünftigen Kräfte über die einmal unterstellte Richtigkeit der Forderungen jeder wüßte: Zu ändern ist da in Ewigkeit nichts. Das aber ist der fatale Befund: Rien ne vas plus. Man muß ja gar nicht für besondere Veränderungen leben oder sterben; aber die unvermeidliche Einsicht, daß sich an den Funktionsbedingungen unserer Demokratie im wesentlichen ohnedies nichts ändern läßt, sollte uns gemeinsam frösteln machen. Nicht alle Anstöße zu einer Fundamentalrevision des Grundgesetzes waren sinnvoll. Daß aber alle Anregungen zu einer wesentlichen Korrektur unserer Verfassung, seien sie nun sinnvoll

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oder nicht, durch ihre Unterschiede weniger definiert werden als durch die bezwingende Einsicht: tertium non datur, diese vorauseilend stabilisierte, von vornherein festgelegte Unveränderlichkeit unserer Verfassung in wesentlichen, also die Machtverteilung berührenden Fragen, könnte nicht nur jede Verfassungsdiskussion zum akademischen Glasperlenspiel diskreditieren, sondern darüber hinaus einmal zur fatalen Petrifizierung und Sklerotisierung unserer Verfassungslage beitragen. Nicht, ob Hans-Olaf Henkel recht hat, ist hier das Problem; sondern die Erkenntnis, daß - selbst wenn er recht haben sollte - sich dadurch nichts ändern lassen würde, zeigt an, wie revisionsunfähig und damit steril unsere Demokratiediskussion geworden ist. Fünf Jahre Demokratiediskussion - Hoffnung oder Resignation? Was den in einer Diskussion erreichbaren Mehrwert an Demokratie angeht, bin ich in der Tat, wenn nicht resigniert, so doch skeptisch. So bleibt mir nur die ziemlich begründete Hoffnung, daß uns das Erreichte - und das ist nicht wenig - nicht noch weiter verloren geht.

Perspektiven für Demokratie und Wirtschaft Die Vordergründigkeit des Diskurses in unserer Politik Von Erwin K. Scheuch

I. Zur Problemsituation

Kritik an der real existierenden Politik dieser Bundesrepublik ist so allgemein geworden, daß sie langweilt, falls es nicht gelingt, den Klagen eine eigene Perspektive hinzuzufügen. Dies ist mein Ansatz: Die Hektik in politischen Auseinandersetzungen verdeckt, daß sich Politik bei uns vornehmlich mit dem Kurieren an Symptomen beschäftigt und nicht mit dem Handeln aufgrund einer tiefergehenden Diagnose. Damit werden die immer wieder angekündigten Reformen notwendig zur Flickschusterei. Auch früher war unser politisches System nicht in einem so vorzüglichen Zustand, wie es in wohlwollenden Besprechungen der Theologie unseres Gemeinwesens, in der säkularen Theologie: genannt politische Bildung, vorgestellt wurde. Auch vor zwanzig Jahren hatten Parlamente und Parteien für die Bewahrung der ordnungspolitischen Grundentscheide der fünfziger Jahre wenig getan. Vor fast dreißig Jahren war aus taktischen Gründen ein grundlegender Reformvorschlag, nämlich die Empfehlung des Sachverständigen Ausschusses für die Neugestaltung des Bundestagswahlrechtes, vom Tisch gewischt worden, obwohl alle sieben Professoren - was der Aufmerksamkeit würdig gewesen wäre - einstimmig die Einführung des Mehrheitswahlrechtes empfohlen hatten. Nun aber ist alles noch viel bedenklicher geworden - aber in der Art der Bedenklichkeit jetzt auch besser diagnostizierbar als noch vor 20 Jahren. Unser nur beschränkt leistungsfähiges politisches System ist mit mehreren schweren Krisen konfrontiert. In der Wirtschaft treffen zwei Entwicklungen aufeinander: nämlich die Veränderung in der Arbeitswelt durch die Mikrochips und die Globalisierung insbesondere der Finanzmärkte. Das potenziert sich zu einer Beschäftigungskrise. Dies noch verstärkend kommt die Krise des Sozialstaates hinzu. Letzterer wäre auch ohne Globalisierung in eine Problemphase geraten; mit der Globalisierung und der Massenarbeitslosigkeit ist er aber todkrank.

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11. Die Besonderheit der Wirtschaftskrise in einem korporatistisch verfaßten Land

Das "Bündnis für Arbeit" ist ein charakteristisches Beispiel für die Art, wie in unserem Gesellschaftssystem versucht wird, auf Krisen zu reagieren. Bekanntlich gipfelte die Vereinbarung, die den werbewirksamen Namen "Bündnis für Arbeit" erhielt, in einer Absprache zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und der Bundesregierung. Darin wurden die Arbeitgeber verpflichtet, bis zur lahrtausendwende einige 100 000 Stellen neu zu schaffen, und die Bundesregierung versprach hierfür eine SteuerrefoITll. Die Gewerkschaften schließlich wollten Zurückhaltung bei ihren Forderungen üben. Nun ist die Bundesregierung selbstverständlich nicht das politische System allgemein; und wenn dieses nicht mitspielt, lassen sich die Versprechungen eines der Partner in dieser Verabredung nicht durchsetzen. Auf Seiten der Personen, die angeblich die Arbeitgeber repräsentierten, gab es ein vergleichbares Vollzugsdefizit. Es waren nämlich Verbandsfunktionäre, die selbstverständlich als Personen überhaupt keinen Einfluß auf neue Stellen haben; die können nur in den Betrieben geschaffen werden. Das Bündnis zwischen gesellschaftlichen Kräften, die nach dem üblichen Demokratiemodell einander kontrollieren sollen, wird in sozialwissenschaftlichen Texten begrifflich als eine korporatistische Problemlösung gekennzeichnet I. Diese Problemlösungen funktionieren nur insofern, wie Unterhändler (Bundesregierung, Verbände und Arbeitgeber) ihre Zusagen nach innen durchsetzen können. Das "Bündnis für Arbeit" hatte einen Vorläufer bei der Regierung Helmut Schmidt. Damals hieß dies "konzertierte Aktion", und zu diesem Zeitpunkt waren die Verabredungen eher umsetzbar als heute. Das liegt an der Veränderung in den Rahmenbedingungen. Zur Zeit von Helmut Schmidt war noch Wachstum zu verteilen, wogegen das "Bündnis für Arbeit" in einer Situation der Stagnation geschlossen wurde. Der Korporatismus funktioniert, wenn Konsens herstellbar ist - nicht nur in Worten, sondern auch in der praktischen Umsetzung. Er ist einfacher in Zeiten des Wachstums, dagegen schwierig in einer Situation der Stagnation. So sehr das korporatistische System offene Konflikte dämpft, so wenig eignet es sich für strukturellen Umbau, wenn ein solches System einmal in eine Krise kommt. Deutschland hat keine Tradition der Konkurrenzwirtschaft oder des Konkurrenzsystems in der Politik. Vor allem in der Wirtschaft war Deutschland immer das klassische Land von Kartellen. Die sind nun nach dem Zweiten Weltkrieg generell I Zum Begriff des Korporatismus in modernen Gesellschaften siehe Gerhard Lehmbruch und Philippe Schmitter (Hrsg.): Patterns of Corporatist Policy-Making. Beverly Hills, Sage 1982; Philippe Schmittler und Gerhard Lehmbruch (Hrsg.): Trends toward Corporatist Intermediation. Beverly Hills, Sage, 1979. Zur Anwendung auf die gegenwärtige Bundesrepublik vergleiche David P. Conradt: Germany. In: M. Donald Hancock et. al. (Hrsg.): Politics in Western Europe. Chatham N. J., Chatham House, 1993, S. 183 - 288.

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verboten, bestehen aber zum Teil immer noch fort wie beim Gebietskartell der Elektrizitätswirtschaft. Dessen Rückbindungen an das politische System sind exemplarisch. Erst durch Drohung aus Brüssel wird hier das Leitungsnetz für ausländische Bewerber geöffnet. Dieses Gebietskartell der Elektrizität wird getragen von einem Verbund der politischen Kräfte in den großen Kommunen und der Elektrizitätswirtschaft - ist also ein Kurzschließen von Anbietern und Abnehmern. Nachdem der vormalige Wirtschaftsminister Möllemann sich so entschieden für die Genehmigung einer Fusion gegen ein Verbot derselben von seiten des Kartellamtes durchsetzen konnte, ist unser Kartellrecht beschädigt. Inzwischen haben wir nur noch zwei Warenhausketten; vier Handelsketten kontrollieren das Selbstbedienungswesen bei Lebensmitteln; in der Touristikbranche arbeitet die WestLB auf ein gigantisches Oligopol hin. All dies dürfte die Fähigkeit der Wirtschaft, sich so zu erneuern, wie dies in den Vereinigten Staaten in den achtziger Jahren der Fall war, nicht eben erhöhen. Nun sind wir nicht die einzigen mit Krisenerscheinungen in der Wirtschaft, und auf dem westeuropäischen Kontinent sind diese Krisenerscheinungen in gleicher Weise verursacht durch die Gleichzeitigkeit zweier größerer Veränderungen: des Umbaus der Arbeitswelt und der Globalisierungstendenzen in der Wirtschaft. Gegenüber letzterem ist in allen Staaten Kontinentaleuropas eine völlige Lähmung der Politik festzustellen. Mit der Globalisierung greifen die Instrumente der Wirtschaftspolitik immer weniger. Tatsächlich ist eine nationale Steuerung der Wirtschaft heute nicht mehr denkbar. Dennoch folgt daraus nicht, daß man diese Globalisierung einfach laufen lassen kann in der Erwartung, die unsichtbare Hand, bereits beschworen von den Deisten zur Zeit der klassischen Nationalökonomie, werde das alles schon richten. Es gibt keine unsichtbare Hand. Hier ist zunächst einmal eine Reflexion angezeigt, worin die Globalisierung denn besteht. Kennzeichnend für diese Entwicklung ist die Lösung der Warenwirtschaft von der Finanzwirtschaft. Für Deutschland erhöhte sich der Umsatz des internationalen Finanzgeschäftes um das Siebenfache gegenüber dem Warenstrom. Die Mehrzahl dieser finanzwirtschaftlichen Transaktionen betrifft Spekulationsgeschäfte. Das Optionsgeschäft, das zur Zeit der Agrarwirtschaft seinen Sinn hatte, ist in der heutigen Wirtschaft zum bloßen Roulette verkommen. Spekuliert wird, indem bei Anleihen getrennt wird zwischen dem Wert der Anleihen selber und dem Wert, den die damit verbundenen Zinszahlungen haben werden; spekuliert wird in Währungen. Als übergreifenden Begriff für diese Art der Globalisierung kann man die Bezeichnung "Handel mit inexistenten Gütern" - nämlich Handel mit bloßen Annahmen über zukünftige Wertentwicklungen - verwenden. Bei diesem Handel vornehmlich mit "Derivaten" statt mit Waren muß es immer wieder zu Zusammenbrüchen kommen, die nichts zu tun haben mit der Effizienz in der Produktion und Ver3 Speyer 130

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teilung von Waren. Soeben hat es auf diese Art und Weise Südostasien erwischt. Einer der großen Spekulanten unterer Zeit, George Soros, ist inzwischen unter die Warner gegenüber einer unkontrollierten Globalisierung der Finanzwirtschaft gegangen. Von solchen Warnungen ist von seiten der Politik hierzulande nichts zu vernehmen. Die Globalisierung drückt sich auch aus in der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland. Aber das ist der kleinere Teil der gewaltigen finanziellen Transaktionen, die mit der modemen Kommunikationstechnik heute möglich werden. Was unterbleibt, ist in erster Linie der Verzicht auf wertschöpfende Investitionen in Ländern wie der Bundesrepublik. Allgemein wird das mit den zu hohen LohnStück-Kosten erklärt, aber das kann so generell nicht überzeugen, weil ja die Gewinne aus Exporten in der Bundesrepublik explodiert sind. In allen europäischen Ländern sind die Systeme der sogenannten zweiten Einkommensverteilung in einer krisenhaften Situation. Die Kosten sind sehr hoch, wenngleich in Wahrheit die Aufwendungen in der Bundesrepublik nur europäischer Durchschnitt sind2 . Sie wirken sich allerdings auf die Kosten der Arbeit viel direkter aus als andere Systeme der sozialen Sicherung. Unser soziales Netz ist aus bloß historischen Gründen mit den Einkommen der Erwerbstätigen in der Form von Zwangsabgaben vom Bruttolohn verbunden. Schreitet die Globalisierung so weiter fort wie bisher, ist es allerdings nicht vorstellbar, daß wir nur nach Bedürfnissen der eigenen Innenpolitik das zwangsweise Umverteilen weiter steigen lassen. In angelsächsischen Ländern wird empfohlen, die Wirtschaftsräume zu regionalisieren. Entsprechende formale Organisationen gibt es bereits: neben der Europäischen Union existiert für den Norden Amerikas die NAFTA und für den Süden MERCOSUR, und schließlich gibt es auch Vereinbarungen für einen südostasiatischen Wirtschaftsraum. Die Amerikaner haben bei den Verhandlungen im Rahmen der WTO vorgeschlagen, daß sich im internationalen Wettbewerb diese Wirtschaftsräume durch jeweils von ihnen festzusetzende Schutzzölle gegen "social dumping" sichern. Damit ist gemeint, daß in einem ersten Schritt das Ausmaß der Umverteilung vom Bruttosozialprodukt für soziale Sicherungssysteme ermittelt wird. Dann werden die Differenzen zwischen den Sozialkosten für die Wirtschaft im eigenen Wirtschaftsraum verglichen mit denen anderer Wirtschaftsräume, und ein Teil der Differenzen wird mit Schutzzöllen ausgeglichen. Damit diese einen Anreiz zur Ausdehnung von Systemen der sozialen Sicherheit auch in Entwicklungsländern bewirken, können mit Erhöhung des Umverteilungsanteils in Ländern des sozialen Dumpings die Schutzzölle überproportional zurückgenommen werden. Es kann leider nicht verwundern, daß die Vertreter der Bundesrepublik die vehementesten Kritiker eines solchen Plans waren. Hierzulande wird nicht einmal darüber gesprochen, daß die Globalisierung selbstverständlich kein unbeeinflußba2 Eurostat: "Sozialporträt Europas". Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften 1997.

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res Naturereignis wie die Eruption eines Vulkans ist, sondern Finanzkapitalismus von der spekulativsten Sorte. Träger dieser Globalisierung sind in erster Linie hundert der weltweit größten Konzerne. Werden Banken und Versicherungen ausgeklammert, so haben die meisten der Global Players ihren Sitz in den USA und Japan. Immerhin kommen aber elf der hundert größten "Weltspieler" aus Deutschland. Die dichteste internationale Verflechtung dieser Großunternehmen gibt es in Großbritannien, wo die dortigen acht Global Players 70 Prozent ihres Umsatzes im Ausland machen und 80 von hundert Beschäftigten in anderen Ländern als England arbeiten lassen3 . Daraus wird ersichtlich, daß die Globalisierung keinesfalls automatisch im Heimatland Arbeitsplätze sichert und vielleicht sogar schafft. Das kann, muß aber nicht sein. In den ökonomischen Modellen wird oft unterstellt, daß die Globalisierung automatisch zu einer optimalen Kombination der Faktoren Arbeit und Kapital führt. Die Modelle sind aus zwei Gründen defizient. Einmal besteht eine grundsätzliche Verschiedenheit in der Flexibilität von Arbeit und Kapital. Es wäre ja eine Katastrophe, wenn die Arbeit so flexibel würde wie das Spekulationskapital international. Ferner wird in diesen Modellen ein Element übergangen, das gerade mit Keynes die Wirtschaftstheorie realistischer machte, nämlich der Faktor Zeit. Es besteht eben ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Zeit, die ein Umbau in der Warenwelt erfordert, und der heutigen Lichtgeschwindigkeit finanzieller Transaktionen. Dem Hinnehmen der Globalisierung entspricht es, daß von Großbetrieben wie der Deutschen Bank und Mercedes Benz die Abschaffung der sozialen Marktwirtschaft gefordert wird, ohne daß es politisch zu einem Aufschrei kommt. Mit dem alleinigen Unternehmensziel "shareholder value" wird der Firmenprofit zum einzigen Maßstab unternehmerischen HandeIns. Wer den Gewinn dann tatsächlich bekommt, ist eine andere Frage. In Amerika jedenfalls nicht unbedingt die Aktionäre (shareholder), sondern oft ein Management, welches sich aller Kontrollen entzieht. Der Grundgedanke der sozialen Marktwirtschaft war die Sozialpflichtigkeit von Eigentum und Wirtschafts vorgängen. Die Wirtschaftsvorgänge sollten unbeeinflußt durch Staat normalerweise nur durch Märkte gesteuert werden. Diese Abläufe erfolgten aber innerhalb eines politisch bestimmten Datenkranzes, der bewirken sollte, daß Wirtschaften eine dem Allgemeinwohl dienende Veranstaltung bleiben würde - so die Theorie. Mit "shareholder value" ist aber nichts anderes gemeint als der Haifischkapitalismus zur Zeit des "Manchestertums". All dies sind keine Themen der Politik. Diese beklagt das Fehlen ausländischer Investitionen in unserem Land und ist entsetzt über das Ansteigen der Arbeitslosigkeit. Die ist in der Tat auf Dauer unerträglich hoch, aber die in der Politik umstrittenen Maßnahmen wie ABM-Programme oder Regelungen des Vorruhestandes sind ein bloßes Schönen der Arbeitslosenstatistik und kein Korrektiv. 3 "Spiel ohne Grenzen", iwd, Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft, Jg. 23/16. 10. 1997.

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Nun muß der deutschen Wirtschaft attestiert werden, daß hier ein Umbau im Gange ist - weniger erzwungen durch Konkurrenz im Inland als durch die Einbindung in die internationalen Entwicklungen. Offensichtlich ist Routinearbeit nicht mit unseren Tarifvorstellungen zu bezahlen und wird auch durch technische Entwicklungen weitestgehend ersetzbar. In welchem Umfang - das ist eine Frage der Preise der Arbeit im Vergleich zu den Preisen für Investitionen. Arbeit mit geringer Wertschöpfung ist zu unseren Tariflöhnen nicht zu bezahlen. Unterderhand, aber wesentlich langsamer als in den USA, gibt es bei uns jetzt auch Reaktionen auf diese Entwicklung durch Spreizung der Löhne und Teilzeitbeschäftigung. Das hat zur Folge, daß es dann auch bei uns wie in den USA verbreiteter die "working poor" gibt. Das wiederum könnte durch solche Maßnahmen wie die negative Einkommenssteuer (Bürgergeld) sozial erträglich gestaltet werden. Hinzu kommt die größere Flexibilisierung in den Arbeitsbedingungen. Der Flächentarifvertrag - nichts anderes als ein Branchenkartell - ist gemildert, stellt aber immer noch eine große Belastung für weniger gut verdienende Klein- oder Mittelbetriebe dar. Die Flexibilisierung der Arbeit hat zugenommen, wenngleich bei den Gewerkschaften Sonntags- und Nachtarbeit immer noch Tabuthemen sind4 • Jedenfalls ist das, was im Hinblick auf mehr Beschäftigung ohne große Publizität verändert wird, nicht Folge politischer Gestaltung. Es ist eine Dysfunktion des Korporatismus, daß hier eine Tendenz besteht, Probleme so zu definieren, wie es den Handlungsmöglichkeiten der Partner im Korporatismus entspricht. Da wird dann eben in Projekten gedacht und nicht grundsätzlich analysiert, wie es zu beklagten Erscheinungen kommt und wie man ihnen so begegnet, daß es ein neues Äquilibrium in der Wirtschaft gibt - also wie man auf die Entwicklungen ordnungspolitisch reagiert. Positiv muß aber konzidiert werden, daß die korporatistischen Systeme nicht diejenigen Sozialkosten einer Marktwirtschaft verursachen, die nicht sozial gesteuert wird. Sozialkosten, wie sie in Amerika im 19. Jahrhundert entstanden und heute wieder zu beobachten sind, würde tatsächlich unser politisches System auf dem westeuropäischen Kontinent kaum ertragen.

IH. Charakterisierung der Krise des Sozialstaates Mittlerweile hat Bundeskanzler Kohl sich öffentlich für einen Umbau des Sozialstaates ausgesprochen. Inzwischen werde ein Drittel des Bruttoinlandsproduktes für soziale Zwecke ausgegeben, und "mit einer solchen Sozialleistungsquote sind wir an der Grenze der Möglichkeiten angelangt". Nach dieser neuesten Äußerung von Kohl soll Umbau bedeuten, daß die Sozialleistungen auf die wirklich Bedürftigen zu konzentrieren sind5 . Das ist eine neue Einsicht; denn bis zu dieser Er4 Nach einer im November veröffentlichten Umfrage ist eine Mehrheit der Arbeitnehmer bereit zur Arbeit an Samstagen und bei Zuschlägen zum Lohn sogar an Sonntagen. 5 "Kohl für den Umbau des Sozialstaates", Bild, 20. 11. 1997, S. 1.

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klärung verhielt sich Bundesarbeitsminister Blüm, als ob er den Auftrag habe, die schlimmsten Problembereiche des Sozialstaates so zurecht zu flicken, daß wir wieder einmal Ruhe bis nach der nächsten Wahl hätten. Dieses Eingeständnis von Bundeskanzler Kohl kann als ein Musterbeispiel für die Verspätung des Problemverständnisses in der politischen Klasse gewertet werden. Der Sozialstaat ist so ziemlich überall in Westeuropa in einer Krise. Diese hat aber bei uns Besonderheiten. Die politischen Praktiker haben diese Besonderheiten bei den Lohnnebenkosten geortet, die einerseits für einen zufriedenstellenden Beschäftigungsstand zu hoch sind und dennoch nicht einmal reichen, um das jetzige Netz zu finanzieren. Das ist als Diagnose eines aktuellen Problems unstrittig, beläßt aber draußen vor, ob es denn diese Art der Finanzierung durch Anbindung an die Lohnkosten überhaupt geben sollte. In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts galt als zentrales politisches Problem "die soziale Frage". Mit dieser Bezeichnung war die Notwendigkeit gemeint, einen Weg zur Integration der Arbeiterschaft in die Gesellschaft zu finden. Sie war damals die einzige Großgruppe, für die es kein Vorbild in traditionellen Gesellschaften gab; Angestellte in nennenswerter Zahl existierten noch nicht. Diese Notwendigkeit sah selbst das konservative Establishment angesichts der Wahrscheinlichkeit kriegerischer Auseinandersetzungen in Europa, für die dann die Identifizierung der Arbeiterschaft mit dem Staat unerläßlich wäre. Die Sozialleistungen sollten diese Wirkung haben. Um den Effekt zu verstärken, wurden die neuen Sozialleistungen an den Lohn gebunden. Ein Drittel der Kosten für Alters- und Invalidensicherung zahlte der Arbeiter, aber (damals) zwei Drittel der Arbeitgeber. Auf diese Art und Weise sollte für die Arbeiter anschaulich werden, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmerschaft in Sozialpartnerschaft verbunden sind. Die Finanzierung des größten Teils unserer Sozialleistungen aus Lohnnebenkosten ist ein Musterbeispiel für die Trägheit institutioneller Regelungen. Lohnnebenkosten: dieses Finanzierungsprinzip besteht weiter, obgleich der Anlaß längst entfallen ist. Eine Fülle von Institutionen ist um dieses Regelungsprinzip herum entstanden und ennöglicht unzähligen Funktionären viele, viele Gremiensitzungen. Würden diese wegfallen, wäre das auch eine Bedeutungsminderung einer Funktionärskaste. Auch die Krankenversicherung ist an den Lohn gebunden. Ihr Kern ist die Allgemeine Ortskrankenkasse, und auch diese ist als institutionelle Regelung ein Beispiel für das Trägheitsprinzip. Entstanden ist das, was heute Ortskrankenkasse heißt, als Annenversorgung in südwestdeutschen Städten. Für ein städtisches Gebiet schloß die Verwaltung einen Kollektivvertrag mit der Ärztevertretung dieses Bezirks ab. Die Ärzte verpflichteten sich zur Behandlung nach dem Sachleistungsprinzip, die Kommune überwies für einen Zeitraum der Ärztevertretung einen Gesamtbetrag, und die Ärztevertretung verteilte diesen dann an die einzelnen frei praktizierenden Ärzte. Der Grund: Annen Menschen traute man nicht zu, daß sie die für Gesundheitsversorgung empfangenen Mittel auch tatsächlich für diesen

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Zweck ausgeben würden. Es ist die gleiche Logik, die in Amerika zur Ausgabe von Essensmarken an Arme führte. Bismarck ließ sich dieses System als flächendeckendes Grundprinzip der Gesundheitsvorsorge für Arbeiter empfehlen. Eine Beitragsbemessungsgrenze bestimmte, daß weniger bedürftige Menschen sich an diesem Zwangssystem nicht beteiligen mußten. Längst ist der Sachgrund für diese Architektur entfallen, längst hat die Ortskrankenkasse durch immer weiteres Anheben der Beitragsbemessungsgrenze erreicht, daß der größere Teil der deutschen Bevölkerung dieser Kasse angehört. Bei diesem AOK-System weiß weder der Arzt, welche Unkosten er verursacht, noch der Patient, was Leistungen kosten. Infolge dessen müssen alle Ermahnungen, sich kostengünstig zu verhalten, ins Leere gehen. Entsprechend wird dann auch der Versuch, die Kosten zu kontrollieren, zum bloßen sozialistischen "Deckeln", zu einem Verbieten, statt zu versuchen, die Steuerungsmechanismen zu verändern. Als dann später die Angestellten als weitere Großgruppe der modemen Gesellschaft entstanden, wurde für sie das Ersatzkassenprinzip eingeführt: Diese Menschen konnten ja mit Geld umgehen. Aber auch hier wurde der Grundsatz der Zwangsversicherung und das Einziehen der Beiträge als Lohnnebenkosten nach dem Renten-Prinzip eingeführt. Schon die Frage nach der weiteren Berechtigung des AOK-Prinzips wird als "politically non correct" sofort verbellt. Der Grund: In etwa 350 solcher Ortskrankenkassen gibt es jeweils Gremien, in denen Vertreter der Arbeitgeber und solche der Arbeitnehmer viele, viele Sitzungen besuchen und daraus einen Teil ihrer Bedeutsarnkeit im Verbandsgefüge ableiten. Daß es sich bei der Art der Finanzierung im Gesundheitssystem und bei den Renten um die falsche Architektur handelt, die eine bloße Übernahme von Prinzipien aus dem 19. Jahrhundert darstellt, ist den politisch Handelnden nicht bewußt, wenn sie über Kostensätze, Beitragsbemessungsgrenzen und Rentenbeiträge streiten. Hinzu kommt, daß unser Sozialsystem spätestens seit der sozialliberalen Koalition nicht mehr als Sicherung gegen Notsituationen verstanden wurde, sondern als Instrument zum Umbau der Gesellschaft. Das wirkt als Teil dessen, was zweite Einkommensverteilung genannt wurde - eine Umverteilung der ersten Einkommensverteilung durch Einkommen aus Berufsarbeit. Sozialpolitik wurde so zur Gesellschaftspolitik, und bis heute wirkt der Anspruch auf Umbau durch Sozialleistungen weiter6 . Immer weitere Sozialleistungen sollten das ausgleichen, was der Markt bewirkte. So wurde das Wohngeld erfunden, ergänzt durch Kleidergeld und durch immer weitere Formen der Sozialhilfe - letztere übrigens als Aufgabe der Gemeinden, weil das im 19. Jahrhundert einmal so festgelegt wurde. Durch Familienausgleich sollten die Unterschiede in der Belastung je nach Zusammensetzung eines 6 Das zuständige Ministerium heißt bezeichnenderweise "Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung".

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Haushaltes ausgeglichen, durch Pflegeversicherung die Abhängigkeit von Krankenkassen gemindert werden. Die ,,Erlebnistherapie" erlaubte es Sozialarbeitern, mit dem Vorwand der Therapierung von Sozialfällen Australien und Neuseeland zu bereisen. Dem Ziel des Ausgleichs für die unterschiedliche Belastung je nach Kinderzahl und der Erwerbstätigkeit diente just in diesem Jahr, als die Grenzen der Belastbarkeit des Sozialleistungssystems bereits überschritten waren, die Veränderungen in der Anrechnung von Erziehungszeiten auf die Renten. Ob das finanzierbar war, interessierte Befürworter wie Frau Süssmuth überhaupt nicht. Wo ein politischer Wille, da muß eben auch ein finanzieller Weg sein. Die Finanzierung der Sozialleistungen muß abgekoppelt werden von der Erwerbsarbeit und auf die Grundversorgung konzentriert werden7 • Sollte das dann dazu führen, daß die Leistungen mit einem politisch zu bestimmenden Lebensstandard nicht mehr übereinstimmen, könnten Mt;chanismen wie die bereits erwähnte negative Einkommenssteuer (Bürgergeld) Defizite ausgleichen. Dabei kann es aber nur um Ausgleich gehen und nicht um die Weiterführung des Versuchs, über Sozialleistung die Gesellschaft umzubauen. Eine Grundsatzdiskussion über letzteres unterbleibt im heutigen politischen System. Ein Beispiel für den Versuch, an Symptomen zu kurieren, statt die strukturellen Probleme anzugehen, ist die Diskussion um die sogenannten 61O-DM-Jobs. Diese "geringfügigen" Beschäftigungsverhältnisse wurden bisher nur pauschal besteuert und von Sozialabgaben freigestellt. Mit diesen Vergünstigungen sollte es Menschen leichter werden, eine Stelle zu finden, die bei vollem Heranziehen zu den Abgaben auch von Beschäftigungen mit einem Entgelt von weniger als 610 DM beschäftigungslos geblieben wären. Hier sehen die Sozialpolitiker der großen Parteien jetzt eine Möglichkeit, die Einnahmen der gesetzlichen Rentenversicherung zu erhöhen. Frau Süssmuth verbreitet genaue Zahlen: "Die Ausweitung (der 610DM-Jobs) hat zu Mindereinnahmen in der Rentenkasse von 3,2 Milliarden DM geführt"s. Dabei existieren bis heute nicht einmal verläßliche Statistiken, wie viele dieser Jobs es überhaupt gibt, in denen Beschäftigte in maximal 15 Wochenstunden tätig sind. Der DGB erwähnt hier, daß eine volle Beitragspflichtigkeit dieser wenig bezahlten Jobs zwischen 15 bis 20 Milliarden DM für die Rentenkassen erbringen könnten. Wahrscheinlicher sind sieben Milliarden9 - was weniger einbringt, als durch die gerade jetzt erfolgte Erhöhung der Anrechenzeiten bzw. zusätzlich bei der Erwerbsunfähigkeitsrente ausgegeben wird. Die SPD schätzt, daß man bei 5,6 Millionen Menschen zusätzlich abkassieren kann, während das Statistische Bundesamt 1,6 Millionen ermittelt lO• 7 Vgl. Norbert Berthold/Comelia Schmidt: "Krise der Arbeitsgesellschaft und Privatisierung der Sozialpolitik", in: Aus Politik und Zeitgeschehen, Bonn, Heft B 48 - 49/97, S. 3 -

11.

8 9

"Kosten senken. Interview mit Rita Süssmuth", Express, 29. 10. 1997, S. 2. Dieter Hundt: "Triumph der Milchmädchenrechnung", Arbeitgeber 22/49, 1997.

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Der Nachteil: Werden diese Jobs steuerpflichtig, gibt es mehr Arbeitslose, was aber der Politik der DGB entspricht, die Gutverdienenden auf Kosten schlecht Verdienender zu privilegieren und dafür Arbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen. Die gering Verdienenden müßten nach diesen Plänen 123,83 DM abführen, womit sie dann für die Zeit nach 65 Jahren einen Rentenanspruch von 6,69 DM (!) im Monat erwerben würdenlI. Und noch eine weitere Möglichkeit, die Einnahmen der Rentenkasse durch Abzocken zu erhöhen, hat die SPD erspäht. Die sogenannten "Scheinselbständigen" sollen verpflichtet werden, in die gesetzliche Krankenversicherung einzuzahlen. Angeblich werden den Sozialkassen durch Scheinselbständigkeit zehn Milliarden DM im Jahr vorenthalten - wobei unklar bleibt, wie die Zahl zustande gekommen ist. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe des Handels hält sie für "weit überzogen". Als Scheinselbständige gelten für die SPD alle diejenigen rechtlich und wirtschaftlich Selbständigen, die von einem einzelnen großen Abnehmer abhängig sind 12 • Galt es bisher als Maxime der Wirtschaftspolitik, die Zahl der selbständig Tätigen möglichst zu erhalten und durch Erleichterung der Existenzgrundung vielleicht noch zu steigern, so spielen solche grundsätzlichen Erwägungen keine Rolle, wenn es um das Stopfen von Löchern in den großen Sozialkassen geht. Dann werden eben auch einmal aus selbständigen Existenzen Zwangsmitglieder in Sozialkassen. Allgemein muß beklagt werden, daß in diesem Land die sozialpolitischen Entscheidungen denjenigen überlassen sind, die Sozialpolitik zu ihrer Spezialität machten, und die wiederum sind durchweg eingebunden in das Netz der Interessengruppen, die unsere Sozialkassen verwalten. Es ist von der Politik nicht verstanden worden, daß für unser Wohlergehen Sozialpolitik so wichtig ist wie Wirtschaftspolitik. Das ist kein Spezialgebiet, sondern von der Sache her eben ein zentraler Teil der Wirtschaftspolitik selbst.

IV. Zum Zustand unseres Parteiensystems

In der Wirtschaftspolitik ist an die Stelle der Ordnungspolitik eine Lähmung getreten, ein Verlust der Vorstellung, man könne bei dieser Entwicklung noch etwas eingreifend bewirken. So bleiben dann die Führungspersonen in Wirtschaft und Politik, teilweise auch in der Wissenschaft, tatenlos angesichts der Deformierung der sozialen Marktwirtschaft zum Haifischkapitalismus des Typs 1830. An die 10 Der Rentrop-Brief, Nr. 45, 7. 11. 1997: "Das Kind mit dem Bade ausschütten", iwd, S. 6, Nr.46, 13. 11. 1997. 11 Helmut Markwort: "Tagebuch", Focus, 10. 11. 1997, S. 3. 12 Horst Biallo: "Risiko Scheinselbständigkeit: Die Angst vor Bonns Aktionismus", Welt am Sonntag, 23.11. 1997.

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Stelle des Versuches, die Wirtschaft der Gesellschaft dienstbar zu halten, tritt der Glaube, eine "unsichtbare Hand" werde schon alles zum besten wenden. So explodiert dann insbesondere die Finanzwirtschaft und dabei wieder der Handel mit inexistenten Dingen wie Optionen, Bond-Stripping oder anderen Derivaten. Ich will nicht unsere real existierende politische Verfassung an meinen Idealvorstellungen über Demokratie messen. Vielmehr will ich versuchen, die Hilflosigkeit im politischen System gegenüber epochalen Entwicklungen in der Wirtschaft und im Sozialen durch einen Funktionskatalog zu fassen. Dieser Funktionskatalog für Parteien umfaßt bei mir die folgenden Punkte: 1. Programmformulierung und Interessenaggregation

Diese Aufgabe ist in einer pluralistischen Gesellschaft mit gegensätzlichen Interessen in ihrer Bedeutung zentral. Gäbe es keine Bündelung zu Programmen, so würden sich die gegensätzlichen Interessen als reine Ein-Interessen-Bewegungen öffentlich durchzusetzen versuchen. Kleine Parteien können sich hier eher schon einmal mit einer geringen Spannbreite der zu vertretenden Interessen und Zielsetzungen begnügen, aber große Parteien müssen diese Gegensätze in der Bevölkerung als interne Spannung aushalten. Das tun sie in der real existierenden Politik nur teilweise. Tendentiell schaffen sich Parteien Erleichterungen, indem sie sich mit Minoritäten solidarisieren gegen die Interessen der Mehrheit, weil durchweg Minderheiten ihre Forderungen entschiedener anmelden und Mehrheiten sich in unserem Wahlsystem inhaltlich nicht punktuell durchsetzen können. Ein Beispiel ist bei den Sozialdemokraten die Bildungspolitik linker Lehrer. Die Gesamtschule ist als Strukturtyp nichts anderes als die American High School, mit der die USA seit Ende der dreißiger Jahre ihr Bildungsniveau ruiniert haben 13 . Jetzt sind nahezu zehn Prozent aller Amerikaner funktionale Analphabeten. Aber diejenigen, die damals diesen falschen Weg durchsetzten, sind längst in Pension. So wird das bei uns auch gehen, wenn nicht die Gegenpartei CDU hier bremsend wirken kann. Für die FDP ist ein Beispiel die linke Justizpolitik. Die Folgen, nämlich eine explodierende Kriminalstatistik, müssen ihre Protagonisten ja nicht tragen, weil sie in wohl behüteten Wohnquartieren zu residieren pflegen. Für die CDU ist ein Beispiel die Familienpolitik, mit der immer weitere Bereiche des familiären Lebens verrechtlicht werden, was den Familienverbänden gefällt. In alle diesen Fällen wird innerparteilicher Friede durch Nachgeben für die Vertreter einer speziellen Ideologie oder eines speziellen Interesses erkauft.

13

Erwin K. und Ute Scheuch: "USA - der marode Gigant?", Freiburg im Breisgau, 1992.

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Die Programmfonnulierung und Interessensaggregation war für Parteien leichter, solange sie Milieuparteien waren und eine weltanschauliche Orientierung aufwiesen. Letzteres tun sie heute nur in höchst verschwommener Fonn - worauf wir noch verweisen werden. 2. Rekrutierung von Führungspersonal

Die zweitwichtigste Funktion von Parteien ist die Rekrutierung von Führungspersonal. Früher gab es Vorauswahlen für Karrieren in den Parteien in den Zirkeln lokaler Honoratioren und den vielen Korporationen, die als Mittelebene der Entscheidung in der Bundesrepublik so wichtig sind. Dazu gehörten Vereinigungen wie Haus- und Grundbesitzer, Gewerkschaften, Heimatvereine, kirchliche Gruppen und auch Sportverbände. Heute sind die Karrieren in den Parteien selbst gegenüber Karrieren in diesen Organisationen sehr viel bedeutender geworden l4 . Frühzeitig in den Jugendverbänden setzen sich hier Gruppierungen durch und steigen über die lokale Politik auf. Dabei hat die hohe Dotierung der Abgeordneten im Vergleich zu der Begründung für die Erhöhung der Bezüge einen gegenteiligen Effekt. Bei der Erhöhung der Bezüge wird versprochen, jetzt könne man die Qualität des Personals verbessern. Tatsächlich bekommen wir tendentiell ein immer einheitlicheres Führungspersonal aus Berufspolitikern, das außerhalb seiner politischen Betätigung keine Lebenserfahrung aufweist und mangels beruflicher Selbständigkeit auch von einer Partei völlig abhängig ist l5 . Da dies kombiniert ist mit hohen Einkünften, einer materiell sehr angenehmen Existenz und einem Herausheben aus der Lebensweise der Bevölkerung durch staatlichen Pomp, wird verständlich, daß sich diese Berufspolitiker gnadenlos jeglicher Konkurrenz mit anderen Lebensläufen zu erwehren suchen. Ämterpatronage verschlimmert dies alles nur; denn damit schwappen personelle Fehlentwicklungen in den Parteien hinein in die Gesellschaft allgemein. Im Oktober 1997 gab es in Köln gleich zwei Beispiele, wo von den Parteien Ämterpatronage in der Öffentlichkeit als Rechtsanspruch angemeldet wurde. Hier war die Stelle eines Geschäftsführers der künftigen Bäder GmbH ausgeschrieben worden - wie das Gesetz es befahl. Der CDU-Fraktionsgeschäftsführer erklärte demgegenüber in der Öffentlichkeit, die CDU habe bei diesem Posten das Vorschlagsrecht. Im Gespräch für diesen Posten ist der sogenannte sportpolitische Sprecher der CDU I6 . Erwin K. und Ute Scheuch: "Cliquen, Klüngel und Karrieren", Reinbek, 1992. Nach Art. 38 GG ist der Abgeordnete nur von seinem Gewissen abhängig. Als ein Abgeordneter im Bundestag unter Berufung auf sein Gewissen aus der Fraktionsdisziplin ausscherte, fing er sich den wütend-zynischen Zwischenruf ein: "Laß Dich das nächste Mal von Deinem Gewissen aufstellen". 16 "Gerangel um die Posten-Besetzung. Geschäftsführer für Bäder GmbH gesucht", Kölnische Rundschau, 21. 10. 1997. 14

15

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Gleichzeitig war auch die Position Nr. 2 in der Stadtverwaltung, der Stadtdirektor, zu besetzen. Hierfür bestätigte die SPD den Anspruch der CDU auf ein Vorschlagsrecht. In der CDU gab es dann einen Kampf, welcher von zwei Kandidaten von der Partei in dieses Amt eingewiesen werden sollte: ein Verwaltungsfachmann oder ein Berufsschullehrer. Dem ersteren wurden nach streng sachlichen Gesichtspunkten die größeren Chancen eingeräumt als dem letzteren, der als reiner Berufspolitiker sich bisher in Köln vor allem als mehrmaliger Bundestags(zähl)kandidat hervorgetan hatte. Bei seiner Kandidatur für den Stadtdirektorenposten setzte er auf seine engen Verbindungen, die er zu verschiedenen Zirkeln in Partei und Fraktion unterhält. Damit glaubte er, eine ausreichend starke Lobby gegen den Verwaltungsfachmann zu haben 17 • Im übrigen hatte dieser CDU-Politiker nur als Schuldezernent (ernannt mit Hilfe der Grünen) und durch einen (freundlich formuliert) unkonventionellen Lebenswandel von sich reden gemacht. 3. Organisation von Wahlkämpfen

Diese Funktion wurde vom Bundesverfassungsgericht als die wichtigste Aufgabe von Parteien angesehen. Damit wurde dann begründet, daß die Parteien aus Steuergeldern zu finanzieren seien, wobei diese Finanzierung in Deutschland die Bezeichnung Wahlkampfkostenpauschale hat. Das ist eine Funktion, die in ihrer Bedeutsamkeit auch abhängt vom Wahlgesetz und von der Ebene, für die Wahlkämpfe durchgeführt werden. Für die Kommunalebene ist die Existenz von Parteien nicht unerläßlich, wie sich an den Erfolgen von Freien Wahlergemeinschaften zeigt. So ist beispielsweise selbst in einer Stadt wie Bielefeld eine freie Wählergemeinschaft für das Kommunalparlament erfolgreich. Allgemein aber ist unter den Bedingungen des Verhältniswahlrechtes wohl spätestens ab Landesebene eine alternative Organisationsform zu den Parteien für Wahlkämpfe nicht praktikabel. Anders muß das Urteil ausfallen für Wahlkämpfe bei Mehrheitswahlrecht. Hier gelang es dem Einzelkämpfer Ross Perot in den USA, durch geschickte Nutzung der neuen Kommunikationsmittel bei Präsidentschaftswahlen auf Anhieb über 13 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinen. 4. Mobilisierung für politische Entscheidungen

Hier stehen die Parteien in Konkurrenz zu anderen Organisationen wie Interessengruppen und Medien. Für unsere Parteien mußte man in den letzten Jahren sogar zu der Schlußfolgerung kommen, daß sie ihre Aufgaben in der Verhinderung einer Mobilisierung sehen. Ein Beispiel ist die Einführung des Euro, wo bis Anfang des Jahres 1997 eine Art Kartell in den Partei führungen in Deutschland jegli17 ,,zwei Kandidaten für Stadtdirektorenposten. Heute soll in der CDU die Entscheidung fallen", Kölnische Rundschau, 29. 10. 1997.

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che Diskussion über Vor- und Nachteile zu verhindern versuchte 18 . Ein weiteres Beispiel ist die Rechtschreibrefonn. Auch hier wurde nicht etwa versucht, eine möglichst breite öffentliche Mobilisierung herbeizuführen. Klammheimlich wurden Schulbücher im Wert von angeblich 300 Millionen DM gedruckt, und als sich 1997 Widerstand zu regen begann, wurde einfach die Einführung vorgezogen, damit man vollendete Tatsachen hatte, bevor eine breite Diskussion erfolgen konnte. Dieses Verhalten ist natürlich dysfunktional, weil so durchgesetzte Entscheidungen keine breite Unterstützung finden, wenn über den Inhalt sich dann schließlich Fronten bilden. 5. Herstellung öffentlicher Meinung

Öffentliche Meinung ist ein entscheidender Teil der demokratischen Willensbildung. Neben den Medien und den Interessengruppen haben hier Parteien eine wichtige Funktion. 6. Vertretung von Interessen

Diese können sich an den Parteien vorbei geltend machen. Werden sie aber über Parteien Teil des politischen Prozesses, so führt dies gewöhnlich zu einer Dämpfung der Einseitigkeiten, siehe Punkt 1. In den siebziger Jahren gab es bei uns in Deutschland eine umfängliche Diskussion über die Selektivität, mit der Interessen zur öffentlichen Geltung kommen. Eine ganze Anzahl von Interessen ist in üblicher Weise nicht organisierbar - wie die Interessen der Konsumenten im Vergleich zu denen der Produzenten. Solche Interessen werden in angelsächsischen Ländern eher von Bürgergruppen als von Parteien wahrgenommen. Ein Musterbeispiel ist die von Ralph Nader in den USA ausgelöste Konsumentenbewegung.

7. Plattformfür Weltanschauungsdienste

Weltanschauungsparteien waren einmal ein Kennzeichen der Politik in Kontinentaleuropa. Solch systematisierte und im Anspruch flächendeckende Systeme werden heute bei den Parteien nicht mehr ausgemacht. Selbstverständlich gibt es nach wie vor weltanschauliche Orientierungen, aber sie bleiben teilweise im vorpolitischen Raum oder werden in Parteien zu Minderheitenpositionen. Beispiel hierfür ist die Bewegung creationism in den USA, die von der prinzipiellen Gleich18 Dabei ist der Euro ein mindestens überaus waghalsiges Unternehmen. Siehe hierzu Manfred J. M. Neumann: "Ist Europa reif für die Währungsunion?", in: Aus Politik und Zeitgeschehen, Bonn, Heft B 47/97, S. 3 - 10.

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wertigkeit aller Lebensfonnen ausgeht. Bei Teilen der Grünen sind solch weltanschauliche Orientierungen auszumachen, ebenso bei linken Sozialdemokraten und sehr frommen CDU-Mitgliedem. Aber allgemein gilt heute: daß das Handeln einzelner Politiker zwar durch jeweilige, aber privat bleibende Weltanschauungen bestimmt werden kann, nicht jedoch das ganzer Parteien. Wird zusammenfassend über die Eignung von Parteien aufgrund eines Funktionskatalogs geurteilt, so wird auffällig, daß die Ausdehnung des Mitspracherechts der Parteien bis hin zur Kontrolle über immer mehr Lebensbereiche sich sukzessiv in die Gesellschaft hinein ausbreitet, aber bei immer geringerer Effizienz in den Kemfunktionen. Inzwischen nimmt zu 82 Prozent im Westen und 88 Prozent im Osten dieses Landes die Bevölkerung einen Refonnstau wahr. Folge des Refonnstaus ist zunehmend ein Ansehensverlust der Parteien - und auch der Bundesregierung -, der dramatische Züge anzunehmen beginnt.

Politik am Pranger

Vertrauen der Deutschen in die Institutionen, Wertung auf einer Skala von -5 bis +5 Umfrage Bundesverband deutscher Banken

I

-1,3

Parteien -1,0 -0,2 -0,2

-

I

Bundesregierung

I

-

Unternehmerverbände

0,0

Gewerkschaften

0,0 Fernsehen

I

Banken

Kirchen

--

Presse +0,2

l +0,6

• +0,8

Gerichte

I

, +1,6

Bundesbank I

+2,0

Bundesverfassungsgericht

)

-1,5

-1,0

+2,1

) Polizei ·0,5

°

(

(

0,5

1,0

Politik am Pranger 19

19

Die Welt, 28. 10. 1997.

(

1,5

(

2,0

2,5

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V. Kernpunkte der Kritik: Reformstau und Finanzgebaren

Reformstau auf der einen Seite und ein Finanzgebaren, das von der Bevölkerung als inkompetent und provokant gewertet wird, bilden eine explosive Mischung. Kein einziges großes Reformvorhaben im Inneren ist den politischen Institutionen seit Mitte der siebziger Jahre gelungen. Das zentrale Reformvorhaben zu Beginn der siebziger Jahre, nämlich die Bildungsreform, hat zwar eine Öffnung der Institutionen für sehr viel mehr Menschen als früher bewirkt, aber die Bildungsinstitutionen selbst krisenhaft werden lassen. Das Glanzstück der Regierung Kohl sollte die Steuerreform werden. Die war denn auch überfällig, weil unser System der Steuereinnahmen unter Überkomplexität und gleichzeitiger Ineffizienz ins Taumeln geraten ist. Ein Indiz hierfür ist der Verfall der Einkommensteuer, wo es jetzt mehr Rückzahlungen an Steuerpflichtige als Einnahmen gibt. Das deutsche Steuersystem ist gekennzeichnet einmal durch hohe Steuersätze bei gleichzeitiger Vielfalt der Möglichkeiten, Aufwendungen steuermindernd geltend zu machen. So ist dann die Bundesrepublik nominell ein Hochsteuerland, nach den neuesten Statistiken der Eurostat - der Statistischen Behörde der Europäischen Gemeinschaft - aber leicht unterdurchschnittlich in der tatsächlichen Steuerbelastung im Vergleich zu der Europäischen Gemeinschaft insgesamt2o . In der Finanzwissenschaft gilt es als hohe Kunst, die sogenannte Steuerinzidenz vorauszusagen. Mit Steuerinzidenz ist die Antwort auf die Frage gemeint: Wer bezahlt denn nun im wirtschaftlichen Sinn eine Steuer, ungeachtet der rechtlichen Verpflichtung zur Ablieferung von Beträgen? Bei der Mehrwertsteuer ist steuerpflichtig im rechtlichen Sinn derjenige, der eine Sache verkauft; er darf dann allerdings diese Steuer in der nächsten Transaktion auf den dort als Käufer Auftretenden überwälzen. In einem Steuersystem wie dem unsrigen mit vielen Anrechenbarkeiten ist nicht mehr durchsichtig, wo im wirtschaftlichen Sinn schließlich die Steuer zu tragen ist. Ein Beispiel für widersinnige Anrechenbarkeiten von Aufwendungen sind die Verlustzuweisungen. Hier ist ein besonders pikantes Beispiel die Möglichkeit von Firmen mit Töchtern im Ausland, die dort eingefahrenen Verluste im nominellen Hochsteuerland Bundesrepublik steuermindernd geltend zu machen 21 . Konzerne können selbstverständlich durch die Manipulation von internen Verrechnungspreisen entscheiden, in welchem Land Verluste anfallen und wo sich Gewinne ergeben. Tatsächlich zahlen die größten Firmen der Bundesrepublik inzwischen hier keine Steuern mehr. Dies wurde von Steuerexperten dann auch so erkannt, aber Abhilfe war bis heute politisch nicht durchsetzbar. Die SPD Nordrhein-Westfalen wäre bereit, der Strei20 21

Eurostat, op. eit. Nach § 2a, Abs. 3 und 4 des jetzt gültigen Einkommensteuergesetzes.

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chung dieser Möglichkeit zuzustimmen; die CDU würde dem aber widersprechen, wenn nicht gleichzeitig eine Senkung der Steuersätze erfolgte. Streichen einer Vergünstigung ist selbstverständlich gleichbedeutend mit Steuererhöhung, und um das Gegenteil zu bewirken, war die CDU ja angetreten. Aus den Vereinigten Staaten hatte der CDU-Abgeordnete Uldall die Idee der sogenannten "flat tax" übernommen und in die deutsche Politik als Vorschlag eingeführt. Mit der "flachen Steuer" ist gemeint, daß die Prozentsätze der Einkünfte, die an die Steuer abzuführen sind, radikal gesenkt werden, wobei gleichzeitig die Möglichkeiten, Aufwendungen steuerrnindernd geltend zu machen, sehr stark zu kürzen sind. Wenn wirklich so verfahren wird wie vorgeschlagen, könnten Steuerpflichtige tatsächlich ihre Erklärungen gegenüber dem Finanzamt selber ausfüllen, und es wäre besser voraussagbar, wer denn tatsächlich die Steuerlast trägt. Um unser hochkompliziertes System, Aufwendungen steuennindernd geltend machen zu können, ist jedoch ein ganzes Geflecht von Interessenten entstanden, und insbesondere größere Wirtschaftsunternehmen können mit dem undurchsichtigen System hervorragend leben. So war dann auch der Vorschlag von Uldall schnell vom Tisch, und Bundesfinanzminister Waigel machte sich an die Arbeit, flickzuschustern. Nicht einmal das war dann politisch durchsetzbar, weil der SPDVorsitzende Lafontaine glaubte, das Scheitern der Refonn für seinen Wahlkampf zu benötigen. Tatsächlich wäre auch beim Erfolg der Vorschläge von Waigel keine richtige Refonn herausgekommen. Jetzt haben wir allerdings eine ungeplante "Refonn"; denn eine Art von Refonn ist es, wenn die Struktur der Steuerzahlungen heute im Vergleich zu früher sehr anders wurde. Es hat eine Verlagerung von den direkten auf die indirekten Steuern gegeben, und da die Erhöhung der Mehrwertsteuer die administrativ und politisch einfachste Lösung bei Finanzbedarf ist, wird weiter an dieser Schraube gedreht. Dabei galt es in der Finanzwissenschaft als ausgemacht, daß die indirekten Steuern die sozial ungerechtesten sind. Die soziale Gerechtigkeit von Steuern ist angesichts dringender Finanznöte aber kein entscheidender Gesichtspunkt mehr. Dem Staat drohen weitere Einkommensverluste durch den Wettbewerb zwischen den Ländern der Europäischen Gemeinschaft um die günstigsten Konditionen für die Wirtschaft22 . Der baden-württembergische Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder argumentiert, daß bei einer Verlagerung der Betriebsstätte in die Docks von Dublin die Finnen nur noch eine Steuerlast von zehn Prozent zu tragen hätten 23 . Gegen eine solche Fonn von Steuerflucht innerhalb des Gemeinsamen Marktes ist gegenwärtig keine Gegenwehr erkennbar. "The disappearing taxpayer", in: The Economist, 31. 5.1997, S. 11. "Sonst gehen die Haushalte kaputt. Baden-Württembergs Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder will verhindern, daß Firmen mit Verlustvorträgen wie bisher Steuern sparen", FOCUS 46/ 1997. 22 23

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Der Präsident des Bundes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, hat eine Struktureigenschaft unseres politischen Systems, den Föderalismus, für den Reformstau verantwortlich gemacht. Das ist richtig und greift doch analytisch zu kurz. Es ist nicht der Föderalismus als solcher, sondern die deutsche Art seiner Ausgestaltung 24 • Wir hatten in der Bundesrepublik nie die klare Trennung zwischen Aufgaben und Institutionen der Länder und denen des Bundes, und Staatsrechtslehrer sahen in diesem "kooperativen Föderalismus" besondere Vorzüge. Im Verlauf der siebziger Jahre wurden diese "kooperativen Züge" noch weiter ausgedehnt, indem immer weitere Handlungsfelder als Gemeinschaftsaufgaben ausgestaltet wurden. Fritz Scharpf brachte die damit verbundene Dysfunktion auf den Begriff "Politikverflechtung". Das bedeutet, daß die Partner nur im Konsens voll handlungsfähig sind und sonst einander blockieren können. Diese Politikverflechtung ist nicht begrenzt auf den Föderalismus, also den Zwang zum Zusammenwirken von Bund und Ländern. Die Politikverflechtung ergibt sich auch anderweitig aus unserer Form des Korporatismus. Wenn sich alle einig werden wie in der konzertierten Aktion, dann ist die Chance der Verbandsfunktionäre sehr groß, die getroffenen Vereinbarungen bei ihrer Klientel auch umsetzen zu können. Das System funktioniert allerdings nur bei einem Mindestmaß an Konsens - vielleicht auch noch bei einem explosiv ansteigenden Unmut der Bevölkerung über die Handlungsunfahigkeit politischer Figuren und politischer Institutionen. Auf diesen Punkt treiben wir zu. Bei dem Reden über die Reform der Krankenversicherung wird besonders viel Aufmerksamkeit auf die Kosten der ärztlichen Versorgung in freien Praxen gerichtet. Der wichtigste Kostentreiber unseres Gesundheitswesens sind jedoch die Krankenhäuser. Krankenhäuser haben allerdings Träger, die besonders gut in die Politik rückvermittelt sind, und diese können Politikern außerordentlich viel Ungemach bereiten. So konzentriert sich der Versuch einer Einwirkung auf Kostenentwicklung auf die im politischen Spiel Schwächsten, nämlich die Ärzte. Bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wird immer noch versucht, der Lohnspreizung für Tatigkeiten mit geringer Wertschöpfung entgegenzuwirken - auch wenn in der öffentlichen Diskussion gern auf die Niederlande verwiesen wird, die als angebliches Vorbild neben viel Kosmetik in der Arbeitslosenstatistik eben jene Lohnspreizung besonders entwickelten. Lohnspreizung ist jedoch das genaue Gegenteil der Prioritäten in der Tradition der deutschen Gewerkschaften, die eben Facharbeitergewerkschaften sind. Und so wird die Behandlung dieses Themas vor sich hergeschoben. Für die Rentenversicherung wäre eine Übernahme des Prinzips der Lebensarbeitszeit statt der Beendigung des Arbeitslebens nach dem Kalender erwägenswert. Für alle Berufe, bei denen der Berufseintritt überwiegend wegen hoher Qualifika24 Klaus Michael Miebach: "Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland", Inter Nationes, Bonn, Basis-Info 4 - 1997.

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tion erst spät erfolgt, würde sich dann die Zeit verlängern, in der Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt werden. Einer solchen Umstellung stehen allerdings gewichtige ideologische Hindernisse entgegen; denn die aus der Lebensarbeitszeit als Prinzip folgende Differenzierung der Lebensläufe widerspricht einer Chimäre, der sich vor allem die Gewerkschaften verpflichtet fühlen, nämlich der Solidarität aller Beschäftigten. Das Vermeiden von Konflikten, die den Konsens in anderen Bereichen gefährden können, ist die eine Folge unseres korporatistischen Systems. Die andere ist das Vermeiden von Öffentlichkeit. Eine Korporation erledigt Probleme innerhalb der Korporation. Wenn Konkurrenz zwischen Korporationen entsteht oder die Gegensätze in einer Korporation zu öffentlichen Angelegenheiten werden, dann gilt das als Gefährdung erprobter Formen von Konfliktbegrenzung. Lieber wird hinter der Bühne taktiert und getrickst; denn bei öffentlicher Kenntnis der Vorgänge wird die Kontrolle der Handelnden über den Verlauf gemindert. Ein Beispiel ist der Gegensatz über den Tagebau Garzweiler 11. Inzwischen dürfte bundesweit bekannt sein, daß die SPD für dieses vielleicht einmal größte Loch dieser Erde ist - nicht zuletzt weil ihre Schwerpunkte in den städtischen Kommunen zu einer Interessenidentität mit dem größten Stromerzeuger RWE führt, der Garzweiler als eine besonders billige Versorgung anstrebt, um dann besser in der Konkurrenz mit preiswertem französischen Atomstrom bestehen zu können. Ebenso entschieden sind die Grünen gegen Garzweiler 11. Rein rechtlich ist inzwischen der Weg für die Genehmigung und darauf folgend den Beginn der Arbeiten für Garzweiler 11 frei gekämpft. Da verfügt auf einmal die Grünen-Ministerin über ein Gutachten des Wuppertaler Öko-Instituts (dort beheimatet wegen SPD-Chef Rau), in dem die Notwendigkeit des Tagebaus bestritten wird; und wird diese Notwendigkeit verneint, dann kann das Genehmigungsverfahren neu aufgerollt werden. Nach dem normalen Geschäftsgang müßte aber jetzt das Bergamt Düren den Rahmenbetriebsplan für Rechtens erklären. Das wiederum würde die rotgrüne Koalition belasten. So kann dann der Oppositionsführer Linssen behaupten: "Auf das Amt wird durch die Regierung Rau massiver Druck ausgeübt, die Entscheidung zu verzögern". Angeblich wird dann RWE durch ein Entgegenkommen bei der Entscheidung über den Verkauf des Flugplatzes in Düsseldorf an Private eine Art Entschädigung in Aussicht gestellt25 . Ein analoges Strickmuster wird bei der Auseinandersetzung über einen zu erweiternden Hafen im Kölner Süden sichtbar, über den der wachsende Containerverkehr abgewickelt werden soll. Die Sozialdemokraten sind dafür, und die Ratspolitiker der Christdemokraten können sich untereinander nicht einigen. Da erschien es politisch taktisch klug, nach dem Muster von Radio Eriwan der Erweiterung des Hafens Godorf im Prinzip zuzustimmen, allerdings daran Voraussetzungen für Straßenbau zu knüpfen, die gegenwärtig nicht zu erfüllen sind. Die Industrie- und

25

"Landtag heute. Von Helmuth von der Gathen", Bild, 29. 10. 1997.

4 Speyer 130

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Handelskammer wertete dann diesen Beschluß als "taktische Spielchen der CDU, die dem Wirtschaftsraum Köln schweren Schaden zufügen,,26. Die politischen Akteure überbieten sich gegenwärtig im Tricksen zugunsten der Erfüllung der sogenannten Maastricht-Kriterien, insbesondere dem der Verschuldung, die nicht über 60 Prozent des Bruttosozialproduktes liegen darf. Mal fiel Bundesfinanzminister Waigel hierzu die Neubewertung der Goldreserven der Bundesbank ein, inzwischen auch der Erblasttilgungsfonds. Die Bundesregierung will zeitweise die Bedienung dieses Fonds einstellen, wodurch sie Geld gewinnen würde, obgleich dieser Fonds nur aus Schulden besteht, nämlich denen der DDR. Mit diesem Trick wird die Erhöhung der auszuweisenden Verschuldung vermieden, die sonst fällig wäre. All das ist selbstverständlich für die Öffentlichkeit nicht durchschaubar. Sie nimmt lediglich wahr, daß mit Verfahrensargumenten versucht wird, eine öffentliche Auseinandersetzung über unterschiedliche politische Prioritäten zu vermeiden. Aus einem politischen Gegensatz werden Probleme des Verwaltungsrechtes. Das korporatistische Prinzip ist also nicht nur in der gegenwärtigen Situation bremsend für die Handlungsfähigkeit. Der mit diesem Prinzip verbundene Verzicht auf Konkurrenz in der Öffentlichkeit bewirkt allgemein ein unnötiges Maß an Undurchschaubarkeit politischer Abläufe. Gleichzeitig wirkt das Finanzgebaren der Parteien provokant. Unlängst erregte sich ein Teil der Presse über die Höhe der Pensionen des Hamburger Spitzenpolitikers Voscherau. Seine Ansprüche von 17 000 DM im Monat entsprechen den Gehältern, die mittelgroße Firmen der Rechtsform GmbH ihrem Geschäftsführer zahlen (siehe die jährlichen Erhebungen des Beratungsinstituts Kienbaum über Gehälter). Ein eklatantes Beispiel ist auch der Fall Yzer. Sie wechselte von der Position eines parlamentarischen Staatssekretärs in die Stellung eines Geschäftsführers eines Pharmaverbandes. In dieser Funktion erhält sie eine Vergütung von etwa 400 000 DM im Jahr, behält aber ihren Sitz im Bundestag weiter bei und bezieht damit im Augenblick Zahlungen von weiteren ca. 200 000 DM. Zunächst hatte sie den Anspruch, daß sie zudem ein sogenanntes Übergangsgeld von 180000 DM kassieren konnte, verzichtete darauf aber widerwillig angesichts eines Entrüstungssturms in der Öffentlichkeit. Was besonders empörte: Mit ihren 35 Jahren hat Yzer bereits einen Rentenanspruch um die 9 000 DM monatlich erworben. Weitere Einzelheiten brauchen hier nicht ausgeführt zu werden. Von der üppigen Versorgung der Politiker mit hoch dotierten Stellen im Anschluß an ihre politische Tätigkeit haben wir selbst in zwei Büchern berichtet27 . Eine Fülle neuerer Unzuträglichkeiten findet sich vor allem bei Hans Herbert von Amims "Fetter Bauch regiert nicht gern,,28. 26 "Die CDU zeigt sich verärgert über Stellungnahme der IHK. ,Vorgang ist skandalös und unerträglich ", Kölnische Rundschau, 5. 9. 1997. 27 Erwin K. und Ute Scheuch: "Bürokraten auf den Chefetagen", Reinbek 1995, früher bereits in "Cliquen, Klüngel und Karrieren", op. eit.

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Es ist aber nicht nur der Zugriff der Politiker auf Vergünstigungen als Selbstversorgung auf hohem Niveau zu beanstanden, sondern ebenso die leichtfertige Art des Ausgebens von Steuergeldern. Ein Beispiel ist die Einrichtung immer weiterer Lehrstühle für ein Gebiet, das wissenschaftlich nicht richtig zu definieren ist, nämlich die Frauenforschung. Von diesen Lehrstühlen hat Nordrhein-Westfalen inzwischen 37. Als wir dies gegenüber der Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein in einer Fernseh-Talkshow mit der Mittelkürzung für die Hochschulen insgesamt konfrontierten, stieß unsere Kritik bei Frau Simonis auf Unverständnis. Diese Ausgabe sei doch politisch gewollt, und diese Wendung wiederum muß interpretiert werden als Bekenntnis: Für das, was politisch wünschbar ist, wird eben Geld ausgegeben, auch wenn man es nicht hat - im Gegensatz zu den Überlebensnotwendigkeiten im Privatleben. Die Berliner Verkehrsbetriebe, die hoch defizitär sind, unterhalten zwei Kegelbahnen mit Sauna und Gastronomie, die einen jährlichen Betriebsverlust von einer Million DM einfahren. Das Land Nordrhein-Westfalen gründete eine Wissenschaftsakademie mit drei Instituten in drei Städten, die jährlich viele Millionen DM kosten, aber wissenschaftlich völlig entbehrlich sind. Nicht jedoch politisch, weil hier insbesondere auch Landesvater Rau vor werbewirksamer Kulisse medienwirksam reden kann. Nach Mitteilungen des Bundes der Steuerzahler hat das Land Nordrhein-Westfalen seit 1982 22 Millionen DM für die Sozialakadernie Dortmund ausgegeben. Deren Kursangebote nahmen innerhalb von zehn Jahren im Schnitt nur 43 Teilnehmer wahr, wobei das Land niemand entsandte. Wie der Bund der Steuerzahler vorrechnete, verschwenden die öffentlichen Hände mit überflüssigen Projekten, Schlampereien, Fehlplanungen und Fehlinvestitionen jährlich rund 70 Milliarden DM. Damit ließen sich gleich zwei Steuerreforrnen finanzieren 29 . Das Amt für Abfallwirtschaft der. Stadt Köln hatte den besonderen Ärger des Oberstadtdirektors auf sich gezogen. Darin sehen Amtsmitglieder die Erklärung für eine Serie von teuren Umzügen. Das Amt soll am 1. Dezember 1997 von der linken auf die rechte Rheinseite umziehen. In dem dann neuen Domizil in KölnMülheim wird es allerdings nur 16 Monate bleiben, bis der Neubau des sogenannten Technischen Rathauses bezugsfertig ist. Das zweimalige Hin- und Herziehen kostet 1,4 Millionen DM3o . Für 1,5 Milliarden DM kaufte die Stadt Köln unter anderem besonders modeme Niederflurwagen. Die sind allerdings nur voll einsetzbar, wenn um die 230 Haltestellen aufwendig zu Einsteigburgen umgestaltet werden. Übrigens steht ein Groß28 Hans Herbert von Arnim: "Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse selbstbezogen und abgehoben", München 1997. 29 "Mit vollen Händen das Geld zum Fenster hinaus. Öffentliche Verschwendung: Steuerzahlerbund will Staatsdiener anzeigen", AKTIV, Wirtschaftszeitung, Nr. 21/11. 10. 1997, S. 1. 30 ,,1,4 Millionen Mark verpulvert: Kölner Behörde zieht für 16 Monate um", BILD, 14. 10.1997.

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teil dieser Wagen fortwährend in Reparaturwerkstätten. Die Stadt Köln verfügt bereits über voll einsatzfähige und moderne Straßenbahnwagen - nicht zuletzt aus einer Großanschaffung von sogenannten Stadtbahnwagen. Die sollen jetzt verkauft werden, weil sie ja noch voll funktionstüchtig sind. Die Frage, ob man angesichts der über sechs Milliarden DM Schulden der Stadt Köln sich diese Investitionen hatte leisten können, wurde öffentlich nicht ernsthaft diskutiert. Wenn schon Geld in Millionen- und Milliardenhöhe leichthändig vergeben wird, erfordert das Sparen, und das ist meist nur in kleiner Münze möglich. Vor einiger Zeit wurden aus Ersparnisgründen in Köln die Brunnen der Stadt abgestellt. Auf Nachfragen konnte die Verwaltung allerdings nicht sagen, wie hoch die Einsparung war. Inzwischen sprudeln diese Quellen wieder, weil dann die Wartungskosten geringer sind als bei einer Stillegung. Viel Kritik zog in Köln auch die Kürzung der Schulreinigung auf sich. Seit Anfang Oktober wird nur noch einmal die Woche statt wie bisher zweimal geputzt. Die Lokalpresse berichtet, daß die Eltern nun selber zum Besen greifen 31 . Die Reparatur von Straßen wird gestreckt, was denn zugleich die von seiten der Grünen gewünschte nützliche Wirkung hat, daß wegen des schlechten Straßenbelags die Autofahrer langsamer fahren müssen. Das Strecken der Reparaturen hat inzwischen in Köln zu einem Stau unterlassener Arbeiten in Höhe von geschätzten mindestens zwei Milliarden DM geführt. Es regnet in Schulen hinein, in denen Lehrer gehalten sind, sparsam mit der Kreide umzugehen. Der Universität zu Köln ergeht es nicht besser. Hier gibt es Institute, in denen 20 Jahre lang keine Instandsetzung erfolgte. Für dieses Verhalten gibt es im Englischen eine griffige Redewendung: penny wise and pound foolish. Bei kleinen Beträgen - hier beim Sparen öffentlicher Mittel- wird auf den Pfennig geschaut. Bei großen Themen wie etwa zwischenstaatlichen Beziehungen oder symbolisch wichtigen Staatshandlungen kommt es auf Großbeträge in Abermilliarden Höhe nicht an. Alles Jammern um die großen Haushaltslöcher hat nicht dazu geführt, daß die Staatsausgaben wesentlich gekürzt wurden. Nach wie vor wird der Transrapid, der als Verkehrsmittel zwischen Berlin und Hamburg überflüssig ist, als Schau-Objekt für deutsche Großfirmen mit schätzungsweise sechs Milliarden DM subventioniert. Nach wie vor wird die große Verkaufsschau für die deutsche Großindustrie, die Expo 2000, mit ~chätzungsweise sieben bis neun Milliarden DM bezuschußt. Vor allem aber zeigt sich Großmannssucht in Berlin und hier wieder insbesondere beim Bau des neuen Regierungsviertels. Der Neubau des Kanzleramtes strahlt den Geist Ludwig XlV. aus - oder vielleicht besser Friedrich des Zweiten mit seinem Sansscouci, der als Herrscher bei übelster Steuereintreiberei das Land finanziell ausgelaugt hinterließ. 31 "Sparaktion wirbelt viel Staub auf. Protest gegen Reduzierung der Schulreinigung", Kölnische Rundschau, 15. 10. 1997.

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Der Besuch eines Bundespräsidenten in einem Entwicklungsland ohne politische Schlüsselbedeutung ist üblicherweise mit einem Geschenk von 50 Millionen DM verbunden. Bei politisch gewichtigeren Ländern geht das dann schon bis in die Milliarden. Sicherlich war nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine finanzielle Hilfe politisch empfehlenswert, die Bundeskanzler Kohl für die Länder der GUS großzügig gewährte. Angeblich haben wir hier mindestens 80 Milliarden DM ausgegeben. Es gibt wesentlich höhere Schätzungen, aber es ist unzweifelhaft, daß wir mehr gegeben haben als alle anderen Länder Europas zusammen, ja vielleicht sogar einschließlich der Vereinigten Staaten.

VI. Feudalisierung des politischen Systems mit Kaderparteien Vielleicht ist es eine Reaktion auf diese realen Schwierigkeiten und die Unfahigkeit, hier grundlegende Besserungen durchzusetzen, ja auch nur die Probleme in ihrem Charakter als Ordnungsaufgaben zu erkennen, was dazu führt, daß die politische Klasse sich feudalisiert. Beispiele für das Abheben der politischen Klasse gegenüber der Gesellschaft sind das Verhalten von Frau Süssmuth oder die Allüren des Herrn Lafontaine32 . Unsere Ministerpräsidenten sind heute öfters von den in Deutschland früher gewohnten Kleinfürsten im Gehabe nicht mehr zu unterscheiden. Aber möglicherweise ist der Rückgriff auf eine politische Organisationsform wie den Feudalismus zur Kennzeichnung der Gegenwart in einer wichtigen Hinsicht unzulänglich: Dieser Neofeudalismus findet nämlich in einem bürokratisch durchorganisierten Gemeinwesen statt. Somit hat er starke sozialistische Elemente, auch wenn im Selbstverständnis das mit Sozialismus nichts zu tun haben soll. Bei einem solchen Abstreiten wird aber übersehen, daß auch der Kommunismus im Laufe der Zeit sehr stark feudalistische Elemente ausbildete bis hin zu kommunistischen Monarchien. Wenn der große Tunnel unter dem Tiergarten von Berlin, der die Isolierung der Abgeordneten von der Bevölkerung weiter vergrößern und Kosten von mehr als vier Milliarden DM verschlingen wird, nach dem Vornamen der Ehefrau des Kanzlers "Hannelore-Tunnel" getauft werden so1l33, dann zeigt das, wie auswechselbar das Gehabe der Herrschaft in Ost und West geworden ist. Wenn für den Kanzlerbesuch des Klosters Andechs Hunderte von Menschen für Stunden auf dem Gelände einer Gaststätte festgehalten werden, nur damit die Gefahr eines Eierwurfs abgewehrt wird34, dann ist auch das feudalistisches Gehabe. Wenn Lafontaine als später 32 Er läßt seinen Koch in der Residenz des Saarlands in Bonn aus öffentlichen Mitteln nach A 16 entlohnen .. 33 "Hannelore Kohl taufte den Berliner Tiergartentunnel", Kölnische Rundschau, 30. 9. 1997, S. I. 34 "Unionsgipfel auf bayerisch. Klostergäste wütend über Absperrungen - Bauernproteste - Auf Harmonie bedachte Parteien", Kölnische Rundschau, 5. 9. 1997.

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Vater seinen Sprößling in der Staatskanzlei vorstellt, dann ist dies in der Tradition gekrönter Häupter. Vielleicht gilt der folgende Mechanismus: Je hilfloser die politische Klasse gegenüber ordnungspolitischen Herausforderungen ist, um so stärker wird ihr feudalistisches Gehabe und der Rückgriff auf bürokratische Fonnen der Problemkontrolle. Der Kern des Feudalismus ist die Balance zwischen der Vergabe von Privilegien und der Treueverpflichtung als Gegenleistung. Zu Beginn des richtigen Feudalismus pflegten die höheren Adeligen Rechte zu vergeben, die sie gar nicht hatten, aber mit Gewalt durchsetzen konnten. Ähnlich ging es zu bei der Art der Kolonialisierung hin zum englischen Imperium. Da stellten die Monarchen Kaperbriefe aus oder verliehen an Privatfinnen das Recht, Länder zu kolonialisieren, die der Krone gar nicht gehörten. Beim Feudalismus geht es eben so zu, wie das in "Alice im Wunderland" im Dialog über die Bedeutung von Worten beschrieben ist: "Kannst Du einem Wort eine Bedeutung geben, die es gar nicht hat?" fragt die kleine Alice die despotische Königin, und diese antwortet: "Es geht nicht darum, was ein Wort bedeutet, sondern wer die Macht hat". Ein Beispiel für die zeitgenössische Fonn dieser Haltung ist die Entscheidung der Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und deren Begründung, der FDP 12,4 Millionen DM Wahlkampferstattungskosten zu gewähren. Die FDP hatte bei der Beantragung von Geldern für Wahlkampferstattung den vorgeschriebenen Termin versäumt. Zwar habe die FDP - so Frau Süssmuth - fehlerhaft gehandelt und in dem Antrag auf Abschlagzahlung nicht auf die Feststellung der Höhe der Wahlkampfkostenerstattung verwiesen. Dann aber Frau Süssmuth: "Im Verwaltungsverfahren müßten auch unklare und mißverständliche Anträge zwingend so ausgelegt werden, wie es dem Interesse des Antragstellers entspreche,,35. Allerdings muß es sich dann um den richtigen Antragsteller handeln; denn bei den Wählervereinigungen "Die Grauen", Republikaner und Südschleswigscher Wählerverband ließ Frau Süssmuth diese Gnade nicht walten. Das ist konsequent feudalistisch: Hier regelt nicht das Recht die Beziehungen zwischen Feudalherren und Vasallen, sondern Gnade. Es war eine entscheidende Wegbewegung von Feudalismus, wenn zunächst die Willkür der Monarchen durch Haushaltspläne beschränkt wurde, welche das Parlament verabschiedet hatte, und schließlich der Rechtsstaat durchgesetzt wurde. Bei der Re-Feudalisierung in Deutschland wird jedoch das Recht zunehmend der Politik unterworfen. Ein Beispiel ist das Bundesverfassungsgericht, dessen Richter von politischen Instanzen bestimmt werden, ohne daß sie den Anforderungen genügen müßten, die an die Richter anderer höchster Gerichte gestellt werden. Hier ist das Urteil zur Enteignung in der ehemaligen Sowjetischen Besatzungs-Zone bezeichnend. Bis heute ist die Anschuldigung nicht widerlegt, daß die Bundesregierung hier falsches Zeugnis 35 "Süssmuth muß anderen Parteien mehr zahlen. Konsequenzen aus dem Urteil gegen die FDP I Möllemann fordert den Rücktritt Solms", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 11.

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abgab. Unstrittig ist, daß die Richter die Urteile der Regierung über die politische Situation zum Zeitpunkt der Vereinigung zur Grundlage ihres Urteils machten. Das neueste Beispiel für die Eingriffe politischer Instanzen in ein Rechtsverfahren ist die Intervention des hessischen Justizministers von Plottnitz (Bündnis 90/ Die Grünen) in das Verfahren gegen Finanzminister Starzacher (SPD)36. Deutsche Minister haben das Weisungsrecht gegenüber der Staatsanwaltschaft. Obgleich man darüber streiten mag, wie oft eine solche Weisung erfolgt, so benimmt sich doch der Staatsanwaltschaft so, daß es der Politik oft wohlgefällig ist. Dringend notwendig ist eine Dissertation über die Einstellung von Verfahren gegen politische Figuren. Die Parteien selbst geben ihren Mitgliedern wenig Grund, die Mitgliedschaft aufrecht zu erhalten. Das drückt sich in den Mitgliederverlusten aller Parteien aus. "Alle im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der Grünen und der CSU haben im letzten Jahr (1995) zur Zeit drastisch Mitglieder verloren", meldete dpa. Die Mitgliederzahl bei der SPD geht seit 1978 fortwährend zurück, die der CDU seit 1983. Den prozentual stärksten Schwund mußte die FDP erleiden. Nun hat sie in Ost und West sage und schreibe nur noch 80 000 Mitglieder37 . Das wird nicht von allen Politikern als nachteilig gewertet. Der Berliner Innensenator (gleich Minister) Peter Radunski hat in einem Vortrag vor der der SPD nahestehenden Ebert-Stiftung die Entwicklung der Parteien hin zu großen Mitgliederverbänden als Irrweg bezeichnet. Parteien sollten im Kern bestimmt werden durch die Mandatsträger, wobei für Wahlkämpfe dann fallweise Anhänger zu mobilisieren sind. Für die Willensbildung in einem solchen Typ, der als "Kaderpartei" in der Literatur geführt wird, gibt es für Anhänger keine Mitwirkungsmöglichkeiten, sondern nur die Möglichkeit, die am ehesten geeignet erscheinende Partei zu unterstützen. Die Radunski sche Kaderpartei der Mandatsträger ist übrigens nicht eine Neuerfindung, sondern bereits im Kern angelegt in den Vorstellungen über repräsentative Demokratie zur Zeit des Parlamentarischen Rates, der das Grundgesetz formulierte. Das kontrastiert auf das merkwürdigste mit heutigen Initiativen in unserem politischen System, plebiszitäre Elemente einzuführen. Parallel zu dieser Feudalisierung des politischen Systems, dessen politisch handlungsfähige Kerne Kaderparteien sind, breitet sich die Bürokratisierung unseres politischen Systems aus. Moderne Gesellschaften tendieren ohnehin zur Bürokratisierung, und für Max Weber war es eine Schreckensvision, daß sich einmal die Bürokratien der Privatunternehmen mit der des Staates zu einem Gesamtapparat vereinigen könnten, der dann eine neue Form der Hörigkeit von Bürgern begründen würde. Für die jetzige Bürokratisierung des Alltags dürfte aber eine etwas andere Mechanik auszumachen sein. Der Verlust des Konsenses und die Furcht vor offe36 "Kritik von allen Seiten an Plottnitz. Ennittelnder Staatsanwalt abberufen I Sondersitzung des Justizausschusses", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 11. 1997. 37 dpa, 24. 1. 1996.

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nem Dissens mit Konkurrenzmechanismen läßt allgemein die bürokratische Erledigung von Sachfragen als kleineres Übel erscheinen. Auf die Kontrolle ärztlichen Verhaltens durch ein Oktroy engmaschiger Regeln wurde bereits als Beispiel verwiesen. Analog verläuft die Bürokratisierung der Hochschulen. In einer Reihe von Hochschulgesetzen sind jetzt sogenannte Lehrberichte vorgeschrieben, die Beobachtungen über die Lehre der einzelnen Professoren, so wie sie vom Dekan zusammengestellt werden, enthalten. Hinzu sollen Lehrbeurteilungen kommen, wahrscheinlich durch Studenten. Bei LehrerpTÜfungen sind jetzt die einzelnen Fragen zu protokollieren und deren Wertung ebenfalls Frage für Frage aufzuzeichnen. Hierdurch soll bei Streit über die Angemessenheit einer Note das Verwaltungsgericht eine Unterlage für eine ÜberpTÜfung erhalten. Zugleich werden Leistungsanreize gestrichen - etwa durch Wegfall von PTÜfungsgebühren. Daß es einmal als Anreiz Kolleggelder gab, ist schon fast vergessen, weil diese als erste den sogenannten Reformen zum Opfer fielen. Eine weitere Verschlimmbesserung wäre bei Annahme der Entwurf von Bildungsminister Rüttgers für ein neues Hochschulrahmengesetz, indem jetzt Karrieren für Wissenschaftsadministratoren entstehen. Aus kollegialen Leitungsgremien wird eine Art Hochschulpräsident. Die bei weitem wichtigste Förderung weiterer Bürokratisierung ist die Verrechtlichung immer weiterer Lebensbereiche und die Einengung von Ermessensspielräumen. Inzwischen hat der Bundestag beraten, ob der Klaps auf den Hintern ein zulässiges Erziehungsinstrument der Eltern gegenüber jüngeren Kindern sein darf. Noch nicht ausgemacht ist, ob die Politisierung der oberen Ränge von Verwaltungen auch durchschlägt in die Politisierung des gesamten administrativen Apparates. Aber auszuschließen ist es nicht, daß es zu einer Vermischung von feudaler Politik und feinmaschiger Bürokratisierung kommt. Diese Prinzipien zur Lenkung von Verläufen sind aber notorisch ineffizient in der Produktion sachgerechter Inhalte. VII. Bewertung der Handlungsfähigkeit

Für die Akzeptanz des politischen Systems ist letztlich nicht so sehr entscheidend, ob es in der einen oder anderen Hinsicht Schönheitsfehler aufweist, wenn man Verläufe mit idealen Modellen vergleicht. Entscheidend ist letztendlich die Handlungsfahigkeit angesichts der zu lösenden Probleme38 • Und hier muß man auch neben den vielen Schatten, die vorher zur Sprache kamen, auch einiges an Licht erwähnen. 38 Die Ansichten über Handlungsfahigkeit sind nach einer langfristigen und teilweise international vergleichend angelegten Sekundäranalyse noch wichtiger als die sonst positive Einschätzung des politischen Systems. Siehe Thomas R. Cusack: "On the Road to Weimar? The Political Economy of Popular Satisfaction with Government and Regime Performance in Germany", Wissenschaftszentrum Berlin, Discussion Paper FS I 97 - 303, April 1997.

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Mehr Licht als Schatten glauben wir in folgenden Bereichen ausmachen zu können: - Berufsbildung - Wohnungswesen Verkehr - Versorgung - Umwelt - Freizeit - Lebensqualität - Verteidigung. Etwa gleichgewichtig Licht und Schatten sehen wir in folgenden Bereichen: -

Medizin Forschung Telekommunikation und Medien Stadtentwicklung (bislang noch) Rente.

Mehr Schatten als Licht sehen wir in den Feldern -

Bildungswesen Landwirtschaftspolitik Arbeitsmarkt Rechtspflege Kriminalität Wirtschaftspolitik Steuer und Schuldenpolitik.

Das Bild ist also nicht so eindeutig geschwärzt, auch bei aller Kritik, die wir in diesem Aufsatz vorbrachten. Aber es könnte sehr viel schwärzer werden. Insbesondere der Euro und die inzwischen eingegangenen vielfachen Verpflichtungen in Brüssel könnten sich als schlimmes Abenteuer erweisen. Bleibt der Kohäsionsfonds bestehen, so folgen hieraus kaum kalkulierbare Belastungen für den Haushalt Deutschlands. Es wurde inzwischen aufgegeben, den beabsichtigten politischen Rahmen für eine gemeinsame Währung parallel zu deren Einführung zu entwickeln. Jetzt wird wohl der Euro ohne einen solchen Rahmen auskommen müssen, was nur dann gut geht, wenn sich alle an eine angemessene Auslegung von Vertragstexten halten 39.

39 Aus der inzwischen unübersehbar vielfältigen Literatur über den Euro sei hier auf folgende Schriften über den Zusammenhang zwischen ökonomischen und politischen Faktoren verwiesen: Peter Bofinger: "Der Euro vor der Einführung", in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Bonn, Heft B 47/97, S. 11 - 20; Jörg M. Winterberg: "Die Diskussion um die europäische Wirtschafts- und Währungsunion", Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin, Interne Studien 124/1996.

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Das heißt aber nichts anderes, als daß bei der Einführung des Euro ein Verhalten der Politiker unterstellt wird, das bisher nicht beobachtet werden konnte. Auch der Sozialismus hatte als Voraussetzung die Annahme, man könne einen sozialismusgerechten "neuen Menschen" erziehen, was bekanntlich nicht gelang. Gerade in diesem Moment wird aus politischen Gründen das mindestens finanzielle Abenteuer der Osterweiterung der Europäischen Gemeinschaft eingeleitet. Wenn das nicht zu einer Völkerwanderung insbesondere aus Polen nach hier führt und führen soll, sind unvorstellbare Transferleistungen notwendig. Außerdem dürfte sich nach der Osterweiterung die Arbeitslosigkeit in Deutschland deutlich erhöhen, was sich wiederum negativ auf die Voraussetzungen für einen stabilen Euro auswirkt. Schon bei der Wiedervereinigung zeigte sich unser politisches System den Anforderungen einer großen Veränderung nur höchst unzureichend gewachsen. Hier wurden nicht nur gewaltige Transferleistungen abgerufen - inzwischen über 150 Milliarden pro Jahr40 -, sondern auch viele Fehlentscheidungen getroffen. Der Umtauschkurs für die DDR-Mark, das Fehlen einer Höchstsumme für diesen Umtausch, der Umbau der Wirtschaft durch die sozialistische Erfindung "Treuhand" sind alles politische Entscheidungen gewesen, die sich als mindestens kostspielig, wenn nicht strukturell verfehlt erwiesen. Völlig verfehlt war es auch, im wesentlichen auf eine Auswechslung der SED-Eliten zu verzichten. Heute wird das Medienwesen in der ehemaligen DDR weitgehend von früheren SED-Kadern und Freunden des vormaligen Regimes bestimmt. Die Wiedervereinigung wurde weitgehend vergeigt. Woher sollen wir dann den Optimismus schöpfen, daß die kombinierten Herausforderungen einer Einführung des Euro und der Osterweiterung von diesem politischen System mit seinen Berufspolitikern und seinen Parteien bewältigt werden?

VIII. Vorschläge zur Veränderung des Systems Dr. Ute Scheuch und ich haben vor Jahren einen Katalog von Reformmaßnahmen veröffentlicht. Er blieb bei Berufspolitikern weitgehend ohne Resonanz. Zwischenzeitlich haben wir ihn nach vielen öffentlichen Diskussionen noch verschärft. Immerhin sind die Zeiten schlechter geworden, und das sollte auch irgendwann 40 Unter den Berufspolitikem der Bundesrepublik gilt das "Lockennachen" von Geld als Ausweis der Tüchtigkeit und die Höhe der Gelder als Ausmaß politischer Kompetenz. Die Frage nach der Finanzierbarkeit einer Ausgabe ist nachrangig gegenüber der politischen Wünschbarkeit, wie bei der Anrechenbarkeit von Erziehungszeiten in der Rente - falls die Frage nach der Finanzierbarkeit überhaupt gestellt wird. Die Sinnhaftigkeit einer Ausgabe ist gegenüber diesen anderen Gesichtspunkten nachrangig - siehe das Beispiel der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den neuen Bundesländern, die den Aufbau des Handwerks behinderten.

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einmal sich im Leidensdruck niederschlagen - und ohne Leidensdruck haben Reformvorschläge keine Chance. So sei der Katalog hier angeführt - wobei die gegenwärtige Realisierbarkeit kein Kriterium ist. Als wichtige Schritte zur Wiederherstellung einer funktionierenden Demokratie mit ihren Kernelementen Gewaltenteilung und Übertragung der Macht an Treuhänder auf Zeit sind umzusetzen: - Das jetzige kombinierte Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht ist durch das personalisierte Verhältniswahlrecht nach 0 Hare zu ersetzen, wie es beispielsweise in Cambridge / Massachusetts praktiziert wird. Mindestens ist dieses maßgebend für die Verteilung der Listenplätze. Am besten wäre ein Mehrheitswahlrecht. - Kandidaten werden nach einer öffentlichen Vorstellung ihres beruflichen Werdegangs durch alle Parteimitglieder des jeweiligen Wahlkreises gewählt. Das passive Wahlalter ist auf 30 Jahre zu erhöhen. Gewählt werden darf nur, wer sich über einen Zeitraum mindestens von zehn Jahren in einem politikfremden Beruf bewährt hat, der den eigenen Lebensunterhalt voll deckt. - Die Bereiche Politik und Verwaltung sind voneinander zu trennen. Das bedingt insbesondere, daß Beamte und Angehörige des öffentlichen Dienstes keine Partei- und Wahlämter bekleiden dürfen. Artikel 137 GG ist anzuwenden, nach dem Mitgliedern dieses Kreises das passive Wahlrecht aberkannt werden kann. Damit wird die grundgesetzlich geforderte Trennung von Exekutive und Legislative durchgesetzt. - Die Bezahlung des Berufs Politiker darf nicht so interessant sein, daß er allein des hohen Verdienstes wegen angestrebt wird. Die Höhe der Vergütung soll bis zu einer Obergrenze eine Aufwandsentschädigung in Höhe des entgangenen Einkommens aus Berufstätigkeit sein. Je nach der Ebene der Politik ist ein prozentualer Aufschlag zu gewähren. - Gleichzeitig ist von Staats wegen die Weiterzahlung der Beitragsleistungen in die gesetzlich / private Rentenkasse zu übernehmen. Damit entfällt ein eigener Rentenanspruch aus der politischen Tätigkeit. - Die Zahl der Abgeordneten ist drastisch zu senken. Eine Freistellung für Politik unterhalb der Bundesebene ist zu unterlassen. - Mandatsträger dürfen in der Regel nur für drei Legislaturperioden kandidieren. - Partei- und Fraktionsämter sind voneinander zu trennen. Die Bundesrepublik Deutschland ist hoch verschuldet. Prunkbauten sind schon aus finanziellen Gründen, aber auch wegen des Selbstverständnisses einer Demokratie nicht vertretbar. - Wir fordern daher einen sofortigen Stopp der meisten Neubauten in Berlin. Es gibt genügend Büroräume für Minister und Abgeordnete, die bezugsfertig sind.

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- Transrapid und Expo 2000 sind als Prestigeobjekte einiger Spitzenpolitiker zugleich Milliarden-Subventionen für die Großindustrie. Beide Projekte sind mit unserer Finanzlage nicht vereinbar. - Übergangsgelder wurden in der Vergangenheit zweckentfremdet kassiert. Bestimmungen, nach denen beispielsweise ausscheidende Minister oder parlamentarische Staatssekretäre solche Gelder erhielten, obgleich sie hohe Bezüge aus anderen Tätigkeiten empfingen, waren sittenwidrig und sind daher auch rückwirkend außer Kraft zu setzen. Die während der letzten zehn Jahre empfangenen Beträge sind zurückzuerstatten. - Ämterpatronage ist strafbar. Die existierenden Bestimmungen hiergegen sind anzuwenden. Die Politisierung immer weiterer Bereiche unseres Lebens ist zu bekämpfen.

Wer ist schuld an der Reformblockade? Von Johannes Willms Ich möchte Ihnen zunächst für die Aufforderung danken, hier und heute zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ihre mich ehrende Anfrage, aus Anlaß des fünfzigjährigen Bestehens der Verwaltungshochschule Speyer, dem deutschen Pendant zur französischen Ecole Nationale d' Administration, die, wenn ich mich nicht täusche, ungefähr gleich alt ist, das Wort zu ergreifen, versetzte mich in die Notwendigkeit, mich mit einem Thema zu befassen, über das zwar viel geredet, aber kaum je wirklich nachgedacht wird. In Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs und sozialer Krise schlug noch stets die Stunde der Verwaltung. Das war so, als 1806 die spätabsolutistische deutsche Staatenwelt von Napoleon zertrümmert und zu neuen territorialen Einheiten zusammengefügt wurde. Die innere, die staatliche Kohärenz dieser neuen souveränen Einheiten zu gewährleisten, die unbeschadet landsmannschaftlicher, dynastischer oder sonstiger Traditionen und Zusammenhänge aus monarchischer Raffgier zusammengeflickt wurden, war die Aufgabe der Verwaltung, die sich vor allem in den Rheinbundstaaten am französischen Vorbild orientierte. Nach dem Ende der napoleonischen Herrlichkeit, als die deutsche Staatenwelt ihren jeweiligen Bestand nicht mehr mit erborgter, sondern mit eigener Autorität zu sichern hatte, änderte sich das Tableau grundlegend, machten im Zuge der Verfassungsbewegung die in der Franzosenzeit mediatisierten ständischen Interessen wieder erfolgreich ihre alten Ansprüche geltend. In Bayern beispielsweise wurde nach dem Sturz des leitenden Ministers Montgelas, der den bayerischen Ständen als die verhaßte Symbolgestalt kompromißlosen Reformwillens galt, eine Verfassung erlassen, die dem mediatisierten Adel erneut privilegierte Möglichkeiten politischer Einflußnahme eröffnete. Hauptgewinner der Konstitutionsbewegung aber waren in Bayern wie auch in den anderen deutschen Staaten die Städte, die entweder durch die Verfassung selbst oder durch gesonderte Gemeindeedikte nahezu alle ihre Rechte und Privilegien aus der vornapoleonischen Zeit zurückerstattet erhielten. Durch die Wiederherstellung der städtischen Selbstverwaltung und das damit verbundene Wiederaufleben der alten restriktiven Zunftordnungen und der sonstigen Privilegien bildeten die Städte innerhalb der Staaten erneut eigene politische Einheiten, die nicht in den Staat als Ganzes integriert waren und damit auch nicht in seine Politik. Die in den einzelnen Verfassungen vorgesehenen ständischen

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Kammern oder Landtage konnten diese Integration ihrerseits aber auch nicht leisten, da sie keine wirkliche legislative Gewalt besaßen. Das hatte zur Folge, daß zwischen der nach "außen", also gegenüber dem Staat und der Gesellschaft völlig abgeschlossenen Welt der sich selbst verwaltenden Städte einerseits und den Landtagen oder Kammern auf Staatsebene andererseits, es keine intermediären Vertretungskörperschaften gab, welche die städtischen Sonderinteressen stufenweise mit den allgemeinen Interessen staatlicher Politik vermittelt hätten. Damit entfielen alle Voraussetzungen für eine wirksame Integration der Städte in das staatliche Leben. Auf eine Faustformel gebracht, kann man sagen, daß die Souveräne in der Absicht, die territoriale Integrität ihrer Staaten nach außen zu gewährleisten, gezwungen waren, deren innere politische Desintegration in einem beträchtlichen Umfang in Kauf zu nehmen. Die Verfassungen der nachnapoleonischen Zeit schufen also weder eine staatsbürgerliche Gesellschaft noch konnten sie auf das "Bürgertum" als den "allgemeinen Stand" setzen, um eine Hegeische Kategorie zu bemühen. Diese Rolle fiel der Verwaltung zu, die, da der Verwaltungsaufbau der napoleonischen Ära weitgehend erhalten blieb, in ihren Auseinandersetzungen mit den ständischen Gewalten und insbesondere mit dem "städtischen Sondertum" wieder an jenem Punkt ansetzen mußte, von dem sie 1806 ausgegangen war. Das Instrument, dessen sich die Verwaltung dabei bediente, war deren Trachten auf Reform, auf Modernisierung, wie wir heute sagen würden. Reform, Modernisierung war das Ziel wie die Legitimation der Verwaltungen in den deutschen Staaten zwischen 1806 und 1866. Namentlich in den außerpreußischen, vorzüglich den süddeutschen Staaten, in Bayern, Württemberg und Baden führten die Verwaltungen einen ebenso zähen wie stillen Krieg, um ihre Reformziele gegen eine noch immer ständisch strukturierte und städtisch marginalisierte soziale Ordnung durchzusetzen. Konkret: Es war die staatliche Verwaltung, die in jenen 60 Jahren für ein allgemeines Staatsbürgerrecht, für Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit stritt und die damit gegen die nach wie vor mächtigen "vested interests" eines städtischen Kleinbürgertums ankämpfte, das in seinem wirtschaftlichen Handeln noch der "Idee der Nahrung" verhaftet war. Dem entsprach dessen zähe Verteidigung des Zunftwesens, das die Niederlassung oder die Ausübung eines Gewerbes strikt quotierte und reglementierte. Dem entsprach zum weiteren auch ein rigides Stadtbürgerrecht, das immer mehr Menschen ausgrenzte, sie zu sozialen Parias und "Heimatlosen" stempelte, eine Praxis, die von dem verzopften Zunftwesen, dessen Ergebnis soziale und wirtschaftliche Stagnation war, überwölbt und kontrafaktisch abgesichert wurde. Dieser Kampf, den die staatliche Verwaltung gegen das "städtische Sondertum" führte, wogte bis zum endgültigen Triumph der industriellen Revolution in Deutschland, der sich in einem gegenseitig bedingenden Handlungszusammenhang mit der Reichseinigung in den Jahren 1866 bis 1871 vollzog, unentschieden hin und her. Kaum war es den Verwaltungen in zäher und stiller Wühlarbeit gelungen, einige Breschen in jene legalistischen Mauern zu schlagen, hinter denen sich das

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"städtische Sondertum" verschanzte, wurden diese auch schon wieder gestopft, ja, schlimmer noch, die Mauem wurden jeweils noch erhöht und damit uneinnehmbarer gemacht. Der Grund dafür war immer derselbe: Wann immer Europa eine Erschütterung seiner Grundlagen wie 1815 erlebte oder von einer revolutionären Grundwelle erfaßt wurde wie 1830 und 1848, und die Vertreter des deutschen Zaunkönigturns um ihre Thrönchen und Krönchen bangten, suchten diese jeweils ganz reflexhaft ihre Zuflucht vor dieser Bedrohung darin, daß sie das ständische und insbesondere das "städtische Sondertum" gegenüber den Bestrebungen ihrer eigenen Verwaltungen in Schutz nahmen. Meine Damen und Herren, Sie ahnen unterdessen gewiß, worauf ich mit diesen spröden historischen Reminiszenzen hinaus will: auf eine Analogie. Tatsächlich ähneln die Verhältnisse und Probleme, die den Menschen insbesondere hierzulande vor 1848 zu schaffen machten, in verblüffender Weise unseren heutigen. Lauteten damals die Schreck- und Schlagworte "Maschinenwesen", "Fabrikarbeit" und "Pauperismus", so hantieren wir heute mit Begriffen wie "Globalisierung", "Informationsgesellschaft" und "Massenarbeitslosigkeit". Alle diese Begriffe, die überdies nur sehr unscharf definiert sind, was aber ihre Suggestion noch steigert, bezeichnen ein politisches und gesellschaftliches Dilemma, das von unterschiedlichen Propheten höchst unterschiedlich gedeutet wird. Außer jedem Zweifel aber steht, daß ein Umbruch im Gange ist, der alte Gewißheiten und Sicherheiten nachdrücklich infrage stellt. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Verschwinden der Sowjetunion gibt es erstmals seit 1914 wieder einen freien Weltmarkt, an dem mit Ausnahme von Nordkorea, des Irak und Cuba ausnahmslos alle Staaten partizipieren. Dies bedingt zusammen mit den modemen Kommunikationstechniken die weltweit gleichzeitige Wirksamkeit der auf dem Weltmarkt agierenden Kräfte. Das hat, wie jedermann unterdessen bewußt ist, Folgen, deren Voraussage noch vor wenigen Jahren das überlegen-verächtliche Lächeln der Experten und Wissenden provoziert hätte. Das Geschehen auf den ostasiatischen Börsenplätzen beispielsweise wirkt sich unmittelbar auf die europäischen oder amerikanischen Finanzplätze aus. Die extrem hohe Beweglichkeit frei um den Globus vagierender riesiger Kapitalmassen, die stets da herabregnen, wo die fettesten Dividenden locken, hat nicht nur den Konkurrenzdruck erheblich verschärft, sondern erzwingt auch eine immer raschere und umfassendere Liberalisierung der einzelnen Volkswirtschaften. Diesem Druck ist auch die Deregulierung ganzer Wirtschaftsbereiche, die zumindest in Europa traditionell entweder staatliche Monopole waren oder vom Staat kontrolliert wurden, zuzuschreiben. Damit ist endgültig eine Entwicklung eingetreten, die schon vor 150 Jahren in einer Programmschrift, die im Februar 1848 in London auf Deutsch erschien, prognostiziert wurde: "Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnten Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet".

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Vom Weltmarkt und den auf ihm waltenden Gesetzen werden die nationalen Märkte immer abhängiger, d. h. wir beginnen jetzt eine Entwicklung zu spüren, deren Kontrolle sich einzel staatlicher Aufsicht entzieht. Je mehr sich die Dynamik eines weltweit agierenden laissez-{aire-Kapitalismus steigert, desto fragwürdiger und aussichtsloser wird das Beginnen, seine Auswirkungen durch eine nationalstaatliche Steuer- oder Sozialpolitik wirksam zähmen zu wollen. Aus dem Erlebnis dieser Ohnmacht nährt sich jenes Krisenbewußtsein, das eine Signatur dieser letzten Jahre des zu Ende gehenden Jahrhunderts und Jahrtausends ist. Verschärft wird dieses noch durch eine Reihe von sozusagen hausgemachten Fehlentwicklungen, die sich zwar schon lange als solche diagnostizieren ließen, deren Auswirkungen aber erst jetzt wirklich spürbar werden. Was Wunder also, daß allenthalben und immer dringlicher der Ruf nach Reformen erschallt, die zumindestens den Abgrund, in den man mit einem Mal zu blicken wähnt, mit einem stabilen Geländer sichern sollen. Da aber diese Reformen ausbleiben, sollen sie doch nichts weniger sein als nebenwirkungsfreie, aber dennoch rasch und umfassend wirkende Mittel einer gewissermaßen allopathischen Sozialmedizin, artikuliert sich bald der Verdacht, daß der vielfach beklagte Reformstau durch eine Reformblockade verursacht sei. Damit stellt sich die Frage, die ich Ihnen, meine Damen und Herren, hier und jetzt beantworten soll: Wer ist schuld an der Blockade? Darauf lassen sich viele Antworten geben, so viele sogar, daß ich es mir einfach machen könnte, indem ich sagte: Wir alle. Da ich aber nicht auf einem Kirchentag zu Ihnen spreche, ist es meine intellektuelle Pflicht, mich auf die "usual suspects", die "üblichen Verdächtigen" zu beschränken. Diese sind, Sie wissen es, das politische System und die in ihm agierenden politischen Parteien. Wahlweise läßt sich dieses Tableau dann noch mit den bekannt "verkrusteten Strukturen", dem "Verlangen nach Besitzstandswahrung" und der "Selbstbedienungsmentalität" garnieren. Sollte ich wirklich dieses Ihnen vermutlich sattsam bekannte Lied noch einmal anstimmen, dieses Potpourri aus Anklagen und Schuldzuweisungen, das stets mit dem Refrain endet: Aufbruch tut not - aber keiner weiß wohin? Sollte ich Ihnen wirklich noch einmal alle jene Diagnosen referieren, die Sie tagtäglich in der Presse ausführlich kommentiert finden? Sollte ich Ihnen wirklich zum Schluß meiner Ausführungen einen Hauptschuldigen an der ganzen Misere präsentieren, den wir alle gemeinsam zur Strecke bringen, indem Sie mich mit donnerndem Applaus aus meiner Pflicht entlassen und Sie sich erleichtert dem Festessen zuwenden können? ... Nein, so einfach will ich es weder Ihnen noch mir machen. Lassen Sie mich deshalb lieber einen ketzerischen Gedanken wagen. Könnte es nicht auch so sein, daß wir alle von der Zwangsvorstellung eines blindwütigen Reformaktivismus befallen sind? Daß wir wähnen, zu ertrinken, nur weil wir nasse Füße haben? Haben wir uns nicht von dem lauten Lärmen all jener, die landauflandab das Credo des Neo-Liberalismus und dessen Endsieg über alle Mächte wirtschaftlicher Finsternis predigen, allzu sehr ins Bockshorn jagen lassen? Besitzen wir nicht Stärken und Vorteile, die uns noch immer allen asiatischen Tigern über-

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legen machen, mit denen uns noch unser Bundespräsident zu schrecken suchte, als denen schon sichtlich die Zähne ausfielen und die Klauen stumpf geworden waren? Kurz, übertreiben wir nicht allesamt mit unseren Gegenwarts- und Zukunftsängsten? Reden wir uns nicht in eine Hysterie hinein, die dann, wenn sie sich erst einmal verfestigt hat, uns in der Tat in eben jener Weise lähmt und unser Verhalten beherrscht, wie wir jetzt schon geneigt sind zu glauben, daß es der Fall sei? Meine Damen und Herren, es liegt mir fern, mich funen als jemand entdecken zu wollen, der seinen Zynismus bis zur Frivolität steigt:lrt. Auch ich, wie vermutlich Sie alle, bin zutiefst bestürzt und verärgert über das Scheitern der großen Steuerreform. Und dies keineswegs nur aus dem naheliegenden Grund, daß mich wie jeden das Empfinden plagt, von meinem hart erarbeiteten Geld viel zuviel abgezwackt zu bekommen, sondern auch aus sehr altmodischen, aus verfassungspatriotischen Gründen. Um es einmal frei heraus zu sagen: Ich finde diese Steuersparmätzchen, die auch uns fiskalpolitischen Melkkühen von angestellten Einkommensteuerzahlern die Illusion von besonderer Schlauheit verschaffen, wenn wir uns aus Gründen der Steuererspamis beispielsweise Wohnungseigentum anschaffen, im höchsten Maße vulgär, um nicht zu sagen ordinär. Was wir damit der Allgemeinheit, vertreten durch das Finanzamt, vorenthalten, werfen wir um so bereitwilliger irgendwelchen Banken in den Rachen, die wir mit Zins und Zinseszins bedienen müssen, um es dann am Ende doch gehen zu lassen, wie es Gott gefällt ... Ich verkenne auch nicht, meine Damen und Herren, daß die Schere der Einkommensverteilung von Kapital und Arbeit immer mehr und immer rascher auseinanderklafft, daß also im letzten Jahrzehnt die Kapitaleinkommen um rund 40 Prozent stiegen, während die Arbeitseinkommen stagnierten. Keineswegs aber bin ich gewillt, wie ich Sie versichern möchte, derlei als schicksalshaft und unabänderlich zu akzeptieren, wie dies die Adepten und Apologeten des derzeit grassierenden NeoLiberalismus nicht müde werden zu tun. Überhaupt wächst in mir mehr und mehr der Verdacht, daß es sich dabei zutreffenderweise eher um einen Neo-Calvinismus handelt, dessen Ethik sich vorzüglich aus der Prädestinationslehre schöpft und der sonst keine Rücksichten kennt oder nimmt, am allerwenigsten auf die Natur. Sein Kennzeichen ist eine schier unersättliche Gier, die ihre Entsprechung in einer nicht minder abstoßenden Bigotterie und Prüderie hat. Ich versage es mir, funen dieses Bild noch kenntlicher zu machen. Sie alle werden wissen, was und wen ich meine. Lassen Sie sich zum weiteren auch nicht von dem Jammergeheul jener betäuben, die aus sehr durchsichtigen, sprich sehr eigennützigen Gründen über die am sogenannten "Standort Deutschland" herrschenden Bedingungen jammern. Gerade die, die darüber am lautesten wehklagen, können dann auf ihren Hauptversammlungen den Aktionären voller Stolz Gewinne präsentieren, die sich zu einem nicht unwesentlichen Teil daraus errechnen, daß sie hierzulande durch allerlei Verlustvorträge und sonstige legale Bilanztrickserien keinen Pfennig Steuern gezahlt haben. Was also, so frage ich mich und Sie, plagt diese Herren? Daß sie ihren Arbeitern und Angestellten zu hohe Löhne zahlen, die diese erst instand setzen, möglicherweise 5 Speyer 130

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die eigenen Produkte zu kaufen. Nein, so werden Sie mir jetzt einwenden, es sind nicht so sehr die hohen Löhne, als die exzessiven Lohnnebenkosten, also die gesetzlich festgelegten Aufwendungen der Arbeitgeber für die Kranken- und Rentenversicherung der Arbeitnehmer. Ich will gar nicht bestreiten, daß da einiges im Argen liegt, daß es Mißbräuche gibt, aber all das rechtfertigt noch lange nicht, das gesamte System infrage zu stellen, wie dies bisweilen geschieht. Der soziale Friede, der hierzulande herrscht, ist eine Folge der sozialen Sicherheit, die uns alle gewiß einiges kostet. Diese preiszugeben oder doch einzuschränken, schaffte gewiß kurzfristig Einsparungen oder größere Gewinne für einige wenige. Aber fragen Sie bitte nicht nach den enormen gesellschaftlichen Kosten der möglichen langfristigen Folgen, die eine Auszehrung der sozialen Sicherheit zur Folge haben würde. Oder wollen die, die solches fordern, auch in dieser Hinsicht hierzulande amerikanische Zustände in dem Sinne haben, daß jenseits der gutbewachten und gesicherten Villenkolonien die Anarchie des Elends mit allen seinen nur zu bekannten Folgeerscheinungen sich immer weiter ausbreitet. Diese Zustände kennen wir aus dem Europa des 19. Jahrhunderts. Zur Erinnerung verweise ich nur auf Engels' Schrift "Die Lage der arbeitenden Massen in England" oder, wenn Ihnen diese erschütternde Studie aus welchen Gründen auch immer verdächtig ist, lesen Sie die zwei Bände von Fregier "Des c1asses dangereuses de la population dans les grandes villes", eine empirische Untersuchung, die 1838 vom Institut de France preisgekrönt wurde. In diesem Zusammenhang möchte ich Sie, meine Damen und Herren, auf ein Problem hinweisen, das hierzulande noch längst nicht die Aufmerksamkeit gefunden hat, die es meines Erachtens verdient: Die Jugendarbeitslosigkeit. Zynisch gesprochen handelt es sich dabei um ein ,,kostenneutrales" Problem, will sagen, die arbeitslosen Jugendlichen fallen nicht der Arbeitslosenversicherung zur Last. Eine strikt neo-liberale Anschauungsweise wird darauf verweisen, daß die Marktkräfte dieses Problem sowieso über kurz oder lang aus der Welt schaffen werden, daß also regulierende Eingriffe wie Arbeitsbeschaffungsprogramme das reine Gift seien, insofern sie falsche Abhängigkeiten schaffen könnten etc. Sollen sie doch alle Buletten braten oder Schuhe putzen. Aber das, so wird sogleich und nicht ganz zu Unrecht eingewendet werden, scheitert an der hierzulande herrschenden behördlichen Überregulierung. Ich vermute, wer in Speyer beispielsweise gegen Entgelt die Schuhe anderer Leute auf offener Straße putzen will, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, muß sich zuvor nicht nur einen Gewerbeschein, ein Gesundheitszeugnis, ein polizeiliches Führungszeugnis besorgen, sondern auch eine Bescheinigung des TÜV, daß sein Schuhputzstand hinreichend Schutz gegen Feuer bietet und den hygienischen Standards sowie der DIN-Norm entspricht. Derlei ist natürlich grober Unfug, der so rasch wie möglich beseitigt gehört. Die Legitimation von Verwaltung, ich erinnere Sie daran, war einmal Reform. Warum sollte dies nicht wieder so sein? Die Regierung Jospin in Frankreich hat ein umfassendes Beschäftigungsprogramm für arbeitslose Jugendliche aufgelegt. Das ist hierzulande vielfach belächelt

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worden. Ich halte das hingegen für sehr vernünftig und richtig, denn langfristig kommt es eine Gesellschaft, eine Volkswirtschaft allemal billiger zu stehen, diesen. Jugendlichen, die ja ihr Schicksal überdies nicht selbst verschuldet haben, einen Sinn für die Würde der Arbeit, das Erlebnis der Befriedigung, wenn etwas von ihnen geschaffen wurde, zu ermöglichen, als sie sehenden Auges in die Beschaffungskriminalität abgleiten zu lassen, deren rapide wachsende Ausmaße dann mit immer härteren Repressionen bekämpft werden. Aber genug der Beispiele, die alle hinlänglich beweisen, daß etwas getan werden müßte, aber den!loch nicht getan wird. Woran liegt das? Wer, die Frage ist also doch unvermeidbar, ist Schuld an der Blockade? Ich sagte es bereits: Es ist natürlich das politische System und die, die dieses aktiv gestalten, dieses bedienen, die politischen Parteien und deren Repräsentanten also. Aber reden wir nicht vom Vermögen oder Unvermögen einzelner Personen, von Kanzlern, Ministern, Kanzlerkandidaten oder Generalsekretären. Diese sind, das ist das Wesen der Demokratie, austauschbar. Reden wir also lieber von Bedingungen, Voraussetzungen, Strukturen. Meiner Meinung nach tragen vor allem drei Umstände die Hauptschuld an der gegenwärtigen Stagnation, an der Lähmung, die das politische Handeln hierzulande befallen hat: 1. das Verhältniswahlrecht; 2. die Volkspartei und 3. der Fassadenföderalismus. 1. Das in Deutschland geltende Verhältniswahlrecht entwickelt immer barockere Züge. Es ist der Chimäre vermeintlicher Gerechtigkeit verpflichtet und soll deshalb jeder Wahlerstimme den gleichen Erfolgswert verschaffen. Diese Idee der Gerechtigkeit ist, wie bekannt, dem Wesen der politischen Kultur in Deutschland zutiefst eigentümlich. Von ihr werden die Erfahrungen einer verbrecherischen Vergangenheit reflektiert, deren Lehre darin besteht, um so gut wie jeden Preis einen Ausgleich herzustellen, um so einem Sieg der politischen Extreme vorzubeugen. Diesem hehren Ziel dient die absurde Erfindung der sogenannten Zweitstimme, die der Wähler der Liste einer Partei geben kann und über deren Zusammensetzung auch nur von dieser entschieden wird. Neben einer ungerechtfertigten personellen Autblähung des Bundestags, der bei weitem mehr Mitglieder umfaßt als beispielsweise US-Senat und Kongress zusammen, fördert diese Praxis im wesentlichen drei problematische Tendenzen: Zum einen vereitelt dieses Wahlrecht so gut wie stets klare Mehrheiten. Statt dessen übt es den Zwang aus, Koalitionen einzugehen, um eine parlamentarische Mehrheit zustande zu bringen. Zum weiteren begünstigt die Listenwahl eine im Sinne der rein demokratischen Lehre nicht erwünschte Überrepräsentanz von Apparatschiks und grauen Mäusen. Um an die Listenspitze zu gelangen, müssen die Politiker sich über die "Ochsentour" den "Stallgeruch" verschaffen; sie müssen nicht das Wahlvolk überzeugen, sondern den Parteitag Und hier dominieren die organisierten Interessen - Gewerkschaften, Wirtschaftsverbände oder Bauern. 2. Schließlich fördert das Verhältniswahlrecht, das den Parteien einen Einfluß verschafft, der weit über das im Grundgesetz verankerte Recht hinausgeht, an der 5*

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politischen Willens bildung mitzuwirken, auch Verknöcherung und Verkalkung der gesamten politischen Kultur dieses Landes. Konkret: Dieses Wahlrecht vereitelt von vomeherein, daß ein derart radikaler politischer Generations- und Konzeptionswechsel stattfinden könnte, wie dies in Großbritannien Tony Blair mit New Labour gelang, weil es vor allem jene privilegiert, die bereits im Besitz eines Mandats sind und die im wohlverstandenen eigenen Interesse nur zu geneigt sind, dessen Erhalt mit Klauen und Zähnen zu verteidigen. Die beiden großen Volksparteien haben sich, nicht zuletzt bedingt durch dieses Wahlrecht, längst zu bloßen Interessenagenturen entwickelt, die, zumal in wirtschaftlich mageren Zeiten, immer mehr Energien daran verschwenden müssen, bereits im Vorfeld politischer Entscheidungen, einen politischen Konsens unter den Hauptinteressen, die sie organisieren, herzustellen. Aus eben diesem strukturellen Dilemma erklärt sich zu einem erheblichen Teil die derzeitige Malaise einer mehr als halbherzigen Reformpolitik, die nicht vom Fleck kommt und damit nur dazu beiträgt, die verbreitete Verdrossenheit zu mehren. 3. Der Föderalismus und namentlich sein Vertretungsorgan, der Bundesrat, sind letzthin häufig kritisiert und wegen seiner Blockadepolitik heftig gescholten worden. Da ist viel Wahres dran, aber gleichzeitig war diese Kritik nicht so radikal, als daß sie an die Wurzeln des Übels gegangen wäre. Der bundesrepublikanische Föderalismus ist seit je lediglich eine politische Charaktermaske, die sich aber jetzt zunehmend für eine selbständige Persönlichkeit zu halten geneigt ist. Das ist Unfug. Die Länder sind in jeder Hinsicht Mündel des Bundes, d. h. sie verfügen über kein von ihnen selbst erwirtschaftetes Steueraufkommen, sondern sind im wesentlichen von den Zuweisungen des Bundes abhängig. Dies ließe sich leicht ändern, wenn man ihnen die Steuerhoheit bei einigen Steuerarten überantwortete. Ein gleiches gilt im übrigen auch für die Städte. Derlei förderte die Eigenverantwortlichkeit und schüfe überdies eine heilsame Konkurrenz untereinander. Solange das nicht der Fall ist, ist der politische Anspruch, den die Länder so überaus selbstbewußt im Bundesrat geltend machen, eine schlichte Anmaßung. (Wahrscheinlich läßt Herr Minister Caesar soeben von der zuständigen Staatsanwaltschaft in Neustadt einen Haftbefehl gegen mich wegen verfassungsfeindlicher Äußerungen ausstellen. Dagegen indes verwahre ich mich mit Berufung auf die historische Immunität, die dieser Ort, das Hambacher Schloß, jedem, der hier solche Reden führt, verschafft ... ) Was tun? Der Wähler ist bekanntlich Souverän im Augenblick seiner Stimmabgabe. Davor und danach ist er Untertan, der seinen beschränkten Verstand freudig den erleuchteten Ratschlüssen der von ihm gewählten Obrigkeit unterordnet. Denkbar wäre nur das' Undenkbare: Der Wähler verweigert die Abgabe seiner Zweitstimme. Das wäre ein Ding! Damit wäre mit einem Schlag das gesamte irrsinnige Wahlrecht delegitimiert, würde der Unmut des Wählers tatsächlich eine massive Änderung der eingelebten Verhältnisse erzwingen. Ach, wie schön, wie demokratisch wäre das!

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Nein, es wird dazu nicht kommen. Statt dessen will ich Sie zum Schluß meiner Ausführungen mit einer anderen Hoffnung bekannt machen, an die zu glauben, auf die zu vertrauen ich Sie herzlich einladen möchte. Wenn diese Hoffnung wahr wird, dann wird sich vieles zum Besseren wenden. Diese Hoffnung heißt EURO. - Ja, du lieber Gott, werden Sie jetzt vennutlich seufzen, der läßt aber auch nichts aus! Weit gefehlt, denn die Einführung des EURO impliziert, wie ich mir gewiß bin, wesentlich mehr und anderes, als gemeinhin damit verbunden wird. Der EURO ist mehr als eine Währungsunion auf europäischer Ebene: Er wird ganz neue, ungeahnte, heute noch gar nicht überschaubare politische Handlungsspielräume eröffnen, die genutzt werden wollen und genutzt werden müssen. Der EURO wird die einzelstaatlichen Regierungen mit geradezu naturgesetzlicher Gewalt dazu zwingen, ihre Finanz- und Wirtschaftspolitiken so rasch wie möglich miteinander zu hannonisieren. Insbesondere die unterschiedlichen Steuerrechte und Steuersätze müssen schlagartig angeglichen werden. Ich bin in diesen Fragen zwar nichts anderes als blutiger Laie, aber dennoch vennag ich es mir nicht vorzustellen, daß in einer Währungsunion höchst unterschiedliche Mehrwertsteuersätze gelten. Das aber wird nur ein Anfang sein. Denn diese Währungsunion wird eine Dynamik entfalten, gegen die sich das durch die Einführung der D-Mark weiland in Gang gesetzte "Wirtschaftswunder" lediglich wie eine kleine Konjunkturbelebung ausnehmen wird. Diese Dynamik wird neue ordnungspolitische Konzeptionen erforderlich machen, ein neues politisch-ökonomisches Regelwerk also, sie wird gebieterisch den Primat der Politik einfordern. Diese neuen, riesigen Aufgaben, die sich damit stellen, werden von den einzelstaatlichen Regierungen, den schwerfälligen Ministerräten aber kaum in der gebotenen Kürze der Zeit bewältigt werden können. Die entfesselte Dynamik der europäischen Währungsunion wird ihrer nicht spotten lassen! Und die Prätentionen der deutschen Bundesländer, die womöglich auch hier auf Mitsprache pochen, werden in den Wind gesprochen sein. Dann, meine Damen und Herren, schlägt die große Stunde der Eurokratie, dann ist eine Verwaltung gefordert, die darum weiß, daß ihre Legitimation darauf beruht, Refonnen zu ennöglichen und auch durchzusetzen. Ich wünschte mir, meine Damen und Herren, daß eben diese Gewißheit das Ethos Ihres künftigen Handeins bestimmen wird.

Bürgerpartizipation - Nachfrage ohne Angebot? Einige Betrachtungen unter Aspekten von Wertewandel und Politikwandel Von Olaf Winkel

I. Einführung und Thesen

Trotz einiger durchaus vielversprechender Entwicklungen auf der kommunalen Ebene müssen Überlegungen zum Thema "Bürgerpartizipation - Nachfrage ohne Angebot?" von der Annahme ausgehen, daß in diesem Bereich nach wie vor ein gravierendes Angebotsdefizit besteht. Vor diesem Hintergrund möchte ich fünf Thesen zur Diskussion stellen, die auf einer Analyse der Partizipationsproblematik unter bisher noch nicht ausreichend beachteten Aspekten von Wertewandel und Politikwandel beruhen. Dabei wird zuerst die "Angebotsseite" thematisiert, nämlich der Wandel des gesellschaftlichen Wertehaushaltes, mit dem unter anderem ein zunehmendes Bedürfnis nach stärkerer politischer Partizipation einhergeht, dann die "Nachfrageseite", nämlich die Strukturen und Perspektiven des politischen Systems, das den Bürgerinnen und Bürgern unter bestimmten Umständen neue Partizipationsmöglichkeiten bieten könnte. In weiteren Schritten werden Wertewandel und Politikwandel im Zusammenhang betrachtet, wird die zurückhaltende Umsetzung der Potentiale des Wertewandels in der Politik mit der wesentlich weiter fortgeschrittenen Realisierung dieser Potentiale in der Wirtschaft kontrastiert und wird schließlich die Frage angeschnitten, wo die Ursachen der Stagnation im politischen Bereich liegen, und wo sich Ansatzpunkte für Verbesserungen finden. Die fünf Thesen, die hier zur Diskussion gestellt werden, sind nicht nur miteinander verbunden, sondern bauen partiell auch direkt aufeinander auf: These (1): Es gilt, den gesellschaftlichen Wertewandel durch die Schaffung neuer Beteiligungsmöglichkeiten in allen Lebensbereichen in konstruktive Bahnen zu lenken. These (2): Es gilt, das parlamentarisch-repräsentative System um direktdemokratische und diskursive Elemente anzureichern, um die aus der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und Globalisierung resultierende Steuerungskrise und ihre negativen Auswirkungen zu bewältigen.

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These (3): Es gilt, auf dem Wege der Schaffung neuer Verantwortungsrollen dafür zu sorgen, daß Wertewandel und Politikwandel zum wechselseitigen Nutzen aufeinander reagieren können. These (4): Es gilt, die in der Wirtschaft mit der Produktivmachung des Wertewandels gesammelten Erfahrungen für die Politik nutzbar zu machen. These (5): Es gilt, das verbreitete Mißverständnis auszuräumen, das die Frage der Anreicherung des bestehenden Systems durch neue Elemente zum Zwecke der Aufrechterhaltung politischer Steuerungsfähigkeit im gesellschaftlichen Wandel mit der Frage gleichsetzt, ob die überkommene politische Rollenverteilung grundsätzlich zur Disposition gestellt werden sollte.

11. Zur ersten These Die erste These unterstreicht die Notwendigkeit, den gesellschaftlichen Wertewandel durch die Schaffung neuer Beteiligungsmöglichkeiten in allen Lebensbereichen in konstruktive Bahnen zu lenken. Zu ihrer Fundierung werden die Aussagen und Ergebnisse der von Helmut Klages begündeten Schule der Wertewandelforschung herangezogen. Um Mißverständnissen vorzubeugen, erscheinen hier aber zuerst einige allgemeine Anmerkungen zur Wertewandelforschung angebracht. I Die wichtigste: In der Wertewandelforschung geht es nicht um eine Auseinandersetzung mit sogenannten "letzten Werten" im Sinne naturrechtlich oder religiös fundierter nonnativer Grundlagen menschlichen Zusammenlebens, sondern um die Analyse der Entwicklung von Werten im Sinne verhaltensrelevanter Grundeinstellungen in breiten Bevölkerungsschichten moderner Gesellschaften. Auch soll an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, daß hierzulande neben der von Helmut Klages begründeten Wertsynthesetheorie noch zwei weitere Schulen der Wertewandelforschung existieren. Dabei handelt es sich erstens um die von Ronald Inglehart begründete Postmaterialismustheorie, die sich durch einen großen sozialen Optimismus auszeichnet, und zweitens um die Schule von Elisabeth Noelle-Neumann, die als eine Art Werteverfallstheorie Verbindungen zum Kommunitarismus aufweist. Für die hier angestellten Überlegungen sind aber die Annahmen, Ergebnisse und Schlußfolgerungen der Wertsynthesetheorie als Paradigma der deutschen und europäischen Wertewandelforschung allein maßgeblich. Die zentralen Aussagen der von Helmut Klages begründeten Wertsynthesetheorie lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen 2 : I Ein Überblick über die Wertewandelforschung findet sich etwa bei Kaase, Max: Wert und Wertewandel. In: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Wörterbuch Staat und Politik. Bonn 1995. S. 870 ff oder bei Winkel, Olaf: Wertewandel und Politikwandel. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 52 - 53/1996. S. 14 ff.

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(1) Der Wandel des gesellschaftlichen Wertehaushaltes ist nach Klages ein mehrdimensionaler Prozeß, der durch eine Tendenz des Vordringens von Selbstentfaltungswerten und des Rückgangs von Pflicht- und Akzeptanzwerten bestimmt wird. 3 Zu den Pflicht- und Akzeptanzwerten zählt er dabei Werte wie Disziplin, Anpassungsbereitschaft, Ordentlichkeit, Sauberkeit, fleiß und Bescheidenheit. Als Selbstentfaltungwerte nennt Klages Werte wie Emanzipation von Autoritäten, persönliche Autonomie und Mitbestimmung, Ungebundenheit und Eigenständigkeit, Ausleben emotionaler Bedürfnisse und Genuß und Abenteuer.

(2) Der Prozeß des Vordringens von Selbstentfaltungswerten und des Rückgangs von Pflicht- und Akzeptanzwerten ist nach Klages in seinen gesellschaftlichen Auswirkungen ambivalent, d. h. mit ihm verbinden sich sowohl konstruktive als auch destruktive Potentiale. Destruktiv erscheinen dabei etwa Bedeutungsverluste von tradierten Tugenden wie Höflichkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, deren gänzliche Abwesenheit gesellschaftliche Organisation unmöglich machen würde, aber auch die abnehmende Akzeptanz gegenüber der Beschränkung individueller Freiheit durch Normen, Hierarchien oder Autoritäten und die abnehmende Bereitschaft der Menschen, sich in erprobten Formen im politischen Gemeinwesen zu engagieren. Als sozial konstruktive Phänomene, die mit dem Wertewandel im Zusammenhang stehen, nennt Klages insbesondere die zunehmende Toleranz gegenüber Randgruppen, die zunehmende Bereitschaft zum Verzicht in einer schwierigen Lage und die mit dem wachsenden Desinteresse an konventionellen Politikformen einhergehende steigende Bereitschaft, sich in unkonventionellen Formen am politischen Leben zu beteiligen. (3) Auf der individuellen Ebene schlägt sich der Wertewandel nach Klages in der Herausbildung unterschiedlicher Wertsynthesen nieder, die der gesellschaftlichen Entwicklung sowohl zuträglich als auch abträglich sein können. Was die Wertsynthesen oder Werttypen betrifft, stellt Klages insbesondere die sogenannte "große Wertsynthese" des aktiven Realismus als gesellschaftlich konstruktive Wertsynthese und die sogenannte "kleine Wertsynthese" des hedonistischen Materialismus als gesellschaftlich destruktive Wertsynthese einander gegenüber. (4) Aktuelle Fehlentwicklungen wie die Zunahme individualistischer Egoismen, die wachsende Politikverdrossenheit und die starke Verbreitung hedonistischmaterialistischer Einstellungen unter jungen Menschen, die gemeinhin mit dem Wertewandel verbunden werden - und dies erkannt und thematisiert zu haben, 2 Siehe etwa Klages, Helmut: Wertedynamik. Zürich 1988 oder ders.: Die Realität des Wertewandels. In: Klein, Ansgar (Hrsg.): Grundwerte der Demokratie. Bonn 1995. S. 81 ff. 3 Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle angemerkt, daß sich nach Meinung einiger Wissenschaftlicher inzwischen ein neuer Trend zugunsten von Ptlichtwerten abzeichnet, die mit dem Aspekt der wirtschaftlichen Sicherheit in Zusammenhang stehen. Auch wenn sich dies bewahrheiten sollte, wäre die von Klages formulierte Gesamttendenz des Wertewandels davon aber nicht berührt. Näheres dazu bei Veen, Hans-Joachim und Graf, Jutta: Rückkehr zu traditionellen Werten? Sankt Augustin 1997.

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zählt sicherlich zu den größten Verdiensten der Wertsynthesetheorie - erscheinen dabei nicht als unmittelbarer Ausdruck des Wertewandels, sondern als Resultat einer zunehmenden Diskrepanz zwischen veränderten Wertverwirklichungsbedürfnissen und weitgehend unveränderten Wertverwirklichungsmöglichkeiten. (5) Aus der vorgenannten Erkenntnis leitet Klages dann eine Empfehlung ab, deren Bedeutung für die praktische Politik kaum überschätzt werden kann: Um die konstruktiven Potentiale des Wertewandels nutzbar zu machen und seine destruktiven Potentiale einzudämmen - insbesondere auch, um einen aktiven Realismus zu fördern und den hedonistischen Materialismus zu bekämpfen - gelte es, den veränderten Wertverwirklichungsbedürfnissen durch die Schaffung neuer Verantwortungsrollen in allen Lebensbereichen erweiterte Wertverwirklichungsmöglichkeiten gegenüberzustellen. Auf diese Weise wird die Schaffung von Verantwortungsrollen aus dem Blickwinkel des Wertewandels zu einer zentralen gesellschaftspolitischen Aufgabe. Mit dieser FesteIlung möchte ich die Überlegungen zum gesellschaftlichen Wertewandel, seinen Problemen und Perspektiven zuerst einmal abschließen und mich der "Angebotsseite" zuwenden, d. h. dem politischen System, seinen Problemen und Perspektiven. III. Zur zweiten These

Die zweite These enthält die Forderung, man müsse das parlamentarisch-repräsentative System um direktdemokratische und diskursive Elemente anreichern, um die aus der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung und Globalisierung resultierende Steuerungskrise zu bewältigen und negativen Erscheinungsformen zu begegnen, wie sie etwa unter Stichworten wie Politikversagen oder Degeneration von materieller Politik zu symbolischer Politik angesprochen werden. Hinter dieser Aussage steht ein Verständnis, das das parlamentarisch-repräsentative System einerseits als bewährtes Steuerungssystem begreift, das politische Partizipation und effektive und sachgerechte Problembewältigung miteinander verbinden kann, andererseits aber auch als dynamisches System, das angesichts der stetigen Veränderung gesellschaftlicher Bedingungen selbst einer stetigen Veränderung zum Zwecke der Funktionssicherung bedarf. Während diese Feststellung in ihrer Selbstverständlichkeit schon in die Nähe einer Banalität gerät, stellt sich die Frage nach der Beschaffenheit der gesellschaftlichen Veränderungen und Probleme, die uns heute mit der Notwendigkeit konfrontieren, neu über politische Steuerung nachzudenken, schon weit weniger banal dar. Sie lenkt die Aufmerksamkeit nämlich auf die Diskussion um die zunehmende autopoiesische Ausdifferenzierung und die zunehmende Globalisierung der modemen Gesellschaft, die inzwischen zu einer gravierenden Steuerungskrise des parlamentarisch-repräsentativen Systems geführt haben. Die Steuerungskrise des politischen Systems ist bekanntlich schon früh von Renate Mayntz und Fritz Scharpf thematisiert worden. 4

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1. Die Steuerungskrise des politischen Systems aus dem Blickwinkel der Ausdijferenzierung

In einem systemtheoretischen Sinne läßt sich die Gesellschaft als Gesamtheit aufeinander bezogener Handlungen oder Rollen begreifen. Der auf Niklas Luhmann zurückgehende Begriff der Autopoiesis 5 steht für die fortschreitende Ausdifferenzierung dieser Handlungssysteme in unterschiedliche Teilsysteme, die unterschiedlichen Funktionslogiken folgen und sich immer mehr voneinander abschotten. Weil der einzelne Mensch in seiner sozialen Verfassung Teil der unterschiedlichsten Handlungssysteme und damit auch den Imperativen der unterschiedlichsten Funktionslogiken ausgeliefert ist6, führt die autopoiesische Ausdifferenzierung der modemen Gesellschaft dazu, daß sich die menschlichen Lebenswelten immer komplexer und unübersichtlicher darstellen und zunehmend paradoxe Strukturen aufweisen. Problembewältigung durch politisches Handeln wird angesichts dieser Entwicklungen in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen zu einer Gratwanderung, hin und hergerissen zwischen den unterschiedlichsten Anforderungen, die für sich selbst durchaus berechtigt sein und sich dennoch diametral widersprechen können. In dem Maße, wie sich die Differenzierungsprozesse auf der Ebene der Systeme fortsetzen, verlieren die Problemlösungsrezepte der Massengesellschaft in den einzelnen Lebenswelten an Bedeutung und wächst der Bedarf an dezentralen, auf die konkreten Bedingungen von einzelnen Räumen und Sachbereichen zugeschnittenen und schnell realisierbaren Lösungen. Dem in solchen Bereichen veränderten Steuerungsbedarf wird das parlamentarisch-repräsentative System aber nicht in vollem Umfang gerecht, weil die parlamentarischen Entscheidungsträger von den Problemen zu weit entfernt sind, um die speziellen Problemstrukturen nachvollziehen zu können, und weil die Parlamente und die mit ihnen zusammenarbeitenden Bürokratien nicht schnell genug auf Umweltveränderungen reagieren können. Wo man dies nicht erkennt oder negiert, erschöpft sich politisches Handeln häufig in dem Versuch, die Probleme einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft weiterhin allein mit den überkommenen Rezepten der Massengesellschaft zu lösen, was dann aber in vielen Bereichen nicht funktionieren und schließlich als Ausdruck einer differenzierungsbedingten Steuerungskrise diagnostiziert werden kann.? 4 Siehe etwa Mayntz, Renate und Scharpf, Fritz: Kriterien, Voraussetzungen und Einschränkungen aktiver Politik. In: Mayntz, Renate und Scharpf, Fritz (Hrsg.): Planungsorganisation. Die Diskussion um die Reform von Regierung und Verwaltung des Bundes. München 1973. S. 115 ff. 5 Näheres dazu bei Luhmann, Niklas: Autopoiesis als soziologischer Begriff. In: Haferkamp, Hans und Schmid, Michael (Hrsg.): Sinn, Kommunikation und soziale Differenzierung. Frankfurt a.M. 1987. S. 307 ff. 6 Man denke hier nur an die widerstreitenden Anforderungen, mit denen der modeme Mensch von den Seiten der ökonomischen und der ökologischen Logik täglich konfrontiert wird. 7 Hier wird auch deutlich, daß viele der bedenklichen Phänomene und Entwicklungen, die unmittelbar den Berufspolitikern angelastet werden, in Wirklichkeit in erster Linie auf struk-

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Ohne die Möglichkeiten einer aktiven Politik und einer Effektivierung von Verwaltungsabläufen in Abrede stellen zu wollen, läßt sich der wichtigste Ansatzpunkt zur Bewältigung dieser Krise meiner Meinung nach auf folgene Kurzformel bringen: Um die Leistungsfähigkeit der Politik als traditionellem Steuerungssystem in einer sich zunehmend ausdifferenzierenden Gesellschaft aufrechtzuerhalten, sollte man das demokratische System in dafür geeigneten Bereichen um direktdemokratische und diskursive Verfahren anreichern, die weniger von Mehrheiten als von symmetrischen Aushandlungsprozessen unter Einbeziehung von Expertenwissen geleitet werden. Besonders deutlich tritt dieses Erfordernis zutage, wenn man sich die aktuellen Steuerungsprobleme in den neuen technologiepolitischen Handlungsfeldern vor Augen führt, insbesondere die Steuerungsprobleme, die im Hinblick auf den gesellschaftlichen Umgang mit den modemen Informationstechnologien bestehen8 : Diese Technologien durchdringen die Gesellschaft stärker und tragen mehr zu ihrer Veränderung bei als alle vorausgegangenen technischen Innovationen von der Einführung der Dampfmaschine bis zur Motorisierung. Wahrend die Hardwaregestaltung im wesentlichen einer technischen Logik gehorcht, folgt die Software dabei aber einem sozialen Paradigma, was prinzipiell auf eine völlig neue Dimension der politischen Gestaltung von soziotechnischen Systemen hindeutet. Wem es gelingt, Einfluß auf die Gestaltung von Software zu nehmen, gelingt es daher gleichzeitig auch, Einfluß auf die Gestaltung von Gesellschaft zu nehmen, und dies möglicherweise sogar in einem immensen Ausmaß. Weil ein demokratisches Gemeinwesen dem Grundsatz verpflichtet ist, daß Entscheidungen von so großer Tragweite nicht von Einzelnen oder exklusiven Gruppen getroffen werden dürfen, sondern unter Einbeziehung der Vorstellungen und Interessen breiter Schichten der Bevölkerung zustandekommen müssen, haben Parlamente in der Vergangenheit Gremien wie die Enquetekommission zur Zukunft der Medien oder das Büro für Technikfolgenabschätzung geschaffen. Angesichts der Tatsache, daß die Beteiligung an einer problemadäquaten Gestaltung informationstechnischer Systeme aber jeweils die Kenntnis der konkreten Bedingungen voraussetzt, die vor Ort und in den entsprechenden Sachbereichen vorliegen, sind diese einseitig auf die Produktion von allgemeinen Vorgaben und Orientierungshilfen geeichten zentralen Einrichtungen des parlamentarischen Raums mit den ihnen übertragenen Aufgaben strukturell überfordert. Oft verbleibt ihnen letztlich kaum mehr als eine Alibifunktion. Wesentlich effektiver wäre es hier, diskursive und expertisengeleitete Entscheidungsformen turelle Defizite zurückzuführen sind. Wo die herkömmlichen Steuerungsinstrumente nicht mehr greifen, ist die Degeneration von materieller Politik zu symbolischer Politik programmiert, die Problemlösungskompetenz nur noch vorgaukelt und sich in medienwirksamen Spiegelfechtereien erschöpft. 8 Grundlegende Betrachtungen zu dieser Problematik finden sich etwa bei Kevenhörster, Paul: Politik im elektronischen Zeitalter. Baden-Baden 1984, Naschold, Frieder: Politik und Produktion. In: Hartwich, Hans-Hermann (Hrsg.): Politik und die Macht der Technik. Opladen 1986. S. 231 ff sowie Wittkämper, Gerhard W. und Chladek, Walter: Politik und Technik. Münster 1991.

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unter unmittelbarer oder mittelbarer Einbeziehung von Beteiligten und Betroffenen zum Standard zu erheben, wie sie etwa im Rahmen der Umsetzung des Bürgeramtsmodells 9 oder des Planungszellenverfahrens 10 bereits erprobt worden sind. Auf diese Weise ließen sich nämlich nicht nur Entscheidungen über die Ausgestaltung informationstechnischer Systeme im Sinne der Entwicklung sachgerechter und inhaltlich ausgewogener Lösungen beeinflussen, sondern auch Akzeptanzhemmnisse gegenüber technischen und organisatorischen Innovationen abbauen. 11 2. Die Steuerungskrise des politischen Systems aus dem Blickwinkel der Globalisierung

Wie bereits dargelegt wurde, resultiert die Steuerungskrise des parlamentarischrepräsentativen Systems aber nicht nur aus der zunehmenden Ausdifferenzierung, 9 Näheres dazu bei Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (Hrsg.): Das Bürgeramt Unna. Köln 1986. Siehe auch Winkel, Olaf: New Public Management und Bürgeramtsmodell - Wir brauchen beides. In: Verwaltung und Management 4/1997. S. 244 f. 10 Näheres dazu bei Dienei, Peter: Die Planungszelle. Opladen 1992. Siehe auch Burgass, Ilse: Stimme der schweigenden Mehrheit. Die Planungszelle als alternatives Modell effektiver Bürgerbeteiligung. In: IFDT 3/ 1995. S. 54 ff. 11 Zur Veranschaulichung sei hier in Anlehnung an das Bürgeramtsmodell exemplarisch auf einige zu regelnde Grundfragen verwiesen, wie sie sich im Rahmen informationstechnischer und organisatorischer Innovationen im Bereich der Kommunalverwaltung stellen können: Welche Informationsbestände und Informationsbeziehungen sind den konkreten Bedingungen des verwalteten Gemeinwesens und den unterschiedlichen Belangen der Verwaltungsklientel angemessen? Sollen die wesentlichen Steuerungsinformationen bei der Verwaltungsspitze oder im Rat konzentriert werden? Sollen die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit erhalten, über Rechner auf Programme, Protokolle und Planungsunterlagen zuzugreifen oder nicht? Sollen die Informationssysteme so gestaltet werden, daß sich steile Hierarchien und starke Durchgriffsmöglichkeiten der Verwaltungsspitze ergeben, oder so, daß sich flache Hierarchien und große Kompetenzräume für die Mitarbeiter ergeben? Sollen technische und organisatorische Sicherungsmaßnahmen primär darauf zugeschnitten werden, einen Mißbrauch der in der Verwaltung gespeicherten Bürgerdaten durch die Verwaltungsmitarbeiter auszuschließen oder primär darauf, daß die Persönlichkeitsrechte der Mitarbeiter gewahrt bleiben? Wie soll reagiert werden, wenn eine technische Neuerung auftritt, die die einmal erreichte Ausgewogenheit dieser Belange durcheinanderbringt? Die Liste der Fragen ließe sich fortsetzen. Offensichtlich ist, daß demokratische Politik in Formen, die zu stark auf die Umsetzung von oben vorgegebener Regeln abstellen, hier nur eine unzureichende Problemlösungskompetenz entfalten kann, und daß die Partizipations- und die Aushandlungsprozesse vor Ort und in einzelnen Sachbereichen zu einem wesentlichen Faktor des Entscheidungsprozesses werden müssen. Hier wäre es etwa denkbar, im Sinne der Entwicklung problemadäquater und sozial akzeptierter Lösungen Bürgerbefragungen durchzuführen, interessierten Bürgerinnen und Bürgern durch die Schaffung eines geeigneten Forums Informationsund MitsprachemögJichkeiten einzuräumen, die Interessen sozial benachteiligter Bevölkerungsteile mit Hilfe der Anwaltsplanung zu erfassen, eine Mitarbeiterarbeitsgruppe zu bilden, die Beteiligung der Personalvertretung über den Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Mitbestimmung hinaus zuzulassen und diese umfassenden Aktivitäten über ein gemeinsames Projektgremium mit Verwaltungsleitung und Rat zusammenzuführen.

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sondern auch aus der damit einhergehenden Globalisierung der modemen Gesellschaft. Die allgegenwärtige Tendenz der Internationalisierung und Globalisierung der modemen Gesellschaft hat nämlich zur Folge, daß sich die nationalen Politiken selbst internationalisieren und globalisieren müssen, wenn politische Steuerungsfähigkeit weiterhin aufrechterhalten werden soll. Tun sie dies, entfernen sie sich aber nicht nur von den regionalen Problemen, sondern lösen sie sich auch von den nationalen Parlamenten, die mit der Übertragung von nationalen Kompetenzen auf internationale Organisationen an politischem Einfluß verlieren, weil sie die auf der internationalen Ebene angesiedelten Bürokratien nicht so effektiv kontrollieren können wie nationale Exekutivorgane. Am besten ist dieser Prozeß heute innerhalb der Europäischen Union zu beobachten, wo die Verregelung besonders weit fortgeschritten ist. Lange Zeit wurden diese Entwicklungen insbesondere unter den Stichworten "Legitimitätsdefizit" und "Demokratiedefizit" diskutiert. 12 Inzwischen spricht man hier unter Betonung des Umstandes, daß die durch ihre Regierungen im internationalen System vertretenenen Nationalstaaten und die nationalen Parlamente im Laufe der Herausbildung und Verdichtung des trans nationalen Verflechtungsraums gleichermaßen an politischer Bedeutung verlieren, auch von einem Prozeß der "ungleichzeitigen Denationalisierung".13 Dies ist eine Begriffsschöpfung, die auf Michael Zürn zurückgeht. Und die Mittel, die Zürn zur Entschärfung der globalisierungsbedingten Steuerungs- und Legitimationsprobleme geeignet erscheinen, sind eng verwandt mit den Maßnahmen, die eingangs im Hinblick auf die Möglichkeiten zur Bewältigung der differenzierungsbedingten Steuerungskrise diskutiert worden sind. Er gibt hier nämlich nicht die auf den ersten Blick naheliegende Empfehlung, das Europäische Parlament auf Kosten der nationalen Parlamente zum legislativen Machtzentrum der Europäischen Union und damit zu einem Parlamentsmoloch zu machen, der weit weg von den konkreten Problemen und betroffenen Menschen einsame Entscheidungen trifft. Zürn spricht sich vielmehr auch mit Blick auf die Bewältigung der globalisierungsbedingten Probleme für die Zulassung zivilgesellschaftlicher und plebiszitärer Elemente aus. So plädiert er nicht nur für eine engere Einbindung der zahlreichen internationalen nichtstaatlichen Organisationen in die internationale Politik, sondern auch dafür, in ausgewählten Handlungsfeldern direktdemokratische Verfahren zuzulassen, was sich mit Hilfe modernder informationstechnischer Verfahren durchaus realisieren ließe. Und in diesem Zusammenhang nennt er nicht nur Bereiche von eher sekundärer Bedeutung, sondern auch den der Umweltpolitik und sogar den der Verteidigungspolitik. 12 So etwa auch Andreas Maurer, der eine anschauliche Darstellung der Hintergründe dieser Diskussion liefert. Siehe Maurer, Andreas: Reformziel Effizienzsteigerung und Demokratisierung. In: Jopp, Mathias und Schmuck, Otto (Hrsg.): Die Reform der Europäischen Union. Bonn 1996. S. 23 ff. 13 Dies und das folgende nach Züm, Michael: Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem. In: Politische Vierteljahresschrift 1/1996. S. 27 ff.

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Einer so weitgehenden Forderung kann ich mich - wie viele andere - nicht anschließen. Aber auch in meinen Augen mehren sich die Anzeichen dafür, daß die zunehmende gesellschaftliche Globalisierung - wie die zunehmende gesellschaftliche Ausdifferenzierung - eine Anreicherung des parlamentarisch-repräsentativen Systems durch diskursive und direktdemokratische Elemente zur Aufrechterhaltung einer effektiven und legitimen politischen Steuerung erforderlich macht. Würde man auf die Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und die dadurch ausgelösten Denationalisierungstendenzen nämlich mit der Schaffung von Superparlamenten antworten, die etwa als Legislative ganzer Kontinente agieren sollen, ließen sich dadurch die primär globalisierungsbedingten Probleme vielleicht entschärfen. Dies geschähe dann aber auf Kosten einer Verschärfung der differenzierungsbedingten Steuerungsprobleme und würde daher keine Vorteile bringen. Und natürlich stellen die Globalisierung und Ausdifferenzierung der modemen Gesellschaft zwei untrennbar ineinander verwobene Entwicklungen dar, die sich bestenfalls auf einer abstrakt-analytischen Ebene trennen lassen, nicht aber in der Realität. 3. Die absehbaren Folgen weiterer Untätigkeit

Daß die modeme Gesellschaft Veränderungen unterworfen ist, die uns dazu zwingen, neu über das politische System nachzudenken, steht heute wohl allgemein außer Zweifel. Die Ergebnisse dieses Nachdenkens können aber bekanntlich unterschiedlich ausfallen. Man kann zu dem Schluß gelangen, daß es tatsächlich sinnvoll wäre, das politische System in ausgewählten Bereichen zu reformieren. Hier sind viele unterschiedliche Vorschläge in der Diskussion, die sich danach unterscheiden lassen, ob sie stärker auf die Einführung direktdemokratischer Elemente zum Ersatz parlamentarischer Verfahren in herkömmlichen Regelungsbereichen abzielen, oder sich stärker auf die Einführung diskursiver Verfahren in Regelungsbereichen richten, die erst im sozialen und technischen Wandel der achtziger und neunziger Jahre entstanden sind. Für die erste Innovationsvariante steht nicht zuletzt Hans-Herbert von Amim, der die Einflußmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger unter anderem durch eine Modifizierung von Wahlverfahren vergrößern möchte. 14 Für die zweite Variante steht nicht zuletzt Peter Dienel, der das Planungszellenverfahren entwickelt hat. 15 Dieses Verfahren ermöglicht nicht nur eine unmittelbare Einbeziehung von Beteiligten und Betroffenen in konkrete Entscheidungsprozesse, sondern läßt sich auch dort, wo dies aufgrund der großen Zahl von Beteiligten und Betroffenen oder aus anderen Gründen nicht möglich ist, als deren abstraktes Surro14 Siehe etwa Arnim, Hans H. von: Demokratie ohne Volk. Plädoyer gegen Staatsversagen, Machtmißbrauch und Politikverdrossenheit. München 1993. 15 Dies und das folgende nach Dienei, a. a. 0., in sb. S. 10 ff. Siehe auch ders. u. a.: Bürgergutachten ISDN. Wuppertal 1991.

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gat produktiv machen. So wäre es mit Hilfe des Planungszellenverfahrens etwa möglich, die unterschiedlichen Anforderungen, die gegenwärtig von unterschiedlichen Seiten an die Ausgestaltung des Internet gerichtet werden, aufzunehmen, gegeneinander abzugleichen und zu einem inhaltlich ausgewogenen Anforderungsprofil zu verdichten. Man kann bekanntlich aber ebenso zu dem Ergebnis gelangen, daß man auf entsprechende Reformen verzichten sollte. Auch dafür gibt es sicherlich Argumente, die weit über einen reinen Strukturkonservatismus hinausgehen und es verdienen, ernstgenommen zu werden. Was geschieht aber, wenn wir es unterlassen, auf die zunehmende gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Globalisierung durch eine Anreicherung des parlamentarisch-repräsentativen Systems durch diskursive und direktdemokratische Elemente zu reagieren? Die Antwort ist überraschend in ihrer Einfachheit: In den stetig wachsenden gesellschaftlichen Bereichen, die sich den herkömmlichen politischen Steuerungsformen entziehen, würde der Anspruch auf politische Steuerung in diesem Falle faktisch aufgegeben, und diese Bereiche würden dann marktmäßig und damit nicht einer politischen, sondern einer ökonomischen Logik folgend organisiert. Was nämlich die Politik in ihrer derzeitigen starren Fixierung auf das parlamentarisch-repräsentative Modell nicht oder nur in sehr eingeschränktem Maße kann, nämlich vordringen in sich immer weiter differenzierende und verkomplizierende Lebenswelten, kann der Markt sehr wohl. Wo keine Märkte sind, bilden sich welche - dieser bekannte Satz hat sich in der Vergangenheit immer wieder bewahrheitet, selbst in staatssozialistischen Systemen, die bewußt darauf angelegt waren, den Markt durch den Plan zu ersetzen. Aber - und dies ist mein Einwand gegen eine solche Entwicklung - so gut der Markt und die ökonomische Logik auch geeignet sind, die Verteilung von Gütern und Dienstleistungen in einer Volkswirtschaft sicherzustellen, so wenig sind sie geeignet, als entscheidender oder ausschließlicher Mechanismus zur Organisation von Gesellschaft zu dienen. Dies liegt einfach daran, daß die ökonomische Logik von einem kurzfristig angelegten Nutzenmaximierungsdenken geprägt und daher von ihrem Wesen her nicht oder nur in sehr geringem Maße geeignet ist, auch mittel- und langfristig bedeutsamen Belangen angemessen Rechnung zu tragen, deren Mißachtung sich schließlich als fataler Fehler herausstellen kann. Hier sei nur auf ökologische Probleme und auf das allein ethisch begründete Existenzrecht nachwachsender Generationen verwiesen. Oder um historisch zu argumentieren: Wir müssen nur die Geschichte unserer eigenen Landes betrachten, um zu erkennen, daß die Herausbildung der sozialen Marktwirtschaft in gewissem Sinne nichts anderes gewesen ist als die politische Antwort auf die historische Erkenntnis, daß eine einseitig marktförrnig verfaßte Gesellschaft auf die Dauer nicht gedeihen kann. Auch vor diesem Hintergrund erscheint eine vorsichtige Anreicherung des bestehenden politischen Systems um neue Elemente als wichtige Aufgabe.

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IV. Zur dritten These

Nachdem in den vorausgegangenen Überlegungen die "Nachfrageseite" und die "Angebotsseite" von Bürgerpartizipation jeweils gesondert analysiert worden sind, sollen nun die Entwicklungen in den Bereichen des Wertewandels und des politischen Systems im Zusammenhang betrachtet und nach dem Prinzip Befund, Diagnose, Therapie interpretiert werde. Dabei enthüllt die Zusammensicht den Befund, daß sich nicht nur die Wandlungsprozesse im Bereich des gesellschaftlichen Wertehaushaltes, sondern auch die Wandlungsprozesse im Bereich des politischen Systems und der politischen Kultur als ambivalente Prozesse darstellen. D.h. die in beiden Feldern festgestellten Entwicklungen können jeweils sowohl zu gesellschaftlich wünschenswerten als auch zu gesellschaftlich nicht wünschenswerten Ergebnissen führen. Der Umstand, daß wir heute in beiden Bereichen vorwiegend mit gesellschaftlich nicht wünschenswerten Ergebnissen konfrontiert sind, wird diagnostizierbar, wenn man das Augenmerk auf die Wechselwirkungen bzw. auf die fehlenden Wechselwirkungen zwischen den beiden Bereichen richtet: Gerade weil die Wandlungsprozesse in beiden Bereiche derzeit nicht aufeinander reagieren können, werden deren positive Potentiale tendenziell blockiert und deren negative Potentiale tendenziell gefördert. D.h.: Wegen der Separierung der Bereiche sind sowohl im Hinblick auf die Entwicklung des gesellschaftlichen Werthaushaltes als auch im Hinblick auf die Entwicklung des politischen System bedenkliche Resultate zu verzeichnen. Nach einem geeigneten Therapievorschlag muß man vor dem Hintergrund dieser Diagnose nicht lange suchen. Er lautet: Man sollte Bedingungen schaffen, unter denen die Wandlungsprozesse in beiden Bereichen aufeinander reagieren können, um in beiden Bereichen die positiven Effekte produktiv zu machen und die negativen Effekte zu begrenzen. Als geeigneter Ansatzpunkt zur Herbeiführung solcher Bedingungen erscheint dabei die Schaffung neuer politischer Verantwortungsrollen auf dem Wege einer vorsichtigen Anreicherung des parlamentarisch-repräsentativen Systems durch diskursive und direktdemokratische Elemente. Oder um es plakativ auszudrücken: Das politische System in der Form der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie verlangt angesichts veränderter gesellschaftlicher Bedingungen danach, um neue Elemente angereichert zu werden. Der Wertewandel verlangt angesichts veränderter gesellschaftlicher Bedingungen danach, durch institutionelle Reformen in konstruktive Bahnen gelenkt zu werden. Und das Mittel, das es ermöglicht, beide Bereiche in konstruktiver Weise aufeinander reagieren zu lassen, ist die Schaffung von Verantwortungsrollen im Sinne der Wertsynthesetheorie. Damit tue ich in meiner dritten These, nach der man durch die Schaffung neuer Verantwortungsrollen dafür sorgen sollte, daß Wertewandel und Politikwandel zum wechselseitigen Nutzen aufeinander reagieren können, eigentlich nichts anderes, als die Empfehlung von Helmut Klages, die dieser im wesentlichen mit Blick auf den gesellschaftlichen Wertewandel gibt, aufzunehmen und sie aus der Zusammensicht von Wertewandel und Politikwandel noch einmal zu unterstreichen. 16 6 Speyer 130

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V. Zur vierten These Die eingangs an vierter Steller aufgeführte These beinhaltet die Empfehlung, daß die in der Wirtschaft mit der Produktivmachung des Wertewandels gesammelten Erfahrungen für die Politik nutzbar gemacht werden sollten. Zum Verständnis und zur Untermauerung dieser These ist "ein Blick über den Tellerrand" auf die Gebiete der betriebswirtschaftlichen Organisationstheorie und der Betriebssoziologie erforderlich. 1. Wie sich die Produktivmachung des Wertewandels in der Wirtschaft darstellt

Daß man es in großen Teilen der Wirtschaft tatsächlich geschafft hat, den Wertewandel für ökonomische Ziele produktiv zu machen, zeigt der Umstand, daß dort herkömmliche tayloristische und fordistische Rationalisierungskonzepte bereits heute in hohem Maße durch neuartige Organisationsmodelle und Arbeitsformen verdrängt worden sind, die den Mitarbeiter und seine Potentiale in das Zentrum des Wertschöpfungsprozesses rücken. Diese werden in ihrer praktischen Verbreitung und ihrer theoretischen Reflexion vor allem unter den Stichworten neue Produktionskonzepte, systematische Rationalisierung, neuer Rationalisierungstypus, flexible Spezialisierung, Lean Management und virtuelles Unternehmen diskutiert. 16 Betrachtet man den Wertewandel einmal primär im Kontext der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, zeigt sich, daß bedenkliche Wertsynthesen vor allem dort zu erwarten sind, wo Menschen auf die autopoiesischen Entwicklungen in einer Weise reagieren, die sie zu stark und einseitig einzelnen Systemlogiken ausliefert. Hier ist charakteristisch, daß Klages den destruktiven Typus des hedonistischen Materialisten als ,,kleine Wertsynthese" bezeichnet, denn dieses Phänomen kann unter dem Aspekt der sozialen Ausdifferenzierung auch als Ausdruck einer unvollständigen und in seiner Unvollständigkeit besonders unglücklich ausgefallenen lebensweltlichen Verarbeitung widerstreitender Handlungsimperative interpretiert werden. Die von Klages als gesellschaftlich konstruktiv ausgewiesene "große Wertsynthese" des aktiven Realismus wird in einer solchen Lesart dort möglich, wo Menschen in ihren Einstellungen und Lebensstrategien nicht nur die Ausdifferenzierung der Handlungssysteme und das Auseinanderdriften der Funktionslogiken in einer größeren Breite reflektieren und verarbeiten, sondern ebenso die Spannungen zwischen den konkurrierenden Funktionslogiken und die daraus resultierende Zunahme der Unübersichtlichkeiten und Unvereinbarkeiten in ihren Lebenswelten. Vor diesem Hintergrund wird auch die von der Wertsynthesetheorie verfochtene These besser verständlich, nach der die Postmoderne den ihr adäquaten Menschentypus in der Form des aktiven Realisten bereits hervorgebracht hat. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, kann man zu dem Schluß gelangen, daß die Autopoiesis zwar das gesellschaftliche System grundlegend verändert hat, den Menschen aber zumindest bis zu einem gewissen Grad die Chance verblieben ist, die sich ausdifferenzierenden Rationalitäten im Sinne von Jürgen Habermas in eine allgemeine Rationalität zurückzukoppeln. Diese allgemeine Rationalität ist dann aber nicht mehr die der modernen Massengesellschaft, sondern die einer noch wesentlich komplexeren, unübersichtlicheren und noch stärker paradox strukturierten Gesellschaft, und das Gelingen der zu ihrer Aufrechterhaltung erforderlichen Rückkopplungsprozesse setzt die Fähigkeit zu struktureller Innovation voraus.

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Der Begriff der neuen Produktionskonzepte geht auf Horst Kern und Michael Schumann zurück und bezieht sich vor allem auf neue arbeitsorganisatorische Verfahren in Teilen des verarbeitenden Gewerbes. l ? Als frühes Beispiel einer entsprechenden Kombination neuer Organisations- und Arbeitsprinzipien und moderner informationstechnischer Arbeitsmittel gilt die integrierte Gruppenfertigung im Maschinenbau. Dabei sind Teams in sogenannten Fertigungsinseln, die Komponenten eines umfassenden betrieblichen Netzwerkes darstellen, damit befaßt, Teilefamilien in ganzheitlichen Arbeitsverfahren herzustellen. Die gleichmäßig qualifizierten Mitarbeiter der Arbeitsgruppen genießen eine weitgehende Autonomie in der Aufgabenplanung und tragen die Produktverantwortung gemeinsam. Der Terminus der systematischen Rationalisierung stammt von Martin Baethge und Herbert Oberbeck, die sich im Gegensatz zu Kern und Schumann nicht mit neuen Organisationsmodellen und Arbeitsformen in der industriellen Produktion, sondern mit neuen Organisationsmodellen und Arbeitsformen im Bürobereich befassen. 18 Diese sehen sie geprägt durch einen Trend zur integrierten Arbeitsorganisation und zur Enthierarchisierung der Arbeitsteilung auf der mittleren und unteren Ebene nach dem Prinzip Information und Kommunikation statt Steuerung und Kontrolle. Hier lauten die zentralen Stichworte Projektarbeit, integrierte Bürokommunikation, Job-Enlargement und Job-Enrichment. Während Kern und Schumann den Umbruch von Organisations strukturen und Arbeitskultur primär auf der Mirkoebene des Betriebes thematisieren und Baethge und Oberbeck sich auf die Analyse des Bürobereichs konzentrieren, schließen Michael Piore und Charles ESabel 19 wie auch Altmann, Deiß, Döhl und Sauer20 weitere Aspekte in ihre Überlegungen ein. Dies sind insbesondere die Aspekte der Unternehmensstrukturen, der industriellen Beziehungen und der makroökonomischen Steuerung. Mit den Begriffen des neuen Rationalisierungstypus und der flexiblen Spezialisierung geraten daher auch neue Organisationsmodelle und ganzheitlich ausgerichtete Arbeitsformen in den Blick, die weit über die Grenzen einzelner Abteilungen und Unternehmen hinausgehen und bereits auf grundlegende Änderungen in den volkswirtschaftlichen Strukturen und damit auch auf eine Veränderung des gesellschaftlichen Arbeitsmodells hindeuten. Als Beispiele zu nennen sind hier etwa die Just in Time-Produktion, die Zusammenführung von vor- und nachgelagerten Lieferbeziehungen oder integrierte Logistikkonzepte.

17 Siehe etwa Kern, Horst und Schumann, Michael: Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion. München 1984. 18 Siehe etwa Baethge, Martin und Oberbeck, Herbert: Zukunft der Angestellten. Neue Technologien und berufliche Perspektiven in Büro und Verwaltung. Frankfurt und New York 1986. 19 Siehe etwa Piore, Michael and Sabel, Charles F.: The Second Industrial Divide. New York 1984. 20 Siehe etwa Altmann, Norbert u. a.: Ein neuer Rationalisierungstyp - neue Anforderungen an die Industriesoziologie. In: Soziale Welt 2/3/1986. S. 191 ff.

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Die Diskussion um das Lean Management-Konzept, das ebenfalls systematischen Organisationsprinzipien folgt und Tätigkeitsanreicherung und Personalentwicklung in den Vordergrund rückt, geht auf Womack, Jones und Roos zurück. 21 Diese beziehen sich in ihren Darstellungen und Empfehlungen auf Erfahrungen, die in der japanischen Autoindustrie gesammelt worden sind. Nach Bekunden von Womack, Roos und Jones ermöglicht es Lean Management, in Fertigung und Büro mit deutlich weniger Aufwand sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht deutlich bessere Ergebnisse zu erzielen. Während von den neuen Produktionskonzepten, dem neuen Rationalisierungstypus, der flexiblen Spezialisierung und der systematischen Rationalisierung zuerst noch in erster Linie im Kontext der gewerkschaftlichen Forderung nach einer Humanisierung des Arbeitslebens die Rede gewesen ist, steht der Begriff Lean Management für eine tiefgreifende Neuorientierung innerhalb der Unternehmerschaft. Die Komponenten von Lean Management sind allerdings nicht wirklich neu, sondern im wesentlichen bereits in den vorgenannten älteren Konzepten enthalten. Neu ist dagegen das Konzept des virtuellen Unternehmens, wie es etwa von Schub von Bossiazky in d~e Diskussion gebracht worden ist. 22 Während die Komponenten der anderen aufgeführten Modelle in der wirtschaftlichen Praxis seit geraumer Zeit eine wichtige Rolle spielen, ist das Modell des virtuellen Unternehmens bis heute kaum mehr als eine gewagte Prognose, als eine Zukunftsvision. Nichtsdestotrotz verweist es auf einen wesentlichen Trend, der empirisch nachweisbar ist. Das Konzept des virtuellen Unternehmens setzt an bei den von Piore und Sabel sowie Deiß und anderen aufgedeckten systematischen Rationalisierungstendenzen, die über die Grenzen einzelner Abteilungen und Unternehmen hinausgehen, und entwickelt über ihre Zuspitzung ein Szenario, in dem zentrale volkswirtschaftliche Abläufe dezentral und von unterschiedlichen und häufig wechselnden Kooperationspartnern über Telekooperationsnetzwerke - eben in sogenannten virtuellen Unternehmen - realisiert werden. Es liegt auf der Hand, daß nicht nur der Grad der organisatorischen Umstrukturierung, sondern auch der Grad der Gestaltungsmöglichkeiten und Verantwortlichkeiten der beteiligten Menschen in diesem Szenario besonders hoch sind, weil kaum noch Möglichkeiten einer hierarchischen Steuerung und Kontrolle verbleiben. Obwohl die aufgeführten Modelle unterschiedliche Perspektiven und Reichweiten aufweisen, unterschiedliche Verbreitung gefunden haben und sich partiell auf völlig unterschiedliche wirtschaftliche Segemente und Tätigkeiten beziehen, gleichen sie sich in einem wesentlichen Punkt: Sie sehen eine Neuordnung aufbauund ablauforganisatorischer Strukturen im Sinne einer stärker ganzheitlichen Aufgabenerfüllung, einer Verflachung von Hierarchien und einer flexibleren Arbeits21 Siehe etwa Womack, James P. u. a.: Die zweite Revolution in der Autoindustrie. Frankfurt a.M. und New York 1992. 22 Siehe etwa Schub von Bossiazky, Gerhard: Vorn vernetzten zum virtuellen Unternehmen. In: Bollmann, Stefan (Hrsg.): Kursbuch Neue Medien. Mannheim 1995. S. 280 ff.

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gestaltung unter Ausnutzung informationstechnischer Potentiale vor. Und sie betrachten den Faktor Arbeit als wichtigste Produktivkraft, räumen der Personalentwicklung zentralen Stellenwert ein und ordnen den Mitarbeitern neue Verantwortungsrollen zu, was nichts anderes bedeutet als eine intensivierte Ausnutzung der Potentiale, die der Wertewandel heute bietet. 2. Was die Produktivmachung des Wertewandels in der Wirtschaft ermöglicht hat

Wie ist es nun aber dazu gekommen, daß neue Produktions-, Distributions- und Administrationskonzepte in die Wirtschaft Einzug gehalten haben, die den Beschäftigten neue Gestaltungsräume und Verantwortungsrollen zuordnen und auf diese Weise den Wertewandel für wirtschaftliche Ziele produktiv machen, während im politischen Bereich in dieser Hinsicht kaum innovative Impulse wirksam geworden sind? Die Antwort auf diese Frage, deren Berechtigung wohl niemand grundsätzlich in Zweifel ziehen wird, lautet: Diese Entwicklung ist in erster Linie auf gravierende Marktveränderungen zurückzuführen, die mit tiefgreifenden informationstechnischen Innovationen einhergehen. Insgesamt treffen wir auch hier wieder auf die Auswirkungen von Tendenzen, die sich unter die Kategorien Globalisierung und Ausdifferenzierung subsumieren lassen. Bekanntlich sind in der Vergangenheit wichtige Märkte von Stagnationstendenzen erfaßt worden und gleichzeitig neue Anbieter wie die Tigerstaaten mit hochentwickelten und kostengünstigen Produkten in den internationalen Wettbewerb eingetreten, was die Volkswirtschaften der etablierten Wirtschaftsnationen einem erheblichen Innovationsdruck ausgesetzt hat. Der Hauptgrund dafür, daß Taylorismus und Fordismus inzwischen zunehmend durch anthropozentrische Rationalisierungskonzepte verdrängt werden, liegt aber auf einer tieferen Ebene. Er ist darin zu sehen, daß die informationstechnische Entwicklung zur Auflösung des Spannungsverhältnisses von Automation und Flexibilität geführt hat, was die Märkte zunehmend zu Käufermärkten macht und auf der Angebotsseite eine Diversifizierung von Gütern und Dienstleistungen erfordert, die wiederum eine Ausdifferenzierung von Produktions-, Distributions- und Administrationskonzepten voraussetzt. Mit der zunehmenden Unübersichtlichkeit und Wechselhaftigkeit der wirtschaftlichen Kommunikations- und Kooperationsbeziehungen und dem damit einhergehenden rasanten Bedeutungsgewinn des Spezialistentums stößt wiederum das überkommene Kontrolldenken im Sinne von Bravermanns Referenzmodell als Prinzip der Organisation von gesellschaftlicher Arbeit23 an seine Grenzen. Wo äußere Kontrolle mit dem Übergang von der Massenproduktion zur diversifizierten Spezialproduktion aber als Mittel zur Aufrechterhaltung und Erhöhung von Arbeitsleistung immer weniger greift, ist irgendwann ein Punkt erreicht, an dem sie 23

Näheres dazu bei Braverman, Harry: Labor and Monopoly Capital. New York 1974.

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weitgehend oder sogar ganz durch Motivation ersetzt werden muß. Auf diese Weise werden die Potentiale des Wertewandels zu einer entscheidenden volkswirtschaftlichen Ressource. 24 3. Was die Politik von der Wirtschaft lernen kann

Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Produktivmachung des Wertewandels in der Wirtschaft deshalb relativ weit vorangeschriuen ist, weil sie dort ein zur Aufrechterhaltung des Systems unabweisbares Erfordernis darstellt, d. h. weil sie eine systematische Entwicklung darstellt, die das Selbsterhaltungsstreben und den menschlichen Eigennutz als zentrale Triebkräfte hat. In der Politik sind derartig starke Innovationsanreize dagegen nicht gegebenen. Im Gegenteil, hier stellt das Vorhaben, das überkommene System im Sinne der Schaffung neuer Verantwortungsrollen durch neue Elemente anzureichern, vielmehr selbst ein politisches Projekt dar, d. h. etwas, das gewollt werden muß, das auch gegenüber Widerständen durchgesetzt werden muß. Angesichts dieses grundlegenden 24 Der Stellenwert dieser Ressource tritt besonders deutlich zutage, wenn man das deutsche Modernitätsmodell mit konkurrierenden Modellen aus dem femen Osten vergleicht, etwa mit dem japanischen. Das japanische Wirtschaftswunder stellte in seiner Anfangsphase in gewissem Maße eine Kopie des westdeutschen Wirtschaftswunders dar. Die Tugenden des "Weltmeisters der Massenproduktion" wurden in der japanischen Gesellschaft nachgeahmt, die sich auf diese Weise zu einern ernsthaften Konkurrenten der europäischen und nordamerikanischen Industrienationen entwickeln und ihrem Ruf als "Preußen des femen Ostens" auch auf wirtschaftlichem Gebiet gerecht werden konnte. Mit dem zunehmenden Übergang von Massenmärkten zu segmentierten Käufermärkten, von der Massenproduktion zur diversifizierten Qualitätproduktion und vorn Paradigma der Kontrolle zum Paradigma der Motivation hat sich in den achtziger und neunziger Jahren aber die in der Geschichte der Industrialisierung zuvor noch nicht gekannte Situation eingestellt, daß das Gesellschafts- und ArbeitsmodelI ehemaliger ostasiatischer Plagiatoren besser zu aktuellen Marktimperativen und Rationalisierungserfordernissen paßt als das vieler ehemaliger Vorbilder. In Japan ist dies nicht zuletzt auf einen abgekürzten Modernisi'erungsprozeß zurückzuführen, der im Rahmen einer obrigkeitsstaatlich forcierten nachholenden Entwicklung erfolgte. Im Laufe dieses Prozesses karn es nicht zu dem sukzessiven Übergang vorn Stadium der traditionalen Gesellschaft zum Stadium der Industriegesellschaft, der für viele Länder der westlichen Welt typisch ist. Vielmehr karn es zu Entwicklungen, die traditionale Denkweisen und Verhaltensmuster in einer sich zunehmend ökonomisierenden, verwissenschaftlichenden und technisierenden Umwelt weitgehend unberührt ließen, und in denen die entsprechenden Loyalitäten lediglich den Adressaten wechselten. Oder um es etwas unscharf, aber anschaulich auf eine kurze Formel zu bringen: In der jüngsten japanischen Geschichte ist nicht der Feudalismus durch den Kapitalismus, sondern lediglich der feudale Patriarch durch das kapitalistische Unternehmen ersetzt worden. Auf diese Weise können japanische Unternehmen heute auf Loyalitätspotentiale zurückgreifen, die in anderen Teilen der Welt längst verschüttet worden sind. Diese versetzen sie in die Lage, Arbeitnehmer auch jenseits äußerer Einwirkungen in der Form von Ergebnis-, Leistungs- und Anwesenheitskontrollen effektiv auf wirtschaftliche Ziele zu verpflichten. Das Potential, das Volkswirtschaften wie die der Bundesrepublik dem entgegensetzen können, ist das Potential des Wertewandels als moderner und produktiver Ausfluß der individualistischen abendländischen Tradition.

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Unterschieds liegt es auf der Hand, daß sich eine direkte Übertragung von Erfahrungen aus der Wirtschaft auf die Politik verbietet. D.h. die Politik kann von der Wirtschaft nicht lernen, auf welche Weise der Wertewandel politisch produktiv gemacht werden kann. Die Politik kann von der Wirtschaft aber immerhin lernen, daß es möglich ist, den Wertewandel in umfassender Weise produktiv zu machen, und sie kann von der Wirtschaft lernen, daß ein solches Projekt nicht als großer Wurf, sondern als Lernprozeß nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum angelegt sein sollte. Bereits der erste Aspekt ist bedeutsamer als er auf den ersten Blick erscheint. Wer die gegenwärtigen Entwicklungen in der Wirtschaft in dieser Hinsicht näher betrachtet, kann nämlich nicht mehr um die Anerkennung der Tatsache umhin, daß das von Klages unterstellte konstruktive Potential des Wertewandels tatsächlich existiert, und daß wir tatsächlich weniger. eine Werterenaissance als eine Anpassung der bestehenden Wertverwirklichungsmöglichkeiten an veränderte Wertverwirklichungsbedürfnisse brauchen, um die Zukunftsfähigkeit von Politik und Gesellschaft zu sichern. Daß die erforderliche Anreicherung des demokratisch-repräsenativen Systems um direktdemokratische und diskursive Elelemte nicht als großer Wurf, sondern als Lernprozeß nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum angelegt sein sollte, läßt sich aus der Erfahrung ableiten, daß auch in der Wirtschaft längst nicht alle organisatorischen Innovationen, die mittelbar oder unmittelbar auf die Produktivmachung des Wertewandels abzielten, von Erfolg gekrönt worden sind. In der Wirtschaft war man erfolgreich, weil man unter dem Druck des Marktes Risiken eingegangen ist und auf diese Weise auch Fehler zugelassen hat. Dies sollte auch in der Politik so gehalten werden, denn nur wer Fehler machen darf, ist wirklich innovationsfähig. Allerdings sind die Grenzen der Experimentiermöglichkeiten im politischen Bereich wesentlich enger gezogen als in der Wirtschaft. Die praktische Auslotung der Möglichkeiten einer Anreicherung des bestehenden Systems um direktdemokratische und diskursive Elemente verbietet sich dort, wo das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das politische System Schaden zu nehmen droht. Bekanntlich ist bereits seit längerer Zeit ein schleichender Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger gegenüber den politischen Institutionen und der professionellen Politik zu beklagen. Die ungebrochene Popularität von Schlagworten wie Politikverdrossenheit, Staatsverdrossenheit oder Parteienverdrossenheit bringt dies in anschaulicher Weise zum Ausdruck. Dieser Vertrauensverlust ist in meinen Augen zu einem guten Teil darauf zurückzuführen, daß strukturelle Innovationen versäumt worden sind und man sich zur Kaschierung von Steuerungsdefiziten oft auch dort auf symbolische Politik beschränkt hat, wo materieller Fortschritt dringend erforderlich gewesen wäre. Aber das andere Extrem ist ebenso denkbar, nämlich eine Entwicklung, in deren Verlauf ein Zuviel an struktureller Innovation - sozusagen von einer anderen Seite her - das ohnehin schon beeinträchtigte Vertrauensverhältnis zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und ihrem Staat noch weiter in Mitleidenschaft zieht. Dies ist der Grund, aus dem eine Anreicherung des parlamenta-

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risch-repräsentativen Systems um direktdemokratische und diskursive Elemente nur behutsam und in kleinen Schritten erfolgen sollte.

VI. Zur fünften These Meine fünfte und letzte These lautet: Es gilt, das verbreitete Mißverständnis auszuräumen, das die Frage der Anreicherung des bestehenden Systems durch neue Elemente zum Zwecke der Aufrechterhaltung politischer Steuerungsfahigkeit im gesellschaftlichen Wandel mit der Frage gleichsetzt, ob die überkommene politische Rollenverteilung grundsätzlich zur Disposition gestellt werden sollte. Dieser Empfehlung liegt der Gedanke zugrunde, daß der Nachfrage nach Bürgerpartizipation nicht nur deshalb kein adäquates Angebot gegenübersteht, weil es in der Politik im Unterschied zur Ökonomie an einem starken Anreizsystem für strukturelle Innovationen fehlt, sondern auch deshalb, weil die Beharrungskräfte der politischen Eliten, die einen Verlust von Einfluß und Pfründen fürchten, den erforderlichen Reformen entgegenstehen. Bürgerplebiszite, die etwa über die Einführung der Mechanismen von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid zur Entscheidung spezieller Sachfragen als Ersatz parlamentarischer Entscheidungsverfahren in herkömmlichen Regelungsbereichen in das politische System eingefügt werden könnten, stellen die Rolle und Machtposition der Parteien in der Bundesrepublik tatsächlich in Frage. Ihre Protagonisten treten häufig schon mit dem erklärten und in meinen Augen auch berechtigten Anspruch an, den Einfluß der "Parteien als Volksersatz..25 auf ein gesundes Maß reduzieren und Bürgerinnen und Bürgern verlorene Souveränitätsrechte zurückerobern zu wollen. Anders stellt sich die Sachlage aber im Hinblick auf direktdemokratische, diskursive und expertisengestützte Verfahren zur politischen Bewältigung vieler Probleme dar, die erst als Reaktion auf den gesellschaftlichen und technischen Wandel der achtziger und neunziger Jahre entstanden sind. Hier geht es oft überhaupt nicht mehr darum, ob und in welchem Umfang herkömmliche Komponenten des politischen Systems durch neue ersetzt werden sollen, sondern nur noch um die Frage, ob man in gesellschaftlichen Bereichen, die sich den überkommenen politischen Steuerungsformen entziehen, noch weiter steuern will oder bereit ist, den Steuerungs an spruch dort völlig aufzugeben. Daß die Option eines Steuerungsverzichtes dabei keine rationale Alternative darstellt, liegt angesichts der damit verbundenen Risiken wohl auf der Hand. Und die oft geäußerte Kritik, daß die legitimatorische Qualität vorwiegend diskursiver Entscheidungsverfahren, wie sie etwa zur Beeinflussung des informationstechnischen Wandels in Betracht kommen, geringer einzuschätzen sei als die herkömmlicher repräsentativ-parlamentarischer Verfahren, verb laßt angesichts des naheliegenden Gegenargumentes, daß die demokratische Gesellschaft 2S So Amim, Hans H. von: Fetter Bauch regiert nicht gern. Die politische Klasse - selbstbezogen und abgehoben. München 1997. S. 347.

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bei der Regelung von Problemen, die für ihre Zukunft von wesentlicher Bedeutung sind, Abstriche an legitimatorischer Qualität immer noch eher verkraften kann als einen Verlust von demokratischer Legitimation. Vor diesem Hintergrund sollte der professionellen Politik vor Augen geführt werden, daß es im Steuerungssystem der modemen Gesellschaft einen stetig wachsenden Refonnbedarf gibt, dem man nicht nur ohne Preisgabe demokratischer Grundpositionen, sondern auch weitgehend ohne Infragestellung überkommener Rollenverteilungen und Besitzstände Rechnung tragen könnte. Daß es einen darüber hinausgehenden "Refonnbedarf gibt, wird dadurch nicht in Abrede gestellt. Vielleicht liegt hier sogar ein Ansatzpunkt, um verhärtete Fronten aufzubrechen und die Innovationsfreundlichkeit und die Innovationsfähigkeit der politischen Eliten im Sinne einer umfassenderen Bürgerpartizipation generell zu erhöhen.

VII. Schlußbemerkung

Wer zum Thema "Bürgerpartizipation - Nachfrage ohne Angebot?" Stellung bezieht, läuft angesichts der hinter den Erwartungen vieler Bürgerinnen und Bürger zurückgebliebenen politischen Mitwirkungsmöglichkeiten auf der einen Seite und den vielen politisch unbewältigt gebliebenen gesellschaftlichen Problemen auf der anderen Seite Gefahr, in das Fahrwasser einer sehr emotional geführten öffentlichen Diskussion zu geraten, in der wechselseitige Schuldzuweisungen an der Tagesordnung sind. So ist inzwischen immer öfter zu beobachten, daß zum Teil sehr fundierte, zum Teil aber auch überzogene und pauschalisierende Politikerschelte mit Bürgerschelte vergolten wird, die dann wiederum neuen Anlaß zu Politikerschelte gibt. Bei dem Bemühen, diese Diskussion zu versachlichen und in konstruktivere Bahnen zu lenken, sollten auch die hier angesprochenen strukturellen Ursachen aktueller Regelungsdefizite stärker als bisher in die Betrachtungen einbezogen werden. Autorenzeile: Dr. Olaf Winkel, M.A., Politikwissenschaftler und Soziologe, ist Privatdozent und derzeit auch Hochschullehrervertreter am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelmsuniversität in Münster.

Besonderheiten der Demokratie auf Gemeindeebene Von Hans-Georg Wehling I. Einleitung: Kommunalpolitik im Umbruch

Kommunalpolitik in Deutschland befindet sich im Umbruch: Seit Anfang der neunziger Jahre haben sich ihre Rahmenbedingungen grundlegend geändert. Dabei handelt es sich um ein Mehr an Demokratie: durch die Einführung der Direktwahl des Bürgenneisters in allen Flächenstaaten der Bundesrepublik Deutschland, nachdem zuvor nur Baden-Württemberg und Bayern die Volkswahl kannten; und durch die Einführung des Referendums in die Gemeindeordnungen aller Flächenstaaten, jahrzehntelang zuvor nur in Baden-Württemberg gegeben. Gleichzeitig damit ist die Stellung des Hauptverwaltungsbeamten (des Bürgenneisters) in den meisten Flächenstaaten verstärkt worden, und zwar nicht nur durch einen Zugewinn an Kompetenzen, sondern vor allem auch durch die Volkswahl selbst, die dem Amtsinhaber ein höheres Maß an Legitimation verschafft. Mit diesen Veränderungen im Bereich der Rahmenbedingungen (polity) beginnen sich auch die Ablaufmuster (politics) und Inhalte (policy) von Kommunalpolitik zu ändern. Darauf sollte kommunalwissenschaftliche Forschung künftig ein Auge haben. Die Zuständigkeit für den Erlaß von Gemeindeordnungen - und damit für die Wahl des kommunalen Verfassungstyps - liegt beim jeweiligen Landesgesetzgeber. Der hat unterschiedlich davon Gebrauch gemacht, jeder in seiner Weise, wenigstens was die Vergangenheit betrifft. Wir hatten uns angewöhnt, die Kommunalverfassungen in Deutschland vier Typen zuzuordnen, die fast 50 Jahre Bestand hatten. Sie unterschieden sich im wesentlichen dadurch, daß Kompetenzen und Macht sehr unterschiedlich auf Rat und Bürgenneister (als Hauptverwaltungsbeamten) verteilt waren. Ich liste sie auf im Sinne eines Kontinuums, angefangen mit großer Macht des Rates und entsprechend geringer des Hauptverwaltungsbeamten bis hin zu großer Macht des Bürgenneisters und geringer des Rates: Norddeutsche Ratsverfassung (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen), Magistratsverfassung (Hessen, Städte Schleswig-Holsteins), Bürgenneisterverfassung (Rheinland-Pfalz, Saarland, Landgemeinden Schleswig-Holsteins), Süddeutsche Ratsverfassung (Baden-Württemberg, Bayern). Für die geänderten Rahmenbedingungen ("Innere Gemeindeordnungen") ist bisher noch keine neue Typologie entwickelt worden, die überzeugt hätte. Hans Herbert von Amim hat das Ergebnis des Refonnprozesses so charakterisiert:

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"Will man die neuen Gemeindeordnungen mit einem Satz charakterisieren, so kann man von einer gewissen Annäherung an die Grundsätze der Süddeutschen Ratsverfassung nach baden-württembergischer Prägung sprechen." 1

11. Reformanstöße Als Ausgangspunkt der Veränderungen läßt sich der Anspruch der Menschen in der damaligen DDR ansehen: "Wir sind das Volk!", mit dem sie wesentlich zum Zusammenbruch des Regimes beitrugen und dann auch die deutsche Vereinigung mit herbeiführten. Daß in der noch von der Volkskammer verabschiedeten neuen demokratischen Gemeindeordnung der DDR wie in den Gemeindeordnungen der neuen Bundesländer direktdemokratische Elemente wie Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sowie die Direktwahl von Bürgermeister und Landrat verankert wurden, war hier überhaupt kein Thema. Wohl aber in den alten Bundesländern, in denen lediglich in Baden-Württemberg und Bayern die Bürgermeister seit eh und je direkt zu wählen sind und nur in Baden-Württemberg Bürgerbegehren und Bürgentscheid verankert waren. Die Reformdiskussion war insgesamt nicht neu. Die Interessenlagen waren dabei klar: Gemeindedirektoren - (Ober-)Stadtdirektoren strebten eine Stellung wie die der süddeutschen Bürgermeister an; die ehrenamtlichen Bürgermeister im Geltungsbereich der Norddeutschen Ratsverfassung, die nicht selten Mitglied im jeweiligen Landtag waren, kämpften für die Erhaltung des status quo, im Einklang mit ihren Parteien, die befürchten müssen, die Kontrolle über die Ämtervergabe auf kommunaler Ebene zu verlieren, wenn nicht gar überhaupt in ihrem Einfluß auf die Gemeindepolitik beschnitten zu werden. Ein Blick auf die Kommunalpolitik in Süddeutschland muß solche Befürchtungen bestärken. Die Reformverhinderer gerieten jedoch durch die Entwicklung in den neuen Bundesländern in Argumentationsnot: Wenn das Volk dort nach mehr als 50 Jahren Diktatur (Drittes Reich eingerechnet) ,,reif' für mehr Demokratie war, konnte man schlecht die These aufrechterhalten, das Volk in den alten Bundesländern sei dafür noch nicht reif, nach mehr als 40 Jahren Einübung in Demokratie! Ein weiterer wichtiger Anstoß war der Ausgang der Volksabstimmung in Hessen über die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten vom 20. Januar 1991, bei der 82% für die Direktwahl stimmten. Damit war die hohe Popularität des Vorhabens bundesweit sichtbar gemacht. Andere Landesregierungen mußten das künftig in Rechnung stellen, nicht zuletzt weil sich damit dieses Thema geradezu für die jeweilige Opposition anbot. So hat in Nordrhein-Westfalen und später dann auch 1 Hans Herbert von Amim, Auf dem Weg zur optimalen Gemeindeverfassung?, in: Klaus Lüder (Hrsg.), Staat und Verwaltung. Fünfzig Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Schriftenreihe der Hochschule Speyer 122, Berlin 1997, S. 297 - 3329, hier S.303.

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im Saarland die dortige Opposition direktdemokratische Elemente gefordert, verbunden mit der Androhung einer entsprechenden Volksabstimmung, und damit die Regierung(spartei) gezwungen, auf dieses Reformvorhaben einzuschwenken. 2 Verschwiegen sei nicht, daß die Wissenschaft ganz gut Argumentationshilfe geleistet hat: Hans-Herbert von Arnim und Gerhard Banner, beide Speyer, haben einen prominenten Anteil daran. Vielleicht kann ich auch ein wenig stolz sein, die Diskussion mit empirischen Erkenntnissen angereichert zu haben, mit meiner Arbeit (zusammen mit H.-JÖrg Siewert): "Der Bürgermeister in Baden-Württemberg,,3, die immerhin zwei Auflagen erlebt hat und nach Auskunft des Verlages ganz gut auch außerhalb Baden-Württembergs verkauft worden ist (sie ist inzwischen vergriffen). Die Entwicklung im Kommunalverfassungsrecht der letzten Jahre läßt sich als Entwicklung hin zur "exekutiven Führerschaft" charakterisieren, kurz: zur Dominanz des Bürgermeisters. Ausgeprägt war dieses Muster in der Bundesrepublik immer schon im Geltungsbereich der Süddeutschen Ratsverfassung, d. h. in BadenWürttemberg und Bayern. In der Fallstudie Wertheim von Thomas Ellwein und Ralf Zoll hat der seinerzeitige Oberbürgermeister die Gegebenheiten selbst so charakterisiert: "Ein-Mann-Regiment mit sehr viel ,shake hands' und ,keep smiling,.,,4 Das klingt undemokratischer als es ist. Karl-Josef Scheuermann, der damalige "Alleinherrscher" von Wertheim, wurde nach mehreren Amtsperioden nicht wiedergewählt5 - was doch wohl einen deutlichen Hinweis darauf gibt, wer der eigentliche Souverän ist: das Volk. Die Tendenz zur "exekutiven Führerschaft" geht einher - komplementär, würde ich wertend hinzufügen - mit der Einführung von Referenden als weiterem direktdemokratischem Element in die Gemeindeordnungen, und zwar inzwischen flächendeckend. Bürgerbegehren und Bürgerentscheid wurden in allen Flächenstaaten von Seiten der Landesgesetzgeber eingeführt, bis auf Bayern, wo dieses Instrument von unten erzwungen worden ist, mit Hilfe der auf Landesebene bestehenden Möglichkeit des Volksentscheids. Da von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in zwei weiteren Beiträgen explizit die Rede ist (Otmar Jung und Carsten Nemitz), kann ich dieses Thema aussparen und mich ganz auf die Direktwahl der Bürgermeister und ihre Konsequenzen konzentrieren. Resumiert man den Reformprozeß, läßt sich feststellen: So reformunfähig ist das politische System der Bundesrepublik Deutschland offenbar nicht, wie sich be2 Auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht zu haben, ist das Verdienst von Hans Herbert von Arnim, a. a. o. S. S. 299 - 303. 3 Hans-Georg Wehling/H.-JÖrg Siewert, Der Bürgermeister in Baden-Württemberg, 2. Auflage Stuttgart 1987. 4 Ralf Zoll, unter Mitarbeit von Thomas Ellwein, Horst Haenisch, Klaus Schröter, Wertheim III. Kommunalpoilitik und Machtstruktur, München 1974, S. 148. 5 Vgl. hierzu: Thomas Ellwein/Ralf Zoll, Wertheim. Politik und Machtstruktur einer Stadt, München 1982, S. 280 - 282.

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reits an den kleinen Veränderungen der Gemeindeverfassungen über die Jahrzehnte hinweg, vor allem dann aber an dem gewaltigen Reformschub der neunziger Jahre gezeigt hat. Allerdings bedurfte es bei den grundlegenden Reformen des Anstoßes von außen, gerade auch von "unten", was - entsprechend der Argumentationsweise von Hans Herbert von Amim - bedeutet: Mehr direkte Demokratie führt zu mehr Reformfähigkeit! IH. Wer wird Bürgermeister?

Wer wird unter den Bedingungen der Wahl durch das Volk und wer unter den Bedingungen der Wahl durch den Rat Bürgermeister? Diese Frage soll in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehen. Leider sind empirische Daten dazu rar. Ich kann hier nur verweisen auf meine eigene empirische Studie über den "Bürgermeister in Baden-Württemberg"; sie ist nun schon etwas älter, ich habe jedoch über die Jahre hinweg Kommunalpolitik allgemein und Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg im besonderen weiterverfolgt. Von ein paar Prozentpunkten hin oder her einmal abgesehen: der Richtung nach stimmen die damaligen Ergebnisse nach wie vor. Für Nordrhein-Westfalen liegt ein unveröffentlichter ,,zwischenbericht" einer "Begleituntersuchung zur Einführung der neuen Kommunalverfassung" vor, verfaßt von Janbernd Oebbecke und Klaus Schulenburg6 , deren Daten im Herbst 1996 erhoben worden sind. Trotz der turbulenten Entwicklung angesichts der bevorstehenden ersten Direktwahl der neuen Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen 1999 zeigt meine Beobachtung der Szene, daß auch hier die Ergebnisse in der bisherigen Richtung fortgeschrieben werden können. Baden-Württemberg mit seinen 10,374 Mio Einwohnern weist auch nach der Gemeindereform immer noch 1.110 Gemeinden auf, d. h. eben auch viele kleinere und mittlere Gemeinden. Nur 9 Gemeinden zählen mehr als 100.000 Einwohner, sind also Großstädte. Ganz anders sieht die Struktur in Nordrhein-Westfalen aus, mit seinen 17,947 Mio Einwohnern und lediglich 396 Gemeinden. Hier überschreiten 30 Gemeinden die Großstadtgrenze. Diese unterschiedlichen Strukturen muß man sich vergegenwärtigen, weil sie für Kommunalpolitik äußerst bedeutsam sind, auch für Wahl und Auswahl von Bürgermeistern. Leider konzentriert sich kommunalwissenschaftliche Forschung nahezu ausschließlich auf Großstädte, sie sind in den meisten Flächenstaaten jedoch eher eine Ausnahme. Die volksgewählten, durchweg hauptamtlichen Bürgermeister in Baden-Württemberg sind zu annähernd 90% gelernte Verwaltungsfachleute, in den kleineren und mittleren Gemeinden Absolventen der Fachhochschulen für öffentliche Ver6 J anbemd Oebbbecke I Klaus Schulenburg, Begleituntersuchung zur Einführung der neuen Kommunalverfassung in Nordrhein-Westfalen. Zwischenbericht, unveröffentlicht, ohne Ort, ohne Jahr.

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waltung (bzw. deren Vorgängereinrichtungen), in den größeren Gemeinden ab etwa 50.000 Einwohner zunehmend Verwaltungsjuristen. Zuvor haben die Bürgermeister in der Kommunalverwaltung, im Landratsamt, im Regierungspräsidium oder einem Ministerium gearbeitet. Je kleiner die Gemeinde, desto jünger sind sie bei ihrem Amtsantritt. Das gesetzlich vorgeschriebene Mindestalter von 25 Jahren ist das häufigste Alter beim Amtsantritt, dank der vielen kleinen Gemeinden. In den größeren Städten erwartet man eher ein gesetztes Alter: 40 Jahre, bekannt als "Schwabenalter" (in dem die Menschen angeblich "gescheit" würden). Die Bürgermeister stammen durchweg nicht aus der Gemeinde, in der sie gewählt werden, und zwar um so deutlicher, je kleiner die Gemeinde ist. Die Überlegung der W