Integrität in Staat und Wirtschaft: Beiträge auf der 11. Speyerer Demokratietagung vom 23. bis 24. Oktober 2008 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428533985, 9783428133987

Das Thema "Integrität" hat in jüngerer Zeit einen unübersehbaren Aufschwung genommen. Zahlreiche Skandale in P

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Integrität in Staat und Wirtschaft: Beiträge auf der 11. Speyerer Demokratietagung vom 23. bis 24. Oktober 2008 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428533985, 9783428133987

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 205

Integrität in Staat und Wirtschaft Beiträge auf der 11. Speyerer Demokratietagung vom 23. bis 24. Oktober 2008 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von Hans Herbert von Arnim

Duncker & Humblot · Berlin

Integrität in Staat und Wirtschaft

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 205

Integrität in Staat und Wirtschaft Beiträge auf der 11. Speyerer Demokratietagung vom 23. bis 24. Oktober 2008 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von Hans Herbert von Arnim

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L 101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 978-3-428-13398-7 (Print) ISBN 978-3-428-53398-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83398-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Das Thema „Integrität“ hat in jüngerer Zeit einen unübersehbaren Aufschwung genommen, nicht nur in öffentlicher Verwaltung, Politik und Wirtschaft, sondern auch in der Wissenschaft. Hier findet unter Stichwörtern wie „public integrity“, „public sector ethics“ und „business ethics“ eine intensive Diskussion um unterschiedliche theoretische Ansätze und praktische Empfehlungen zur Sicherung der Integrität von Amtsträgern und Wirtschaftsfunktionären statt. Ziel der 11. Demokratietagung war es, einen Einblick in den gegenwärtigen Stand der Debatte zu geben und den sowohl sektor- als auch disziplin­ übergreifenden Vergleich zu fördern. Bei der Auswahl der Referenten wurde – wie auch in früheren Tagungen – Wert auf einen Wechsel zwischen praxisorientierter und theoretischer Perspektive gelegt, um durch die Zusammenschau auch eine Plattform für den Transfer zwischen Wissenschaft und Praxis zu bieten. Frau Larissa Vetters, M.A., Mag. rer. pol., und Herrn Dipl.-Volkswirt ­ ndrei Király danke ich für die Unterstützung bei der Vorbereitung der A ­Tagung, Herrn Király auch bei der Aufbereitung des Tagungsbandes. Speyer, im Mai 2010

Hans Herbert von Arnim

Inhaltsverzeichnis Begrüßung durch den Rektor Von Karl-Peter Sommermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Integrität und Politik Von Hans Herbert von Arnim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland bei Nichteinführung der Mindestlöhne: Fluch oder Segen? Von Friedrich Schneider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Korrupte Wirtschaft: Wahrnehmungsproblem oder System-Defizite? Von Karl Homann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Integrität in der christlichen Religion Von Eberhard Cherdron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Integrität in der öffentlichen Verwaltung: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser Von Klaus P. Behnke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Verwaltungsmodernisierung und neue Integritätsanforderungen im öffentlichen Dienst Von Johann Hahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Die Rolle der Zivilgesellschaft in der Korruptionsbekämpfung Von Sylvia Schenk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Skandale in der Mediengesellschaft: Das aufgeblasene Nichts und die ignorierte Relevanz Von Thomas Leif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Begrüßung durch den Rektor Von Karl-Peter Sommermann In meiner Eigenschaft als Rektor darf ich Sie sehr herzlich in der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer willkommen heißen. Ich freue mich, dass die von Herrn Professor von Arnim ausgerichtete Speyerer Demokratietagung auch in diesem Jahr so großen Zuspruch findet. Die Auswahl der Themen und Referenten sowie der Kreis der Teilnehmer verspricht spannende Debatten und Gespräche, zugleich eine lebendige Begegnung zwischen Wissenschaft und Praxis, die für das Profil unserer Hochschule prägend ist. Ich wünsche Ihnen, dass Sie dabei das Umfeld und die Atmosphäre unseres Universitätscampus inspiriert. Das Thema der 11. Speyerer Demokratietagung „Integrität in Staat und Wirtschaft“ ist in mehrerer Hinsicht ein „Speyerer Thema“. Erstens knüpft es an die Gründungsidee unserer Hochschule an. Unsere Hochschule wurde im Jahr 1947, kurz nach Gründung der École Nationale d’Administration, von der französischen Besatzungsmacht ins Leben gerufen, um die Aus- und Weiterbildung von Führungspersönlichkeiten des öffentlichen Sektors in einem fachlich übergreifenden Ansatz zu ermöglichen. Das Führungspersonal sollte insbesondere neben der Kenntnis der rechtlichen Grundlagen seines Handelns und spezieller Fertigkeiten die Funktionsweisen der öffentlichen Institutionen und Prozesse sowie ihre Wechselwirkungen mit den gesellschaft­ lichen Kontextbedingungen verstehen lernen; die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Gestaltung sollte gefördert werden. Wenn es seinerzeit auch maßgeblich darum ging, angesichts der historischen Erfahrungen die Mitglieder des öffentlichen Dienstes gegen totalitäre oder diktatoriale Bestrebungen wehrhaft zu machen, so war doch letztlich damals schon das Ziel, in größeren Kontexten urteilsfähige und integre Persönlichkeiten zu entwickeln. Dazu zählt eben neben der Wahrung des Rechts auch die Reflexion über Werte und Verhaltensstandards, die dem Handeln der öffentlichen Verwaltung zugrunde liegen. Das Thema „Integrität in Staat und Wirtschaft“ ist weiterhin deshalb ein „Speyerer Thema“, da es zu seiner angemessenen Erörterung aus der Sicht der Wissenschaft Beiträge mehrerer Disziplinen benötigt, der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften ebenso wie der Moralphilosophie und der Sozial-

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Karl-Peter Sommermann

wissenschaften. Daher ist es wichtig, dass das Thema auch in der Speyerer Forschung, die an den Lehrstühlen und insbesondere am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung stattfindet, mit einem interdisziplinären Ansatz Berücksichtigung findet. Herr Kollege von Arnim führt in diesem Sinne zusammen mit Frau Vetters ein Forschungsvorhaben durch, das den Titel trägt „ ‚Public Integrity‘ in Deutschland. Eine explorative Untersuchung zur Grundlegung eines theoretisch-methodischen Rahmenkonzepts für die Entwicklung rechtspolitischer Vorschläge zur Sicherung öffentlicher Integrität“. Von den Arbeiten zu diesem Projekt hat gewiss auch die Konzeption dieser Demokratietagung profitiert. Unserer Hochschule ist stets daran gelegen, dass ein rascher Transfer unserer aktuellen Erkenntnisse aus der Forschung in die Aus- und Weiterbildung stattfindet. Schließlich ist das Thema „Integrität in Staat und Wirtschaft“ deshalb ein Speyerer Thema, da es die Schnittstelle zwischen öffentlichem und privatem Sektor in den Blick nimmt. Wir verstehen den Forschungsgegenstand „Öffentliche Verwaltung“ niemals als geschlossenes System, sondern als Einrichtungen und Verfahren, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen und eng mit der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung verknüpft sind. Léon Duguit, der Anfang des 20. Jahrhunderts für die Entwicklung des Konzepts des service public in Frankreich prägend war, hat in seinem Traité de Droit public geschrieben: „L’Etat n’est pas comme on a voulu le faire croire et comme on a cru quelque temps qu’il était, une puissance qui commande, une souveraineté. Il est une coopération de services publics organisés et contrôlés par des gouvernants.“1 Das Thema „Integrität in Staat und Wirtschaft“ hat in diesem Sinne drei Dimensionen: Erstens nimmt es den gesellschaftlichen Kontext in den Blick, zweitens bezieht es sich auf die ethische Grundhaltung der Inhaber öffent­ licher Ämter – daran wird nicht zuletzt durch sogenannte ethics codes gearbeitet – und drittens sind schließlich die institutionellen Strukturen in den Blick zu nehmen. Allein die Arbeit an den ethischen Grundlagen der Verantwort­ lichen in Staat und Wirtschaft reicht nicht aus. Es muss auch institutionelle Strukturen geben, in denen die Verantwortung für unlauteres oder sachwidriges Verhalten diejenigen trifft, die gehandelt haben, und in denen die Konsequenzen eigennützigen, mit Risiken für die Allgemeinheit behafteten Handelns von denjenigen zu tragen sind, die sie verursacht haben. Die aktuelle 1  „Der Staat ist nicht, wie man glauben machen wollte und wie man eine Zeit lang geglaubt hat, eine Macht, die befiehlt, eine Souveränität. Er besteht in dem Zusammenwirken öffentlicher Dienstleistungen, die durch die Regierenden organisiert und kontrolliert werden.“



Begrüßung durch den Rektor

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Finanzmarktkrise ist eine deutliche Mahnung, dabei die institutionellen Strukturen in Staat und Wirtschaft in den Blick zu nehmen. Ich bin überzeugt, dass Sie in den vor Ihnen liegenden zwei Tagen spannende Diskussionen erwarten. Ich wünsche Ihnen anregende Gespräche und möchte Herrn Kollegen von Arnim und seinen Mitarbeitern bereits jetzt für die Ausrichtung dieser 11. Speyerer Demokratietagung danken.

Integrität und Politik Von Hans Herbert von Arnim I. Einleitung Der Themenkomplex, der mit Integrität zusammenhängt, hat in jüngerer Zeit unübersehbar an Aktualität gewonnen. Zahlreiche Skandale in Politik, Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Wirtschaft, in den Medien und im Sport tragen dazu bei. Der Eindruck greift um sich, vielen – und offenbar immer mehr Leuten in inzwischen fast allen gesellschaftlichen Sektoren – sei der Orientierungskompass für angemessenes Verhalten verloren gegangen. Lange stand hier die Politik ganz im Vordergrund. Bei Meinungsumfragen über Vertrauen und Integrität nehmen Politiker regelmäßig einen unteren Platz ein. Seit kurzem machen ihnen offenbar Wirtschaftsmanager Konkurrenz beim Wettrennen um den schlimmsten Platz am öffentlichen Pranger. Es begann mit der Empörung über Abfindungen für Manager, die ihr Unternehmen an die Wand gefahren hatten, mündete in die früher unvorstellbaren Korruptionsverstrickungen deutscher Vorzeigeunternehmen wie Siemens und Volkswagen und scheint jetzt in der Finanzkrise den Höhepunkt erreicht zu haben. Wochenlang wurde die sogenannte Gier der Wirtschaft in Talkshows rauf und runter dekliniert. Sie habe Finanzwelt und Wirtschaft an den Rand des Kollaps gebracht. Und die Politik steht plötzlich mit eilig zusammen geschnürten gigantischen Maßnahmepaketen als Retter in der Not da. Dieser vordergründige Wandel und die Weiterreichung der Prangerposition an Bankmanager darf nun aber nicht dazu veranlassen, den Blick für die Proportionen zu verlieren. Auch an der Finanzkrise trägt die Politik ein gerütteltes Maß an Schuld. Sie hat die verderbliche Entwicklung angestoßen. Der amerikanische Präsident Bush wollte mittels einer Politik des billigen Geldes allen, auch dem kleinen Mann, zum Wohlstand verhelfen – und dadurch von den gewaltigen politischen Problemen ablenken, die er selbst, etwa durch das Anzetteln des Irakkrieges, herauf beschworen hatte. Gleichzeitig verfolgte der amerikanische Bundesbankpräsident Alan Greenspan eine Politik des billigen Geldes, ließ die Notenpresse laufen, weitete die Geldmenge aus und senkte den Zins gegen Null, sodass scheinbar jeder sich alles leisten konnte – solange die

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Grundstücks- und Häuserpreise, angefacht durch die dauernde spekulative Nachfrage, in den Himmel schossen. Aber auch außerhalb Amerikas trägt die Politik Schuld. Sie hat es versäumt, die nötigen Regeln zu erlassen und eine Fülle von Missbräuchen und historisch einmaligen Fehlentwicklungen ermöglicht, zu denen eine Laissez faire-Wirtschaft eben leicht tendiert, wenn sie nicht in eine passende Ordnung eingebunden ist. Über die Wirtschaft werden auf dieser Tagung andere aus berufenem Mund sprechen. In meinem Referat steht die Politik im Vordergrund. Oft lässt sich beides allerdings nicht wirklich trennen. Das zeigen auch Analysen und Empfehlungen internationaler Organisationen, die die gegenseitige Abhängigkeit der wirtschaftlichen und politischen Systeme zunehmend in den Vordergrund stellen und dadurch versuchen die Nationalstaaten unter Handlungsdruck zu setzen. Die OECD unterhält eine Sektion Ethics and Corruption in the Public Sector, die Empfehlungen, Länderberichte und Studien zu Fragen der Integrität veröffentlicht. Der Europarat macht eine „Empfehlung betreffend die politische Integrität der kommunalen und regionalen Volksvertreter“ und eine „Empfehlung zu Verhaltenskodexen für Amtsträger“. Die Weltbank propagiert ebenfalls Integrität. Sie will nicht länger hinnehmen, dass ihre Hilfen an Entwicklungsländer versickern und hat den Kampf gegen Korruption aufgenommen. Ehemalige Beamte der Weltbank haben auch die Korruptionsbekämpfungs-NGO Transparency International gegründet. Auch EU, Vereinte Nationen und andere übernationale Organisationen streiten erklärtermaßen für Integrität und gegen Korruption und haben eine Fülle von einschlägigen Regeln aufgestellt. Aus allem wird ersichtlich: Mein Thema bestreicht ein sehr, sehr weites Feld. Mehr als den Versuch, ein paar Schneisen zu schlagen, die vielleicht zum Weiterdenken animieren, dürfen Sie von mir also nicht erwarten. II. Integritätsanforderungen an Individuen und Regelwerke Am Anfang stellt sich, wie auch bei vielen anderen Themen, die Grundsatzfrage nach dem Menschenbild, das richtiger Weise zu Grunde zu legen ist. Soll man mit Jean Jacques Rousseau davon ausgehen, der Mensch sei von Natur aus gut? Erst die Zivilisation habe ihn verdorben, weshalb Rousseau der Menschheit zurief: „Zurück zur Natur!“ Oder soll man mit Thomas Hobbes den Menschen als einen reißenden Wolf sehen („homo homini lupus est“), weshalb ein Krieg aller gegen alle



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(„bellum omnium contra omnes“) herrsche, wenn keine starke Macht existiert, die verhindert, dass die Menschen sich gegenseitig den Schädel einschlagen. Dieser Streit ist keineswegs überholt. Auch heute muss, wer über „Integrität und Politik“ spricht, sich Rechenschaft geben über das Bild, das er sich von „der Politik“ und „dem Politiker“ macht. Denn davon hängt vieles weitere ab. Welches ist der Vitalantrieb, von dem Politiker und Parteien sich leiten lassen? Was motiviert ihr Handeln? Normativ wird die Frage vom Staatsrecht klar beantwortet, zumindest für Amtsträger. Sie haben gemeinwohlorientiert, also nicht eigennützig, zu handeln, und zwar von Verfassungs wegen. Das kommt im Amtseid, den der Bundespräsident und die Mitglieder der Bundesregierung bei Antritt ihres Amtes schwören, zum Ausdruck. Sie geloben feierlich, dem Wohle des deutschen Volkes zu dienen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden. Meine Frage zielt aber auch auf das faktische Verhalten. Kein geringerer als Richard von Weizsäcker hat den Parteien „Machtversessenheit“ vorgeworfen und kritisiert, sie und ihre Repräsentanten würden dem Ziel des Machterwerbs und Machterhalts alles andere unterordnen. Sie seien Fachleute darin, wie man den politischen Gegner bekämpft, auch innerhalb der eigenen Partei. Und andere Spitzenpolitiker stimmen in die Klage ein, besonders wenn sie enttäuscht aufgegeben haben. Kurt Beck warf der SPD nach seinem Rücktritt als Bundesvorsitzender den „Umgangsstil eines Wolfsrudels“ vor. Und Friedbert Pflüger kritisierte, nach seinem Scheitern in der Berliner CDU, „die Focusierung einiger wichtiger Funktionäre allein darauf, durch die Verteilung von Posten und Pöstchen ihre Macht zu sichern“. Er sah sich als Opfer eines „Machtsystems, in dem man entweder mitspielt oder ausgeschlossen wird“. Nun braucht das Streben nach Macht nicht unbedingt etwas Schlechtes zu sein. Ohne Macht können Politiker und ihre Parteien schließlich auch ihre politischen Ziele nicht verwirklichen. Das wissen natürlich auch Weizsäcker, Beck und Pflüger. Was sie kritisieren, ist eine Umkehrung der postulierten Verhältnisse: Macht werde nicht als Mittel zur Verwirklichung eines politischen Programms erstrebt, sondern sei zum Selbstzweck geworden. Die Parteien, so sagt Weizsäcker, vergäßen ihre „dienende Funktion gegenüber den Problemen“ und instrumentalisierten umgekehrt die Probleme, „um die Ziele einer Partei gegen eine andere besser erreichen zu können.“1 Sehr neu ist diese Erkenntnis allerdings nicht. Der große Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter hatte schon vor über sechzig Jahren in sei1  Richard von Weizsäcker im Gespräch mit Gunter Hofmann und Werner A. Perger, 1992, S. 155.

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nem Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ die These aufgestellt, Politiker strebten nicht unbedingt nach Gemeinwohl, sondern folgten im Zweifel ihren eigenen Interessen.2 Das Werk von Schumpeter ist von bleibender Aktualität, wie etwa Ernst-Wolfgang Böckenförde in der Neuauflage des Handbuchs des Staatsrechts bestätigt.3 „Das erste und höchste Ziel jeder politischen Partei“ und ihrer Exponenten sei es, schreibt Schumpeter, „über die anderen den Sieg davon zu tragen, um zur Macht zu gelangen oder an der Macht zu bleiben“.4 Wie die politischen Probleme behandelt und die anstehenden Fragen entschieden würden, also die Politikinhalte, seien „vom Standpunkt des Politikers aus nicht das Ziel, sondern das Material der politischen Tätigkeit“.5 Ganz vorrangig sei der Kampf um Macht und Amt.6 Auch der Soziologe Niklas Luhmann, der großen Einfluss auf die politische Theorie in Deutschland ausübte, geht ganz entschieden davon aus, Politiker ließen sich – trotz aller vordergründigen Berufung auf Werte7 – nicht vom Gemeinwohl leiten, sondern von dem Bestreben, Macht zu erlangen und zu behalten. Macht sei der „Code“, der die Politik beherrsche und aus dem sich ihre Aktivitäten ergäben. Das Gemeinwohl als normativer Leitstern allen staatlichen Handelns sei eine Chimäre.8 Genau wie Weizsäcker konstatiert er eine „Ziel / Mittel-Verschiebung“. Obwohl „die Versorgung mit Posten und Einkünften“ nur Mittel zur Ausübung der Macht sein sollte, entwickelten sich die Parteien „mehr und mehr … in Richtung auf Karriereorganisationen.“ „Die Versorgung mit Posten und Einkünften und der Aufbau personaler Kontaktnetze und Herrschaftsapparate“ erscheine zunehmend als „primäres Ziel parteipolitische Aktivität.“9 Aber selbst, wenn man davon ausgeht, Politiker würden primär ihre eigenen Interessen verfolgen, braucht dies nicht unbedingt zum Schaden des Ganzen auszuschlagen. Dazu bedarf es aber ordnender Regeln, die egoistisches Verhalten in Richtung auf das Gemeinwohl lenken. Die Richtung hat bereits Immanuel Kant mit seinem kategorischen Imperativ formuliert: 2  Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 2. Aufl., 1950, S. 427 ff. (Erscheinungsjahr der englischen Originalausgabe 1943). 3  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl., 2005, S. 31 (S. 51, Rdnr. 52). 4  Schumpeter, a. a. O., S. 443. 5  Schumpeter, ebenda. 6  Schumpeter, a. a. O., S. 449 f. 7  Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, S. 359 ff. 8  Niklas Luhmann, Kann die Verwaltung wirtschaftlich handeln?, Verwaltungsarchiv 1960, S. 97 (112 f.); ders., Die Politik der Gesellschaft, 2000, S. 120 ff. 9  Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, 2000, S. 267.



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„Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jeder Zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ In die Umgangssprache übersetzt, heißt das „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“ Das ist der moralische Appell, der aber natürlich nicht ausreicht. Sonst wäre der Ehrliche leicht der Dumme. Die Regeln müssen auch konkret ausformuliert und ihre Einhaltung muss durchgesetzt werden. In der Wirtschaft ist das anerkannt. Die Markwirtschaft braucht einen Ordnungsrahmen. Das wurde durch das Desaster, das die ungeregelte internationaler Finanzwirtschaft gerade angerichtet hat, erst wieder in drastischer Weise bestätigt. Alle Welt spricht plötzlich von den „Leitplanken“, die den riesigen und großenteils völlig undurchsichtigen Kapitalmassen, die rund um den Globus treiben, gezogen werden müssen. Wie sind die Chancen, dass die nötigen Regeln auch wirklich zustande kommen und ihre Einhaltung durchgesetzt wird? Klassiker wie John Locke waren da optimistisch: Der Mensch sei zu dumm, zu kurzsichtig und zu egoistisch, sagt Locke, um ohne feste Regeln auszukommen. Aber er sei klug und weitsichtig genug, um sie sich zu geben. Der Witz von Regeln, die integratives Handeln einfordern, ist, dass sie die individuelle und die kollektive Vernunft zusammenführen: Halten alle die Regeln ein, stehen alle letztlich besser da. Das Problem ist bloß, dass einige, die sie nicht einhalten, sich noch besser stellen. Dies allerdings auf Kosten aller anderer, die die Regeln beherzigen. Solches Trittbrettfahren gilt es zu unterbinden. Deshalb ist es – im Interesse der Glaubwürdigkeit der Politik – so wichtig, die Einhaltung der Regeln auch wirklich durchzusetzen. Der Begriff Integrität darf sich also nicht nur auf individuelles Verhalten beziehen, sondern muss auch auf Regelwerke erstreckt werden. Denn sie ermöglichen es erst, dass man sich integer verhält, ohne gleich als der Dumme dazustehen. Es gibt neben der persönlichen Integrität also auch eine Integrität der Regeln, der Institutionen, der Systeme, deren Kern darin besteht, dass sie gemeinschaftswidriges Verhalten bestrafen und gemeinschaftsförderliches Verhalten belohnen – und nicht etwa umgekehrt. Die Erkenntnis, dass wir solche Regel auch in der Politik benötigen, und in der Politik erst recht, hatten schon die Klassiker hervorgehoben. In der Politik ist die Möglichkeit des Machtmissbrauchs und die Versuchung dazu ja besonders groß. Deshalb suchen die geistigen Väter rechtsstaatlich-demokratischer Verfassungen Staatsfunktionäre durch eine Reihe von Vorkehrungen unter Kontrolle zu bringen: durch Gewaltenteilung, durch Bindung der Politik an die Verfassung, durch politischen Wettbewerb und durch Wahlen, die Parteien und Politiker dem Bürger gegenüber verantwortlich machen.

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III. Die deutsche Realität Doch in der Bundesrepublik sind die Regeln nicht von Philosophen gemacht, sondern von Berufspolitikern, also gerade von denen, die die Regeln eigentlich zähmen sollen. Berufspolitiker sitzen mitten im Staat an den Hebeln der Macht und können dort ihre Interessen in Gesetze, öffentliche Haushalte und selbst in die Verfassung einfließen lassen. Sie entscheiden fraktionsübergreifend in eigener Sache. Das zeigt sich bei Diäten, Parteienfinanzierung und dem Wahlrecht in klinischer Reinheit, gilt aber auch bei vielen anderen Themen, wo es weniger offensichtlich ist. Dadurch wurden die Mechanismen, die die Eigeninteressen der Politiker eigentlich unter Kontrolle halten sollen, im Laufe der Zeit geschwächt, und der Erlass notwendiger Schranken wurde versäumt. Das auszuführen, fehlt hier die Zeit. Ich spreche deshalb nur einige Beispiele an, die unmittelbar mit unserem Thema „Integrität“ zu tun haben. So gibt es noch immer keinen effektiven Straftatbestand gegen Abgeordnetenbestechung, obwohl internationale Konventionen, die eigentlich für Bananenrepubliken gedacht waren, dies zwingend vorschreiben. Während ein Beamter, der nur ein paar Flaschen Wein entgegennimmt, den Staatsanwalt fürchten muss, kann man einem Abgeordneten einen ganzen Sack voll Geld anbieten. Das einzige Risiko, das man dabei eingeht, besteht darin, dass der Abgeordnete einen rausschmeißt. Nimmt er das Geld aber an, bleiben beide straflos. Genauso fehlen wirksame Vorschriften gegen die sog. Pantouflage. Minister und Beamte wechseln häufig wie durch eine Drehtür in die Chefetage von Großunternehmen und lassen sich das Wohlwollen, das sie diesen Unternehmen vorher als Amtsträger erwiesen haben, ungeniert vergolden. Ein spektakuläres Beispiel bot Gerhard Schröder. Er hatte als Bundeskanzler eine Vereinbarung über eine russisch-deutsche Pipeline eingefädelt und wurde nach seinem Ausscheiden Vorsitzender des Aufsichtsrats der für Bau und Betrieb der Pipeline zuständigen Gazprom-Gesellschaft mit einem offiziellen Jahressalär von 250.000 Euro. Ein anderer Fall betrifft Caio Koch-Weser. Er hatte als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium weitreichende und vom Bundesrechnungshof scharf kritisierte Entscheidungen zugunsten der Deutschen Bank getroffen, bevor er in die Dienste eben dieser Bank überwechselte. Auch für Parlamentarier besteht keinerlei rechtliche Schranke. Ihnen gestattet das deutsche „Recht“ sogar sich während ihrer aktiven Zeit als bezahlte Lobbyisten zu verdingen und so ihre Unabhängigkeit zu verkaufen. Solches Dienen zweier Herren hat in Deutschland Tradition, seitdem Helmut Kohl auch dann noch als „Referent“ beim Verband der Chemischen Industrie in Ludwigshafen geführt wurde (1959–1969), als er längst Vorsitzender der CDU-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz (1963–1969) und Vorsitzender des CDU-Landesverbandes (seit 1966) geworden war.



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Ein anderer Fall von regelmäßig ungesühnter Integritätsverletzung ist Ämterpatronage bei der Besetzung von Beamtenstellen. Sie ist zwar laut Grundgesetz und Beamtengesetzen eigentlich untersagt, in vielen Bereichen aber an der Tagesordnung. An der Durchsetzung fehlt es auch sonst. Die Kostenpauschale von Bundestagsabgeordneten von monatlich fast 4000 Euro und die hohe Steuerbegünstigung von Parteispenden verstoßen sogar gegen die Verfassung, bestehen aber dennoch seit vielen Jahren fort, weil keiner berechtigt ist, dagegen zu klagen – außer den Begünstigten selbst, die das natürlich bleiben lassen. Gerade hat der Bundesfinanzhof wieder entschieden, dass einfache Steuerzahler nicht gegen die verfassungswidrige Pauschale gerichtlich vorgehen können. Es scheint auch zur gängigen Praxis zu gehören, Großspenden – entgegen dem Parteiengesetz – zu verheimlichen. Sogar Helmut Kohl hatte zwischen 1992 und 1995, als er noch Bundeskanzler war, zwei Millionen Mark Spenden erhalten, ohne anzugeben, woher das Geld stammt. Das war besonders gravierend, da anonyme Spenden doppelt gefährlich sind für die Demokratie, weil dann – anders als bei öffentlicher Deklarierung von Spende und Spender – eine eventuelle Bevorteilung des Geldgebers durch die Regierung nicht mehr unter öffentlicher Beobachtung steht. Später kam auch noch heraus, dass Kohl und einige der Minister seiner früheren Regierung nach 1998, als sie nur noch Abgeordnete waren, vom Medienunternehmer Kirch bis zu 600.000 Mark pro Jahr und pro Mann als angebliches Beratungshonorar erhalten hatten. Viele vermuten, dass es sich in Wahrheit um ein Dankeschön für die Kirch-freundliche Medienpolitik der Kohl-Regierung handelte. In solchen Situationen, in denen die Regeln nicht ausreichen oder mangels Durchsetzung nur auf dem Papier stehen, sind wir nun wieder auf den Appell an die Politiker angewiesen, sei es als Individuen, sei es als Gesetzgeber – und auf die Öffentlichkeit, die Druck auf Erlass der nötigen Regeln ausüben kann. Dann wird es besonders wichtig, sich klarzumachen, was Integrität denn eigentlich verlangt. IV. Integrität: Ein unscharfer Begriff Hier können wir, als ein mögliches Muster, einen Katalog heranziehen, den die 1994 vom britischen Premierminister John Major eingesetzte „Committee on Standards in Public Life“ unter dem Vorsitz von Lord Nolan aufgestellt hat. Sie definierte sieben Prinzipien der Integrität, die für die Mitglieder des Parlaments, die Minister und alle im Staatsdienst Beschäftigten gelten sollen. Sie lauten:

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1. Uneigennützigkeit (selflessness): Handeln allein im öffentlichen Interesse; 2. Persönliche Integrität (integrity): Kein Eingehen von Verpflichtungen, die die Ausübung des öffentlichen Amtes beeinträchtigen könnten, z. B. Beratervertrag mit interessierten Unternehmen; 3. Objektivität (objectivity): Auswahl bei Ernennungen, Ehrungen, Aufträgen, Subventionen usw. allein nach Verdienst; 4. Verantwortlichkeit (accountability): Verantwortlichkeit der Amtsträger für ihre Entscheidungen und Handlungen vor der Öffentlichkeit, Unterwerfung unter Überprüfungsverfahren; 5. Transparenz (openness): Offenlegung aller Entscheidungen und ihrer Gründe: Zurückhaltung von Information nur, wenn wichtigere öffentliche Interessen entgegenstehen; 6. Aufrichtigkeit (honesty): Pflicht, sich zu erklären, wenn private Interessen mit den Amtspflichten kollidieren können, und Maßnahmen zu ergreifen, damit Konflikte so gelöst werden, dass das öffentliche Interesse gewahrt bleibt; 7. Führung (leadership): Förderung und Stützung der genannten Prinzipien durch Führungsmaßnahmen und vorbildliches Verhalten. Der Katalog zeigt: Was „Integrität“ – wie auch die Bergriffe „Gemeinwohl“, „gutes Handeln“, „Gerechtigkeit“ etc. – bedeutet, ist positiv nur als generalklauselartig-vage Prinzipien zu umschreiben. Im Negativen, also bei Integritäts-Verletzungen, kann man konkreter werden. Schon Aristoteles definierte Gerechtigkeit als Abwesenheit von Ungerechtigkeit, und Wilhelm Busch hat dies scherzhaft so formuliert: „Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man lässt.“ Ex negativo ist deshalb eine klarere Abschichtung möglich, weil es sich dabei regelmäßig um grobe Verstöße handelt. Zwischen integrem und nicht-integrem Verhalten liegt nämlich ein Graubereich von vielleicht nicht gerade optimalem Verhalten, das aber noch keine eindeutige Verletzung darstellt. Ein Katalog von Integritätsverletzungen, die sich meist auch in konkrete Wenn / dann-Verbotstatbestände kleiden lassen, wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts „Integrity of Governance“ an der Universität Amsterdam aufgestellt: 1. Bestechung und Bestechlichkeit (z. B. §§ 331 ff. StGB) 2. Vetternwirtschaft, Cliquenwirtschaft und Patronage 3. Diebstahl und Betrug (z. B. §§ 242, 363 StGB) 4. Konflikt privater und öffentlicher Interessen, z. B. Ausschluss bestimmter Amtsträger von der Mitgliedschaft in bestimmten Organisationen (Inkom-



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patibilitiät) oder Verbot der Mitwirkung von Amtsträgern an bestimmten Entscheidungen wegen persönlicher Befangenheit, z. B. §§ 20 f. VwVfG und die entsprechenden Bestimmungen des Kommunalrechts. 5. Unangemessener Gebrauch der Amtsstellung (auch für legitime Ziele), z. B. Folter 6. Missbrauch und Manipulation von Informationen, z. B. lügen, betrügen, manipulieren von Informationen, Bruch der Vertraulichkeit 7. Diskriminierung und sexuelle Übergriffe 8. Verschwendung und Missbrauch von Ressourcen 9. Fehlverhalten im privaten Bereich, welches das öffentliche Vertrauen beeinträchtigt. Von großer Bedeutung für unser Thema erscheint mir auch ein Begriffspaar, das schon der große Soziologe Max Weber herausgearbeitet hat: die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Gesinnungsethik stellt auf die ethische Sauberkeit der verwendeten Mittel ab. Der Verantwortungsethik geht es dagegen um den Erfolg, um dessentwillen notfalls auch unethische Wege in Kauf genommen werden. Als Beispiel mag der Mord an einem verbrecherischen Tyrannen dienen wie z. B. Adolf Hitler. Während der Gesinnungsethiker sich an die geltenden Verbote hält („Du darfst nicht töten“, „Du musst Deinen Eid auf den sogenannten Führer einhalten“), blickt der Verantwortungsethiker auf den Erfolg: die Befreiung des Volkes und die Verhinderung weiterer riesiger Verbrechen. Die Verantwortungsethik gilt als typisch für das Agieren im Krieg. Hier hat man meist keine Skrupel, alle möglichen Mittel anzuwenden, um den Gegner zu besiegen. Verantwortungsethik gilt aber auch als typisch für das Handeln von Politikern. In beiden Fällen geht es um Kampf und Erfolg. Zur Sicherung des allgemeinen Wohls können eben nicht selten problematische Mittel gerechtfertigt erscheinen. Und beim Kampf um die Macht sind oft alle Mittel recht. Max Weber hat das Begriffspaar nicht zufällig in einer Rede entwickelt, die den bezeichnenden Titel „Politik als Beruf“ trägt. Der schon erwähnte Ausspruch Richard von Weizsäckers, Parteipolitiker seien Fachleute darin, wie man politische Gegner bekämpft, ist sicher nicht ganz falsch. Hierher gehört auch die Frage, ob der Politiker das Volk belügen darf. Immanuel Kant ging davon aus, alles, was recht ist, könne und solle auch öffentlich gemacht werden. Gibt es aber nicht auch Dinge, die man Volk und Öffentlichkeit besser vorenthält? Klassischen Ausdruck hat das Problem in einer Preisfrage gefunden, die die Preußische Akademie der Wissenschaften im Jahre 1777 auf Anweisung Friedrichs des Großen stellte. Sie lautete: „Ist es dem Volk nützlich, betrogen zu werden, sei es, dass man es in neue Irrtü-

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mer führt oder in denen, die es unterhält, bestätigt?“ Darauf gingen 42 Bewerberschriften ein, was bereits belegt, dass sich die Frage, jedenfalls nicht „auf die schnelle“, beantworten lässt. Sicher aber ist, wenn man Verantwortungsethik grundsätzlich akzeptiert, eröffnet man Politikern auch die Möglichkeit zu Manipulationen, und man leistet einer Haltung Vorschub, die Kritik unterdrückt, damit „der guten Sache“ kein Schaden zugefügt werde. So wehrte sich Konrad Adenauer gegen die öffentliche Kritik eigener zweifelhafter Methoden etwa bei der Parteienfinanzierung immer wieder und durchaus mit Erfolg mit dem Argument, solche Kritik würde im damaligen Kalten Krieg dem kommunistischen Gegner in die Hände spielen. So verbitten sich Berufseuropäer, zu denen auch die Europa-Wissenschaftler und die Brüsseler Journalisten gehören, oft Kritik selbst an offensichtlichen Missständen in der EU, weil solche Kritik der europäischen Idee schade. Macht man erst einmal den Erfolg zum Maßstab, dann ist es oft auch kein großer Schritt mehr, das Wohl der eigenen Behörde, des eigenen Unternehmens oder, was für unser Thema besonders relevant ist: das Wohl der eigenen politischen Partei, mit dem Wohl des ganzen Landes zu verwechseln. Hier stellt sich dann etwa die Frage, ob die interne Gruppenmoral, der Schutz des Ansehens einer Behörde oder eines Unternehmens, welches z. B. durch Bekanntwerden eines Skandals beeinträchtigt werden könnte, mehr wert ist als die Einhaltung allgemeiner Gesetze und Normen. Ist es, um einen konkreten Fall zu nennen, etwa in Ordnung, wenn Paul van Buitenen, der schwerste Mängel in der Europäischen Kommission, nachdem er damit intern nicht durchkam, öffentlich machte, dafür disziplinarisch belangt und auf halbes Gehalt gesetzt wurde? Wenn das Wohl der eigenen politischen Partei verabsolutiert wird, droht der rechte Maßstab erst recht verloren zu gehen. Rechtswidrige Parteibuchwirtschaft, gesetzeswidrige Manipulationen bei der Finanzierung der eigenen Parteien, Fraktionen und Parteistiftungen erscheinen dann plötzlich in einem milden Licht, ja solches Handeln scheint das parteiinterne Fortkommen oft geradezu zu beflügeln, weil der Betreffende im Interesse der Partei sogar den Rechtsbruch riskiert. Was in der Sicht der Allgemeinheit eine Missetat ist, wird parteiintern bisweilen zur Heldentat oder doch zum Opfer für die gemeinsame Sache verklärt. Das schafft dann leicht den Boden für eine parteiinterne Sondermoral, auf deren Schlüsselrolle ich noch zurückkommen werde. Besonders die Schatzmeister der Parteien kommen in Versuchung. Der frühere hessische Wirtschaftsminister und FDP-Bundesschatzmeister Heinz Herbert Karry hat das in aller Offenheit ausgesprochen: „Als Schatzmeister kommt man unweigerlich auf den Weg der Kriminalität, wenn man das tut,



Integrität und Politik

23

was die Partei von einem erwartet“. Und vom früheren SPD-Schatzmeister Friedrich Halstenberg wird das Wortspiel kolportiert: „Wenn rauskommt, wie was reinkommt, komme ich wo rein, wo ich nicht mehr rauskomme.“ Halstenberg hatte allein im Jahr 1980 über sechs Millionen Mark von Spendern eingenommen, denen er Verschwiegenheit zugesagt hatte. Walther Leisler Kiep, langjähriger Schatzmeister der Bundes-CDU, der immer den Ehrenmann gegeben hatte, war tief in illegale Praktiken verstrickt, und der Schatzmeister der hessischen CDU, Casimir Johannes Prinz zu Sayn-Wittgenstein erst recht. Kiep hatte von dem Lobbyisten Karlheinz Schreiber in der Schweiz eine Million Mark in bar entgegengenommen, und Sayn-Wittgenstein hatte die Millionen unbekannter Herkunft für die hessische CDU nach Liechtenstein verschoben und ihre Rückführung für Wahlkämpfe in Hessen als Vermächtnisse jüdischer Sympathisanten deklariert. Wenn die Machenschaften dann auffliegen, müssen die Schatzmeister oft auch noch behaupten, ihre Vorstandskollegen, vor allem die Parteivorsitzenden, hätten von nichts gewusst. Kohl erklärte vor einem Untersuchungsausschuss sogar, er habe nicht einmal die Funktion der berüchtigten Staatsbürgerlichen Vereinigung als Spendenwaschanlage gekannt, und an dem amtierenden hessischen Ministerpräsident Roland Koch ist natürlich auch alles völlig vorbeigegangen, obwohl der Wahlkampf, der ihn 1999 zum hessischen Ministerpräsidenten machte, aus dem illegalen Liechtensteiner Schatz finanziert worden war. Die Verantwortung musste der frühere Generalsekretär der CDU Franz Josef Jung, übernehmen und als Chef der hessischen Staatskanzlei zurücktreten. Jung wurde später mit dem Amt des Bundesverteidigungsministers belohnt, dessen Besetzung sich Koch vorbehalten hatte. Bei Manfred Kanther, dem früheren Vorsitzenden der hessischen CDU, war ein solches Abschieben der Verantwortung allerdings nicht möglich, ohne dass sein Nachfolger Koch dann vielleicht doch mit hineingezogen worden wäre und die von Koch angekündigte „brutalst mögliche Aufklärung“ auf ihn zurückgefallen wäre. Kanther kam – auf Grund eines Deals mit der Staatsanwaltschaft – dennoch mit einer Geldstrafe davon, obwohl gerade er, der öffentlich immer entschieden für Recht und Gesetz eingetreten war, was als Bundes­ innenminister auch zu seinen amtlichen Pflichten gehörte, krass gegen das Parteiengesetz verstoßen hatte. V. Parteien und Integrität Die Sondermoral innerhalb von Parteien, von der schon die Rede war, scheint mir von so zentraler Bedeutung, dass sie noch einige abschließende Bemerkung verdient. Die Sondermoral kann sich nämlich durch drei Faktoren erst so richtig entfalten und immer weiter ausbreiten. Der eine Faktor besteht darin, dass die Parteien, die ja im Parlament über ihren Status selbst

24

Hans Herbert von Arnim

entscheiden, sich vieles erlauben, was Amtsträgern untersagt ist. Da Politiker nun regelmäßig beides sind, Amtsträger und Parteifunktionäre, können sie sich jeweils den Hut aufsetzen, der ihnen gerade zu Pass kommt. Regierungsmitglieder dürfen zum Beispiel kein Geld annehmen, Parteien aber sehr wohl, und zwar in Deutschland in unbegrenzter Höhe. Zur Entgegennahme setzt der Politiker sich deshalb kurzerhand den Hut des Parteifunktionärs auf, und schon scheint jegliche Zuwendung „ganz legal“, auch wenn der Geldgeber auf diese Weise – ich formulierte mal ganz vorsichtig – bevorzugt den Zutritt zum Amtsträger erlangt. Die parteiinterne Sondermoral kann sich, zweitens, auch dadurch ausbreiten, dass die Parteien sich nicht auf diese oder jene Gebietskörperschaft, auf eine Stadt, ein Bundesland, den Bund oder die Europäische Union begrenzen lassen, sondern übergreifend alle einbeziehen. Die Gunst, die man einem Parteifreund erweist, kann einem irgendwann ein ganz anderer, den man gar nicht kennt, entgelten. Durch das gemeinsame Netzwerk vergrößert sich die Chance, an Macht, an Posten und Einfluss, an Aufträge und Ansehen zu gelangen, erheblich. Und zugleich sind korruptive Machenschaften dann nur noch sehr viel schwerer zu erkennen. Einem einzelnen Akt, etwa Ämterpatronage oder privilegierter Auftragsvergabe, die z. B. der Ehefrau des Amtsträgers zugute käme, wäre das Korruptive auf die Stirn geschrieben. Diese Offensichtlichkeit der Vetternwirtschaft fehlt beim hintergründigen Netzwerk. In Wahrheit verspricht die Zugehörigkeit zum Netzwerk aber doch irgendwann fast allen eine Belohnung. Da die gegenseitige Austauschbeziehung aber nur mittelbar und zeitlich versetzt erfolgt, ermöglicht sie nicht nur die Zusammenarbeit von Tausenden von anderen Netzwerkern und erhöht damit die Schlagkraft gewaltig, sondern erleichtert auch das Verbergen und erschwert die Aufdeckung. Der dritte Faktor ist der Umstand, dass die politischen Netzwerke über staatliche Mittel und Ämter verfügen. Das festigt den inneren Zusammenhalt. Schließlich könne man, so meint Niklas Luhmann, Wohlwollen und zugleich Macht kaum besser beweisen „als durch Eröffnung eines Zugangs zum Geld“ und zu lukrativen Posten.10 Da die Netzwerke Einfluss darauf besitzen, wie das Füllhorn staatlicher Posten und Positionen vergeben wird, ermöglichen sie Karrieren. Das bedeute andererseits: „Wer etwas erreichen will, muss mitmachen. Wer sich ausschließt oder ausgeschlossen wird, kann nur eine Privat­ existenz führen.“ Man erinnere sich an die Abschiedsworte von Kurt Beck und Friedbert Pflüger. Die Netzwerke lebten, wie Luhmann schreibt, von dem offiziellen System, dessen Möglichkeiten sie „parasitär“ ausnützten.11 10  Luhmann, 11  Luhmann,

Kausalität im Süden, 1995, S. 25. Soziologische Aufklärung 6, 1985, S. 255.



Integrität und Politik

25

Doch dadurch werde das offizielle System bei der Entfaltung seiner Eigenrationalität beeinträchtigt, was zur Immobilität der Politik beitrage.12 Da die Bürger eine Orientierung der Politik an Werten verlangten, die Politik aber nun einmal nach dem Code der Macht ticke, müsse sie sich öffentlich verleugnen. So entstehe, wie Luhmann schreibt, ein „ständiger Widerspruch zwischen ‚talk‘ und ‚action‘ “.13 Die Folge sei eine Art von politischem „Doppelleben“14: Öffentlich – etwa im Wege „symbolischer“ Akte – müsse die Politik so tun, als ob sie sich nach den Werten der Bürger richte, dies aber nur, um die im Inneren herrschende Machtpolitik nach außen abzuschirmen. Für den Wissenschaftler ist es nicht ohne Risiko, dieses hintergründige Doppelspiel aufzuzeigen, es sei denn, er verpackt es, in eine soziologische Spezialterminologie, das kaum einer so richtig versteht. Wehe aber, er spricht die Dinge klar und verständlich aus. Dann läuft er Gefahr, dass der Bote für die Botschaft geschlagen wird. Wer die Hintergründe ausmalt, legt sich zwangsläufig mit den Mächtigen im Staat an, die diese Hintergründe ja gerade zu verhüllen suchen. Deshalb scheint es mir auch kein Zufall, dass es im deutschsprachigen Raum zwar ein halbes Dutzend Lehrstühle für Wirtschafts­ ethik gibt, aber keinen für Ethik in der Politik.

12  Luhmann,

Soziologische Aufklärung 6, S. 257. a. a. O., 271. 14  Czerwick, a. a. O., 64. 13  Luhmann,

Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland bei Nichteinführung der Mindestlöhne: Fluch oder Segen? Von Friedrich Schneider I. Einleitung Obwohl in vielen Ländern die Arbeitslosigkeit bis 2008 zurückging, existieren außerhalb der offiziellen Wirtschaft gleichzeitig in beträchtlichem Maße Beschäftigungsmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund werden das Ausmaß und die zeitliche Entwicklung der Schattenwirtschaft heutzutage in Deutschland intensiv und kontrovers diskutiert. Darüber hinaus wird über Möglichkeiten nachgedacht, wie man die schattenwirtschaftlichen Aktivitäten in die offizielle Wirtschaft überführen kann. Der vorliegende Beitrag informiert über die Entwicklung der Schattenwirtschaft in Deutschland und in weiteren 20 OECD-Ländern seit 1990 und zeigt Berechnungen bis zum Jahr 2008, sowie die Wirkungen diverser wirtschaftspolitischer Maßnahmen. Die Schätzungen des Umfangs der Schattenwirtschaft basieren auf einer Kombination des Bargeldansatzes mit dem MIMIC-Verfahren. Der Bargeldansatz fußt auf der Idee, dass die in der Schattenwirtschaft erbrachten Leistungen bar entlohnt werden, und dass es mit Hilfe einer Bargeldnachfragefunktion gelingt, diese bar entlohnten Leistungen zu schätzen und das Volumen an Schattenwirtschaft zu berechnen. Der MIMIC-Ansatz geht von der Annahme aus, dass die Schattenwirtschaft eine nicht direkt beobachtbare Größe ist, die näherungsweise aufgrund von quantitativ erfassbaren Ursachen (z. B. Steuerbelastung, Regulierungsdichte), im Schatten zu arbeiten, und Indikatoren (Bargeld, offizielle Arbeitszeit, etc.), in denen sich Schattenwirtschaftsaktivitäten widerspiegeln, berechnet werden kann.1

1  Diese Methoden (sowie andere) wird in folgenden Büchern ausführlich dargestellt und einer kritischen Würdigung unterzogen: Friedrich Schneider (2004), Arbeit im Schatten: Eine Wachstumsmaschine für Deutschland?, Wiesbaden: Gabler Verlag; Friedrich Schneider und Dominik Enste (2002), The Shadow Economy: An Interna­ tional Survey, Cambridge (UK): Cambridge University Press.

28

Friedrich Schneider

II. Zeitliche Entwicklung der Schattenwirtschaft Tabelle 1 und die Abbildungen 1 und 2 geben die zeitliche Entwicklung der mit diesen Verfahren geschätzten Größe der Schattenwirtschaft für die drei deutschsprachigen Länder über die Periode 1975 bis 2008 wieder. Tabelle 1 Die Größe der Schattenwirtschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz über den Zeitraum 1975 bis 2008 – berechnet mit Hilfe des Bargeldansatzes und des MIMIC-Verfahrens1 Jahr

Größe der Schattenwirtschaft (in % des „offiziellen“ BIP)

1975

Deutschland in % Mrd. €   5,75

29,6



Österreich in % Mrd. €   2,04

0,9

Schweiz in % Mrd. SFr. 3,20

12

1980

10,80

80,2

  2,69

2,0

4,90

14

1985

11,20

102,3

  3,92

3,9

4,60

17

1990

12,20

147,9

  5,47

7,2

6,20

22

1995

13,90

241,12

  7,32

12,4

6,89

25

1996

14,50

257,62

  8,32

14,6

7,51

27

1997

15,00

274,72

  8,93

16,0

8,04

29

1998

14,80

280,72

  9,09

16,9

7,98

30

1999

15,51

301,82

  9,56

18,2

8,34

32

2000

16,03

322,32

10,07

19,8

8,87

35

2001

16,02

329,82

10,52

21,1

9,28

37,5

2002

16,59

350,42

10,69

21,8

9,48

38,7

2003

17,10

370,02

10,86

22,5

9,52

39,4

2004

16,12

356,12

11,00

23,0

9,43

39,5

2005

15,41

346,22

10,27

22,0

9,05

38,7

2006

15,00

345,52

  9,51

21,20

8,48

37,0

2007

14,74

349,02

  9,06

20,80

8,23

36,8

14,22

346,82

  8,07

19,92

7,96

35,4

2008

1 Erläuterungen: Die Größe der Schattenwirtschaft ist zwischen den drei Ländern nur bedingt vergleichbar,

da die Bargeldnachfragefunktionen (MIMIC-Schätzgleichungen) unterschiedlich spezifiziert werden und nicht die gleiche Anzahl von Ursachen, die für die Schwarzarbeit verantwortlich sind, enthalten. 2 An dem Jahr 1995 Werte für Gesamtdeutschland. Quelle: Eigene Berechnungen (2008).

0,00

2,00

4,00

6,00

8,00

10,00

12,00

14,00

16,00

18,00

1975

5,75 2,04 3,20

1980

10,80 2,69 4,90

12,20

1990

13,90

1995

14,50

1996

14,80

1998

Deutschland

15,00

1997

15,51

1999 Österreich

16,03

2000

16,02

2001

17,10

2003

Schweiz

16,59

2002

16,12

2004

15,41

2005

Abbildung 1: Größe der Schattenwirtschaft in % des off. BIP in Ö, D und CH (1975–2008)

1985

11,20 3,92 4,60 5,47 6,20 7,32 6,89 8,32 7,51 8,93 8,04 9,09 7,98 9,56 8,34 10,07 8,87 10,52 9,28 10,69 9,48 10,86 9,52 11,00 9,43 10,27 9,05

2006

15,00 9,51 8,48

2007

14,74 9,06 8,23

2008

14,22 8,07 7,96



Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland 

29

–6,00

–4,00

–2,00

0,00

2,00

4,00

6,00

8,00

10,00

12,00

6,64

9,59

1997

2,18

5,62

6,67

7,52

7,69

1999

8,79

9,38

6,79

2000

6,57

7,14

2,33

Deutschland

2001

3,21

5,59

2003

1,81

Österreich

3,20

3,32

6,25

2002

0,25 –3,76

2,22

–4,35

–4,00

2005

–2,78

Schweiz

2004

–4,00

–3,64

–0,20

2006

–4,00

2007

–1,89

1,01

3,45

Abbildung 2: Jährliche prozentuelle Änderung (+ = Zuwachs, – = Abnahme) der Schattenwirtschaft für D, Ö und CH 1997–2008

1998

–4,23

–4,00

2008

30 Friedrich Schneider

–0,63

7,41



Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland 

31

1. Entwicklung der Schattenwirtschaft in Deutschland von 1975 bis 2006 Betrachtet man zunächst die Entwicklung der Schattenwirtschaft für Deutschland, so war diese nach starken Anstiegen bis Anfang dieses Jahrzehnts seit dem Jahr 2003 von 370 Mrd. € bis 2006 auf 345,5 Mrd. € rück­ läufig. Maßgeblich für das Sinken der Schattenwirtschaft in den Jahren 2004 bis 2006 war insbesondere die zum 1. April 2003 eingeführte erweiterte MiniJob-Regelung, die das Volumen der Schattenwirtschaft nach Schätzungen in den Jahren 2004 und 2005 um insgesamt etwa 9 Mrd. € sinken ließ. Ein weiterer Anstieg der Zahl der Mini-Jobs, die bereits in 2005 gegenüber dem Vorjahr nicht mehr gewachsen war, fand im Jahr 2006 nicht statt, im Gegenteil: der Anstieg des Versicherungsbeitrages von 25 % auf 30 % zur Jahresmitte führte zu einem Rückgang um etwa 134.000 Mini-Jobs. Inwieweit die beschlossenen Maßnahmen zur besseren Koordinierung und effizienteren Bekämpfung der Schattenwirtschaft sowie das seit August 2004 in Kraft getretene strengere und neue Gesetz zur Bekämpfung der Schattenwirtschaft zu einer Dämpfung dieser beigetragen haben, ist sehr schwer zu erfassen. Bei den durchgeführten Simulationen zeigt sich, dass durch dieses Gesetz die Schattenwirtschaft in Deutschland bis 2006 um etwa 1,0 Mrd.  € gesunken sein dürfte. Insgesamt kann aber bezweifelt werden, dass allein mit strengeren Maßnahmen die Schattenwirtschaft nennenswert eingedämmt werden kann, da der Kontrollaufwand hier doch sehr hoch ist und bei vielen haushaltsnahen Dienstleistungen, die heute schwarz erbracht werden, der Bürger kein Unrechtsbewusstsein hat und diese als Kavaliersdelikte betrachtet. Auf das für das Jahr 2006 berechnete Niveau der Schattenwirtschaft wirkten sich einige der von der großen Koalition beschlossenen Maßnahmen aus. Da sich diese jedoch teilweise gegenseitig kompensierten, konnte im Saldo kein deutlicher Effekt auf die Schattenwirtschaft beobachtet werden. Die Simulationen gelangten zu folgenden Ergebnissen: (1) Die Abschaffung der Eigenheimzulage seit 1.1.2006 führte dazu, dass die Schattenwirtschaft im Jahr 2006 um etwa 0,2 bis 0,3 Mrd. € zunahm, da ein Teil der Haushalte nach Wegen suchte, um mit Hilfe der Schattenwirtschaft die nun nicht mehr zur Verfügung stehende Subvention „hereinzuwirtschaften“. Da die Abschaffung sich jedoch nur auf Neuanträge bezog und bereits bestehende Förderungen weiterliefen, werden die Effekte der Abschaffung der Eigenheimzulage erst im Jahr 2007 und in den kommenden Jahren deutlicher spürbar werden; zumal viele Haushalte noch rechtzeitig in 2005 einen Neuvertrag abgeschlossen hatten.

32

Friedrich Schneider

(2) Die in 2006 ermöglichte steuerliche Absetzbarkeit von Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen sowie von Kinderbetreuungs- und Pflegekosten wurde genutzt und reduzierte die Schattenwirtschaft unter sonst gleichen Bedingungen um 0,95 Mrd. € bis 1,90 Mrd. €. (3) Inwieweit die seit 1.7.2006 erfolgte Anhebung der Versicherungsbeiträge von 25 auf 30 % bei den Mini-Jobs wieder zu einer verstärkten Abwanderung in die Schattenwirtschaft führen wird, ist schwer abzuschätzen. Erste Berechnungen ergeben für das Jahr 2006 einen Wert von 0,4 Mrd.  € bis 0,7 Mrd. €. Zusammengefasst trugen diese Maßnahmen somit im Jahr 2006 zu einem leichten Rückgang der Schattenwirtschaft um 0,35 bis 0,9 Mrd.  € bei. Wie sich die bereits erfolgte Zusammenlegung der Ich-AG mit dem Überbrückungsgeld auf die Schattenwirtschaft auswirkt, konnte bislang nicht abgeschätzt werden. Auch weitere Maßnahmen, wie z. B. das Heraufsetzen der Buchführungsgrenze bei Neugründungen von 350.000 € auf 500.000 € oder die Erhöhung der Ist-Umsatzbesteuerung ab dem 1.1.2006 von 125.000 € auf 250.000 €, konnten bislang in ihrer Wirkung nicht abgeschätzt werden. Darüber hinaus wurde die Schattenwirtschaftsbekämpfung zwischen dem Bund und den Ländern besser koordiniert; auch diesen Effekt konnte noch nicht abgeschätzt werden. 2. Das Ausmaß der Schattenwirtschaft in Deutschland für 2007 Für das Jahr 2007 wurde erstmals seit drei Jahren wieder ein Anstieg der Schattenwirtschaft gegenüber dem Vorjahr um 3,5 Mrd.  € oder 1 % auf 349  Mrd.  € berechnet. Da gleichzeitig die offizielle Wirtschaft jedoch mit nominal knapp 3 % stärker gewachsen ist als die Schattenwirtschaft, verbesserte sich die Relation aus Schattenwirtschaft und offizieller Wirtschaft auch im Jahr 2007 weiter. Während der Wert der Schattenwirtschaft im Jahr 2003 in Relation zum offiziellen BIP noch 17,1 % und in 2006 noch 15,0 % ausmachte, lag dieser Wert im Jahr 2007 mit knapp 14,7 % sogar erstmals wieder unter dem Wert des Jahres 1998. In 2007 beeinflussten die Mehrwertsteuererhöhung, die Erhöhung der privaten Einkommensteuer für Personen mit besonders hohem Einkommen, die Anhebung der Versicherungsbeiträge bei den gewerblichen Mini-Jobs von 25 auf 30 %, die Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge und der Rentenbeitragssätze um 0,5 bzw. 0,4 Prozentpunkte sowie die Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 % auf 4,2 % das Ausmaß der Schattenwirtschaft nachhaltig. Im Einzelnen wurden die für das Jahr 2007 erwarteten Effekte dieser Maßnahmen auf die Schattenwirtschaft wie folgt berechnet:



Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland 

33

Tabelle A1 Auswirkungen der geplanten wirtschaftspolitischen Maßnahmen der großen Koalition (Stand Dezember 2007) für 2007 auf die Schattenwirtschaft Maßnahmen im Jahr 2007

Zuwachs / Minderung der Schattenwirtschaft

(1) Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf 19 % (ab 1.1. 2007)

+ 2.500 bis + 5.000 Mio. €

(2) Anhebung der Versicherungsbeiträge bei den gewerblichen Mini-Jobs von 25 auf 30 % seit 1.7.2006

+ 1.000 bis + 2.400 Mio. €

(3) „Reichensteuer“ Erhöhung des Steuersatzes um 3 Prozentpunkte bei privaten Einnahmen ab 250.000 € (ledig) / 500.000 € (verheiratet) Jahreseinkommen

+ 600 bis + 900 Mio. €

(4) Abschaffung Eigenheimzulage (seit 1.1. 2006)

+ 500 bis + 800 Mio. €

(5) Erhöhung des Rentenbeitragssatzes von 19,5 auf 19,9 %

+ 400 bis + 700 Mio. €

(6) Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge um 0,5 Prozentpunkte

+ 400 bis + 700 Mio. €

(7) Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung von 6,5 auf 4,2 %

– 2.300 bis – 4.000 Mio. €

(8) Steuerliche Absetzbarkeit von privaten HH Aufwendungen für Erhaltungs- und Moderni­ sierungsmaßnahmen, Kinderbetreuung

– 1.500 bis – 3.000 Mio. €

Netto-Effekt für 2007

+ 1.600 bis + 3.500 Mio. €

Quelle: Eigene Berechnungen.

(1) Die Mehrwertsteuererhöhung von 16 % auf 19 % führte (unter sonst gleichen Bedingungen) zu einem Anstieg der Schattenwirtschaft in 2007 um 2,5 bis 5,0 Mrd. €. (2) Die Erhöhung der privaten Einkommensteuer für besonders hohe Einkommen („Reichensteuer“) mit einem Satz von 45 % (Erhöhung um 3  Prozentpunkte) ab einem Jahreseinkommen von Verheirateten von 500.000 € (250.000 € von Ledigen) verursachte einen Anstieg der Schattenwirtschaft um 0,6 Mrd. bis 0,9 Mrd. €.

34

Friedrich Schneider

(3) Die zum 1.7.2006 erfolgte Anhebung der Versicherungsbeiträge bei den gewerblichen Mini-Jobs von 25 auf 30 % führte zu einer Zunahme der Schattenwirtschaft um 1 Mrd. bis 2,4 Mrd. €. (4) Die Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge um 0,5 Prozentpunkte ab 1.1.2007 erhöhte die Schattenwirtschaft um 0,4 bis 0,7 Mrd. €. (5) Die Erhöhung der Rentenbeitragssätze um 0,4 Prozentpunkte führt ebenfalls zu einer Zunahme der Schattenwirtschaft um 0,4 bis 0,7 Mrd. €. (6) Die Verringerung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge von 6,5 % auf 4,2 % reduzierte die Schattenwirtschaft um 2,3 bis 4 Mrd. €. (7) Die Abschaffung der Eigenheimzulage seit 2006 erhöhte in 2007 das Volumen der Schattenwirtschaft um geschätzte 0,5 bis 0,8 Mrd. €. (8) Die verbesserte steuerliche Absetzbarkeit von Aufwendungen privater Haushalte für Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen sowie Kinderbetreuung reduzierte das Volumen der Schattenwirtschaft in 2007 um rund 1,5 Mrd. € bis 3 Mrd. €. Während die Koalitionsbeschlüsse im Jahr 2006 einen moderaten Rückgang der Schattenwirtschaft bewirkten, stieg im Jahr 2007 aufgrund der durchgeführten Maßnahmen für das Jahr 2007 die Schattenwirtschaft um 1,6 bis 3,5 Mrd. €, d. h. der auch absolut rückläufige Trend in der deutschen Schattenwirtschaft war mit diesem Jahr beendet. 3. Berechnung für Deutschland für 2008 Für das Jahr 2008 wurde wiederum wie in den Jahren 2004 / 05 und 2006 ein Rückgang der Schattenwirtschaft gegenüber dem Vorjahr zwischen 0,74 und 1,72 Mrd. € berechnet, unter der Annahme, dass es zur Einführung flächendeckender Mindestlöhne zwischen 7 und 8 € / Stunde kommen würde. Würden keine flächendeckende Mindestlöhne kommen, würde die Schattenwirtschaft im Jahr 2008 zwischen 5,74 und 9,72 Mrd. € sinken. Welche weiteren wirtschaftspolitischen Maßnahmen beeinflussten nun die Größe der Schattenwirtschaft in Deutschland in 2008? Die wichtigsten Maßnahmen sind in Tabelle 2 aufgeführt. Hierbei gab es zwei Maßnahmen, die die Schattenwirtschaft erhöhen und drei Maßnahmen, die die Schattenwirtschaft senken. Die Maßnahme, die die Schattenwirtschaft am meisten erhöhen würde, ist die flächendeckende Einführung der Mindestlöhne. Dies würde die Schattenwirtschaft zwischen 4 und 7 Mrd. € erhöhen. Die Erhöhung des Beitragssatzes zur Pflegeversicherung um 0,2 Prozentpunkte von 1,7 auf 1,9 % erhöhte die Schattenwirtschaft um 160 bis 280 Mio.  €. Hingegen wirkte sich die Senkung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung von 4,2 auf 3,3 % negativ auf die Schattenwirtschaft aus; d. h. sie sank zwischen 900 Mio. und



Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland 

35

Tabelle 2 Die Auswirkungen der guten Konjunktur und der wirtschaftspolitischen Maßnahmen der großen Koalition (Stand Mai 2008) für 2008 auf die Schattenwirtschaft Maßnahmen im Jahr 2007 / 2008 (1) Einführung flächendeckender Mindestlöhne zwischen 7 und 8 € / Stunde

Zuwachs (+) / Minderung (–) der Schattenwirtschaft + 4000 bis + 7000 Mio. €

(2) Erhöhung des Beitragswertes zur Pflegeversicherung um 0,2 Prozentpunkte (von 1,7 auf 1,9 %)

+ 160 bis + 280 Mio. €

(3) Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung von 4,2 % auf 3,3 %

– 900 bis – 1500 Mio. €

(4) Steuerliche Absetzbarkeit von privaten HH Aufwendungen für Erhaltungs- und Moderni­ sierungsmaßnahmen, Kinderbetreuung

– 2000 bis – 4000 Mio. €

(5) Gute Konjunktur; Rückgang der Arbeitslosigkeit

– 2000 bis – 3500 Mio. €

Netto-Effekt für 2008 (Berücksichtigung aller Maßnahmen)

– 1740 bis – 2720Mio. €

Netto-Effekt ohne der Einführung flächendeckender Mindestlöhne

– 5740 bis – 9720 Mio. €

Quelle: Eigene Berechnungen.

1,5  Mrd.  €. Ebenso wirkte sich die Ausweitung der steuerlichen Absetzbarkeit von privaten Haushaltsaufwendungen für Erhaltungs- und Modernisierungsmaßnahmen sowie Kinderbetreuung negativ auf die Schattenwirtschaft mit einer Reduktion ­zwischen 2,0 und 4,0 Mrd. € aus. Darüber hinaus hatte die gute Konjunktur und der beträchtliche Rückgang der Arbeitslosigkeit dafür gesorgt, dass die Schattenwirtschaft zwischen 2 und 3,5 Mrd. € sank. Dies ergab einen Nettoeffekt bei Berücksichtigung aller Maßnahmen von einem Rückgang der Schattenwirtschaft von 0,74 bis 1,72 Mrd.  €, oder wenn man die Mindest­löhne nicht flächendeckend einführen würde, ein wesentlich deutlicherer Rückgang von 5,74 bis 9,720 Mrd. €. Ingesamt gesehen war in Deutschland damit wieder eine Verringerung der Schattenwirtschaft im Jahr 2008 festzustellen.

36

Friedrich Schneider

4. Schattenwirtschaft in Österreich und in der Schweiz In Österreich hatte sich die Schattenwirtschaft von 22,5 Mrd.  € im Jahr 2003 auf 23,0 Mrd.  € im Jahr 2004 erhöht, was einer Steigerung von 2,2 % entsprach. Ein wesentlicher Grund für das Anwachsen der Schattenwirtschaft im Jahr 2004 bestand dabei in der anhaltend hohen Belastung durch Steuern und Sozialabgaben im Zuge der einnahmeseitigen Budgetsanierung in Österreich in den letzten Jahren. Im Jahr 2005 erreichte die Schattenwirtschaft in Österreich lediglich ein Volumen von 22,0 Mrd. € – d. h. sie war zum ersten Mal rückläufig und sank um etwa 1 Mrd.  €. Der prozentuale Rückgang gegenüber dem Vorjahr betrug 4,35 %. Die zentrale Ursache für diesen Rückgang lag in der zu Beginn des Jahres 2005 in Kraft getretenen Steuersenkung. Für 2006 zeigten die Berechnungen für Österreich wiederum einen leichten Rückgang der Schattenwirtschaft auf 21,2 Mrd. € an. In 2007 ging die Schattenwirtschaft in Österreich anders als in Deutschland weiterhin geringfügig um 0,9 % auf 21,2 Mrd. € zurück. Für 2008 wurde wegen der guten Konjunktur ein weiter Rückgang auf 19,92 Mrd. € oder 8,07 % des BIP erwartet. In der Schweiz konnte wie in Österreich erstmals von 2004 auf 2005 ein Rückgang der Schattenwirtschaft beobachtet werden: von 39,5 Mrd. SFR im Jahr 2004 sank das Volumen der Schattenwirtschaft in 2005 auf 38,7 Mrd. SFR oder gut 9 % des Bruttoinlandsprodukts und weiter auf geschätzte 37  Mrd.  € oder 8,5 % des Bruttoinlandsprodukts in 2006. Gründe für den Rückgang waren unter anderem strengere gesetzliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Schattenwirtschaft und eine teilweise attraktivere Handhabung von haushaltsnahen Dienstleistungen in der offiziellen Wirtschaft. Im Jahr 2007 war das Niveau der Schattenwirtschaft mit – 0,5 % nochmals leicht rückläufig. Für 2008 wurde wegen der guten Konjunktur und einem Maßnahmenpaket gegen die Schwarzarbeit der Schweizer Regierung ein weiterer Rückgang von 1,4 Mrd. CHF auf 35,4 Mrd. CHF oder 7,96 % (in % des BIP) erwartet. 5. Ausmaß der Schattenwirtschaft im internationalen Vergleich Um einen internationalen Vergleich der Größe der Schattenwirtschaft mit anderen OECD-Länder anzustellen, sind in Tabelle 3 sowie in Abbildung 3 (und in Abbildung 4 die Veränderungen gegenüber 1997 / 98) die Schattenwirtschaft von 21 OECD-Länder bis zum Jahr 2008 aufgeführt. Die Tabelle 3 und Abbildung 4 zeigen eindeutig, dass die Schattenwirtschaft seit dem Ende der 1990er Jahre in den meisten OECD-Ländern rückläufig ist: So betrug der ungewichtete Durchschnitt der Schattenwirtschaft in den 21 OECD-Ländern im Jahr 1999 / 2000 16,8 % und wird sich auf 13,3 %

22,8

8,8

12.  Japan

9,0

  7.  Frankreich

11.  Italien

13,4

  6.  Finnland

11,0

11,8

  5.  Deutschland

10.  Irland

10,8

  4.  Dänemark

9,6

12,8

  3.  Canada

  9.  Großbritannien

19,3

  2.  Belgien

22,6

10,1

  1.  Australien

  8.  Griechenland

Durchschnitt 1989 / 90

OECD-Länder

10,6

26,0

15,4

12,5

28,6

14,5

18,2

13,5

17,8

14,8

21,5

13,5

Durchschnitt 1994 / 95

11,1

27,3

16,2

13,0

29,0

14,9

18,9

14,9

18,3

16,2

22,5

14,0

Durchschnitt 1997 / 98

11,2

27,1

15,9

12,7

28,7

15,2

18,1

16,0

18,0

16,0

22,2

14,3

Durchschnitt 1999 / 00

11,1

27,0

15,7

12,5

28,5

15,0

18,0

16,3

17,9

15,8

22,0

14,1

Durchschnitt 2001 / 02

11,0

26,1

15,4

12,2

28,2

14,7

17,6

17,1

17,4

15,3

21,4

13,7

2003

10,7

25,2

15,2

12,3

28,1

14,3

17,2

16,1

17,1

15,1

20,7

13,2

2004

10,3

24,4

14,8

12,0

27,6

13,8

16,6

15,4

16,5

14,3

20,1

12,6

2005

9,0

22,3

12,7

10,6

25,1

11,8

14,5

14,7

14,8

12,6

18,3

11,7

2007

8,8

21,4

12,2

10,1

24,3

11,1

13,8

14,2

13,9

12,0

17,5

10,6

2008

Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland  (Fortsetzung nächste Seite)

9,4

23,2

13,4

11,1

26,2

12,4

15,3

15,0

15,4

13,2

19,2

11,4

2006

Tabelle 3 Die Größe der Schattenwirtschaft in 21 OECD-Ländern von 1989 / 90 bis 2008 Die Größe der Schattenwirtschaft (in % des offiziellen BIP) unter Verwendung des Bargeldnachfrageansatzes und des MIMIC-Verfahrens 37

9,2

14,8

6,9

15,9

15,8

6,7

16,1

14.  Neuseeland

15.  Norwegen

16.  Österreich

17.  Portugal

18.  Schweden

19.  Schweiz

20.  Spanien

12,7

16,2

8,8

22,4

7,8

19,5

22,1

8,6

18,2

11,3

13,7

Durchschnitt 1994 / 95

16,8

8,9

23,1

8,1

19,9

23,1

9,0

19,6

11,9

13,5

Durchschnitt 1997 / 98

16,8

8,7

22,7

8,6

19,2

22,7

9,8

19,1

12,8

13,1

Durchschnitt 1999 / 00

16,7

8,7

22,5

9,4

19,1

22,5

10,6

19,0

12,6

13,0

Durchschnitt 2001 / 02

16,5

8,5

22,2

9,5

18,6

22,2

10,8

18,6

12,3

12,7

2003

16,1

8,4

21,9

9,4

18,1

21,7

11,0

18,2

12,2

12,5

2004

Quelle: Eigene Berechnungen, 2008 (Prof. Dr. Friedrich Schneider, University of Linz, Altenbergerstraße 69, A-4040 Linz / Auhof).

Ungew. Durchschnitt über 21 OECD Länder

6,7

11,9

13.  Niederlande

21.  USA

Durchschnitt 1989 / 90

OECD-Länder

(Fortsetzung Tabelle 3)

15,6

8,2

21,3

9,0

17,5

21,2

10,3

17,6

11,7

12,0

2005

14,5

7,5

20,2

8,5

16,2

20,1

9,7

16,1

10,4

10,9

2006

13,9

7,2

19,3

8,2

15,6

19,2

9,4

15,4

9,8

10,1

2007

13,3

7,0

18,7

7,9

14,9

18,7

8,1

14,7

9,4

9,6

2008

38 Friedrich Schneider

0,0

5,0

10,0

15,0

20,0

25,0

30,0

SA

7,0

U

13,3

24,3 21,4 18,7

18,7

17,5 14,9

14,7

14,2

13,9

13,8

12,2

12,0

11,1

10,6

10,1

9,6

9,4

8,8

8,1

7,9

Abbildung 3: Die Größe der Schattenwirtschaft (in % vom BIP) in 21 OECD-Ländern unter Verwendung der Bargeldnachfrage und des MIMIC-Verfahrens – 2008

l z e n n h n d n n d d d k itt an en da land en ch ei ie ie ic ga ie nd an an mar an ege an lie ei Jap hn na ed elgi r al re tu pan la el nn ta nl hl nl I r c a r hw terr k r e I t w w e a c e s n c o e s K h B it S ts P S us or än an Fi ch ch eu Sc Ös ied ßbr D A N eu Fr ur N rie N D o D G r G

Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland  39

–7,0

–6,0

–5,0

–4,0

–3,0

–2,0

–1,0

SA

U

–2,3

–2,5 –2,9 –3,4 –3,8

–3,9

–4,0

–4,2

–4,4

–4,4

–4,4

–4,7

–4,9

–5,0

–5,0

rr

Abbildung 4: Zunahme (+) bzw. Abnahme (–) der Schattenwirtschaft (in % des offiziellen BIP) der 21 OECD-Länder über 1997 / 98 zu 2008

–1,9

–5,1

–5,9

ste

–0,9

Ö

–0,7

itt nd hn la z c h i s tsc hwe rch u eu D Sc D –0,2

ch ei

-3,5

0,0

n ie d de an nn and h n n k l n a c r e e l i d l i it a n en n rla re ed weg al ga an da m ee n br ie d ie ch n w de nl nk ustr r us na lan ne lg rtu pan ie lie oß e h a n pa i o e a r r ä e a c o r i N N N Ir A K F G S P D F It S G Ja B

en

40 Friedrich Schneider



Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland 

41

im Jahr 2008 reduzieren; d. h. ein Rückgang von immerhin 3,5 Prozentpunkten! Wenn man das Jahr 1997 / 98 als das Jahr, in dem in den meisten OECDLändern die Schattenwirtschaft den höchsten Wert aufwies, heranzieht, dann ist die Schattenwirtschaft in 18 OECD-Ländern kontinuierlich gesunken. Nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz hielt der Anstieg der Schattenwirtschaft etwas länger an und war erst seit den Jahren 2003 bzw. 2004 rück­ läufig. Der Rückgang der Schattenwirtschaft gemessen als Anteil am BIP war von 1997 / 98 bis 2006 in Italien mit 5,9 Prozentpunkten, in Finnland mit 5,1, sowie in Belgien und Schweden mit je 5,0 Prozentpunkten am BIP am stärksten. Deutschland liegt mit seiner Größe der Schattenwirtschaft im OECD-Mittelfeld, während sich Österreich und Schweiz im unteren Drittel befinden. Die südeuropäischen Länder haben ein Ausmaß der Schattenwirtschaft zwischen 20 und 25 % des offiziellen Bruttoinlandsprodukts und sind nach wie vor Spitzenreiter. Danach folgen die skandinavischen Länder mit einer Schattenwirtschaft zwischen 15 und 16 %. Nach den aktuellen Berechnungen geht die Relation der Schattenwirtschaft zum Bruttoinlandsprodukt in Deutschland von 2007 auf 2008 von 14,7 % auf 14,2 % um 0,5 Prozentpunkte zurück. Damit fällt der relative Rückgang geringer aus als im OECD-Durchschnitt mit 0,6 Prozentpunkten von 13,9 % auf 13,3 %. III. Aufteilung der Schattenwirtschaft in Sektoren Für Österreich und Deutschland wurde in Tabelle 4 eine Aufteilung der Schattenwirtschaft in Wirtschafts- und Dienstleistungssektoren vorgenommen. Hierbei sieht man, dass im Jahr 2007 gemäß der Berechnungen auf das Baugewerbe und das Handwerk etwa 38 % des Schattenwirtschaftsvolumens entfallen (39 % für Österreich), gefolgt von den Bereichen „Andere Gewerbe und Industriebetriebe“ und Dienstleistungsbetriebe (Hotels, Gaststätten, etc.) mit je 17 % (16 %). In sonstigen Gewerbetrieben und haushaltsnahen Dienstleistungen (wie z. B. Nachhilfe, Friseur oder Babysitten) werden 15 % (17 %) des Schattenwirtschaftsvolumens, in der Unterhaltungs- und Vergnügungsbranche weitere 13 % erwirtschaftet. In Tabelle 5 werden die Schätzergebnisse für den größten Bereich des Baugewerbes und des Handwerks weiter disaggregiert. Hierbei erkennt man, dass in Deutschland im Bauhauptgewerbe rund 46,1 Mrd.  € an Schattenwirtschaftsvolumen anfallen. Für das Baunebengewerbe beträgt der Wert 34,3 Mrd. €. Die Handwerksbetriebe im Baubereich erwirtschaften „schwarz“ 23,7 Mrd.  € und bei sonstige Reparaturen (Fernseher, Haushaltsgeräte, etc.) werden 27,7 Mrd. € „schwarz“ erwirtschaftet.

42

Friedrich Schneider

Tabelle 4 Aufteilung der Schattenwirtschaft in Wirtschafts- und Dienstleistungssektoren in Österreich und Deutschland Sektor

Aufteilung der Schattenwirtschaft in Österreich Jahr 2008 in %

Mrd. €

Aufteilung der Schattenwirtschaft in Deutschland Jahr 2008 in %

Mrd. €

Baugewerbe und Handwerksbetrieb (inkl. Reparaturen)

39 %

7,8

38 %

131,8

Andere Gewerbe- und Industriebetriebe (Kfz, Maschinen etc.)

16 %

3,2

17 %

58,9

Dienstleistungsbetriebe (Hotels, Gaststätten etc.)

16 %

3,2

17 %

58,9

Unterhaltungs- und Vergnügungsbranche

12 %

2,4

13 %

45,1

Sonstige Gewerbebetriebe und haushaltsnahe Dienst­ leistungen (Nachhilfe, Friseur, Babysitten)

17 %

3,3

15 %

52,0

100 %

19,9

100 %

346,8

Gesamte Schattenwirtschaft Quelle: Eigenen Berechnungen (2008).

IV. Berechnung der „im Schatten arbeitenden“ Beschäftigten Tabelle 6 gibt die Ergebnisse einer Abschätzung der Entwicklung der Vollzeit-Inlands-Schwarzarbeiter und der illegalen ausländischen Beschäftigten (nur für Schattenwirtschaftstätigkeit) in Deutschland, Österreich und der Schweiz für den Zeitraum 1995–2008 wieder.2 2  Die inländischen Vollzeitschwarzarbeiter sind eine fiktive Größe, die aus den Stunden, die in der Schattenwirtschaft gearbeitet wurden, berechnet wurde. Die illegal ausländischen Beschäftigten stellen eine erste Abschätzung der illegal (nur für ­Schattenwirtschaftsaktivitäten) beschäftigten Ausländer dar. Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass zwei Drittel der Wertschöpfung in der Schattenwirtschaft von Deutschen, Österreichern oder Schweizern oder in diesen Länder legal lebenden Ausländern erwirtschaftet werden, so dass die Berechnung der Entwicklung der Vollzeit-



Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland 

43

Tabelle 5 Aufteilung der Schattenwirtschaft im Baugewerbe und in Handwerksbetrieben Sektor

Aufteilung der Schattenwirtschaft im Baugewerbe und in Handwerksbetrieben in Österreich Jahr 2008 in %

Mrd. €

Aufteilung der Schattenwirtschaft im Bau­gewerbe und in ­Handwerksbetrieben in Deutschland Jahr 2008 in %

Mrd. €

Bauhauptgewerbe

41 %

3,2

35 %

46,1

Baunebengewerbe

30 %

2,4

26 %

34,3

Handwerksbetriebe im Baubereich

16 %

1,2

18 %

23,7

Sonstige Reparaturen (Fernseher, elektr. Geräte, Haushaltsgeräte)

13 %

1,0

21 %

27,7

100 %

7,8

100 %

131,8

Summe Baugewerbe und Handwerksbetriebe (inkl. Reparaturen) Quelle: Eigene Berechnungen (2008).

In Deutschland betrug die fiktive Zahl der Vollzeit-Inlands-Schwarzarbeiter oder Ganztagsschwarzarbeiter im Jahr 1995 7,3 Mio. Personen und erhöhte sich bis zum Jahr 2008 auf 8,15 Mio. Personen. Aber auch die illegal ausländisch Beschäftigten sind für Deutschland eine nicht zu vernachlässigende Größe: Betrug sie im Jahr 1995 878.000 Personen, erhöhte sich dieser Wert bis zum Jahr 2008 auf 955.000 Personen. Ebenso ist der Anstieg der VollzeitInlands-Schwarzarbeiter oder Ganztagsschwarzarbeiter in Österreich beträchtlich: Betrug er 1995 575.000 Personen, so erhöhte sich dieser Wert bis zum Jahr 2008 auf 679.000 Personen. Die Anzahl der illegalen Beschäftigten betrug 1995 75.000 Personen und erhöhte sich bis zum Jahr 2007 auf 93.000 Personen.3 Inlands-Schwarzarbeitern nur dazu dient, zu zeigen, wie groß das Volumen an Schwarzarbeit gemessen in Vollzeit-Beschäftigte ist. 3  Die illegal Beschäftigten sind hier nur die, die meistens „nur“ Schwarzarbeits­ tätigkeiten nachgehen und nicht z. B. klassisch kriminelle Aktivitäten ausüben.

44

Friedrich Schneider Tabelle 6 Entwicklung der „Vollzeit-Inlands-Schwarzarbeiter“ und der illegalen ausländischen Beschäftigten in Deutschland, Österreich und der Schweiz über den Zeitraum 1995 bis 20081

Jahr

Entwicklung der „Vollzeit-Inlands-Schwarzarbeiter“ und der illegalen ausländischen Beschäftigten in 1.000 Personen Deutschland VollzeitInlandsSchwarzarbeiter

Illegal ausländ. Beschäftigte

Österreich

Schweiz

VollzeitInlandsSchwarzarbeiter

Illegal ausländ. Beschäftigte

VollzeitInlandsSchwarzarbeiter

Illegal ausländ. Beschäftigte

1995

7.320

878

575

  75

391

55

1996

7.636

939

617

  83

426

61

1997

7.899

987

623

  86

456

67

1998

8.240

1.039

634

  89

462

69

1999

8.524

1.074

667

  93

484

74

2000

8.621

1.103

703

  99

517

79

2001

8.909

1.149

734

104

543

84

2002

9.182

1.194

746

109

556

88

2003

9.420

1.225

769

112

565

90

2004

9.023

1.103

789

114

560

89

2005

8.549

1.002

750

104

520

82

2006

8.124

952

716

  98

493

78

2007 2

8.206

961

709

  97

490

77

20082

8.154

955

679

  93

471

74

1 Erläuterungen: Inländische Vollzeitschwarzarbeiter sind eine fiktive Größe, die aus den Stunden, die in der

Schattenwirtschaft gearbeitet werden, berechnet werden. Die illegal ausländischen Beschäftigten stellen ­eine erste Abschätzung der illegal (für Schattenwirtschaftsaktivitäten) beschäftigten Ausländer dar. 2 Prognose bzw. Schätzwert, da die offiziellen Arbeitsmarkt-Statistiken noch nicht vorliegen.

Quelle: Eigene Berechnungen (2008).



Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland 

45

V. Wirtschaftspolitische sowie anreizorientierte Maßnahmen zur weiteren Reduktion der Schattenwirtschaft Wirtschafts- und gesellschaftspolitisch stellt sich die entscheidende Frage, was von Seiten des Staates unternommen werden sollte, damit der rückläufige Trend in der Schattenwirtschaft von 2003 bis 2006 und der von 2008 unterstützt werden kann. Entscheidend ist hierbei, ob es gelingen kann, die vielen Millionen Arbeitsstunden oder die Millionen Teilzeit-Jobs in der Schattenwirtschaft in offizielle zu überführen. Nur wenn die wirtschaftspolitische Herausforderung bewältigt wird, dass durch den Rückgang der Schattenwirtschaft mehr offizielle Vollerwerbsarbeitsplätze entstehen und damit die Arbeitslosigkeit zurückgeht, wirkt sich das Sinken der Schattenwirtschaft für eine Volkswirtschaft als „Segen“ aus. Entstehen zum Beispiel lediglich mehr Mini- oder Midi-Jobs, bedeutet dies zwar einen Teilerfolg, der sich aber als „Fluch“ für die Sozialkassen auswirken kann. Ob und in welchem Maße die Überführung schattenwirtschaftlicher Tätigkeiten in die offizielle Wirtschaft auf gesetzlichem Wege (d. h. mit strengeren Strafen – wie in Deutschland seit August 2004 verwirklicht) gelingt, ist sehr fraglich, da zwei Drittel der Wertschöpfung der Schattenwirtschaft von selbständig und unselbständig beschäftigen Deutschen und Österreichern erwirtschaftet wird, d. h. sie ist ein Massenphänomen zwischen Konstanz und Flensburg und zwischen dem Bodensee und dem Neusiedlersee. Darüber hinaus haben weder die Deutschen noch die Österreicher ein Unrechtsbewusstsein, wenn sie schwarz arbeiten (oder lassen), da mehr als zwei Drittel der Befragten (Umfrage September 2006 in Österreich) Schwarzarbeit als Kavaliersdelikt betrachten. In Tabelle 7 sind die Effekte von vier verschiedenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf die Schattenwirtschaft in Deutschland aufgeführt. Es sind dies: •• Eine Einführung der steuerlichen Absetzbarkeit von haushaltsnahen Dienstleistungen auf 1000 oder 2000 € pro Haushalt pro Jahr, •• Eine flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen zwischen 7 bis 8, 6–7 und 5–6 € pro Stunde, •• Die Erhöhung des Mini-Job-Monatsverdienstes von 400 auf 500 oder auf 600 € pro Monat, und •• Eine zeitlich befristete Mehrwertsteuerbefreiung auf arbeitsintensive Dienstleistungen für ein oder zwei Jahr(e). Alle vier Maßnahmen haben einen beträchtlichen Effekt auf die Schattenwirtschaft, wobei es natürlich bei den Maßnahmen 2, 3 und 4 auch zu Steuerausfällen kommen kann. Wie groß diese sind, ist sehr schwer abzuschätzen,

46

Friedrich Schneider Tabelle 7 Der Effekt verschiedener wirtschaftspolitischer Maßnahmen auf die Schattenwirtschaft in Deutschland (Stand Mai 2008)

Wirtschaftspolitische Maßnahmen

Effekt auf die Schattenwirtschaft (Stand Mai 2008)

(1) Flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen • mit 7–8 € / h • mit 6–7 € / h • mit 5–6 € / h

+ 4,0 bis + 7,0 Mrd. € + 3,0 bis + 6,0 Mrd. € + 1,5 bis + 3,0 Mrd. €

(2) Steuerliche Absetzbarkeit von haushaltsnahen Aufwendungen pro HH pro Jahr • 500 € • 1000 € • 2000 €

– 2,0 bis – 4,0 Mrd. € – 3,0 bis – 5,0 Mrd. € – 4,5 bis – 7,0 Mrd. €

(3) Erhöhung der Mini-Job Monatsverdienst • von 400 auf 500 € • von 400 auf 600 €

– 1,5 bis – 2,5 Mrd. € – 3,0 bis – 5,0 Mrd. €

(4) Mehrwertsteuerbefreiung arbeits­ intensiver Dienstleistungen • für ein Jahr • für zwei Jahre

– 3,0 bis – 4,5 Mrd. € – 4,5 bis – 6,0 Mrd. €

Quelle: Eigene Berechnungen.

aber wenn tatsächlich die in Tabelle 7 angegebenen Effekte auf die Schattenwirtschaft, d. h. Reduktionen eintreten, und diese Leistungen somit in der offiziellen Wirtschaft erbracht werden, durften sich diese in Grenzen halten. Somit wäre es wünschenswert die Maßnahmen 2, 3 oder 4 (oder alle drei) umzusetzen, denn die Reduktion der Schattenwirtschaft bei diesen würde in Summe zwischen 6,5 und 18 Mrd. € betragen. Die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen würde eindeutig zu einer Erhöhung der Schattenwirtschaft führen, je nach dem welche Höhe des Mindestlohns pro Stunde verwirklicht wird, schwankt die Zunahme der Schattenwirtschaft zwischen 1,5 und 7 Mrd. €.



Starker Rückgang der Schattenwirtschaft in Deutschland 

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VI. Fluch oder Segen? Abschließend soll noch auf die Frage eingegangen werden, ob eine rückläufige Schattenwirtschaft für Deutschland sowie für die anderen OECDLänder eher ein Fluch oder ein Segen ist. Wenn man davon ausgeht, dass zwei Drittel der Schattenwirtschaftsaktivitäten komplementär sind, d. h. diese Güter und Dienstleistungen in der offiziellen Wirtschaft ohne Schattenwirtschaft nicht erstellt würden, dann kann eine steigende Schattenwirtschaft insgesamt (als Summe des offiziellen und des schattenwirtschaftlichen BIP) zu einer höheren Wertschöpfung führen. Ebenso wirkt ein Rückgang der Schattenwirtschaft nur dann wohlfahrtssteigernd, wenn zumindest ein Teil dieser Schattenwirtschaftsleistungen dann in der offiziellen Wirtschaft erbracht werden. Werden diese „schwarzen“ Dienstleistungen nicht erbracht, dann sinkt die gesamte (d. h. offizielle und „schwarze“) Wertschöpfung. Es ist daher entscheidend, dass wirtschafts- und finanzpolitische Maßnahmen so gesetzt werden, dass ein starker Anreiz entsteht, diese bislang „schwarz“ erbrachten Leistungen in die offizielle Wirtschaft zu überführen, sodass sich das Eindämmen der Schattenwirtschaft dann als „ Segen“ für die gesamte Wirtschaft auswirken kann. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass staatliche Institutionen durch Steuerausfälle aber insbesondere durch Ausfälle bei den Sozialversicherungs- und Krankenkassen am stärksten negativ von einer steigenden Schattenwirtschaft betroffen sind. Es ist daher also auch bei den finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen Sorge zu tragen, dass ein Anreiz entsteht, mehr offizielle Vollerwerbsarbeitsplätze zu schaffen, so dass die Einnahmen bei den Sozialversicherungs- und Krankenversicherungsträgern wieder zunehmen. Nur in diesem Fall wirkt sich ein Rückgang der Schattenwirtschaft auch für die staatlichen Institutionen als Segen aus.

Korrupte Wirtschaft: Wahrnehmungsproblem oder System-Defizite? Von Karl Homann I. Einleitung Die Wirtschaft in Deutschland steckt in einer tiefen Akzeptanzkrise. Wir befinden uns mitten in einer neuen, breitere Bevölkerungskreise erfassenden Systemdiskussion. Politisch rutscht die Republik nach links. Die Vorbehalte der Menschen sind moralischer Natur, und das Fehlverhalten einzelner Führungskräfte wird als Manifestation eines Systems gewertet, das ohnehin als moralisch fragwürdig gilt. Bevorzugte Kategorien, in denen der moralische Unmut artikuliert wird, sind: Egoismus, fehlende Solidarität, Korruption und vor allem Gier. Hochrangige Politiker fast aller Parteien stimmen ein in den Chor der Kritiker der Marktwirtschaft, und auch die ­Bankenkrise wird als Bestätigung dieser lang gehegten Bedenken wahrgenommen. Die entsprechenden Therapievorschläge sind moralische Skandalisierung und strafrechtliche Pönalisierung des Fehlverhaltens der handelnden Personen1. Dieser Tenor des öffentlichen Diskurses zeugt von einer Sicht der Welt, die – so meine These – kategorial verfehlt ist. Stellen wir nur die folgenden Fragen: Wer war bei Siemens „gierig“? Haben sich die Manager nicht vielmehr altruistisch um die Sicherung der Arbeitsplätze und das Wohl des Unternehmens bemüht? Stand nicht genau diese Auffassung hinter der in Deutschland bis 1998 praktizierten staatlichen Subventionierung von Korruptionszahlungen im Ausland? Weiter: Verdanken wir nicht unseren Wohlstand dem unablässigen Gewinnstreben der Unternehmer und Unternehmen? Beruht nicht etwa auch unsere höhere Lebenserwartung auf dem beständigen und unbedingten Streben der Mediziner, besser zu sein als andere? Wollen wir wirklich, dass das Inno1  Vgl. Ingo Pies: Wie bekämpft man Korruption? Lektionen der Wirtschafts- und Unternehmensethik für eine „Ordnungspolitik zweiter Ordnung“, Berlin 2008.

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vationsstreben gebremst2 und sein Motor, der Wettbewerb, gemäßigt werden? Wenn wir das Motiv Vorteilsstreben entsprechend der Tugend der Mäßigung abschwächen (wollen), schwächen wir dann nicht auch Produktivitäts- und Qualitätssteigerungen sowie Innovationen – als Kollateralschäden gewissermaßen? Wer hat in einem tief arbeitsteiligen Unternehmen die Verantwortung für moralisches Fehlverhalten? Vor dem Hintergrund dieser Fragen präzisiere ich meine These: Die Zurechnung der moralischen Übel auf Faktoren, die nur natürlichen Personen zukommen – wie Absichten, Motive, Gewissen und Verantwortung – führt zu falschen Diagnosen – Gier – und entsprechend falschen Therapien – Appelle zur Mäßigung. Der Grund: Systemisch organisierte Prozesse mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und Funktionsimperativen können mit personalen Katego­ rien nicht adäquat erfasst werden. Hier liegt das tiefere Wahrnehmungsproblem, wenn es um die Akzeptanz der Marktwirtschaft geht. Dieses Wahrnehmungsdefizit ist selbst in seriöser Wissenschaft und bei höchsten politischen Entscheidungsträgern festzustellen. Ich werde in den ersten drei Abschnitten die für unser Thema „Integrität“ relevanten Fehl-Wahrnehmungen korrigieren und im vierten Abschnitt skizzieren, was aus der neuen Sicht der Dinge zu tun wäre. Am Schluss werde ich die grundlegende Problematik anhand einer kurzen Geschichte wie in einem Brennspiegel zusammenfassen. II. Ethik der Marktwirtschaft In der Marktwirtschaft bekommen wir ein neues systematisches Problem mit der Moral – ein Problem, das die Vormoderne in dieser Weise nicht kannte und das die philosophische Ethik, die vor dem Hintergrund vormoderner Gesellschaftsstrukturen entstanden ist, bis heute nicht auf dem Radarschirm hat. Ursache dieses Problems mit der Moral in der Marktwirtschaft ist der Wettbewerb. Das Problem besteht darin, dass moralische Vor- und Mehrleistungen Einzelner, die zu nicht kompensierten Kostenerhöhungen führen, von der weniger moralischen Konkurrenz ausgebeutet werden (können), so dass gerade die moralischen Akteure in Wettbewerbsnachteil geraten und auf lange Sicht aus dem Markt ausscheiden müssen. Entscheidend – und neu – ist, dass dieser Wettbewerb kein Betriebsunfall und kein (moralisches) Defizit (der Akteure in) der Marktwirtschaft ist, sondern ihr Programm. 2  Für eine Bremsung der Innovationsdynamik im Investmentbereich plädiert etwa Bernhard Emunds im Interview mit der FAZ Nr. 242 vom 16.10.2008, S. 12.



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K. Marx hatte die Problemstruktur klar erkannt und die moralischen Übel der Zeit nicht auf eine Charakterschwäche der Akteure wie z. B. die Gier zugerechnet – so dumm war er nicht –, sondern auf den Wettbewerb als System­ imperativ der Marktwirtschaft. Er hat daraus den Schluss gezogen, dass man den Wettbewerb unterbinden, abschaffen müsse, weil er es sei, der die Solidarität, die Humanität zerstöre. Er hat den Wettbewerb für das zentrale Systemdefizit gehalten. Da wir den Weg von K. Marx nicht gehen wollen, weil unser Wohlstand i. w. S.  auf dem Wettbewerb beruht, müssen wir den klassischen Weg beschreiten: Alle Wettbewerber müssen den gleichen moralischen Standards unterworfen werden. Das ist der Sinn der politisch gesetzten Rahmenordnung. Wie im Sport wird die Moral, die Fairness, grundlegend durch die Spielregeln und den Schiedsrichter gewährleistet; der so produktive Wettbewerb findet in den Spielzügen statt. Daran ist entscheidend: Der Wettbewerb ist produktiv nur unter geeigneten Regeln. Was die De-Regulierungs-Ideologen übersehen – bis sie in der aktuellen Finanzkrise erbärmlich auf die Nase gefallen sind –, ist, dass der völlig ungeregelte Wettbewerb systematisch ruinös wird, oder um es klassisch zu sagen: zu einem Zustand führt, in dem das Leben der Menschen „solitary, poore, nasty, brutish, and short“ ist3. Da der einzelne Akteur im Wettbewerb permanent in der Unsicherheit lebt, ob er nicht morgen von anderen überholt wird, bleibt ihm nichts anderes übrig, als unablässig und präventiv nach größeren Vorteilen zu streben: Niemand kann sich auf dem Erreichten ausruhen. Der Wettbewerb erzwingt so das Gewinnstreben aller, er ist die Ursache des Strebens nach Shareholder value, nicht die Folge. Wettbewerb und Gewinnstreben sind keine anthro­ pologischen Grundgegebenheiten, keine motivationalen Dispositionen „des Menschen“, die wir durch Moral bändigen müssten, sondern – in der Marktwirtschaft jedenfalls – Systemimperative, die letztlich moralisch, im Nutzen der Allgemeinheit, begründet sind. Der Wettbewerb hat somit einen Januskopf: Er beschert uns den Wohlstand i. w. S. inklusive kultureller Erfahrungen, höherer Lebenserwartung, weltweiter Kommunikation usw.; zugleich aber schränkt er die Möglichkeiten individuellen moralischen Verhaltens drastisch ein. Die klassische Lösung dieses Problems besteht darin, eine Rahmenordnung zu schaffen, die die Moral vor Ausbeutung schützt, indem alle Wettbewerber den gleichen Moralstandards, den gleichen Regeln, unterworfen werden. Man beachte, was wir nicht machen: Wir vermeiden die negativen Folgen des Wettbewerbs nicht dadurch, dass wir unsere Handlungsmotive, vor allem 3  Thomas Hobbes: Leviathan, ed. with an Introduction by C. B. Macpherson, Harmondsworth u. a. 1982, S. 186 (chapt. 13).

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das Motiv Eigennutz, abschwächen und auf eine Art Normalmaß bringen, etwa durch Moral, sondern dadurch, dass wir die Parameter genau angeben, in denen der Eigennutz seine Wirksamkeit entfalten soll, und andere Parameter, über die kein Wettbewerb stattfinden soll, davon abgrenzen: So werden Raub, Diebstahl, Vertragsbruch, Umweltverschmutzung, mangelnder Arbeitsschutz verboten, hier wird der Wettbewerb still gestellt, wogegen er bei Kosteneinsparung, Innovation, Qualitätsverbesserung entfesselt wird. Aufgabe der Politik ist es, dem Wettbewerb die Regeln zu geben, die ihn zu einem echten Leistungswettbewerb machen – zum Wohl der Allgemeinheit. Das bedeutet für die Ethik, dass wir die ethische Beurteilung von Handlungen (1) auf die Einhaltung der Regeln und (2) auf die Ergebnisse stützen müssen und nicht mehr auf die unmittelbar handlungsleitenden Motive. Wer bei der ethischen Beurteilung der Marktwirtschaft auf die Motive, z. B. die Gier, der Akteure abhebt, befindet sich auf einem gefährlichen Blindflug. Er kennt die Funktionsweise der Marktwirtschaft nicht und kann deswegen auch ihre Moral nicht beurteilen. Er leidet unter gravierenden Fehleinschätzungen. Er kann z. B. nicht verstehen, dass so kontraintuitive Sätze wie die folgenden in Marktwirtschaften ethisch richtig sind: •• Wettbewerb ist solidarischer als Teilen. •• Der Wohl-Stand aller hängt nicht vom Wohl-Wollen der Akteure ab. •• In der Marktwirtschaft dienen die Akteure ihren Mitmenschen aus Eigen­ interesse. •• Gewinnstreben der Unternehmen ist sozialer als Umverteilen. Kurz und zusammenfassend: Die Moral ist in der Marktwirtschaft primär auf der Regel- bzw. Ordnungsebene zu suchen und nicht auf der Ebene der individuellen Handlungsmotive. Wer die Integrität in der Wirtschaft fördern will, muss sich zuerst4 um die Rahmenordnung kümmern. III. Ethik von Unternehmen Die Fokussierung des ethischen Diskurses auf die Motive der Akteure führt zu einem Wahrnehmungsdefizit nicht nur in Bezug auf die Ethik der Ordnungsebene, sondern auch in Bezug auf die Ethik der Unternehmen, in Bezug also auf die Organisationsebene. Unternehmen bestehen nicht aus natürlichen Personen, sondern aus Stellen. Unternehmen sind artifizielle Kollektivsubjekte – in gewisser Analogie zur juristischen Persönlichkeit. Sie sind seit dem 18. und besonders seit dem 4  „Zuerst“,

aber keinesweg allein, wie im Folgenden gezeigt wird.



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19. Jahrhundert zu dominanten Spielern in der funktional differenzierten Gesellschaft avanciert. Natürliche Personen definieren sich zunehmend über ihre Zugehörigkeit zu Organisationen und deren Prototyp, den Unternehmen, und gesellschaftliche Wirksamkeit erzielen natürliche Personen immer stärker nur über ihre Mitgliedschaft in Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften, NGOs, Unternehmen, Bürgerinitiativen. Wenn wir versuchen, die moralischen Probleme von Unternehmen in Kategorien der überkommenen Ethik zu analysieren, geraten wir in unlösbare Schwierigkeiten. Die konstitutiven Kategorien dieser Ethik sind: Intentionalität, moralische Motivation, Gewissen und Verantwortung. Diese Kategorien sind nur auf natürliche Personen anwendbar, nicht jedoch auf Organisationen, auf Unternehmen. Auf die Frage, wo das Gewissen von Siemens ist oder sein soll, kann es keine personenbezogene Antwort geben. Wir können allenfalls nach einem Analogon zu dem suchen, was wir bei natürlichen Personen als Gewissen bezeichnen. Wir könnten dann etwa sagen, dass das Analogon des Gewissens vielleicht die Compliance-Abteilung ist, aber die umfasst bei Siemens mehrere Hundert Mitarbeiter. Dann aber müssen wir ganz andere Fragen in ganz anderen Kategorien stellen: Wie muss der Prozess der Wahrnehmung, Bearbeitung und Entscheidung moralischer Fragen organisiert sein? Wie sind die Verantwortlichkeiten zuzuschneiden? Gibt es einen Code of Conduct und eine Hotline? Gibt es ein EthikManagementSystem, wie der Kollege J. Wieland und ich es in der Bayerischen Bauindustrie eingeführt haben5? Wenn wir nicht wahrnehmen, dass Unternehmen artifizielle moralische Subjekte sind, können wir der Tatsache nicht Rechnung tragen, dass Integrität in der Wirtschaft ein Organisationsproblem und kein Problem der individuellen Moral und Motivation ist. Wenn wir das aber begriffen haben, brauchen wir andere Kategorien und einen anderen Fokus: Wir müssen auf die Organisationsstrukturen wie Unternehmensverfassung, Unternehmenskultur und Governance schauen; Governance meint die spezifische Art und Weise, wie ein Unternehmen moralische Probleme arbeitsteilig wahrnimmt, bearbeitet und entscheidet. Um nicht missverstanden zu werden: Damit soll die persönliche moralische Verantwortung besonders der Führungskräfte nicht bestritten werden. Betont werden soll lediglich, dass die beste moralische Gesinnung des Vorstandsvorsitzenden in einem Unternehmen mit zig- oder hunderttausend Beschäftigten ohne eine elaborierte Organisation der Ethik gar nichts ausrichtet. 5  Unterlagen zu beziehen unter: Ethikmanagement der Bauwirtschaft e. V., Ober­ anger 32, 80331 München: Tel. (089)23 40 03 23; Informationen unter www.bauin dustrie-bayern.de / ethik.html.

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Die Organisationsstrukturen tragen die Moral im Unternehmen, nicht die natürlichen Personen; letzteres ist allenfalls noch in Familienunternehmen mit überschaubaren Beschäftigtenzahlen zu erwarten. Anders gesagt: Die persönliche Integrität des Vorstandsvorsitzenden ist nicht nur nicht hinderlich für die Moral des Unternehmens, sondern deren Voraussetzung – aber sie ist nicht die Lösung des Problems, sondern steht lediglich am Anfang eines u. U. langwierigen Prozesses der organisatorischen Umsetzung. IV. Die Desorientierung der Führungskräfte Die Akzeptanzkrise der Wirtschaft wird dadurch verschärft, dass auch die Führungskräfte in Wirtschaft und Politik in falschen Wahrnehmungen befangen sind. Dies gilt besonders für zwei Kontexte. Zum einen greifen die Führungskräfte im Rahmen von CSR zu Aktivitäten, die bei genauerer Betrachtung wie ein moderner Ablasshandel aussehen und von den Kritikern inzwischen auch so eingeschätzt werden. Was soll es beispielsweise zur Integrität beitragen, wenn ein Unternehmen Konzerte oder millionenschwere Fußballprofis sponsert? Hier ist viel Wildwuchs entstanden. Ich will nur darauf hinweisen, dass besondere Aktivitäten in diesem Feld den Eindruck verstärken, die Moral liege primär in der Gewinnverwendung und nicht in der Versorgung der Bevölkerung mit guten, preiswerten, innovativen Produkten und Diensten, also in Aktivitäten, die der Gewinnerzielung dienen. Zum anderen verteidigen die Führungskräfte die Marktwirtschaft oft mit Argumenten, die bei genauer Betrachtung das Wasser eher auf die Mühlen der Kritiker leiten. In der Sprache des Sports: Die Verteidiger fabrizieren Eigentore und zeigen damit, dass sie selbst desorientiert sind. – Ich will dies an zwei Beispielen zeigen. 1.  Bis tief in die Unionsparteien hinein ist die Meinung verbreitet, dass die Marktwirtschaft erst in der deutschen Variante als Soziale Marktwirtschaft moralisch akzeptabel werde. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Marktwirtschaft als solche im Grunde unmoralisch ist. Es bedeutet weiter, dass das Ausmaß der Sittlichkeit vom Ausmaß der sozialen Korrekturen an der Marktwirtschaft abhängt: Dann wird aus sozialen, moralischen Gründen so lange herumkorrigiert, bis von Markt und Wettbewerb nicht mehr viel ­übrig bleibt. Dagegen wäre zu argumentieren, dass die Soziale Marktwirtschaft insofern die bessere Marktwirtschaft ist, als sie (die Teilnahme an) Markt und Wettbewerb für alle (wieder) zugänglich macht und so die Marktwirtschaft zum Wohl aller erst richtig und nachhaltig in Schwung bringt. Neuerdings ver-



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sucht man, diesen Grundgedanken durch Slogans wie „aktivierender Sozialstaat“ oder „Fördern und Fordern“ zum Ausdruck zu bringen. 2.  Manager verteidigen sich – und werden verteidigt – oft mit dem Argument, dass ihr Handeln in Wirklichkeit von moralisch höheren, besseren Motiven geleitet wird als nur von der Maximierung des Shareholder value. So richtig dieses Argument empirisch auch ist: Wenn es zur Verteidigung des Managerhandelns in der Marktwirtschaft eingesetzt wird, ist es ein Eigentor, weil es völlig unglaubwürdig wirkt. Die Manager von Unternehmen können sich unter Wettbewerbsbedingungen von dem Funktionsimperativ Gewinnmaximierung gar nicht freisprechen. Wenn sie dagegen auf ihre wahren Motive verweisen, begehen sie denselben Fehler wie die Kritiker, indem sie den Funktionsimperativ ihrer Organisation mit den Motiven der leitenden Organisationsmitglieder gleichsetzen und auf dieser Grundlage ein ethisches Urteil abgeben. Organisationen, hier Unternehmen, haben keine Motive; sie unterliegen Restriktionen und Funktionsimperativen, während Motive nur natürlichen Personen zugeschrieben werden können. Ohne die Unterscheidung zwischen Funktionsimperativen und Motiven ist diese Verteidigung unglaubwürdig. Die Reihe der Eigentore ließe sich verlängern6. Ich habe nur diese zwei Beispiele gebracht, um zu zeigen, wie selbst die Verteidiger der Marktwirtschaft gravierenden Fehleinschätzungen in Bezug auf die Moral des Systems und die Moral der Organisationen unterliegen, in denen sie moralisch handeln wollen. Die Folge ist, dass auch die Führungskräfte die moralische Orien­ tierung verlieren. Erst eine richtige Diagnose ermöglicht eine ursachenadäquate Therapie. V. Was ist zu tun? Die Akzeptanzkrise der Wirtschaft in Deutschland findet ihren Ausdruck in der Auffassung vieler Menschen, dass die Wirtschaft „korrupt“ in dem unspezifischen Sinne sei, in dem ich den Betriff in meinem Thema verstehe. Die Krise hat moralische Gründe, nicht primär ökonomische. Daher kann die Krise nicht mit besserer ökonomischer Performance überwunden werden. Moralische Fragen verlangen moralische Antworten, und genau an diesem Punkt wirken sich die gravierenden Wahrnehmungsdefizite verheerend aus. Die Defizite werden aus verschiedenen Quellen gespeist. Die Moral der Marktwirtschaft, die grundlegend auf der Ordnungsebene zu lokalisieren ist, wird in den Motiven der handelnden Akteure gesucht. Gleiches ist der Fall 6  Vgl. generell zu den Ausführungen Karl Homann: Ethik in der Marktwirtschaft, hrsg. vom Roman-Herzog-Institut e. V., Köln und München 2007.

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bei der Moral von Unternehmen, weil diese nicht als artifizielle moralische Subjekte wahrgenommen werden. Weil auch die Verteidiger der Marktwirtschaft in ihren Argumentationen Defizite aufweisen, fehlt es an der Kompetenz, Moral in der Wirtschaft adäquat und theoretisch belastbar zu kommunizieren. Ferner lassen sich konkrete ordnungspolitische und organisatorische Defizite nicht leugnen, und schließlich gibt es auch das Fehlverhalten einzelner Manager aus den Führungsetagen. Was ist zu tun? Ohne ein belastbares Verständnis von Moral in der Marktwirtschaft und der Moral von Unternehmen werden wir die verbreiteten falschen Diagnosen nicht vermeiden können. Hier ist Aufklärung angesagt. In einer systemisch verfassten Gesellschaft mit Organisationen als dominanten Handlungssubjekten muss die personale Ethik der Tradition so weiter entwickelt werden, dass Wettbewerb und Gewinnstreben von Unternehmen als sittlich geboten angesehen werden7. Auf der ordnungspolitischen Ebene ist dafür zu sorgen, dass Fehlanreize vermieden werden und die Wirtschaft mit dem notwendigen Regelsystem versorgt wird. Neue Handlungsmöglichkeiten wie die neuen Finanzinstrumente brauchen dringend eine Nachbesserung der Regeln – wie alle Innova­ tionen. Und dabei geht es nicht um das rechte Maß, um ein Mehr oder Weniger an Regulierung, sondern um die richtige Regulierung, also um die Struktur der Regulierung. Die Ebene der Unternehmen weist grundsätzliche Probleme auf. Bei der Bekämpfung der Korruption i. e. S. besteht das zentrale Problem in der Aufdeckung: Da helfen Skandalisierung und Pönalisierung so gut wie gar nichts. Vielmehr muss man diejenigen, die am nächsten an dem korrupten Verhalten dran sind, die Unternehmen also, mit Anreizen versorgen, Korruption aufzudecken und zu unterbinden. Man muss die Unternehmen, von denen ca. 80 % der Korruptionsfälle ausgehen, ins Boot der Korruptionsbekämpfung holen, also gewissermaßen den Bock zum Gärtner machen. Sie müssen durch positive und negative Anreize veranlasst werden, nicht weiter in Korruptionsverschleierung, sondern stattdessen in Korruptionsbekämpfung zu investieren: 7  Der Philosoph, der nach Ausgang von der Individualethik neuerdings den systemischen Strukturen der sozialen Welt theoretisch Rechnung zu tragen versucht, ist Karl-Otto Apel: Institutionsethik oder Diskursethik als Verantwortungsethik? Das Problem der institutionalen Implementation moralischer Normen im Falle des Systems der Marktwirtschaft, in: Jean-Paul Harpes, Wolfgang Kuhlmann (Hrsg.): Zur ­Relevanz der Diskursethik. Anwendungsprobleme der Diskursethik in Wirtschaft und Politik. Dokumentation des Kolloqiums in Luxemburg (10.–12. Dez. 1993), Münster 1997, S. 167–209; ders.: Diskursethik als Ethik der Mit-Verantwortung vor den Sachzwängen der Politik, des Rechts und der Marktwirtschaft, in: Karl-Otto Apel, Holger Burckhart (Hrsg.): Prinzip Mitverantwortung. Grundlage von Ethik und Pädagogik, Würzburg 2000, S. 69–95.



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Die Literatur verweist hier auf die Federal Sentencing Guidelines und auf den Mechanismus der Reputation; außerdem lässt sich argumentieren, dass auch die Unternehmen ein Interesse daran haben können, den Korruptionswettlauf zu unterbinden. Auf der Ebene der Führungskräfte ist dafür zu sorgen, dass diese (1) eine moralische Einstellung und Sensibilität für moralische Risiken im Unternehmen entwickeln, dass sie (2) moralische Gestaltungskompetenz sich aneignen und dass sie (3) mit ökonomischer und ethischer Kommunikationskompetenz ausgestattet werden. Schließlich ist es notwendig, einen öffentlichen Diskurs über die moralische Qualität der Marktwirtschaft auf belastbarer theoretischer Grundlage nachhaltig zu organisieren. Dieser muss in den Schulen beginnen und in den Medien präsent sein. Mit einer Bevölkerung, die über die grundlegenden funktionalen und moralischen Zusammenhänge der modernen Gesellschaft mit Markt und Wettbewerb nicht aufgeklärt ist, ist kein Staat zu machen, jedenfalls kein moderner. Auch die Wissenschaft, speziell die philosophische Ethik, ist gefordert: Ich habe zu zeigen versucht, dass wir das von Sokrates über Kant in unsere Gegenwart überkommene Modell von Ethik so erweitern müssen, dass die grundlegenden Werte unserer Kultur auch in den Strukturen der modernen Gesellschaft wirksam werden können. Unter Wettbewerbsbedingungen setzt sich Moral nur mit ökonomischen Anreizen durch, nicht gegen sie8. Es ist unmöglich, das externe Kontrollsystem so auszubauen, dass Korruption flächendeckend weitgehend unterbunden wird. Auszubauen sind Systeme der Selbstkontrolle, aber die können im Wettbewerb nicht über moralische Selbstkontrolle laufen, sie müssen vielmehr – grundlegend und primär – über die Selbstkontrolle durch Anreize laufen. Anreize sind situationsabhängige handlungsbestimmende Vorteilserwartungen. So gilt die Devise: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, am besten sind Anreize. VI. Schluss Ich habe argumentiert, dass erhebliche Wahrnehmungsdefizite in Bezug auf die Moral in der modernen Marktwirtschaft vorliegen, die uns zu falschen Diagnosen und verfehlten Therapien führen. Wir haben in unseren Moralvorstellungen die Strukturen moderner Gesellschaften noch nicht in Rechnung 8  „Eine Moral, die dabei die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral.“ Joseph Kardinal Ratzinger: Marktwirtschaft und Ethik, in: Lothar Roos (Hrsg.): Stimmen der Kirche zur Wirtschaft, 2. Aufl., Köln 1986, S. 50–58, hier 58.

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gestellt. Das Grundproblem, mit dem wir uns herumschlagen, kann man abschließend wie in einem Brennspiegel an der folgenden Geschichte vergegenwärtigen – einer Geschichte, deren Anfang jeder kennt und die von mir dann fortgesponnen wird: Es ist die Geschichte vom hl. Martin. Der hl. Martin trifft in kalter Winternacht auf einen frierenden Bettler, nimmt sein Schwert, zerteilt seinen Mantel und gibt die eine Hälfte dem Bettler. So die Legende, die Kindern als leuchtendes Vorbild für Mitmenschlichkeit erzählt wird. Jetzt meine Fortsetzung: Vermutlich haben dann beide gefroren, denn der hl. Martin hat den Mangel nur gleich verteilt, aber keinerlei Anstalten gemacht, ihn zu beseitigen. Unter Bedingungen einer modernen Marktwirtschaft hätte er eine Mantelfabrik gebaut, dem Bettler und anderen Bettlern Arbeit gegeben, damit diese sich die Mäntel selbst kaufen können. Und dabei hätte er selbst sogar noch Gewinn erzielt – aber dann wäre er gewiss nicht heilig gesprochen worden.

Dinnerspeech

Integrität in der christlichen Religion1 Von Eberhard Cherdron Wenn wir vor 100 oder 200 Jahren hier getagt hätten, mit einem so schönen Rahmen, in Erwartung eines guten Essens, dann hätten wir fast alle ein Lied gemeinsam auswendig anstimmen können, ein Lied, das damals in den Kommersbüchern weit verbreitet war, das zudem noch einen lateinischen Text hat. Ich vermute, die wenigstens von uns können das noch auswendig, wie dies die Studierenden der damaligen Zeit konnten. Es handelt sich bei diesem Lied um die Ode 1 22 von Horatius Flaccus: Integer vitae scelerisque purus Non eget Mauris iaculis nec arcu Nec venenatis gravida sagittis, Fusce, pharetra. So beginnt diese Ode. Auf Deutsch übersetzt lautet der erste Vers: Wer von Lastern frei und von Frevel rein lebt, Der bedarf nicht maurischer Speer und Bogen, Noch des schweren Köchers von giftgetränkten Pfeilen, o Fuscus. Ich will Ihnen jetzt nicht alle Verse auf Latein vorlesen, obwohl die Ode wirklich ein schönes Versmaß hat. Und vor 200 Jahren wurde sie in einer außerordentlich schönen getragenen Melodie von einem Juristen vertont. Ich sagte schon, fast jeder Student konnte das damals singen und hat vielleicht auch den Inhalt mit diesen lateinischen Worten in sich selbst hinein genommen und hinein gesungen. Integer vitae, rein im Leben und frei von Verbrechen. Was erlebt man in diesem Gedicht? Horaz, der lateinische Dichter, schildert, dass wenn man so durchs Leben geht, einem nichts passieren kann. Man braucht keine Waffen, mit denen man sich schützen müsste nach außen. Selbst der wilde Wolf, dem der Dichter 1 

Der Tischredecharakter wurde beibehalten.

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begegnet, in unwegsamen Gebieten, macht einen Bogen um ihn herum. Integer vitae, rein im Leben: und der Dichter kann ohne Mühe seine Geliebte, die den schönen Namen Lalage hat, besingen. Selbst wenn die Sonne noch so brennt oder er gar in Ländern wäre, wo permanent der Regen vom Himmel fällt. So geschützt kann er durchs Leben gehen: integer vitae. Ich habe bewusst heute Abend diesen Einstieg gewählt. Nicht weil ich jetzt in der Lage wäre, dazu reichte mir leider die Zeit nicht, darzustellen, inwieweit die christlichen Schriftsteller in der Frühzeit des Christentums diesen Begriff von Integrität aufgenommen habe, wie er für den Dichter Horatius von großer Bedeutung war. Ich habe heute Abend viel mehr die Aufgabe, Ihnen einige wenige Aspekte vorzutragen zum Thema „Wie kommt der Begriff der Integrität eigentlich in den Religionen, speziell im Christentum vor?“ Und da gilt es zuerst einmal eine große Entdeckung zu machen. Der Begriff der Integrität, ich muss jetzt noch einmal Latein anwenden – seien Sie mir nicht böse –, der Status Integritatis, das ist ein Zentralbegriff der theologischen Lehre vom Menschen. Der Zustand der Integrität. der Zustand der Reinheit – das haben die alten Theologen ja bis in unsere Neuzeit hinein damit gemeint, Sie können es vielleicht erahnen, das ist das Paradies. Der Statuts integritatis der Theologie, das ist das Paradies. Das ist der Mensch, so wie er von Gott geschaffen ist, rein, ohne dass er irgendeiner Schuld überhaupt fähig ist. Das ist der Zustand der Integrität des von Gott geschaffenen Menschen. Wenn wir dann nachfragen, wie beschreibt eigentlich die Theologie den gefallenen Menschen, können wir eine weitere Entdeckung machen. Sie kennen alle den Mythos vom Südenfall, von Adam und Eva, von der Schlange und dem Baum und der Frucht, die im Paradies gegessen wird. Hier stoßen wir prompt wieder auf einen Begriff, der Sie heute beschäftigt hat und wahrscheinlich morgen noch beschäftigen wird. Die Theologie beschreibt nämlich den Zustand des gefallenen Menschen als Status Corruptionis. Ja, Sie sehen auf einmal, wie eng Ihr Thema Integrität und Korruption schon von der Theologie her zusammenhängt. Der Mensch, der von Gott geschaffen ist, als der Integre und der Mensch nach dem Sündenfall als der Korrumpierte, der offensichtlich gar nicht mehr anders kann, als permanent, das sagt ja die theologische Sündenlehre, in solchem Zustand der Korruption zu verharren und mit ihm oder in ihm kämpft. Der Zustand der Integrität, der Zustand der Korruption. Hat das Bedeutung und Auswirkung für das, was wir in der theologischen Ethik dann zur Integrität zu sagen vermögen? Man muss zuerst einmal einräumen, wenn man die großen Werke der theologischen Ethik sich vergegenwärtigt, dass der Begriff



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der Integrität eine geringe Rolle spielt. Vielleicht weil er eben schon so deutlich befrachtet ist, von dem was die theologische Anthropologie vom Menschen selbst sagte. Von seinen beiden Zuständen. Wahrscheinlich kommt deswegen das, was Sie heute diskutiert haben, recht wenig vor in der theologischen Ethik. Ganz kleine Spuren aber gibt es. Zum Beispiel in der Diskussion über die Frage der außerehelichen Sexualität. Ausgerechnet da spielt auf einmal der Begriff der Integrität eine gewisse Rolle, weil Ethiker in dieser Fragestellung sich vergegenwärtigen, wie war das eigentlich mit der außerehelichen oder vorehelichen Sexualität? Und manche von Ihnen werden sich vielleicht noch daran erinnern, wie war das vor 40, 50 Jahren, als wir noch jung waren. Da gab es das nicht so wie heute. Ich gehe davon aus, wenn Sie in meinem Alter sind, dass Ihre Kinder in sehr unterschiedlichen Formen mit Partnern zusammen leben. Das gab es damals alles nicht. Da hat man eher vor der Frage gestanden, ist das vereinbar mit meinen Wertvorstellungen? Oder mit den Wertvorstellungen die von außen kamen? Und in diesem Zusammenhang ist auch die Frage nach der Integrität, nach dem richtigen Verhalten aufgeworfen worden. In welchen Zwiespalt kommen Menschen eigentlich hinein, wenn sich Wertnormen verändern, wenn das eigene Bedürfnis und der eigene Wille etwas anderes will, als es die gängigen Erwartungen vorschreiben. Wenn reli­ giöse Vorstellungen dies oder jenes verbieten und Eltern und Nachbarschaft sowieso. Integrität in einem solchen Zustand zu bewahren, ist ein komplexes Verfahren muss man sagen. Eine komplexe Fragestellung. Und darum hat man in der theologischen Ethik auch den Begriff der Integrität meistens mit dem Begriff der Identität verbunden, der ethischen Identität. Bin ich mit dem, was ich an Wertvorstellungen vorfinde, immer wieder als ich selbst einverstanden? Wie eigne ich es mir an? Wie wird es zum Teil meines eigenen Inneren, so dass ich es leben kann und von mir sagen kann, integer vitae, so wie Horatius damals, durchs Leben zu gehen. Und wo sind die Normen, die mich gegebenenfalls auch dahin führen würden? Wenn wir nach den Normen fragen, stellt natürlich die christliche Religion insbesondere solche bereit in der Feststellung dessen, was wir als Liebesgebot aus der biblischen und kirchlichen Tradition kennen. Sie kennen alle die goldene Regel. In drei verschiedenen Fassungen existiert sie. Man muss sich das vergegenwärtigen, um sich zu verdeutlichen, wie wollen wir sie eigentlich auslegen? Zum einen in dieser kurzen Form: was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem anderen zu. Oder eine andere Formulierung, die nun von einer etwas anderen Perspektive aus spricht: Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen auch tun. Zwei verschiedene Auslegungsmomente der goldenen Regel, die sich übrigens in vielen Religionen

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auch immer wieder findet, als Grundlage unseres Handelns, als Grundlage vielleicht auch in der Frage danach, was es heißt „integer vitae“, rein durchs Leben zu gehen? Oder in der dritten Möglichkeit der Auslegung der goldenen Regel: den anderen so zu lieben, wie man sich selber liebt. Wären das Maßstäbe danach zu fragen, was ist richtig im Handeln und Tun? Wie kann ich rein durchs Leben gehen? Wir brauchen solche Maßstäbe. Das hängt mit dem dritten Aspekt zusammen, dem ich im Blick auf die theologische Begutachtung oder Wertung der Integrität hier noch betonen möchte. Das ist die Fragestellung Integrität und Vertrauen. Beides hängt sehr eng zusammen. Wo die Integrität schwindet, schwindet das Vertrauen. Wir brauchen immer wieder in allen menschlichen Beziehungen, aber auch in den Organisationen und bis hin in die Wirtschaft hinein, das merken wir jetzt gerade in der Finanzkrise, Vertrauen. Vertrauen ist in der Regel so etwas wie Reduktion der Komplexität. Weil wir die Komplexität sowieso nicht erfassen, müssen wir darauf vertrauen, dass andere richtig handeln und sich darum bemühen, richtig zu handeln, so wie wir das hoffentlich ja auch selber tun. Darum hängt Integrität und Vertrauen sehr eng zusammen. Wo die Integrität schwindet, wird auch das Vertrauen schwinden und vielleicht am Ende alles zusammenbrechen in einem ungeheuren Zusammenbruch. Dazu, weil es heute Abend ja etwas lockerer sein soll und nicht nur wissenschaftlich ernst, eine kleine frühmittelalterliche Legende. Erzählt von dem schottischen Mönch Beatus. Er kam in die Schweiz. An den Thuner See, und dort, so wird im frühen Mittelalter erzählt, wütete ein schrecklicher Drache. Keiner, wie man ihn sonst gewohnt war, der Feuer speiend und mit großem Lärm, Menschen vernichtete und verschlungen hat, sondern einer, der dies ganz still und leise gemacht hat. Der die Menschen ohne großen Lärm einfach tötete. Und noch etwas anderes war bei diesem Drachen besonders: An jedem Ort, an dem er einen Menschen tötete, hinterließ er einen großen Schatz, Gold, Edelsteine, Silber. Heimlich trieb er so sein Werk. Was bewirkte das eigentlich unter den Menschen dieser Region? Sie fingen an, den Spuren des Drachens nachzugehen, weil ihre Gier sie nach dem Gold trieb und den Schätzen. Sie haben sich gegenseitig sogar in den Tod geschickt, damit wenn einer getötet wurde, der andere vielleicht den Schatz bekam. So breitete sich in dieser Gegend schließlich und endlich nichts anderes aus als Mord und Totschlag, ein Töten des einen durch den anderen. Ein Kampf des einen gegen den anderen. In diese Situation kam unser schottischer Mönch hinein. Was tat er? Nicht wie die großen Drachentöter zog er aus mit großem Schwert, um den Drachen zu töten, sondern er baute sich über der Höhle des Drachens eine kleine Hütte und stellte dort eine kleine Christusikone auf und meditierte. Und darin



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war er groß und stark. Und er meditierte bis schließlich und endlich dieses Bild des Christus in seinem Inneren lebte und ihn bewegte. Und dann – so erzählt diese alte Legende – stieg er in die Höhle und in die Gänge des Drachen hinab. Doch der war einfach verschwunden und tauchte nicht mehr auf. Und fortan, so heißt es in dieser Legende, lebten die Menschen dort wieder in Frieden miteinander. Was steckt alles in dieser seltsamen Legende drin? Das was uns oft antreibt, griechisch die epytimia, die Gier. Nicht nur etwas Sexuelles, sondern durchaus auch gemeint als Gier nach den materiellen Gütern. Das was uns antreibt und nicht los lässt, das was den einen zum Kampf gegen den anderen führt, was schließlich Integrität, Vertrauen untereinander, zerstört. Da hilft vor allem eines: Dass jemand da ist, sehr bewusst auftritt und sagt, integer vitae, der etwas in sich trägt von Überzeugung und ethischer Kraft, die am Ende auch diesen schrecklichen Drachen, wie in dieser Legende, zum Erliegen bringt. Wir brauchen das, will diese Legende sagen, wir brauchen das, dass Menschen da sind, die versuchen so zu leben, wie es unsere Studenten einst sangen: Integer vitae. Rein im Leben und frei von Verbrechen. Dann kann ich auch die schrecklichsten Gegenden durchwandern, weil das, was ich in mir trage, ausstrahlen wird zum Guten der Menschen. Ich hoffe nur, dass Sie in dieser Tagung etwas davon auch lernen und mitnehmen können, wenn Sie morgen wieder nach Hause fahren.

Integrität in der öffentlichen Verwaltung: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser Von Klaus P. Behnke I. Vorbemerkungen Das Thema „Integrität in der öffentlichen Verwaltung“ ist sehr allgemein formuliert. Dies nur auf einen Aspekt, z. B. den der Kontrolle, zu konzentrieren, würde zu kurz greifen. Es ist mir in der Kürze der Zeit jedoch auch nicht möglich, alle Aspekte, die der Erwähnung verdienen, in der gebotenen Ausführlichkeit zu beleuchten. Ich habe mich deshalb für einen Mittelweg entschieden und im Zweifel dem Überblick den Vorrang vor einer Ausleuchtung von Einzelaspekten eingeräumt. Zweite Vorbemerkung: Der Untertitel des Vortrags wird Lenin zugeschrieben. Nach allem, was man dazu lesen kann, ist der Satz in dieser Form nicht authentisch. Lenin soll aber häufiger ein russisches Sprichwort („dowjerai no prowjerai“) zitiert haben, sinngemäß etwa: „Vertraue, aber prüfe nach“. Das war im Übrigen auch der Leitspruch von Ronald Reagan bei den START-1Abrüstungsverhandlungen: „Trust, but verify“. Ronald Reagan war demnach auch Leninist, eine wenig bekannte Tatsache. Die Aussage „Kontrolle ist besser“ entspricht in dieser Absolutheit auch nicht meiner Überzeugung. Ohne Vertrauen funktioniert nichts, kein menschliches Miteinander. Vertrauen ist im Übrigen auch ein probates Mittel zur Reduktion von Komplexität (Niklas Luhmann). Kontrolle kann auch nie vollständig, kann nie umfassend sein. Wenn Vertrauen nicht die Grundlage ist, muss Kontrolle ins Groteske überdehnt werden. Letztlich könnte selbst durch eine weitgehende Kontrolle und Sicherung der formalen Beachtung von Regeln nicht garantiert werden, dass deren Sinngehalt verwirklicht wird. Es werden immer Situationen auftreten, in denen Regeln interpretiert werden müssen. Dann müssen die Individuen einen internen Standpunkt zu den Regeln einnehmen, das heißt, sie müssen sie mit einer moralischen Qualität verbinden, also ausgehend von der Regel das Verhalten als richtig oder falsch beurteilen können und beurteilen wollen. Extremfall des Auseinanderfallens von formaler Gültigkeit und Effektivität ist z. B. der Ihnen auch bekannte Dienst nach Vorschrift, bei dem die Orientierung am

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Buchstaben der Regel die Zielsetzung konterkariert. Das ist deshalb auch mehr eine Drohung, als ein Versprechen. Dritte Vorbemerkung und ein allerletztes Vorwort: Ich möchte noch ein paar Worte sagen zu dem Menschenbild, das ich meinen Betrachtungen zugrunde gelegt habe. Ich gehe fest davon aus, dass Reziprozität eine zentrale menschliche Verhaltensdimension ist, das heißt, ich gehe davon aus, dass die Mehrheit sich nicht eigennützig verhält, sondern rechtstreu. Aber nicht unbedingt rechtstreu, sondern bedingt, das heißt, abhängig von bestimmten Umständen. Und es ist auch meine Überzeugung, dass diese bedingte Bereitschaft zum rechtstreuen, zum ethischen, zum integren Verhalten positiv beeinflusst werden kann. Zentrale Ebenen, die hier Einfluss haben, sind sicherlich das Umfeld, auch davon haben wir schon gehört. Es kommt ganz wesentlich darauf an, wie sich das Umfeld verhält, wie die Erwartungshaltung in Bezug auf die Umwelt ist. Es hat sicherlich auch etwas zu tun mit der Transparenz und der Fairness des Systems, dem Grundvertrauen in den Staat und es hat letztlich, das ist stärker unser Thema, etwas zu tun mit Kontrolle und Sanktionen. Nach diesem umfangreichen Vorwort möchte ich jetzt zum eigentlichen Vortrag kommen und Ihnen zunächst anhand der Gliederung einen Überblick geben: I.

Vorbemerkungen

II.

Begriffe

III.

Typologie von Integritätsverletzungen

IV.

Systematisierung der Themenfelder

V.

Ethik-Infrastruktur der OECD

VI. Ausmaß des Problems VII. Ursachen von Integritätsverletzungen VIII. Auswirkungen unethischen Verhaltens IX. Allgemeine Überlegungen zu Maßnahmen der Integritätsförderung X.

Eignung der Elemente der OECD-Infrastruktur

XI. Rechnungshöfe: Aufgaben und Prüfungsmaßstäbe / Möglichkeiten und Grenzen XII. Gefahren des Übermaßes XIII. Fazit Zu Punkt II, den Begrifflichkeiten, möchte ich mich nicht lange aufhalten. Eine Typologie von Integritätsverletzungen haben wir schon in dem Vortrag von Herrn von Arnim kennengelernt, da kann ich mich auch kurz fassen.



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Nach der Systematisierung der Themenfelder möchte ich Ihnen die Ethik-In­ frastruktur der OECD vorstellen, die einen weiteren Schritt der Systematisierung darstellt. Ausgehend von der Ethik-Infrastruktur der OECD sollen sodann deren einzelne Elemente abgeklopft werden. Zuvor möchte ich jedoch nach dem Grundsatz „Diagnose vor Therapie“ einige Worte zu Ursachen und Auswirkungen von Integritätsverletzungen verlieren. Letztlich werde ich vor dem Hintergrund einer Warnung hinsichtlich der Gefahren des Übermaßes versuchen, ein Fazit zu ziehen. II. Begriffe Integrität – Beamtenethos – Moral – Good Governance – Public Integrity – Werteorientierte Führung – ethics – Verwaltungsethik … Die angeführten Begrifflichkeiten, die im Zusammenhang mit dem Vortragsthema stehen, sind nicht vollständig, es sind nur einige Beispiele. In Deutschland sind die Begrifflichkeiten jedenfalls derzeit wenig verbreitet, hier denkt man eher in den Kategorien „legal – illegal“. Im anglo-amerikanischen Raum sind dagegen Public Service Ethics oder Public Integrity tradi­ tionelle und viel diskutierte Themenfelder. Von mir im Vortrag wie auch in der einschlägigen Diskussion werden die Begriffe Integrität, Ethik / Ethics ­sowie Public Integrity weitgehend synonym verwandt. Herr von Arnim hat in seinem Einführungsvortrag schon darauf hingewiesen, dass es sehr schwierig ist, einen positiv formulierten Wertekanon zu formulieren. Insofern grenzt man besser von den Integritätsverletzungen her ab. Vorher aber ein kurzer Einschub: Die acht am häufigsten zitierten Grundwerte des öffentlichen Dienstes, jedenfalls der OECD-Mitgliedsländer, sind Unvoreingenommenheit, Gesetzmäßigkeit, Integrität, Effizienz, Transparenz, Verantwortung, Gleichheit und Gerechtigkeit. III. Typologie von Integritätsverletzungen 1. Korruption, Bestechung, Vetternwirtschaft 2. Betrug und Diebstahl von Ressourcen 3. Konflikte zwischen privatem und öffentlichem Interesse durch Geschenke (Dienste, Versprechen) 4. Interessenkonflikte durch Stellen oder Tätigkeiten außerhalb der Organisation (z. B. Zweitbeschäftigung) 5. Unzulässige Gewaltanwendung und sonstige unzulässige Vorgehensweisen im Dienst

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6. Missbrauch und Manipulation von Informationen 7. Diskriminierung und sexuelle Belästigung 8. Verschwendung und Missbrauch organisatorischer Ressourcen 9. Fehlverhalten in der Freizeit (Aus: Christoph Demmke, Öffentliche Meinung, Ethik und die Reform der öffentlichen Dienste in Europa, S. 104, in: Patrick von Maravić / Christoph Reichard (Hrsg.), Ethik, Integrität und Korruption – Neue Herausforderungen im sich wandelnden öffentlichen Sektor?, Potsdam 2005.)

Die dargestellten Punkte sind eine Typologie von Integritätsverletzungen, eine Definition von der „Negativ-Seite“. Im Einzelnen werde ich nicht auf die Punkte eingehen. Hinweisen möchte ich Sie nur auf Ziffer 8. Eine Integritätsverletzung liegt auch in der Verschwendung und dem Missbrauch organisatorischer Ressourcen, dem typischen Operationsgebiet der Rechnungshöfe. IV. Systematisierung der Themenfelder •• Standards, Werte oder Ziele, die das Verhalten öffentlicher Bediensteter bestimmen sollen •• Möglichkeiten, diese Standards bei den öffentlichen Bediensteten zu vermitteln •• Gesetze, Regelungen oder Verfahren zur Verhinderung von Korruption und Interessenkonflikten •• Regelungen und Institutionen zur Sicherung von Transparenz und Offenheit des Verwaltungshandelns •• Regelungen zum Umgang öffentlicher Bediensteter mit verschiedenen Personengruppen (Aus: Dr. Nathalie Behnke, Ethics and Integrity of Governance – zum Stand der deutschen Ethikdebatte in Wissenschaft und Praxis, FoJuS-Diskussionspapiere Nr. 3 / 2004, S. 2.)

Einen Versuch der Systematisierung der Themenfelder, die sich um das Vortragsthema ranken, sehen Sie in der vorstehenden Auflistung. Die Betrachtung des Themas „Ethik“ respektive „Integrität“ ist in der Diskussion mehrdimensional und bezieht sich nicht nur auf individuelles Verhalten einzelner Personen, sondern hat auch eine juristisch legalistische Dimension im Hinblick auf Gesetze sowie im Hinblick auf Institutionen und Maßnahmen zur Verhinderung unethischen Verhaltens. Die Diskussion umfasst damit ein recht heterogenes Set an Situationen, an Werten, an Maßnahmen und an Institutionen. Wenn man versucht, diese Themen und Maßnahmen zu systematisieren, lassen sich im Wesentlichen die hier aufgelisteten fünf Themenfelder herausarbeiten, die im Zusammenhang mit der Gewährleistung integren Verhaltens zu diskutieren sind.



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V. Ethik-Infrastruktur der OECD (1996)

Aus: OECD, Public Management Occasional Papers No. 14, Ethics in the Public Service, 1996

Wir kommen nun zu der schon angesprochenen OECD-Ethik-Infrastruktur. Sie ist schon etwas älter, hat aber nichts von ihrer Aussagekraft verloren. Ich komme später noch einmal auf die Einzelheiten zurück und möchte die Struktur hier nur kurz im Umriss vorstellen. Die Ethik-Infrastruktur der OECD ist ein umfassendes, ein geschlossenes Konzept, das alle Perspektiven und Themenbereiche des Problems darstellt und auch versucht, Lösungen anzubieten. Wie Sie sehen, sind es drei Funk­ tionen, nämlich Kontrolle (Control), Orientierung (Guidance) und Management, um die sich acht Elemente ranken. Wenn wir im Uhrzeigersinn oben anfangen, sehen Sie das Element „Public Involvement and Scrutiny“, was für den Informations- und Kontrollanspruch einer offenen und aktiven Bürgergesellschaft steht. Des Weiteren sehen Sie das Element „Accountibility and Control“. Dies steht für Kontrolle, für verantwortliche Rückbindung. Das Element „Professional Socialisation“ betrifft die Internalisierung von Rollen und Normen, die „Public Service Conditions“ betreffen die Arbeitsumgebung und die Einhaltung von Standards, die ein integres Verhalten ermöglichen und möglichst auch fördern sollen. Der „Coor-

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dinating Body“ ist eine Zentralstelle, die einheitliche Standards und Werte absichern soll. „Codes of Conduct“, die bekannten Verhaltenskodizes und zum Schluss dann die Waagschale, Legislative Framework, das heißt, alle rechtlichen Regelungen, die sich um das Thema ranken, quasi die Zähne der Infrastruktur. VI. Ausmaß des Problems Quellen zur Einschätzung des Ausmaßes von Korruption und unethischem Verhalten: •• Periodische Sicherheitsberichte (BMI + BMJ) •• Bundeslagebild Korruption (BKA) •• Transparency International (CPI) •• Feststellungen der Rechnungshöfe •• Medienberichte Bevor wir dazu kommen, die einzelnen Elemente der OECD-Infrastruktur abzuklopfen, kurz etwas zum Ausmaß des Problems. Ich habe Ihnen hier einige Publikationen aufgelistet, aus denen man Informationen ableiten kann. Exemplarisch möchte ich auf die Ausführungen im Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht von BMI und BMJ aus dem Jahr 2006 zu sprechen kommen. Hierin wird nur der Bereich des strafrechtlich relevanten korruptiven Verhaltens und das Umfeld der Korruption beschrieben, nicht jedoch auf jeden weiteren Aspekt der Integrität und der Ethik eingegangen. 2005 gab es in der polizeilichen Kriminalstatistik 2.160 Korruptionsfälle, also nicht sonderlich viele. Rein quantitativ betrachtet sind dies nur 0,03 % des gesamten polizeilichen Fallaufkommens. Verurteilt wurden wegen dieser Delikte – auch in den Jahren zuvor – jeweils deutlich weniger als 500 Personen pro Jahr. Das Dunkelfeld wird auf ein Vielfaches der bekannt gewordenen Fälle geschätzt. Allerdings liegen empirische Untersuchungen zum Dunkelfeld der Korrup­ tion nicht vor. Zuverlässige, verlässliche Ergebnisse sind mit den herkömm­ lichen Dunkelfeldforschungen angesichts der Deliktstruktur nicht erzielbar. Bis 2000 nahm die Zahl der polizeilich registrierten Fälle zu, danach gab es einen stetigen Rückgang. Auch daraus kann man jedoch nicht viel ablesen, da Korruptionsdelikte typischerweise sog. Kontrolldelikte sind, es also weitgehend von der Überwachung und den eingesetzten personellen und sach­ lichen Ressourcen abhängt, ob überhaupt und inwieweit Korruptionssach­ verhalte entdeckt werden. Die spätestens seit den 90er Jahren intensivierte Berichterstattung der Medien bleibt auch nicht ohne Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung. Nach



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einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach aus dem Jahr 2005 waren 42 % der Befragten überzeugt, dass Korruption im Bereich der Politik anzusiedeln sei, 26 % sahen darin ein Problem der Wirtschaft, nur 11 % ein solches der Verwaltung und 8 % meinten, es sei der Bereich des Sports, in dem korruptives Verhalten hauptsächlich zu finden sei. Auf den Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) von Transparency Inter­ national möchte ich nicht intensiver eingehen, dazu hören wir noch einen Vortrag. Zusammenfassend lässt sich aus meiner Sicht leicht salopp sagen, dass wir sicherlich keine bulgarischen Verhältnisse in Deutschland haben, aber wir haben meines Erachtens auch keinen Anlass, uns auf ein hohes Ross zu setzen. Zumindest nehmen für uns auch die Gefahren zu. Zu nennen sind hier insbesondere ein komplexeres Umfeld und die Überlagerung verschiedener Wertesysteme – einerseits Beamtenethos, andererseits Gewinnmaximierung – sowie ständige Reformen, die teilweise unausweichlich sind und die auch neue Probleme und Unsicherheiten mit sich bringen. Man kann das Ausmaß des Problems nicht mathematisieren, jedoch denke ich, man kann es so zusammenfassen, dass auch wir ein Problem haben und auch wir uns um dieses Thema kümmern müssen. VII. Ursachen von Integritätsverletzungen •• Persönlichkeitsfaktoren / Motiv – Mittel – Gelegenheit •• Randbedingungen in Gesellschaft und Verwaltung – gesellschaftlicher Wertewandel und dessen Begleiterscheinungen (Verblassen von Pflichtwerten – Vordringen individueller Nützlichkeitserwägungen) – Ansehensverlust des öffentlichen Dienstes – Internationalisierung von Geschäftsbeziehungen – Neue Steuerungsmodelle (NPM, PPP, etc. – Überlagerung unterschied­ licher Wertesysteme) – Fehlende Vorbilder / Verhalten der Eliten – Führung und Kontrolle in Politik und Verwaltung – Unklare Verantwortlichkeiten / allgemeine Defizite der Strukturen und Abläufe – Vergütungs- und Beförderungssystem („Leistungsvergütung nach Zielvereinbarungen“, Führungsfunktionen auf Zeit) usw.

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Auch auf die Frage nach den Ursachen für Integritätsverletzungen möchte ich nur relativ kurz eingehen: Zum einen begünstigen Persönlichkeitsfaktoren die Neigung zu unethischen Verhaltensweisen. Andererseits spielt sicherlich auch der alte Dreiklang von Motiv, Mittel und Gelegenheit eine nicht untergeordnete Rolle. Des Weiteren nehmen auch die Rand- und Rahmenbedingungen in der Gesellschaft starken Einfluss: das Schlagwort vom Wertewandel sowie dem Verblassen von Pflichtwerten ist Ihnen bekannt. Ursächliche Faktoren sind aber auch der Ansehensverlust, den der öffent­ liche Dienst erlitten hat, die Internationalisierung von Beziehungen, die Zauberformeln der neuen Steuerungsmodelle – New Public Management oder Private Public Partnerships – mit der Überlagerung der eben schon erwähnten unterschiedlichen Wertesysteme. Aus meiner Sicht ist es auch sehr stark ein Problem fehlender Vorbilder, ein Problem des Verhaltens der Eliten und ganz allgemein der Führung und Kontrolle in Politik und Verwaltung. Wir sehen hier auch ein Spiegelbild der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, des gesamtgesellschaftlichen Zustands. Wir haben selbstbewusstere, kritischere Bürger, die bessere Leistungen verlangen, insbesondere bei steigenden Preisen, was auch keiner verdenken kann. Die Bürger, meine ich, haben aber nicht immer den Eindruck, dass das politische System die akuten und die aktuellen Probleme löst, wie etwa die notwendige Reform des Gesundheitswesens, Arbeitslosigkeit und Ähnliches, sondern sich eher auf überschaubare Probleme wie Rauchverbote konzentriert und folglich wenden sie sich dann in jedenfalls nicht geringer Zahl gegen das System und versagen ihm zumindest teilweise die Unterstützung. VIII. Auswirkungen unethischen Verhaltens •• Ansehens- und Vertrauensverlust der öffentlichen Verwaltung •• Erosion der öffentlichen Moral •• Abnahme des Unrechtsbewusstseins •• Verringerung der Akzeptanz staatlichen Handelns •• unnötiger Ressourcenverbrauch •• Vermögensnachteile •• Nachlassen der Leistung der Verwaltung usw. Integritätsverletzungen im hier verwandten Sinne sind in ihren Auswirkungen in hohem Maße sozialschädlich und zwar wegen der hohen materiellen Schäden, die etwa im Bereich des Vergaberechts entstehen, wegen einer gra-



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vierenden Verzerrung des Leistungswettbewerbs, wegen des Verlustes des Vertrauens in eine unbeeinflusste Entscheidung der öffentlichen Verwaltung, wegen der hierdurch ausgelösten weiteren Erosion der öffentlichen Moral und im Ergebnis, meine ich, auch wegen einer Verminderung der Leistung der Verwaltung. Denn organisatorische und individuelle Leistung sind meines Erachtens eng mit ethischem oder unethischem Verhalten verknüpft. Je stärker es in einer Organisation zu unethischem Verhalten kommt, umso höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass insgesamt die Leistung abnimmt. IX. Allgemeine Überlegungen zu Maßnahmen der Integritätsförderung 1. Beachtung kultureller, rechtlicher und politisch-administrativer Hintergründe und Traditionen. 2. Korruption und unethisches Verhalten sind strukturelle Probleme. Wir müssen den Blick schwerpunktmäßig auf die Handlungsbedingungen richten. 3. Die Macht der Moral ist begrenzt – Werteinstellungen sind nur so lange handlungsbestimmend, wie das durch Vorteile gestützte Fundament stimmt (Prof. Dr. Dr. Karl Homann). 4. Die Einhaltung der Regeln muss kontrolliert werden – „Moral ohne Kontrolle ist wirkungslos“ (Prof. Dr. Dr. Karl Homann). 5. Die Übertretung der Regeln muss mit formellen oder informellen Sanktionen geahndet werden (schnell und angemessen). 6. Allgemein sollten die Maßnahmen die (bedingte) Bereitschaft zu integrem Verhalten unterstützen. 7. Erforderlich ist insgesamt ein Geflecht (von präventiven und repressiven) Maßnahmen, die sich gegenseitig stützen. Ich habe hier einige allgemeine Überlegungen zu Maßnahmen der Integritätsförderung aufgelistet, die aus meiner Sicht eine Rolle spielen: Punkt 1: Es macht, meine ich, keinen Sinn, Maßnahmen zu implementieren, die sich nicht in die kulturelle, in die rechtliche oder in den politisch administrativen Hintergrund und die Traditionen einfügen. Punkt 2: Wir haben es mit strukturellen Problemen zu tun und ein schwerpunktmäßiger Blick muss sich deshalb immer auf die Handlungsbedingungen richten. Bei Punkt 3 und 4 kann ich Herrn Prof. Homann zitieren, er hat gesagt: „Die Macht der Moral ist begrenzt.“ Und da hat er sicherlich auch Recht. Man muss darauf achten, dass Werteeinstellungen nur so lange das Handeln

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bestimmen, wie es auch, jedenfalls im Grundsatz, durch Vorteile gestützt wird. Das Fundament muss stimmen. Der vierte Punkt ist ein ganz wesent­ licher: Kontrolle. Die Einhaltung von Regeln muss kontrolliert werden. Herr Homann hat hier das Schlagwort geprägt: „Moral ohne Kontrolle ist wirkungslos.“ Punkt 5 befasst sich mit der Notwendigkeit von Sanktionen. Diese müssen natürlich auch erfolgen und sie müssen auch schnell und angemessen sein. Dabei kommt auch der zweite Aspekt der Kontrolle, neben demjenigen der Abschreckung, zum Tragen: Es ist eine Stärkung der Erwartungshaltung derjenigen, die sich rechtstreu verhalten, dass Regelverletzer bestraft werden und dies auch schnell geschieht. Allgemein sollten Maßnahmen zur Integritätsförderung die bedingt vorhandene Bereitschaft unterstützen, sich ethisch und rechtstreu zu verhalten. Als abschließenden Punkt möchte ich noch erwähnen, dass es natürlich nicht die Maßnahme gibt, mit der man alles erreichen kann. Ich denke, es besteht Einvernehmen, dass es hier auf ein Geflecht sich gegenseitig unterstützender Maßnahmen ankommt. X. Eignung der Elemente der OECD-Infrastruktur Elemente der OECD-Infrastruktur Funktion

Kontrolle (control)

Orientierung (guidance) Führung (management)

Elemente

•  legal framework • accountability & control • public involvement & scrutiny

• commitment / political • sound public service leadership conditions •  codes of conduct •  coordinating body • professional socialisation

In dieser Tabelle sind noch einmal in einer etwas anderen Darstellungsform die Elemente der OECD-Infrastruktur aufgelistet: Sie sehen die drei Funktionen Kontrolle, Orientierung und Führung und die dazu gehörigen Elemente. Mit Blick auf die Ethik-Infrastruktur der OECD stellt sich nun die Frage, wie eine wirksame Therapie aussehen kann. Brauchen wir das alles? Hilft das alles? Muss man das alles umsetzen? Passt dieser Deckel auf jeden Topf? Die sich gefühlsmäßig aufdrängende Antwort ist nein und diese Antwort ist auch richtig. In ihrem Arbeitspapier weist die OECD selbst darauf hin, dass die ideale Mischung und der Grad der Umsetzung der Funktionen von



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dem kulturellen und politisch-administrativen Milieu des jeweiligen Landes abhängig sind und auch sein müssen. Im Folgenden soll daher die Notwendigkeit der Einführung und Umsetzung von Elementen der OECD-Ethik-In­ frastruktur sowie deren mögliche Wirksamkeit untersucht werden. 1. Funktion: Führung (Management) Elemente: •  Solide Arbeitsbedingungen (sound public service conditions) –  Arbeitsplatzsicherheit –  Beförderungsmöglichkeiten –  angemessene Bezahlung –  soziale Akzeptanz

•  Zentrale Koordinierungsstelle (coordinating body)

Elemente der Funktion Management (Führung) der OECD-Infrastruktur sind „solide Arbeitsbedingungen“ und eine „zentrale Koordinierungsstelle“ (Coordinating Body). Zunächst zu den „soliden Arbeitsbedingungen“: Die Ägypter hatten schon 2000 Jahre vor Christus die Bedeutung von guten Arbeitsbedingungen im öffentlichen Dienst recht klar erkannt und ein einfaches Konzept entwickelt. Dort hieß es: „Mache deine Beamten reich, damit sie deine Gesetze ausführen, denn einer, der reich ist, braucht nicht parteiisch zu sein.“ Ein, glaube ich, zumindest damals ganz wirksames Konzept. Gewerkschaftsvertreter mögen dies anders sehen, aber nach meiner Meinung hat das Element „Arbeitsbedingungen“ für ein Land wie Deutschland, dessen öffentlicher Dienst seit 200 Jahren über gesicherte Privilegien verfügt, jedenfalls keine große praktische Bedeutung. Ich denke, bei diesem Element kann Deutschland sogar als Vorbild dienen. Zweites Element ist der „Coordinating Body“, eine zentrale Koordinierungsstelle. Die Notwendigkeit einer zentralen Koordinierungsstelle lässt sich aus der Vermittlung einheitlicher Werte und aus dem Gesichtspunkt der Vermeidung sich widersprechender Maßnahmen ableiten. Zentrale Koordinierungsstellen finden sich beispielsweise in den USA und in Großbritannien. In Großbritannien, darauf hat Herr Prof. von Arnim auch schon hingewiesen, gibt es das Committee on Standards in Public Life. Dieses sogenannte Nolan Committee wurde 1994 von John Major eingerichtet und wurde im Jahr 1997 auch ein sog. Standing Committee. Auslöser war damals, wie so oft, ein Skandal. Britische Abgeordnete hatten sich dafür bezahlen lassen, im Parlament keine unangenehmen Fragen zu stellen. Vorsitzender des Komitees wurde Lord Nolan. Das Komitee legte in seinem ersten Report neben Emp-

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fehlungen auch einen allgemeinen Ethik-Kodex vor: „The seven Principles of Public Life“. Die sieben Prinzipien sind Selbstlosigkeit, Integrität, Ob­ jektivität, Verantwortlichkeit, Offenheit, Ehrlichkeit und Führung. In den USA gibt es neben den Ethik-Komitees in beiden Häusern des Kongresses das Office of Government Ethics (OGE), das 1978 gegründet wurde und als zentrale Organisations- und Koordinierungseinheit innerhalb der Exekutive dient. Für Deutschland sehe ich hingegen keinen erkennbaren Mehrwert oder größeren Nutzen in einer eigenen zentralen Ethikinstanz auf Bundesund / oder Länderebene. In Deutschland, jedenfalls ist das meine Meinung, ist so gut wie immer die erste, in der Regel falsche Antwort auf ein Problem, eine Behörde ins Leben zu rufen. Ich denke aber, anstatt Strukturen zu verändern oder neue Strukturen zu schaffen, sollten wir immer zuerst unser Verhalten reflektieren und ändern. Das ist aus meiner Sicht in aller Regel wirtschaftlicher. Im Übrigen ist auch zu bedenken, dass das BMI und dass die Innenministerien der Länder in einem nicht nur untergeordneten Umfang zumindest teilweise die Rolle einer Zentralinstanz zu diesem Thema wahrnehmen, jedenfalls im Hinblick auf den Bereich der Korruption. 2. Funktion: Orientierung (Guidance) Elemente: • Einsatz für ethische Standards (commitment, political leadership)

• Verhaltenskodizes (codes of conduct)



• Schulungen und Trainings zur Internalisierung von Rollen und Normen (professional socialisation activities)

Die zweite Funktion „Guidance“ (Orientierung), hat drei Elemente: Einsatz für ethische Standards (commitment, political leadership), Verhaltens­ kodizes und Schulungen und Trainings. Zunächst zu dem Thema „Einsatz für ethische Standards“: Hierunter versteht man vor allem das erklärte Interesse und die Bereitschaft, sich für ethische Standards einzusetzen. Und als besonders wichtig wird hier aufgrund des Signalcharakters das Commitment der politischen Führung, der politischen Klasse angesehen. Die unbedingte Loyalität zur Verfassung und zu ihren Grundwerten wird bei Beamten und anderen Beschäftigten des öffent­ lichen Dienstes und bei Ministern durch die Verpflichtung gesichert, bei Amtsantritt einen Treueeid auf die Verfassung zu schwören. Abgeordnete müssen keinen Treueeid ablegen, allerdings regelt § 44 b Abgeordnetengesetz das zwingende Vorhandensein von Verfahrensmaßregeln,



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die aber im Wesentlichen nur Art und finanziellen Umfang von Tätigkeiten neben dem Mandat erfassen. Allgemein ist aus meiner Sicht kein Anzeichen erkennbar, dass das Thema Ethik /  Integrität in Deutschland von der Politik als eigenes Thema erkannt oder gar gefördert wird. In Klammern möchte ich hinzufügen: Umso wichtiger ist dann das Commitment der Verwaltungsspitzen. In den USA beispielsweise sieht das ein wenig anders aus. Dort ist offensichtlich der Druck von Seiten der Medien und der Öffentlichkeit, etwas zu tun, sehr viel größer. Im Ergebnis kann man für Deutschland ein klares oder jedenfalls ein öffentliches Bekenntnis der politischen Klasse zu ethischen Standards nicht feststellen. Hier besteht meines Erachtens ein Defizit. Zum Thema „Verhaltenskodizes“: Verhaltenskodizes nehmen im angelsächsischen Raum ebenfalls einen hohen Stellenwert ein. Hauptantriebsfeder hierfür dürfte im Wesentlichen der Vertrauensverlust und damit der Legitimationsverlust in der Wahlbevölkerung sein, den die Politiker wahrnehmen und ich glaube, damit liegen sie auch nicht ganz falsch. Nach einer recht neuen Gallup-Umfrage rangieren die Mitglieder des Kongresses bei der Frage nach deren Ehrenhaftigkeit ganz unten, gemeinsam mit den „car salesmen“, also den Autoverkäufern. Ganz oben liegen die Krankenschwestern. In Deutschland sieht es ähnlich aus. Da liegen die Ärzte ganz oben und weit unten auf der deutschen Skala liegen die Gewerkschaftsführer und die Politiker. Vor dem Hintergrund der Rechtstradition ist in Deutschland das Thema Kodizes ein weitaus kleineres als beispielsweise in Großbritannien oder in den USA. Hier haben wir, ich habe schon darauf hingewiesen, stärker das Primat der rechtlichen Regulierung. Aus meiner Sicht sind Kodizes ein probates Mittel, Integrität zu erzeugen und zu unterstützen, da es nach meiner Auffassung und nach meiner Wahrnehmung keinen allgemeinen Comment mehr gibt, dass man schlicht gewisse Dinge nicht tut, unabhängig davon, ob sie verboten oder gar strafbewehrt sind. Andererseits: Ich verkenne nicht die Gefahren von Kodizes, die von den Eliten und Führungskräften nicht vorgelebt werden. Diese schlagen dann ins Gegenteil um und erzeugen nur Zynismus. Niemand hält sich mehr daran, weil „die“ es ja auch nicht tun. Der dritte Punkt bezeichnet das Element der „Internalisierung von Normen und Rollentraining“. Dies scheint mir ebenfalls ein Punkt zu sein, der eine höhere Aufmerksamkeit verdient. Was wir derzeit im Wesentlichen haben, ist eine Vermittlung von rechtlichen Grundlagen in der Aus- und Fortbildung. In stärkerem Maße notwendig erscheinen mir aber explizite Trainings, die den übergreifenden ethischen Aspekt stärker betonen, also einen ethischen Überbau vermitteln und nicht nur die Kenntnis rechtlicher Regeln vermitteln.

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3. Funktion: Kontrolle (Control) Elemente: • Gesetzliches Rahmenwerk (effective legal framework)

• Aktive Zivilgesellschaft & Kritische Auseinandersetzung (public involvement & scrutiny)



• Kontrolle und Verantwortlichkeitsmechanismen (efficient accountability mechanisms)

Kommen wir zur letzten Funktion der Ethik-Infrastruktur der OECD, das Thema „Kontrolle“ mit den Elementen „gesetzliches Rahmenwerk“, „aktive Zivilgesellschaft“ (Public Involvement and Scrutiny) und der „Kontrolle“ respektive den „Verantwortlichkeitsmechanismen“. Zum gesetzlichen Rahmenwerk: Hierunter sind alle rechtlichen Regelungen zu verstehen, die sich auf Verhaltensstandards beziehen, strafrechtliche, beamtenrechtliche oder Gesetze zur Regelung von Interessenkonflikten, Geschenkannahmen und ähnlichem. Das Vorhandensein eines effektiven gesetzlichen Rahmenwerks in Deutschland wird, glaube ich, niemand ernsthaft bestreiten. Ich sehe jedenfalls hier keinen generellen Aufholbedarf; sicherlich im Einzelfall, aber nicht generell. Grundlagen einer „aktiven Bürgergesellschaft“ sind die Grundrechte und Grundfreiheiten einer offenen Gesellschaft, die wesentlich durch freie Me­ dien oder NGO’s wie Transparency International garantiert werden. Weitere Absicherungen haben wir auch durch Informationsfreiheitsgesetze, nicht ­zuletzt aber auch durch das Internet. Ich denke, hier in Deutschland ist in sehr umfangreichem Maße das, was erforderlich ist, vorhanden. Sogar zum Whistleblower-Schutz haben wir zumindest bereits einen Gesetzentwurf, der,  soweit ich das überblicken konnte, in erster Lesung bereits behandelt worden ist. Der dritte Punkt „Kontrolle und Verantwortlichkeitsmechanismen“ ist aus meiner Sicht das zentrale Element einer effektiven Ethik-Infrastruktur. Ich kann hier nur noch einmal Herrn Prof. Homann zitieren: „Ethik ohne Kontrolle ist schlicht nichts wert.“ Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt, sind Korruptionsdelikte sog. Kontrolldelikte, das gilt im übertragenen Sinne auch für den Bereich der nicht kriminellen Ethikverstöße. Auch hier haben wir eine sehr starke Tendenz, dass diese Verstöße nicht öffentlich gemacht ­werden, aus Angst um das Ansehen der Organisation, möglicherweise im Einzelfall auch aus Sorge, mitverantwortlich gemacht zu werden. Das ist aus  meiner Sicht ein ganz starkes Argument für eine sehr starke externe ­Kontrolle.



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Beispiele von Aufsichts- und Kontrollorganen •• Innenrevision •• Bürgerbeauftragter  /  Ombudsmann •• Rechnungsprüfungsämter •• Gemeindeprüfungsämter •• Ansprechpartner für Korruptionsprävention  /  Korruptionsbeauftragte •• Vertrauensanwalt •• Untersuchungsausschüsse •• Dienst- und Fachaufsichtsbehörden •• Rechnungshöfe Einige Beispiele von Aufsichts- oder Kontrollorganen sind hier aufgelistet. Eine zentrale Rolle unter den Aufsichts- und Kontrollorganen nehmen sicherlich die Rechnungshöfe ein, denn Rechnungshöfe haben mitunter den größten Einblick in der Tiefe und auch in der Breite und damit auch die meisten Möglichkeiten. Die Innenrevision, den ersten Punkt, möchte ich kurz anschneiden. Dies ist aus meiner Sicht ein Aspekt, dem mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Innenrevisionen haben wir in Bund und Ländern nur vereinzelt. Für Rheinland-Pfalz kenne ich eine Innenrevision nur aus der Steuerverwaltung, dort gibt es sie seit Jahrzehnten. Ansonsten fällt mir kein Beispiel ein. Im Bereich des Bundes ist es ähnlich, auch hier ist die Institution der Innenrevisionen nicht sonderlich verbreitet. Allerdings hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr eine Initiative zur Einrichtung von Innenrevisionen gestartet. In der Zollverwaltung etwa hat man im letzten Jahr auch schon damit angefangen, Innenrevisionen in den Hauptzollämtern und in den Mittelbehörden einzurichten. Das ist ein Punkt, wie gesagt, der meines Erachtens mehr Aufmerksamkeit verdient. XI. Rechnungshöfe: Möglichkeiten und Grenzen Was können Rechnungshöfe, was nicht? •• Rechnungshöfe können – durch ihre Prüfungstätigkeit und die Auswahl ihrer Prüfungsfelder zur Vermeidung von Interessenkonflikten, Korruption und anderem unethischen Verhalten beitragen, – Schwachstellen und unzureichende Prävention aufzeigen,

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– durch risikoorientierte Prüfungsplanung das „Entdeckungsrisiko“ er­ höhen, – Regierung und Parlament beraten usw. •• Rechnungshöfe können nicht – die Aufgaben einer allgemeinen „Ethik-Polizei“ übernehmen. Was können Rechnungshöfe? Was können Rechnungshöfe nicht? Rechnungshöfe können sicherlich durch die Prüfungstätigkeit, insbesondere die Auswahl der Prüfungsfelder zur Vermeidung von Korruption, von Interessenkonflikten und von unethischem Verhalten allgemein beitragen. Als Beispiel möchte ich aus jüngster Zeit eine Prüfung des Bundesrechnungshofs anführen. Der Bundesrechnungshof hatte die unentgeltliche Beschäftigung von Mitarbeitern von Pressure Groups in Ministerien geprüft. Nach dem, was ich der Presse entnehmen konnte, handelte es sich dabei um keine kleine Zahl von Mitarbeitern, sondern um rund 100 pro Jahr im Prüfungszeitraum 2004–2006. Der Bundesrechnungshof hat hier, denke ich, schon ein paar Dinge angestoßen, die man sich in Regierungskreisen noch mal sehr genau überlegen sollte. Als Prüfungsmaßstab hat der Bundesrechnungshof hier nicht den klassischen Prüfungsmaßstab „Wirtschaftlichkeit“ zugrunde gelegt. Denn dann hätte man festgestellt: „Feine Sache, die arbeiten umsonst. Wo gibt’s da ein Problem?“ Nein, der Bundesrechnungshof hat hier Fragen gestellt: Was sind die Auswirkungen auf die Neutralität, auf die Glaubwürdigkeit, auf die Transparenz des Handelns der öffentlichen Verwaltung? Prüfungsmaßstab war demnach auch die Frage nach der demokratischen Legitimation und der verfassungsmäßigen Bindung an Recht und Gesetz. Darüber hatte man sich scheinbar in der Bundesregierung nur wenig Gedanken gemacht. Was kann der Rechnungshof weiter? Er kann Schwachstellen aufzeigen und unzureichende Präventionen aufzeigen. Das tun die Rechnungshöfe auch. Beispielsweise hat sich der Rechnungshof des Landes Bremen mit Antikorruptionskonzepten des Landes Bremen befasst und Schwachstellen aufgezeigt. Rechnungshöfe können außerdem durch eine risikoorientierte Prüfungsplanung das Entdeckungsrisiko von Korruptionsfällen erhöhen. Sofern das gewünscht ist, können die Rechnungshöfe auch die Regierung und das Parlament beraten. Was Rechnungshöfe nicht können, das möchte ich auch ganz klar sagen: Sie können nicht die Aufgaben einer allgemeinen Ethikpolizei übernehmen. Das ist nicht die Aufgabe der Rechnungshöfe. Dafür sind sie nach den gesetzlichen Vorgaben nicht da und das sollten sie, denke ich, auch nicht tun. Diese Aufgabe steht anderen Institutionen zu. Dafür gibt es Vorgesetzte, Dis-



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ziplinarvorgesetzte, es gibt Aufsichtsbehörden und es gibt natürlich auch die obersten Aufsichtsbehörden in den Ministerien. Diese müssen dafür sorgen, dass die Erkenntnisse, die sie aufgrund der Feststellungen der Rechnungshöfe gewonnen haben, umgesetzt werden. XII. Gefahren des Übermaßes „Viel hilft viel“? – Gesetz des abnehmenden Grenznutzens Niveau ethischen Verhaltens Deutschland

USA

Russland Menge der Ethikmaßnahmen Aus: Nathalie Behnke, Ethik in Politik und Verwaltung, Baden-Baden 2004, S. 243.

Veränderung im Niveau ethischen Verhaltens in Abhängigkeit von der Menge der eingeführten Ethik-Maßnahmen

Vor dem Abschluss sei noch die provokante Frage erlaubt: Kann man es mit der Ethik auch übertreiben? Ich setze mal ein Fragezeichen daran. Beantworten möchte ich die Frage nicht, jedoch noch ein paar Bemerkungen dazu machen: Je mehr Ethikregeln das Verhalten regulieren, das ist eine platte Weisheit, umso häufiger werden natürlich auch die Regeln übertreten. Transparenz führt auch dazu, dass Handlungen, die durchaus zu rechtfertigen sind, in der Öffentlichkeit problematisiert werden, weil es sich um ein schönes Skandälchen handeln könnte oder weil man es jedenfalls in die Nähe rücken kann. Durch eine höhere Sensibilität in der Öffentlichkeit steigt natürlich auch die Erwartungshaltung in der Öffentlichkeit und natürlich steigt dann auch das Maß der möglichen Enttäuschung, das muss man auch sehen. Und es steigt letztlich die Gefahr, dass das Bemühen um ethische Standards vom Sinn entkoppelt wird und zu bloßer Symbolpolitik verkümmert. Diese Situation haben wir, denke ich, in den USA. Wie Sie auf dem abgebildeten Diagramm sehen, haben die USA schon den Bereich des abnehmen-

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den Grenznutzens erreicht, Russland hat sicherlich noch einiges vor sich, da kann man so schnell nicht zu wenig machen. Deutschland liegt auf einem guten Platz, nähert sich aber auch dem Gipfel. XIII. Fazit Gemessen an der Ethik-Infrastruktur der OECD und auch im Vergleich zu anderen europäischen Staaten haben wir, denke ich, in Deutschland anständige Standards. Wir haben aber auch einen Weiterentwicklungsbedarf, der sich aus meiner Sicht auf folgende Themen konzentrieren sollte: Das ist einmal das Thema „Political Commitment“, und zwar nicht erst dann und nicht nur dann, wenn wieder einmal ein Skandal hoch kocht. Es ist zweitens eine Verstärkung des Aspekts der Kontrolle, wobei vor allem die Notwendigkeit einer konsequenten Umsetzung von Erkenntnissen eine Rolle spielt. Der dritte Punkt sind Ethikkodizes. Ich spreche mich ausdrücklich dafür aus, da ich, wie bereits gesagt, nicht sehe, dass wir noch einen allgemeinen Comment haben über das, was richtig ist. Der vierte Punkt betrifft eine stärkere Betonung des ethischen Überbaus im Bereich der Aus- und Fortbildung. Abschließend kann ich zurückkommen auf den Untertitel des Vortrags und sagen, dass das alte russische Sprichwort immer noch Gültigkeit hat oder mit den Worten von Prof. Homann schließen: „Ethik ist gut, aber Ethik ohne Kontrolle ist nichts wert.“

Verwaltungsmodernisierung und neue Integritätsanforderungen im öffentlichen Dienst Von Johann Hahlen I. Einleitung Von Otto von Bismarck ist der Ausspruch überliefert: „Mit schlechten Gesetzen und guten Beamten kann man durchaus regieren, aber nicht mit guten Gesetzen und schlechten Beamten.“ Diese Aussage des Reichskanzlers passt sehr gut zu meinen Erfahrungen aus rund 35 Jahren in der Bundesverwaltung. Ich möchte sie deshalb meinen Ausführungen, die sich im Wesentlichen auf die Bundesverwaltung beschränken, voranstellen. Die gestrigen Vorträge über Selbstbedienung in der Politik, Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft sowie die Dopingseuche im Sport könnten bei den Tagungsteilnehmern den Eindruck erwecken, wir lebten in Deutschland in einer „Bananenrepublik“. Ich bin entschieden anderer Auffassung. Der leider viel zu früh, 2003 verstorbene Kölner Soziologe Erwin Scheuch, der bekanntlich zu den schärfsten Kritikern von Polit-Klüngel und Ämterpatronage gehörte, hat das im Jahr 2000 so auf den Punkt gebracht: In der Kölner Justizvollzugsanstalt „Klingelpütz“ hatten Häftlinge Aufseher mit Geld zur Lieferung von Heroin verleitet. Ein schlimmer Fall von Bestechlichkeit. Aber die Häftlinge brauchten die Wächter nicht zu bestechen, damit sie ihr Essen bekamen, was in vielen Ländern, eben in Bananenrepubliken, der Fall ist.1 II. Zum Ausmaß von Korruption Nun mag diese Bemerkung von Professor Scheuch nur ein schwacher Trost sein. Deshalb halte ich einige objektive Angaben zu dem angeblichen „Sumpf“ in der deutschen Verwaltung für erforderlich: Der „Zweite Periodische Sicherheitsbericht“2 gibt einen aktuellen und umfassenden Überblick zur Korruption in der öffentlichen Verwaltung und in 1  E. Scheuch in „Unerträglich aber unvermeidlich? Korruption in der öffentlichen Verwaltung und Strategien zu ihrer Bekämpfung“ Fachtagung der dbb akademie am 15.11.2000 in Köln, S. 92. 2  Von BMI und BMJ vom November 2006 S.  246 bis 264, abrufbar unter www. bmi.bund.de.

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der Wirtschaft: Nach den Erkenntnissen der Strafverfolgungsbehörden könne – trotz Verbreitung der Korruption in manchen Teilen von Wirtschaft und Verwaltung – nicht gesagt werden, in Deutschland bestehe eine korrupte Gesellschaft3. Allerdings seien belastbare Aussagen zum Dunkelfeld in Deutschland nicht möglich4. Nach dem jährlichen Ranking der Anti-Korruptions-Organisation „Transparency International“ für 2008 belegt Deutschland unter 180 Staaten den 14. Platz und hat sich damit gegenüber dem Ende der 90er Jahre um 3 Plätze verbessert5. Das vom BKA im September 2008 herausgegebene „Bundeslagebild 2007“ zur Korruption berichtet von rd. 1600 Ermittlungsverfahren mit gut 2300 Verdächtigen und ca. 9500 Korruptionsstraftaten, von denen ca. 80 % die öffentliche Verwaltung betreffen, verweist aber zugleich auf ein beträchtliches Dunkelfeld im geschäftlichen Verkehr. Diese Größenordnungen entsprechen ungefähr den Zahlen aus den beiden Vorjahren. Tendenziell sei mit steigenden Fallzahlen zu rechnen, weil seit dem 1. Januar 2008 zur Verfolgung von schweren Korruptionsstraftaten (§§ 300 Satz 2, 332 und 334 StGB) auch eine Überwachung der Telekommunikation (§ 100a StPO) möglich sei. 2007 wurden – nach einer internen Statistik des BMI6 – knapp 1100 Disziplinarverfahren gegen Bundesbeamte – bei rd. 400000 unmittelbaren und mittelbaren Bundesbeamten einschließlich Bahn- und Postnachfolgeunternehmen, aber ohne Soldaten – abgeschlossen. Dabei wurden 674 Disziplinarmaßnahmen (ohne Missbilligungen) verhängt, darunter 116 Kürzungen der Dienstbezüge, 27 Entfernungen aus dem Beamtenverhältnis und 6 Aberkennungen des Ruhegehalts. Den Entfernungen aus dem Beamtenverhältnis lagen keine Korruptionstatbestände zu Grunde; 2007 wurden 9 solcher Pflichtverletzungen disziplinarisch verfolgt und dann 5 davon eingestellt7. Von den Strafverfolgungsbehörden wurden 2007 wegen Korruption – bei knapp 290.000 Bediensteten, d. h. Beamten und Tarifbeschäftigten, ohne Soldaten und mittelbare Bundesverwaltung – 52 Ermittlungsverfahren gegen Bundesbedienstete eingeleitet, die im Zusammenhang mit Korruptionsdelikten im engeren Sinne standen, aber auch typische Begleitdelikte, wie z. B. Betrug und Untreue, betrafen. Davon wurden 15 Verfahren mangels hinreichendem Tatverdacht oder wegen Geringfügigkeit eingestellt. Von den ver3  A. a. O.

S. 250. S. 249. 5  FAZ vom 24.9.2008. 6  Die „Servicestelle für Disziplinarrecht“ im BMI erstellt seit 2002 jeweils eine Jahresstatistik über abgeschlossene Disziplinarverfahren. 7  Auskunft des Fachreferats im BMI D 2 vom Oktober 2008. 4  A. a. O.



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bleibenden Verfahren entfielen die meisten – 19 – auf den Geschäftsbereich des BMVBS und den Bundesfernstraßenbau8. Einige – gewiss nicht repräsentative – persönliche Erfahrungen möchte ich hinzufügen: Mein Vater war Beamter und hat als Geodät bei Flurbereinigungen viele Wege- und Wasserbauten veranlasst. So wurden vor Weihnachten mitunter kleine Holzkistchen mit Wein an der Wohnungstür abgegeben, die aber zum Leidwesen meiner Mutter – so empfand ich das als kleiner Junge – immer abgewiesen wurden. In meinem Berufsleben wurde ich so nie in Versuchung geführt. Aber die Einladungen einer großen Softwarefirma zu den jährlichen Reitturnieren in Wiesbaden habe ich immer dankend abgelehnt. Dass man – auch beamteten und allseits hochgeschätzten – Kollegen nicht ins Herz sehen kann, musste ich mehrfach erfahren: So habe ich im Laufe der Zeit mit vier Kollegen des höheren Dienstes zusammengearbeitet, die noch vor 1989 bzw. nach der Wiedervereinigung als langjährige Spione der DDR enttarnt wurden. 1990, ich war Leiter des Haushaltsreferates im BMI, erlebte ich folgendes: Der Botschafter Tunesiens fragte im Auswärtigen Amt an, wohin er die zweite Kaufpreisrate für ein – seinem Land aus Beständen der DDR überlassenes – Schnellboot überweisen solle. Dort war man überrascht. Denn Deutschland verschenkte diese Boote an interessierte Staaten. Was war geschehen? Der für Haushaltsbelange des damaligen BGS-See zuständige Polizeihauptkommissar – ein bis dahin über jeden Verdacht erhabener langjähriger Kollege – hatte aus dem Geschenk einen Verkauf gemacht und die Zahlungen auf eigene Konten geleitet. Nach allem kommen Korruptionsvergehen in der Bundesverwaltung durchaus vor, von einem „Sumpf“ oder ähnlichem sollte aber niemand sprechen. Aus diesen Tatbeständen und meinen ganz subjektiven Erfahrungen ziehe ich vor allem vier Schlussfolgerungen: •• Sauberkeit und Integrität bei der Arbeit im öffentlichen Dienst und insbesondere als Beamter fängt im Kleinen an. Auch die zwei Weinflaschen des Bauunternehmers sind zwei zu viel, denn das sog. Anfüttern beginnt meist ganz harmlos, bis sich der Bedienstete verstrickt hat. •• Im Laufe ihres Berufslebens werden sehr viele Kolleginnen und Kollegen mit mehr oder weniger deutlichen Versuchen der Korrumpierung konfrontiert9. 8  Jahresbericht 2007 des BMI „Korruptionsbekämpfung in der Bundesverwaltung“, S.  5, der im Sommer 2008 dem Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages zugeleitet wurde; eine Veröffentlichung ist nicht vorgesehen. 9  Vgl. auch die Studie von DBV-Winterthur und FAZ-Institut „Dossier Öffentlicher Dienst“ vom August 2006, S. 23: Bei der dafür von forsa durchgeführten repräsentativen Erhebung unter Bürgern und Beschäftigten im öffentlichen Dienst verwies fast

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•• Das Ansehen im Kollegenkreis und die äußere Rechtschaffenheit sind keine Garantie für tatsächliche Integrität. Das heißt nicht, ständig und jedem zu misstrauen. Ohne Vertrauen funktioniert keine vernünftige Zusammenarbeit. Aber die verschiedenen Maßnahmen zur Korruptionsprävention, auf die ich noch eingehen werde, wie z. B. Personalrotation auf besonders korruptionsgefährdeten Arbeitsplätzen, sind sinnvoll und müssen praktiziert werden. •• Der öffentliche Dienst und die Bundesverwaltung sind keine „Inseln der Seligen“, auf denen nur ethische Lichtgestalten ihrer Ämter walteten. Aber Korruption im strafrechtlichen Sinn sowie in dem weiten Verständnis von Transparency International10 sind seltene, aber um so schlimmere „Sündenfälle“, die eine energische Gegenstrategie erfordern, zumal immer wieder einzelne Korruptionsfälle zur Aufdeckung von langjährigen korrupten Netzwerken mit vielen Beteiligten in Verwaltung und Wirtschaft führen. Beispiele aus der letzten Zeit, wie z. B. gekaufte und gefälschte Einreiseerlaubnisse nach Deutschland oder mehrere tausend gekaufte Führerscheinprüfungen in Berlin, mahnen zur Wachsamkeit. III. Was zeichnet den integren Bediensteten, insbesondere den integren Beamten aus? Mitunter wird in letzter Zeit – nach dem Vorbild von Ethikregeln für den öffentlichen Bereich in den USA und in Großbritannien11 und auf Grund von Empfehlungen der OECD von 199812 – die Notwendigkeit einer Ethik des öffentlichen Dienstes beschworen13. Meines Erachtens braucht es in Deutschland keine solchen „Klimmzüge“. Ein Blick in das durch das Dienstrechtsneuordnungsgesetz (DNeuG)14 neu jeder zweite Bedienstete auf Korruptionsversuche, die er bei seiner Arbeit direkt oder mittelbar erlebt. 10  Korruption „als Missbrauch anvertrauter, insbesondere öffentlicher Macht“ zu persönlichen Zwecken, so z. B. der damalige Vorsitzende von Transparency Interna­ tional-Deutschland, Dr. Hansjörg Elshorst, auf der Fachtagung der dbb akademie „Korruption in der öffentlichen Verwaltung – Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung in der Praxis“ am 16.2.2005 in Köln, S. 6, 8. 11  Vgl. die „Standards in Public Life“ des Lord-Nolan-Committee von 1994 und den „Code of Ethics“ der American Society for Public Administration von 1984 / 1994, abgedruckt bei Sommermann, Brauchen wir eine Ethik des öffentlichen Dienstes?, VerwArchiv 1998 S. 290, 294, 303 f. 12  Vgl. die Nachweise bei Landau / Steinkühler, Zur Zukunft des Berufsbeamtentums in Deutschland, DVBl. 2007 S. 133, 138 Fn. 66 und 67. 13  So insbesondere Sommermann, a. a. O. S. 290 ff. 14  Vom 5.2.2009 BGBl. I S. 160, dessen Art. 1 das BBG neu gefasst hat.



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gefasste Bundesbeamtengesetz (BBG) sowie eine Rückbesinnung auf das Amtsethos15 reichen vollauf: Nach § 60 Abs. 1 (bislang § 52) BBG dient der Beamte dem ganzen Volke, nicht einer Partei. Er hat sich mit vollem persönlichem Einsatz seinem Beruf zu widmen und sein Amt uneigennützig nach bestem Wissen wahrzunehmen. Sein Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes muss der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden, die sein Beruf erfordert (§ 61 Abs. 1 – bislang § 54 – BBG). Der Beamte steht eben nach Art. 33 Abs. 4 GG in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis zu seinem Dienstherrn, er übt keinen „Job“, sondern ein öffentliches Amt aus. Das erfordert eine besondere Berufsgesinnung, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Radikalen-Erlass-Entscheidung16 vom 22. Mai 1975 wie folgt beschrieben hat: „Der moderne ‚Verwaltungsstaat‘ mit seinen ebenso vielfältigen wie komplizierten Aufgaben, von deren sachgerechter, effizienter, pünktlicher Erfüllung das Funktionieren des gesellschaftspolitischen Systems und die Möglichkeit eines menschenwürdigen Lebens der Gruppen, Minderheiten und jedes Einzelnen Tag für Tag abhängt, ist auf einen intakten, loyalen, pflichttreuen, dem Staat und seiner verfassungsmäßigen Ordnung innerlich verbundenen Beamtenkörper angewiesen. Ist auf die Beamtenschaft kein Verlass mehr, so sind die Gesellschaft und ihr Staat in kritischen Situationen verloren.“

Erst vor kurzem hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der Vergabe von Führungsämtern auf Zeit in Nordrhein-Westfalen17 zu dem vom Grundgesetz gewollten Amtsverständnis des Beamten hervorgehoben: Das Grundgesetz garantiere das Berufsbeamtentum als Einrichtung, weil dieses – gegründet auf Sachwissen, fachlicher Leistung und loyaler Pflichterfüllung – eine stabile Verwaltung sichern und damit einen ausgleichenden Faktor gegenüber den das Staatswesen gestaltenden politischen Kräften bilden solle. Die Einrichtungsgarantie des Berufsbeamtentums trage gleichzeitig der Tatsache Rechnung, dass im demokratischen Staatswesen Herrschaft stets nur auf Zeit vergeben wird und die Verwaltung schon im Hinblick auf die wechselnde politische Ausrichtung der jeweiligen Staatsführung – an rechtsstaatlichen Prinzipien ausgerichtet – neutral sein müsse. 15  Dazu insbesondere Vogelgesang, Ethos des Berufsbeamtentums in der Gegenwart, ZBR 1997 S.  33 ff. sowie Landau / Steinkühler a. a. O. S.  133, 138 und Battis, Hergebrachte Grundsätze versus Ökonomismus: Das deutsche Beamtenrecht in der Modernisierungsfalle? DÖV 2001 S. 309, 313 f. 16  BVerfGE 39 S. 334, 347. 17  BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 28. Mai 2008 – 2 BvL 11 / 07  –, BVerfGE 121 S. 205, 219 ff.

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Zu den vom Grundgesetz in Art. 33 Abs. 5 gewährleisteten hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gehöre das Lebenszeitprinzip, das – im Zusammenspiel mit dem die amtsangemessene Besoldung sichernden Alimentationsprinzip – die Unabhängigkeit der Beamten im Interesse einer rechtsstaatlichen Verwaltung gewährleiste. Nur wenn die innere und äußere Unabhängigkeit gewährleistet sei, könne realistischerweise erwartet werden, dass ein Beamter auch dann auf rechtsstaatlicher Amtsführung beharrt, wenn sie (partei-)politisch unerwünscht sein sollte. Auf Grund dieser rechtlichen Absicherung könne von den Beamten erwartet werden, dass sie Versuchen unsachlicher Beeinflussung widerstehen, ihrer Pflicht zur Beratung ihrer Vorgesetzten und der politischen Führung unbefangen nachkommen und gegebenenfalls auch ihrer Pflicht zur Gegenvorstellung, wenn sie Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit von Gesetzen oder dienstlichen Anordnungen haben, genügen18. Der Beamte muss eben seine Entscheidungen immer am Gemeinwohl ­ rientieren, nicht an individuellen Interessen oder dem in der Wirtschaft heuo te so hoch gehaltenen shareholder value. Die Beamten müssen durch Ausgestaltung ihres rechtlichen Status immun gegenüber Einflussnahmen Dritter gemacht werden. Auch deshalb müssen die Dienstherren ihren Beamten ein Einkommen verschaffen, welches einen angemessenen Lebensstandard gewährleistet und sie dadurch für Korruption weniger anfällig macht19. Die Erfüllung der Beamtenpflichten und das Amtsethos des Beamten werden durch das Disziplinarrecht abgesichert. Disziplinarrechtlich wiegen Dienstvergehen von Beamten durch Bestechlichkeit, Vorteilsannahme oder Annahme verbotener Geschenke schwer. Wie das Bundesverwaltungsgericht – als letzte Instanz in Disziplinarsachen – in ständiger Rechtsprechung20 betont, ist die selbstlose, uneigennützige, auf keinen Vorteil bedachte Führung der Dienstgeschäfte eine der wesentlichen Grundlagen des Berufsbeamtentums. Das Vertrauen in die Integrität des Berufsbeamtentums trage entscheidend zur Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens bei. Ein Beamter, der in Bezug auf sein Amt Belohnungen oder Geschenke annehme, setze das Ansehen der Beamtenschaft herab und gefährde das Vertrauen seiner Behörde und der Allgemeinheit in seine Zuverlässigkeit. Er erwecke so zugleich den Verdacht, für Amtshandlungen allgemein käuflich zu sein und sich bei seinen Dienstgeschäften nicht an sachlichen Erwägungen zu orientieren, sondern sich von der Rücksicht auf den ihm zugesagten, gewährten oder geforderten Vorteil leiten zu lassen. Einen solchen Eindruck erwecke ein Beamter auch dann, 18  BVerfGE

121 S. 205, 221 f. diesen Anforderungen im Einzelnen vgl. Landau / Steinkühler a. a. O. S. 136 ff. 20  Z. B. BVerwG 1. Disziplinarsenat, Urteil vom 20.2.2002, 1 D 19 / 01. 19  Zu



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wenn er hierfür nicht pflichtwidrig handele21. Dies könne im Interesse einer geordneten und sachlich orientierten Verwaltung und im Interesse des allgemeinen Vertrauens in ein rechtsstaatliches Handeln der Verwaltung nicht hingenommen werden22. Bei Verstößen gegen §§ 71 Abs.  1, 61 Abs.  1 – bislang §§ 70, 54 – BBG handele es sich seit jeher grundsätzlich um sehr schwerwiegende Pflichtverletzungen23. Die Verhängung der Höchstmaßnahme – also die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis oder bei Ruhestandsbeamten die Aberkennung des Ruhegehalts – ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts24 in der Regel dann geboten, wenn der Beamte die ihm als Äquivalent des angebotenen, geforderten oder gewährten Vorteils angesonnene pflichtwidrige Amtshandlung tatsächlich vorgenommen hat, oder wenn er bares Geld angenommen und sogar gefordert hat. Nur bei durchgreifenden Milderungsgründen – ein bis dahin unbescholtener, langjähriger Postamtsvorsteher hatte Firmenkunden zu wertvollen Geschenken für die jährliche, von der Dienstaufsicht nichtbeanstandete Weihnachtstombola seiner Belegschaft aufgefordert – kommen mildere Disziplinarmaßnahmen (z. B. Zurückstufung oder Gehaltskürzung) in Betracht25. Das Bundesverfassungsgericht hat die Notwendigkeit rigoroser Ahndung von Bestechlichkeit bei Beamten so zusammengefasst: „Lässt sich ein Beamter bestechen, dann bewirkt er damit regelmäßig eine außer­ ordentlich schwere Ansehens- und Vertrauenseinbuße, und zwar unabhängig davon, in welcher Höhe und in welcher Art ihm Bestechungsvorteile zugeflossen sind. Bestechliche Beamte sind daher regelmäßig untragbar“26.

Den integren Beamten, so wie ihn das Grundgesetz in Art. 33 Abs. 4 in einem öffentlichrechtlichen Dienst- und Treueverhältnis sieht und er Garant für die von Art.  20 Abs.  3 GG gewollte Rechtsstaatlichkeit ist, zeichnen also Fach- und Sachkunde, Rechtstreue, Gerechtigkeit, Objektivität, parteipolitische Neutralität, Unbestechlichkeit und Orientierung am Gemeinwohl aus.

21  BVerwG

1. Disziplinarsenat, Urteil vom 23.11.2006, 1 D 1 / 06. 113 S. 4, 5. 23  BVerwG vom 23.11.2006, a. a. O. 24  Vgl. BVerwG vom 20.2.2002, a. a. O. 25  BVerwG 1. Disziplinarsenat, Urteil vom 24.1.1996, 1 D 38 / 95. 26  BVerfG 1. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 19.2.2003, 2 BvR 1413 / 01. 22  BVerwGE

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IV. Gefährdungen für die Integrität des öffentlichen Dienstes Derzeit werden Gefährdungen für die Integrität des öffentlichen Dienstes und seiner Beschäftigten vor allem aus drei Richtungen gesehen: •• Durch zunehmende Parteipolitisierung der Verwaltung und Ämterpatronage27, •• bei der Modernisierung der Verwaltungen durch deren Ökonomisierung28 •• durch die eingangs erörterte Korruption. Im Folgenden möchte ich untersuchen, ob und wie sich diese Thesen in der Wirklichkeit der Bundesverwaltung darstellen und wie – wenn nötig – reagiert wird bzw. werden sollte. 1. Parteipolitisierung Die Parteipolitisierung ist – jedenfalls in der Bundesverwaltung – keine nur „gefühlte“ Gefährdung, sondern durchaus real, wie empirische Untersuchungen belegen29. So ist der Anteil der nicht einer politischen Partei angehörenden Staatssekretäre und Abteilungsleiter in den obersten Bundesbehörden (im Wesentlichen die Bundesministerien) von 72 % im Jahr 1970 auf 40 % im Jahr 1995 zurückgegangen30. Beim Regierungswechsel 1969 – von der großen Koalition zur sozial-liberalen Koalition – wurden in der Bundesregierung von den Staatssekretären und Abteilungsleitern nur 33 % ausgetauscht. Beim Regierungswechsel 1998 – von der schwarz-gelben zur rotgrünen Koalition – wurden gut die Hälfte (52 %) dieser sog. politischen Beamten31 ausgetauscht32. 27  Vgl. z. B. Derlien, Öffentlicher Dienst im Wandel, DÖV 2001 S.  322, 325 ff., Pechstein, Wie können die Länder ihre neuen beamtenrechtlichen Kompetenzen nutzen? ZBR 2006 S. 285 und Landau / Steinkühler a. a. O. S. 140. 28  Vgl. dazu insbesondere Czerwick, Die Reform des öffentlichen Dienstrechts: Ökonomisierung durch Politisierung, ZBR 2005 S.  24 ff., Derlien, a. a. O. S.  326 f., Battis a. a. O. S. 311 ff. und von Maravic, Public Management Reform und Korruption – Unbeabsichtigte Folgen, VerwArchiv 2006 S. 89 ff. 29  Vgl. etwa Derlien, Wer macht in Bonn Karriere? DÖV 1990 S. 311 ff. sowie die verschiedenen sog. Elitestudien für die Politik und Verwaltung in Deutschland; dazu die Übersicht bei Schwanke / Ebinger, Politisierung und Rollenverständnis der deutschen administrativen Elite 1970 bis 2005 – Wandel trotz Kontinuität, PolVierteljahresschrift, Sonderheft 37, 2006, S. 227, 230. 30  Derlien, Öffentlicher Dienst im Wandel, DÖV 2001 S. 322, 325 m. w. N. 31  Eine umfassende Beschreibung dieser in § 36 BBG vorgesehenen Beamten an der Schnittstelle zwischen Politik und Administration gibt Kugele, Die politischen Beamten in der Bundesrepublik Deutschland, ZBR 2007 S. 109 ff. 32  Derlien, Der öffentliche Dienst im Wandel, a. a. O. S. 325.



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Die jüngste, auf Erhebungen kurz vor der Bundestagswahl 2005 beruhende Potsdamer Elitestudie33 enthält eine Reihe recht interessanter Befunde zu den Spitzenbeamten (Staatssekretären, Abteilungsleitern und Unterabteilungsleitern) in der bundesdeutschen Ministerialverwaltung, wenn auch die Rücklaufquoten von 35 % bei den Staatssekretären und von 28 % bei den Unterabteilungsleitern – angesichts der jeweils doch recht überschaubaren Grundgesamtheiten – auf Unschärfen bei den Ergebnissen hinweisen: So wird bei der sog. formalen Politisierung eine Stagnation auf hohem Niveau festgestellt, während die Wahrnehmung dieser Parteipolitisierung durch die Spitzenbeamten sehr viel schwächer geworden ist. Insbesondere die SPD hat in einer verhältnismäßig kurzen Zeit nach 1998 eine Besetzung der politischen Beamtenstellen (Staatssekretäre, Abteilungsleiter) mit ihren Parteimitgliedern durchgesetzt, die jener der Ära Kohl entsprach. Die Spitzenbeamten sehen sich selbst in erster Linie als Experten mit Fachwissen, Umsetzer politischer Vorgaben und Repräsentanten des Staates. Zugleich schätzen sie die politische Seite ihrer Arbeit zu über 90 % als positiv ein und geben zu 65 % an, bei ihren Entscheidungen einen Kompromiss zwischen fachlichen und politischen Notwendigkeiten mit Vorrang der fachlichen Argumente zu suchen. Einen starken Wandel hat es zwischen 1987 und 2005 beim Loyalitätsverständnis der Spitzenbeamten gegeben: 1987 lehnten es noch 80 % der Befragten kategorisch ab, eine inhaltliche Politik auch gegen den Willen einer neuen Regierung fortzuführen; 2005 waren es nur noch 16 %. Die Autoren der Studie interpretieren dies als starke Identifikation der Spitzenbeamten mit ihrer etablierten Ressortpolitik und vermuten, dass die Akteure zu einem größeren Teil nicht mehr bereit seien, den mit einem Regierungswechsel verbundenen Wandel in Ideologien und politischen Programmen bedingungslos hinzunehmen. In diesem Sinne nehme das Leitungspersonal heute viel bewusster eine politische Rolle wahr als ihre Vorgängerkohorten34. Auf Grund meiner – zugegebenermaßen beschränkten und subjektiven – Beobachtungen zu dem nach dem Regierungswechsel 1998 ausgetauschten Spitzenpersonal neige ich zu einer weniger positiven Interpretation der veränderten Loyalitäten: Könnte es nicht sein, dass die Tendenzen zum Festhalten an bisheriger Ressortpolitik und zur Loyalitätsverweigerung gegenüber einer neuen Regierung auf eine gegenüber früher sehr viel stärkeren politischen Identifizierung mit der bislang regierenden politischen Partei, der man angehört und die in die Leitungsfunktion berufen hat, zurückzuführen sind? Dem würde umgekehrt der bei mir mitunter entstandene Eindruck entsprechen, dass manche Politiker nicht mehr an die unserem Ge33  Schwanke / Ebinger

a. a. O. die Darstellung dieser Ergebnisse bei Schwanke / Ebinger a. a. O. S.  237, 240, 242, 246, 247. 34  Vgl.

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meinwesen geschuldete und von den allermeisten – unbeschadet einer etwaigen Parteimitgliedschaft – hochgehaltene Loyalität und Gemeinwohlorientierung ihrer Beamten glauben. Solche Entwicklungen wären jedenfalls für das Berufsbeamtentum und dessen Integrität verheerend. Vor diesem Hintergrund besitzen Maßnahmen zur Wahrung der parteipolitischen Neutralität der Beamtenschaft sowie zur Prävention von Ämterpatronage gesteigerte Bedeutung. Diese haben am Leistungsprinzip (Art. 33 Abs. 2 und 5 GG), am Lebenszeitprinzip und am Gebot amtsangemessener Alimentation anzusetzen, die zu den hergebrachten und wesensprägenden Strukturprinzipien des Berufsbeamtentums gehören. Solche „Leitplanken“ sind – erfreulicherweise – in letzter Zeit wieder zu beobachten, nachdem in den Jahren 1997 bis 2005 allzu einseitig nur das hohe Lied der Modernisierung und Flexibilisierung des Dienstrechts35 ohne Rücksicht auf damit möglicherweise einhergehende Gefährdungen der Integrität der Verwaltung gesungen wurde. Die 1997 durch das Dienstrechtsreformgesetz36 mit dem neuen § 12b BRRG eingeführte Möglichkeit der Übertragung von Führungsämtern auf Zeit ist jetzt vom Bundesverfassungsgericht37 wegen nicht gerechtfertigter Durchbrechung des Lebenszeitprinzips als verfassungswidrig verworfen worden. Das Lebenszeitprinzip habe, im Zusammenspiel mit der amtsangemessenen Besoldung, die Funktion, die Unabhängigkeit der Beamten im Interesse einer rechtsstaatlichen Verwaltung zu gewährleisten. Wenn ein Beamter in seinem Führungsamt 10 Jahre lang keine gesicherte Rechtsstellung habe, fehle ihm die rechtliche Sicherheit für die für seine Amtsführung erforderliche Unabhängigkeit. Ich gestehe, dass ich auf Grund meiner Erfahrungen als Leiter einer großen Bundesoberbehörde zu den Befürwortern der zeitlich befristeten Übertragung von Führungsämtern gehört habe, weil ich mir davon gerade bei langjährigem Führungspersonal einen beständigen Anreiz, das Beste zu geben, und einen Schutz vor Gleichgültigkeit und „Laufen-Lassen“ ver35  So die „Leitlinien zur Weiterentwicklung des öffentlichen Dienstrechts“ der Länder vom 1.10.2003, das Eckpunktepapier „Neue Wege im öffentlichen Dienst“ vom 4.10.2004 von Bundesinnenminister Schily, dem Vorsitzenden von ver.di Bsirske und dem Bundesvorsitzenden des dbb beamtenbund und tarifunion Heesen, sowie der Entwurf der Bundesregierung für ein Gesetz zur Reform der Strukturen des öffent­ lichen Dienstrechts vom 15.6.2005 (BR-Drs. 615 / 05); vgl. dazu die Übersicht mit Fundstellen bei Lorse, Personalentwicklung im Abseits aktueller dienstrechtlicher Reformüberlegungen, ZBR 2008 S. 145 ff. 36  Vom 24.2.1997 BGBl. I S. 322. 37  Mit Beschluss vom 28.5.2008 (2 BvL 11 / 07) = BVerfGE 121 S. 205, 219 ff. auf Vorlagebeschluss des BVerwG vom 27.9.2007, ebenso Bayer.VerfGH vom 26.10.2004, ZBR 2005 S. 32 ff., vgl. auch BVerfGE 70 S. 251, 268 und Isensee, Affekt gegen Institutionen – Überlebt das Berufsbeamtentum? ZBR 1998 S. 295, 309.



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sprochen habe. Denn gegenüber beamtetem Führungspersonal, das seine innere Kündigung lebt, bleibt das Disziplinarrecht stumpf. Ich habe einmal als Behördenleiter gegen einen intelligenten, aber faulen Regierungsdirektor ein Disziplinarverfahren angestrengt. Mehr als ein Verweis und ein bis zu seiner Pensionierung für das Amt im Wesentlichen unbrauchbarer Beamter sind dabei nicht herausgekommen. Ich räume aber ein, dass Führungsämter auf Zeit, von denen der Bund nie Gebrauch gemacht hat, einer stärkeren Politisierung der Verwaltung Vorschub leisten und zu Ämterpatronage missbraucht werden können, wenn sie nicht an einen – durchaus messbaren – Leistungsabfall gekoppelt werden. Demgegenüber dürfte die ebenfalls 1997 eingeführte obligatorische Probezeit von bis zu zwei Jahren bei der Vergabe von Führungsämtern ab B 6 jetzt außer Streit sein, weil das Bundesverfassungsgericht – bei zeitlicher Begrenzung und verwaltungsgerichtlich überprüfbarem Anspruch auf Lebenszeiternennung – keinen Verstoß gegen das Lebenszeit-Prinzip sieht38. Ich halte die Vergabe von Führungsämtern auf Probe, auch wenn in der Bundesverwaltung bislang nur in sehr wenigen Fällen nach der Probezeit die Übertragung des Führungsamtes versagt wurde39, für ausgesprochen hilfreich. Denn auch nach einer sehr ernsthaften Bestenauslese zeigt erst die Verwaltungspraxis, ob der ausgewählte Beamte der Führungsfunktion gewachsen ist. So war es – um bei meiner Person zu bleiben – 1995 vom damaligen Bundesinnenminister in gewisser Weise „gewagt“, ohne Korrekturmöglichkeit einen Ministerialdirigenten, der bis dahin nur Verantwortung für 40 Mitarbeiter zu tragen hatte, zum Behördenleiter von rd. 3300 Mitarbeitern zu machen. Während der Entwurf der Bundesregierung für ein DNeuG40 für die Bundesverwaltung die Führungsfunktionen auf Probe auf weitere Ämter (einschließlich A 16 aufwärts) und zeitlich auf drei Jahre ausdehnen wollte, ist es nach den Beratungen im Innenausschuss des Deutschen Bundestages41 bei der bisherigen Rechtslage geblieben. Den im Beamtenrecht seit jeher vorgesehenen beiden Ausnahmen vom Lebenszeitprinzip, nämlich den kommunalen Wahlbeamten auf Zeit und den jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzbaren „politischen Beamten“, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner jüngsten Entscheidung42 zur Wahrung von Unabhängigkeit und Neutralität der Beamtenschaft inhaltlich 38  BVerfG

Beschluss vom 28.5.2008 BVerfGE 121 S. 205, 228. die Angaben bei Czerwick a. a. O. S. 28. 40  Vom 17. Oktober 2007 BT-Drucks. 16 / 7076. 41  Vgl. dessen Bericht und Beschlussempfehlung vom 12.11.2008 BT-Drs. 16 / 10850 zu Art.  1 mit den §§ 24, 35 BBG, jetzt DNeuG vom 5.2.2009 (BGBl I S. 160) Art. 1 mit der Neufassung des BBG. 42  BVerfG Beschluss vom 28.5.2008 BVerfGE 121 S. 205, 223. 39  Vgl.

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enge Grenzen gesetzt. Dem Gesetzgeber ist es danach versagt, das Institut des politischen Beamten beliebig auszudehnen, vielmehr muss es auf sog. Transformationsämter, d. h. den engsten Kreis unmittelbarer Berater der Träger politischer Ämter, beschränkt bleiben. In der Reformdiskussion zum Dienstrecht wird – nach meinen Erfahrungen zu Recht – eine größere „Durchlässigkeit“ der Verwaltung gefordert. Der Wechsel zwischen einer Tätigkeit in der Wirtschaft und in der öffentlichen Verwaltung sollte erleichtert werden. Sog. Seiteneinsteiger, zumal mit Berufserfahrung auf Gebieten, in denen die Verwaltung noch wenige Fachkenntnisse ansammeln konnte (wie z. B. Marketing, Internetauftritt, Börsengeschäfte) können erhebliche Bereicherungen für eine Verwaltung sein. Es macht deshalb Sinn, wie jetzt vom DNeuG in § 20 BBG vorgesehen, z. B. die Möglichkeit der Anstellung in einem höheren Amt als dem Eingangsamt sowie die Anerkennung gleichwertiger Berufserfahrungen bei der Laufbahnzulassung einzuführen. Allerdings darf die angestrebte Durchlässigkeit nicht dazu führen, dass etwa der erfolgreiche Wahlkampfmanager eines Ministers nach der Wahl einfach zum Ministerialrat in dessen Ministerium avanciert, sprich verdienten Parteigängern, welche die Einstellungskriterien für den Beamtendienst nicht erfüllen, doch der Eintritt ermöglicht wird43. Von daher halte ich – bei aller Öffnung der Bundesverwaltung für Seiteneinsteiger – die erfolgreich bestandene Abschlussprüfung beim Aufstieg in eine höhere Besoldungsgruppe sowie die obligatorische Mitwirkung einer unabhängigen Stelle, in der Bundesverwaltung des Bundespersonalausschusses, bei der Verbeamtung von Seiteneinsteigern für unverzichtbar. Gerade die Notwendigkeit, den „Filter“ Bundespersonalausschuss zu durchlaufen, hat in der Vergangenheit der Versuchung zu Ämterpatronage vorgebeugt bzw. solche verhindert44. Die Kritik an der Einführung leistungsbezogener Vergütungsbestandteile wegen möglicher politischer Einflussnahme auf die Amtsführung teile ich nicht. Bei den nach dem Dienstrechtsreformgesetz von 199745 und dem Besoldungsstrukturgesetz von 200246 sowie nach dem DNeuG47 möglichen 43  Wie

Landau / Steinkühler, a. a. O. S. 142 befürchten. Merten, Das Berufsbeamtentum als Element deutscher Rechtsstaatlichkeit, ZBR 1999 S. 1, 9 die „anderen Bewerber“, die auf Grund ihrer Berufserfahrung eingestellt werden können, als „Achillesferse des Berufsbeamtentums“ bezeichnet, lässt er diese „Sicherungen“ außer acht und verkennt, dass gerade diese Bewerber ebenso wie die sog. Aufsteiger vielfach die Garanten für Kreativität und Bürgerfreundlichkeit einer Verwaltung sind. 45  Vom 24.2.1997 BGBl. I S. 322. 46  Vom 21.6.2002 BGBl. I S. 2138. 47  Vom 5.2.2009 BGBl. I S. 160 und dort jetzt in Art. 2 Nr. 18 und 29 mit der Neufassung der §§ 27, 42a BBesG geregelt. 44  Wenn



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Leistungsanreizen sehe ich keine derartigen Gefahren. Leistungsstufen, Leistungszulagen und Leistungsprämien bewegen sich nach Inhalt und Höhe (höchstens bis zu einem Monatsgehalt der Eingangsstufe) in so bescheidenem Rahmen, dass solche „Steuerungswirkungen“ ausgeschlossen werden können. Vereinbarungen mit den Personalräten, die zu einer „Filzokratie“48 verleiten könnten, sind nicht erforderlich. Es kann dahingestellt bleiben, ob  solche leistungsbezogenen Vergütungsbestandteile wirklich leistungssteigernd und motivierend wirken, was weithin bezweifelt wird49. Nach meiner Erfahrung ermöglichen es aber insbesondere die Leistungsprämien, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die sich ganz überdurchschnittlich für ihre Aufgabe eingesetzt haben – und solche gibt es viele in der Verwaltung –, neben einem anerkennenden Schulterklopfen eine fühlbare materielle Anerkennung zukommen zu lassen. Hier ist Führungsstärke der Vorgesetzten gefordert, die transparent, nachvollziehbar und auf Vorschläge aus dem Mitarbeiterkreis zurückgreifend entscheiden müssen. Sog. Gießkannen-Vergaben brächten diese Möglichkeiten in Verruf. Ebenfalls unbedenklich erscheint die vom ­Besoldungsstrukturgesetz 2002 mit dem neuen § 45 BBesG eingeführte Zulage für die vorübergehende Wahrnehmung herausgehobener Funktionen, weil damit der vielfach notwendigen Projektarbeit Rechnung getragen werden kann50. Zu dem in der Literatur51 verbreiteten Bild einer „Re-Feudalisierung“ des öffentlichen Dienstes in Deutschland durch Parteipolitisierung noch einige persönliche Anmerkungen: Im BMI wurden bei den Regierungswechseln 1998 und 2005 jeweils die beiden beamteten Staatssekretäre ausgetauscht, es blieben aber von 10 Abteilungen 6 bzw. 4 Abteilungsleiter im Amt, die einer anderen als der jeweiligen Ministerpartei angehörten; ebenso 2005 die Präsidenten von BKA und BfV, obwohl sie politische Beamte sind. Bei Einstellungen und Beförderungen war und ist im BMI das Personalentwicklungskonzept vom März 200652 die – auch von den Personalräten streng eingeforderte – Entscheidungsgrundlage. Dort sind z. B. ein zentrales Auswahlverfahren mit Assessment Center für den höheren Dienst, allgemeine Beförderungsgrundsätze mit Mindestfristen und Mindestbeurteilungen sowie ein Kriterienkatalog für die Übertragung von Führungsfunktionen – für alle Mitarbeiter transparent – festgeschrieben. Die von den Behördenleitun48  Das

fürchtet Isensee, a. a. O. S. 309. etwa Lorse, a. a. O. S. 149 m. w. N. 50  Ebenso Battis, a. a. O. S. 316. 51  Z. B. Derlien, Öffentlicher Dienst im Wandel, DÖV 2001 S. 322, 325. 52  Abrufbar unter www.bmi.bund.de. 49  Vgl.

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gen gefürchtete, mitunter von querulatorischen Beamten missbrauchte Möglichkeit der sog. Konkurrentenklage vor dem Verwaltungsgericht erzeugt im übrigen wegen des Verbots, vollendete Tatsachen durch Übertragung des streitigen Amtes zu schaffen, nicht zu unterschätzenden Druck, Beförderungsentscheidungen strikt nach Eignung, Leistung und Befähigung zu treffen. Nimmt man noch die vom Gesetz53 geforderte Gleichstellung der Frauen in der Bundesverwaltung hinzu – Ziel ist die Parität von Frauen und Männern auf allen Funktionsebenen und in allen Besoldungsgruppen –, hat die junge, überdurchschnittlich leistungsstarke Beamtin heute in einem Ministerium ­ohne Rücksicht auf Mitgliedschaft in einer Partei den „Marschallstab im Tornister“. 2. Verwaltungsmodernisierung Die seit Jahren andauernden Anstrengungen zur Modernisierung der Bundesverwaltung haben – anders als von manchen Verwaltungstheoretikern behauptet – keinen relevanten Einfluss auf deren Integrität. Seit der Wiedergewinnung der deutschen Einheit lassen sich aus meiner Sicht vier Entwicklungsphasen in der Bundesverwaltung unterscheiden: Die ersten Jahre nach 1990 standen ganz im Zeichen der Verwaltungshilfe für den Aufbau einer rechtsstaatlichen, den Parlamenten verantwortlichen Verwaltung in den neuen Ländern bzw. für diese. Hier konzentrierte sich die Frage der Integrität darauf, einen fachlich qualifizierten, mit rechtsstaat­ lichem Verwaltungshandeln vertrauten bzw. darin eingeübten Personalbestand aufzubauen und dabei insbesondere Personen, die in leitenden Funktionen des Parteiapparates der DDR oder hauptamtlich oder informell für den Staatssicherheitsdienst der DDR gearbeitet hatten, fern zu halten und, soweit sie zunächst weiterbeschäftigt worden waren, zu entlassen. Das ist für die Bundesverwaltung – angesichts der Größe der Aufgabe und der geringen zur Verfügung stehenden Zeit – alles in allem erstaunlich gut gelungen54. Die zweite Phase hat der von der Bundesregierung im Herbst 1995 eingesetzte Sachverständigenrat „Schlanker Staat“ mit seinem Abschlussbericht vom Oktober 1997 bestimmt55. Vor dem im Sommer 1999 anstehenden Umzug großer Teile der Bundesregierung nach Berlin sollten Organisation, Aufgaben und Ablauforganisation der Ministerien auf den Prüfstand gestellt und 53  Gleichstellungsdurchsetzungsgesetz

vom 30.11.2001 BGBl. I S. 3234. etwa die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der FDP BT-Drs. 16 / 5318. 55  Vgl. die zusammenfassende Darstellung von Meyer-Teschendorf / Hofmann, Bereinigung der Bundesstatistik – Abbau von Verwaltungsvorschriften und Standards – Reform der Behördenstruktur, DÖV 1998 S. 217 ff. 54  Vgl.



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in den Bundesbehörden ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess sowie betriebswirtschaftliche Steuerungsverfahren, wie z. B. Kosten- und LeistungsRechnung (KLR), Qualitätsmanagement, Controlling, eingeführt56 und die Privatisierung von Hilfstätigkeiten, wie Druckereien, Fahrbereitschaften, Gebäudetechnik, Objektschutz, geprüft werden. Der Bundesverwaltung gelang es auf diese Weise, wieder Anschluss an die sehr viel weiter vorangeschrittene Modernisierung der Kommunalverwaltungen zu gewinnen. Zur gleichen Zeit betrieb der Bund eine umfassende Dienstrechtsreform, bei der mit dem – bereits erwähnten – Dienstrechtsreformgesetz vom 24.2.1997 u. a. Führungsämter auf Probe und auf Zeit, dienstrechtliche Erleichterungen für Behördenneuorganisationen und leistungsbezogene Vergütungsbestandteile ermöglicht wurden. Durch konsequente Personaleinsparungen – z. B. gab es im BMI und dessen Geschäftsbereich, mit gewissen Ausnahmen für die Sicherheitsbehörden, von 1993 bis 2000 einen völligen Einstellungsstop – gelang es immerhin, die nach der Wiedervereinigung stellenmäßig um gut 1 / 4 gewachsene Bundesverwaltung fast wieder auf den Stellenbestand vor der Wiedervereinigung (ca. 301.000) zurückzuführen. In dieser zweiten Phase begann in der Bundesverwaltung – in den verschiedenen Behörden und Ministerien durchaus mit unterschiedlichem Nachdruck und vom Personal meist sehr zurückhaltend aufgenommen – das, was die verwaltungswissenschaft­ liche Literatur jetzt die Ökonomisierung der Verwaltungen nennt57. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie mir 1996 im Statistischen Bundesamt bei der – natürlich schrittweisen – Einführung der KLR das sog. Eh-Da-Prinzip entgegengehalten wurde: Das sei alles überflüssige Arbeit. Denn die Aufgaben des Amtes seien eh da und vom Gesetzgeber vorgeschrieben. Und das Geld sei – wenn auch zu wenig – eh da in Gestalt der jährlichen Haushaltsbewilligungen. Die dritte Phase der Modernisierung der Bundesverwaltung begann 1998, indem die neue Bundesregierung an die Stelle des Leitbildes vom „schlanken Staat“ das Leitbild des „aktivierenden Staates“ setzte, der sich im Verhältnis zu seinen Bürgern weg von obrigkeitlicher Bevormundung hin zu einer partnerschaftlichen Gleichberechtigung entwickeln sollte. Das „Neue Steuerungsmodell“ oder neudeutsch „New Public Management“ (NPM) blieb für die Behörden Pflicht. Auf Effektivität und Effizienz des Verwaltungshandelns war, u. a. mit der Frage „make or buy“, zu achten. Zugleich wurde mit dem Programm „E-Government“ erstmals und systematisch die flächendeckende Implementierung und Nutzung der IKT in der Bundesverwaltung voran­ getrieben. Mit einer beträchtlichen Kraftanstrengung konnten die Bundes­ 56  Vgl. die Übersicht in Band III „Leitfaden zur Modernisierung von Behörden“ des Abschlussberichts des Sachverständigenrats „Schlanker Staat“. 57  Vgl. Fn. 28 und die dort angeführte Literatur.

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behörden bis 2005 ihre Dienstleistungen für die Bürger auch per Internet anbieten58. Ab 2006 hat mit den beiden, von der Bundesregierung am 13.9.2006 beschlossenen Programmen „Zukunftsorientierte Verwaltung durch Innovationen“ und „E-Government 2.0“ die vierte Phase der Modernisierung der Bundesverwaltung begonnen. Dazu hat die Bundesregierung am 28.2.2007 einen ersten Umsetzungsplan mit 57 Modellprojekten und am 19.3.2008 einen Umsetzungsplan für 2008 beschlossen; das Modernisierungsprogramm enthält inzwischen über 70 Einzelprojekte. In den vier Handlungsfeldern Personal, Steuerung, Organisation und E-Government soll die Bundesverwaltung auf die Bewältigung der großen Herausforderungen von Staat und Gesellschaft, nämlich Globalisierung, demografische Veränderungen, rasanter technologischer Wandel, Haushaltskonsolidierung und steigende Erwartungen der Bürger sowie der Wirtschaft vorbereitet werden. Einen Schwerpunkt bildet die Umsetzung der EG-Dienstleistungsrichtlinie, die u. a. eine neue Schnittstelle zwischen Verwaltung und Bürgern / Unternehmen in Gestalt eines einheitlichen Ansprechpartners für alle Behördenbeziehungen, eine Prüfung aller die Aufnahme einer Dienstleistungstätigkeit betreffenden Normen auf möglichst große Einfachheit, die Abwicklung aller Behördenbeziehungen via IKT und die Fiktion der Erlaubnis nach Fristablauf bis Ende 2009 vorsieht. Daneben werden die Automatisierung von Dienstleistungen, mehr Kundenfreundlichkeit durch eine einheitliche Behördenrufnummer 115 und die Konzentration der Behörden auf ihre Kernaufgaben durch Verlagerung von Querschnittsaufgaben auf Dienstleistungs-Zentren (DLZ), neudeutsch Shared Services Center, vorangetrieben. Schließlich geht es i. S. von „lebenslangem Lernen“ um die Weiter- und Höherqualifizierung der Beschäftigten. Dazu haben der Bundesinnenminister Dr. Schäuble, der DGB-Vorsitzende Sommer und der Bundesvorsitzende dbb beamtenbund und tarifunion Heesen am 5.10.2007 eine bis Ende 2010 laufende Modernisierungs- und Fortbildungsvereinbarung geschlossen, die besonders die Notwendigkeit der Führungskräfteentwicklung betont. Sieht man sich diese vier Entwicklungsphasen näher an, werden keine neuen, ins Gewicht fallenden Gefährdungen für die Integrität der Verwaltung und ihrer Beamten sichtbar: Die von Merten59 mit vollem Recht betonte Verpflichtung der Verwaltung und ihrer Bediensteten auf das Legalitätsprinzip wird an keiner Stelle in 58  Zum Leitbild des „aktivierenden Staates“ vgl. z. B. Reichard, Staats- und Verwaltungsmodernisierung im aktivierenden Staat, Heft 3, 1999, Verwaltung und Fortbildung, Schriften der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung, S. 117 ff. 59  Vgl. Merten, Das Berufsbeamtentum als Element deutscher Rechtsstaatlichkeit, ZBR 1999 S. 1 ff.



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Zweifel gezogen oder etwa dem Gebot wirtschaftlichen Verwaltungshandelns nachgeordnet. Wenn Isensee60 in polemischer Zuspitzung ein neues „betriebswirtschaftliches Leistungsidol: der Staatsmanager“ in diesen Modernisierungskonzepten sieht, vergisst er, dass auch der bayerische oder preußische Beamte des 19. Jahrhunderts mit den Ressourcen und Steuergeldern seines Landesherren sparsam umgehen musste. KLR, Controlling, kaufmännische Buchführung, Qualitätsmanagement, Zielvereinbarungen und was alles sonst noch zum NPM gehören mag, alle diese Dinge vertragen sich sehr gut mit dem die Bürger und Unternehmen nach Gesetz und Recht gleich behandelnden, das Ethos seines Amtes lebenden Beamten61. Ich halte deshalb die Sorge, durch Kostenbewusstsein, Kundenorientierung, leistungsbezogene Vergütungsbestandteile und Orientierung an betriebswirtschaftlichen Vorstellungen werde eine neue, den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums nicht mehr entsprechende Art von Bediensteten entstehen62, für unbegründet. Es ging und geht bei den verschiedenen Anläufen zur Verwaltungsmodernisierung gerade nicht um eine Ökonomisierung des Gemeinwohls, sondern um die Verwirklichung des Gemeinwohls durch ein an Gesetz und Recht gebundenes Verwaltungshandeln, das die von den Steuerzahlern zur Verfügung gestellten Mittel möglichst ziel­ orientiert (effektiv) und sparsam (effizient) einsetzt. Es trifft zu, dass den Behörden bei der Haushaltsbewirtschaftung durch Budgetierung und Übertragbarkeit in kommende Haushaltsjahre erweiterte Dispositionsspielräume entstanden sind. Das stellt die Bediensteten aber nicht vor neue Verantwortungen, denen sie nicht gewachsen wären. Bei den Verwaltungsmodernisierungen wurde zwar immer Deregulierungen und Rücknahmen der Regelungstiefe das Wort geredet. Daraus folgende neue Ermessensspielräume vermag ich jedoch in der Bundesverwaltung nicht zu erkennen, da es – leider muss man sagen – insoweit noch nie zu wirklichen Fortschritten gekommen ist. Vor allem lässt sich – jedenfalls für die deutsche Verwaltung – kein begünstigender Zusammenhang zwischen New Public Management (NPM) und der Korruptionsanfälligkeit nachweisen. Eher wirken die mit einem praktizierten NPM verbundenen Steuerungselemente, wie Qualitätsstandards, ZielControlling, KLR, korruptionshemmend63.

60  Isensee,

a. a. O. S. 302 f. Battis, a. a. O. S. 312 und Landau / Steinkühler, a. a. O. S. 141. 62  So Czerwick, a. a. O. S. 28. 63  von Maravic, a. a. O. S.  90 ff. kann trotz großem begrifflichem Aufwand eine „unbeabsichtigte“ Begünstigung von Korruption durch NPM nicht nachweisen. 61  Ebenso

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Gleichwohl halte ich gewisse Konsequenzen aus der Verwaltungsmodernisierung für die Integrität der Bundesverwaltung für erforderlich: •• Das oben erörterte, unverändert aktuelle Amtsethos der Beamten sollte ausdrücklich um wesentliche Elemente des NPM, wie Kostenbewusstsein, Zielorientierung und Bürgerorientierung, ergänzt werden. •• Bei bestimmten Modernisierungselementen sollte man sich der Korrup­ tionsgefahr besonders bewusst sein: So ist E-Government in der Regel mit erheblichen Investitionen in Hard- und Software verbunden. Hier sind korrekte Ausschreibungen unverzichtbar und werden auch durch langjährige, erfolgreiche Zusammenarbeit mit einem Anbieter nicht entbehrlich. Auch wenn im Bereich der IKT die Fachleute in der Verwaltung „rar“ sind, muss die gebotene Personalrotation auf korruptionsgefährdeten Vergabe-Arbeitsplätzen stattfinden. Gleiches gilt für die häufigen Kontakte mit Unternehmensberatern bei der Einführung von Elementen des NPM. •• Sollte es – was gegenwärtig intensiv angestrebt wird – zu gemeinsamen Dienstleistungszentren (DLZ) in der Bundesverwaltung, etwa zur Haushaltsdurchführung oder zur Beschaffung, kommen, werden diese DLZ schon wegen der größeren Volumina und der vervielfachten Beschaffungsvorgänge mit personell gut ausgestatteten Innenrevisionen und jährlichen Berichten zur Korruptionsprävention an ihre angeschlossenen Behörden arbeiten müssen. •• Ähnliche Aufmerksamkeit verdienen die zur Umsetzung der EG-Dienstleistungsrichtlinie einzurichtenden einheitlichen Ansprechstellen für die verschiedenen beteiligten Behörden; ihre Arbeit wird ebenfalls durch Innenrevisionen zu kontrollieren sein. •• Auch die Arbeit im „front office“ für die einheitliche Behördenrufnummer 115 dürfte zu den besonders korruptionsgefährdeten zählen, so dass die für solche Arbeitsplätze einschlägigen Regeln zu beachten sind. 3. Korruption Mit Blick auf die Gefährdung durch Korruption unternimm die Bundesregierung seit gut 10 Jahren erhebliche Aktivitäten zur Stabilisierung der Integrität in der Bundesverwaltung. Aus der Vielzahl der Maßnahmen möchte ich hervorheben: •• Das Gesetz zur Bekämpfung der Korruption64 hat 1997 die bestehenden Straftatbestände ausgeweitet, die Strafrahmen leicht angehoben und 64  Vom

13.8.1997 BGBl. I S. 2038.



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Straftatbestände zur Korruption im Geschäftsverkehr aus dem Wettbewerbsrecht in das Strafgesetzbuch überführt. •• 1998 haben das EU-Bestechungsgesetz65 und das Gesetz zur Bekämpfung internationaler Bestechung66 die Strafbarkeit auf Bestechungshandlungen von und gegenüber ausländischen Amtsträgern ausgedehnt. •• 2002 wurde mit einem neuen § 299 Abs.  3 StGB67 klargestellt, dass die Straftatbestände des § 299 Abs.  1 und 2 StGB gegen die Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr auch für Handlungen im ausländischen Wettbewerb gelten. •• 1997 wurden68 die obligatorische Einleitung eines Disziplinarverfahrens bei Verdacht auf Bestechung oder verbotene Annahme von Belohnungen und Geschenken, eine disziplinarrechtliche Kronzeugenregelung sowie Beschränkungen der Nebentätigkeit für Beamte eingeführt. •• 1998 hat die Bundesregierung ihre Präventionsstrategie zur Abwehr von Korruption in der Bundesverwaltung in einer – als Verwaltungsvorschrift für die Behörden verbindlichen – Richtlinie zur Korruptionsprävention69 zusammengefasst. 2004 hat die Bundesregierung diese Richtlinie neu gefasst70 und hierbei auch das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption71 berücksichtigt. Die Richtlinie enthält zwei – ebenfalls verbindliche – Anlagen: Einen Verhaltenskodex gegen Korruption, der sich an alle Beschäftigten wendet, sie auf besondere Gefahrensituationen hinweist, zur pflichtgemäßen und gesetzestreuen Erfüllung ihrer Aufgaben anhält und ihnen die Folgen korrupten Verhaltens vor Augen führt. Die zweite Anlage, ein „Leitfaden für Vorgesetzte und Behördenleitungen“, verpflichtet diese nochmals ausdrücklich, in ihren jeweiligen Verantwortungsbereichen Schwachstellen und Einfallstoren für Korruption nachzugehen und z. B. durch Mehr-Augen-Prinzip sowie Personalrotation Vorsorge zu treffen. Die Richtlinie wird ergänzt durch eine – empfehlende – Umsetzungshilfe72 so65  Vom

10.9.1998 BGBl. II S. 2340. 10.9.1998 BGBl. II S. 2327. 67  Durch Gesetz vom 22.8.2002 BGBl. I S. 3387. 68  Mit dem Dienstrechtsreformgesetz vom 24.2.1997 BGBl. I S.  322 und dem Zweiten Nebentätigkeitsbegrenzungsgesetz vom 9.9.1997 BGBl. I S. 2294. 69  Vom 17.6.1998 BAnz Nr. 127 S. 9665. 70  Richtlinie der Bundesregierung zur Korruptionsprävention in der Bundesverwaltung vom 30.7.2004 BAnz Nr. 148 S. 17745. 71  Vom 31.10.2003. 72  Abgedruckt in der zusammenfassenden Broschüre des BMI „Texte zur Korrup­ tionsprävention“, Stand Juli 2006, S. 28 ff., kostenlos zu beziehen beim Publikationsversand der Bundesregierung Postfach 481009, 18132 Rostock. 66  Vom

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wie das Rundschreiben des BMI vom 8. November 200473 zum Verbot der Annahme von Belohnungen oder Geschenken nach § 70 BBG (nach dem DNeuG jetzt § 71 BBG). Die Strategie der Bundesregierung zur Korruptionsprävention, wie sie in der Richtlinie vom 30.7.2004 niedergelegt ist, setzt bei der Notwendigkeit an, in den Behörden die besonders korruptionsgefährdeten Arbeitsgebiete und Arbeitsplätze zu identifizieren. Als Indikatoren dafür werden u. a. häufige Außenkontakte, Bewirtschaftung von erheblichen Haushaltsmitteln, Vergabe von Aufträgen, Erteilung von Genehmigungen, Gebührenerhebung, Umgang mit vertraulichen Informationen angesehen. In solchen besonders gefährdeten Arbeitsgebieten müssen – situationsangepasst – Vorkehrungen gegen Korruption getroffen werden, wie z. B. in besonders korruptionsgefährdeten Bereichen grundsätzlich Personalrotation längstens alle 5 Jahre, Mehr-Augen-Prinzip, Sensibilisierung der Beschäftigten durch Aus- und Fortbildung, intensive Dienst- und Fachaufsicht, Trennung von Planung, Vergabe und Abrechnung von öffentlichen Aufträgen und Zuwendungen. Nach den Erfahrungen des BKA und der Polizeilichen Kriminalstatistik waren Bestechungsnehmer in den Behörden überwiegend mehr als 5 Jahre in ihrem Aufgabenbereich tätig. Das Rotationsprinzip ist deshalb kriminalpräventiv gut begründet74. Allerdings bereitet die Umsetzung dieser Präven­ tionsmaßnahme in der Verwaltungspraxis erhebliche Schwierigkeiten und weist deshalb noch größere Lücken auf, so dass das BMI 2008 eine interministerielle Arbeitsgruppe zur konsequenten Anwendung des Rotationsgebots eingesetzt hat75. Dass noch nicht hinreichend „rotiert“ wird, ist nach meiner Erfahrung nicht auf Nachlässigkeit der Behördenleitungen, sondern auf drei – in gewissem Umfang nachvollziehbare – Umstände zurückzuführen. Da ist einmal der Mangel an Fachleuten. Denn auf den besonders korrup­ tionsgefährdeten Arbeitsplätzen sitzen in aller Regel besonders qualifizierte und bewährte Mitarbeiter, etwa beim Haushaltsvollzug oder bei der Vergabe von IKT-Aufträgen. Da ist die Zahl der „Ersatzleute“ meist äußerst gering. Und dann ist da die Scheu, einen solchen Fachmann umzusetzen, weil das als Misstrauen oder „Degradierung“ vom Betroffenen und im Kollegenkreis empfunden werden könnte. Gleichwohl halte ich es für vordringlich, gerade die Personalrotation ohne Ausnahmen zu praktizieren; sie muss zur Routine werden.

73  GMBl. 2004 S. 1074 ff., ebenfalls abgedruckt in der in Fn. 72 erwähnten Broschüre des BMI. 74  Vgl. den in Fn. 2 zitierten „Zweiten Periodischen Sicherheitsbericht“ S. 252. 75  So der in Fn. 8 erwähnte Jahresbericht 2007 des BMI S. 10 f.



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Die noch unbefriedigende Umsetzung des Rotationsprinzips dürfte drittens damit zusammenhängen, dass die Ermittlung der besonders korruptionsanfälligen Arbeitsgebiete in den Bundesbehörden noch nicht abgeschlossen ist, mitunter schleppend und vor allem nicht nach einheitlichen Kriterien verlief. Eine interministerielle Arbeitsgruppe hat deshalb 2008 eine Handreichung für die Risikoanalyse herausgegeben. Eine wichtige Bedeutung messe ich auch den seit 1998 in allen Bundesbehörden eingeführten sog. Ansprechpersonen für Korruptionsprävention zu. In der neugefassten Präventionsrichtlinie von 2004 sind deren Weisungsunabhängigkeit und deren direktes Vortragsrecht gegenüber den Behördenleitungen festgeschrieben worden. Allerdings muss noch mehr getan werden, um diese Ansprechpersonen in den Behörden und vor allem in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Das Korruptionsbekämpfungsgesetz von 1997 hat – anders als nach § 6 Subventionsgesetz76 beim Verdacht eines Subventionsbetrugs – keine allgemeine Anzeigepflicht eingeführt. Nach Nr. 10.1 der Präventionsrichtlinie von 2004 haben aber jetzt die Behördenleitungen bei einem durch Tatsachen begründeten Verdacht einer Korruptionsstraftat die Staatsanwaltschaft und die oberste Dienstbehörde zu unterrichten. Das BMI berichtet seit 2004 jährlich dem Rechnungsprüfungsausschuss des Deutschen Bundestages zur Entwicklung und den Ergebnissen der Korruptionsprävention in der Bundesverwaltung. Den Jahresbericht 2007 hat der Ausschuss im Sommer 2008 erhalten, er sollte dort Ende September beraten werden. Ich hielte es für hilfreich, wenn diese Berichte nach der Parlamentsbefassung auch veröffentlicht würden. Denn sie zeigen, dass es die Bundesverwaltung mit der Korruptionsprävention ernst meint, aber auch, wo noch Verbesserungsbedarf besteht. Zur Korruptionsprävention und -bekämpfung gehören weiter die Einrichtung von Innenrevisionen in den Bundesbehörden und Regelungen für das sog. Sponsoring sowie für den Einsatz externer Personen in der Bundesverwaltung. Die interne Revision soll die Behördenleitung bei der Wahrnehmung ihrer Gesamtverantwortung entlasten und behördenimmanente Risiken abwehren. Die Innenrevision ist – im Gegensatz zum Controlling – kein Steuerungsinstrument, sondern prüft stichprobenweise, ob und wie die Handlungsspielräume wahrgenommen und wie mit den Ressourcen der Behörde umgegangen werden. Nachdem Ende der 90er Jahre die sog. Vorprüfungsstellen in den Behörden aufgelöst worden sind, haben immer mehr Bundesbehörden Innenrevisionen eingerichtet. Das BMI hat mit Zustimmung der anderen Ressorts im April 2008 „Empfehlungen für Interne Revisionen in der 76  Vom

29.7.1976 BGBl. I S. 2034.

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Bundesverwaltung“77 herausgegeben, die im Rahmen des Umsetzungsplans 2007 zum Regierungsprogramm „Zukunftsorientierte Verwaltung durch Innovationen“ erarbeitet worden waren. Danach sollen die Innenrevisionen der Behördenleitung oder ihrer Vertretung unmittelbar unterstellt werden. Nach meinen Erfahrungen mit der Einrichtung einer Innenrevision beim Statistischen Bundesamt handelt es sich um eine ausgesprochen hilfreiche Einrichtung, die insbesondere beträchtliche präventive Wirkung besitzt, die aber zunächst – wegen der ständigen Personalreduzierungen und dem unmittelbaren Vortragsrecht bei der Behördenleitung – mit erheblichen Akzeptanzproblemen in der sog. Linie zu kämpfen hat. Ich hoffe, dass dennoch bald alle Ressorts und Bundesbehörden über besondere interne Revisionen verfügen. Sponsoring hat für die öffentliche Verwaltung in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen, weil in Zeiten hoher Staatsverschuldung im Interesse der Haushaltssanierung viele sinnvolle Projekte ohne Sponsoringmittel nicht oder nur in deutlich schmälerem Umfang hätten verwirklicht werden können. Z. B. hat sich das THW mit Wasseraufbereitungsanlagen in Krisengebieten nur engagieren können, weil ihm solche von Sponsoren überlassen wurden. Gleichwohl muss die Verwaltung bei der Gewinnung von Sponsoren und der Durchführung von Vorhaben mit Sponsoringmitteln ihre Neutralität und Integrität wahren. Es darf nicht der Anschein entstehen, eine Bundesbehörde ließe sich bei ihrer Aufgabenerfüllung von den Interessen eines Sponsors leiten. Denn beim Sponsoring fördert der Sponsor – sei es ein Unternehmen oder ein Privater – mit Geld-, Sach- oder Dienstleistungen eine Tätigkeit der Verwaltung, um dadurch einen werblichen oder sonst öffentlichkeitswirksamen Vorteil zu erreichen. Um insoweit Transparenz zu schaffen und in Reaktion auf kritische Diskussionen in der Öffentlichkeit hat die Bundesregierung 2003 eine allgemeine, für ihre Behörden verbindliche Verwaltungsvorschrift Sponsoring er­ lassen78. Die Verwaltungsvorschrift listet Beispiele zulässigen Sponsorings, etwa Gesundheitsprävention, Veranstaltungen zur Förderung des Standorts Deutschland im Ausland, Pressebetreuung bei Großveranstaltungen, auf und enthält eine Mustervereinbarung. Vor allem sieht die Verwaltungsvorschrift als Selbstverpflichtung der Bundesregierung eine Offenlegung der Geld-, Sach- und Dienstleistungen in einem alle zwei Jahre abzugebenden Sponsoringbericht vor. Das ist mit den Berichten vom 28.12.2005 für 2003 / 2004, vom 4.5.2007 für 2005 / 2006 sowie vom 14.5.2009 für 2007 / 2008 geschehen. 77  Vom

21.12.2007, abrufbar unter www.bmi.bund.de Verwaltungsvorschrift zur Förderung von Tätigkeiten des Bundes durch Leistungen Privater (Sponsoring, Spenden und sonstige Schenkungen) vom 7.7.2003 BAnz Nr. 126 S. 14906 ff. 78  Allgemeine



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Nach Kritik im Deutschen Bundestag nennt der zweite Sponsoringbericht jetzt auch die Namen sämtlicher Sponsoren ab 5000 Euro. Das Aufkommen an Sponsoring im Bund in 2005 / 2006 belief sich auf insgesamt 80,3 Mio Euro, davon entfielen der größte Teil, nämlich 49,7 Mio Euro auf Maßnahmen zur Gesundheitsprävention im Geschäftsbereich des BMG. Mit eingehenden Ausführungshinweisen79 hat das BMI der Bundesverwaltung Hilfestellung bei der Umsetzung der Verwaltungsvorschrift Sponsoring gegeben. Dort80 wird u. a. eine Abgrenzung zwischen dem offen zulegenden Sponsoring und dem Mäzenatentum im Bereich der Kultur vorgenommen: Weil mäzenatische Schenkungen von Privaten zur Verfolgung eines bestimmten vom Mäzen benannten kulturellen Ziels ohne Gewährung einer Gegenleistung und ohne Verfolgung eines Geschäftszwecks, also aus rein altruistischen Gründen erfolge, könne in solche Fällen von der Namensnennung im Sponsoring­ bericht abgesehen werden. Der Einsatz externer Personen in der Bundesverwaltung ist in der 16. Wahlperiode des Deutschen Bundestages nach entsprechenden Bundestagsanfragen81 sowie einem Prüfbericht des Bundesrechnungshofs (BRH)82 in die öffentliche Kritik geraten. Nach den Feststellungen des BRH schwankte die Zahl der externen Beschäftigten in Bundesministerien in den Jahren 2004 bis 2006 zwischen 88 und 106 mit einer Aufenthaltsdauer zwischen wenigen Wochen und bis zu 5  Jahren. Wie der BRH ausdrücklich feststellt83, ist er bei seiner Untersuchung nicht auf Sachverhalte gestoßen, die einen konkreten Verdacht auf vorsätz­lichen Missbrauch des Einsatzes externer Beschäftigter in den Bundesministerien oder einen spürbaren Schaden für den Bund und das von ihm zu vertretende Gemeinwohl begründen würden. Gleichwohl sieht der BRH in einigen Bereichen erhöhte Risiken von Interessenkonflikten und gibt deshalb 10 Empfehlungen. Die Bundesregierung hat diese – vom Haushaltsausschuss aufgegriffenen – Empfehlungen sowie weitere Vorgaben des Haushaltsausschusses sehr zügig mit einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift84 umgesetzt und sich darin verpflichtet, dem Haushalts- und dem Innenausschuss 79  Vom

8.4.2008 des Referats O 4 (Az. 013 101-2). a. a. O. S. 13. 81  Vgl. z. B. die Antwort der Bundesregierung vom 4.12.2006 auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen BT-Drs. 16 / 3727. 82  Bericht an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages nach § 88 Abs. 2 BHO „über die Mitarbeit von Beschäftigten aus Verbänden und Unternehmen in obersten Bundesbehörden“ vom 25.3.2008. 83  A. a. O. S. 5 f., 48 f. 84  Zum Einsatz von außerhalb des öffentlichen Dienstes Beschäftigten (externen Personen) in der Bundesverwaltung vom 17.7.2008 BAnz. Nr. 111 S. 2722 ff. 80  Fn. 79

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des Deutschen Bundestages über solche Einsätze jeweils zum 30.9. eines Jahres zu berichten. Den ersten Bericht hat sie dem Parlament für den Zeitraum vom 1.1. bis 31.8.2008 bereits Ende September 2008 zugeleitet. Dieser Bericht ist – aus meiner Sicht zu Unrecht – auf heftige Kritik bei Transparency International gestoßen. Es wäre deshalb gut, wenn er veröffentlicht würde, denn er scheint mir durchaus geeignet, die aus der Beschäftigung externer Personen folgenden Zweifel an der Integrität der Bundesverwaltung auszuräumen. Allerdings ist zuzugeben, dass die bisherige Praxis der Ressorts zum Teil recht sorglos und vielfach vom Bestreben geprägt war, auf diese Weise Defizite an Personal oder Fachkenntnissen auszugleichen, was die neue Verwaltungsvorschrift untersagt. Neben diesen verwaltungspraktischen Präventionsmaßnahmen hat die Bundesregierung im Dienstrecht einige weitere Verbesserungen zur Korrup­ tionsbekämpfung eingeleitet, die zunächst mit einem Gesetzentwurf zur Änderung des Bundesdisziplinargesetzes und anderer Gesetze85 eingebracht und dann in den Entwurf für ein Dienstrechtsneuordnungsgesetz (DNeuG)86 übernommen und so Gesetz wurden87: Der neugefasste § 67 BBG enthält in seinem Absatz 2 Nr. 3 eine Regelung, die sog. Whistleblower (interne Hinweisgeber) schützt. Danach verletzt ein Beamter seine Verschwiegenheitspflicht nicht mehr, wenn er – unter Umgehung des Dienstweges – einen durch Tatsachen begründeten Verdacht einer Korruptionsstraftat einer Strafverfolgungsbehörde oder seiner obersten Dienstbehörde anzeigt. In § 71 Abs. 1 BBG wird klargestellt, dass ein Beamter auch nicht für einen Dritten Belohnungen, Geschenke oder sonstige Vorteile in Bezug auf sein Amt fordern darf. Außerdem wird in § 71 Abs. 2 BBG klargestellt, dass ein korrupter Beamter das Erlangte dem Dienstherrn herauszugeben hat. Bei der Überarbeitung des Nebentätigkeitsrechts wird in § 99 Abs. 3 BBG vorgesehen, dass eine Nebentätigkeit grundsätzlich auch dann zu versagen ist, wenn die Vergütung für eine oder mehrere Nebentätigkeiten 40 % des jährlichen Endgrundgehalts des Beamten übersteigt. Schon bisher müssen Ruhestandsbeamte Anschlusstätigkeiten, die mit ihrer früheren dienstlichen Tätigkeit in Zusammenhang stehen, anzeigen. Künftig schreibt § 105 Abs. 1 BBG vor, dass die Anzeige vor Aufnahme der Tätig85  BT-Drs.

16 / 2253. 16 / 7076 = BR-Drs. 720 / 07, Bericht des Innenausschusses des Deutschen Bundestages BT-Drs. 16 / 10850 vom 12.11.2008 und BR-Drs. 898 / 08. 87  Nach der 2. / 3. Lesung im Deutschen Bundestag am 12.11.2008 (vgl. die zu Protokoll gegebenen Reden in der Anlage 29 S.  19932 bis 19940 zum Plenarprotokoll S. 19900) und dem 2. Durchgang im Bundesrat am 19.12.2008 wurde das DNeuG am 5.2.2009 verkündet BGBl. I S. 160. 86  BT-Drs.



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keit erfolgt, damit sie ggfs. zur Vermeidung von Interessenkonflikten rechtzeitig untersagt werden kann. Trotz dieser beachtlichen Aktivitäten der Bundesregierung zur Stärkung der Integrität der Bundesverwaltung sehe ich noch zwei ganz praktische Verbesserungsmöglichkeiten: •• Anders als in einigen Bundesländern (z. B. in NRW) gibt es auf Bundesebene kein Korruptionsregister, in welches die öffentlichen Auftraggeber Unternehmen oder Personen melden, die korruptiv oder wirtschaftskriminell aufgefallen sind, und in dem dann die öffentlichen Auftraggeber vor Vergabe eines Auftrags nachfragen müssten. Einer solchen – auf einige Jahre befristeten Speicherung – messe ich wegen der damit verbundenen Transparenz erhebliche präventive Wirkung bei. Der Deutsche Bundestag hat sich im November 2008 erneut mit einem solchen Gesetzentwurf befasst88, nachdem in der 14. und 15. Wahlperiode ähnliche Gesetzentwürfe bzw. Referentenentwürfe an der Diskontinuität wegen Ablauf der Wahlperiode gescheitert waren89. •• Wie kriminologische Erkenntnisse belegen90, kommt anonymen Hinweisen bei der Aufdeckung von Korruption besondere Bedeutung zu. Deshalb sollte auf Bundesebene ein Internetportal, etwa beim BKA, eingerichtet werden, in das jedermann anonym und ohne Sorge vor Deanonymisierung Hinweise auf Korruption in Verwaltung und Wirtschaft eingeben kann. Die gegen ein solches Hinweisgebersystem, mit dem es bereits gute praktische Erfahrungen gibt91, aus dem informationellen Selbstbestimmungsrecht (ei88  Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen BT-Drs. 16 / 9780 vom 25.6.2008 wurde am 12.11.2008 vom Deutschen Bundestag in erster Lesung beraten (Plenarprotokoll S.  19852–19865). Der federführende Ausschuss für Wirtschaft und Technologie hat aber mehrheitlich mit Beschlussempfehlung vom 8.12.2008, BT-Drs. 16 / 11312, dessen Ablehnung empfohlen, weil bloße Verdächte nicht zu einer Speicherung führen dürften und die Reform des Vergaberechts abgewartet werden solle. Der Gesetzentwurf ist dann am 20.3.2009 vom Deutschen Bundestag in 2. / 3. Lesung abgelehnt worden. 89  Vgl. die Nachweise in der Begründung zu dem in Fn. 88 erwähnten Gesetzentwurf, S. 4. 90  Nach dem „Korruption Bundeslagebild 2007“ des BKA wurden ca. 2 / 3 der gemeldeten Korruptionsverfahren auf Grund externer Hinweise eingeleitet und davon entfiel der Hauptteil (ca. 1 / 5) auf anonyme Hinweisgeber. 91  Vgl. W. Lindner, Korruptionsbekämpfung im anonymen Dialog. Ein webbasiertes Hinweisgebersystem im Einsatz bei der Zentralstelle Korruptionsbekämpfung des LKA Niedersachsen und R. Gundlach, Rechtliche Aspekte im Zusammenhang mit Informationen über das elektronische Hinweisgebersystem, beide in: Korruption in Deutschland, Eine Tagung der FES und Transparency International-Deutschland am 8. und 9.12.2004 in Berlin, herausgegeben von Transparency International-Deutschland e. V., www.transparency.de.

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ner möglicherweise zu Unrecht beschuldigten Person) abgeleiteten Bedenken sind m. E. überwindbar. V. Schluss Am Ende dieser Übersicht über die Gefahren für die Integrität der öffentlichen Verwaltung sowie über die zahlreichen Maßnahmen zur Bekämpfung von Korruption sowie zur Stärkung der Integrität der Verwaltung komme ich zu dem Ergebnis: •• Die Wahrung der Integrität ist und bleibt für die Bundesverwaltung eine Daueraufgabe. •• Das Amtsethos muss von den Beamten gelebt, ihr Bewusstsein für Gefährdung durch Korruption wach gehalten werden. •• Die einschlägigen Regelungen in den Beamtengesetzen und in den zahlreichen Verwaltungsvorschriften sind in regelmäßigen Abständen zu evaluieren und ggfs. fortzuschreiben. •• Die einschlägigen kriminologischen Lagebilder und Erfahrungsberichte aus den Behörden sollten nicht nur dem Parlament, sondern auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Bei allem und vor allem bleibt festzuhalten: Die Bundesverwaltung hat eine gute Qualität. Sie ist besser als ihr Ruf. Die Bürger können ihr vertrauen!

Die Rolle der Zivilgesellschaft in der Korruptionsbekämpfung Von Sylvia Schenk I. Einleitung Die Frage nach der Rolle der Zivilgesellschaft in der Korruptionsbekämpfung beinhaltet zugleich schon einen Teil der Antwort: Korruption ist nicht nur ein strafrechtliches Problem, sondern ein besonderes Phänomen. Warum beschäftigt sich diese Tagung mit dem Thema, warum finden Tagungen zur Korruptionsprävention, zu Compliance und vergleichbaren Themen in immer größerer Zahl statt? Warum gibt es seit 15 Jahren mit Transparency Interna­ tional eine national und international tätige Organisation, die sich der Korruptionsbekämpfung verschrieben hat? Bankraub, Wohnungseinbrüche und Körperverletzung sind auch Delikte, die das Zusammenleben in einer Gesellschaft stören, aber niemand fragt nach der Rolle der Zivilgesellschaft bei der Bekämpfung dieser Delikte. Und Tagungen gibt es allenfalls vereinzelt, gar nicht zu vergleichen mit der aktuellen Flut an Veranstaltungen zum Thema Korruption. Das muss seine Gründe haben und daraus lässt sich bereits ein Hinweis für die Rolle der Zivilgesellschaft bei der Korruptionsbekämpfung entnehmen. Korruption ist kein neues Phänomen – schon in der Bibel wird sie erwähnt. Korruption wird auch nie vollständig auszurotten sein, die Käuflichkeit des Menschen wird immer Teil des Zusammenlebens bleiben. II. Worum geht es? Bei der Korruption genügt der Strafanspruch des Staates allein nicht, um rechtswidriges Handeln im Zaum zu halten und die Täterschaft auf einzelne schwarze Schafe zu beschränken. Bei Korruptionsdelikten handelt es sich um versteckte Taten – Schäden und Opfer bleiben meist für lange Zeit unerkannt. Deshalb ist die Gefahr der Vertuschung und Verniedlichung bei Korruptionsdelikten groß – lange Zeit galten viele Bereiche von Bestechung und Bestechlichkeit als Kavaliersdelikt. Transparency International definiert Korruption als „den Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil“. Damit sind auch Verhal-

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tensweisen umfasst, die zwar noch nicht strafrechtlich relevant, aber dennoch geeignet sind, das soziale Zusammenleben zu stören und Zweifel am System zu nähren. Für strafrechtliche Fragen allein würde sich Zivilgesellschaft wohl nicht in größerem Maße interessieren und dauerhaft ehrenamtlich engagieren. Es geht um mehr – um Transparenz, Verantwortlichkeit, um Integrität in Staat und Wirtschaft. Der Hauptgrund für das Engagement der Zivilgesellschaft und damit auch für die von dieser übernommenen Rolle im Anti-Korruptionskampf ist die Erkenntnis, dass Korruption und deren Vorstufen die Gesellschaft zersetzen und die Demokratie gefährden. Das Schielen nach dem eigenen Vorteil von Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und sonstigen Institutionen führt zu Instabilität, Ungerechtigkeit und zur Resignation der Benachteiligten. Für Resignation sind die Deutschen im Übrigen besonders anfällig: Nachdem in den letzten Jahren und insbesondere durch den Siemens-Skandal mit Wucht erkannt wurde, dass Deutschland kein Hort der Seligkeit ist, sondern Korruption auch hier eine Rolle spielt, sind die Deutschen in Bezug auf Korruption extrem pessimistisch. Beim letzten Global Corruption Barometer von Transparency International, mit dem in über 60 Ländern die Einschätzung der Bevölkerung zur Korruptionsentwicklung gemessen wird, vertraten die Deutschen zu jeweils rund 70 % die Meinung, dass die Korruption in ihrem Land in den nächsten 3 Jahren zunehmen werde und die Politik zu wenig dagegen unternehme. Damit führte Deutschland die Liste der pessimistischen Länder mit Abstand an. Dabei geht es uns hier – entgegen allem Lamento – doch gut. Wir haben einen funktionierenden Rechtsstaat, der Zugang zu Behörden usw. muss nicht durch Schmiergeld erkauft werden. Solange das Erschrecken über die Korruption hierzulande zu Engagement führt, ist das völlig in Ordnung. Es wäre jedoch fatal, wenn die Deutschen resignieren – oder sich mit Pauschalurteilen auf Stammtischniveau abreagieren. III. Die Zivilgesellschaft: Eine differenzierte Betrachtung Wer Korruption und die Grauzonen wirksam bekämpfen will, muss differenzieren können. Zivilgesellschaft ist also nötig – als Korrektiv und als „Watch Dog“, um Transparenz und Verantwortlichkeit in allen Lebensbereichen einzufordern. Zivilgesellschaft hat das Thema Korruption erst interna­ tional und national auf die Tagesordnung gebracht und muss weiter den Finger immer wieder in die Wunde legen. Dabei wirkt die Zivilgesellschaft als ­demokratisches Element gegen Resignation und Politikverdrossenheit. Das Beispiel von engagierten Menschen zeigt auf, dass man etwas tun kann – und etwas tun muss.



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Dazu gehört dann auch die Frage, wie es insgesamt in der Gesellschaft aussieht. Die gängige Formel „die Politiker sind doch eh alle korrupt“ ist leicht daher gesagt, aber wie sieht es aus, wenn es um den eigenen Vorteil geht? Wie, wenn Zivilcourage gefordert ist, um auf einen Misstand hinzuweisen? Selbstgerechtigkeit hilft also nicht weiter, wir sollten uns davor genauso hüten wie vor maßloser Kritik. Bei der Bekämpfung der Korruption geht es immer auch um die Frage der eigenen, persönlichen Integrität. Wie einfach es ist, auf andere zu zeigen und damit von eigenen Schwächen abzulenken, zeigt sich in der aktuellen Finanzkrise. Alle schimpfen auf die Gier der Banker, aber wie sieht es mit der Gier der Anleger und Kreditnehmer aus? Hier hat es in hohem Maße unrealistische bzw. übersteigerte Erwartungen gegeben, Gier ist es eben auch, wenn man sein Geld nach Island trägt, weil man an märchenhafte Zinsen glaubt. Dies soll die überragende Verantwortung der Banken für die aktuelle Situation nicht kleinreden, aber eben auch an den eigenen Anteil am Geschehen erinnern. Kommen wir noch einmal zurück auf den Vergleich mit dem Bankraub. Da gibt es klare Grenzen, einen Bankraub begeht man oder man begeht ihn nicht, Grauzonen sind kein Problem. Wohl jeder ist schon einmal bei rot über eine Fußgängerampel gegangen – hoffentlich nur, wenn kein Kind in der Nähe war – dies ist eine kalkulierte Übertretung. Das kann man 100 Mal oder mehr machen und wird dadurch doch nicht zum Räuber oder irgendeine andere Art von Verbrecher. Bei Korruption ist das anders. Da gibt es ein Anfüttern, ein Hineinrutschen in die Kriminalität – dies entschuldigt nichts, zeigt aber die Komplexität des Problems auf, mit dem wir es bei Bestechung, Bestechlichkeit usw. zu tun haben. Deshalb kann man Integrität in Staat und Wirtschaft nicht problematisieren, ohne Integrität in der Gesellschaft zu thematisieren. Die Zivilgesellschaft ist also nicht nur Watch Dog, sondern auch Multiplikator in die Gesellschaft hinein und in gewisser Weise Avantgarde für das propagierte ethische Verhalten. Die Bedeutung der Rolle der Zivilgesellschaft wird noch gesteigert durch das Vertrauen, dass freiwilligen Zusammenschlüssen ohne weitergehende persönliche Zielsetzung in der Gesellschaft entgegengebracht wird. Dieses Vertrauen immer wieder zu rechtfertigen und der Rolle des Vorbildes an Integrität gerecht zu werden, stellt hohe Ansprüche an die eigene Organisation, an die eigene Vorgehensweise und das persönliche Verhalten. Aber die Welt ist nicht sauber eingeteilt in schwarz und weiß, deshalb muss Zivilgesellschaft der Versuchung widerstehen, sich selbst zu überhöhen und auf andere womöglich auf Stammtischniveau zu schimpfen. Dies bringt vielleicht ein paar Schlagzeilen, aber bewegt und überzeugt nicht wirklich, ist somit nicht nachhaltig. Im Gegenteil – einseitige Schuldzuweisungen können die Abwendung z. B. von der Politik eher verstärken. Es ist gefährlich,

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einzelnen Bereichen grundsätzlich Schlechtes zu unterstellen, so als ob alle Angehörigen einer Gruppe stets nur zu dem eigenen – materiellen – Vorteil tätig würden. Völlig uneigennützig handelt sowieso niemand, was immer ein Mensch tut, tut er – zumindest auch – für sich. Dies muss nicht materiell verstanden werden, aber ein wichtiger Motor für menschliches Handeln ist der Eigennutz. Ich bin keinesfalls aus reiner Selbstlosigkeit hier, zwar bekomme ich kein Geld für den Vortrag – wenn es doch ein Honorar geben sollte, wird es an Transparency gespendet – sondern ich habe Spaß an der Auseinandersetzung mit diesem Thema und an der Diskussion. Der Eine wird durch Geld motiviert, der Andere durch Schlagzeilen und drängt deshalb in die Medien. Selbst im Ehrenamt opfern die Menschen keinesfalls ihre Freizeit, wie es oft heißt, sondern verbringen ihre Freizeit auf eine für sie spannende und befriedigende Art und Weise. Wir brauchen engagierte Menschen, die in diesem Sinne eigennützig tätig sind, sonst funktioniert weder Zivilgesellschaft noch überhaupt unsere Gesellschaft. Genauso brauchen wir auch Banker, die Gewinn machen wollen, und Politiker, die Macht wollen – sonst hätten sie ihre Aufgabe verfehlt. Entscheidend ist dabei immer, dass dies nicht auf Kosten anderer geschieht und niemand ungerechtfertigte Vorteile gleich welcher Art erhält. Transparenz, verantwortliches Handeln und persönliche Integrität sind also in jeder Funktion unerlässlich. Auch die Zivilgesellschaft – Transparency Deutschland hat derzeit rund 850 Mitglieder – besteht nicht nur aus Heiligen, Integrität muss täglich neu gelebt werden. Deshalb setzt Transparancy auf Koalitionen, zeigt nicht mit dem Finger auf andere, sondern versucht Schritt für Schritt mit den Betroffenen Wege aus Intransparenz hin zur Korruptionsprävention zu entwickeln. IV. Was wurde erreicht, was bleibt zu tun? Die Erfolge können sich sehen lassen! Seit der Gründung von Transparency vor 15 Jahren wurde das Thema Korruption aus der Tabuzone herausgeholt und national wie international auf die Tagesordnung gesetzt. Beim G 8 Gipfel 2007 in Heiligendamm wurde dem Kampf gegen Korruption im Schlussdokument eine wesentliche Passage gewidmet. Konventionen – die OECD Konvention von 1997 und die UN Konvention von 2003 – wurden erlassen, in Deutschland sind in der Folge Strafgesetzte verschärft und Schwerpunktstaatsanwaltschaften eingerichtet worden. Entscheidend ist jedoch, dass die Ansprüche in der Öffentlichkeit auf Transparenz, Informa­ tionsfreiheit und verantwortliches Verhalten gestiegen sind und immer wieder eingefordert werden. Nachdem die Grundlagen gelegt sind, geht es jetzt im-



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mer mehr darum, die Köpfe und Herzen der Menschen zu erreichen und Bündnisse in der Zivilgesellschaft zu schmieden. Transparency kann zeigen, dass man aktiv gegen Korruption etwas unternehmen kann, und dies sogar Spaß macht. Dies wirkt der Resignation entgegen – wenn wir hier in Deutschland bei unseren Voraussetzungen nicht in der Lage sind, aktiv zur Verbesserung der Situation beizutragen, was sollen wir denn dann den Menschen z. B. in Somalia, Myanmar oder im Irak, Länder die am Ende des Corruption Perception Index liegen, sagen? Wir müssen also viele davon überzeugen, dass es sich zu kämpfen lohnt. Um eine größere Breitenwirkung zu erreichen, soll der Begriff der Zivilgesellschaft hier erweitert werden um die Sportorganisationen. Bei dieser Tagung war die Situation im Sport, insbesondere die Dopingproblematik, bereits ein Thema. Doping kann man als spezifische Form der Korruption bezeichnen, denn auch hier handelt es sich um die moralische Zersetzung eines gesellschaftlichen Teilbereiches. Im Übrigen gibt es auch im Sport „richtige“ Korruption – man denke nur an die Vergabe der Olympischen Winterspiele 2002 nach Salt Lake City, die Wettskandale im Fußball und viele andere Beispiele. Parallelen zwischen Doping und Korruption gibt es insbesondere im Hinblick auf das gesellschaftliche Bewusstsein für die erodierende Wirkung. Der inzwischen geständige österreichische Tour de France Fahrer Bernhard Kohl wird in seinem Heimatland als gefallener Held bejubelt – da sind wir im Anti-Korruptions-Kampf glücklicherweise schon ein ganzes Stück weiter, niemand bejubelt die früheren Siemens-Manager. Sieht man den Sport jedoch als Symbol und einen Teil der Gesellschaft, der eine hohe Reichweite hat und im negativen wie positiven als Vorbild dienen kann, muss man zivilgesellschaftliches Engagement auch z. B. vom Internationalen Olympischen Komitee einfordern. Immerhin hat das IOC in der Olympischen Charta einen hohen ethischen Anspruch für sein Handeln festgelegt, hiervon ist die olympische Bewegung im Moment ein ganzes Stück weit entfernt. Wenn aber die Menschen im Bereich des Sports betrügerisches Handeln und Manipulationen – ob Doping oder Korruption – akzeptieren, dann werden sie auch sonst die herrschenden Verhältnisse nicht in Frage stellen und erst recht in Resignation verfallen. Dem Sport mit seiner hohen Popularität kann insofern eine Schlüsselrolle zukommen. Integrität in Staat, Wirtschaft und anderen Institutionen lässt sich nicht verwirklichen ohne die Rolle der Zivilgesellschaft und setzt Integrität in allen Bereichen der Gesellschaft voraus.

Skandale in der Mediengesellschaft: Das aufgeblasene Nichts und die ignorierte Relevanz Von Thomas Leif „80 Prozent der Journalisten haben gar keinen echten Informanten – sie glauben, der Pressesprecher sei ein Informant.“ Kuno Haberbusch, NDR – Quelle: Welt am Sonntag, 11.6.2008 „Redaktionsleiter von Zapp kritisiert die Faulheit deutscher Journalisten.“

I. Einleitung Ende Oktober 2008 tagte der Presseclub am Sonntag Mittag in der ARD. Auffallend: nach der sogenannten Finanzkrise diskutierten die Journalisten über die Ursachen der eskalierenden Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Frage der Verantwortung von Banken und die Rolle des regulierenden Staates wurden zwar aufgeworfen, aber in keinem Punkt geklärt. Nie zuvor hatten sich Politiker so entscheidungsfreudig gezeigt, den Bankenrettungsschirm quasi über Nacht durch alle Instanzen gedrückt. Niemand mochte kritisieren, dass eine geschäftlich mit den Banken verbandelte Berliner Großkanzlei die Vorlagen für die passenden Rettungsgesetze geliefert hatte. Nur acht Monate später – Ende Juni 2009 – wiederholte sich der Vorgang. Im Parlament wurde das Gesetz für eine Bad Bank eilig vor der Sommerpause abgewunken. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die mächtigen Banken in Deutschland – trotz Ermahnungen sogar durch den Bundespräsidenten in seiner Berliner Rede – kaum ein Wort über die Gründe der Krise, die Gier, die irrwitzigen Geschäftsmodelle und das mit Vorsatz ausgeblendete Risikomanagement verloren. Dies ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer aufwändigen strategischen Beratung einer großen Berliner Beratungsagentur. Die Nicht-Berichterstattung über diese mediale Schweigespirale ist ein wirklicher Skandal, über den niemand skandalierend berichtet. Nur einer fand Mitte Juni deutliche Worte für diese diskussionslose Geschlossenheit der politischen, medialen und wirtschaftlichen Klasse. Eggert Voscherau, der Aufsichtsratschef der BASF rief seinem Publikum im Ludwigshafener Feierabendhaus zu: „Die Wall Street hat nur eine Schlacht verloren, nicht den Krieg.“ Kein

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­ inanzprodukt, das den „Weltbrand“ entfacht habe, sei verboten worden. F Nichts sei getan worden, um eine Wiederholung der Krise zu verhindern. Nur leiser seien die Banker geworden, mehr nicht. Seine Ausführungen gipfelten in der Kernthese, die von den mainstream der Medien nicht aufgegriffen wird:„Die Politik scheut noch immer die Machtfrage.“ Ohne detaillierte Ursachen-Analyse, ohne gründliche Sachverhaltsaufklärung, ohne die Definition der Verantwortung für die Finanzkrise – wachsen Mythen und Legenden, entwickelt sich eine „umgekehrte Realität.“ Die Politik, der selbstverständlich im Bereich der Landesbanken ein massives Kontrollversagen vorzuwerfen ist, wird nun – von den Banken – für die gesamte Krise mit verhaftet. Schließlich habe man die Geschäftsmodelle der Banken nicht kontrolliert oder gar gestoppt. Der einst von den Banken fast im Stil einer kommunikativen Stalinorgel attackierte und bekämpfte Staat, verwandelt sich über Nacht in die geliebte Rolle des Schnellgesetzgebers. Die über Jahrzehnte verachteten Politiker retten nun diejenigen, die mit einer Mischung aus Größenwahn, Verzicht auf alle professionellen Standards, grenzenloser Gier und Ausschalten aller Risikofilter – versagt haben. Und nicht einmal bereit sind, die Lage gegenüber den Steuerzahlern aufzuklären. Also – ein veritabler Skandal, begleitet von einer Berichterstattung, die – von Ausnahmen abgesehen – kaum Anstrengungen unternimmt, die Ursachen, die Akteure und die Verantwortung für die Krise tiefgründig zu analysieren. Der vom Bund der Steuerzahler inszenierte Skandal rund um die Privatnutzung von Flugmeilen stimulierte in manchen Blättern mehr Empörung als Ursachen und Folgen der Finanzkrise. II. Suchpfad: Anatomie des Wirtschaftsjournalismus Über Skandale in der Mediengesellschaft kann man nur reflektieren, wenn man auch über die Innenausstattung des Journalismus und die Rolle der Verlage, Sender und Programmverantwortlichen nachdenkt. Voraussetzung und Fundament für eine solide Skandalberichterstattung ist eine einfache Trilogie: Sie besteht aus den Elementen Kontinuität, Konsequenz und Kompetenz. Von all diesen Zutaten gibt es zuwenig im deutschen Journalismus. Und: diese Bedingungen werden vor allem in der notwendigen Kombination selten erfüllt. Deshalb funktioniert begründete Skandalberichterstattung nur in Ausnahmen, meist nur wenn mutige, kompetente Informanten hinter Journalisten stehen und quasi als innere Navigationssysteme und belastbare Materiallieferanten funktionieren. Im agenturgeprägten Tagesgeschäft des Stichflammenjournalismus gehen komplexe Themen meist unter. Die Komplexitätsfalle ist wohl die entscheidende Hypothek für einen hintergründigen Journalismus, der zwischen ech-



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ten und inszenierten Skandalen zu unterscheiden weiß. Die meisten Journalisten sind heute Textmanager von Fremdmaterial; sie sollen explizit als Generalisten fürs Allgemeine arbeiten. Belastbare multimediale Alleskönner sind gefragt, Fach- und Erfahrungswissen ist den meisten Chefs eher lästig. Gibt es überhaupt jenseits des von Heribert Prantl kritisierten „KikerikiJournalismus“ eine Chance für einen Journalismus, der seine gesellschaft­ liche Aufgabe ernst nimmt. Gibt es ein Gegenmittel zum Unterhaltungssog und der grassierenden Politikverachtung? Der Finanzexperte Paul Kirchhof – bekannt als Professor aus Heidelberg – hat die Notwendigkeit eines besseren Journalismus im Sommer 2009 im Magazin der Süddeutschen Zeitung markiert: „In der Öffentlichkeit wird die Wahrheit unterdrückt“ lautete seine nüchterne Lageanalyse. Der Medienforscher Lutz Hachmeister hat bei der Wächterpreis-Verleihung der „Stiftung Freiheit der Presse“ Anfang Mai 2008 in Frankfurt eine wichtige Rede gehalten. Guter Journalismus müsse unabhängig von Ökonomie sein, unabhängig von Public Relations und den Standpunkten der eigenen Medienunternehmen sein. Guter Journalismus für alle Medien beruhe auf den „vier Faktoren Zeit, Geld, Recherche und Stil.“ (dpa, 7.5.2008) Weiter führte Hachmeister aus: die „ungesunden Beschleunigungstendenzen im Online-Journalismus“ seien fühlbar, „auch die verschärfte Konkurrenz um Pseudo-Nachrichten in der Hauptstadt, wo die wirklich entscheidenden politischen und legislativen Prozesse, die sich auf der Ebene von Ministerialbeamten und Lobbyisten abspielen, zu selten reportiert werden.“ Im Fall der Finanzkrise kann das Wort „selten“ durch „nie“ ersetzt werden. III. Defizite in der Recherche treiben die übertriebene Skandalisierung an Zu den Säulen „Zeit. Geld. Recherche. Stil.“, die in der Frankfurter Rede durchgearbeitet werden, könnte noch eine fünfte Säule ergänzt werden. Von großer Bedeutung sind natürlich die Quellen von Journalisten, ohne die wahrscheinlich kein einziger Skandal von Relevanz in der Nachkriegsgeschichte die Öffentlichkeit erreicht hätte. „Quellen hat man, aber über Quellen redet man nicht.“ Diese Journalisten-Weisheit spielt auch eine wesentliche Rolle wenn tatsächliche, medial inszenierte oder sogar konstruierte „Skandale“ analysiert werden. Quellen können auch direkt in einen Sumpf führen. Darüber schreibt Bernhard Honnigfort In seinem bitteren Text „Kein Sumpf, nirgends. Die ‚sizilianischen Verhältnisse‘ in Sachsen gab es nicht. Staatsanwälte stellen Ermittlungen ein.“ (FR 30.4.2008) Wir erinnern uns: vor etwa ­einem Jahr berichtete nicht nur der Spiegel vom „Sächsischen Sumpf“; die Leipziger Volkszeitung war von „Kriminellen Verstrickungen bis in höchste

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Kreise“ alarmiert; und sogar ein renommiertes Medienmagazin ließ den „mafiösen Sumpf“ von einem „Top-Experten“ ausführlich vermessen. Nur: der angebliche Sumpf war eine Erfindung von wenigen Verfassungsschutz-Mitarbeitern. Teile eines 10.000 Seiten Konvoluts, das zwischen 2003 und 2006 zusammengetragen wurde, diente den „Experten“ als Vorlage für „Hysterie und Leichtfertigkeit.“ Der FR-Korrespondent schreibt: „Roth und weitere Journalisten haben zwischenzeitlich strafbewehrte Unterlassungserklärungen bzw. eine entsprechende Presseerklärung abgegeben oder sich telefonisch bei dem betroffenen früheren Staatsanwalt entschuldigt.“ Der ausführliche Bericht unabhängiger Experten zum „Sachsen Sumpf“, aber auch der sogenannte „Schäfer-Bericht“ zur Kooperation von Journalisten mit dem BND sind wertvolle Dokumente für alle Journalisten, die sich mit dem Dunst der Dienste umgeben und sich selbst als „Skandal-Reporter“ sehen. Die Fallstricke im Umgang mit „trüben Quellen“ werden nur selten von den Medienmachern analysiert oder gar von der „Journalismusforschung“ aufgegriffen. Es gehört zur besonderen Innenausstattung des deutschen Journalismus, dass die Bereitschaft zur Reflexion im umgekehrten Verhältnis zur Lust an (vorschneller) Dramatisierung von tatsächlichen und vermeintlichen Skandalen steht. Mit der Erstveröffentlichung werden Wellen geschlagen, die Nachberichterstattung samt einer Aufarbeitung der komplexen Vorgänge nimmt sich meist eher kümmerlich aus. IV. Trübe Quellen und Pseudo-Experten befördern die Skandalisierung Wenn es um Skandalisierung von Ereignissen, Vorgängen und Prozessen geht, haben sogenannte Experten einen besonderen Status. Aber über die Qualität und Seriosität von Experten wird nur selten gesprochen. Warum? Die Medien sind abhängig von diesen Stofflieferanten und zeigen wenig Neigung deren Rolle zu untersuchen. Nicht selten sind die Experten nur deshalb die Inhaber dieses privilegierten Status, weil dieser ihnen von den Medien verliehen wurde. Eine interne Abrechnung mit vermeintlichen Experten illustriert, wie heikel der skandalisierbare Stoff von Informanten sein kann. Zu diesem journalistischen Tabu-Thema gibt es eine hoch interessante interne Anleitung der Nachrichtenagentur AP zum „Umgang mit Quellen“. (FH / Letzte Aktualisierung 02.10.2006) Hier werden alle Mitarbeiter auf die Regeln bei der Quellenprüfung, auf die Problematik von blogs und Quellen im www, auf die Quellenaufbewahrung und Quellenhinweise aufmerksam gemacht. Besonders aufschlussreich ist das Kapitel „Experten / Schwarze Liste“. Hier heißt es: „In dieser – bislang noch sehr unvollständigen – Liste aufgeführte Experten oder Institutionen haben uns aus unterschiedlichen Gründen schon Probleme bereitet und werden daher in der AP-Berichterstattung nicht be-



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rücksichtigt. Alle AP-Mitarbeiter, die schlechte Erfahrungen mit Experten / Institutionen gemacht haben, mögen diese bitte per Mail an (…) mailen, damit wir sie ggf. in diese Liste aufnehmen können.“ Nur zwei Fallbeispiele: „Geheimdienste: Udo Ulfkotte (nicht unumstrittener Geheimdienstexperte, der inzwischen auch als ddp-Mitarbeiter firmiert und damit für uns endgültig nicht mehr in Frage kommt). Gesundheit: Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin und Diätetik (DIET) (betreibt sehr geschickt verdeckte Produkt-PR; wurde vor zwei Jahren von der ‚SZ‘ als unseriös enttarnt).“ Die interne Liste der Nachrichtenagentur AP ist eine sehr wertvolle Quelle. Gleichwohl müssten nicht nur die großen Nachrichtenredaktionen diese Sensibilität ebenfalls einziehen, wenn interessengebundene, skandalisierungsfähige „Rentenexperten“ oder „Automobilexperten“ die jeweilige Marktlage aus ­ihrer PR-Perspektive erklären. Auch die vermeintlichen Finanz-Experten, die nichts von den Verwerfungen am Finanzmarkt erkannt haben, treten heute wieder in der gleichen Rolle auf und beeilen sich, die Notwendigkeit von Rettungsschirmen und staatlicher Müllentsorgung mit ihrem Expertenrat zu stützen. Me­diale, kommerziell geprägte Verwertungslogik begünstigt Skandalisierungs-Berichterstattung Nick Davies, erfahrener Sonderkorrespondent der britischen Tageszeitung „The Guardian“ hat die britische Qualitätspresse einem aufwändigen Test unterzogen. Seine Ergebnisse sind niederschmetternd und vielleicht auch eine Folie für deutsche Kommunikationswissenschaftler, die ähnliche Tendenzen in der deutschen Medienlandschaft bislang nicht erkannt haben. „Ich war gezwungen mir einzugestehen, dass ich in einer korrumpierten Profession arbeite.“ so das Fazit des 400-seitigen Werks mit dem Titel „Flat Earth News.“ „Die Journalisten seien im ‚professionellen Käfig‘ ihrer ‚Nachrichtenfabriken‘ gefangen und zu ‚Churnalisten‘ verkommen. (nach ‚to churn out‘: auswerfen). Sie schrieben Pressemitteilungen oder Agenturmeldungen nur noch schnell um, ohne selbst nachzuforschen. Dieser Zustand mache die Massenmedien äußerst anfällig für die Verbreitung von Falschmeldungen, irreführenden Legenden und Propaganda.“ In seiner Buch-Rezension zitiert Henning Hoff in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (www.faz.net) schockierende Zahlen einer empirischen Analyse von 2000 Berichten der britischen Qualitätspresse. Untersuchungszeitraum war Frühjahr 2006. „Sechzig Prozent bestanden ausschließlich oder hauptsächlich aus PR-Material oder Berichten von Nachrichtenagenturen, die aber auch nur bei zwei Prozent als Quelle angegeben worden waren. (…) Nur zwölf Prozent der Texte ließen auf eigene Recherchen schließen.“ Nick Davies: „Ich fürchte, ich beschreibe nur den Tumor, der uns umbringt, ohne eine Therapie anbieten zu können.“ Die Ursache für diese Entwicklung – die wohl keine britische Spezialität ist – sieht Davis so:„Das Grundproblem ist, dass eine kommerzielle Logik die journalistische abgelöst hat.“ Nicht nur im online-Markt wird heute nicht

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mehr von Journalismus, sondern von „Geschäftsmodellen“ gesprochen. Journalismus als Produzenten einer Ware, die mit möglichst geringem (personellem) Aufwand hergestellt werden soll – ein bitteres Fazit der britischen Studie, die auch in deutschen Verlagen und Sendern intensiv diskutiert werden müsste. V. Unterhaltung und Boulevard als zentrales Selektions-Instrument wirkt als Prinzip und katalysiert die Skandal-Berichterstattung Was Nick Davis – gestützt auf ein empirisches Fundament – jetzt publiziert hat, beschrieb der Schriftsteller Henning Mankell schon Jahre zuvor. Seine Analyse: „Zu viele Autoren verschwenden ihr Können auf einen verkrüppelten Journalismus, der zu nichts verpflichtet,“ kritisierte er harsch. „Sie liefern Nachrichten als Unterhaltung.“ Eine lebendige Demokratie brauche aber „nachforschende, detektivisch arbeitende Journalisten.“ Sein Appell blieb jedoch – wie viele andere Mahnungen – ziemlich unbemerkt und verdunstete rasch. Kein Wunder: Journalistische Selbst-Kritik, die eigene Reflexion des Gewerbes oder gar medien-ethische Debatten werden in Deutschland nicht gepflegt. Nur ein paar versprengte Initiativen beschäftigen sich – oft akademisch abgeriegelt – mit Qualitätsfragen und der Bedeutung ethischer Fragen im Journalismus. Verleger und Sender-Verantwortliche kalmieren und beschwören meist in festlichen Fensterreden den Status, an dem es nicht zu kritisieren gäbe. Auch der deutsche Presserat beschäftigt sich gerne mit dem Splitter im Auge der anderen, ohne den Balken im eigenen Blickfeld wahrzunehmen. VI. Defizitäre Standards im Journalismus beeinflussen die Skandal-Berichterstattung Die von Davis und Mankell skizzierten Trends in den Medien, die auf eine Beschleunigung der Tempospirale bei gleichzeitiger Verdünnung der Inhalte hinauslaufen, prägen auch die Berichterstattung über Korruption. Im Themenfeld zwischen illegalen Geschäften, Betrug, Bestechung sind folgende Entwicklungen zu besichtigen: Erstens. Korruption als „Skandal-Thema“ erlebt nicht erst in jüngster Zeit eine beachtliche Konjunktur. Gierige Manager, Steuer-Betrug und Amtsmissbrauch von Politikern, Seilschaften und Vorteilsnahme finden ihren Platz in den Medien. Nicht nur weil mit diesen Stoffen die „neuen“ Nachrichtenkriterien erfüllt werden und viele Geschichten ein Hauch von Sensation begleitet und die ohnehin vom Boulevard stimulierte Politikverachtung bedient. Zweitens: Auf diese oft journalistisch „angefetteten“ stories folgen aber selten Konsequenzen. Skandalberichterstattung, die Details verfolgt und die Verantwortlichen genau benennt, ist noch unterent-



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wickelt. Dies mag auch daran liegen, dass der zweite Schritt in der notwendigen Hintergrundberichterstattung zwangsweise in juristisches Fahrwasser führt. Simple Sinnstrukturen, plakative Überschriften und lose verkoppelte Fakten sind leichter zu produzieren, als differenzierte, komplizierte Aufarbeitungen von „Skandalen“. VII. „Orchestrierte Kommunikation“ fördert die Skandalberichterstattung über Personen In der Skandalberichterstattung gibt es eine weitere Schwachstelle. Gezielte Informationen können auch von politischen Gegnern als ein Element von „negative campaigning“ genutzt werden. Die Treibkraft der Personalisierung von Geschichten fördert diesen Trend. Erinnern wir uns: Wichtige Informa­ tionen im Dunkelfeld von Korruption und Amtsmissbrauch werden selten selbst von Journalisten „ausgegraben“, sie werden meist gesetzt. Scharpings’ verhängnisvolle Verbindung mit dem PR-Lobbyisten Hunzinger wurde zunächst dem Spiegel offeriert; anschließend dem Stern; das Hamburger Magazin ließ sich dann auf den Deal ein. Weltekes Adlon-Sylvester-Ausflug wurde von seinen politischen Gegnern im Finanzministerium mit Hilfe interner Rechnungsbelege skandalisiert. Das persönliche Umfeld wechselt nicht selten die Loyalitäts-Rollen. Dies ging Herrn Göhner (CDU MdB und Verbandslobbyist) so, aber auch vielen seiner Kollegen. Ein Mitarbeiter des Bundes der Steuerzahler organisierte im Verbund mit der Bild-Zeitung den Aufschrei gegen den „Miles-and-More-Missbrauch“ unserer Parlamentarier. Der frühere CDU-Schatzmeister Leissler-Kiep „verkaufte“ seine Informationen in der CDU-Spenden-Affaire ganz gezielt, um im Gegenzug seine Schwarzgeld-Rolle etwas aufzuhellen. (Lichtenstein, Telecom …) Die Kette dieser interessen-geleiteten Pseudo-Enthüllungen ließe sich noch fortsetzen: sie funktioniert im Geflecht der Lokalpolitik genauso wie im Kanzleramt, Ministerien oder Behörden. Im Kampf um Machterwerb oder Machterhalt ist die Steuerung von kritischer Öffentlichkeit eine zentrale Ressource. Politiker stolpern heute nicht mehr über eine konzeptionell falsche Politik, wohl aber über jede Form tatsächlicher oder vermeintlicher Vorteilsnahme. Die Berichterstattung in den Medien, die den Skandal adressiert, ist oft wichtiger als der Skandal selbst. VIII. Skandalberichterstattung ist Teil des (politischen) entertainments Mit jedem veröffentlichten Skandal wird die Luft aber dünner. Für Behörden-Chefs ist jedes (noch so kleine) Informations-Schlupfloch ein Risiko. Nachdem die WELT über interne Vermerke der hessischen Landesregierung

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zum Thema „NPD-Verbot“ berichtete, wurde sogar das BKA eingeschaltet, um die Quelle künftig stillzulegen. Auch in den Staatsanwaltschaften werden häufig „interne Ermittlungen“ aufgenommen, wenn wichtige Schriftstücke den internen Postweg verlassen. Die EU-Anti-Korruptionsbehörde OLAF schaltete sogar die belgische Justiz ein und beschlagnahmte die kompletten Akten des Brüsseler Stern-Korrespondenten. Ein rechtswidriger Übergriff, wie die Gerichte später urteilten. Selbst in Ministerien werden nach kritischer Berichterstattung „dienstliche Erklärungen“ von potentiellen Informanten verlangt, um Angst zu schüren und den Apparat abzudichten. Die Botschaft solcher Aktionen richtet sich nicht in erster Linie an die kritisch berichtenden Journalisten; die Warnung geht an die Informanten. Zu der politischen Einschüchterung kommt oft noch die juristische Verfolgung vor und nach unliebsamen Veröffentlichungen. Klaus Bednarz, der frühere Monitor-Chef hat diesen Trend schon früh erkannt und gemahnt, dass der Anteil investigativer Eigenleistungen sinke. Chefredakteure und Verlagschefs bremsten kritische Recherchen, „da sie kostspielige Klagen oder unliebsame politische, sprich unternehmenspolitische Folgen fürchten.“ Der Autor Marc Pitzke spitzt noch zu: „Investigativer Journalismus ist bei uns eine verlernte Kunst. Intensive Recherche ist nicht gefragt.“ Mustert man die Veränderung der Medienlandschaft, kann man dieser Einschätzung nicht widersprechen. IX. „Zu viel Recherche macht die schönste Geschichte kaputt“ Sicherlich schrumpft der Markt für soliden Hintergrund-Journalismus und für meist finanziell aufwendige Recherchen – auch in der Skandalberichterstattung. Dies liegt jedoch nicht nur an den „äußeren“ Bedingungen, sondern auch an der „inneren“ Haltung vieler Journalisten. Das Berufsbild hat sich im Laufe der Jahre im Windschatten einer hoch-kommerziellen Medienwelt verändert. Viele Journalisten sehen sich als Dienstleister für Service-Informationen, nicht als Aufklärer von Missständen oder Mahner gegen Korruption, Machtmissbrauch und Ämterpatronage. Die aufgemotzte Agenturmeldung ist schneller gesendet, als der aufwendige Hintergrundbericht. Der BroadwayKolumnist Walter Winchell hat diese Haltung zynisch so beschrieben: „Zu viel Recherche macht die schönste Geschichte kaputt.“ All diese Faktoren beeinflussen, beeinträchtigen und behindern den sogenannten „investigativen Journalismus“ zu zahlreichen Skandalthemen. Es gibt aber keinen Grund, sich von dieser nüchternen Bilanz entmutigen zu lassen. Vielmehr sollte man den Blick auf soliden und seriösen Recherche-Journalismus richten. Wenn es gelänge, bei allen journalistischen Produkten die Quellenvielfalt zu erhöhen, wenn es gelänge gesteuerte PR-Informationen zu



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filtern und zu hinterfragen und wenn es gelänge, die richtigen Fragen an die richtigen Leute zu richten – dann würden die Fundamente eines verantwort­ lichen Journalismus erneuert werden. Und dies wäre dann vielleicht das solide und stabile Fundament, auf dem sich dann mehr „investigativer Journalismus“ entwickeln könnte. Ein investigativer Journalismus, als publizistisches Gegengift zu einer allein auf das Strohfeuer der schnellen öffentlichen Resonanz zielenden Skandalberichterstattung. In diesem Sinne sind Kontinuität, Konsequenz und Kompetenz im Journalismus wertvolle Ressourcen und gleichzeitig die Leitplanken für eine funktionierende Demokratie.

 Verzeichnis der Autoren*1 Arnim, Hans Herbert von, Univ.-Prof. Dr., Deutsche Hochschule für Verwaltungs­ wissenschaften Speyer Behnke, Klaus P., Präsident des Rechnungshofs Rheinland-Pfalz, Speyer Cherdron, Eberhard, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche der Pfalz Hahlen, Johann, ehem. Präsident des Statistischen Bundesamtes, Staatssekretär a. D. des Bundesministeriums des Inneren Homann, Karl, Univ.-Prof. Dr., Ludwig-Maximilians-Universität München Leif, Thomas, Prof. Dr., Chefreporter Fernsehen SWR Mainz, Vorsitzender netzwerk recherche Schenk, Sylvia, Rechtsanwältin, Vorsitzende von Transparency International Deutschland Schneider, Friedrich, O. Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. mult., Johannes Kepler Universität Linz Sommermann, Karl-Peter, Univ.-Prof. Dr., Rektor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

*  Stand

Oktober 2008.