Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit?: Beiträge auf der 7. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2004 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428518753, 9783428118755

Vor zweieinhalb Jahrzehnten sprach alle Welt von der "englischen Krankheit". Heute blickt das Ausland - gelege

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Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit?: Beiträge auf der 7. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2004 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428518753, 9783428118755

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 170

Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit? Beiträge auf der 7. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2004 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Hans Herbert von Arnim

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit?

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 170

Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit? Beiträge auf der 7. Speyerer Demokratietagung vom 28. bis 29. Oktober 2004 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Hans Herbert von Arnim

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 3-428-11875-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Vor zweieinhalb Jahrzehnten sprach alle Welt von der „englischen Krankheit“. Heute blickt das Ausland – gelegentlich nicht ohne Schadenfreude – auf uns herab und spricht von der „German disease“. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Im Bereich der Politik fehlt es keineswegs nur am guten Willen der Akteure, was durch den berühmten „großen Ruck“ zu beheben wäre. Vielmehr stimmt mit unserem politischen System etwas nicht. Diese Erkenntnis ist inzwischen in der Mitte der Politik angekommen. Es herrscht organisierte Unverantwortlichkeit, eine Formulierung, die nicht etwa von Revoluzzern stammt, sondern sowohl von den CDU-Politikern Roland Koch und Jürgen Rüttgers als auch vom ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau verwendet wurde. Systemmängel lähmen die Regierungen und die Bürger. Zwischen den Herausforderungen, denen die Republik gegenübersteht, und der erforderlichen Reformfähigkeit, klafft eine große Diskrepanz. Für jedermann deutlich wurde dies beim Scheitern der Föderalismuskommission. Sie zerbrach an den Mängeln, die sie beheben wollte. Bedenkt man, dass eine grundlegende Föderalismusreform allgemein als Voraussetzung für die Realisierbarkeit anderer Reformen angesehen wurde („Mutter aller Reformen“), so wird deutlich, in welcher selbst fabrizierten „Falle“ sich Deutschland verfangen hat. Dieser Thematik war die 7. Speyerer Demokratietagung gewidmet. Es ging dabei nicht nur um die Analyse, sondern auch um mögliche Abhilfevorschläge. Mein Dank gilt allen Referenten und Diskussionsleitern der Tagung und den vielen hochkarätigen Teilnehmern, besonders aber meinem Lehrstuhlassistenten, Rechtsassessor Stefan Kleb, Mag.rer.publ., der die Tagung in bewährter Weise begleitete und auch diesen Tagungsband redaktionell vorbereitete. Speyer, im Februar 2005

Hans Herbert von Arnim

Inhaltsverzeichnis Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit? Von Hans Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Reform der Reformfähigkeit Von Hans Herbert von Arnim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe Von Wolfgang Renzsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Haben die deutschen Landesparlamente noch eine Zukunft? Von Joachim Linck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wahl ohne Auswahl? Probleme des deutschen Wahlrechts im europäischen Vergleich Von Volker von Prittwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Probleme der politischen Parteien am Beispiel ihrer Finanzierung Von Heike Merten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Hambacher Fest von 1832: Ein Symbol für Einheit und Freiheit Von Hans Herbert von Arnim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aufbau Ost – eine Sackgasse? Von Rüdiger Pohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ämterpatronage – ein Krebsübel der Demokratie? Von Rainer Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Korruption und ihre Bekämpfung – Wo steht Deutschland? Von Johann Graf Lambsdorff und Mathias Nell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Verzeichnis der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Die deutsche Krankheit: Organisierte Unverantwortlichkeit? Von Hans Meyer

Ob Deutschland krank ist, weiß ich nicht. Aber es bleibt weit hinter seinen Möglichkeiten zurück – bis auf die Fähigkeit zur Organisation. Ist diese im staatlichen Bereich, und von dem spreche ich im Folgenden, etwa fehlgeleitet worden? Der Titel der Veranstaltung und des Vortrages scheint das trotz des gegenüber den Referenten höflichen Fragezeichens zu behaupten. Da es bei Schlagworten – und dabei handelt es sich bei dem Begriff der organisierten Unverantwortlichkeit – eher auf die Schlagkraft denn auf differenzierte Argumentation ankommt, ich aber nicht als Propagandist aufzutreten gedenke, will ich die Frage anhand von fünf sehr konkreten Komplexen untersuchen. Der erste betrifft den Bundesrat, wobei es mir um seine Struktur und seine Abstimmungsregeln geht. Der zweite befasst sich mit seinem Zustimmungsrecht zu Gesetzen. Der dritte widmet sich der Verfassungsreform 1994, die mit ihrer Veränderung des Art. 72 Abs. 2 GG und der Nachfolgeregel des Art. 125a Abs. 2 GG sowie der zusätzlichen fröhlichen Verschärfung durch das Bundesverfassungsgericht zu einem bisher noch nicht recht erkannten Desaster für die Rechtskultur geführt hat und zunehmend führen wird. Der vierte Komplex nimmt sich des 1992 „reformierten“ Art. 23 GG, also der damit thematisierten Europafähigkeit Deutschlands an. Der fünfte Komplex schließlich betrifft die Finanzverfassung.

I. Die Organisation des Bundesrates Versuchen wir also eine Antwort auf die mir gestellte Frage: Ist der Bundesrat ein Beispiel organisierter Unverantwortlichkeit? Der Bundesrat ist ein Bundesorgan, in dem die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes und in europäischen Angelegenheiten mitwirken (Art. 50 GG). Nun liegt die Versuchung nahe, sofort an das Stichwort Blockadepolitik zu denken. Ich möchte mich aber zunächst mit der Organisation des Bundesrates im strengen Sinne befassen. Es könnte ja sein, dass ein Teil der Probleme aus der Konstruktion des Bundesrates resultiert. Vor allem im Hinblick auf die Mitwirkung des Bundesrates bei der Gesetzgebung stellt seine Besetzung aus Mitgliedern der Landesregierungen einen zwei-

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felhaften Rückgriff auf die kaiserliche Reichsverfassung dar, wie die Altmeister Erich Kaufmann und mein Lehrer Ernst Friesenhahn schon früh festgestellt haben. Zweifelhaft deshalb, weil eine mittlerweile in über 60% der Fälle durch das Zustimmungsrecht dominante und in den übrigen Fällen zumindest retardierende Beteiligung nicht eigentlich der Länder, sondern der Landesregierungen an der Gesetzgebung des Bundes in einem föderal-parlamentarischen System ein Fremdkörper ist. Sie ist zugleich organisierte Unverantwortlichkeit, denn auf Bundesebene können weder die Ministerpräsidenten noch die Landesminister zur Verantwortung gezogen werden. Nicht einmal die Landtage können sie in ihren Entscheidungen binden. Unter Verantwortlichkeit verstehe ich aber demokratische Verantwortlichkeit. Um es in einem Bild auszudrücken: Die Ministerpräsidenten stehen in einem nationalen Stück auf der nationalen Bühne, brauchen sich aber um die Pfiffe und Buhrufe des nationalen Publikums nicht zu kümmern, nicht einmal die Claqueure im eigenen Landestheater werden gefragt. Zugleich schafft sich das Landesvolk ein Ventil, indem es unter Beifall der Landespolitiker, die sich etwas davon versprechen, die Landtagswahlen als kleine Zwischen-Bundestagswahlen begreift und sie dadurch denaturiert; denn es geht immerhin um die Wahl des Landtages. Der jeweiligen Bundestagsmehrheit wiederum, die ja gewählt worden ist, um nach dem Grundgesetz die nationale Gesetzgebungspolitik für vier Jahre zu bestimmen, kann dies je nach Wahlausgang nicht unerheblich erschwert werden. Wobei die Erfahrung lehrt, dass solche Zwischenwahlen meist zu Lasten der Regierenden gehen, zumindest in Zeiten, in denen jede Regierungsmehrheit nach einem langen Wirtschaften aus der Substanz und zu Lasten derer, die nach uns kommen, zu Reformen gezwungen ist, die einer großen Zahl von Bürgern nicht gefallen können. Bekanntlich fürchtet die Politik nichts mehr als das. Da zudem der Einfluss der Länder und damit auch der Landesvölker über den Bundesrat in kaum einem sinnvollen Verhältnis zu ihrer Größe steht, weil knapp 700 000 Einwohner mit drei Stimmen im Bundesrat zu Buche schlagen, 18 Millionen aber nur mit sechs Stimmen, kann es zu einer grotesken Verzerrung des Volkswillens kommen. In der Bundestagswahl artikuliert er sich als nationaler Volkswille, der nach der Verfassung für vier Jahre für die nationalen Agenden maßgeblich sein soll, und kann gleichwohl durch die einzelnen Landtagswahlen selbst bei insgesamt gleicher Wahlentscheidung im Bundesrat zu konterkarierenden Mehrheitsverhältnissen führen. Fragt man sich, warum der Parlamentarische Rat zu dieser Konstruktion und nicht zu einer Senatslösung gefunden hat, dann erfährt man, dass das Thema heiß umstritten war und schließlich ein legendäres Abendessen zwischen dem bayerischen Ministerpräsidenten Ehard von der CSU, der nicht Mitglied des Parlamentarischen Rates war, und dem Mitglied und zugleich Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen Menzel von der SPD zum Ärger Adenauers den Ausschlag gegeben hat. Der Ärger Adenauers rührte daher, dass er das als einen Versuch betrachtete, einen Keil in die CDU zu treiben, die in dieser Frage gespalten war.

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Entscheidend für unser Thema ist, dass der Coup zwei Mitgliedern von Landesregierungen geglückt war, also den Landesorganen, die eine Besetzung des zweiten Bundesorgans mit eigenen Mitgliedern naturgemäß favorisieren mussten. Eine weitere Folgewirkung der Bundesratskonstruktion ist die Existenz des Vermittlungsausschusses. Er lässt sich als das schwarze Loch des Gesetzgebungsverfahrens begreifen, weitab von jeder Transparenz, die doch die Gesetzgebung prägen sollte, und damit von jeglicher Verantwortlichkeit. Hier ist die Stelle, wo Gesetzgebung als Gesichtswahrungsverfahren betrieben wird. Die Entwicklung des Bundesrates zur Partei-Politisierung steht im übrigen in einem markanten Kontrast zu den Erwartungen des Parlamentarischen Rates. Der fürchtete, der Bundesrat könne zu einem Rat der Oberregierungsräte werden, weil in ihm die Länder ihre verwaltungspolitischen Vorstellungen sollten artikulieren und durch das Vetorecht auch durchsetzen können. Darum wurde ausdrücklich verfügt, dass nur Regierungsmitglieder Mitglieder des Bundesrates sein können. Betrifft das Gesagte die Grundstruktur des Bundesrates und seine Folgen, so gibt auch die innere Organisation des Bundesrates Anlass zur Frage, ob sie eigentlich nach dem Prinzip der Verantwortung ausgestaltet ist. Nach Art. 52 Abs. 3 GG fasst der Bundesrat „seine Beschlüsse mit mindestens der Mehrheit der Stimmen.“ Das klingt harmloser, als es ist. Da im Bundesrat nicht die Mitglieder, sondern die Stimmen zählen, weil jedes Land nach seiner Einwohnerzahl zwischen drei und sechs Stimmen hat und die Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben werden können, bedeutet die Abstimmungsregel, dass immer die absolute Mehrheit der Stimmen erreicht werden muss. Das ist insoweit unproblematisch, als die Länder immer alle vertreten zu sein pflegen, zumal es reicht, wenn nur ein Mitglied des Landes anwesend ist. Es ist aber alles andere als unproblematisch, wenn man sich einerseits die Konsequenzen der Enthaltung eines Landes anschaut und andererseits die schon lange eingerissene Praxis der Koalitionsabkommen in den Ländern in die Betrachtung einbezieht. Enthaltung hat die Wirkung von „Nein“; konsequenter Weise muss nach der Geschäftsordnung positiv gefragt werden, ob z. B. die Zustimmung zu einem Gesetz gegeben wird, und es werden nur die Ja-Stimmen gezählt. Die Koalitionsabkommen ihrerseits pflegen vorzusehen, dass bei Nichteinigung in der Koalition das Land sich der Stimme enthält. Der größere Koalitionspartner würde nie akzeptieren können, dass der kleinere ihn zwingen kann, im Bundesrat mit „Nein“ zu stimmen. Nach der Abstimmungsregel des Bundesrates haben aber gleichwohl „Nein“ und „Enthaltung“ dieselbe Wirkung. Das heißt aber nichts anderes, als dass ein kleine Partei, die erfahrungsgemäß zwischen 5% und, wenn es gut geht, 15 % der Stimmen bei der Wahl erreicht hat, in der Lage ist, das Land zu majorisieren, und das dem Publikum nicht einmal deklarieren muss. Das halte ich unter demokratischen Gesichtspunkten für unverantwortlich.

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Wer sich enthält, kann oder will zu einer anstehenden Entscheidung keine Meinung äußern. Für den Bundesrat bedeutet die eine absolute Mehrheit voraussetzende und damit die Enthaltung zum Nein aufwertende Entscheidungsregel, dass sie tendenziell eine negative Entscheidung produziert. Dass die echten Nein-Stimmen in der Minderheit sind, spielt bei dieser Regel keine Rolle. Ein Bundesorgan aber so zu konstruieren, dass seine Entscheidungen tendenziell negativ ausfallen, nenne ich organisierte Unverantwortlichkeit.

II. Das Zustimmungsrecht des Bundesrates zu Bundesgesetzen Weit über sechzig Prozent der Bundesgesetze sind zustimmungspflichtig, davon über 60% wegen des unscheinbaren Nachsatzes in Art. 84 Abs. 1 GG, „soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmen“. Das ist an sich einleuchtend, denn im Vordersatz steht, dass die Länder selbst Organisation und Verfahren regeln, wenn ihre Behörden Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen. Wenn der Bundesgesetzgeber in diesen Eigenbereich der Länder hineinregelt, sollen die Länder über den Bundesrat ihre Wünsche anbringen und notfalls auch durchsetzen können. Sie erhalten eine Vetoposition. Nicht einleuchtend, sondern fatal ist die Karriere, die dieser Halbsatz im Laufe der Zeit eingeschlagen hat. Geburtshelfer dieser Katastrophe ist das Bundesverfassungsgericht. Schon in einer sehr frühen Entscheidung hat es die Weichen gestellt und dann dem fahrenden Zug ordentlich eingeheizt. Obwohl der Sinn der Einräumung dieser Vetoposition klar ist: der Bund sollte den Ländern keine ihnen unerträglichen Verfahrens- oder Organisationsbelastungen aufhalsen können, ist in dieser Entscheidung die sogenannte Einheitsthese geboren worden, wonach sich die Zustimmung auf das ganze Gesetz beziehe. Das bedeutet aber nichts anderes, als dass der Bundesrat die Zustimmung auch verweigern darf, wenn er mit den Organisations- und Verfahrensregeln einverstanden ist. Er und mit ihm die Länder erhalten so durch Richterspruch ein Vetorecht gegenüber dem politischen Inhalt des Bundesgesetzes. Davon ist freilich in Art. 84 Abs. 1 GG weder im Text noch gar dem Sinn nach die Rede. Diese Rechtsprechung erst eröffnet der jeweiligen Bundesopposition die Möglichkeit der Blockadepolitik, wenn es in Bundestag und Bundesrat andersfarbige Mehrheiten gibt. Dies wiederum ist um so wahrscheinlicher als einerseits die Parteibindung zurückgeht und andererseits die jeweilige Bundesregierung, nachdem die Schuldenpolitik mehr als ausgereizt ist und die Hoffnung auf dauernde Vollbeschäftigung und wirtschaftlichen Boom Hoffnung zu bleiben scheint, nichts anderes kann, als sehr unpopuläre Einschnitte vorzusehen, statt durch Wahlgeschenke auf Stimmenfang zu gehen. Die Möglichkeit der Blockadepolitik verstärkt wiederum die Tendenz, die Landtagswahlen primär oder doch mitbestimmend in Ab-

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rechnungswahlen für die Bundespolitik umzufunktionieren, was dem demokratischen Prozess im Land abträglich ist, um es vorsichtig auszudrücken. Musste es dazu kommen? Die Lösung des Bundesverfassungsgerichts ist sicher die einfachste, sie ist aber auch die fatalste Lösung des Problems. Keine Lösung wäre gewesen, die Zustimmung oder ihre Verweigerung auf die Organisationsoder Verfahrensregeln zu beschränken. Bei der unproblematischen Zustimmung machte das keine Schwierigkeiten, wohl aber bei der Verweigerung. Was nämlich sollte dann mit dem materiellen Teil des Gesetzes sein? Es ist Bestandteil des einheitlichen Gesetzesbeschlusses des Bundestages, und eine Art Teilnichtigkeit wäre unzulässig, wenn zum Beispiel die Verfahrens- und Organisationsregeln des Gesetzes mit den materiellen Regelungen eine untrennbare Einheit bilden, was häufiger der Fall ist. Die Sensibilität, die das Gericht mittlerweile beim Vermittlungsausschuss entwickelt hat, dass dieser nämlich bei seinen Vorschlägen nicht über das Vermittlungsbegehren hinausgehen darf, hätte es auch hier zeigen und nutzen können. Es hätte die Zulässigkeit einer Verweigerung der Zustimmung ausschließlich an Änderungswünsche der Länderseite zu den Organisations- und Verfahrensregeln knüpfen können. Dann hätte es am Bund gelegen, diesen Wünschen Rechnung zu tragen oder die Zustimmungsverweigerung zu riskieren. Wäre der Bund auf die Wünsche eingegangen, wären die Länder auf das Einspruchsrecht des Bundesrates beschränkt gewesen. So kam es aber nicht. Im Gegenteil, das Bundesverfassungsgericht konnte nicht an sich halten, die Begriffe der „Einrichtung der Behörden“ und „Verwaltungsverfahren“ nicht nur extensivst auszulegen, sondern sogar bloße materielle Regeln darunter zu fassen, wenn sie auf ein bestimmtes Verfahren hinauslaufen. Darunter fällt nach der Rechtsprechung auch die bloße Stellung eines Antrages, obwohl eine entsprechende Regelung des Bundesgesetzes das Verwaltungsverfahren der Länder gar nicht „regelt“, sondern lediglich auf ein landesrechtlich geregeltes Verfahren zurückgreift. Eine ähnliche Sensibilität ließe sich auch bei der zweiten großen Gruppe der Zustimmungsrechte einfordern, nämlich bei dem Zustimmungsrecht zu Gesetzen über Steuern, deren Ertrag den Länder oder Gemeinden ganz oder zum Teil zusteht (Art. 105 Abs. 3). Auch hier dürfte schon nach dem Text einleuchten, dass das Zustimmungsrecht zum Schutze des Ertrages der Länder und Gemeinden ausgeworfen ist, nicht aber wegen der Steuerpolitik im allgemeinen. Die Konsequenz wäre, dass sich die Länder nur dann auf das Zustimmungsrecht des Bundesrates berufen könnten, wenn das Bundesgesetz ihren Ertrag schmälern würde. Von solchen Überlegungen sind das Gericht, aber auch die Wissenschaft noch weit entfernt. Wie dem auch sei, die Rechtsprechung zu Art. 84 Abs. 1 GG organisiert insofern Unverantwortlichkeit, als sie den Ländern über den Bundesrat in Kernbereichen der Bundespolitik, für die wir den Bundestag gewählt haben, ein Zustimmungsrecht, also eine Vetoposition einräumt, für die eine demokratische Verantwortung

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gegenüber dem Bundesvolk nicht besteht, juristisch nicht einmal eine gegenüber dem jeweiligen Landesvolk. Der Bundesrat wird tendenziell zu einem nachgelagerten Oppositionsinstrument mit der Folge, dass sich der Bundestag in nationalen Angelegenheiten nicht durchsetzen kann, wenn der noch nicht einmal nach dem Stimmgewicht der Landesvölker besetzte Bundesrat eine andere – politische – Mehrheit organisiert.

III. Die Verfassungsreform von 1994 und ihr Einfluss auf die Rechtskultur Die Verfassungsreform von 1994 verdankt ihre Existenz der Einigung Deutschlands. Sie sollte den Ruf nach der eigentlich fälligen originären Verfassungsgebung nach Art. 146 GG zum Verstummen bringen, befasst sich aber tatsächlich nur am Rande mit Problemen, die mit der Einigung aufgetaucht sind. In ihrem Kernbereich stand sie unter dem Motto „Stärkung der Länder“. Ein wesentlicher Bestandteil war eine Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen auf die Länder. Anstatt aber nun Gesetzgebungsmaterien vom Bund auf die Länder zu übertragen und so zu einer sauberen Trennung mit eindeutigen Verantwortlichkeiten zu gelangen, versuchte man, die Schwelle für die Ausnutzung der konkurrierenden Gesetzgebung durch den Bund, also Art. 72 Abs. 2 GG, zu verschärfen und zugleich das Bundesverfassungsgericht zu zwingen, die Einhaltung dieser Voraussetzungen überhaupt oder jedenfalls intensiver als vorher zu prüfen. Das musste Folgeregelungen für die Behandlung des bestehenden Bundesrechtes, vor allem für seine Reformierbarkeit nach sich ziehen. Dabei geht es zum einen um Bundesrecht, das unter dem alten Art. 72 Abs. 2 GG korrekt ergangen war, unter neuem Recht aber nicht mehr als Bundesrecht ergehen könnte, und zum anderen um Bundesrecht, das gemäß dem neuem Art. 72 Abs. 2 GG korrekt erlassen worden ist, bei dem aber die Erlassbedingungen dieser Norm mittlerweile entfallen sind. Für beide Fälle sehen Art. 125a Abs. 2 und Art. 72 Abs. 3 GG gleichlautende Lösungen vor, auf die noch zu kommen ist. Der Ausgangspunkt ist aber die Reform des Art. 72 Abs. 2 GG. Der alte Art. 72 Abs. 2 GG sah vor, dass der Bund den großen Kreis der Gesetzgebungsmaterien der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 und 74a GG) für sich in Anspruch nehmen kann, wenn er aus insgesamt fünf Gründen ein „Bedürfnis“ nach bundesgesetzlicher Regelung bejahte. Das Bundesverfassungsgericht hat schon in einer seiner ersten Entscheidungen angedeutet, das es diese Annahme praktisch nur auf Willkür hin überprüfe, weil es sich um eine politische Ermessensentscheidung handle. Diese Rechtsprechung ist bis zur Verfassungsreform 1994 beibehalten worden. Es ist im Laufe der Zeit vergessen worden, dass diese Rechtsprechung eine handfeste Rechtfertigung hatte. Art. 72 Abs. 2 GG in der fünfzig Jahre geltenden

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Fassung hatte in der Weimarer Verfassung keinen direkten Vorläufer und er entsprang weniger dem Willen des Parlamentarischen Rates als einem Oktroi der Besatzungsmächte. Der Parlamentarische Rat war aber schlau genug, ihn so zu formulieren, dass das Bundesverfassungsgericht ihn mit gutem Gewissen so auslegen konnte, wie es das ein halbes Jahrhundert getan hat. Sein erster Präsident war nicht nur Mitglied des Parlamentarischen Rates und kannte daher die Kontroverse, er war zugleich Vorsitzender des Ersten Senats, der in einer frühen Entscheidung die fünfzig Jahre durchgehaltene Rechtsprechung vorgeprägt hat. Es kann nicht verschwiegen werden, dass dieser vom Gericht punktuell, aber folgenreich betriebene judicial self restraint von einer Reihe von Kommentatoren immer wieder angegriffen worden ist. Freilich hat sich niemand die Mühe gemacht, die Folgen einer Änderung der Rechtsprechung auch nur in den Blick zu nehmen. 1994 war es dann so weit. Von den fünf Gründen blieben drei, von der früheren Bedingung, dass für die Bundesregelung ein Bedürfnis bestehen müsse, weil sie aus diesen drei Gründen erforderlich sei, blieb nur noch das Kriterium der Erforderlichkeit. Das Bundesverfassungsgericht wurde durch die Einführung eines eigenen Verfahrens im neuen Art. 93 Abs. 1 Nr. 2a GG zur Überprüfung gezwungen, wohl wissend, dass man ihm damit politische Entscheidungen abverlangte. Die Nachfolgeregeln des so vielfältig geschärften Art. 72 Abs. 2 GG lauten: wenn für ein nach dem neuen Art. 72 Abs. 2 GG korrekt erlassenes Bundesgesetz das die Gesetzgebungskompetenz des Bundes konstituierende Kriterium wegfällt, können nicht etwa die Länder zugreifen, sondern der Bund sie zum Zugriff ermächtigen (Art. 72 Abs. 3 GG). Entsprechendes, also nur Zulassung durch Bundesgesetz, gilt für das nach dem alten Art. 72 Abs. 2 GG korrekt erlassene Bundesrecht, also für die große Masse der geltenden Bundesgesetze, vom Bürgerlichen Gesetzbuch über das Versammlungsgesetz, das Sozialgesetzbuch, die Masse der Wirtschaftsgesetze, das Atomgesetz, das Baugesetzbuch bis hin zum Wasserhaushaltsgesetz. Ich nenne das im Folgenden Altrecht; Sie sollten aber in Erinnerung halten, dass es sich um den weitaus größten Rechtsbestand der Bundesrepublik handelt. Soweit der Bund für diesen großen Altbestand an Bundesrecht kein Gesetzgebungsrecht mehr besitzt, kann er die Länder zur Gesetzgebung ermächtigen. Die Lösung schien auf den ersten Blick einigermaßen plausibel. Dann kamen 2002 das Urteil zum Altenpflegegesetz und 2004 die Urteile zum Ladenschluss, zu den Kampfhunden und zur Juniorprofessur, und die Büchse der Pandora öffnete sich, nachdem das Gericht vorher zwei der drei Kriterien zu Lasten des Bundes erheblich verschärft und zusätzlich weitere verschärfende Ingredienzien hinein getan hatte. Es geht wie vor 1994 um „die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit“ als Grund für eine bundesgesetzliche Regelung, wenn diese Kriterien die Regelung erforderlich machen, und es geht um das Kriterium der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet“, leicht abgewandelt von „Wahrung der Ein-

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heitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus“ aus der früheren Fassung. Aus „Wahrung der Rechtseinheit“, immerhin eine positive Zielsetzung, macht das Gericht „Verhinderung einer Rechtszersplitterung mit problematischen Folgen . . . , die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht hingenommen werden kann.“ Aus dem ebenfalls positiven Kriterium der Wahrung der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse wird „Verhinderung der Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise“ oder die konkrete Gefahr einer entsprechenden Entwicklung. Lediglich bei der „Wahrung der Wirtschaftseinheit“ ist man großzügiger und setzt nicht den Katastrophenfall voraus. Dass nach dieser Verschärfung der Kriterien eine Fülle von Gesetzgebungsmaterien des Art. 74 GG, die ja doch auch dem Bund offen stehen sollen, als solche von ihm gar nicht mehr in Anspruch genommen werden können, vom Versammlungsrecht über die Kriegsgräber bis zur Forschungsförderung, um nur einige zu nennen, interessiert das Gericht nicht. Damit nicht genug. Das Gericht behauptet weitere, bisher zu Recht niemanden eingefallene allgemeine Verschärfungen zu Lasten des Bundes, wie die, dass jede Ausnutzung der konkurrierenden Gesetzgebungsbefugnis durch den Bund einen „Eingriff“ in die Landeskompetenz bedeutet, obwohl Art. 72 GG im Hinblick auf den Bund von „seiner Gesetzgebungsbefugnis“ spricht. Mit dem Begriff des Eingriffs rutscht das Gericht nahtlos in die Grundrechtsrechtsprechung mit den Schlagworten der Verhältnismäßigkeit etc. Dass das Gericht sich sonst zu Recht immer dagegen gewehrt hat, Grundrechtskategorien in das Organisationsrecht zu übernehmen, wird vergessen oder ignoriert. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich Sie so intensiv mit dogmatischen Finessen belästige; sie sind leider notwendig, um das Desaster zu verstehen, dass die Verfassungsänderung 1994 in der Verschärfung durch diese Rechtsprechung angerichtet hat. Und ich komme auch gleich zum Thema zurück. Die geschilderte Reduktion der Bundeskompetenz betrifft – und nur das interessiert hier – den weitaus größten Teil des Altrechts, also des zur Zeit geltenden Rechts. Es gilt nach Art. 125a Abs. 2 GG als Bundesrecht weiter; insofern ist kein Schade entstanden. Wer aber kann das Recht reformieren? Die Länder nicht, weil sie das entgegenstehende weitergeltende Bundesrecht nach Art. 31 GG hindert, der Bund nicht, weil der so verschärfte Art. 72 Abs. 2 GG eine Novellierung verbietet. Das Gericht hat das Dilemma erkannt und den gordischen Knoten kühn durchhauen, indem es schlicht behauptet, der geltende Art. 72 Abs. 2 GG gelte für solche Novellierungen nicht. Davon ist freilich im Grundgesetz nicht die Rede. Aber Not kennt kein Gebot. Diese kühne Tat wurde aber zugleich zurückgenommen: der Bund dürfe selbstverständlich keine Neukonzeptionen bei der Novellierung betreiben, sondern das alte Recht nur modifizieren. Ein Ausweg? Schwerlich, denn das Gericht macht sofort klar, was das eine oder andere ist, bestimmt ausschließlich es

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selbst. Die Erweiterung des Strafgesetzbuches um eine Norm, welche die Strafbarkeit von bundesgesetzlichen Einführungs- und Handelsverboten von Kampfhunden festlegt, ist eine Modifizierung, nämlich des Strafgesetzbuches, die Einführung der Strafbarkeit des Verstoßes gegen Landesverbote auf diesem Gebiet ist dagegen eine Neukonzeption. Theoretisch gesprochen: je enger man das Referenzfeld für die Bewertung fasst, um so schneller ist man bei der Neukonzeption. Und das Gericht behält sich vor, das jeweilige Referenzfeld selbst zu bestimmen. Der Bund wird aber selbstverständlich die Gesetzgebungsmaschine nur in Gang setzen, wenn er glaubt, etwas Relevantes regeln zu müssen. Der Bund wird es sich also dreimal überlegen, ob er überhaupt auf eine Reformierung des Altrechts Kraft und Ressourcen verwenden soll. Und kein Anwalt wird einem Klienten abraten können, Verfassungsbeschwerde wegen einer Bundesnovelle einzulegen, weil der Joker des kompetenzwidrig erlassenen Bundesrechts immer stechen kann. Das Gericht hat aber an noch etwas gedacht. Während Art. 125a Abs. 2 GG sagt, der Bund könne die Länder durch Gesetz zuständig machen, nämlich sein Gesetz zu ändern, sagt es, der Bund müsse das, wenn eine politische oder sachliche Notwendigkeit zur Reform bestehe. Das ist die zweite Kühnheit, aus einem Können ein Müssen zu machen. Es hilft aber nichts, weil dasselbe Gericht sagt, es komme für die Bewertung auf den Bund an. Der Bund soll also, wenn er eine Reformnotwendigkeit sieht, die Länder zuständig machen, obwohl er weder weiß, ob die Länder das genau so sehen, noch sicher sein kann, dass sie seinen Vorstellungen von Reform folgen. Folglich wird er es lassen. Ein schönes Beispiel ist der Ladenschluss. Nach der neuen Rechtsprechung kann der Bund nach Art. 72 Abs. 2 GG darüber keine Gesetzgebung mehr ausüben. Und im Sinne der geschilderten Rechtsprechung hat der Bund mit Blick auf Art. 125a Abs. 2 GG schon erklärt, er sehe keinen Reformbedarf. Man kann also davon ausgehen, dass bis zum St. Nimmerleins Tag das Ladenschlussgesetz aus der politischen Gestaltung ausgeschieden ist. Darüber kann man sich freuen, wenn man gegenüber jedem Änderungsversuch skeptisch ist. Das hindert nicht, dass es sich um eine Sünde wider den demokratischen Geist handelt. Lässt man das Gesagte Revue passieren, so haben wir zwei neue Felder organisierter Unverantwortlichkeit. Das eine ist die dem Bundesverfassungsgericht aufgezwungene und offensichtlich mit Freuden ergriffene Kompetenz, politische Entscheidungen zu treffen. Das Gericht ist unverantwortlich, weil es niemandem gegenüber politische Entscheidungen verantworten könnte und zudem sein Kreationsmodus, soweit es um die vom Bundestag zu wählenden Richter geht, weder der Verfassung entspricht, weil der Bundestag sie gar nicht wählt, noch das klandestine Verfahren der Kreation eines Verfassungsrichters auch nur im Ansatz der Stellung als Mitglieder eines Verfassungsorgans gerecht wird. Zum anderen ist es unverantwortlich, weil durch den neuen Art. 72 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 125a Abs. 2 (und dem entsprechenden Art. 73 Abs. 3) GG, also durch Organisationsregeln, bedeutende Materien der Gesetzgebung und damit 2 von Arnim

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vorhandene Bundesgesetze praktisch dem politischen Zugriff des demokratischen Gesetzgebers des Bundes wie der Länder entzogen werden. Hier kann nur und wird hoffentlich die demnächst anstehende Verfassungsreform etwas ändern.

IV. Zur Europatauglichkeit des Grundgesetzes Als die Ratifizierung des für die europäische Einigung wichtigen Unionsvertrages von Maastricht anstand, wurde der neue Art. 23 GG geschaffen, der mit nicht weniger als sieben Abschnitten sich ausschließlich der „Verwirklichung eines vereinten Europa“, wie es in der Zielsetzung des Absatz 1 heißt, widmet. Die Länder hatten eine komfortable Position, weil sowohl der Unionsvertrag als auch die Verfassungsneuschöpfung des Art. 23 GG ihrer Zustimmung bedurfte. Das ist dem Art. 23 GG durchaus anzusehen. Sicherlich ist er der verquälteste Artikel im ganzen Grundgesetz. Das Problem bestand darin, dass die europäische Verfassung und erst Recht das europäische Recht nicht im Hinblick und auch nicht mit Rücksicht auf die Aufteilung der deutschen Staatsgewalt in Bundes- und Landeszuständigkeiten geschaffen worden ist und geschaffen wird. Es differenziert weder in den Politikfeldern nach unserer Aufteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern noch kann es bei seiner Politik, die ja eine gesamteuropäische ist, sonderliche Rücksicht auf die innerdeutsche Kompetenzordnung nehmen. Mit jedem innerstaatlich verbindlichen Rechtsakt geht ein Stück deutscher Staatsgewalt, deutscher Gestaltungsfreiheit verloren. Ob es den Bund oder die Länder oder beide trifft, hängt von der jeweiligen Materie ab. Der Bund hatte freilich den Vorteil, dass er als Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in Brüssel Mithandelnder ist. Und da die auswärtige Gewalt, zu der diese Betätigung bisher gezählt worden ist, eine Domäne der Bundesregierung ist, war es bisher jedenfalls im Wesentlichen eine exekutive Kompetenz, die auf Bundesseite wahrgenommen wurde. Nun haben die Länder im Vorfeld der Ratifizierung des Maastrichter Vertrages den Zeitdruck, unter den sich der damalige Bundeskanzler Kohl hatte setzen lassen, genutzt, um in dem neu zu formulierenden Art. 23 GG ein Mitspracherecht durchzusetzen. Als Schlagwort lässt sich die Haltung der Länder mit dem Satz umschreiben: „Europapolitik ist nicht mehr Außenpolitik, sondern Innenpolitik“. Daraus sollte wohl der Schluss gezogen werden, dass nicht mehr al limine der Bund kraft der auswärtigen Gewalt zuständig sei, sondern sich die Kompetenzverteilung nach der innerstaatlichen Aufteilung der Innenpolitik zu richten habe. Bei den großen und potenten Ländern stand dahinter auch das an sich einleuchtende Gefühl, nicht recht einsehen zu können, dass die große Zahl der zum Teil weitaus kleineren bis kleinsten Staaten der EU einen größeren Einfluss haben sollten, als sie selbst. Und

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schließlich schien der Kampf um den Art. 23 GG geeignet, den Staatscharakter der Länder zu betonen, mag man ihn auch auf Feldern der eigenen Innenpolitik nicht immer vehement verteidigt haben. Man denke nur an die Übertragung der Regeln über die Besoldung und Versorgung der eigenen Beamten, also über einen Kernbereich der Staatlichkeit, an den Bund durch Art. 74a GG. Dass hier ein zumindest auch psychologisches Problem steckt, ist nicht zu verkennen. Die Argumente freilich können schwerlich überzeugen. Begreift man einen zumindest großen Teil der Europapolitik als Innenpolitik, so bleibt es gleichwohl europäische Innenpolitik und nicht ein Politik, die sich nach der deutschen Zuständigkeitsverteilung zu richten hätte. Der Einfluss der kleineren EU-Staaten resultiert daraus, dass sie nicht einem Bundesstaat angehören, die großen deutschen Bundesländer aber wohl. Und was den Staatscharakter der Länder angeht, so trägt die gefundene Lösung zu ihr nichts bei. Die in Art. 23 GG gefundene Organisation der Mitwirkung bei den europäischen Agenden stärkt nämlich nicht die einzelnen Länder, sondern ein Bundesorgan, den Bundesrat. Sein neuer Einfluss lässt sich auch unter dem Blickwinkel der organisierten Unverantwortlichkeit subsumieren. Keinen erheblichen strukturellen Einwand gibt es gegen Art. 23 Abs. 4 GG, wonach der Bundesrat an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen ist, „soweit er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder soweit die Länder innerstaatlich zuständig wären. Zu erinnern ist freilich daran, dass jede Mitwirkung eines Bundesorgans wie des Bundesrates bei reinen Landesagenden die Länder nur dann schützt, wenn sie gleichlaufende Interessen haben. Das aber ist in vielen Fällen nicht so. Neben die legitimen parteipolitischen Differenzen treten die unterschiedlichen Interessen schwacher und starker Länder, von Ost- und Westländern etc. Bei reinen Landesagenden wäre es also näher liegend gewesen, die Länder und nicht den Bundesrat an der Willensbildung des Bundes zu beteiligen. Schwerlich mit der Konstruktion des übrigen Grundgesetzes ist dagegen der Befehl in Art. 23 Abs. 5 Satz 1 GG zu vereinbaren, wonach der Bund die Stellungnahme des Bundesrates zu berücksichtigen hat, und zwar selbst im Bereich seiner ausschließlichen Zuständigkeit, falls nur Interessen der Länder berührt werden, und ganz generell im Bereich der Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes. Das geht über die Zuständigkeit des Bundesrates bei der Bundesgesetzgebung und bei der Ausübung ausschließlicher Bundeszuständigkeit weit hinaus. Wo liegt der innere Sinn eines solchen Kompetenzzuwachses, wenn man den bloßen Machtzuwachs bei einem Bundesorgan als solchen nicht gelten lassen will? Wem gegenüber besteht die Verantwortung, wenn Regierungsmitglieder eines Landes sich mit reinen Bundesangelegenheiten nicht nur beschäftigen, sondern die Bundesregierung auch zur Berücksichtigung ihres Willens zwingen können? Es mag ja alles nicht so schlimm sein, weil der Bundesregierung in praxi weitgehend freie Hand gelassen wird, indem das „berücksichtigen“ nicht sonderlich ernst genom2*

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men wird. Selbst die Erkenntnis des Bundesrates, dass er die ihm durch Art. 23 GG zugewachsenen Aufgaben im Plenum vernünftiger Weise nicht erfüllen kann, und er daher in seiner Geschäftsordnung eine Europakammer vorsieht, die an Stelle des Bundesrates agieren kann, spricht für die Dysfunktionalität der ganzen vorgesehenen Organisation. Die Ironie will es freilich, dass dieses Gremium in den fast zehn Jahren nur ein einziges Mal getagt hat. Die Interessen der Länder auch gegenüber Europa sind zu disparat, als dass sie sich vertreten lassen könnten. Wenn in Brüssel „im Schwerpunkt“ Landesangelegenheiten zu behandeln sind, kennt das Grundgesetz in Art. 23 Abs. 5 Satz 2 GG bei der Willensbildung des Bundes eine Steigerung von „berücksichtigen“, nämlich „maßgeblich berücksichtigen“, was die Konsequenz hat, dass das bloße berücksichtigen im Satz vorher um seine Maßgeblichkeit gebracht wird. Aber auch die ausdrücklich ausgeworfene Maßgeblichkeit ist eine relative, weil es direkt dahinter heißt, dass dabei „die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren“ sei, nämlich bei der Willensbildung des Bundes. Daraus möge schlau werden, wer will. Eine Steigerung erfährt die Vermischung von Zuständigkeiten in Art. 23 Abs. 6 GG, wonach bei den Verhandlungen in Brüssel, wenn es im Schwerpunkt um ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder geht, ein vom Bundesrat benannter Landesvertreter die Verhandlungen führen soll. Der kann aber nur „unter Beteiligung und Abstimmung mit der Bundesregierung handeln, wobei wiederum die gesamtstaatliche Verantwortung des Bundes zu wahren ist. Kann man das noch ernsthaft als eine sinnvolle Organisation deutscher Interessen bezeichnen? Wer soll bei solchen Verfahren, bei denen immer alle mitreden können, die Verantwortung tragen? Vollends unsinnig wird das Verfahren – nähme man es ernst –, wenn man berücksichtigt, dass Deutschland in Brüssel nur einer von vielen Mitspielern ist, dass die Zeit der Vetopositionen zunehmend abläuft, man sich also durch die Drohung mit einem Veto bei sich ändernder Verhandlungslage nicht mehr Zeit erkaufen kann, um all diesen Konsultationspflichten nachzukommen, dass sich die europäischen Agenden nicht nach unseren Kompetenzverteilungen zwischen Bund und Ländern richten, sondern quer zu diesen laufen können, dass man Mehrheiten organisieren muss, was Vertrautheit mit den Akteuren der anderen Länder und möglicherweise mit den dahinter stehenden Bürokratien voraussetzt, das man Bündnisse über die jeweils anstehende Agenda hinaus schließen können muss, dass man mit dem Brüsseler bürokratischen Vorlauf vertraut sein muss und sich möglicherweise schon sehr früh einmischen muss. Das alles blendet Art. 23 Abs. 5 und 6 GG aus. Er verkennt, dass Deutschland, wenn es etwas in Brüssel erreichen will, sich an den dortigen formellen und informellen Spielregeln ausrichten muss und es keinen Sinn macht, die innerstaatliche Kompetenzverteilung zum Organisationsprinzip unserer Mitwirkung zu machen. Das ist nichts als hoch organisierte Unverantwortlichkeit.

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Es ist zudem selbst aus der bloßen Sicht des deutschen Verfassungsrechts mehr als zweifelhaft, ob die ursprüngliche deutsche Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern für die Mitwirkung in Brüssel maßgebend sein sollte. Alle nach Brüssel abgewanderten Zuständigkeiten sind keine deutschen Zuständigkeiten mehr. Es geht also in Wirklichkeit um den Einfluss auf Brüsseler Entscheidungen, nicht um die originäre Ausübung deutscher Staatsgewalt.

V. Die Finanzverfassung als System organisierter Unverantwortlichkeit Die Finanzverfassung des Grundgesetzes hat die Funktion, für die drei Typen von Gebietskörperschaften Bund, Länder und Gemeinden eine im Hinblick auf ihre Aufgaben hinreichende Finanzausstattung zu gewährleisten. Zu diesem Zweck wird die Finanzgewalt zwischen ihnen aufgeteilt. Die Finanzgewalt umfasst vor allem das Besteuerungsrecht, das Ertragsrecht und das Steuerverwaltungsrecht, aber auch die sekundäre Verteilung von Finanzmassen zwischen den dreien, also den Finanzausgleich im engeren Sinne. Dies alles ist in einem Bundesstaat mit eigenverantwortlich handelnden Gemeinden zweifellos eine ungemein schwierige Aufgabe. Die Lösung sieht grob gesprochen so aus: das Recht zur Steuergesetzgebung steht im Wesentlichen dem Bund zu. Das Recht am Ertrag der einzelnen Steuern folgt grundsätzlich nicht dem Gesetzgebungsrecht. Bei einem Teil der bundesgesetzlich geregelten Steuern steht der Ertrag dem Bund (Bundessteuern), bei anderen den Ländern (Landessteuer) oder den Gemeinden (Gemeindesteuern) zu. Der Ertrag der weitaus wichtigsten weil ergiebigsten Steuern, die ebenfalls auf Bundesrecht beruhen, steht mittlerweile nach festen oder variablen Schlüsseln Bund und Ländern und teilweise auch den Gemeinden zu (Gemeinschaftsteuern). Die Verwaltung der Steuern folgt weder ganz dem Gesetzgebungs- noch dem Ertragsrecht. Den höchst komplizierten Finanzausgleich im engeren Sinne zu beschreiben, würde einen eigenen Vortrag erfordern. Ich werde mich daher im Folgenden nur punktuell darauf einlassen. Unter dem Stichwort „organisierte Unverantwortlichkeit“ fällt zunächst auf, dass die ertragsberechtigten Länder weder bei den Landessteuern noch bei ihren Anteilen an den wichtigen Gemeinschaftsteuern die politische Verantwortung für die Steuerlast zu tragen haben; die trägt der Bund als Steuergesetzgeber. Dasselbe gilt für ihren Anteil an den Gemeinschaftsteuern. Zwar muss in beiden Fällen der Bundesrat zustimmen; das wird aber zu Recht nicht als Übernahme der Verantwortung durch das jeweilige Land empfunden. Selbst für die Übernahme der Gesetzgebungskompetenz über die Landessteuern, deren Ertrag allein den Ländern zusteht, gibt es in der sogenannten Föderalismuskommission bisher keine hinreichende Mehrheit der Länder, und zwar selbst dort nicht, wo man den gefürchteten Steuerwettbewerb nicht ins Feld führen kann, wie bei der Grundsteuer oder der

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Kraftfahrzeugsteuer. Nur die Gemeinden tragen über ihre Hebesatzkompetenz bei Grund- und Gewerbesteuer die politische Verantwortung für die Höhe der Belastung der Steuerpflichtigen. Auch bei der Steuerverwaltung lässt sich ein Stück Unverantwortlichkeit ausmachen. Es betrifft zwar nicht den Steuerpflichtigen, wohl aber den oder die Ertragsberechtigten. So beklagt jedenfalls der Bund, dass in einigen Ländern die Landessteuerverwaltungen Nebeninteressen des jeweiligen Landes verfolgt und dabei die Erträge des Bundes schmälert. So kann zum Beispiel die gewerbliche Ansiedlung durch großzügige Verwaltungspraxis bei der Einkommen- oder der Körperschaftsteuer wie eine erheblich länger als üblich bemessene Frist für Betriebsprüfungen gefördert werden. Am wenigsten transparent – um eine harmlose Formulierung zu nehmen – und daher praktisch gegenüber niemandem verantwortbar ist der Finanzausgleich im engeren Sinne, also die Verschiebung von Finanzmassen zwischen den Ländern im horizontalen Finanzausgleich und zwischen Bund und Ländern im vertikalen Finanzausgleich. Es ist ein typisches Produkt politischen Aushandelns, das ohne Gründe auskommt, dem die Kompliziertheit des gefundenen Systems wegen ihrer verschleiernden Wirkung willkommen ist und bei dem es nur auf das finanzielle und damit berechenbare Ergebnis für die Verhandlungspartner ankommt.

VI. Fazit Der kursorische Überblick über einige Organisationsstrukturen und Politikfelder in der Bundesrepublik hat ergeben, dass das Schlagwort „organisierte Unverantwortlichkeit“ durchaus einen realen Hintergrund hat. Die Erscheinungsformen zusammengenommen machen politische Zurechenbarkeit schwierig, wenn nicht unmöglich und verstoßen damit gegen einen Grundgedanken der Demokratie. Die damit einhergehende Intransparenz dient oft als Mantel, um den Blick auf Interessen, Einflüsse, Machtverhältnisse und vor allem informelle Entscheidungsstrukturen zu verstellen. Es müsste eine Forderung der politischen Hygiene sein, die Fälle der organisierten Unverantwortlichkeit auf ihre Notwendigkeit in der Sache wie im Umfang zu analysieren und daraus die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Es ist die Einsicht in die Macht und – wegen des Zwangs zum Machterhalt – auch in die Unbeweglichkeit der etablierten Kräfte, die es wenig wahrscheinlich macht, dass eine echte Remedur von einer Verfassungsänderung nach Art. 79 GG mit ihrem hohen Mehrheitserfordernis erhofft werden kann. Vielleicht erinnern wir uns doch noch daran, dass dem deutschen Volk eine von der derzeitigen Struktur der Verfassung und der etablierten Kräfte unabhängige Verfassungsgebung im Grundgesetz versprochen ist, ich meine den noch unerfüllten Auftrag des Art. 146 GG.

Reform der Reformfähigkeit Von Hans Herbert von Arnim

Es ist etwas faul im Staate Deutschland. Unbehagen und Verdrossenheit sind verbreitet. Das hängt im Kern mit einem zentralen Befund zusammen. Die Anforderungen an unser politisches System und die Leistungen des Systems fallen weit auseinander. Es besteht ein Mißverhältnis: Die mangelnde Fähigkeit „der Politik“, das Nötige zu tun, steht in scharfem Kontrast zu der gleichzeitig eklatant zunehmenden Dringlichkeit entschlossenen politischen Handelns.1 Solches Handeln scheint blockiert. Der Titel meines Vortrags unterstellt Reformunfähigkeit bei gleichzeitiger Reformnotwendigkeit. Die dringende Reformnotwendigkeit beruht auf einer Reihe von Herausforderungen. Ich will hier nur einige dieser Herausforderungen ansprechen: 1. Die niedrige Geburtenrate, die die Bevölkerungspyramide umkehrt und allmählich zu einer Schrumpfung und gleichzeitigen Vergreisung unserer ganzen Gesellschaft führt. Dies hat gewaltige Auswirkungen. Die offensichtlichste besteht darin, daß die Finanzierung aller unserer Sozialsysteme hochgradig gefährdet ist. 2. Die mangelnde Quantität an jungen Menschen wird auch nicht etwa durch um so größere Qualität ausgeglichen. Wie es um die Fähigkeiten unserer Schüler steht, wissen wir spätestens seit den PISA-Studien – und das im ehemaligen „Land der Dichter und Denker“, das einst so stolz auf seine Schulen und Hochschulen war. 3. Genau so reformbedürftig ist die verkrustete Arbeitsmarktverfassung, vom Steuer- und Finanzwesen ganz zu schweigen. Die Mängel spiegeln sich in der hohen Arbeitslosigkeit wider, und das geringe Wachstum verschärft die Probleme noch weiter. 4. Öffentliche Investitionen in Modernisierungs- und Wachstumsbereichen leiden Not und werden durch den hohen Schuldendienst und durch 150 Milliarden EUR Subventionen erdrückt, die vornehmlich überalterten Wirtschaftssektoren zugute kommen.

1 Vgl. dazu auch Hans Herbert von Arnim, Reformblockade der Politik? Ist unser Staat noch handlungsfähig?, ZRP 1998, S. 138 ff. m. w. N.; ders., Vom schönen Schein der Demokratie, Taschenbuch-Ausgabe, München 2002, S. 19 ff.

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5. Hinzu kommen die Langzeitfolgen schwerer Fehler bei der deutschen Wiedervereinigung, die dazu beitragen, daß die Produktivitäts- und Beschäftigungsschere zwischen West und Ost sich – trotz der 85 Milliarden EUR, die jährlich in den Osten gehen – nicht schließen will. In Wahrheit fehlt jede realistische Hoffnung auf durchgreifende Besserung im Osten. Ob diese Diagnose aber wirklich stimmt, diese Frage wird Herr Pohl in seinem Referat „Aufbau Ost – eine Sackgasse?“ zu beantworten versuchen. 6. Die Europäisierung und die Globalisierung des Wettbewerbs übt einen ungeheuren Druck auf den Standort Deutschland aus. Wenn im Ausland vielfach dieselbe Leistung sehr viel billiger produziert werden kann, bleibt die Frage nachhaltiger Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Da, wo sie wirklich an der Spitze des Fortschritts steht, z. B. bei besonders hochwertigen Werkzeugmaschinen, können hohe Arbeitskosten durchgesetzt werden – einfach wegen der konkurrenzlosen Qualität der Produkte. In anderen Bereichen, etwa bei Computersoftware, für die es auch in Niedriglohnländern gute Spezialisten gibt, sieht die Lage anders aus. Hinzu kommen teilweise auch sehr niedrige Steuern: In dem Beitrittsland Slowakei besteht eine proportionale Einkommensteuer von 19 Prozent. Damit kann man in Deutschland nicht mehr konkurrieren, es sei denn über die allgemeine Lebensqualität des Standorts, die in diesem Zusammenhang natürlich auch mit berücksichtigt werden muß. 7. Das zunehmende Selbstbewußtsein der Bürger und die sogenannte partizipatorische Revolution, die durch den sogenannten Wertewandel2 ausgelöst wurden, haben als eine Art Augenöffner gewirkt und dazu geführt, daß die Menschen sich nicht länger ein X für ein U vormachen (und die Mängel sich deshalb auch nicht mehr schönreden) lassen. Alle diese Erscheinungen unterstreichen die prekäre Lage und die Notwendigkeit von Reformen, auf die die Politik die Antwort bisher aber weitgehend schuldig bleibt. Vor zwanzig Jahren war Deutschland das reichste Land Europas. Heute liegt das Pro-Kopf-Einkommen unter dem Durchschnitt. In mancher Hinsicht finden wir uns gar als Schlußlicht unter allen fünfundzwanzig Ländern der Europäischen Union wieder, was im ehemaligen „Wirtschaftswunderland“ eigentlich wie ein Schock wirken müßte. Selbst das Ausland hat den Niedergang Deutschlands – bisweilen nicht ohne Schadenfreude – bemerkt. Vor dreißig Jahren sprach alle Welt abfällig von der „englischen Krankheit“. Heute sehen Großbritannien und andere Länder auf uns herab und sprechen von der „German disease“, der deutschen Krankheit. Manche Mißstände, an die wir uns schon längst gewöhnt haben, scheint man von fern viel klarer zu sehen, wie z. B. Äußerungen des neuen Bundespräsidenten Horst Köhler zeigen, der – vor Antritt seines Amtes – viele Jahre im Ausland gelebt hat. 2 Siehe Helmut Klages, Werteorientierungen im Wandel, Frankfurt a.M., New York 1984, S. 39 ff.; Wilhelm Bürklin, Gesellschaftlicher Wandel, Wertewandel und politische Betätigung, in: Karl Starzacher / Konrad Schacht / Bernd Friedrich / Thomas Leif (Hrsg.), Protestwähler und Wahlverweigerer. Krise der Demokratie?, Köln 1992, S. 18 ff.

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Teil-Reformen sind zwar in mehreren Bereichen in Gang. Einiges wurde auch beschlossen. Schon heute aber ist klar, daß dies allenfalls kurzfristig hilft und wir letztlich um sehr viel weitergehende Reformen nicht herumkommen. Und deren Durchsetzbarkeit wird vielfach mit guten Gründen bezweifelt. Das Thema „Reformblockade“ hat sich vor allem an der Erscheinung entzündet, daß die Opposition die Mehrheit im Bundesrat hat und so fast alle wichtigen Gesetze blockieren kann. Hans Meyer schreibt dazu sehr kompetent und mit dem nötigen Biß in diesem Band. Doch die Macht des Bundesrates ist nicht der einzige Grund für Reformblockaden. Allgemein gesprochen, dürften institutionelle Gründe für „Reformblockaden“ vor allem darin liegen, daß in der Bundesrepublik Deutschland ungewöhnlich viele und sehr hohe Barrieren gegen größere politische Kurswechsel der Regierungspolitik bestehen. Dafür ist eine hohe Zahl sogenannter „Vetopositionen“ in der Staatsorganisation verantwortlich und eine hohe Zahl von „Veto-Spielern“, die solche Einspruchschancen nutzen können. Damit sind wir beim Veto-Spieler-Theorem des amerikanischen Politikwissenschaftlers George Tsebelis.3 Dieses Theorem lautet: je größer die Zahl der Veto-Spieler ist, desto geringer ist – bei sonst gleichen Umständen – die Fähigkeit eines politischen Systems zum Politikwandel, desto geringer ist also seine Reformfähigkeit. Die einzelnen Veto-Spieler sind: – Koalitionspartner, auf die die größere Regierungspartei sich einlassen muß, weil sie keine ausreichende Mehrheit für eine Alleinregierung besitzt, – der Bundesrat, der allen Zustimmungsgesetzen und allen Verfassungsänderungen zustimmen muß, – die ausgeprägte Politikverflechtung zwischen Bund und Ländern, die dazu beiträgt, „daß am Ende niemand mehr weiß, wer für welche Entscheidung überhaupt verantwortlich zu machen ist.“ (Warnfried Dettling). Siehe dazu die Beiträge von Renzsch und Linck in diesem Band. – das Bundesverfassungsgericht, das aufgrund seiner weitgehenden Kompetenzen und seines umfassenden Regelungsanspruchs bisweilen auch als „Dritte Kammer“ bezeichnet wird, – die Bundesbank bzw. jetzt die europäische Zentralbank, die in allen geldpolitischen Fragen autonom ist, und schließlich – die Tarifvertragsparteien.

In der Bundesrepublik ist die Zahl der Veto-Spieler größer als in fast jedem anderen westlichen Land außer vielleicht den USA und der Schweiz. Um das Ausmaß der Vetospieler in der Bundesrepublik zu illustrieren, möchte ich zum Kontrast auf das britische Verfassungsmodell hinweisen, das die meisten dieser VetoSpieler nicht kennt. In Großbritannien benötigt die Mehrheitspartei – wegen des relativen Mehrheitswahlrechts – im allgemeinen keinen Koalitionspartner zur Bil3

George Tsebelis, Veto-Players. How Political Institutions Work, Princeton 2002.

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dung der Regierung. Bundesrat und föderalistische Strukturen gibt es in Großbritannien ohnehin nicht, ebensowenig ein Bundesverfassungsgericht. Und dem EuroBlock mit seinem unabhängigen Europäischen Zentralbanksystem gehört Großbritannien bekanntlich nicht an. Neben den genannten „harten“ Veto-Spielern, die in die Staatsorganisation eingegliedert sind und wirkliche Entscheidungsbefugnisse in öffentlichen Dingen besitzen, gibt es zusätzlich noch „weiche“ Veto-Spieler, die zumindest das Umfeld wesentlich mitbestimmen, in dem politische Entscheidungen getroffen werden (und die auch in Großbritannien durchaus vorhanden sind). Hier sind vor allem zu nennen: – die Interessenverbände der Wirtschaft und anderer Bereiche, – die Medien, die manche inzwischen sogar als „erste Gewalt“ bezeichnen, – die tief verankerten Selbstverwaltungstraditionen in Staat und Gesellschaft, die etwa auch im „Kammerwesen“ Deutschlands ihren Ausdruck finden, – die korporatistischen Strukturen vor allem in der Sozialpolitik (Stichwort: Bundesagentur für Arbeit) und – die Eigendynamik der privaten Wirtschaft, die ihre Investitionsentscheidungen, von denen das Wohl und Wehe einer Volkswirtschaft mit abhängt, autonom trifft.

In all dieses Umfeld sind politische Entscheidungen eingebunden. Abhilfestrategien könnten in drei Richtungen gehen: Entweder bringt man die Veto-Spieler und die in ihnen tätigen Akteure dazu, daß sie sich auf die nötigen Reformen einigen, von ihrer Vetomacht also keinen Gebrauch machen oder man vermindert die Zahl der Vetospieler oder zumindest den Umfang ihrer Befugnisse. Darüber hinaus wäre es – drittens – in jedem Fall gut, nicht nur an die Zahl der Spieler zu denken, sondern auch an ihre Qualität. Die Qualität des politischen Personals zu verbessern wäre für das Gemeinwesen vielleicht sogar am wichtigsten. Im ersten Fall muß es darum gehen, Konsens zu erzielen. Konkret: Bundestag und Bundesrat sollen sich im Interesse des Ganzen einigen. Regierung und Opposition sollen eine große Koalition bilden – formell oder informell, um gemeinsam die nötigen Reformen hin zu bekommen. Man appelliert hier an die Konsensbereitschaft und damit an den besseren Menschen, also an die bessere Seele in der Brust der Akteure. Mir will es allerdings so scheinen, als habe die Hoffnung, daß Politiker für solche Appelle zum Konsens im Interesse des Ganzen empfänglich sind und ihnen Folge leisten, im Laufe der vergangenen Jahrzehnte immer mehr abgenommen. Es scheint so, als ob konfliktorisches, am Eigeninteresse der Akteure orientiertes, Handeln immer mehr zunimmt. Das dürfte nicht zuletzt an der Professionalisierung der Politik4, aber auch daran liegen, daß die sogenannte 68er Generation ans Ruder gekommen ist – ich kann das sagen, denn ich gehöre selbst noch

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dazu –, und die will vor allem sich selbst entfalten. Gewiss, es gibt immer noch politisch engagierte Menschen, die nicht zuvörderst an ihre eigenen Interessen denken. Beim Aufstieg innerhalb der Parteien bleiben gerade sie aber meist stecken. Früher war am Gemeinwohl orientiertes Verhalten von Politikern vielleicht noch häufiger. Jedenfalls war es für die Väter des Grundgesetzes noch selbstverständlich, an das öffentliche Amt und seine Befugnisse die Pflicht zu knüpfen, die anvertraute Macht nur gemeinnützig zu gebrauchen, also im Sinne des Gemeinwohls.5 Die Väter des Grundgesetzes waren in der Aufbruchstimmung nach Überwindung der Nazi-Diktatur von Gemeinsinn erfüllt und glaubten wohl, dies auch bei späteren Politikergenerationen voraussetzen können. Das wird auch in der Formulierung des Eides deutlich, den das Grundgesetz vom Bundespräsidenten, vom Bundeskanzler und den Bundesministern bei ihrem Amtsantritt verlangt. Die Einigungsbereitschaft und generell die Qualität des politischen Personals dürfte allerdings ganz wesentlich auch von den Verfahren abhängen, mittels derer hierzulande Politiker rekrutiert werden. Und darum ist es nicht gut bestellt. Um in einer der beiden großen Parteien im Westen ein Parlamentsmandat zu bekommen, muß man, wie wir aus empirischen Untersuchungen wissen, im Durchschnitt 16 Jahre lang – im Rahmen der sogenannten Ochsentour – malochen6. Um das 4 Vgl. Jens Borchert, Die Professionalisierung der Politik. Zur Notwendigkeit eines Ärgernisses, Frankfurt a.M. / New York 2003; Kerstin Burmeister, Die Professionalisierung der Politik, Berlin 1993; Dietrich Herzog, Politische Karrieren. Selektion und Professionalisierung politischer Führungsgruppen, Opladen 1975; Thomas Leif / Hans-Josef Legrand / Ansgar Klein (Hg.), Die politische Klasse in Deutschland. Eliten auf dem Prüfstand, Bonn 1992; Max Weber, Politik als Beruf, 6. Aufl., Berlin 1977. 5 Zur Renaissance des Gemeinwohlgedankens in den letzten Jahren vgl. Hans Herbert von Arnim / Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Gemeinwohlgefährdung und Gemeinwohlsicherung, Berlin 2004; Peter Koslowski (Hrsg.), Das Gemeinwohl zwischen Universalismus und Partikularismus, Stuttgart / Bad Cannstatt 1999; Winfried Brugger, Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, Baden-Baden 2002; Heinrich Bußhoff, Gemeinwohl als Wert und Norm. Zur Argumentations- und Kommunikationskultur der Politik, Baden-Baden 2001; Herfried Münkler / Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn (4 Bände mit Beiträgen zahlreicher Autoren), Berlin 2001 / 2002; Herfried Münkler / Hans Joas / Hasso Hofmann / Birger P. Priddat (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Akademievorlesungen, Berlin 2002; Gunnar Folke Schuppert / Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – auf der Suche nach Substanz, Berlin 2002; Ulrich Willems / Thomas von Winter (Hrsg.), Politische Repräsentation schwacher Interessen, Opladen 2000. Siehe auch Monika Jachmann (Hrsg.), Gemeinnützigkeit, Köln 2003; Projektgruppe Çommon Goods“: „Law, Politics and Economics“ der Max-Planck-Gesellschaft in Bonn, Report October 1997-April 2000; dies., Report February 2002. Siehe aber auch Josef Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof, HdbStR, Band III, Heidelberg 1988, S. 3 ff.; Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 199 ff.; Hans Herbert von Arnim / Stefan Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz. Grundlagen einer verfassungsorientierten Rechtsmethodik, Speyer 2001. 6 Rolf Paprotny, Der Alltag der niedersächsischen Landtagsabgeordneten, Hannover 1995, S. 105 f.

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durchzustehen, braucht man vor allem zweierlei: Zeitreichtum und Immobilität.7 Darüber verfügen aber gerade tüchtige Leute oft nicht. Rekrutiert werden also typischerweise nicht unbedingt die Leistungsfähigsten.8 Daß es an dieser Schlüsselstelle für die gesamte politische Kultur in Deutschland im argen liegt, geben erfahrene Politiker unter vier Augen auch ganz offen zu. Die Parteien erfüllen ihre Aufgabe, fähige Politiker heranzubilden, nur höchst mangelhaft. Durch die Ochsentour, die als eine Art Initiationsritus fungiert, wird man in die parteiinternen Denkund Handlungsweisen eingeführt. Dabei spielt der Kampf um Positionen, Macht und Einfluß eine zentrale Rolle. Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker bezeichnete Parteipolitiker vor allem als Fachleute darin, wie man politische Gegner bekämpft. Parteiintern gilt die sarkastische Steigerungsformel: „Feind, Todfeind, Parteifreund“. Die Konsensbereitschaft ist dann oft Mangelware. Helfen kann hier nur, wenn es gelingt, den Parteien die Alleinherrschaft über die Rekrutierung von politischem Nachwuchs zu entziehen, also das allgemeine Wahlrecht grundlegend umzugestalten. Ich werde darauf noch zurückkommen. Allein auf die bessere Seite von Politikern zu vertrauen, empfiehlt sich jedenfalls nicht. Berufspolitiker werden im allgemeinen nicht vom Gemeinwohl und öffentlichem Interesse motiviert, sondern von ihren eigenen Interessen an Macht, Einfluß, Posten und Geld. Mit dieser Erkenntnis werden wir auf absehbare Zeit leben müssen. Darauf ist unser Verfassungssystem aber noch nicht eingestellt. Es funktioniert nur konsensual. Das bedeutet: Wir müssen das System grundlegend verändern. Es geht also – und damit sind wir bei der anderen Alternative – darum, VetoSpieler zu entmachten. Ist das aber wirklich zwingend? Hier gilt es zunächst noch, mit einem naheliegenden Einwand fertig zu werden. Man könnte nämlich umgekehrt versuchen, die Existenz vieler „Spieler“ unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung zu rechtfertigen und sie so ins Positive zu heben. Das war ursprünglich auch die Position der Väter des Grundgesetzes. Sie waren – die nationalsozialistischen Exzesse vor Augen – vor allem von einem Ziel beseelt: durch den Einbau von möglichst vielen checks and balances sollte die Regierung an Mißbräuchen gehindert werden. Gegen die Rechtfertigung der vielen Veto-Positionen durch den Gedanken der Gewaltenteilung sprechen heute allerdings zwei Überlegungen: Einmal wird die Gewaltenteilung vielfach unterlaufen, weil die politischen Parteien dazu neigen, sich die verschiedenen Instanzen durch Parteipatronage ein7 Ulrich Pfeiffer, Eine Partei der Zeitreichen und Immobilen, Die Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte 1997, S. 392 ff. 8 Anton Andreas Guha, Seiteneinsteiger oder die ungenutzte Chance der Parteien zur Regeneration, Vorgänge 1998, S. 54 ff.; ders., Ochsentour, Seiteneinsteiger oder ungenutzte Chance der Parteien, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Reform der Parteiendemokratie, Berlin 2003, S. 31 ff.; Wolfgang Klages, Republik in guten Händen?, Würzburg 2001, S. 34 ff., 50 ff.

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zuverleiben. Die Parteien stellen ja nicht nur das Parlament und die Regierung (was in der parlamentarischen Demokratie völlig in Ordnung ist), sondern nehmen auch da Einfluß, wo sie eigentlich nichts zu suchen haben. Über Ämterpatronage schreibt Rainer Wahl ausführlich in diesem Band. Hier deshalb nur soviel: Die Parteien durchsetzen alle möglichen Kontrollinstanzen mit ihren Parteigängern und suchen Sie dadurch bis zu einem gewissen Grad „gleichzuschalten“. Betroffen sind: – hohe Gerichte, insbesondere Verfassungsgerichte, – die Spitzen der Rechnungshöfe, – wichtige Positionen in den öffentlich-rechtlichen Hörfunk und Fernsehanstalten, – der öffentliche Dienst insgesamt, manchmal bis hinunter zum Pförtner, – Führungspositionen in öffentlichen Unternehmen, – Spitzenpositionen in Schulen und allmählich auch in den Universitäten, – Sachverständigenkommissionen und sonstige Einrichtungen der wissenschaftlichen Politikberatung.

Die überkommene gewaltenteilende Kraft aller dieser Institutionen wird durch Ämterpatronage9 geschwächt. Ämterpatronage hat übrigens noch eine Nebenwirkung mit weittragenden Folgen. Sie zwingt nämlich manchen ehrgeizigen Beamten, der etwas werden will, förmlich in die Partei hinein. In den Parteien haben nun aber öffentliche Bedienstete besonders gute Chancen, vorwärts zu kommen. Die zeitaufwendige und mühevolle Ochsentour innerhalb der regionalen Parteiorganisation, die Ortswechsel praktisch unmöglich macht, können sich Beamte, besonders Lehrer, am besten leisten. Die Verbeamtung beginnt deshalb bereits in den Parteien, verstärkt sich in den Parlamenten und verdichtet sich noch weiter in den in den Ausschüssen der Parlamente, die für Beamtenrecht und Verwaltung zuständig sind. Fast die Hälfte der 2700 deutschen Parlamentarier des Bundestags und der 16 Landesparlamente kommt aus dem öffentlichen Dienst.

9 Hans Herbert von Arnim, Ämterpatronage durch politische Parteien, Wiesbaden 1980; Theodor Eschenburg, Ämterpatronage, Berlin 1961; Walter Fricke, Probleme der Ämterpatronage. Ein Beitrag zum Verhältnis des Beamtentums zu den politischen Parteien, Interessenverbänden und Kirchen, Münster 1973; Horst Häuser, Ämterpatronage. Art. 33: Jeder Deutsche hat gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt, Darmstadt 1997; Michael Kloepfer, Politische Klasse und Ämterpatronage, in: Hans Herbert von Arnim, Politische Klasse und Verfassung, Berlin 2001, S. 107 ff.; Wolfgang Lorig, Parteipolitik und öffentlicher Dienst – Personalrekrutierung und Personalpatronage in der öffentlichen Verwaltung, Zeitschrift für Parlamentsfragen 1994, S. 94 ff.; ders. / Gisela Mayer-Schröder, Die Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes, Verwaltungsrundschau 1992, S. 55 ff.; Philip Manow, Was erklärt politische Patronage in den Ländern Westeuropas? Defizite des politischen Wettbewerbs oder historisch-formative Phasen der Massendemokratisierung, Politische Vierteljahresschrift 2002, S. 20 ff.; Werner Schmidt-Hieber, Strafbarkeit der Ämterpatronage, NJW 1989, S. 558 ff.; ders., Ämterpatronage in Verwaltung und Justiz, in: Hans Herbert von Arnim (Hg.), Korruption, München 2003, S. 84 ff.; ders. / Ekkehard Kiesswetter, Parteigeist und politischer Geist in der Justiz, NJW 1992, S. 1790 ff.

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Damit ist die Verbeamtung der Parlamente10 komplett. Die Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive wird massiv unterlaufen. Daran aber etwas problematisch zu finden, fällt den Betroffenen um so schwerer, als die Spitzen der Exekutive, die Regierungsmitglieder, oft gleichzeitig Parlamentsabgeordnete sind. Besitzen Beamtenparlamente aber die nötige Distanz, um die Verwaltung und den öffentlichen Dienst wirksam zu kontrollieren und gegebenenfalls grundlegend zu reformieren? Sind Lehrerparlamente geeignet, die nach der Pisastudie nötigen Reformen unseres Schulwesens, also sich selbst, auch nur zu konzipieren, von der Durchsetzung ganz zu schweigen? Die krasse Überrepräsentation des öffentlichen Dienstes hat auch zu einer Verbürokratisierung der Parlamente selbst geführt, die sich auch in der hierarchischen inneren Struktur deutscher Parlamente mit ihren regelrechten „Laufbahnen“ widerspiegelt.11 Ursprünglich sollte es – das sei hier nebenbei bemerkt – im Grundgesetz verboten werden, daß öffentliche Bedienstete ins Parlament gewählt werden können. So ist es auch in Großbritannien und den USA. Doch im Parlamentarischen Rat war ein solches Verbot nicht durchzusetzen. Denn seine Mitglieder kamen selbst zu zwei Dritteln aus dem öffentlichen Dienst. Zugleich hat die Einführung der Vollalimentation für Landtagsabgeordnete – bei immer mehr abnehmenden Aufgaben der Landesparlamente – die Tendenz begünstigt, Parlaments-, Ausschuß- und Fraktionssitzungen in die Länge zu ziehen, und alle Versuche erschwert, die Parlamentsarbeit sinnvoll zu rationalisieren. Wie aber sollen Parlamente, die selbst schlecht organisiert sind, noch in der Lage sein, die öffentliche Verwaltung wirksam auf Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit hin zu kontrollieren – eine Frage, die der bekannte Verwaltungswissenschaftler Thomas Ellwein immer wieder nachdrücklich gestellt hat.12 In der parteienstaatlichen parlamentarischen Demokratie müßte eigentlich eine ganz neue Form der Gewaltenteilung an die Stelle der alten treten, nämlich der Kampf der Regierungspartei(en) und der Oppositionspartei(en) um die Macht, der von den Bürgern am Wahltag entschieden wird. Doch das setzt Wettbewerb zwischen den Parteien und Verantwortlichkeit der Regierung und der Abgeordneten gegenüber den Bürgern voraus, und beides besteht gerade nicht oder nur eingeschränkt. Unser System läßt sie nicht zu. Der Bürger bestimmt weder die Regierung noch die einzelnen Abgeordneten. Wer die Regierung bildet, bestimmen vielmehr meist Parteiführer in Koalitionsverhandlungen nach der Wahl. Und welche 10 Hartmut Klatt, Die Verbeamtung der Parlamente. Ursachen und Folgen des Übergewichts des öffentlichen Dienstes in Bundestag und Landtagen, Aus Politik und Zeitgeschichte B44 / 1980, S. 35; Fritz Vilmar Verminderung der öffentlich Bediensteten in den Parlamenten. Eine wissenschaftliche Initiative, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Adäquate Institutionen. Voraussetzungen für eine gute und bürgernahe Politik?, Berlin 1999, S. 89 ff. 11 Hans Meyer, Das fehlfinanzierte Parlament, in: Peter M. Huber / Wilhelm Mößle / Martin Stock (Hrsg.), Zur Lage der parlamentarischen Demokratie. Symposium zum 60. Geburtstag von Peter Badura, Tübingen 1995, S. 17 (62 ff.). 12 Thomas Ellwein, Das Dilemma der Verwaltung, Mannheim 1994, S. 121.

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Abgeordneten die Bürger in den Parlamenten vertreten, bestimmen die Bürger schon gar nicht, sondern die Parteien durch ihre Nominierungsentscheidungen. Bei der letzten Europawahl standen von den 99 Abgeordneten, die Deutschland nach Straßburg schickt, 75 schon lange vor dem 13. Juni definitiv fest. Es herrscht ein Zustand organisierter Unverantwortlichkeit.13 Die mangelnde Verantwortlichkeit von Regierung und Abgeordneten gegenüber den Bürgern ist fatal angesichts der massiven neuen Herausforderungen, denen sich Deutschland heute gegenübersieht. Man kann – angesichts des ausbleibenden Wirtschaftswachstums – nicht weiter Leistungen verteilen. Es geht jetzt um massive Einschränkungen. Politische Handlungsfähigkeit ist damit ganz anders gefragt als in früheren Zeiten. Manche wiegeln zwar ab: Die Bundesrepublik sei mit ihrem Verfassungssystem bisher eigentlich ganz gut gefahren. Das Problem von Reformenblockaden werde übertrieben. Doch die Beispiele, die etwa der Politikwissenschaftler Manfred Schmidt auf der 2. Speyerer Demokratietagung dafür anführte, sind der Vergangenheit entnommen und deshalb, wie ich meine, nicht wirklich schlüssig.14 Sie tragen der völlig gewandelten Situation und den aktuellen Herausforderungen nicht mehr Rechnung. Das Gebot der Stunde sind Änderungen der Verfassung, sei es, des Textes des Grundgesetzes und der Landesverfassungen, sei es, der Verfassung im materiellen Sinn. Aber welcher Art von Änderungen kommt in Betracht? Welche „Spieler“ sollen beseitigt oder eingeschränkt werden? Welche sollen bleiben? Die meisten Akteure sind nicht nur Blockierer, sondern haben durchaus auch Gutes bewirkt. Denken Sie nur an die Verfassungsgerichte und die Zentralbank. So hätten das Bundesverfassungsgericht und die Landesverfassungsgerichte durchaus die Mittel, viele Mißstände zu beseitigen. Ich nenne nur vier Beispiele: 1. Ämterpatronage ist regelmäßig verfassungswidrig – Verstoß gegen Art. 33 Grundgesetz. Die Gerichte könnten deshalb organisatorisch-verfahrensmäßige Vorkehrungen vorschreiben, die die fatale Praxis eindämmen. Manche halten das zwar nicht für realistisch, sitzen die Gerichte – in Sachen parteipolitische Berufung – doch selbst im Glashaus. Doch dieser Einwand braucht nicht unbedingt das letzte Wort zu sein. Es gibt noch so etwas wie den „Beckett-Effekt“ – ein Bild, daß ich aus Anouihls Drama „Beckett oder die Ehre Gottes“ entnommen habe. Erst einmal berufen, neigen nämlich gerade Richter dazu, die Treue zu ihrem Amt und seinen Anforderungen über die Loyalität zu denen zu stellen, die sie berufen haben. Die zwölfjährige Amtsperiode von Bundesverfassungsrichtern unter Ausschluß der Wiederwahl untermauert die grundgesetzlich ge13 Hans Herbert von Arnim, Das System, München 2001 (Taschenbuchausgabe: München 2004). 14 Manfred G. Schmidt, Institutionelle Bedingungen von Reformblockaden. Zehn Thesen, in: Hans Herbert von Arnim (Hg.), Adäquate Iunstitutionen: Voraussetzungen für „gute“ und bürgernahe Politik?, Berlin 1999, S. 41 ff.

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währleistet Unabhängigkeit und erleichtert eine echte gemeinwohlorientierte Haltung. 2. Die Verfassungsgerichte könnten auch gegen die Verbeamtung der deutschen Parlamente einschreiten. Der Widerspruch zum Verfassungsgrundsatz der Gewaltenteilung liegt hier auf der Hand. 3. Die Gerichte könnten die Wahlgesetze zum Bundestag, zu denen Landtagen und zum Europaparlament wegen fehlender Unmittelbarkeit der Wahl der Abgeordneten durch das Volk (die Art. 28 und 38 GG zwingend vorschreibt) kassieren und auf diese Weise grundlegende Verbesserungen der Infrastruktur unserer Demokratie erzwingen. Daß wir unsere Abgeordneten in Wahrheit nicht mehr unmittelbar wählen, sondern die Parteien bestimmen, wer in die Parlamente kommt, habe ich vor kurzem nachzuweisen versucht.15 4. Schließlich könnte das Gericht auch seine Rechtsprechung zu Art. 84 und 85 Grundgesetz zurücknehmen, die zu einer enormen Ausweitung der Zahl zustimmungspflichtiger Gesetze geführt und damit die Blockademacht des Bundesrats erhöht hat. Herr Meyer hat dies dargestellt. Dies alles – und noch manches mehr – könnten die Gerichte tun. Voraussetzung ist natürlich, daß sie diese Aufgabe erkennen und entschlossen wahrnehmen. Zu erwähnen sind hier auch die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof. Beide sind ebenfalls absichtsvoll als unabhängige Instanzen ausgestaltete EU-Organe. Sie haben beim Vollzug der EG-Verträge, insbesondere beim Abbau von Wettbewerbshindernissen, einiges geleistet. Ihre Handlungsfähigkeit ist aufgrund ihrer Unabhängigkeit beachtlich. Sie haben Reformen erzwungen, die vorher als undurchsetzbar galten, etwa im Bereich der Sparkassen, der Energiewirtschaft und der Telekommunikation. Allerdings gibt es hier auch manche Kehrseiten, von denen nur die bekannt gewordenen Fälle von Vetterleswirtschaft und Korruption in der Kommission und in der ihr unterstellten EU-Verwaltung erwähnt seien, die im übrigen nur die Spitze des Eisbergs sein dürften. Graf Lambsdorff wird das Thema Korruption und ihre Auswirkungen auf das Gemeinwohl morgen ausführlich behandeln. Das demokratische Heil wird man in unabhängigen Organen sicher nicht sehen können. In der parlamentarischen Demokratie sind zweifellos die Regierung und die sie tragende Parlamentsmehrheit diejenigen Instanzen, die für politische Entscheidungen prädestiniert sind. Daß deshalb die Mitwirkungsrechte des Bundesrates an der Bundesgesetzgebung eingeschränkt werden müssen, ist inzwischen praktisch communis opinio. Eine solche Operation ist das wichtigste von allem. Unsere heutige Situation ist ja dadurch gekennzeichnet, daß die Opposition der Regierung jeden Erfolg mißgönnt – aus eigenen machtpolitischen Gründen. Sie fürchtet, Erfolge kämen in der 15 Hans Herbert von Arnim, Wählen wir unsere Abgeordneten unmittelbar?, JZ 2002, S. 578 ff. Vgl. auch ders., Wahl ohne Auswahl. Die Parteien und nicht die Bürger bestimmen die Abgeordneten, in: Andreas M. Wüst (Hrsg.), Politbarometer, Opladen 2003, S. 125 ff.

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Wahrnehmung der Öffentlichkeit vor allem der Regierung zugute. Bloß kann sie das nicht offen sagen. Die Bürger haben für Blockaden um der Macht willen nicht das geringste Verständnis. Die Mehrheit im Bundesrat tut deshalb meist nur so, als ob auch sie an guten Lösungen interessiert sei. Nehmen Sie die vieldiskutierte große Steuerreform als Beispiel: Die Opposition hatte sie Ende letzten Jahres lauthals gefordert. Als Kanzler Schröder aber spontan einwilligte, zog die Union ihre Bereitschaft Stück für Stück wieder zurück – unter fadenscheinigen Vorwänden. Sie fürchtet insgeheim offenbar, die Regierung könnte sich eine solche Reform als Feder an den Hut stecken und will die Reform deshalb bis nach den nächsten Bundestagswahlen hinausschieben – und im Wahlkampf 2006 damit um Stimmen werben. Dann hofft sie, wieder an die Regierung zu kommen. In der Situation, in der die Bundesrepublik sich befindet, wäre eigentlich politische Führung besonders wichtig. Es geht vor allem darum, Einschränkungen durchzusetzen. In dieser Situation wären eigentlich Schweiß-, Blut- und TränenReden angesagt. Den Menschen muß klargemacht werden, daß Reformen, auch wenn sie wehtun, immer noch das geringere Übel sind. Politische Führung ist also gefragt, um die Menschen auf notwendige Einschränkungen vorzubereiten und ihre, vielleicht widerwillige, Zustimmung zu erlangen. Dazu wäre eigentlich der Bundeskanzler berufen, der nach dem Grundgesetz die Richtlinien der Politik bestimmt. Es geht um das Aufrufen und Mobilisieren von Bürgertugend. Ohne Konzept und Perspektive kann das allerdings nicht funktionieren. Wie aber soll ein Kanzler sich auf eine Linie festlegen können, wenn diese Linie nicht ohne Mitwirkung der Opposition im Bundesrat durchzuhalten ist, eine Opposition die aber ihrerseits alles daran setzt, das Konzept des Kanzlers zu zerfleddern und ihn dadurch zu demontieren (von der eigenen Partei und dem Koalitionspartner einmal ganz abgesehen)? Unser System erschwert politische Führung, obwohl diese jetzt gerade besonders notwendig wäre. Was politische Führung bewirken kann, haben etwa Margaret Thatcher bei Überwindung der „british disease“ und Ronald Reagan etwa bei Durchsetzung der großen Steuerreform in den USA demonstriert. Die Föderalismusreform, speziell die Entmachtung des Bundesrats ist mit Recht als „Mutter aller Reformen“ bezeichnet worden. Dann wären wir einen für die politische Handlungsfähigkeit der Republik wirklich fatalen Veto-Spieler los. Die Verantwortlichkeit für Entscheidungen und für Nicht-Entscheidungen ließe sich wieder zurechnen, und zwar der Koalitionsregierung und den sie tragenden politischen Parteien. Man sollte aber noch einen großen Schritt weitergehen und das Wahlrecht ändern, um dadurch die Politik enger an das Volk heranzuführen und politischen Wettbewerb und Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Volk zu fördern. Davon handelt der Beitrag von Volker von Prittwitz in diesem Band. Deshalb hier nur ganz kurz: Am weitesten geht der Vorschlag, das Mehrheitswahlrecht nach britischem und USamerikanischem Vorbild einzuführen. Dann wäre die politische Verantwortlichkeit 3 von Arnim

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klar zurechenbar, nämlich einer alleinigen Regierungspartei und ihren Exponenten. Dann würden auch die Wähler entscheiden, wer die Regierung stellt – und nicht Parteiführer in Koalitionsverhandlungen nach der Wahl. Zugleich wäre es sinnvoll, das Wahlrecht so zu gestalten, daß Ochsentour und parteiinterne Sozialisierung in ihrer Bedeutung für die Rekrutierung von Politikern gemindert würden. Angesichts der weittragenden Auswirkungen des Rekrutierungsverfahrens von Politikern, in dem „Zeitreiche“ und „Immobile“ die besten Chancen haben, also Menschen, die nicht unbedingt die Leistungsfähigsten sind, wäre dies geradezu elementar. Ein Kernproblem besteht allerdings darin, daß die Perversion unseres Systems kein Zufall ist, sondern ihrerseits auf dem Wuchern von Eigeninteressen der politischen Klasse16 beruht. Das System ist zwar handlungsunfähig. Die politische Klasse aber lebt darin gut und sicher. Zwischen beidem: der Sicherung der Eigeninteressen der politischen Klasse und der Versteinerung des Systems, besteht in der Tat ein innerer Zusammenhang. Systemreformen werfen das „Odysseus-Problem“ auf. Über Systemreformen entscheiden ja wieder – Politiker. Diese sitzen selbst mitten im Staat an den Schalthebeln der Macht und befinden damit letztlich selbst über den Inhalt der Verfassung, der Gesetze, der öffentlichen Haushalte und damit eben auch über die Schlüsselregeln der Macht. Die politische Klasse müßte sich also selbst Grenzen setzen. Sie müßte sich wie Odysseus an den Mastbaum binden lassen, um dem Gesang der Sirenen nicht zu verfallen, um den Verführungen der Macht, des Einflusses und des Geldes nicht zu erliegen. Kann man das wirklich erwarten? So ist zum Beispiel die Blockademacht des Bundesrats kein Zufall, sondern das Ergebnis einer langen geschichtlichen Entwicklung. Die Ministerpräsidenten haben ihre Starrolle im Bundesrat vor 55 Jahren selbst im Grundgesetz verankert und über die Jahrzehnte immer weiter ausgebaut. Daß die zweite Bundeskammer aus Landesregierungen besteht, ist zwar eine verrückte Regelung, die es nirgendwo 16 Der schon von Gaetano Mosca, Die herrschende Klasse, 1. Aufl., 1895, hier herangezogen die deutsche Übersetzung der 4. Aufl., 1947, durch Franz Borkenau, München 1950, S. 53 ff., S. 271 ff., S. 321 ff., verwendete Begriff der „politischen Klasse“ erlebt seit etwa einem Jahrzehnt auch im deutschen politikwissenschaftlichen Schrifttum eine Renaissance. Siehe zum Beispiel Christine Landfried, Parteifinanzen und politische Macht, 2. Aufl., Baden-Baden 1994, S. 144 ff., S. 271 ff.; Hans-Dieter Klingemann / Richard Stöss / Bernhard Weßels (Hrsg.), Politische Klasse und politische Institutionen, Opladen 1991; Thomas Leif / Hans-Josef Legrand / Ansgar Klein, Die politische Klasse in Deutschland, Bonn 1992; Klaus von Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a.M. 1993, S. 30 ff.; Jens Borchert / Lutz Golsch, Die politische Klasse in westlichen Demokratien: Rekrutierung, Karriereinteressen und institutioneller Wandel, PVS 1995, S. 609 (609); Hilke Rebenstorf, Die politische Klasse, Frankfurt a.M.1995; von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, Taschenbuchausgabe, München 1999; Danilo Zolo, Die demokratische Fürstenherrschaft, Göttingen 1997; Lutz Golsch, Die politische Klasse im Parlament, Baden-Baden 1998; Jens Borchert (Hrsg.), Politik als Beruf. Die politische Klasse in westlichen Demokratien, Opladen 1999; Wilfried Röhrich, Herrschaft und Emanzipation. Prolegomena einer kritischen Politikwissenschaft, Berlin 2001, S. 446 ff.; Jens Borchert, Die Professionalisierung der Politik. Zur Notwendigkeit eines Ärgernisses, Frankfurt a.M. / New York 2003.

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sonst in der westlichen Welt gibt. Doch darauf zu verzichten, würde bedeuten, daß die Ministerpräsidenten einen Teil ihres Einflusses freiwillig aufgeben. Denn der Bundesrat, also die Ministerpräsidenten selbst, müssen einer entsprechenden Grundgesetzänderung zustimmen. Auch ein neues Wahlrecht werden Parlamente, die nach dem bisherigen Wahlrechts inthronisiert wurden, selbst kaum einführen, selbst wenn daraus ein neuer und möglicherweise besserer Abgeordnetentypus hervorginge. Denn sie müssen befürchten, daß dann die politischen Karten neu gemischt und ihre Wiederwahlchancen gemindert würden. Wie sehr Gesetzesänderungen den Interessen der politischen Klasse verhaftet sind, sieht man auch im umgekehrten Fall: Diätengesetze und Gesetze über neue Wege zur Parteienfinanzierung, die der politischen Klasse unmittelbar Vorteile bringen, sind dafür bekannt, wie schnell die oft über die parlamentarische Bühne gehen. Man spricht hier auch von „Blitzgesetzgebung“. Bei der Parteienfinanzierung, der Politikerversorgung und der Ämterpatronage wird besonders deutlich, daß die Politik in eigener Sache entscheidet, daß sie zur „politischen Klasse“ wird und zur Sicherung der eigenen Interessen ein politisches Kartell bildet. Frau Merten wird darüber ausführlich sprechen. Die Politikwissenschaftler Richard Katz und Peter Mair diagnostizieren geradezu eine Entwicklung hin zu „Kartellparteien“ und sehen Deutschland dabei an vorderster Front.17 Bei Politikfinanzierung und Ämterpatronage tritt aber nur besonders in Erscheinung, was auch sonst vielfach gilt, zum Beispiel auch bei der Regelung des Föderalismus 17 Richard S. Katz / Peter Mair, Changing Models of Party Organization and Party Democracy. The Emergence of the Cartel Party, Party Politics 1995, S. 5 ff. – Die Thesen von Katz und Mair werden in der Politikwissenschaft intensiv diskutiert. Siehe z. B. Ruud Koole, Cadre, Catch-All or Cartel? A Comment on the Notion of the Cartel Party, Party Politics 1996, S. 507 ff.; Katz / Mair, Cadre, Catch-All or Cartel? A Rejoinder, Party Politics 1996, S. 525 ff.; Hans Herbert von Arnim, Fetter Bauch regiert nicht gern, Taschenbuch-Ausgabe, München 1999, S. 355 ff.; Klaus von Beyme, Funktionswandel der Parteien in der Entwicklung von der Massenmitgliederpartei zur Partei der Berufspolitiker, in: Oscar W. Gabriel / Oskar Niedermayer / Richard Stöss (Hrsg.), Parteiendemokratie in Deutschland, 1997, S. 359 (369 ff.); Elmar Wiesendahl, Die Parteien auf dem Weg zu Kartellparteien?, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für „gute“ und bürgernahe Politik?, 1999, S. 49 ff.; Herbert Kitschelt, Citizens, Politicians, and Party Cartellization: Political Representation and State Failure in Post Industrial Democracies, European Journal of Political Research 2000, S. 149 ff.; Ludger Helms, Die „Kartellparteien“-These und ihre Kritiker, PVS 2001, S. 698 ff.; Wilfried Röhrich, Herrschaft und Emanzipation. Prolegomena einer kritischen Politikwissenschaft, Berlin 2001, S. 443 ff.; Thomas Poguntke, Zur empirischen Evidenz der Kartellparteien-These, ZParl 2002, S. 790 ff.; Klaus Detterbeck, Der Wandel politischer Parteien in Westeuropa. Eine vergleichende Untersuchung von Organisationsstrukturen, politischer Rolle und Wettbewerbsverhalten von Großparteien in Dänemark, Deutschland, Großbritannien und der Schweiz, 1960 – 1999, Opladen 2002; Richard S. Katz / Peter Mair, The Ascendancy of the Party in Public Office: Party Organizational Change in Twentieth-Century Democracies, in: Richard Gunther / José Ramón Montero / Juan J. Linz (ed.), Political Parties. Old Concepts and New Challenges, Oxford 2002, S. 113 ff. – Zur zunehmenden Verkrustung und Kartellierung in der Bundesrepublik siehe auch den pointierten Beitrag des Journalisten und Politikers Michael Naumann, Erstarrt in alle Ewigkeit, Die Zeit vom 13. 12. 2001.

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und des Wahlrechts. Auch hier spielen Eigeninteressen der Politik hinein. Auch hier bildet die politische Klasse Kartelle gegen das Volk zur Sicherung ihres Status, ihres Einflusses und ihrer Macht – ohne Rücksicht darauf, ob dadurch das System allmählich versteinert. Die politische Theorie hat dieses Grundproblem erkannt, diese Gefahr, daß der ganze demokratische Verfassungsbau von der Wurzel her pervertiert wird. John Rawls will deshalb in seinem Buch „Theorie der Gerechtigkeit“18 den Verfassungsvätern einen „Schleier des Nichtwissens“ überstreifen, damit sie nicht wissen, wie sich die Regelungen der Verfassung auf ihre persönliche Situation auswirken. So soll – ähnlich wie bei der blinden Justitia – Unparteilichkeit gesichert werden. Wie kann derartiges aber in der Praxis erreicht werden? Der Nobelpreisträger für Ökonomie, Friedrich August von Hayek, schlägt einen „Senat der Weisen“ vor, der den Ordnungsrahmen für die Politik setzen soll. Seine Mitglieder sollen auf 15 Jahre gewählt werden. Wähler und Gewählte sollen ein Mindestalter aufweisen, das – ähnlich wie beim „elder statesman“ – Erfahrung und geistige Unabhängigkeit gewährleisten soll. Einige Staatsrechtler sehen im Bundesverfassungsgericht eine ähnliche Konstruktion. Man kann aber auch ganz anders ansetzen. Der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas sieht den Kompaß, der das Gemeinwesen auf richtigem Generalkurs halten soll, im „herrschaftsfreien Diskurs“. Dadurch soll ähnliches erreicht werden wie durch Rawls’ „Schleier des Nichtwissens“. Die Ermittlung von Richtigem und Ausgewogenem soll nicht durch Eigeninteressen der Machthaber verzerrt werden. Der Politikökonom Bruno S. Frey hat nun dargelegt, daß öffentliche Erörterungen, die Volksabstimmungen vorausgehen, in vielen Aspekten dem Ideal solch herrschaftsfreien Diskurses nahekommen. Hier komme die bessere Seite des Menschen zum Zug: Der Citoyen verdrängt den Bourgeois. Diese Beobachtung deckt sich mit der Erfahrung, daß die Menchen in rebus publicis im allgemeinen offener diskutieren und eher bereit sind, ab- und zuzugeben als Funktionäre von Verbänden und Parteien. Dieser Gedanke liegt auch den sogenannten Planungszellen des Soziologen Peter C. Dienel zu Grunde. Soweit diese Annahmen im großen und ganzen zutreffen, wäre der Weg frei für mehr direkte Demokratie, zumindest in grundlegenden Verfassungsfragen. Damit könnte auch der legitimatorische Mangel an der Basis unseres Grundgesetzes behoben werden: die bisher nur fingierte Volkssouveränität. Geht es um die Überwindung von Reformblockaden, also um die Reform der Reformfähigkeit Deutschlands, schiene es sicher auch sinnvoll, sich einmal die Fälle anzusehen, wo Reformen gelungen sind und nach den Gründen zu fragen, warum dies dort gelang. Hier ist vor allem die Reform der Kommunalverfassungen zu nennen. Dabei ist auch aufzuzeigen, welche Gegeninteressen die Reform lange verhinderten und wie es gelang, dennoch eine Reform durchzusetzen. Eigentlich 18

John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1975, S. 34 ff.

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müßte man auch analysieren, wie durchgreifende Reformen der Institutionen im Ausland zustande kamen, zum Beispiel: – in Großbritannien durch Margret Thatcher, – die große Steuerreform in den USA 1987 durch Ronald Reagan, – die große Verfassungsreform zu Beginn der fünften Republik in Frankreich durch de Gaulle im Jahre 1958, – die großen Reformen zur Zeit des progressiven Zeitalters vor 100 Jahren in den USA, – die Reformen in den Niederlanden und in Schweden.

Das wäre ein ganzes Forschungsprogramm, daß wir hier natürlich nicht leisten können. Bleiben wir deshalb in Deutschland. Warum in die Ferne schweifen, wo das Gute liegt so nah? Auch hier gibt es Beispiele für erfolgreiche Reformen anzusehen. Genannt sei die einzige wirkliche institutionelle Reform in Deutschland im letzten Jahrzehnt: die Reform der Gemeindeverfassungen nach baden-württembergischem Vorbild.19 Sie wurde in Hessen und Bayern direkt durch Referendum und Volksentscheid verwirklicht, in anderen Bundesländern indirekt dadurch, daß die Parlamente durch glaubwürdiges Drohen mit Volksbegehren zum Handeln gezwungen wurden. Die Reform begann 1991 mit einem Referendum in Hessen, bei dem sich 82 Prozent der Abstimmenden für die Direktwahl von Bürgermeistern und Landräten aussprachen. 1995 wurden in Bayern durch Volksbegehren und Volksentscheid Bürgerbegehren und Bürgerentscheid auf lokaler Ebene eingeführt. Die Folge war, daß in Nordrhein-Westfalen und in vielen anderen Bundesländern direkt demokratische Initiativen in dieser Richtung nur noch begonnen werden mußten, um selbst den widerstrebendsten Landesparlamenten Beine zu machen. Jetzt werden in allen 13 Flächenländern die Bürgermeister nicht mehr von den Gemeinderäten, sondern direkt von den Gemeindebürgern gewählt, die auch Bürgerbegehren und Bürgerentscheide auf kommunaler Ebene durchführen können. Bei den Kommunalwahlen sind die Bürger in den meisten Ländern nicht mehr an starre Parteilisten gebunden, sondern können ihre Stimmen – im Wege des Kumulieren und Panaschierens – den von ihnen bevorzugten Kandidaten geben. Dadurch sind Gemeindeverfassungen entstanden, die mehr politische Handlungsfähigkeit und mehr Bürgernähe versprechen. Der übermäßige Zugriff der Parteien auf die Kommunen wird gelockert. Die Parteien werden auf ihre eigentliche grundgesetzliche Rolle zurückgedrängt, an der politischen Willensbildung nur mitzuwirken, statt sie völlig zu beherrschen. Aus Parteiverfassungen sind eher Bürgerverfassungen geworden.

19 Vgl. zuletzt ausführlich Hans Herbert von Arnim, Die politische Durchsetzung der Kommunalverfassungsreform der neunziger Jahre, DÖV 2002, S. 585 ff.

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Diese Entwicklung könnte auch für die Länder zum Vorbild werden. Man sollte deshalb auch eine Reform der Landesverfassungen ins Auge fassen. Eine solche Reform kann in vielen Ländern auch gegen den Widerstand der politischen Klasse durchgesetzt werden. Während im Bund nämlich direkt demokratische Elemente immer noch fehlen, gibt es inzwischen in allen sechzehn Ländern – wenn auch unter ganz unterschiedlichen Voraussetzungen – die Möglichkeit, Gesetze mittels Volksbegehren und Volksentscheid, also am Parlament vorbei, durchzubringen. Und in den meisten Ländern kann man auf diesem Wege auch die Verfassung ändern. Auf diese Weise wäre also eine Art „legale Revolution“ möglich, die beides verbessern würde: die Handlungsfähigkeit der Politik und ihre Bürgernähe. Die Hauptelemente einer solchen Reform wären:20 – die Direktwahl des Regierungschefs durch das Volk und – die Verbesserung des Landtagswahlrechts.

Die Direktwahl des Regierungschefs würde seine demokratische Legitimation gewaltig erhöhen und Koalitionsbildungen überflüssig machen. Für wacklige Koalitionsregierungen wie zum Beispiel in Berlin, Nordrhein-Westfalen oder Sachsen wäre dann kein Raum mehr, und in Nordrhein-Westfalen wäre der Nachfolger Clements nicht allein von einer Partei bestimmt worden, sondern vom Volk, wie es sich in einer Demokratie gehört. Ein direkt gewählter Regierungschef hätte gegenüber seiner eigenen Partei eine stärkere Stellung und ließe sich auch im Bundesrat nicht mehr so leicht parteilich einbinden und zur Blockade bewegen. Und das Problem der gespaltenen Stimmenabgabe eines Landes im Bundesrat entfiele dann ohnehin. Eine in dieser Richtung gehende Teilreform wurde vor kurzem in Hamburg realisiert. Dort wurde im Juni dieses Jahres ein bürgernäheres Wahlrechts zum Landesparlament eingeführt, natürlich nicht durch das Parlament, sondern durch Volksbegehren und Volksentscheid.

20 Dazu Hans Herbert von Arnim, Systemwechsel durch Direktwahl des Ministerpräsidenten, in: Heinrich Siedentopf / Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Institutionenbildung in Regierung und Verwaltung. Festschrift für Klaus König, Berlin 2004; Brun-Otto Bryde, Die Reform der Landesverfassungen, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Direkte Demokratie, Berlin 2000, S. 153 ff.; Frank Decker, Direktwahl des Ministerpräsidenten, Recht und Politik 2001, S. 51 ff.; Theodor Eschenburg, Verfassung und Verwaltungsaufbau des Südweststaats, 1952; Fried Esterbauer, Demokratiereform – Volkswahl der Regierung und Bundesstaatsreform, Wien 1991; ders., Volkswahl der Regierung?, in: Hans Herbert von Arnim (Hrsg.), Direkte Demokratie, Berlin 2000, S. 161 ff.; Hans-Horst Giesing, Kritische Fragen zum Föderalismus, in: Hans Herbert von Arnim (Hg.), Adäquate Institutionen: Voraussetzungen für „gute“ und bürgernahe Politik?, Berlin 1999; Hans Hugo Klein, Direktwahl der Ministerpräsidenten?, in: Burkhardt Ziemske / Theo Langheid / Heinrich Wilms / Görg Haverkate (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik, Festschrift für Martin Kriele, 1997, S. 573 ff. Hartmut Maurer, Volkswahl des Ministerpräsidenten?, in: Heiko Faber / Götz Frank, Demokratie in Staat und Wirtschaft, Festschrift für Ekkehart Stein, 2002, S. 143 ff.

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe Von Wolfgang Renzsch Wir befinden uns in einer eigentümlichen Situation. Der deutsche Föderalismus galt viele Jahre als besonders erfolgreich. Sein Ansehen hatte ein Maß erreicht, dass er als politisches Exportmodell galt. Mittlerweile hat sich die Einschätzung grundlegend geändert. Die bundesstaatliche Ordnung gilt geradezu als „Mutter aller Krisen“, als die entscheidende Ursache für den zu Recht vielfach beklagten „Reformstau“ in Deutschland. Warum nun dieser Wechsel in der Wertschätzung der föderalen Ordnung? Strukturell sind seit der Verfassungsreform von 1969 kaum wesentliche Veränderungen eingetreten. Die Ursachen sind m.E. weniger strukturell bedingt, vielmehr halte ich den deutschen Föderalismus für überlastet. Zwar ist dieser Begriff nicht sehr präzise, jedoch weckt er bei jemandem, der sich mit den bundesstaatlichen Finanzbeziehungen in Deutschland beschäftigt, die Vorstellung, dass vom bundesstaatlichen System mehr gefordert wird als es sinnvollerweise zu leisten in der Lage ist. Auch politische Systeme haben Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Werden sie überdehnt, sind Funktionsverluste und dysfunktionales – oder verantwortungsloses – Verhalten der Akteure die Folge. Wo die Grenzen der Leistungsfähigkeit zu verorten sind, lässt sich derzeit sehr genau bei den Verhandlungen der Bundesstaatskommission von Bundestag und Bundesrat beobachten: Über vieles sind Verständigungen möglich, aber in eine Sackgasse kommen die Verhandlungen, wenn es darum geht, wie die Länder vor finanziellen Lasten durch Bundesgesetze, die sie nach Art. 83 GG auszuführen haben, geschützt werden können, wenn die Zustimmungserfordernisse im Bundesrat nach Art. 84 GG entfallen. Die Probleme, mit denen wir es heute zu tun haben, stellen sich als die Folge einer schleichend zunehmenden Überlastung des Bundesstaates dar. „Überlastung“ ist hierbei in einem konkreten Sinne verstehen: einzelne Glieder des Bundesstaates haben Lasten zu tragen, die sie überfordern. Für die verantwortlichen Akteure im politischen Prozess stehen damit nicht mehr gesamtstaatlich akzeptable Politikergebnisse im Vordergrund des Handelns, sondern die Abwehr weitere Belastungen. Die politischen Prioritätensetzungen haben sich damit verändert in Richtung Wahrnehmung kurzfristiger egoistischer Interessen, denn längerfristig zu erwartende Kompensationen aus Zuwächsen für Zugeständnisse im Interesse gemeinschafts-

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Wolfgang Renzsch

freundlicher Lösung erscheinen nicht mehr möglich. Dadurch verliert das deutsche Föderalismusmodell insgesamt an Funktionsfähigkeit. Dazu einige Daten: Die Sozialausgaben sind von 1970 bis 2003 von 42 vH auf mittlerweile knapp 57 vH des öffentlichen Gesamthaushaltes gestiegen: Tabelle 1 Anteil der Sozialausgaben am öffentlichen Gesamthaushalt 1970 – 2003, Angaben in Mrd. A) Jahr 1970 1975 1980 1985 1990 1991 1995 2000 2001 2002 2003

Ausgaben Staat 137,6 267,3 367,4 441,9 566,9 707,4 1010,0 928,7 1001,3 1027,2 1038,9

Monet. Sozialausgaben 44,9 93,5 124,9 150,9 187,0 235,4 325,6 379,7 390,9 409,6 419,8

Sachleistungen

insgesamt

vH der Ausgaben

13,3 32,2 47,3 60,8 76,7 99,3 136,0 153,0 158,3 163,5 167,3

58,2 125,7 172,3 211,7 263,7 334,6 461,6 532,7 549,2 573,1 587,1

42,3 47,0 46,9 47,9 46,5 47,3 45,7 57,4 54,8 55,8 56,5

Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 18, Reihe S. 21, Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen: 1. 1. 10 Einnahmen und Ausgaben sowie Finanzierungssaldo des Staates, aktualisiert August 2004, www.destatis.de

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1995

2000

2001

2002

2003

Abb. 1: Sozialausgaben in vH des öffentl. Gesamthaushalts

Seit 1970, dem Inkrafttreten der Finanzverfassungsreform, hat sich der Sozialleistungsanteil an den gesamtstaatlichen Ausgaben von knapp über 40 vH auf knapp unter 60 vH erhöht. Für sich genommen muss das noch kein föderales Problem darstellen. Zum Problem im Bundesstaat werden diese Lasten aber dann, wenn sie ungleichmäßig

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe

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streuen, konkret wenn einzelne Länder und Ländergruppen durch diese bundesgesetzlich veranlassten, sozialpolitisch motivierten Ausgaben übermäßig belastet werden. Das genau ist in Deutschland der Fall: Die finanzschwachen Länder werden höher belastet als die starken Länder. Sozialstaatliche Leistungen gleichen zwar individuelle Unterschiede partiell aus, jedoch verstärken sie das regionale Gefälle. Die unterschiedlichen Belastungen der Länder durch die Bundesgesetzgebung lassen sich nur partiell erfassen, denn zum Teil können sie im Vollzug beeinflusst werden. Das ist beispielsweise bei der Jugendhilfe oder der Sozialhilfe in Einrichtungen der Fall. Eindeutig nicht beeinflussbar sind dem gegenüber die Belastungen der Länder durch die Sozialhilfe im engeren Sinn (Hilfe zum Lebensunterhalt) und durch Geldleistungen, auf die im folgenden eingegangen wird. Außerdem werden die Zinsbelastungen und Versorgungslasten als Folge von Überlastung und die Einwohnerentwicklung thematisiert. Sozialhilfe Die Sozialhilfe hat sich zum „Sprengsatz“ für den deutschen Sozialstaat entwickelt, der überproportional betroffene Länder (und Gemeinden) in einer Weise belastet, dass andere (Pflicht)aufgaben vernachlässigt werden müssen. „Die Finanzierung der überproportional steigenden und regional stark streuenden Sozialhilfeaufwendungen“, heißt es in einem Beitrag aus dem Jahr 1993, „bringt die ohnehin angespannten öffentlichen Haushalte der Länder und Gemeinden seit Beginn der achtziger Jahre zunehmend in Bedrängnis“ (Korioth 1993). Diese Feststellung galt nicht nur für die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts, sondern im Gegenteil, die Dramatik im allgemeinen und die regionalen Schieflagen im besonderen haben sich noch erheblich verschärft. Die Sozialhilfequote hat sich bis Jahresende 2002 auf 3,3 vH der bundesdeutschen Bevölkerung erhöht. Die Bruttoaufwendungen beliefen sich in diesem Jahr auf 24,7 Mrd. A. (StBA 2003a, S. 5 f.), im Jahr 2003 stiegen sie um 3,8 vH auf 25,6 Mrd. A. (StBA Presseerklärung vom 20. 10. 2004.). Insbesondere in Großstädten und in Räumen, die in besonderer Weise vom industriellen Strukturwandel durch das Absterben alter Industrien betroffen sind, konzentrieren sich die Sozialhilfelasten. Ursprünglich konzipiert als individuelle (temporäre) Hilfe in besonderen Notlagen, hat sich die Sozialhilfe, konkret die Hilfe zum laufenden Lebensunterhalt außerhalb von Einrichtungen, heute faktisch zur Lebensgrundlage für von ihr abhängige und tendenziell wachsende Bevölkerungsteile entwickelt. Gleichsam parallel dazu wurde aus einer im örtlichen Umfeld definierten und diesem angemessenen Hilfe eine faktisch nahezu vollständig bundesgesetzlich geregelte, öffentliche Leistung. Aus dem Ausnahmefall Sozialhilfebezug wurde damit vielfach eine Regelleistung. Trotz dieses strukturellen Wandels verblieb die Trägerschaft einschließlich der Lastentragung unverändert bei den Kommunen – und damit bei den Ländern, denn Art. 104a Abs. 3 GG sieht eine Bundesbeteiligung nur an Geldleis-

42

Wolfgang Renzsch

tungsgesetzen vor. Da die Sozialhilfe aber auch Sachleistungen (anstelle von Geldleistungen) gewähren kann, fällt sie nicht unter diese Verfassungsbestimmung. Faktisch aber werden Sozialhilfeleistungen von wenigen Ausnahmefällen abgesehen als Geldleistungen gewährt. Die Dynamik der Sozialhilfeaufwendungen oder plakativer: die Kostenexplosion in diesem Bereich, hat die hergebrachten Legitimationsgrundlagen des heute praktizierten Verfahrens in Frage gestellt. Das wird deutlich, wenn man die dramatisch unterschiedlichen Belastungen der Länder in diesem Bereich betrachtet. Tabelle 2 Reine Ausgaben der Sozialhilfe 2002: Hilfe zum Lebensunterhalt, insgesamt und je Einwohner

Deutschland

Reine Ausgaben Mio. A

je Einwohner A

9817

118,97

Baden-Württemberg

809

75,75

Bayern

811

65,42

Berlin

1004

296,05

211

81,92

Brandenburg Bremen

222

334,98

Hamburg

417

240,79

Hessen

894

146,82

Mecklenburg-Vorpommern

192

110,46

Niedersachsen

1032

129,18

Nordrhein-Westfalen

2513

139,04

Rheinland-Pfalz

327

80,61

Saarland

155

145,85

Sachsen

358

82,60

Sachsen-Anhalt

264

110,78

Schleswig-Holstein

449

159,36

Thüringen

158

66,30

Quelle: StBA, Bevölkerungsstand: 30. 6. 2003; eigene Berechnungen.

Im Bundesdurchschnitt wurden im Jahr 2002 je Einwohner rund 119 A für die Hilfe zum Lebensunterhalt ausgegeben. Die Streuung reicht unter den Flächenländern allerdings von 66 A in Thüringen bis 159 A in Schleswig-Holstein. Noch ungünstiger ist die Situation der Staatstaaten. Die Spanne reicht hier von 241 A in Hamburg bis 335 A in Bremen. Drei Ländergruppen können unterschieden werden: die Stadtstaaten, die die höchsten Belastungen zu tragen haben, die westdeutschen Flächenländer mit Aus-

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe

43

Bayern

Thüringen

Ba.-Wü.

Sachsen

Mecklenb.-Vorp.

Sachsen-Anh.

Deutschl.

Nieders.

NRW

Saarland

Hessen

Schles.-Holst.

Hamburg

Bremen

350 300 250 200 150 100 50 0

Berlin

nahme Bayerns und Baden-Württembergs und die ostdeutschen Länder. Derzeit liegen die Sozialhilfequote und Sozialhilfekosten in Ostdeutschland trotz hoher Arbeitslosigkeit noch vergleichsweise niedrig. Ursächlich dafür ist, dass die Folgen der hohen Arbeitslosigkeit derzeit teilweise noch über andere Maßnahmen wie ABM abgefedert werden und ältere Menschen stabilere Erwerbsbiographien aufweisen und daher einen höheren Rentenanspruch besitzen. Aufgrund der überproportional hohen Arbeitslosigkeit dort ist jedoch in absehbarer Zeit mit erheblich ansteigenden Sozialhilfelasten zu rechnen.

Abb. 2: HLU je EW 2003 in A

Geldleistungsgesetze Als zweites Beispiel sollen hier die Geldleistungsgesetze nach Art. 104a Abs. 3 GG herangezogen werden, soweit sie von den Ländern mitfinanziert werden, konkret geht es um Wohngeld und BaföG. Die gemeinsame Finanzierung von Geldleistungen, die durch Bundesgesetze gewährt werden (Art. 104a Abs. 3), durch Bund und Länder wurde im Rahmen der Finanzverfassungsreform von 1969 in das Grundgesetz eingeführt und damit verfassungsrechtlich legitimiert (Renzsch 1991, 209 ff.). Der Sache nach handelte es sich in erster Linie um sozialpolitische Leistungen, die zum Teil vor 1970 von den Ländern (Ausbildungsförderung nach dem Honnefer Modell), zum Teil vom Bund aufgrund „ungeschriebener“ Finanzierungszuständigkeiten (Wohngeldgesetz vom 1. 4. 1965, BGBl. I S. 177) wahrgenommen wurden und zum Teil um später neu eingeführte sozialpolitische Leistungen. Mit der Einführung des Art. 104a Abs. 3 GG wurden weniger neue Finanzierungstatbestände geschaffen, vielmehr wurden

44

Wolfgang Renzsch

bestehende im Rahmen einer „Flurbereinigung“ (Kommission für die Finanzreform 1966, S. 25 ff.) neu zugeordnet und auf eine verfassungsrechtliche Grundlage gestellt. In dem ursprünglichen Konzept der „Troeger-Kommission“, die mit ihrem „Gutachten über die Finanzreform in der Bundesrepublik Deutschland“ (Kommission für die Finanzreform 1966) die inhaltlichen Grundlagen für die Finanzverfassungsreform von 1969 schuf, war keine Bestimmung über Geldleistungsgesetze vorgesehen. Vielmehr sah der vorgeschlagene Art. 104a GG den allgemeinen Lastenverteilungsgrundsatz und die Bestimmungen über die Bundesauftragsverwaltung, die als Art. 104a Abs. 1 und 2 in das Grundgesetz übernommen wurden, sowie eine Klausel über die Kostenaufteilung bei Gemeinschaftsaufgaben (Abs. 3) vor, die in der vorgeschlagenen Form keinen Eingang ins Grundgesetz fand. Die Troeger-Kommission empfahl, Geldleistungsgesetze im Rahmen einer ausgeweiteten Bundesauftragsverwaltung von den Ländern ausführen zu lassen (Rd.-Nr. 124). Während des Gesetzgebungsprozesses wurden dann die heute bekannten Art. 3 und 4 entwickelt (Häde 1996, S. 63 f.). Dem Vorschlag der Troeger-Kommission lag die Erkenntnis zu Grunde, dass Geldleistungsgesetze einem „Verwaltungsermessen der Länder keinen wesentlichen Raum lassen“ (Rd.-Nr. 124). Damit seien die Merkmale einer „landeseigenen Aufgabe durch die Gesetzgebung weitgehend ausgeschaltet“ (Rd.-Nr. 125; Kesper 1997, S. 81 f.). Eine Lastentragung durch die Länder würde der Sachlage nicht gerecht. Auch die Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages von 1976 (Enquete-Kommission 1977) befasste sich mit diesem Thema. Für die Geldleistungsgesetze schlug die Kommission eine stärkere finanzielle Mitverantwortung vor, nach der der Bund regelmäßig 80 vH der Ausgaben zu tragen habe. Eine Begründung für diesen Vorschlag findet sich allerdings nicht. Diesen Vorschlägen ist der Bundesgesetzgeber nicht gefolgt. Das hat zur Folge, dass die Länder faktisch zur Mitfinanzierung der Sozialpolitik des Bundes herangezogen werden; von einer „eigenen Angelegenheit“ der Länder im Sinne des Art. 83 GG kann angesichts der bundesgesetzlichen Vorgaben der Sache nach nicht die Rede sein. Die Geldleistungsgesetze haben, darum geht es hier, einen negativen Finanzausgleichseffekt, der in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion weitgehend ignoriert wird. In der administrativen Terminologie firmieren die Geldflüsse für die Gesetze nach Art. 104a Abs. 3 GG zwischen den Ebenen als „Zahlungen des Bundes an die Länder“. Damit wird die Illusion geschaffen, es handele sich hier um Landesaufgaben und der Bund unterstütze die Länder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben. Der Sache nach aber handelt es sich jedoch um Distributionsaufgaben, die einen sozialen Ausgleich unabhängig vom Wohnort des Bürgers durch den Bundesstaat schaffen. Systematisch und aus ihre funktionalen Logik heraus – sozialer Ausgleich – sind dies aus finanzwissenschaftlicher Sicht zentralstaatliche Aufgaben (Musgrave 1959, S. 179 ff.). Durch die gänzliche oder teilweise Belas-

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe

45

tung der Gliedstaaten durch Umverteilungsaufgaben werden die interregionalen Unterschiede zwischen den Gebietskörperschaften im Bundesstaat nicht reduziert, sondern verstärkt. Insgesamt verfehlt die gegenwärtige Konstruktion des Art. 104a Abs. 3 GG aufgrund des negativen Finanzausgleicheffekts – finanzschwache Länder werden höher belastet als finanzstarke – zumindest teilweise ihren Zweck. Der Bundesanteil an den Geldleistungsgesetzen nach Art. 104a Abs. 3 GG belief sich im Jahr 2003 auf 3.979,1 Mio. A (ZDL 21, 14. 7. 2004) oder – bei 82,532 Mio. Einwohnern (StBA VI B -173-) – auf 48,21 A pro Einwohner der Bundesrepublik. Die Zahlungen des Bundes lagen mit 28,15 A an Bayern am niedrigsten, unter den westdeutschen Flächenländer an Schleswig-Holstein mit 56,97 A am höchsten. Höher waren die Zahlungen an die ostdeutschen Flächenländer, am höchsten an Mecklenburg-Vorpommern mit 70,59 A. Die Stadtstaaten erhielten deutlich mehr, Bremen mit 103,48 A am meisten. Tabelle 3 Zahlungen des Bundes an die Länder nach Art. 104a Abs. 3 GG 2003 (Berechnet nach StBA –VI B-173- und ZDL 21, 14. 7. 2004, S. 67): Einwohner

31. 12. 2003

Zahlungen in Mio. A 2003

Zahlungen pro Einwohner in A

Deutschland

82 531 671

3.979,1

48,21

Baden-Württemberg

10 692 556

309,2

28,92

Bayern

12 423 386

349,7

28,15

Berlin

3 388 477

309,7

91,40

Brandenburg

2 574 521

137,4

53,36

663 129

68,6

103,48

Hamburg

1 734 083

142,6

82,24

Hessen

6 089 428

271,1

44,53

Mecklenburg-Vorpommern

1 732 226

122,3

70,59

Niedersachsen

7 993 415

418,0

52,29

18 079 686

947,0

52,38

4 058 682

142,6

35,06

Bremen

Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland

1 061 376

47,4

44,70

Sachsen

4 321 437

279,6

64,70

Sachsen-Anhalt

2 522 941

148,8

58,99

Schleswig-Holstein

2 823 171

160,8

56,97

Thüringen

2 373 157

124,6

52,52

46

Wolfgang Renzsch

Diese Zahlen zeigen, dass die Leistungen des Bundes in die Problemregionen der Bundesrepublik höher sind als in prosperierende. Sie erwecken damit den Eindruck von besonderen Leistungen des Bundes für die finanzschwachen Länder. Tatsächlich aber spiegeln sie auch die hohe Belastung dieser Länder wider, denn den Zahlungen des Bundes stehen jeweils komplementäre Leistungen der Länder gegenüber. Die Geldleistungen konterkarieren damit ihren Zweck zumindest teilweise: auf einer individuellen Basis wird Bedürftigen geholfen, jedoch werden die wirtschaftsschwachen Ländern, in denen sie überwiegend leben, zusätzlich finanziell geschwächt. Für eine genauere Betrachtung ist eine Differenzierung der verschiedenen Leistungen nach quantitativen Gesichtspunkten angezeigt. Im Jahr 2003 entfielen von den knapp vier Mrd. A (3.979,1 Mio. A) auf einzelne Bereiche: Tabelle 4 Zahlungen des Bundes an die Länder nach Art. 104 a Abs. 3 GG, einzelne Bereiche, 2003 in Mio. A (Quelle: ZDL 21, 14. 7. 2004) 1. Sozio-struktureller Einkommensausgleich 2. Wohngeld

0,0 2.791,3

3. Einmaliger Heizkostenzuschuss

0,2

4. Hepatitis-C-Opfer der ehem. DDR

2,0

5. Entschädigungen für Opfer von Gewalttaten 6. Unterhaltsvorschussgesetz 7. Ausbildungsförderung insgesamt darunter: BAföG für Schüler darunter: BAföG für Studierende

27,2 245,2 891,3 (420,5) (470,8)

8. Bereinigung von SED-Unrecht 1. SED-UnBerG

20,3

9. Bereinigung von SED-Unrecht 2. SED-UnBerG

1,6

Art. 104 a (3) GG insgesamt

3.979,1

Die Übersicht der Tabelle 4 zeigt, dass von den knapp 4 Mrd. A des Jahres 2003 etwa 3,7 Mrd. A, mehr als 90 vH, auf das Wohngeld (2,8 Mrd. A) und die Ausbildungsförderung (0,9 Mrd. A) entfielen. In früheren Jahren waren die Relationen im wesentlichen identisch. Die anderen Leistungen können hier vernachlässigt werden. Das Wohngeld ist mit deutlichem Abstand die „teuerste“ gemeinsam von Bund und Ländern finanzierte Geldleistung nach Art. 104a Abs. 3 GG. Im Jahr 2003 umfasste es mit 2,8 Mrd. A von knapp 4 Mrd. A Bundeszahlungen mehr als zwei Drittel des Gesamtvolumens aller mischfinanzierten Geldleistungen.

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe

47

Das Wohngeld teilen sich Bund und Länder je zur Hälfte, d. h. einer Bundesleistung in ein Land steht noch einmal dieselbe Belastung des Landes gegenüber. Die gesamten Kosten für das Wohngeld beliefen sich damit auf 5,6 Mrd. A, Die höchsten Lasten haben die Stadtstaaten mit einem Landesanteil zwischen 75,47 A (Bremen) und 64,97 A (Hamburg) je Einwohner zu verzeichnen. Das höchstbelastete Flächenland war Mecklenburg-Vorpommern mit 46,23 A Kosten für das Land je Einwohner. Bayern schnitt mit 17,04 A je Einwohner am günstigsten ab. Die Extremwerte unterscheiden sich durch den Faktor 4,4; die Differenz zwischen den Bremen und Bayern beträgt rund 58 A je Einwohner. Tabelle 5 Wohngeld (nur Landesanteil) 2003 in Mio. A und A je Einwohner (Quelle ZDL): Wohngeld in Mio. A

Wohngeld in A je Einwohner

Baden-Württemberg

203,7

19,05

Bayern

211,8

17,04

Bremen

50,0

75,47

Hamburg

112,7

64,97

Hessen

205,2

33,69

Niedersachsen

304,3

38,07

Nordrhein-Westfalen

708,5

39,19

Rheinland-Pfalz

98,0

24,15

Saarland

36,6

34,53

Schleswig-Holstein

125,6

44,48

Berlin

222,4

65,64

Brandenburg

88,7

34,45

Mecklenburg-Vorpommern

80,1

46,08

174,9

40,47

Sachsen-Anhalt

97,2

38,51

Thüringen

71,7

30,22

Flächenländer West

1893,6

29,98

Alte Länder

2204,4

32,57

Neue Länder

587,3

39,56

Deutschland

2791,3

33,82

Land

Sachsen

48

Wolfgang Renzsch

80 70 60 50 40 30 20

Bayern

Ba-Wü

Rheinl.-Pf.

Thüringen

Hessen

Deutschl.

Brandenb.

Saarl.

Nieders.

Sachs.-A.

NRW

Sachsen

Schl.-H.

Meck.-P.

Hamburg

Bremen

0

Berlin

10

Abb. 3: Wohngeld 2003 je EW (Landesanteil)

Eine Einteilung der Länder in Gruppen ist nicht so eindeutig wie bei der Sozialhilfe. Deutlich stehen lediglich die Stadtstaaten mit Belastungen von mehr als 60 A je Einwohner und Baden-Württemberg und Bayern mit weniger als 20 A je Einwohner heraus. Gravierende Unterschiede zwischen den ost- und westdeutschen Ländern sind – im Unterschied zur Sozialhilfe – nicht erkennbar. Die Kosten des Bundesausbildungsförderungsgesetzes teilen sich Bund und Länder im Verhältnis von 65:35. Sie bildeten 2003 mit einem Bundesanteil von 891,3 Mio. A den zweitgrößten Block der Geldleistungsgesetze, der Länderanteil lag entsprechend dem Schlüssel bei 479,9 Mio. A. Die höchsten Leistungen (Landesanteil) je Einwohner erbrachte im Jahr 2003 Bremen mit 12,01 A je Einwohner, gefolgt von Sachsen (11,17 A) und Mecklenburg-Vorpommern (10,73 A). Die „Schlusslichter“ bilden das Saarland mit 3,79 A, Hessen (4,16 A) und RheinlandPfalz (4,24 A). Die Differenz zwischen den Extremwerten liegt bei gut 8 A je Einwohner, der Faktor zwischen den Extremwerte beträgt etwas mehr als 3.

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe

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Tabelle 6 Ausbildungsförderung Schüler und Studenten, Bundes- und Landesanteil 2003 in Mio. A und A pro Einwohner (Quelle ZDL, eigene Berechnung): Land

Bundesanteil in Mio. A

Bundesanteil pro EW, A

Landesanteil in Mio. A

Landesanteil pro EW, A

80,9

7,57

43,6

4,07

Bayern

109,6

8,82

59,0

4,75

Bremen

14,8

22,30

8,0

12,01

Hamburg

21,2

12,22

11,4

6,58

Hessen

47,1

7,73

25,4

4,16

Niedersachsen

83,3

10,43

44,9

5,61

166,8

9,22

92,4

4,97

Rheinland-Pfalz

32,0

7,88

17,2

4,24

Saarland

7,5

7,05

4,0

3,79

Schleswig-Holstein

23,9

8,46

12,9

4,55

Berlin

55,7

16,43

30,0

8,85

Brandenburg

38,8

15,07

20,9

8,12

Mecklenburg-Vorpommern

34,5

19,92

18,6

10,73

Sachsen

89,6

20,74

48,3

11,17

Sachsen-Anhalt

41,1

16,30

22,2

8,78

Thüringen

44,5

18,77

24,0

10,11

Westdeutsche Länder*

587,1

8,96

318,8

4,86

Ostdeutsche Länder*

248,5

18,32

134,0

9,88

Flächenländer West

551,1

8,72

299,4

4,74

Deutschland

891,3

10,80

479,9

5,82

Baden-Württemberg

Nordrhein-Westfalen

* ohne Berlin; Quoten ebenfalls ohne Berlin.

Im Unterschied zum Wohngeld, bei dem die Landespolitik keinen unmittelbaren Einfluss auf die Kostenentwicklung hat, werden die Kosten der Ausbildungsförderung über verschiedene Faktoren mittelbar und unmittelbar beeinflusst, die zum Teil in der Verantwortung der Landespolitik liegen. Landespolitisch gestaltet werden kann die Zahl der angebotenen Studienplätze. Andere Faktoren wie die Höhe der freigestellten Elterneinkommen oder die Fördersätze sind durch Bundesgesetz festgelegt. 4 von Arnim

50

Wolfgang Renzsch

12 10 8 6 4

Saarland

Ba.-Wü

Hessen

Rheinl.-Pf

Schles.-H.

Bayern

NRW

Nieders.

Deutschland

Hamburg

Brandenb.

Sachsen-A.

Berlin

Thüringen

Meck.-P.

Sachsen

Bremen

2

Abb. 4: BaföG je EW 2003 in A

Die Verteilung der Bafög-Lasten unter den Ländern reflektiert zwei Umstände: die Quote junger Menschen, die sich in einer weiterführenden Ausbildung befinden und das Einkommensniveau. Die Kosten je Einwohner liegen in den westdeutschen Flächenländern relativ dicht bei einander. Die Stadtstaaten haben wegen größerer Studierenderzahlen deutlich höhere Lasten zu tragen. Bei den Belastungen der ostdeutschen Länder schlagen die niedrigeren ostdeutschen Einkommen zu Buche. Die Zusammenhänge verdeutlichen sich, wenn man die Kosten je Studierenden (ohne Schüler) in Relation zu den Studentenquoten (Studierende je Einwohner) setzt.

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe

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Tabelle 7 Aufwendungen an Ausbildungsförderung je Student, Landesanteil 2003, Quelle StBA und ZDL

Baden-Württemberg Bayern Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein Berlin Brandenburg Mecklenburg-Vorpommern Sachsen Sachsen-Anhalt Thüringen Flächenl. West Alte Länder Neue Länder Deutschland

Ausgaben 2003 in Mio. A 25,7 26,7 4,2 8,6 17,0 25,8 50,9 10,6 2,8 6,8 18,3 6,0 7,1 23,8 9,3 10,0 162,2 178,9 56,3 253,5

Studenten 2003 217.784 230.434 30.472 69.180 164.608 154.619 523.283 91.123 20.279 43.719 140.177 37.500 29.792 96.241 43.364 46.658 1.444.309 1.543.961 253.555 1.939.233

Quote in vH des Ø 86,7 78,9 195,6 169,8 115,0 82,3 123,2 95,6 81,3 66,1 176,1 62,0 73,2 94,8 73,1 83,7 97,3 100,2 79,5 100,0

BAföG pro Student 118,23 A 115,68 A 136,63 A 123,82 A 103,20 A 166,56 A 97,16 A 116,44 A 135,90 A 156,25 A 130,50 A 159,47 A 238,64 A 247,32 A 215,36 A 215,64 A 112,30 A 115,87 A 222,04 A 130,72 A

300 250 200 150 100 50

Abb. 5: Studentenquote in vH der Bevölkerung (schwarz) und BaföG je Studierendem in A 4*

Brandenb.

Schles.-H.

Sachsen-A.

Meck.-P.

Bayern

Saarland

Nieders.

Thüringen

Ba.-Wü.

Sachsen

Rheinl.-P.

Hessen

NRW

Hamburg

Berlin

Bremen

0

52

Wolfgang Renzsch

In Ostdeutschland kostet ein Student den Ländern zwischen 215 A und 247 A für Ausbildungsförderung (Ausnahme Brandenburg: 160 A), die Belastungen der westdeutschen Ländern liegen lediglich zwischen 97 A und 167 A. Die hohe Gesamtbelastung der Stadtstaaten ist eine Folge der hohen Quoten. Sie bilden je Einwohner etwa doppelt so viele Studenten aus wie die Flächenländer. Die höheren Belastungen, die die finanzschwachen Flächenländer je Student zu tragen haben, versuchen diese offensichtlich durch eine Begrenzung oder den Abbau von Studienplätzen zu kompensieren. Erste Zusammenfassung Saldiert man die bundesgesetzlich veranlassten Lasten der Länder in den dargestellten Bereichen ergibt sich folgendes Bild: Die Belastungsspanne reicht von 80,83 A (Bayern) bis 397,01 A (Bremen) je Einwohner bzw. 186,58 A (SchleswigHolstein) unter den Flächenländern. Anders gesagt, Schleswig-Holstein hat die doppelte, Bremen die fünffache Laste Bayern zu tragen. Tabelle 8 Belastungen der Länder und Gemeinden mit Sozialhilfe, Wohngeld und BaföG 2003 in A je EW Sozialhilfe

Wohngeld

BaföG

Summe

vH des Ø

Baden-Württemberg

75,75

19,05

4,07

98,87

62,3

Bayern

65,42

17,04

4,75

87,21

55,1

Berlin

296,05

65,64

8,85

370,54

233,6

Brandenburg

81,92

34,45

8,12

124,49

78,5

Bremen

334,98

75,47

12,01

422,46

266,4

Hamburg

240,79

64,97

6,58

312,34

196,9

Hessen

146,82

33,69

4,16

184,67

116,4

Mecklenburg-Vorpommern

110,46

46,08

10,73

167,27

105,5

Niedersachsen

129,18

38,07

5,61

172,86

109,0

Nordrhein-Westfalen

139,04

39,19

4,97

183,20

115,5

Rheinland-Pfalz

80,61

24,15

4,24

109,00

68,7

Saarland

145,85

34,53

3,79

184,17

116,1

Sachsen

82,60

40,47

11,17

134,24

84,6

Sachsen-Anhalt

110,78

38,51

8,78

158,07

99,7

Schleswig-Holstein

159,36

44,48

4,55

208,39

131,4

Thüringen

66,30

30,22

10,11

106,63

67,2

Deutschland

118,97

33,82

5,82

158,61

100,0

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe

53

450 400 350 300 250 200 150 100

Bayern

Ba-Wü

Thüringen

Rheinl.-P.

Brandenb.

Sachsen

Sachsen-A

Deutschland

Mecklenb.-V.

Nieders.

Saarland

Hessen

Schles.-H.

Hamburg

Berlin

Bremen

0

NRW

50

Abb. 6: Belastungen der Länder mit Sozialhilfe, Wohngeld und BaföG 2003 je EW in A

Zinsbelastungen und Bevölkerungsentwicklung Zinsbelastungen haben eine ähnliche Wirkung auf die Landeshaushalte wie Ausgaben aufgrund von Bundesgesetzen: es handelt sich um Rechtsverpflichtungen, die, wenn sie einmal bestehen, die Landesparlamente in einem erheblichen Maß binden und die finanzwirtschaftliche Handlungsfähigkeit der Länder einschränken. Gleichwohl zeigt aber das nähere Hinsehen, dass diese formale Betrachtung unzureichend ist. In der Staatspraxis ist die öffentliche Verschuldung und die daraus folgenden Zinsbelastungen auf drei Ursachen zurückzuführen:  autonome landespolitische Entscheidungen,  Überlastungen durch insbesondere bundesgesetzliche sozialpolitisch motivierte Ausgabenverpflichtungen,  Bevölkerungsrückgang.

In einem horizontalen Steuerverteilungssystem wie dem deutschen, das die Einnahmen im wesentlichen nach aktuellen Bevölkerungszahlen zuweist, schlagen sich (relative) Bevölkerungsverluste unmittelbar in einem Rückgang der Einnahmen nieder. Zumindest für den Länderfinanzausgleich sind die Effekte veränderter Bevölkerungsrelationen relativ einfach zu simulieren. So lässt sich aus der Abrechnung des LFA für das Jahr 2003 (BMF V A 4) entnehmen, dass ein gewichteter Einwohner (unter Berücksichtigung der Kürzung der Gemeindesteuern nach § 8 FAG) im LFA im Durchschnitt 2.216 80 „wert“ ist.1 Soviel „kostete“ jeder ver1 Ausgleichsmesszahl nach § 6 Abs. 2 FAG; für die einzelnen Länder muss diese Zahl noch durch eventuelle Einwohnerwertungen und den tatsächlichen Auffüllungs- oder Abschöpfungsgrad modifiziert werden.

54

Wolfgang Renzsch

lorene oder „brachte“ jeder gewonnene Einwohner den Flächenländern im Durchschnitt ein. Die Bevölkerungsdynamik hat jedoch nicht nur Auswirkungen auf die Einnahmen, sondern auch auf den Finanzbedarf eines Landes. Ein Finanzausgleichssystem, das die Auswirkungen regional unterschiedlicher Bevölkerungsdynamiken insbesondere bei Lasten ignoriert, die in der Vergangenheit entstanden sind und in die Zukunft hineinreichende rechtliche und faktische finanzielle Verpflichtungen geschaffen haben, führt unweigerlich zu finanziellen Verwerfungen. Die Finanzverfassung des Grundgesetzes, insbesondere der Länderfinanzausgleich, gründet auf dem „abstrakten Bedarfsmaßstab“ des gegenwärtigen Einwohners (BVerfGE 72 330(331); BVerfGE 86, 148 (236, 238), macht damit die aktuelle Einwohnerzahl zum entscheidenden Bezugspunkt der horizontalen Finanzverteilung. Unberücksichtigt bleiben damit jedoch Verwerfungen, die aus dem zeitlichen Auseinanderfallen von Einnahmeverlusten und Kostensenkungen entstehen: die Einnahmen sinken infolge eines Bevölkerungsverlustes sofort, die Kosten jedoch erst mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung, teilweise gar nicht. Die derzeit geltende Gesetzeslage vernachlässigt diese finanziell relevanten Dynamiken der Bevölkerungsentwicklung. Sie ignoriert die Vorteile, die aus einer positiven, und die Nachteile, die aus einer negativen Dynamik resultieren. Nicht berücksichtigt werden vor allem Lasten, die zu einem früheren Zeitpunkt auf der Basis einer greren Bevölkerungszahl entstanden sind und später von einer kleineren Einwohnerschaft getragen werden müssen. Diese Effekte sind keineswegs marginal, sondern können erhebliche Dimensionen erreichen. Von besonderer Bedeutung sind diese Effekte bei dem öffentlichen Dienst, bei den Versorgungslasten, bei Infrastrukturaufwendungen und bei den Zinsbelastungen. Die Länder und ihre Gemeinden halten ein vielfältiges Angebot öffentlicher Dienstleistungen vor: die öffentliche Verwaltung und ihre Bediensteten, Einrichtungen für die Betreuung von Kindern und Jugendlichen sowie älteren Menschen, Schulen und Hochschulen, Lehrer und Professoren, Polizei, Justiz, öffentliche Infrastruktur im Bereich der Ver- und Entsorgung, soziale und kulturelle Einrichtungen sowie Sportstätten usw. Die zu erbringenden Leistungen stehen in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Einwohnerzahl. Steigende Einwohnerzahlen erfordern mehr Kindergärten, Schulen, Lehrer, Infrastruktureinrichtungen usw., sinkende erlauben deren Reduzierung oder erfordern den Rückbau von Einrichtungen. Der mit der Bevölkerungsdynamik verbundene Strukturwandel hat aber auch einen weiteren Effekt: die zunehmende Alterung der Gesellschaft durch die Abwanderung jüngerer Menschen und höhere Lebenserwartung der zurückbleibenden Menschen haben zur Folge, dass gleichzeitig Einrichtungen für jüngere Menschen abgebaut und die (Betreuungs- und Pflege-)Angebote für ältere Menschen ausgeweitet werden müssen. Der Strukturwandel der Bevölkerung, vor allem der Altersstruktur, insbesondere in Gebieten mit hohen Abwanderungsraten (jüngerer Menschen), erfordert Umorientierungen der öffentlichen Leistungen und erlaubt

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe

55

daher kaum Einsparungen. Letztere könnten nur, wenn überhaupt, mit erheblicher Verzögerung realisiert werden, wenn sie nicht durch neue Bedarfe (z. B. für ältere Menschen) kompensiert werden (Loeffelholz / Rappen 2004, S. 27). Zumindest relative Kostensteigerungen in einem auf den Einwohner bezogenen Finanzausgleichssystem ergeben sich selbst bei Sparmaßnahmen der öffentlichen Hand aus dem Umstand, dass die bestehenden Einrichtungen und der öffentliche Dienst von einer schrumpfenden Bevölkerung finanziert werden müssen: die Ausgaben pro Einwohner steigen (Seitz 2004, S. 10 f.). Dieses gilt insbesondere für den öffentlichen Dienst und die Versorgung von Pensionären, die sich aus beamtenrechtlichen Gründen nicht zeitgleich mit der Bevölkerungsentwicklung verändern lässt, und für langlebige Infrastrukturinvestitionen, die Folgekosten verursachen. Dieser Zusammenhang erklärt, warum Länder mit einer rückläufigen Bevölkerungsentwicklung faktisch gezwungen sind, sich überproportional zu verschulden, und – in der Folge – eine überproportionale Zinslast zu bewältigen haben. Schulden und Zinsbelastungen haben die Eigenschaft, dass sie – im Unterschied zu anderen öffentlichen Lasten – kaum oder nicht zu reduzieren sind. Bisher hat in der Bundesrepublik Deutschland nur in seltenen Fällen eine Gebietskörperschaft aus eigener Kraft Schulden netto getilgt. Der relative Anteil der Zinsaufwendungen in einem Haushalt bestimmt sich damit aus zwei Umständen: der Nettoschuldenaufnahme und der im wesentlichen von der Bevölkerungsdynamik abhängigen Einnahmeentwicklung. Die (relative) Zinslast sinkt, wenn die Neuverschuldung langsamer verläuft als die Einnahmeentwicklung, die Zinslast steigt, wenn die Neuverschuldung rascher vonstatten geht als die Einwohner- und Einnahmeentwicklung. Das Zusammentreffen von (relativ) sinkenden Einnahmen infolge von Bevölkerungsverlusten und zeitlich verzögerter Kostenentlastung, bei weitgehenden rechtlichen und faktischen Festlegungen der Haushalte, versperrt die Möglichkeiten, Verschuldung und Zinslasten zu senken. Verschärft wird das Problem durch den Umstand, dass bei Einwohnerverlusten selbst ohne Neuverschuldung die ProKopf-Zinslasten steigen. Länder mit einer negativen Bevölkerungsdynamik sind damit in einem Teufelskreis gefangen, aus dem sie sich selbst kaum befreien können. Die folgenden modellhaften Überlegungen mögen das Ausgeführte verdeutlichen: verlässt ein Bürger sein Land und zieht in ein anderes, lässt er die Einrichtungen und Lasten, die durch und für ihn entstanden sind, in seinem alten Heimatland zurück und wird lastenfrei Bürger seines neuen Heimatlandes. Die Zinsbelastung des bisherigen Wohnsitzlandes verteilt sich auf einen Bürger weniger, die des neuen auf einen mehr. Der Umzug einer einzelnen Person ist finanzpolitisch ohne Bedeutung. Gewinnt aber die Wanderungsdynamik größere Dimensionen wie im Saarland oder in Ostdeutschland, dann sind die Auswirkungen erheblich.

56

Wolfgang Renzsch

Ein kleines Rechenbeispiel soll die Effekte verdeutlichen: zwei Länder, A und B, mit je 100 Einwohnern sind mit je 100 E verschuldet. Über den Zeitraum x verliert Land A 10 Einwohner, Land B gewinnt 10 Einwohner hinzu. Allein dies führt dazu, dass die Verschuldung je Einwohner von Land A auf 1,1 E steigt, die des Landes B auf 0,9 E sinkt. Die Pro-Kopf-Verschuldung von Land A liegt nun um 27 vH über der des Landes B – ohne, dass neue Kredite aufgenommen worden wären. Konkret: von den nun niedrigeren Steuern des Landes A müssen – bei gleichen Pro-Kopf-Einnahmen – etwa 23 vH mehr für den Schuldendienst verwandt werden. Die verbleibenden Einwohner erhalten dadurch für ihre Steuern geringere staatliche Leistungen, das Land hat weniger Geld für seine Entwicklung zur Verfügung, es gerät damit gegenüber dem Land B deutlich ins Hintertreffen. Der aus einer negativen Bevölkerungsentwicklung herrührende Teufelskreis ist aus eigener Kraft kaum zu durchbrechen. Eine Übersicht über die Zinsausgaben für Kreditmarktmittel belegt den Zusammenhang von Bevölkerungsentwicklung und Zinsbelastungen. Tabelle 9 Zinsausgaben für Kreditmarktmittel 2003 je EW in 80, Einwohnerentwicklung: alte Länder 1970 = 100; neue Länder und Berlin 1991 = 100 Land

Zinsausgaben

Bevölkerungsindex

Baden-Württemberg

206

120,07

Bayern

150

118,30

Hessen

294

113,14

Schleswig-Holstein

358

112,96

Niedersachsen

349

112,80

Rheinland-Pfalz

337

111,27

Nordrhein-Westfahlen

336

106,85

Saarland

426

94,91

Hamburg

580

96,54

Bremen

748

91,70

Brandenburg

339

100,48

Berlin

660

98,64

Thüringen

342

91,95

Sachsen

198

91,76

Mecklenburg-Vorpommern

337

91,07

Sachsen-Anhalt

414

88,98

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe

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Zwar besteht auch hier kein monokausaler Zusammenhang, aber die Tendenz ist eindeutig: die Bevölkerungsdynamik beeinflusst die Verschuldung und Zinsbelastung eines Landes in erheblichem, wenn nicht in entscheidendem Maß. Nimmt man die langfristigen Indices (1970 – 2003; ZDL 11) der westdeutschen Flächenländer, dann haben die beiden Länder, die die günstigste Bevölkerungsentwicklung aufzuweisen haben (Baden-Württemberg und Bayern, 120 bzw. 118), auch die niedrigsten Zinslasten zu tragen. Es folgt Hessen (113) in beiden Kriterien an dritter Stelle. Lediglich Nordrhein-Westfalen schneidet bei den Zinsen besser ab als die Bevölkerungsentwicklung vermuten lässt: bei den Zinsen steht es an vierter Stelle, bei der Bevölkerung erst an siebter. Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein mit einer nahezu durchschnittlichen westdeutschen Bevölkerungsentwicklung (111,6) liegen sowohl bei der Bevölkerung (113) als auch bei der Zinsbelastung sehr eng bei einander. Hingegen fällt das Saarland sowohl beim Bevölkerungsindex (95 gegenüber NRW 107) als auch bei den Zinsbelastungen „aus dem Rahmen“. Ähnlich ungünstig oder sogar ungünstiger sind die Indices für die noch höher verschuldeten Stadtstaaten: Hamburg 97 und Bremen 92. Als das Flächenland mit der ungünstigsten Einwohnerentwicklung hat das Saarland mit 426 80 pro Einwohner im Jahr 2003 die höchste Zinsbelastung unter den westdeutschen Flächenländern zu tragen.

en re m B

bu rg H am

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N R W

en ch le sw .-H N . ie de rs ac hs en R he in l. P. S

H es s

B

-W Ba

ay er n

700 600 500 400 300 200 100 0

ü

140 120 100 80 60 40 20 0

Abb. 7: Bevölkerung 2003 (grau, 1970=100) westdt. Länder und Zinsbelastung 2003 je EW in A (schwarz), Quelle: ZDL

Für Ostdeutschland zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab. Allerdings sind die Unterschiede noch zu gering für weitergehende Aussagen. 105

500

100

400

95

300

90

200

85

100 0

80 Brandenburg

Thüringen

Sachsen

Meck.-V.

Sachsen-A.

Abb. 8: Bevölkerung 2003 (grau, 1991=100) ostdt. Länder und Zinsbelastung 2003 je EW in A (schwarz), Quelle: ZDL

58

Wolfgang Renzsch

Versorgungslasten Die Versorgungslasten, insbesondere Beamtenpensionen, die von Ländern und Gemeinden zu tragen sind, weisen eine ähnliche Dynamik und ähnlichen Zusammenhang mit der Bevölkerungsentwicklung auf wie die Zinsbelastungen. Tabelle 10 Versorgungslasten der Länder und Gemeinden 2003 Versorgungsbezüge in Mio. A

in A je Einwohner

Baden-Württemberg

3048

285

Bayern

3655

295

Hessen

1956

321

Niedersachsen

2259

283

Nordrhein-Westfalen

5291

293

Rheinland-Pfalz

1131

279

Saarland

401

377

Schleswig-Holstein

835

296

Brandenburg

59

23

Mecklenburg-Vorpommern

46

26

Sachsen

129

30

Sachsen-Anhalt

121

48

65

27

Thüringen Berlin

1103

325

Bremen

343

518

Hamburg

849

490

21291

258

Deutschland

Auch haben sich drei Gruppen gebildet: die Stadtstaaten mit den höchsten Belastungen (325 A – 518 A), die westdeutschen Flächenländer (279 A – 377 A) und die ostdeutschen Länder (23 A – 48 A), die – historisch bedingt – noch sehr geringe Versorgungslasten zu tragen haben. Bemerkenswert sind allerdings die Differenzierungen, die bereits in wenigen Jahren eingetreten sind: Sachsen-Anhalt hat mit 48 A je Einwohner mehr als die doppelte Last Brandenburgs (23 A) zu tragen. Bringt man die Belastungen je Einwohner der westdeutschen Länder (ohne Berlin) in Relation zur Bevölkerungsentwicklung seit 1970, wird deutlich, dass in der Tendenz Länder mit einer rückläufigen Einwohnerentwicklung pro Einwohner gegenüber anderen mit einer positiven Entwicklung benachteiligt sind.

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe 600

140

500

120

59

100

400 300 200

80

Versorgungslasten

60

Einwohnerindex

40

100

20

NR W Ba de Ni n. ed -W er . sa ch se n Rh ei nl .-P f

0

Br em en Ha m bu rg Sa ar la nd He ss Sc en hl es w. -H Ba ye rn

0

Abb. 9: Versorgungslasten und Bevölkerungsentwicklung

Wenn auch kein monokausaler Zusammenhang zwischen Versorgungsaufwendungen einerseits und Bevölkerungsdynamik andererseits besteht, so fällt doch auf, dass in der Tendenz die Belastungen der Länder mit einer positiven Bevölkerungsentwicklung nahe am Durchschnitt oder darunter liegen, während Bremen und das Saarland als die Länder mit den höchsten Bevölkerungsverlusten am schlechtesten abschneiden. Zusammenfassung Fasst man die Belastungen der Länder und Gemeinden aus der Sozialhilfe im engeren Sinn, den Geldleistungsgesetzen, Versorgungslasten und den Zinsen je Einwohner zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 11 Belastungen der Länder und Gemeinden mit Sozialhilfe, Wohngeld, BaföG, Zinsen und Versorgungslasten in A je EW

Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Meckl.-Vorp. Niedersachsen NRW

Sozialhilfe 76 65 296 82 335 241 147 110 129 139

Geldleistungen 23 22 74 43 87 72 38 57 44 44

Zinsen 206 150 660 339 748 580 294 337 349 336

Versorgung 285 295 325 23 518 490 321 26 283 293

Summe vH des Ø 590 81,4 532 73,4 1355 186,9 487 67,2 1688 232,8 1383 190,8 800 110,3 530 73,1 805 111,0 812 112,0

60

Wolfgang Renzsch

Fortsetzung von Tabelle 11 Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen Deutschland

Sozialhilfe 81 146 83 111 159 66 119

Geldleistungen 28 38 52 47 49 40 40

Zinsen 337 426 198 414 358 342 308

Versorgung 279 377 30 48 296 27 258

Summe vH des Ø 725 100,0 987 136,1 363 50,1 620 85,5 862 118,9 475 65,5 725 100,0

1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200

Sachsen

Thüringen

Brandenb.

Meck.-V.

Bayern

Ba.-Wü.

Sachsen-A.

Rheinl.-P.

Hessen

Nieders.

NRW

Schles.-H

Saarland

Berlin

Hamburg

Bremen

0

Abb. 10: Gesamtbelastung der Länder (weiß), Zinsen (schwarz) und Sozialhilfe (grau) je EW in A

Die Unterschiede sind erheblich: Die Spitzenbelastung (Bremen) liegt bei 233 vH des Durchschnitts, das höchstbelastete Flächenland (Saarland) hat 136 vH des Durchschnitts zu tragen. Die extreme Haushaltsnotlage dieser beiden Länder ist die Folge. Auf der anderen Seite wird Bayern nur mit 73 vH belastet. Die ostdeutschen Länder fallen (noch) heraus. Ursache hierfür sind die noch sehr niedrigen Versorgungslasten und die ebenfalls noch unterdurchschnittliche Sozialhilfe. Gleichwohl haben Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern bereits das Niveau der „besseren“ westdeutschen Flächenländer erreicht oder überschritten. Insbesondere für diese Länder ist absehbar, dass in Zukunft auf die Länder zukommenden Ausgabeverpflichtungen deren Haushalte zerreißen werden. Setzt man die unterschiedlichen Belastungen der Länder in Relation zum Länderfinanzausgleich, werden die unterschiedlichen finanziellen Handlungsbedingungen deutlich (vgl. Tabelle 12). Nach der vorläufigen Abrechnung des Länderfinanzausgleichs für das Jahr 2003 betrug die Ausgleichsmesszahl in der Abgren-

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe

61

zung des Finanzausgleichsgesetzes (100% des Durchschnitts) 2216 Euro je Einwohner. Für die Berechnung wurde für die einzelnen Länder die Finanzkraft nach Länderfinanzausgleich und Fehlbetrags-Bundesergänzungszuweisungen (99,5 % – 105,3 % des Durchschnitts) zugrunde gelegt. Unberücksichtigt blieben SonderBundesergänzungszuweisungen. Für die Stadtstaaten wurden die Belastungen je Einwohner um die Einwohnerwertung korrigiert. Im Ergebnis spannt die Belastung, die im Schnitt bei 33% liegt, von knapp 17% (Sachsen) bis knapp 57% (Bremen). Die Belastungen unterscheiden sich damit um etwa den Faktor 3,3. Lässt man wegen der besonderen Umstände die ostdeutschen Länder und die Stadtstaaten beiseite, wird das am ungünstigsten gestellte Flächenland (Saarland) mit 45% doppelt so hoch belastet wie Bayern, das mit 23 % am besten gestellt ist. Tabelle 12 Belastungen der Länder je EW in Relation zum Länderfinanzausgleich Land Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Meck.-Vorpommern Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen Deutschland

Lasten je EW 590 532 1355 487 1688 1383 800 530 805 812 725 987 363 620 862 475 725

Korrektur Einwoh- vH der Ausnerwertung gleichsmesszahl 26,6 24,0 989 44,6 21,9 1250 56,4 1024 46,2 36,1 23,9 36,3 36,6 32,7 44,5 16,4 28,0 38,9 21,4 32,7

vH der Finanzkraft je EW* 25,5 23,1 44,8 22,0 56,6 43,7 34,3 24,0 36,4 36,3 32,9 44,7 16,5 28,1 38,9 21,5 32,7

* nach LFA und finanzkraftanhängigen BEZ (ohne Sonder-BEZ)

Setzt man die unterschiedlichen Belastungen der Länder in Relation zum Länderfinanzausgleich, werden die unterschiedlichen finanziellen Handlungsbedingungen deutlich. Die Belastung reicht von ca. einem Zehntel des Durchschnitts der Ausgleichmesszahl bis knapp 40 vH, d. h. in Relation zu den Einnahmen der Länder nach dem FAG (ohne Berücksichtigung von Sonder-BEZ und den nach Finanz-

62

Wolfgang Renzsch

ausgleich verbleibenden Finanzkraftunterschieden) unterscheiden sich die Belastungen um nahezu den Faktor 4.

60 50 40 30 20

Abb. 11: Belastungen in Relation zu Finanzkraft nach LFA und finanzkraftabhängigen BE

Sachsen

Thüringen

Brandenburg

Bayern

Meck.-Vorp.

Ba.-Wü.

Sachsen-A.

Deutschland

Rheinl.-P.

Hessen

NRW

Nieders.

Schlesw.-H.

Hamburg

Berlin

Bremen

0

Saarland

10

Es kann wohl keinem ernsthaften Zweifel unterliegen, dass in einer bundesstaatlichen Ordnung, in der die Einnahmen der Gliedstaaten fast ausschließlich, die Ausgaben in weitem Umfang durch Bundesgesetze definiert werden, Belastungen, die zwischen 10 vH und knapp 40 vH der Finanzkraft nach Länderfinanzausgleich und finanzkraftabhängigen BEZ streuen, zu erheblichen Schieflagen und Funktionsverlusten führen. Überraschend ist eigentlich eher, dass das System noch funktioniert. Aus der Analyse ergibt sich unmittelbar das Rezept für eine Veränderung:  Eingangs wurde auf die Steigerung der Sozialausgaben seit 1970 von knapp über 40 vH des öffentlichen Gesamthaushalts auf knapp unter 60 vH hingewiesen. Hier scheint mir der zentrale Punkt der Überlastung des Bundesstaates zu liegen. Diese Entwicklung muss daher umgekehrt werden.  Ohne hier die Debatte über das Konnexitätsprinzip wieder aufzugreifen2, wäre es sinnvoll, das Konnexitätsprinzip zu differenzieren: Vollzugskausalität bei gleichmäßig streuenden Lasten, Veranlassungskausalität z. B. bei Leistungsgesetzen, die von den Ländern ausgeführt werden. Der Bund wäre dann für die vollständige Finanzierung der von ihm veranlassten sozialen Leistungen zuständig. Die Übernahme des Arbeitslosengeldes II durch den Bund im Rahmen von 2 61. Deutscher Juristentag 1996; Geske, 1998; Grote, 1996; Kirchhof, 1996; Selmer, 1996; Huber / Lichtblau 1999.

Ist der deutsche Föderalismus deformiert? Analyse und mögliche Abhilfe

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„Hartz IV“ ist hier ein Schritt in die richtige Richtung. Die durch die Sozialhilfe besonders belasteten Länder werden voraussichtlich stärker entlastet als andere.  Alternativ könnte überlegt werden, ob die Länder bei Leistungsgesetzen zumindest die Höhe der Leistungen selbst bestimmen können. Die jeweiligen Verhältnisse in einem Land und dessen finanzielle Lage würden dann die Leistungshöhe beeinflussen. Sinnvoll wäre dann auch, den Ländern ein (begrenztes) Besteuerungsrecht zu gewähren. Damit würde der Zusammenhang von Steuerhöhe und staatlichem Leistungsniveau verdeutlicht. Zudem würde den Ländern damit die Möglichkeit eröffnet, besser den Präferenzen der Wähler, konkret die Wahl zwischen einer höheren Besteuerung und mehr staatlichen Leistungen einerseits und niedrigerer Besteuerung und weniger staatlichen Leistungen andererseits ermöglicht. Es würde schwieriger, weniger Steuern und mehr staatliche Leistungen zu versprechen oder zu verlangen.

Haben die deutschen Landesparlamente noch eine Zukunft? Von Joachim Linck I. Einleitung Der deutsche Bundesstaat befindet sich nach nahezu einhelliger Meinung in einer Krise. Die bundesstaatlichen Fehlentwicklungen betreffen zahlreiche Bereiche, so z. B.: die Finanzverfassung, die Kompetenzverzahnung zwischen Bund und Ländern bei der vorbereitenden Rechtsetzung und der nationalen Umsetzung von EU-Recht, die Mischverwaltungen und Mischfinanzierungen, die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern, sowie schließlich die Disparität zwischen den großen und kleinen Bundesländern. Demzufolge ist auch der Ruf nach einer grundlegenden Bundesstaatsreform einhellig. Das dabei allseits anerkannte, übergreifende Reformziel wird darin gesehen, bundesstaatliche Verflechtungen zu beseitigen und klare Verantwortlichkeiten zu schaffen sowie die Bundesländer und deren Parlamente zu stärken. Der Deutsche Juristentag hat dazu am 24. 09. 2004 interessante Vorschläge unterbreitet. Außerdem steht die von Bundestag und Bundesrat am 16. / 17. Oktober 2003 eingesetzte Bundesstaatskommission kurz vor dem Abschluss ihrer Beratungen. Die Auszehrung der Kompetenzen der Länder und ihrer Parlamente wird aber nicht nur durch unsere nationale bundesstaatliche Entwicklung, sondern auch in maßgeblicher Weise durch die europäische Entwicklung verursacht.

II. Zur bundesstaatlichen Entwicklung 1. Die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Landtag im Bereich der Gesetzgebung Untersucht man als Erstes die aktuelle Substanz der Landesgesetzgebung, so ist festzustellen, dass ein jahrzehntelanger Prozess zu einer Verlagerung von Gesetzgebungskompetenzen von den Ländern auf den Bund und zu einem Exekutivföderalismus zu Lasten der Landesparlamente geführt hat. Die Entwicklung des deutschen Föderalismus hin zu einem „unitarischen Bundesstaat“ – nicht nur, aber gerade auch im Bereich der Gesetzgebung – ist bekannt 5 von Arnim

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Joachim Linck

und im Wesentlichen unbestritten. Für diesen Niedergang des deutschen Föderalismus gibt es im Wesentlichen folgende Gründe: a) Der Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung wurde in Art. 74 GG und über Art. 74 a GG in ca. 20 konkreten Einzelfällen ständig ausgeweitet. Noch gravierendere Folgen zu Lasten der Länder hatte die Praxis des Bundes, die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz nahezu vollständig auszuschöpfen. Sie verdiente zumindest bis zur Änderung von Art. 72 Abs. 2 GG im Rahmen der Verfassungsreform von 1994 ihren Namen nicht. Es gab überhaupt keine echte Konkurrenz zwischen Bund und Ländern. Der Bund hatte vielmehr ein verfassungsrechtlich kaum begrenztes Zugriffsrecht auf alle Materien der konkurrierenden Gesetzgebung. Dieses Zugriffsrecht war zudem nicht oder kaum justiziabel. Die Voraussetzungen für den Zugriff des Bundes wurden bei der Verfassungsreform 1994 in Art. 72 Abs. 2 GG verschärft und für eine verfassungsgerichtliche Überprüfung justiziabler gefasst. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Altenpflege, zum Ladenschluss und zum Hochschulrahmengesetz stärken dementsprechend den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum der Länder, in dem sie die Voraussetzungen für eine bundesrechtliche Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG mit erfreulich rigider Argumentation begrenzen. Diese Rechtsprechung wird jedoch nur die künftige Gesetzgebung des Bundes zugunsten der Länder beeinflussen, verlorenes Gesetzgebungsterrain bringt sie den Ländern nicht zurück, zumal Art. 72 Abs. 3 und Art. 125 a GG wegen seiner Bundesdominanz beim Verfahren bisher völlig leer laufen. b) Eine ähnlich unitarische Entwicklung gibt es bei der Rahmengesetzgebung. Sie ist alles andere als eine echte Rahmen- oder Grundsatzgesetzgebung des Bundes. Sie belässt den Ländern in der Praxis nur wenig substanziellen politischen Gestaltungsspielraum. Der Bund konnte bis zur Verfassungsreform 1994 nach Art. 75 GG a.F. auch unmittelbare und bis ins Detail gehende Regelungen erlassen – und das hat er auch ausgiebig getan. Der Verfassungsgeber konnte sich dennoch 1994 nicht dazu entschließen, diese Möglichkeiten gänzlich zu unterbinden. Immerhin wurde die Kompetenz des Bundes zu „in Einzelheiten gehende oder unmittelbar geltende Regelungen“ auf – allerdings nicht näher spezifizierte -“Ausnahmefälle“ begrenzt. Beispiele aus der Vergangenheit für eine exzessive Ausschöpfung der Rahmenkompetenz durch den Bund sind das Personalvertretungsgesetz, das Beamtenrechtsrahmengesetz oder das Hochschulrahmengesetz. Aber auch bei der Rahmengesetzgebung setzt das Bundesverfassungsgericht dem Bundesgesetzgeber in seinem Urteil zum Hochschulrahmengesetz neuerdings höhere Hürden; allerdings hat diese Rechtsprechung auch hier nur Auswirkungen für die künftige Gesetzgebung des Bundes. Bei der Rahmengesetzgebung gibt es insbesondere im Umweltbereich geradezu einen Verflechtungsexzess zu beklagen: Die EU erlässt Richtlinien. Der Bund erlässt Rahmengesetze und die Länder müssen diesen zweifach vorgegebenen Rah-

Haben die deutschen Landesparlamente noch eine Zukunft?

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men ausfüllen. Das Ergebnis ist eine dreistufige Gesetzgebung, die kaum noch jemand durchschaut und für die Verantwortlichkeiten gerade aus der Sicht der Bürger und Wähler kaum noch zurechenbar sind.

2. Die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Landtag im Haushaltsbereich Die Entwicklung zum unitarischen Bundesstaat hat auch nicht vor der Etathoheit der Landesparlamente Halt gemacht. Wesentliche Ursache dafür sind, außer den wenigen autonomen Finanzquellen der Länder, die vielfältigen Mischfinanzierungen von Bund und Ländern, die Herzog treffend als „trojanische Pferde des Bundesstaats“ qualifiziert hat. Durch sie regiert der Bund mit goldenem Zügel massiv in die Etathoheit der Landtage hinein. Denn welcher Landtag kann es sich – abgesehen von Haushaltsnotständen wie es sie zurzeit in einigen Ländern gibt – politisch erlauben, z. B. bei den Mischfinanzierungen die Kofinanzierung des Bundes auszuschlagen? Sie beträgt bei den Gemeinschaftsaufgaben in der Regel 50% – in Ausnahmefällen bis zu 80% und bei der Förderung von Großforschungseinrichtungen sogar 90%. Neben den normativ abgesicherten Gemeinschaftsaufgaben gibt es ein undurchsichtiges Geflecht von Mischfinanzierungen im verfassungsrechtlichen Graubereich. In Sonntagsreden werden die hehren Ziele des Föderalismus und die Eigenständigkeit der Länder zwar gepriesen, aber in Kungelrunden in den Hinterzimmern der Politik werden diese Grundsätze selbst im Bildungsbereich immer wieder für billige Münze verkauft. So geschehen z. B. in jüngster Zeit bei dem Bund-LänderProgramm zur Förderung von Ganztagsschulen. Dieselben unkeuschen Signale sendet der Bund mit dem Angebot an die Länder aus, in einem gemeinsamen 1,9 Milliarden Programm „Deutschlands Hochschulen in den nächsten Jahren an die Weltspitze zu bringen“- so die vollmundigen Verlautbarungen der Bundeswissenschaftsministerin. Die Länderparlamente büßen bei der Mischverwaltung und Mischfinanzierung nicht nur ihren finanzpolitischen, sondern auch den sachlich-politischen Gestaltungsspielraum ein. Der Bund regiert über die gemeinsamen paritätisch besetzten Planungsausschüsse massiv in die Verwaltungskompetenzen der Länder hinein. Es entspricht eben der politischen Realität: „Wer die Musik bezahlt, bestimmt auch deren Melodie.“

3. Die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Landtage über ihre parlamentarischen Kontrollkompetenzen Ein ähnlich deprimierender Befund wie für die Gesetzgebung und den Haushalt ergibt sich für die politischen Gestaltungsmöglichkeiten der Landtage über die par5*

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lamentarische Kontrolle, wo nach verbreiteter Meinung künftig das Hauptbetätigungsfeld der Landtage liegen soll. Die Funktion der parlamentarischen Kontrolle der Exekutive liegt im hier erörterten Zusammenhang darin, auf das Handeln der Exekutive durch die vielfältigen Mittel parlamentarischer Kontrolle einen direkten oder – über die Öffentlichkeit – einen mittelbaren Einfluss auszuüben. Dieser Einfluss der Landtage via Kontrolle ist jedoch weitgehend substanzlos. Die Länder werden zwar für die Verwaltung grundsätzlich zuständig bleiben. Das gilt sowohl für den Vollzug von Bundes- als auch von Europarecht. Ein politisch substanzieller Gestaltungsspielraum ist beim Gesetzesvollzug kaum zu erwarten, gerade weil die Gesetze immerzu flächendeckender und detaillierter werden. Die allgemeine Kritik an der Gesetzesflut und der Überreglementierung ist dafür beredtes Zeugnis. Die Gegenstände der parlamentarischen Kontrolle sind somit für die Landtage substantiell ziemlich uninteressant. Die Exekutive der Länder könnte daher einen substanziellen Gestaltungsraum theoretisch allenfalls noch im gesetzesfreien Bereich, insbesondere bei Förderprogrammen haben, die es in umfänglicher und vielfältiger Weise gibt. Aber auch hier wird die Bandbreite einer eigenständigen Politikgestaltung durch die Bundesländer in der Staatspraxis zunehmend enger. Schuld daran sind auf nationaler Ebene die Bund-Länder-Programme im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a, b und Art. 104 a Abs. 4 GG sowie sonstige in der verfassungsrechtlichen Grauzone angesiedelte Programme wie z. B. das bereits zuvor kritisierte Ganztagsschulprogramm. Auf den Einfluss von EU-Programmen wird noch gleich zurückzukommen sein.

4. Zur Steuerautonomie der Länder und deren Parlamente Leitbild einer föderalistischen Finanzverfassung müsste der Grundsatz sein: Jede staatliche Ebene, die öffentliche Ausgaben veranlasst, muss selbst verantworten, wie diese Ausgaben zu finanzieren sind, sei es über Steuern oder sonstige Abgaben. Von diesem Leitbild sind wir meilenweit entfernt: Die Landtage sind von der Steuergesetzgebung weitgehend ausgeschlossen. Sie können gerade die örtlichen Verbrauchs- und Aufwandssteuern regeln (Art. 105 Abs. 2 a GG). Außerdem erlässt der Bund Gesetze, deren finanzielle Lasten von den Ländern zu tragen sind. Selbst die Kommunen haben über ihr Hebesatzrecht bei den Realsteuern insoweit mehr Finanzautonomie als die Länder.

Haben die deutschen Landesparlamente noch eine Zukunft?

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III. Auswirkungen der europäischen Entwicklung und speziell des EU-Verfassungsvertragsentwurfs auf die Kompetenzen der Länder und deren Parlamente Die großen Sorgen um die Zukunft der Landesparlamente auf Grund des Niedergangs des Föderalismus in der Bundesrepublik Deutschland werden noch massiv gesteigert durch die europäische Entwicklung und dabei speziell durch den Entwurf des EU-Verfassungsvertrags. Das Grundproblem lässt sich auf eine – zugegebenermaßen etwas vereinfachte – Formel bringen: Wenn die Rechtsetzungs- und Finanzkompetenzen in wesentlichen Bereichen auf die EU verlagert sind oder dahin abwandern werden, dann brauchen wir in Deutschland keine Föderalismusreform mehr. Dann gibt es keine wesentlichen nationalen Kompetenzen mehr, die zwischen Bund und Ländern verteilt und von den Landtagen wahrgenommen werden können. Diese Gefahr einer weiteren Europäisierung des deutschen Rechts besteht nach dem Entwurf des Verfassungsvertrags durchaus – auszuschließen ist sie keinesfalls. Nach allgemeiner Meinung gibt es bereits heute nur noch wenige nationale deutsche Rechtsgebiete, die nicht – zumindest teilweise – durch EU-Recht überlagert werden. Auf den EU- Gipfeltreffen in Nizza und insbesondere in Laeken bestand daher durchaus Einvernehmen, dass die Kompetenzverteilung am Maßstab des Subsidiaritätsprinzips zwischen der EU und den Mitgliedstaaten neu und mit der erforderlichen Klarheit zu ordnen sei. Was ist in dem Vertragsentwurf von diesen zentralen Forderungen jedoch übrig geblieben? Der Vertragsentwurf sieht bedauerlicherweise keine Rückverlagerungen von EU-Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten vor. Ganz im Gegenteil: Die Kompetenzausstattung der EU soll nicht nur festgeschrieben, sondern sogar unnötigerweise erheblich erweitert werden, gerade auch zu Lasten der deutschen Bundesländer. Ich nenne folgende Beispiele: – die Kompetenz der Europäischen Union für die Daseinsvorsorge, – die fehlende Präzisierung der Binnenmarktklausel, – die Koordinierungskompetenzen in der Wirtschaftspolitik mit ihren unklaren Regelungen und ihrem generalklauselartigen Charakter, – die Aufnahme des Hauptbereichs „wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ unter die Bereiche mit geteilter Zuständigkeit und damit die Ausweitung der bisherigen Förderkompetenz der europäischen Union, – die Erstreckung von Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen auf die bislang den Ländern vorbehaltenen Bereiche der allgemeinen und der beruflichen Bildung, Kultur, Jugend sowie des Sports und Zivilschutzes,

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– die „offene Methode der Koordinierung“ in den Bereichen Soziales, Forschung und technologische Entwicklung, Gesundheitspolitik und Industrie.

Darüber hinaus schränken die EU-Förderprogramme den finanziellen und sachlichen politischen Gestaltungsspielraum der Landtage – ähnlich wie oben bei den nationalen Mischfinanzierungen und Gemeinschaftsaufgaben – erheblich ein. Der EU-Haushalt hat im Jahr 2004 ein Volumen von knapp 100 Milliarden Euro. Ungefähr 46% dieses Haushalts fließen in die Agrarbeihilfen, ca. 31% in die Strukturfonds, also insbesondere in die Regionalförderung. Die deutschen Bundesländer – und damit die Landtage – sind insoweit einer doppelten politischen Einflussnahme über den goldenen Zügel ausgesetzt: dem des Bundes und dem der EU.

IV. Zusammenfassung zur Lage der Länder und speziell deren Parlamenten Die Analyse zur Lage der deutschen Länder und speziell der Landesparlamente lässt sich somit wie folgt zusammenfassen: 1. Den deutschen Bundesländern droht durch die bundesstaatliche und die europäische Entwicklung aus staatsrechtlicher Sicht die Verödung zu regionalen Verwaltungsprovinzen mit Landtagen als regionalen Vertretungskörperschaften. Diese Entwicklung stößt an die Grenzen der so genannten Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG. Danach verlangt das Grundgesetz zwingend und unabänderbar Länder mit Staatsqualität und damit Landesparlamente mit substanziellen eigenen politischen Gestaltungsspielräumen. 2. Die Gesetzgebungskompetenzen der Länder sind zunehmend auf den Bund oder die EU verlagert worden oder sie werden von beiden determiniert. 3. Im Bereich der Haushaltsgestaltung hängen die Landesparlamente sowohl am „goldenen Zügel“ des Bundes als auch der EU. Ihr eigenverantwortlicher finanzieller Gestaltungsspielraum tendiert gegen Null. 4. Die parlamentarische Kontrolle denaturiert zu einer politisch irrelevanten Kontrolle des reinen Verwaltungsvollzugs. 5. Die Finanzautonomie insbesondere bei der Steuergesetzgebung ist rudimentär.

V. Rechtspolitische Forderungen an eine Bundesstaatsreform Aufgrund dieser Analyse der Kompetenzen und des realen politischen Gestaltungsspielraums der Länder und Landesparlamente ergeben sich folgende rechtspolitische Forderungen:

Haben die deutschen Landesparlamente noch eine Zukunft?

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Oberste politische Maxime muss die Beseitigung der exzessiven Politikverflechtung sein. Geboten ist die Schaffung eindeutiger, transparenter und zurechenbarer Verantwortlichkeiten zwischen der EU, dem Bund und den Ländern. Diese Forderung stellt sich nicht nur aus Gründen einer effizienten Verwaltung, sondern gerade auch auf Grund des Demokratieprinzips: Der Wähler muss wissen, wer für was verantwortlich ist. Nur dann können Wahlen ihre Legitimationsfunktion erfüllen. 1. Das erste grundlegende Ziel muss demzufolge die nachhaltige Revitalisierung des Föderalismus in Deutschland sein: a) Die Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern sind neu zu strukturieren und aufzuteilen. Die konkurrierende Gesetzgebung und die Rahmengesetzgebung sind abzuschaffen. Die Materien beider Gesetzgebungskategorien sind zwischen Bund und Ländern soweit wie nur irgend möglich zugunsten der Länder neu aufzuteilen und beiden Ebenen zur ausschließlichen Wahrnehmung zu übertragen. Diesen Weg – mit großen Vorteilen für die Länder und ihre Parlamente – weist auch die neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Erforderlichkeitsklauseln in Art. 72 Abs. 2 GG. An Stelle des hier favorisierten, klaren und einfachen Trennungsprinzips scheint man in der Bundesstaatskommission die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz beibehalten und sie durch das Modell einer so genannten Zugriffs- oder Vorranggesetzgebung der Länder ergänzen zu wollen; zumindest sieht man darin die Kompromisslösung. Bei diesem Modell handelt es sich um eine Art umgekehrte konkurrierende Gesetzgebung. Die Länder können – einzelne noch festzulegende – Materien aus der konkurrierenden Gesetzgebung ganz oder teilweise an sich ziehen und eigenverantwortlich gesetzlich regeln. Das Zugriffsmodell begegnet einer Reihe durchgreifender Bedenken: – Die Zugriffsgesetzgebung führt zu einem unsystematischen Nebeneinander von bundes- und landesrechtlichen Gesetzgebungsfragmenten. – Wir erhalten zwischen großen und kleinen Ländern einen Föderalismus zweier Geschwindigkeiten. – Wenn es keine Notwendigkeit für eine bundeseinheitliche Regelung gibt, dann brauchen die Länder kein Zugriffsrecht, dann kann ihnen die Materie zur ausschließlichen Wahrnehmung zugewiesen werden. – Schließlich stellt sich die Frage, ob das Zugriffsmodell im Hinblick auf die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 72 Abs. 2 GG aus der Sicht der Landesparlamente überhaupt noch nötig ist.

b) Des Weiteren sind die Mischverwaltungen und Mischfinanzierungen, vornehmlich die Gemeinschaftsaufgaben grundsätzlich abzuschaffen. Die Aufgaben sind auf die Länder zu übertragen – natürlich mit entsprechender Finanzausstattung. Die Umsatzsteuer muss in entsprechender Weise neu verteilt werden.

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Ausnahmen darf und muss es nur für überregionale Großforschungsvorhaben in gesamtstaatlichem Interesse geben. c) Die Finanzautonomie der Länder und ihrer Parlamente ist zu stärken. Dafür kommen Zuschlags- und Hebesatzrechte der Länder auf die Einkommens- und Körperschaftssteuer in Betracht. In jedem Fall sollten die Länder die Gesetzgebungskompetenz für diejenigen Steuern erhalten, deren Aufkommen ausschließlich ihnen nach Art. 106 Abs. 2 GG zusteht. Also z. B. für die Vermögens-, die Kraftfahrzeug-, oder die Grundsteuer. 2. Das zweite grundlegende Ziel muss eine nachhaltige Föderalisierung der EU sein: Von der EU müssen Kompetenzen auf die Mitgliedstaaten zurückverlagert werden. Außerdem sind die Kompetenzabgrenzungen am Maßstab des Subsidiaritätsprinzips klar und eindeutig vorzunehmen. Schließlich müssen die Mischfinanzierungen ebenso wie in Deutschland zurückgeführt werden.

VI. Schlussbemerkung Nur wenn diese grundlegenden Reformen wenigstens annähernd verwirklicht werden, nur dann haben die Länder und Landesparlamente noch eine Zukunft und diese Zukunft muss man ihnen aus voller Überzeugung wünschen. Ein guter Staat verlangt differenzierte Strukturen, die sich am Subsidiaritätsprinzip orientieren. Und in einem so gegliederten Staatswesen kommt gerade den Ländern und ihren Parlamenten eine ganz wesentliche demokratische Repräsentationsfunktion zu. Bricht diese Ebene weg und entfernt sich damit Politik immer weiter aus der demokratischen Einflusssphäre der Bürger, dann geht für die Menschen in diesem Staat mit jeder weiteren Zentralisierung und Anonymisierung der Politik letztlich insoweit auch ein bedeutsames Stück eigener Würde, Freiheit und Verantwortung verloren. Dann brauchen wir uns über Politikverdrossenheit beim Bürger nicht zu wundern.

Wahl ohne Auswahl? Probleme des deutschen Wahlrechts im europäischen Vergleich

Von Volker von Prittwitz

I. Parteien- und Personenwahl: Begriffe und Hypothesen Mit der Bezeichnung Wahlen verbinden wir im allgemeinen die Vorstellung einer demokratischen Entscheidung. Die politische Kurzformel in der Öffentlichkeit hierfür lautet Freie Wahlen. Gemeint sind damit allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahlen ohne zwingenden äußeren Druck, vor allem aber auch kompetitive Wahlen, in denen aus unterschiedlichen Wahlangeboten ausgewählt werden kann, also Wettbewerb zwischen den jeweiligen Anbietern besteht. Eine Wahl ohne Auswahl ist, den herrschend gewordenen normativen Vorgaben der liberalen Demokratietheorie zufolge, keine Wahl, sondern lediglich eine Wahlfarce. Dementsprechend hat die auf die Bundesrepublik Deutschland bezogene Frage Wahl ohne Auswahl? prekären Charakter. Würden wir nämlich zum Ergebnis kommen, es bestehe keine Auswahl, so bedeutete dies schlicht und ergreifend, dass wir in Deutschland keine Demokratie hätten. Übliches Kriterium zur Beurteilung der Frage nach kompetitiven Wahlen ist die Auswahlmöglichkeit aus unterschiedlichen Parteien: Spätestens seit dem 20. Jahrhundert gelten Parteien als wichtigste politische Organisationsform der Aggregation, Artikulation und Vertretung politischer Interessen. Anders als die Honoratiorendemokratie, in der lediglich einzelne besonders gebildete und begüterte Bürger den allgemeinen Volkswillen auszudrücken suchten, ermöglicht die Parteiendemokratie die kollektive und damit schlagkräftige Organisation von Interessen und eröffnet auch breiteren Volksschichten einen organisierten Zugang zum politischen Prozess. Die Auswahlmöglichkeit aus unterschiedlichen Parteien steht damit in hervorgehobener Weise für politische Pluralität respektive moderne pluralistische Demokratie, der wohl wichtigste Grund dafür, dass sie von der Hitlerdiktatur so hasserfüllt bekämpft wurde. Auch in einer Sicht, nach der Parteien eine wichtige Rolle für die Demokratie spielen sollen, bleibt das Individuum, hier der einzelne Abgeordnete, allerdings nicht normativ bedeutungslos: Die Aggregation, Artikulation und Vertretung von Interessen vollzieht sich ja letztlich immer vermittelt durch menschliche Individuen; Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten liegen gerade in einer Gesellschaft,

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Volker von Prittwitz

die den Schutz der Menschenwürde als obersten Leitwert betrachtet, nicht allein bei kollektiven Einheiten, sondern gerade auch bei dem oder der Einzelnen. Und die menschliche Psyche ist nun mal primär auf die Kommunikation mit Menschen ausgerichtet. Der Souverän Wähler möchte also gerne auch Wahlalternativen zwischen Personen haben. Personelle Wahlaspekte werden in der aktuellen Wahlsystemdiskussion vor allem unter zwei Stichworten behandelt, Personenwahl und Präferenzstimmen. Als Personenwahl oder individuelle Wahl wird die Wahl zwischen Einzelkandidaten unterschiedlicher Parteien verstanden, eine Wahlform, die den Parteien die Auswahl ihrer (internen) Kandidaten belässt.1 Von Präferenzstimmen (preferential voting) wird dagegen gesprochen, wenn die Wähler das Recht haben, unter mehreren Kandidaten einer Partei einen oder mehrere auszuwählen. Die rechtlich bedingte Fähigkeit der Wähler, über die personelle Zusammensetzung von Parlamenten zu entscheiden, lässt sich in einem Wort als Personalisierungskompetenz der Wähler bezeichnen. Diese fehlt in Wahlsystemen, in denen allein starre Parteienlisten zur Wahl stehen, völlig. Kann der Wähler lediglich zwischen einzelnen Kandidaten unterschiedlicher Parteien wählen, ist seine Personalisierungskompetenz gering. Das Präferenzstimmrecht schließlich gibt dem Wähler große Personalisierungskompetenz. Was leisten nun Wahlsysteme mit großer Personalisierungskompetenz des Wählers? Der bisherige Stand der vergleichenden Forschung ist hierzu wenig eindeutig.2 Nach Plausibilitätsannahmen und vorliegenden empirischen Versatzstücken scheinen mir jedoch folgende Annahmen sinnvoll: 1. Personalisierungskompetenz der Wähler fördert die soziale Repräsentativität der gewählten Parlamente, denn Wähler neigen grundsätzlich dazu, Kandidaten mit eigenen Gruppenmerkmalen, so eigenem Geschlecht, eigener Schicht, eigener Ethnie, eigener Religion, zu favorisieren. Mit dieser Annahme wird nicht bestritten, dass auch andere Momente, insbesondere die quotierte Aufstellung von Kandidatenlisten, die soziale Repräsentanz von Parlamenten fördern können.3 2. Personalisierungskompetenz der Wähler wirkt mäßigend auf den Parteienstaat. Denn vor allem bei Präferenzstimmenrecht hängen die Wahlaussichten von Parlamentskandidaten nicht nur von den Parteien, sondern gerade auch von der 1 Siehe dazu für das deutsche Wahlsystem Bundeswahlgesetz (BWG), Artikel 1 und Artikel 20.(BGBl.I. S. 1288, 1594, zuletzt geändert am 7. Mai 2002, BGBl. I S. 1529). 2 Siehe etwa Lauri Karvonen, Preferential Voting: Incidence and Effects, in: International Political Science Review 25 (2004) 2, 203 – 220; Norbert Kersting, Nichtwähler. Diagnose und Therapieversuche, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 14 (2004) 2, S. 403 – 427. 3 Zu den Gleichstellungseffekten von Quoten bei starrer Liste siehe Monique Leijenaar, Kees Niemöller, Michael Laver u. a., Electoral systems in Europe: A Gender-impact Assessment, European Commission, Directorate-General for Employment, Industrial Relations and Social Affairs, 1999, S. 49.

Wahl ohne Auswahl?

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Wählergunst ab. Ist die Parteienstimme mit der Personalstimme gekoppelt, so kommen attraktive Kandidaten dem Wahlerfolg der sie aufstellenden Parteien zugute. Die Parteiführungen werden bei der Aufstellung von Parteilisten oder Direktwahlkandidaten also besondere Rücksicht auf den Wählerwillen nehmen. 3. Personalisierungskompetenz der Wähler erhöht die Akzeptanz des Wahlsystems und damit die soziale Verankerung von Demokratie, da eine unmittelbare Auswahlmöglichkeit von Personen dem überwiegenden Wählerwunsch entspricht. 4. Wahlsysteme, die Präferenzstimmen ermöglichen, sind üblicherweise komplexer als Wahlsysteme ohne diese Stimmmöglichkeit. Angesichts dessen sind Wahlsysteme mit großer Personalisierungskompetenz der Wähler umso sinnvoller, je besser die Wähler die Kandidaten kennen. Dies ist in der Regel eher auf niedrigen institutionellen Ebenen und in kleineren Wahleinheiten der Fall als auf hohen institutionellen Ebenen und in größeren Wahleinheiten.

II. Personalisierungskompetenz des Wählers bei der Personalisierten Verhältniswahl? Das deutsche Wahlsystem erlaubt eine freie Auswahl aus unterschiedlichen Parteien und erfüllt damit eine fundamentale Voraussetzung freiheitlicher Demokratie. Neben der nach dem Verhältniswahlprinzip durchgeführten Parteienwahl finden Personenwahlen zwischen Wahlkreiskandidaten unterschiedlicher Parteien statt. Die Ergebnisse beider Wahlen werden nach dem Verhältniswahlprinzip miteinander verrechnet. Dementsprechend ist für das deutsche Wahlsystem die Kurzbezeichnung Personalisierte Verhältniswahl üblich.4 Die vom Wähler getroffenen personellen Wahlkreisentscheidungen werden von den Parteien allerdings häufig über so genannte sichere Listenplätze konterkariert. So gelangten in der Bundestagswahl 2002 ca. 54 Prozent der Parlamentskandidaten sicher prognostizierbar, das heißt unabhängig von maximalen Schwankungen der Wählerzustimmung zu einzelnen Parteien, in den Bundestag.5 Besonders prekär erscheint diese wahlrechtlich gestützte Praxis in Fällen, in denen Direktkandidaten in ihrem Wahlkreis keine Wählermehrheit gefunden haben, aber dennoch über eine Parteiliste in den Bundestag einziehen.6

4 Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, 4. Aufl., Opladen 2004, S. 305 – 307; problematisierend Volker von Prittwitz, Vollständig personalisierte Verhältniswahl. Reformüberlegungen auf der Grundlage eines Leistungsvergleichs der Wahlsysteme Deutschlands und Finnlands, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52 / 2003, S. 12 – 20. 5 Hans Herbert von Arnim, Wahl ohne Auswahl. Die Parteien und nicht die Bürger bestimmen die Abgeordneten, in: Andreas Wüst (Hrsg.), Politbarometer. Festschrift für Dieter Roth, Opladen 2003, S. 125 (131). 6 Ebda.

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Volker von Prittwitz

Unter den Bundestagskandidaten einzelner Parteien können die Wähler in Deutschland überhaupt nicht auswählen: Um die Erststimmen konkurrieren von den Parteien definitiv ausgewählte Kandidaten (jeweils einer); in der Zweitstimmenwahl können lediglich starre, in ihrer Zusammensetzung und Reihenfolge unveränderliche, Kandidatenlisten angekreuzt werden. Ein Präferenzstimmenrecht sieht das deutsche Bundeswahlgesetz nicht vor. Zusammenfassend ergibt sich eine sehr geringe Personalisierungskompetenz der Wähler zum deutschen Bundestag.

III. Die Personalisierungskompetenz der Wähler im EU-Ländervergleich Während kompetitive Parteienwahlen in allen EU-Ländern gesichert sind, unterscheidet sich das Maß, in dem den Wählern ein Recht auf personelle Auswahl eingeräumt wird, in der Europäischen Union erheblich. So standen bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004 sechzehn Länder mit Präferenzstimmenrechten neun Ländern ohne solche Rechte gegenüber. Dieses zahlenmäßige Übergewicht nationaler Präferenzstimmenmodelle relativiert sich allerdings dadurch, dass die bevölkerungsstärkeren Flächenländer Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Spanien und Polen bei den Europawahlen nach dem Prinzip der starren Listen wählten (siehe Abbildung 1).

Europa-Wahl 2004: Konnte der Wähler zwischen mehreren Kandidaten der selben Partei wählen? ICELAND

Ja

FINLAND NORWAY

Nein

RUSSIA

SWEDEN

ESTONIA

NORTH. IRELAND

LATVIA DENMARK

IRELAND

LITHUANIA RUSSIA

UNITED KINGDOM

BE LO BELO RUSSIA

HOLLAND BELGIUM

POLAND

GERMANY

LUXEMBOURG

UKRAINE

CZECH. REP. SLOVAK REP.. FRANCE

SWITZERLAND

MOLDAVIA MOLDAVIA AUSTRIA

HUNGARY SLOVENIA CRO ATIA CROATIA BOSNIA HERC EGOVINA HERCEGOVINA

PORTUGAL

SPAIN

ITALY

JUG OSLAVIA JUGOS

ROMANIA

BULGARIA

MACEDO NIA MACEDONIA ALBANIA GREECE

MALTA

TYRKEY

CUPRYS

Eigene Darstellung nach http: //www.elections2004.eu.int/ep-election/sites/en/index.html (26. 10. 2004); Nohlen, Dieter: Wie wählt Europa? Das polymorphe Wahlsystem zum Europäischen Parlament, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B17 / 2004, S. 29 – 37. In Abweichung von Dieter Nohlen wurde dem tschechischen Wahlsystem zur EU-Parlamentswahl Präferenzstimmmöglichkeit zugeordnet.

Abbildung 1: Präferenzstimmenmodelle bei den Wahlen zum Europaparlament 2004

Wahl ohne Auswahl?

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Personalisierungskompetenz der Wähler bei den letzten nationalen Wahlen ICELAND

groß

FINLAND NORWAY

gering

RUSSIA

SWEDEN ESTONIA

sehr gering

. NORTH IRELAND

DENMARK

LATVIA

IRELAND

keine

LITHUANIA RUSSIA BELO RUSSIA

UNITED KINGDOM HOLLAND OLLAND BELGIUM

GERMANY

POLAND

LUXEMBOURG UKRAINE

CZECH. REP. SLOVAK. REP. .

FRANCE

MOLDAVIA HUNGARY SLOVENIA ROMANIA CROATIA BOSNIAHERCEGOVINA JUGOSLAVIA ITALY BULGARIA

SWITZERLAND AUSTRIA

PORTUGAL

SPAIN

MACEDONIA ALBANIA GREECE

MALTA

TYRKEY

CUPRYS

Eigene Darstellung nach Nohlen Dieter, Wahlrecht und Parteiensystem, 4. Aufl., Opladen 2004, S. 203 – 206 und 219 – 221.

Abbildung 2: Personalisierungskompetenz der Wähler bei den letzten nationalstaatlichen Wahlen in den heutigen EU-Mitgliedsländern

Bei den letzten nationalstaatlichen Wahlen wurde in 17 von 25 Ländern, nämlich in Irland, Belgien, den Niederlanden, Dänemark, Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Österreich, Italien, Malta und Zypern, mit lose gebundenen Listen beziehungsweise Präferenzstimmenmodellen und damit hoher Personalisierungskompetenz gewählt. Geringe Personalisierungskompetenz ist demgegenüber in Großbritannien, Frankreich und Griechenland gegeben (individuelle Personenwahl respektive Mischsystem), sehr geringe Personalisierungskompetenz in Deutschland, Spanien und Ungarn (individuelle Personenwahl mit starren Listen), und fehlende Personalisierungskompetenz in Portugal (reine starre Liste).

IV. Partizipation im EU-Ländervergleich: Personalisierungskompetenz und nationale Referenden Hinsichtlich der Frage, ob zur EU-Verfassung nationale Referenden durchgeführt werden sollen, bestanden im Oktober 2004 unterschiedliche Ländergruppen: Einer im wesentlichen westeuropäischen Ländergruppe, die sich sicher für ein Referendum entschieden hat (Irland, Großbritannien, Portugal, Spanien, Frankreich, Luxemburg, Holland, Dänemark), und einer kleinen Gruppe, für die ein Referendum als wahrscheinlich gilt (Belgien, Polen, Estland), sowie einer Gruppe mit unklarer Wahrscheinlichkeit (Italien, Tschechien, Slowakei, Slovenien), steht

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eine Ländergruppe gegenüber, für die ein Referendum als unwahrscheinlich gilt (Finnland, Schweden, Lettland, Litauen, Deutschland, Österreich, Ungarn, Griechenland, Malta, Zypern).7 Berücksichtigen wir diesen Planungsstand und verzeichnen wir zusätzlich, ob in EU-Ländern schon nationale Referenden durchgeführt worden sind, so ergibt sich eine Bilanz von seltener Klarheit: Alle EU-Mitgliedsländer haben bereits zumindest ein Referendum durchgeführt oder planen eines zur EU-Verfassung durchzuführen – mit Ausnahme Deutschlands (siehe Abbildung 3).

Nationale Referenden bisher oder geplant

ICELAND

Ja FINLAND

NORWAY

Nein

RUSSIA

SWEDEN ESTONIA

. NORTH IRELAND

DENMARK

LATVIA

IRELAND

LITHUANIA RUSSIA BELO RUSSIA

UNITED KINGDOM HOLLAND BELGIUM

GERMANY

POLAND

LUXEMBOURG

UKRAINE

CZECH. REP. FRANCE

SLOVAKREP . SLOVAKREP MOLDAVIA HUNGARY SLOVENIA SLOVENIA ROMANIA CROATIA BOSNIAHERCEGOVINA JUGOSLAVIA ITALY BULGARIA

SWITZERLAND AUSTRIA

PORTUGAL

SPAIN

MACEDONIA ALBANIA GREECE

MALTA

TYRKEY

CUPRYS

Eigene Darstellung nach Ismayr, Wolfgang (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, 3. Aufl., Opladen 2003; Ismayr, Wolfgang (Hrsg.), Die politischen Systeme Osteuropas, Opladen 2002; Nohlen Dieter, Wahlrecht und Parteiensystem, 4. Aufl., Opladen 2004; http: //www.bundestag.de/blickpunkt/Debatte/ 0406036.html (23. 10. 2004)

Abbildung 3: Zumindest ein nationales Referendum durchgeführt oder geplant

Fassen wir diese Referendums-Bilanz mit dem EU-Länder-Vergleich der Personalisierungskapazität bei nationalstaatlichen Wahlen zusammen, so akzentuiert sich die Sonderstellung Deutschlands noch einmal negativ. Die Deutschen haben bei den nationalen Wahlen nur geringe und bei den EU-Wahlen keine Personalisierungskompetenz. In der Europäischen Union ist Deutschland zudem das einzige Land, das seinen Bürgern / innen auf nationalstaatlicher Ebene bisher keinerlei Gelegenheit zu einer nationalen Volksabstimmung eingeräumt hat.8 Nach diesen beihttp: / / www.bundestag.de / blickpunkt / Debatte / 0406036.html (23. 10. 2004) Dies in eklatantem Gegensatz zu der in Artikel 21. Absatz 2 Grundgesetz enthaltenen prinzipiellen Festlegung auf Wahlen und Abstimmungen als Kernelemente der deutschen Demokratie. 7 8

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den Partizipationsgesichtspunkten nimmt Deutschland eine Schlusslichtposition in der Europäischen Union ein. Deutschland ist, gemessen an Kriterien der Abstimmungsdemokratie und der Auswahlmöglichkeit des politischen Personals, nicht mit anderen EU-Ländern, sondern eher mit dem als prekär betrachteten Aufnahmekandidaten Türkei vergleichbar. Auch die Türkei hat nämlich noch kein einziges Referendum zugelassen und kennt nur starre Listen.9

V. Stilles Ringen um das Recht auf Personenauswahl in den EU-Mitgliedsländern Wird die dargestellte Schlusslichtposition Deutschlands im EU-Vergleich öffentlich gemacht, so könnte hieraus politischer Druck zugunsten größerer Partizipationschancen der Bevölkerung in Deutschland entstehen. Die Referendumsproblematik ist im Sommer und Herbst 2004 immerhin bereits öffentlich diskutiert worden.10 In der Wahlrechtsproblematik allerdings findet bisher keine öffentliche Diskussion, sondern ein weitgehend stilles Ringen in der Europäischen Union gerade unter dem Gesichtspunkt der Personenauswahl statt. Unter den älteren EU-Mitgliedsländern sind die Wahlsysteme zum Europäischen Parlament bereits seit Jahrzehnten umkämpfter Gestaltungsgegenstand. So wechselte Frankreich mit der ersten Direktwahl zum EU-Parlament 1969 von der absoluten Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen zur Verhältniswahl mit starrer Liste. Großbritannien tat sich schwerer mit der Aufgabe seines traditionellen Wahlsystems relativer Mehrheitswahl und ging erst zu den EU-Wahlen 1999 zur Verhältniswahl mit starrer Liste über. Die EU-Erweiterung im Mai 2004 stärkte zahlenmäßig das Lager der EU-Länder mit dem Recht zur Personenauswahl: Von den zehn neuen Mitgliedsländern wählten in den Europawahlen sieben Länder mit lose gebundenen Listen oder Präferenzstimmenlösungen (Estland, Lettland, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Malta, Zypern), während drei Länder (Litauen, Polen, Ungarn) mit starren Listen wählten.11 Bei den letzten nationalstaatlichen Wahlen bestand eine noch klarere Mehrheit für die partizipativen Wahlsysteme (Ungarn als einziges Land der zehn neuen Mitgliedsländer ohne Präferenzstimmmöglichkeit). 12 Dies mit einer 10-Prozent-Klausel; vgl. Dieter Nohlen (Anm. 4), S. 257. Hierbei ergaben sich, gemessen an sonstigen Koalitionslinien, bizarre Konstellationen: Edmund Stoiber (CSU), die FDP und Daniel Cohn-Bendit (Grüne) für ein Referendum, Kanzler Gerhard Schröder (SPD), Außenminister Joschka Fischer (Grüne), Angela Merkel, Wolfgang Schäuble (CDU) gegen ein Referendum, SPD und Grüne für eine neuerliche Initiative zugunsten direkter Demokratiemechanismen auf Bundesebene (Der Tagespiegel vom 20. 07. 2004, S. 4; 21. 07. 2004, S. 4; 30. 08. 2004, S. 1; 31. 08. 2004, S. 1). 11 Siehe Abbildung 1. Dieter Nohlen, grundsätzlich Verfechter des deutschen Wahlsystems, stellte im Sommer 2004 (in: Wie wählt Europa? Das polymorphe Wahlsystem zum Europäischen Parlament, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 17 / 2004, S. 33.) die große Zahl mittel- / osteuropäischer Länder mit Präferenzstimmenrecht heraus. 12 Siehe Abbildung 2. 9

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Demgegenüber griff der ehemalige finnische Ministerpräsident Paavo Lipponen im Februar 2004 eine Initiative auf, das bisher in Finnland geltende EU-Wahlsystem mit lose gebundenen Listen durch ein Wahlsystem mit starren Listen zu ersetzen.13 Diese Initiative stieß aber auf kein politisches Echo: Nach einer zu der Änderungsinitiative im März durchgeführten Gallup-Umfrage in Finnland waren 76 Prozent der Befragten für die Beibehaltung des personalisierten Wahlsystems und nur 14 Prozent für starre Listen.14 Die Finnen wissen offensichtlich, was sie an ihrem Wahlsystem haben, nämlich eine Kombination der Personen- und Parteienwahl, durch die die Macht des Parteienstaates begrenzt wird. Unter diesen Rahmenbedingungen stellt sich die Frage: Wird der EU-Riese Deutschland die anderen Mitgliedsländer auf seinen partizipationsarmen Kurs bringen oder aber sein Wahl- und Abstimmungsrecht dem europäischem Partizipationsstandard anpassen?

13 Helsingin Sanomat, 27. 02. 2004; Initiator war Jarmo Törneblom, pensionierter Beamter im Justizministerium und früherer Wahlleiter in Finnland. 14 Helsingin Sanomat vom 17. 03. 2004.

Probleme der politischen Parteien am Beispiel ihrer Finanzierung Von Heike Merten I. Einführung in die Thematik Erlauben Sie mir, mit einem Zitat von Erich Kaufmann aus der Frühphase der Weimarer Republik zu beginnen. Kaufmann sprach von den politischen Parteien als „den unheimlichen gesellschaftlichen Gewalten, die sich selbst die Normen ihres Verhaltens gebend, ihr Gesetz dem Verfassungsleben aufzwingen und in ihrer durchaus irrationalen Kraft durch staatlich formulierte abstrakte Normen nicht reguliert werden können“1. Die in diesem Zitat zum Ausdruck kommende Abneigung und das Misstrauen gegenüber den politischen Parteien wurzeln in ihrer Entstehungsgeschichte. Die Entwicklung der politischen Parteien wurde von H. Triepel beschrieben als Entwicklung von der Bekämpfung bis zur verfassungsrechtlichen Relevanz.2 Keine Sorge, ich beabsichtige nun nicht über die historische Entwicklung des Parteiensystems zu referieren, was sicherlich auch spannend wäre. Das Zitat soll lediglich verdeutlichen, dass diese Aussage aus der Zeit der Weimarer Republik auch heute seine Gültigkeit nicht gänzlich verloren hat. Eine Umfrage der Unternehmensberatung McKinsey & Comp., des Magazins stern, t-online und des ZDF hat im Jahre 2002 ergeben, dass die Parteien kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung haben. Nur 3 % der Bundesbürger vertrauen den politischen Parteien, 55% bewerten ihre Aufgabenerfüllung als schlecht und 80% sehen bei ihnen dringenden Verbesserungsbedarf. Gefordert werden mehr Transparenz und Leistungskontrolle. Diese Umfrageergebnisse zeigen ein deutliches Misstrauen gegenüber den politischen Parteien: die politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland haben 1 Zitiert nach Konrad Hesse, Einführung – 30 Jahre Parteiengesetz, in: Dimitris Th. Tsatsos (Hrsg.), 30 Jahre Parteiengesetz in Deutschland, Baden-Baden 2002, S. 38 (41). 2 H. Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, Berlin 1928, S. 12 „Geschichtlich angesehen, hat sich das Verhalten des Staats gegenüber den politischen Parteien in einer vierfachen Stufenfolge bewegt. Wir können von einem Stadium der Bekämpfung, dann von einem Stadium der Ignorierung sprechen. An dieses schließt sich die Periode der Anerkennung und Legalisierung, und letzte würde die Ära der verfassungsrechtlichen Inkorporation folgen, die uns freilich zunächst noch im Existenz und Eigenart problematisch ist.“

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ein Problem! Womit ich bei meinem Thema bin. An dieser Stelle könnte man nun die – wohl auch heute noch aktuelle – Diskussion um die „Parteienverdrossenheit“ aufwärmen. In dieser Diskussion wird u. a. beklagt, dass die Parteien Macht und Einfluss ungebührlich ausdehnen und starke Funktionsdefizite zeigen.3 Ich möchte einen anderen Weg beschreiten.

II. Parteien sind notwendig Politische Parteien sind notwendige Bestandteile einer repräsentativen Demokratie. D.h. ohne Parteien geht es nicht. Die einfachste Möglichkeit, das Problem der politischen Parteien zu lösen, sie abzuschaffen, ist damit verwehrt. Die demokratische Bestimmungsmacht soll beim Volk liegen (Art. 20 II 1 GG) und über die zu wählende Volksvertretung ausgeübt werden. Wählbar sind politische Parteien und ihre Vertreter. So besteht ein ständiger Wettbewerb4 zwischen den Parteien um die Gunst der Bürger. Dazu ist es notwendig, dass die Parteien auch tatsächlich von den Bürgern abhängig sind und nicht in Isolation von den Bürgern ein Eigenleben führen können. Der Bürger erwartet in einer repräsentativen Demokratie zu Recht auch die Möglichkeit der gleichen Teilhabe an der Politik wie auch ihrer Instrumente zur Beeinflussung der Politik. Um die den politischen Parteien in einer repräsentativen Demokratie zugedachten Aufgaben erfüllen zu können, benötigen sie Geld. Alimentation birgt immer auch die Gefahr von Abhängigkeit und Beeinflussbarkeit. Dem Bürger werden nahezu täglich in den Medien die prachtvollen Parteizentralen in Berlin vor Auge geführt. Ihm ist bekannt, dass den politischen Parteien erhebliche Geldbeträge zur Verfügung stehen; ihm ist auch bewusst, dass diese Beträge nicht unmittelbar von den Bürgern erbracht werden. Diffus bleibt, wer das Geld unmittelbar gibt. Diese Geldgeber scheinen auch zu bestimmen, was geschieht, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Bürger nicht bestimmen können, was in der Politik geschieht. Die Bürger fühlen sich machtlos, mit der Konsequenz: die politischen Parteien haben keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Dies macht deutlich: die Probleme der Parteien sind eng verbunden mit ihrer Finanzierung!

3 Vgl. dazu auch Martin Morlok, Für eine zweite Generation des Parteienrechts, in: Dimitris Th. Tsatsos (Hrsg.), 30 Jahre Parteiengesetz in Deutschland, Baden-Baden 2002, S. 53 ff.; Dimitris Th. Tsatsos, Krisendiskussion, politische Alternativlosigkeit, Parteienstaatsübermaß, in: H. Däubler-Gmelin / K. Kinkel / H. Meyer / H. Simon (Hrsg.), Gegenrede, Festschrift für E. G. Mahrenholz, Baden-Baden 1994, S. 397 ff. 4 Martin Morlok, Parteienrecht als Wettbewerbsrecht, in: Peter Häberle / Vassilios Skouris (Hrsg.), Festschrift für Dimitris Th. Tsatsos zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 2003, S. 408 ff.

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III. Probleme der Parteienfinanzierung Das vordringlichste Bemühen der parlamentarisch vertretenen politischen Parteien muss nach obigen Ausführungen darin liegen, ihre Finanzierungsformen und damit ihre Geldgeber gegenüber der Öffentlichkeit klar und deutlich darzustellen. Kurz gesagt: Politische Parteien müssen ihre Geldzuflüsse öffentlich rechtfertigen um glaubwürdig zu sein.

1. Öffentlichkeit Diesen Gedanken hat schon der Verfassungsgeber nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Weimarer Republik und der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur erkannt und die Parteien verpflichtet, sichtbar zu machen, wer hinter ihnen steht, um sie durch öffentliche Kontrolle gegen undemokratische Einflüsse zu schützen.5 Für die Wähler soll sichtbar sein, welche Gruppen, Verbände oder Privatpersonen auf die Parteien politisch einzuwirken suchen und wie eine Partei gewirtschaftet hat. Voraussetzung hierfür ist eine transparente Rechnungslegung. Konsequenterweise beinhaltete daher das GG bereits seit seinem Inkrafttreten im Jahre 1949 in Art. 21 Abs. 1 S. 4, dass die Parteien die Pflicht haben, „über die Herkunft ihrer Mittel öffentlich Rechenschaft zu geben“. Dieses Verfassungsgebot wurde, obwohl dies in Art. 21 Abs. 3 GG6 gefordert wurde, erst 18 Jahre später durch einfachgesetzliche Regelungen ausgefüllt. Die Parteien, die über die Verfassungsorgane Bundestag und Bundesregierung die Initiative hätten ergreifen müssen, besaßen nicht die Kraft, sich „in eigener Sache“ u. a. dem Transparenzgebot zu unterwerfen. Erst durch das sog. Parteienfinanzierungsurteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahre 19667 sah sich der Gesetzgeber gezwungen, ein die Verfassungsbestimmung ausfüllendes Parteiengesetz zu verabschieden und darin die Rechnungslegungspflicht der Parteien erstmals im Detail zu regeln. In dem nur zwei Jahre später ergangenen Urteil führte das Bundesverfassungsgericht über die verfassungsrechtliche Pflicht zur öffentlichen Rechenschaftslegung aus: „Dieser Bestimmung (Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG a.F.) liegt die Erwägung zugrunde, dass die politische Willensbildung innerhalb der Parteien von Personen oder Organisationen erheblich beeinflusst werden kann, die den Parteien in größerem Umfang finanzielle Mittel zur Verfügung stellen. Eine derartige Verflechtung von politischen und wirtschaftlichen Interessen soll offengelegt werden. Der Wähler soll über die Kräfte unterrichtet werden, die die Politik der Parteien bestimmen und er soll die Möglichkeit haben, die Übereinstimmung zwischen den politischen Programmen und 5 Martin Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 21 Rn. 9 m. w. N.; Siehe auch BT-Drucks. 13 / 8888, S. 7. 6 Art. 21 Abs. 3 GG: „Das Nähere regeln Bundesgesetze“. 7 BVerfGE 20, 56 ff.

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dem Verhalten derer zu prüfen, die mit Hilfe finanzieller Mittel auf die Parteien Einfluss zu nehmen suchen“8. Gegen die gesetzliche Umsetzung des verfassungsrechtlichen Transparenzgebotes wurde zunehmend Kritik laut, die mit der Parteispendenaffäre Ende der 70er Jahre Bestätigung fand. Aufgrund dieser Kritik wurde im Dezember 1983 Art. 21 Abs. 1 S. 4 GG um die Darlegung der Ausgaben und des Vermögens erweitert.9 Diese Rechenschaftspflicht betrifft alle Parteien unabhängig davon, ob sie Anspruch auf eine direkte staatliche Parteienfinanzierung haben. Gleichzeitig wurden im PartG die entsprechenden Bestimmungen über Art und Aufbau der einzureichenden Rechenschaftsberichte erweitert. Die Parteien müssen somit seit 1984 über ihre Einnahmen hinaus auch über die „Verwendung ihrer Mittel sowie ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben“. Um das Finanzgebaren der Parteien einer öffentlichen Kontrolle zu unterstellen, werden die Rechenschaftsberichte als Bundestagsdrucksachen, die jedermann zugänglich sind, bekannt gemacht. In seiner letzten großen Entscheidung zur Parteienfinanzierung10 nahm das Bundesverfassungsgericht den Gedanken des verfassungsrechtlichen Transparenzgebots erneut auf. Auf der Grundlage dieser Entscheidung hat das Verfassungsgebot der öffentlichen Rechenschaftslegung durch das 6. Gesetz zur Änderung des Parteiengesetzes11 eine noch weitgehendere Spezifizierung gefunden. So wurde u. a.12 festgeschrieben, dass der Ausweis der Spenden nach solchen natürlicher und solchen juristischer Personen getrennt erfolgen muss. Die Pflicht, sog. Großspenden mit Namen und Anschrift des Spenders zu veröffentlichen, wurde wieder für Spenden über 20.000 DM festgeschrieben.13 Das 8. Gesetz zur Änderung des PartG vom 28. Juni 200214 hat das Parteiengesetz erneut in seinem Finanzierungsteil erheblich geändert. Anlass der Änderung war das verfassungsrechtliche Transparenzgebot. Die Spendenaffäre der CDU brachte erhebliche Transparenzlücken des Parteiengesetzes zutage, die man mit der Novellierung des Gesetzes zu schließen hoffte.15 Bei den Neuregelungen der Rechnungslegung ist insbesondere festzuhalten, dass die Rechnungslegung über das Vermögen einer Partei wesentlich differenzierter zu erfolgen hat. Unternehmensbeteiligungen sind nunmehr ausdrücklich zum Nominalwert auszuweisen.16 Das Grund- und Hausvermögen muss alle fünf Jahre neu bewertet werden17 und BVerfGE 24, 300 (356). 35. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1983 – BGBl. I; S. 1481. 10 Vom 9. April 1992, BVerfGE 85, 264 ff. 11 Gesetz vom 28. Januar 1994, BGBl. l I, 142. 12 Vgl. zu den Einzelheiten der Änderungen auch BT-Drs. 13 / 4503, S. 8 f. und S. 52 f. 13 Vom 1. Januar 1989 bis 9. April 1992 galt der Betrag von 40.000 DM. 14 BGBl. I, 2268. 15 Siehe dazu auch Hans Herbert von Arnim, Die neue Parteienfinanzierung, DVBl. 2002, 1065 ff.; Thilo Streit, Licht und Schatten des neuen Parteiengesetzes, MIP 2003, S. 68 ff. 16 Vgl. § 24 Abs. 7 Nr. 2 PartG. 17 Vgl. § 24 Abs. 7 Nr. 4 PartG. 8 9

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die Medienbeteiligungen der Parteien sind aufzuschlüsseln.18 Die sog. „sonstigen Einnahmen“ sind nunmehr ab einer bestimmten Höhe einzeln auszuweisen, was insbesondere auch für Erbschaften und Vermächtnisse gilt.19 Wichtige Neuregelungen gibt es auch im Bereich des Spendenwesens. Bar-Spenden über 1.000 A sind unzulässig20, zusätzlich zu den schon bestehenden Spendenverboten wurden Spenden von Unternehmen, die sich zu mehr als 25% in öffentlicher Hand befinden, untersagt.21 Der Tatbestand der verbotenen Bestechungs- bzw. Einfluss-Spenden wurde um die Dankeschön-Spende erweitert.22 Verboten ist auch die Annahme von Spenden, die gegen eine sog. „Drückergebühr“ von über 25% der Spende eingeworben wurde.23 Groß-Spenden von über 50.000 A sind dem Präsidenten des Bundestages zu melden. Dieser veröffentlicht die Spenden zeitnah in den BundestagsDrucksachen.24 Weiterhin wurde eine Regelung eingefügt, nach der Spenden von den Empfängern unverzüglich an ein für die Finanzangelegenheiten zuständiges Vorstandsmitglied weiterzuleiten sind. Die Partei gilt dann als Empfängerin, wenn sie von dem zuständigen Organ vereinnahmt wurde.25 Im neuen Gesetz wurde ein grundlegender Systemwechsel vollzogen; vom Anspruchsverlust zum Sanktionensystem: Nach dem neu eingefügten § 31b PartG werden sämtliche Unrichtigkeiten im Rechenschaftsbericht – also nicht nur bei Spenden – künftig mit einer Sanktion i.H. des Doppelten des Berichtsmangels belegt. Eine Ausnahme besteht nur bei Fehlern im Bereich der Vermögensbilanz. Hier wird eine Strafe von 10% der Summe, auf die der Berichtsmangel sich bezieht, fällig. Neu ist auch die Strafvorschrift des § 31 d PartG. Danach macht sich strafbar, wer vorsätzlich falsche Angaben im Rechenschaftsbericht bewirkt, Spenden stückelt oder seiner Weiterleitungspflicht an die zuständigen Vorstandsmitglieder nicht genügt. Dies zeigt die stetigen Bemühungen des Gesetzgebers – wenn auch oftmals nur auf Betreiben des Bundesverfassungsgerichts –, dem verfassungsrechtlichen Transparenzgebot gerecht zu werden. Das Bundesverfassungsgericht hat schon früh erkannt, – ich zitiere – „die parlamentarische Demokratie basiert auf dem Vertrauen des Volkes; Vertrauen ohne Transparenz, die erlaubt zu verfolgen, was politisch geschieht, ist nicht mögVgl. § 24 Abs. 7 Nr. 3 PartG. Vgl. § 27 Abs. 2 PartG; s. dazu auch Bundespräsidialamt (Hrsg.), Bericht der Kommission unabhängiger Sachverständiger zur Frage der Parteienfinanzierung, 2001, S. 71. 20 Vgl. § 25 Abs. i. S. 2 PartG. 21 Vgl. § 25 Abs. 2 Nr. 5 PartG. 22 Vgl. § 25 Abs. 2 Nr. 7 PartG. 23 Vgl. § 25 Abs. 2 Nr. 8 PartG. 24 Vgl. § 25 Abs. 3 PartG. 25 Vgl. § 25 Abs. S. 2, 3 PartG. 18 19

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lich“.26 Ein hoher Grad der erreichten Transparenz geht einher mit der Akzeptanz in der Bevölkerung. Transparenz ist mithin ein wesentlicher Schritt, um der in der Öffentlichkeit viel diskutierten Politik- und Parteienverdrossenheit entgegenzutreten.

2. Finanzierungsregelungen im Parteiengesetz Nachdem nun dargelegt wurde, dass die Transparenz der Finanzierung der politischen Parteien Verfassungsrang hat und das Bundesverfassungsgericht mit diversen Urteilen die Publikation erzwang, sollte man davon ausgehen können, dass der Gesetzgeber im Laufe der Jahre eine für jeden Bürger verständliche, nachvollziehbare und umgehungssichere Art der Finanzierung der politischen Parteien normiert hat. Ich möchte jetzt hier nicht den Test machen, ob dies gelungen ist. Rein vorsorglich stelle ich in einem Exkurs die Grundzüge der Parteienfinanzierung in aller Kürze vor. Nach dem Parteiengesetz 27 erhalten die Parteien staatliche Mittel als Teilfinanzierung der allgemein ihnen nach dem Grundgesetz obliegenden und im Parteiengesetz konkretisierten Tätigkeiten. Maßstab für die Verteilung dieser Mittel ist die Verwurzelung der Parteien in der Gesellschaft. Diese Verwurzelung wird gemessen zum einen am Erfolg, den eine Partei bei der jeweils letzten Europa- und Bundestagswahl und den jeweils letzten Landtagswahlen erzielt hat, zum anderen am Umfang der Zuwendungen von natürlichen Personen. Zuwendungen in diesem Sinne sind eingezahlte Mitglieds- oder Mandatsträgerbeiträge und rechtmäßig erlangte Spenden28. Die politischen Parteien werden mithin zum Teil staatlich finanziert. Wegen des aus der Verfassung abgeleiteten Verbots einer überwiegenden staatlichen Parteienfinanzierung darf gem. § 18 Abs. 5 S. 1 PartG die staatliche Finanzierung bei den einzelnen Parteien die Summe ihrer jährlich selbst erwirtschafteten Einnahmen nicht überschreiten (relative Obergrenze). Damit ist klar, dass die politischen Parteien bis maximal zu 50% vom Staat finanziert werden dürfen. Die übrigen 50% müssen sie selbst erwirtschaften. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Einnahmen stammt aus Großspenden aus der Wirtschaft. Hinzu kommen die Mitgliedsbeiträge. In jüngster Zeit versuchen die Parteien auch Einnahmen aus sog. Sponsorenverträgen zu erzielen. Ganz aktuell ist der Fall des Zukunftskongresses der CDU, der starke Medienresonanz erfahren hat.29 Zum Sachverhalt ist Folgendes zu sagen: Die NRW-CDU verleiht am 19. November 2004 erstmals den Zukunfts- und Inno26 27 28 29

BVerfGE 296, (327). § 18 Abs. 1 PartG. § 18 Abs. 3 Nr. 3 PartG. Der Spiegel Nr. 43 / 18. 10. 2004, S. 19; Weltkompakt vom 18. 10. 04.

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vationspreis im ehemaligen Bundestag in Bonn. Diese Preisverleihung findet im Rahmen des Zukunftskongresses 2004 „Benchmark NRW“ statt. Geschäftsleuten wurden bis zu 14.000 A teure „Sponsoren-Pakete“ für diesen Zukunftskongress verkauft. Dafür erhalten die Firmen eine Ausstellungsfläche, ein Gespräch mit dem Spitzenkandidaten der CDU sowie einen sog. „Top-VIP-Tisch“ sowie eine sog. „Roadshow“, bei der sich der Spitzenkandidat der CDU für die Landtagswahl NRW medienwirksam zu den Sponsorenständen begibt. Aus parteienrechtlicher Sicht ist dies nicht ganz unproblematisch. Die Aufwendungen der Sponsoren sind als Betriebsausgaben steuerlich absetzbar. Hätten die Firmen das Geld an die Parteien gespendet, was grundsätzlich zulässig ist, wäre dies nicht steuerlich absetzbar gewesen. Die Parteien verbuchen die Einnahmen unter der Rubrik „Einnahmen aus Veranstaltungen“ im Rechenschaftsbericht. D. h. die Einnahmen werden grundsätzlich verbucht, jedoch erfolgt keine Zuordnung zu Firmen oder Personen. Unter dem oben breit ausgeführten Grundsatz der Transparenz ist dies überaus problematisch. Die maximale Summe, die aus dem staatlichen Haushalt an die Parteien fließen dürfen, ist z. Zt. auf 133 Mio. EUR festgesetzt.30 Die festgesetzte absolute Obergrenze wird regelmäßig nicht nur erreicht, sondern auch überschritten, so dass es zu einer proportionalen Kürzung der jeweiligen staatlichen Mittel aller anspruchsberechtigten Parteien kommt.31 Dies zeigt deutlich, dass die politischen Parteien in erheblichem Umfang aus staatlichen Mitteln finanziert werden. Da dies nur 50% der Gelder der Parteien ausmacht, wie eben erwähnt, handelt es sich also insgesamt bei den politischen Parteien, die an der staatlichen Finanzierung partizipieren, um ein Finanzvolumen von mindestens 266 Mio. Euro.

3. Schlussfolgerung Genügen die Parteienfinanzierungsregelungen und die Rechenschaftsberichte der politischen Parteien nun den Anforderungen des Transparenzgedankens? Bei der Beantwortung dieser Frage muss man zwischen den parteienwissenschaftlich kundigen Bürgern und dem Normalbürger unterscheiden. Die Rechenschaftsberichte der politischen Parteien sind für erstere sicherlich aufschlussreich. Für den „Normalbürger“ sicherlich nicht. Mag es auch im Einzelnen unbequem sein, es ist erforderlich, auch dem „Normalbürger“ offensiv klar zu machen, dass demokratische Beratung und Entscheidung Geld kostet. Es ist nachvollziehbar darzustellen, woher dieses Geld kommt und in welcher Höhe und für welche näheren Aufgaben und Zwecke es verwendet wird.

30 31

§ 18 Abs. 2 PartG. § 19 a Abs. 5 S. 2 PartG.

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Die Veröffentlichung eines Rechenschaftsberichtes in den Bundestagsdrucksachen ist dafür durchaus hilfreich. Die Parteien sollten aber im eigenen Interesse offen mit dem Problem umgehen. In Anlehnung an die Parteienfinanzierungskommission, die einen Politikfinanzierungsbericht fordert32, könnte jede Partei jährlich in einer öffentlichen Veranstaltung einen Finanzierungsbericht geben mit einer sich anschließenden Diskussion über den Bericht (ähnlich einer Aktionärsversammlung). Dieser auf das Informationsbedürfnis der Bürger zugeschnittene Bericht könnte dann auch den Internetauftritt der Parteien ergänzen. Durch einen derartigen Bericht könnten die Parteien offensiv der Kritik entgegentreten, dass ihnen reichlich und ungerechtfertigt Finanzmittel oder geldwerte Vorteile zukämen. Ein offensives Auftreten der Parteien bezüglich ihrer Finanzen ist erforderlich, um neues Vertrauen in der Bevölkerung zu gewinnen. Mehr Information von Seiten der Parteien kann jedenfalls nicht schädlich sein.

IV. Resümee Die Finanzierung politischer Parteien ist also, wie gezeigt, insgesamt ein problematisches Unterfangen – für den den Aktualitäten regelmäßig hinterherhinkenden Gesetzgeber ebenso wie für die auf die Einwerbung erheblicher privater Finanzmittel angewiesenen Parteien. Für die großen politischen Parteien stellt sich dieses Problem vor allem in Hinblick auf den doch sehr erheblichen Finanzbedarf zur Deckung der laufenden Kosten ihres sehr ausgeweiteten Verwaltungsapparates. Eine Problemlage, die sich nicht ohne weiteres auf die gesamte Parteienlandschaft übertragen läßt. Die meisten der existierenden Parteien sind nicht in gleicher oder auch nur ähnlicher Weise bürokratisiert. Ihre Probleme resultieren vielmehr aus ihrer – noch – geringen Resonanz und Akzeptanz in der Bevölkerung. Anspruch auf staatliche Teilfinanzierung haben nach § 18 Abs. 4 PartG nur diejenigen Parteien, die nach dem endgültigen Wahlergebnis der letzten Europa- oder Bundestagswahl mindestens 0,5% oder bei einer der jeweils letzten Landtagswahlen 1 % der jeweils abgegebenen gültigen Stimmen für ihre Listen erreicht haben. Ist eine Liste für die Partei nicht zugelassen, entsteht nach § 18 Abs. 4 PartG ein Anspruch, wenn die Partei 10 % der in einem Wahl- oder Stimmkreis abgegebenen gültigen Erststimmen erreicht hat. Weitere Anspruchsvoraussetzung ist die Vorlage eines den Gesetzesvorschriften entsprechenden Rechenschaftsberichts, d. h. nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juni 200433 auch materiell richtigen Rechenschaftsberichts (§ 19 a Abs. 1 und 3 PartG). Nach Art. 3 des 8. Gesetzes zur Änderung des PartG, der erst am 01. 01. 2005 in Kraft treten – seit dem 26. Oktober 2004 muss man sagen – sollte, wird für den BT.-Drucks. 15 / 3140, S. 27. Beschluss vom 17. Juni 2004 – 2 BvR 383 / 03; siehe hierzu auch die Besprechung von Joachim Wieland, Schwarze Kassen, NJW 2005, 110 ff. 32 33

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Anspruch auf den sog. Zuwendungsanteil das Stimmenquorum auf Länderebene auf 5 % heraufgesetzt, es sei denn, die Partei hat in drei der jeweils letzten Landtagswahlen 1 % erreicht (Drei-Länder-Quorum). Diese Regelung ist nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgericht mit dem Grundgesetz nicht vereinbar34. Sie führt zu einer ungleichen Zuteilung der staatlichen Mittel an die Parteien. Parteien, die nur geringe Stimmanteile bei Landtagswahlen erzielen, wären gegenüber erfolgreicheren Konkurrentinnen, die das „Drei-Länder-Quorum“ erreichen finanziell erheblich schlechter gestellt. Diese Verletzung der Chancengleichheit im politischen Wettbewerb (Art. 21 Abs. 1 in Verbindung mit Art 3 Abs. 1 GG) lässt sich verfassungsrechtlich nicht rechtfertigen. Das Recht der Parteienfinanzierung darf das Entstehen neuer Parteien und deren Zutritt zum politischen Wettbewerb nicht über Gebühr erschweren und die Betätigung kleiner Parteien nicht unangemessen beeinträchtigen. Dies würde durch die angegriffene Regelung jedoch gerade geschehen. Neben der Hürde von 0,5 % bzw. 1 % muss auch ein materiell richtiger Rechenschaftsbericht vorgelegt werden. Dies gelang im Jahre 2002 lediglich 16 politischen Parteien. Zum Vergleich: 96 Parteien haben gemäß § 6 Abs. 3 PartG Unterlagen beim Bundeswahlleiter hinterlegt. Zwei dieser genannten 16 Parteien wurde im Jahre 2002 der Betrag der staatlichen Finanzierung wegen der zu geringen Zahl der selbst erwirtschafteten Einnahmen (relative Obergrenze) auch noch erheblich gekürzt. Dies zeigt, dass außerparlamentarische Parteien nur in sehr geringem Umfang von der staatlichen Parteienfinanzierung profitieren. Kommunale Wählervereinigungen nehmen wegen des fehlenden Parteiencharakters nicht teil. Diesen Parteien fällt es auch sehr schwer, Finanzgeber zu finden. Der neueste von den parlamentarisch vertretenen Parteien eingeschlagene Weg, Gelder aus der Wirtschaft zu erlangen, das sog. Parteiensponsoring, ist den „kleinen Parteien“ wegen fehlender öffentlicher Attraktivität ebenfalls verwehrt. Das sich an dieser Stelle aufdrängende Fazit müßte nun wohl eigentlich lauten: Wo man auch hinsieht . . . Probleme, Probleme, Probleme! Die Gesetzgebung scheint stellenweise gleichermaßen überfordert, wie die Bürger sich nicht gut aufgehoben und übervorteilt fühlen, die großen Parteien verkannt in ihrem Bemühen, es den Wählern recht zu machen und die kleinen Parteien, in ihrem Bemühen, die großen hierbei auszustechen. Dennoch: ganz so einfach und klar ist es dann doch nicht. Gerade die Finanzierungsskandale der letzten Jahre und die im Zusammenhang mit der Neuregelung des Parteienrechts geführte Diskussion zeigen, dass die Öffentlichkeit sich eben doch und sogar in besonderem Maße für das Wirken der politischen Parteien interessiert und in der Lage ist, ihre Kontrollfunktion relativ 34 Urteil des 2. Senats vom 26. Oktober 2004 Az.: 2 BvE 1 / 02; 2 BvE 2 / 02, NVwZ 2004, 1473; siehe auch die Besprechung von Martin Morlok, Das BVerfG als Hüter des Parteienwettbewerbs, NVwZ 2005, 157.

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zuverlässig auszuüben. Sicher kann noch einiges getan werden, um die Wahrnehmung dieser Kontrollfunktion zu erleichtern und die Transparenz zu erhöhen. Hierbei darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass vornehmlich die politischen Parteien selbst dazu aufgerufen sind, ihre Akzeptanz und Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Gesetzliche Regelungen sind hierzu nur bedingt in der Lage. Regelmäßig eilen sie der Entwicklung lediglich hinterher, wie in letzter Zeit das Beispiel Sponsoring aufzeigt. Der Parteienverdrossenheit durch gesetzliches Diktat zu begegnen wäre ein törichtes Bestreben. Allein der Appell an die Parteien, sich ihrer Verantwortung vor allem gegenüber ihrem Wahlvolk wieder bewußt zu werden, mag dem ein oder anderen nicht genügen, ist in meinen Augen aber der erfolgversprechendste Weg.

Das Hambacher Fest von 1832: Ein Symbol für Einheit und Freiheit Von Hans Herbert von Arnim Dinner Speech auf dem Hambacher Schloss Im historischen Museum der Pfalz in Speyer hängt eine berühmte Darstellung des Hambacher Festes. Diese zeitgenössische Lithographie eines unbekannten Künstlers zeigt den Aufmarsch des endlosen Zuges hinauf zum Hambacher Schloss am 27. Mai 1832. Zwischen all’ den vielen Menschen, die wie Ameisen in geschlossenen Reihen marschieren, taucht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte an mehreren Stellen die neue Trikolore auf: schwarz, rot, gold, die Farben einer neuen Zeit. Ebenfalls im Speyerer Museum hängt eine Original-Fahne von diesem historischen Tag. Die Veranstaltung war als „Fest“ getarnt. Eigentlich war sie eine Demonstration für Freiheit, für die deutsche Einheit und auch schon für Europa. (Das Hambacher Schloss haben wir also mit Bedacht als Ort für die geselligen Abende unserer Demokratietagungen gewählt.) Das Hambacher Fest war ein Aufstand, zumindest der Gedanken, im Gewand des Volksfestes, ein Anklopfen an die Revolution. Dass es letztlich nicht dazu kam, hatte aber auch sein Gutes. Am Beispiel der Französischen Revolution hatte man ja gesehen, wie Revolutionen entarten und in Massaker und Blutbad abgleiten können. Zwei Männer gehörten zu den Motoren dieser Veranstaltung, die Wahlpfälzer Dr. Philipp Jakob Siebenpfeiffer, geboren am 12. November 1789, und Dr. Johann Georg August Wirth, geboren am 20. November 1798. Sie standen unbeirrt zu ihren Überzeugungen, Ideen, von denen sie wussten, dass ihnen die Zukunft gehören würde, wenn diese sich auch erst 87 Jahre später durchsetzten. Zunächst einiges zum Hintergrund des Hambacher Festes. Die Rheinpfalz war 1797 in Folge der napoleonischen Kriege zu Frankreich geschlagen worden. 1816 wurde sie ein Teil Bayerns, behielt aber die revolutionären Errungenschaften bei, besonders die durch den Code Napoleon garantierte Gleichheit vor dem Gesetz, die Gewerbefreiheit und ein erhebliches Maß an Pressefreiheit. Das prädestinierte die Rheinpfalz als „Aufmarschgebiet“ für freiheitliche Gedanken. Die sozial-wirtschaftliche Lage war äußerst angespannt, wofür die Obrigkeit verantwortlich gemacht wurde. Damit sich eine Bevölkerung gegen ihre Regierung erhebt (oder auch nur die Erhebung probt), müssen ganz bestimmte Voraussetzungen gegeben

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sein, und die kann man beim Hambacher Fest, wenn man die Hintergründe ausleuchtet, klar erkennen: Aus Frankreich war ein hohes Steuerniveau überkommen. Auf diese Weise flossen Millionen Gulden aus der Rheinpfalz ab. Dass dies gegen die bayerische Verfassung von 1819 verstieß, die gleiche Besteuerung für alle Bürger Bayerns dekretierte, schuf keine Abhilfe, aber um so größere Erbitterung in der Pfalz. Es kam immer wieder zu fürchterlichen Überschwemmungen des Rheins, die die Ernte vernichteten. Daran war obrigkeitlicher Schlendrian schuld. Die Regierung hatte versäumt, entsprechende Vorkehrungen gegen Hochwasser zu treffen. Auch hier fühlte sich die Pfalz vernachlässigt. Die Folge war eine Verarmung der ganzen Pfalz bei gleichzeitig steigenden Preisen für Brot und andere Grundnahrungsmittel. Diese Situation zwang die Bevölkerung geradezu in die Gesetzlosigkeit. In einem einzigen Jahr wurden 100.000 Fälle von Wald- und Holzfrevel gezählt, die rücksichtslos verfolgt und bestraft wurden. Ein Fünftel der Bevölkerung wurde so kriminalisiert – und das nur deshalb, weil sie nicht genügend Brennholz hatte. Die üppigen Wälder der Pfalz waren in der Hand des Staates oder der Gemeinden, die das Holz zu Höchstpreisen versteigerten. Die arme Bevölkerung konnte da nicht mithalten und war stattdessen auf das verbotene Holzsammeln angewiesen. Hinzu kamen hohe Zollmauern, die Winzer, Bauern und Kaufleute von ihren Absatzgebieten abschnitten („Mautschlinge“) und nur durch systematischen Schmuggel zu überwinden waren. Der Kampf mit den Zollbeamten forderte zahlreiche Opfer. Die Not und Erbitterung der Bevölkerung trugen dazu bei, dass dem Hambacher Zug nicht nur Studenten folgten, wie etwa beim Wartburg-Fest von 1815, und idealistische Intellektuelle, die bereit waren, für ihre Visionen alles zu riskieren. Die Masse der Teilnehmer waren ganz „normale“ Menschen: Handwerker, Kaufleute, Weinbauern, kurz alle Volksgruppen. Das war das Neue am Hambacher Fest. Es war praktisch eine Volksbewegung. Die Situation wurde auch durch die politische Lage angeheizt: Die Pfalz war im bayerischen Parlament weit unterrepräsentiert, sowohl in der Ersten als auch in der Zweiten Kammer. Zudem hatten rund um Deutschland Aufstände stattgefunden: im Juli 1830 in Frankreich, im September 1830 in Brüssel und im November 1830 in Warschau. Das machte die Monarchen nervös und ließ Liberale auch in Deutschland Morgenluft wittern. Vor diesem Hintergrund kommen Siebenpfeiffer und Wirth und ihre zahlreichen Gesinnungsgenossen ins Spiel. Beide waren politische Schriftsteller und Journalisten. Beide gaben Zeitungen heraus. Sie strebten Freiheit und Einheit der Deutschen an. Um diese durchzusetzen gab es – ohne Revolution – nur ein Mittel: die Einwirkung auf die öffentliche Meinung über die Presse und über politische Versammlungen in Gestalt von Volksfesten wie eben dem Hambacher Fest. Die Schlüsselbe-

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deutung der Pressefreiheit für politische Reformer kam auch in dem Namen des Vereins zum Ausdruck, den Siebenpfeiffer und Wirth gegründet hatten: „Verein für Vaterland und Pressefreiheit“. Dieser „Preßverein“ organisierte später auch das Hambacher Fest. Die Lage spitzte sich zu, als Anfang 1832 die Zeitungen von Siebenpfeiffer und Wirth wegen aggressiver Beiträge verboten wurden. Sie selbst wurden mit einem fünfjährigen Berufsverbot belegt. Es brodelte also bereits im Kessel. Konkret wurde es dann mit einem Aufruf Siebenpfeiffers, in dem dieser zum Hambacher Fest einlud. Die Veranstaltung gewann zusätzliche Aufmerksamkeit, weil sie zunächst von der Obrigkeit verboten wurde. Als das Verbot nach öffentlichem Druck wieder aufgehoben wurde, machte dies den Veranstaltern natürlich erst recht Mut. Das Hambacher Fest war ursprünglich als Huldigungsfest an den bayerischen König gedacht und sollte am 26. Mai 1832, dem Jahrestag der bayerischen Verfassung von 1819, stattfinden. Doch dann wurde es umfunktioniert und demonstrativ auf den 27. Mai verlegt. Der Aufruf erging an alle deutsche Schichten, auch an „die deutschen Frauen und Jungfrauen“, die „aus ihrer Knechtschaft befreit“ werden sollten. Es wurde ein riesige Veranstaltung. Rund 30.000 Menschen kamen. (Zum Vergleich: Neustadt a.d. Weinstraße hatte damals 6.000 Einwohner.) Man sammelte sich auf dem Marktplatz in Neustadt. Von dort zog man drei Stunden lang zum Hambacher Schloss, vorneweg die schwarz-rot-goldene Fahne, die oben angekommen, auf der höchsten Zinne des Schlosses gehisst wurde. Es gab üppig zu essen und zu trinken. 25 politische Reden wurden gehalten. Darin wurde sogar schon ein einheitliches Europa beschworen. Siebenpfeiffer und Wirth gehörten zu den Hauptrednern. Hier oben auf dem Schloss war man noch hohen Mutes. Kennt man dagegen das Ende und bilanziert, muss man resignierend feststellen (wie es der Historiker Winfried Dotzhauer getan hat): Wenige Stunden der Begeisterung, des Glaubens an bürgerliche Freiheit und ein einiges Deutschland haben „im traurigen Endergebnis zu einer ganzen ,Serie zerstörter Leben‘ geführt . . . , dazu gehörten auch die von Siebenpfeiffer und Wirth“. Am nächsten Tag versuchte Siebenpfeiffer zwar noch im Schießhaus von Neustadt dem Protest eine gewisse Organisation zu geben, um die Wucht der Zusammenkunft über den Tag hinaus zu retten, aber vergeblich. Die Reaktion schlug erbarmungslos zurück. Siebenpfeiffer, Wirth und viele andere wurden verhaftet und über ein Jahr in Untersuchungshaft gehalten, bis ihnen der Prozess gemacht wurde. Dies musste allerdings vor einem Schwurgericht geschehen, auch einer Errungenschaft der Französischen Revolution. Um die Bevölkerung (einschließlich der Geschworenen) einzuschüchtern, wurde der Prozess in die Feste Landau verlegt. Es kamen dennoch Hunderte von Zuschauern, so dass die Veranstaltung in den Saal eines Gasthofs gelegt werden musste.

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Die Angeklagten hatten sich sorgfältig präpariert und hielten programmatische Reden. Nicht zu Unrecht sprach man von einem „Zweiten Hambacher Fest“. Siebenpfeiffer redete allein 9 Stunden. Am Ende sprachen die Geschworenen beide, Siebenpfeiffer und Wirth, von der Anklage des Hochverrats frei. Doch die monarchische Obrigkeit wollte dies nicht auf sich beruhen lassen. Sie ließ beide wegen vorgeschobener Taten wie Beamtenbeleidigung vor einem staatlichen „Polizeizuchtgericht“ anklagen und zur Höchststrafe von zwei Jahren Haft verurteilen. Den Grundsatz, dass man nicht zweimal für dieselbe Handlung angeklagt werden darf („Ne bis in idem“), der vor staatlicher Willkür schützen soll, gab es damals noch nicht. Siebenpfeiffer entging der Strafe durch Flucht in die Schweiz. Er wurde später zwar Honorarprofessor in Bern, hatte gleichwohl ein trauriges Schicksal. Er wurde geisteskrank und starb früh. Wirth verwarf jeden Gedanken an Flucht und saß die vollen zwei Jahre ab. Aber auch er emigrierte nach der Haftverbüßung, und zwar nach Frankreich, um der ständigen Überwachung und Bespitzelung durch die Polizei zu entgehen. Was nehmen wir aus der Geschichte des Hambacher Fests mit? Ich möchte vier Punkte nennen: 1. Wir können an diesem historischen Ort, dem Hambacher Schloss, wie ich meine, stolz sein, dass es Pfälzer waren, die vor 173 Jahren Freiheit, Menschenrechte und den europäischen Gedanken hochhielten – und damit der Masse ihrer Mitbürger weit voraus waren. Die deutsche Geschichtsschreibung dieser Zeit stand allerdings ganz im Zeichen des Gegensatzes von Preußen und Österreich. Die Pfalz und das Hambacher Fest sind dadurch häufig förmlich erdrückt und vernachlässigt worden. Dies gilt es heute zurechtzurücken. 2. Wir können auch stolz sein auf die Männer, die um ihrer fortschrittlichen Überzeugung willen alles riskierten. Das große Pathos des deutschen Idealismus wurde hier nicht nur deklamiert wie in Schillers Balladen, sondern gelebt – mit allen existenziellen Risiken für Beruf, für Freiheit und für Leben. Diese Menschen waren Helden der Demokratie und der Freiheit. Sie praktizierten eine große Tugend, die Aristoteles „Tapferkeit“ heißt und die wir heute vielleicht „Zivilcourage“, gepaart mit „Konfliktbereitschaft“, nennen würden. 3. Die Geschichte des Hambacher Festes führt uns zugleich den Wert der Pressefreiheit, der Meinungsfreiheit und der Versammlungsfreiheit vor Augen. Freiheiten, die man über längere Zeit ziemlich unangefochten genießt, werden rasch zu Selbstverständlichkeiten. Ihren wahren Wert erkennt man erst, wenn sie eingeschränkt oder einem ganz genommen werden. Auch in dieser Hinsicht sollte die Erinnerung an Hambach bewahrt bleiben. 4. Alles das symbolisiert das Hambacher Fest. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die schwarz-rot-goldene Fahne mit unseren heutigen Bundesfarben einen ganz besonderen Glanz.

Das Hambacher Fest von 1832: Ein Symbol für Einheit und Freiheit

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Zum Schluss stellt sich – dazu fordert der genius loci geradezu heraus – die Frage, ob die Zeit nicht wieder reif wäre, für ein Hambacher Fest. Auch heute herrscht Unzufriedenheit. Arnulf Baring schrieb vor einiger Zeit in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Beitrag mit dem auffordernden Titel „Auf die Barrikaden!“ Allerdings geht es uns, zum Glück, nicht so schlecht wie seinerzeit den Pfälzern. Auch sind die Fronten keineswegs so klar wie damals. Das Grundgesetz verheißt bereits Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die es damals erst noch zu erstreiten galt. Wie aber ist es mit der Herrschaft durch und für das Volk in Wahrheit bestellt? Damit sind wir wieder beim Thema unserer Tagung, und diese ist ja noch nicht zu Ende.

Aufbau Ost – eine Sackgasse? Von Rüdiger Pohl Fünfzehn Jahre nach dem Fall der Mauer herrscht Ratlosigkeit, wie es mit Ostdeutschland wirtschaftlich weitergehen wird. Der Aufbau Ost wirkt kraftlos. Die Arbeitslosigkeit bleibt hoch. Die Abhängigkeit von westdeutschen Transferzahlungen hält an. Das Experiment Aufbau Ost als gescheitert einstellen? Das ist keine ernst zu nehmende Option. Mit einer neuen Konzeption die ostdeutsche Wirtschaft endlich in Schwung bringen? Aber wie? Kann man im Ernst glauben, dass wirksame Ansätze zur Wirtschaftsförderung bisher ignoriert wurden? Und reicht das von der Bundesregierung jüngst vorgetragene „Erneuerte Gesamtkonzept für den Aufbau Ost“ wirklich aus? Alles offene Fragen. Nach fünfzehn Jahren scheint die Politik über die weitere Gestaltung des Aufbaus Ost unsicherer als je zuvor, und mancher Bürger im Osten wirkt entmutigt. Die wirtschaftlichen Probleme Ostdeutschlands tragen nicht zur inneren Einheit Deutschlands bei. Der Chefredakteur eines westdeutschen Wirtschaftsmagazins meinte jüngst, dass dem Osten ohnehin nicht geholfen werden könne; jeder Euro, der dorthin fließe, sei ein Euro zuviel1. Die Leserin einer ostdeutschen Regionalzeitung klagt, die Ostdeutschen hätten nie eine Chance gehabt; man habe alles sinnlos platt gemacht und die Ostdeutschen zu Menschen zweiter Klasse abgestempelt.2 Missklänge aus dem Sommer 2004 – fünfzehn Jahre nach dem Fall der Mauer! Ursache für den Konflikt zwischen Ost und West ist nicht die Lage in Ostdeutschland allein. Massiv schlägt der schlechte Zustand Westdeutschlands zu Buche. Eine Gesellschaft, der vieles gelingt, die kraftvoll die Herausforderungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels bewältigt, treibt eine große Aufgabe wie den Aufbau einer wirtschaftlich zurückhängenden Region mit Selbst1 „Wie können wir Deutschlands Osten auf die Beine helfen? Die Antwort ist so einfach wie grausam: überhaupt nicht. Jeder Euro, der an Hilfe in den Osten fließt, ist ein Euro zu viel. Mehr noch: Er schadet dem Standort Deutschland. . . . Sollen wir also allen Ernstes in Kauf nehmen, dass sich der Osten selbst entvölkert? Ich meine ja.“ Klaus Schweinsberg, Chefredakteur, Kommentar in impulse von August 2004. 2 „Gleiche Chancen haben und hatten wir nie. Man übernahm uns wie eine Bananenrepublik, alles wurde oft sinnlos platt gemacht und ausgeschlachtet und wir zu Menschen zweiter oder gar dritter Klasse abgestempelt. Deutschland besteht aus zwei Bevölkerungsgruppen, wobei die westliche der östlichen zu verstehen gibt, dass nur sie an dem derzeitigen Dilemma schuld ist.“ Hannelore Voigt, Wolfen, Leserbrief, Mitteldeutsche Zeitung vom 29. 9. 2004.

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bewusstsein voran. Doch Deutschland gelingt nicht mehr vieles, wirtschaftlich nicht – beim Wirtschaftswachstum sind wir international abgeschlagen3 – und gesellschaftlich auch nicht – der Umbau der sozialen Sicherungssysteme stockt. Wem nichts mehr gelingt, der will Last abschütteln. Die westdeutsche Gesellschaft sieht sich inzwischen mit so viel eigenen Problemen konfrontiert, dass sie des Aufbaus Ost überdrüssig geworden ist. Die Ostdeutschen spüren das und fühlen sich in die Defensive gedrängt. Deutschland ist mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert, deren eine Komponente der wirtschaftliche Leistungsrückstand Ostdeutschlands gegenüber dem Westen ist. Dies belastet das ganze Land mit hohen sozialen Kosten. Die gewichtigere Komponente indes bilden Faktoren, die mit Wiedervereinigung und Aufbau Ost nichts zu tun haben: Rahmenbedingungen, die im internationalen Wettbewerb der Produktionsstandorte nicht mehr geeignet sind, Investieren und Produzieren in Deutschland genügend attraktiv zu halten. Der Streit um die Tranfers führt in die Irre Nachdem sich die westdeutsche Gesellschaft über Jahrzehnte im Erfolg sonnte („Wirtschaftswunder“), höchstes internationales Ansehen genoss („made in Germany“) und sich den Ausbau des Sozialstaates leisten konnte („innere Reformen“), muss sie es als einen Schock empfinden, dass die Säulen des wirtschaftlichen und sozialen Erfolges nicht mehr tragen. Standortverlagerungen von Unternehmen ins Ausland, gravierende Finanzierungsprobleme der sozialen Sicherung sind Symptome der Krise. Man stellt die Schuldfrage – und kommt dabei auf die Wiedervereinigung: Der erfolglose Osten zieht den zum Zahlen verpflichteten Westen herunter. Man müsse nur das Ostproblem lösen und notfalls abschütteln, dann gehe es im Westen Deutschlands aufwärts. Das ist eine Selbsttäuschung. Die Krise des Wirtschafts- und Sozialsystems hat viele andere Ursachen. Mit hohen Arbeitskosten und Steuerbelastungen gerät Deutschland gegenüber Standorten in Osteuropa ins Hintertreffen. Überbürokratisierung der Wirtschaft und Fehlreglementierung des Arbeitsmarktes lähmen unternehmerische Flexibilität. Hohe Energiepreise als Folge der ökologisch geprägten Energiepolitik kosten Wettbewerbsfähigkeit. Mängel in der Bildungspolitik schaffen Wachstumsprobleme. Forschung und Innovationen auf neuen Feldern werden behindert, jüngst durch Aktivitäten der Bundesregierung gegen die grüne Gentechnologie. Geburtendefizit und Alterung der Bevölkerung bürden dem Land steigende Soziallasten auf. Das sind die Kernursachen der deutschen Krise, und sie sind unabhängig von Wiedervereinigung und Aufbau Ost. 3 So stieg das reale Bruttoinlandsprodukt von 1996 – 2005 in den USA um 3,5%, in Südamerika um 2,5%, in Afrika um 3,9%, in Indien um 5,9%, in Australien um 3,7 %, in Japan um 1,5%, im Europa der 15 um 2,2% – und in Deutschland nur um 1,3% (Daten, einschließlich Prognose 2005: IMF).

Aufbau Ost – eine Sackgasse?

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Belastungen aus dem Aufbau Ost kommen aber hinzu. Westdeutschland leistet Transferzahlungen zugunsten der neuen Länder (83 Milliarden Euro im Jahr 2003). Soweit die Mittel dem Aufbau des ostdeutschen Kapitalstocks dienen, erbringen sie eine volkswirtschaftliche Rendite. Soweit sie Sozialleistungen finanzieren (52 Milliarden Euro), die naturgemäß konsumtiv verausgabt werden, „versickern“ sie ohne nachhaltigen Wachstumseffekt. Das macht sie zum Streitfall (vgl. dazu Schaubild 1: „Transfers für die neuen Länder“).

Bruttotransferleistungen 2003, Mrd. 

2003 Mrd.  Bruttotransferleistungen (brutto: nur Bund, Sozialversicherung: netto)

Steuereinnahmen des Bundes in Ostdeutschland

60 116

33

40 30

Nettotransfers

52

50

83

20

24 15

14 10

10 Nettotransfers in % - des westdeutschen BIP - des ostdeutschen BIP Quelle: IWH

0 4 32

Quelle: Pohl/DHV/Speyer/29. 10. 04

Schaubild 1: Transfers für die neuen Länder

Und doch führt ein West-Ost-Verteilungskampf um Sozialtransfers in die Irre. Angenommen, ostdeutsche Arbeitslose und Rentner zögen nach Westdeutschland, dann sänken die Transferzahlungen von West nach Ost – aber die Soziallast in Deutschland würde um keinen Cent geringer, sondern eher höher, denn in Westdeutschland wären die Ansprüche höher. Das Problem ist nicht, wo die Empfänger von Sozialleistungen wohnen. Das Problem ist, dass die Nachfrage nach Sozialleistungen in Relation zum erwirtschafteten Einkommen in Deutschland insgesamt zu hoch geworden ist. Um die Soziallast tragbar zu machen, wird eine Politik benötigt, die zu wirtschaftlicher Dynamik führt, in ganz Deutschland. Wirtschaftliche Dynamik ist darüber hinaus Voraussetzung für das Abschmelzen des Länderfinanzausgleichs. Die finanzschwachen Länder erhielten 2002 von den finanzstarken Ländern 7,4 Milliarden Euro, darunter waren 3,2 Milliarden Euro für die neuen Länder. Das stößt auf Kritik. Die Empfängerländer würden demotiviert, heißt es, weil sie Finanzmittel ohne eigene Anstrengung erhalten, mehr noch: weil sie Kürzungen in Kauf nehmen müssen, wenn sie ihre eigene Steuerkraft verbes7*

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sern. Doch diese Demotivationsthese ist absurd. Landespolitiker haben jeden Anreiz zu guter Politik, weil das die Wirtschaft belebt, Arbeitsplätze schafft und Wahlchancen verbessert. Dennoch wird „Wettbewerbsföderalismus“ propagiert, in dem die Länder eigene Steuerhoheit haben und über die von ihnen erwirtschafteten Mittel selbst verfügen, was einen Finanzausgleich ausschließt. Für die ostdeutschen Länder indes wäre ein solcher Wettbewerbsföderalismus verhängnisvoll. Als leistungsschwache Länder würden sie unter dem Wettbewerbsdruck der leistungsstarken Länder zurückfallen. Die ostdeutschen Länder erzielten im Jahr 2002 bei den Ländersteuern je Einwohner nur 31,3 Prozent des gesamtdeutschen Durchschnitts. Bei Kappung von Finanzzuweisungen würden sie ihre öffentlichen Aufgaben – Schulen, öffentliche Sicherheit, Rechtspflege, Krankenversorgung – nicht mehr in angemessenem Umfang wahrnehmen können, selbst wenn überhöhte öffentliche Leistungen, die hier und da bestehen, gekürzt würden. Deutschland würde in Regionen zerfallen mit hervorragendem und mangelhaftem öffentlichen Leistungsangebot. Wer sich Deutschland nicht als losen Verbund weitgehend autonomer Bundesländer vorstellen mag, sondern als einen Bundesstaat mit einer gemeinsamen Identität, wird Wettbewerbsföderalismus daher nicht gut heißen. Die von Bundesrat und Bundestag eingerichtete Föderalismuskommission will den Finanzausgleich nicht in Frage stellen. Das ist eine gute Nachricht für Ostdeutschland. Aber die Dauerdosis von Transfers und Finanzausgleich hilft den neuen Ländern nicht wirklich weiter. Nur die Beschleunigung des Aufbaus Ost bringt sie einer selbsttragenden Entwicklung näher. Wie kann das erreicht werden? Die Wirtschaftsförderung ist fortzusetzen. Aber das reicht nicht. Erst wenn Deutschland als Ganzes wieder zu kraftvoller Dynamik zurückfindet, wird sich die wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland nachhaltig bessern. Die neuen Länder sind Regionen in einem wirtschaftlich erkrankten, nicht in einem kraftstrotzenden Deutschland. Viele der wirtschaftlichen Probleme, die Ostdeutschland hat, hat auch Westdeutschland: Arbeitslosigkeit (wenn auch nicht so stark wie im Osten), leere öffentliche Kassen, stagnierende Investitionen, abwandernde Unternehmen (dies mit größerer Brisanz als im Osten). Westdeutschland ist für ostdeutsche Unternehmen ein bedeutender Absatzmarkt; der Osten wird nicht rascher wachsen als bisher, wenn der Westen weiterhin stagniert. Die wirtschaftliche Zukunft der neuen Länder hängt von einer Reformpolitik ab, die Deutschland zu mehr Wachstum verhilft. Flankierend ist staatliche Förderung fortzusetzen. Eine grundlegende Neuausrichtung der Wirtschaftsförderung ist nicht erforderlich: In der Grundkonzeption, wenn auch nicht in jedem Detail, ist sie sachgerecht. Es war und bleibt richtig, die privaten Investitionen zu fördern (so lange es die EU zulässt), denn nur die Erweiterung des Kapitalstocks bringt mehr Beschäftigung. Die Infrastrukturlücke, die die Basis für den Solidarpakt II ist, gilt es wie vorgesehen abzubauen. Die ostdeutschen Länder erhalten wegen ihrer schwachen Steuereinnahmen weiter Finanz-

Aufbau Ost – eine Sackgasse?

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zuweisungen. Manche Förderidee, die in der Vergangenheit verworfen wurde, wird immer wieder neu in die Diskussion eingebracht, aber aus gutem Grund auch künftig nicht realisiert. Jeder Investor sollte willkommen sein Eine Sonderwirtschaftszone Ost, in der von bundeseinheitlichen Regulierungen massiv abgewichen werden kann, ist nicht zielführend. Regulierungen, die die wirtschaftliche Entwicklung hemmen, müssen im Sinne der gesamtdeutschen Wachstumsstrategie in ganz Deutschland abgeschafft werden. Steuerpräferenzen für Ostdeutschland würden Produktion von West nach Ost umlenken; dem Land als Ganzem bringt das nichts außer sinkenden Staatseinnahmen und teuren Mitnahmeeffekten. Nicht regionale Präferenzen sind nötig: Das Steuersystem insgesamt ist zu reformieren, damit es den Ansprüchen des Standortwettbewerbs genügt. Neuerdings wird für eine Wirtschaftsförderung mit Zielrichtung „regionale Cluster“ oder „regionale Wachstumskerne“ geworben; die Bundesregierung sieht hier „Ansatzpunkte für eine zielgenaue und wirksame Förderstrategie“. Regionales Cluster bedeutet, dass sich in einer Region Unternehmen einer bestimmten Branche in nennenswerter Zahl befinden, sie sich zu Netzwerken verbunden haben und innovativ sind. In den vergangenen fünfzehn Jahren haben sich in Ostdeutschland solche Wirtschaftsschwerpunkte herausgebildet. Das ist Folge der staatlichen Wirtschaftsförderung, die eben nicht flächendeckend, sondern regional und sektoral differenziert gewirkt hat. Wenn jetzt die Umstellung der Wirtschaftsförderung auf Cluster gefordert wird, dann ist das eine Umstellung auf etwas, was die Wirtschaftsförderung schon längst bewirkt. Anders sähe es aus, wenn der Clusteransatz zu einer selektierenden Förderstrategie führte. Bund und Länder definieren dann, welche Branchen in welchen Regionen ein förderwürdiges Cluster bilden, und nur diese würden künftig in den Genuss staatlicher Förderung kommen. Investoren, die nicht ins Clusterraster passen, würden abgewiesen. Das allerdings wäre eine echte Fehlentwicklung der Wirtschaftsförderung. Die Behörden wissen nicht, welche Cluster zukunftsfähig sind, und fördern selektiv leicht das Falsche. Regionen leben von strukturellem Wandel, nicht von der Festschreibung vorhandener Strukturen. Und jeder Investor, der mit einem tragfähigen Konzept kommt, sollte unabhängig von der Branche willkommen sein. Nach dem Clusterprinzip jedenfalls wäre die Ansiedlung von BMW in Leipzig, auf welche die Region so große Hoffnungen setzt, nicht förderwürdig gewesen, weil die Region für „Automotives“ nicht prädestiniert ist. Eine selektierende Clusterförderung wird besser nicht zum Programm ostdeutscher Wirtschaftsförderung. Reformen sind notwendig, aber belastend. Wie sehr sind die Ostdeutschen dazu bereit? Demoskopen meinen, die Ostdeutschen seien noch gar nicht in der Marktwirtschaft angekommen. DDR-Nostalgie irritiert. Im Denken der Menschen ist

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noch wenig verankert, dass sich Deutschland im harten Wettbewerb mit anderen Standorten befindet. Die PDS bedient die Erwartung, der Staat könne die Probleme lösen, und propagiert höhere Steuereinnahmen für Umverteilung und staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme. Doch Verallgemeinerungen sind falsch. Es gibt nicht „die“ ostdeutsche Meinung, sondern unterschiedliche, kontroverse Einstellungen wie im Westen auch. Der leichtfertige Umgang mit der Freiheit, der sich in der Verklärung der DDR manifestiert, ist nicht jedermanns Sache. Die PDS erringt in Wahlen nicht annähernd die Mehrheit. Um Einsicht für Reformen muss dennoch weiter geworben werden, im Osten wie im Westen. Ungereimtheiten der Politik gehören aber sofort bereinigt. Der Solidarpakt II zielt auf die Beseitigung ostdeutscher Infrastrukturdefizite, doch die Landesregierungen stopfen mit den Mitteln Haushaltslöcher. Das Geld für Investitionen reicht nicht, aber Volksbegehren für ausgedehnte Kinderbetreuung finden politischen Rückhalt. Nur wenige ostdeutsche Politiker wagen, für Reformschritte einzutreten, die unpopulär sind. Das muss sich ändern. Ohne Reformpolitik bleibt Ostdeutschland dauerhaft abgeschlagen. Aber wird das nicht ohnehin eintreten? Längst hängt der Region, ein Verliererimage an. „Jammertal Ost“ titelt ein westdeutsches Magazin. Von „Perspektivlosigkeit“ redet ein ostdeutscher Bundestagsabgeordneter. Doch dem Verliererimage lässt sich mit Fakten widersprechen. Es heißt, der Aufbau Ost komme nicht voran, seit 1995 gebe es kein Aufholen mehr. Doch hier die Fakten: Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner ist von 59,4 Prozent 1995 auf 63,3 Prozent des westdeutschen Wertes im Jahr 2003 gestiegen, die gesamtwirtschaftliche Produktivität von 64,8 Prozent auf 72,1 Prozent. Das heißt: Der Aufholprozess geht weiter. Die Pro-Kopf-Wachstumsrate in Ostdeutschland lag in den vergangenen fünf Jahren bei durchschnittlich 1,5 Prozent, in Westdeutschland bei 1 Prozent. Der Osten übertrifft den Westen im Wachstum (vgl. dazu Schaubild 2: „Der Aufholprozess geht weiter“). Von Deindustrialisierung kann keine Rede sein Selbst das Problem der Abwanderungen muss differenziert werden. Der Wegzug insbesondere junger Leute zusammen mit dem Geburtendefizit, kurz also das Schrumpfen der Bevölkerungszahl, ist heute eine ernste Belastung für den Osten, die der Westen noch vor sich hat. Aber Massenabwanderungen auf der Einbahnstraße finden nicht statt. Den 862.000 Fortzügen aus dem Osten (2001 bis 2003) stehen immerhin 715.000 Zuzüge gegenüber (vgl. dazu Schaubild 3: „Wanderungen in beide Richtungen“). Die hohe Zahl von Zuwanderungen relativiert die Sorge beispielsweise vor einem künftigen Fachkräftemangel. Wenn Stellen verfügbar werden, kann der Osten auf Zuzüge setzen – dies um so mehr, wenn endlich die Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer erleichtert würde.

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Neue Länder ohne Berlin ( Alte Länder ohne Berlin = 100) 75

72,1 70

65 64,8 63,3 60 59,4 55 1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

Quelle: Pohl/DHV/Speyer/29. 10. 04

Schaubild 2: Der Aufholprozess geht weiter

Ostdeutschland bis 2000 einschl. Ostberlin, ab 2001 einschl. Berlin, 1000 Personen

350 300 250 200 150 100 50 0 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003

Quelle: Pohl/DHV/Speyer/29. 10. 04

Schaubild 3: Wanderungen in beide Richtungen

In den Lebensverhältnissen fühlen sich viele im Osten abgeschlagen. Das kann indes nur so empfinden, wer die Sanierung und den Ausbau der Infrastruktur seit der Wiedervereinigung ignoriert. Von den infrastrukturellen Rahmenbedingungen her lebt man heute im Osten wie im Westen. Der Ausbau der Infrastruktur, in den west-

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deutsche Steuergelder geflossen sind, ist ein Erfolg des Aufbaus Ost. In den verfügbaren Einkommen erreichen die Ostdeutschen inzwischen 83 Prozent des westdeutschen Wertes (deutlich mehr als die 63 Prozent bei der Wirtschaftsleistung), bei Berücksichtigung der niedrigeren Lebenshaltungspreise sind es sogar um 90 Prozent. Der Lebensstandard ist heute unvergleichlich höher als am Ende der DDR. Die verfügbaren Einkommen werden nicht zuletzt durch Transfers aus westdeutschen Quellen gespeist. Das könnte in Ostdeutschland mehr Anerkennung finden.

alte Länder

öffentliche und private Dienstleister

Handel, Gastgewerbe und Verkehr

Baugewerbe

Finanzierung, Vermietung und Unternehmensdienstleistung

neue Länder

A

darunter: - Verarbeitendes Gewerbe

Produzierendes Gewerbe ohne Baugewerbe

Land- und Forstwirtschaft, Fischerei

Oft wird die Deindustrialisierung des Ostens beklagt. Da schwingt Kritik an der Treuhandanstalt mit, welche die Industrie weitgehend stillgelegt habe. Das Bild von der Deindustrialisierung ist jedoch unzutreffend. Die Industrie hatte im Jahr 2003 an der Gesamtproduktion im Osten einen Anteil von 16,4 Prozent, mit steigender Tendenz; im Westen sind es 22,8 Prozent, mit sinkender Tendenz. Der Abstand ist nicht so groß, dass man den Osten als deindustrialisiert, den Westen als Industrieland bezeichnen kann (vgl. dazu Schaubild 4: „Die Deindustrialisierung findet nicht statt“).

1)

nach ESVG 1995. Berechnungsstand: Februar 2004. Neue und alte Länder jeweils ohne Berlin. Quelle: Arbeitskreis „Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder“; Quelle: BMWA

Schaubild 4: Die Deindustrialisierung findet nicht statt

Überhaupt passt die industrielle Entwicklung nicht zum Verliererimage. Die ostdeutsche Industrie wächst kräftig, der Rezession in Deutschland zum Trotz. Die Produktion stieg von 1995 bis 2003 um 59 Prozent (Westdeutschland: 2 Prozent). Starke Impulse kommen von den Weltmärkten; die Exportquote steigt (vgl. dazu Schaubild 5: „Neue Länder: Exportquote steigt“).

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1)

Anteil des Auslandsumsatzes am Gesamtumsatz der Betriebe ab 20 Beschäftigten Ostdeutschland: Neue Länder und Berlin-Ost; Westdeutschland: früheres Bundesgebiet Vergleichbarkeit zu Zahlen vor 1995 eingeschränkt, da 1995 Umstellung auf die neue Klassifikation der Wirtschaftszweige (WZ 93); Quelle: statistisches Bundesamt; (BMWA)

Schaubild 5: Neue Länder: Exportquote steigt

Im Spitzenfeld der industriellen Dynamik stehen Wirtschaftszweige wie die Rundfunk- und Nachrichtentechnik mit einem Produktionswachstum von 2000 bis 2003 von 83 Prozent, die Elektrotechnik (28 Prozent); die Chemie (18 Prozent), die Medizin-, Meß- und Regelungstechnik einschließlich der optischen Industrie (14 Prozent), also Bereiche mit innovativem Potential (vgl. dazu Schaubild 6: „Produktion im Verarbeitenden Gewerbe“).

100

Produktionsentwicklung von 2000-2003 in %

80 60 40 20 0 -20 -40

Ru nd fu nk -

un d

Na ch ric ht en te ch ni k Re cy cl Pa in pi g er ge Ve w El er rla ek be gs tro -, in Dr d uc us kg tri Ho e ew lz er ge be w ,V er er be vi M el ed fä iz lti in gu -, KF M ng es ZsIn ,S du te st ue rie rte ch Ch ni em k, ie O He pt rs ik Er te ,U nä llu hr hr ng en un vo gs n ge M w et er al be le rz M eu et al gn le is rz s M eu en as gu ch ng in -u en G nd ba la u sg Be ew ar be ., Bü Ke itu ro ra Le ng m m d as er ik ,V ge ch er w in er ar en be b. ,D vo Vn G M St er öb ei ät el n e en ,S ch u. m Er uc Te de k, xt n ilg M us ew ik er in be st r., Sp Be o kl rtg ei er du . ng sg Ta ew ba er kv be er ar be itu ng

-60

Schaubild 6: Produktion im Verarbeitenden Gewerbe

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Die dynamische Entwicklung der Industrie belegt den Erfolg der Wirtschaftsförderung. Die Industrie ist mit Hilfe von Investitionssubventionen aufgebaut worden. Ohne staatliche Förderung wäre in Ostdeutschland kein überlebensfähiger Industriebereich entstanden: Nach der Wende brauchte angesichts globaler Überkapazitäten niemand Produktion in Ostdeutschland. Auch das Negativbild der Treuhandanstalt ist verzerrt. Ihre Strategie der Privatisierung der industriellen Unternehmen, nicht nur an westdeutsche oder ausländische Investoren, sondern auch an viele ostdeutsche Manager, erweist sich heute als im ganzen erfolgreich. Der Osten Deutschlands ist weit entfernt von einer selbsttragenden Entwicklung. Dennoch ist das Verliererimage zurückzuweisen. Der Aufbau Ost geht weiter. Aber er verläuft quälend langsam. Ratlosigkeit ist trotzdem fehl am Platze. Eine Wachstumspolitik, die gesamtdeutsch wirkt, wird die Entwicklung auch im Osten beschleunigen. Deutschland Ost und Deutschland West kommen gemeinsam aus der Krise – oder gar nicht.

Ämterpatronage – ein Krebsübel der Demokratie? Von Rainer Wahl I. Das Problemfeld 1. Ämterpatronage: ein eindeutiger Sachverhalt, eine unbestrittene Verfassungs- und Rechtswidrigkeit und eine hartnäckige (Weiter-)Existenz Wer über Ämterpatronage zu sprechen hat, dem geht es häufig so, wie es bei Gesprächen über die Predigt von Pfarrern geht. Kommt der Kirchenbesucher nach Hause, wird er gefragt: Worüber hat der Pfarrer gepredigt? Antwort: Über die Sünde. Was hat er gesagt? Antwort: Er war dagegen. Wer über Ämterpatronage redet, ist natürlich dagegen, er verurteilt sie. Wenn er Jurist ist, weist er noch darauf hin, daß Ämterpatronage verfassungswidrig und rechtswidrig ist, daß sie gegen Art. 33 II GG1 und die Beamtengesetze 2, die das Eignungsprinzip festschreiben, verstößt. Denn Ämterpatronage ist der informelle Einfluß der Parteien auf die Verwaltung durch die Auswahl des Personals nach parteipolitischen Gesichtspunkten3, also nach einem Kriterium, das nach den Vorschriften gerade verboten ist. Wer nach juristischer Stellungnahme zur Ämterpatronage sucht, wird rasch fündig und wird ein ganz seltenes, geradezu sensationelles Ergebnis finden, nämlich die einhellige Auffassung aller Juristen, daß die Ämterpatronage rechts- und verfassungswidrig ist4. Wer eine solche Einhelligkeit hört, 1 Art. 33 II GG: „Jeder Deutsche hat nach seiner Eignung, Befähigung und fachlichen Leistung gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amte“. 2 § 7 BRRG: „Ernennungen sind nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung ohne Rücksicht auf Geschlecht, Abstammung, Rasse, Glauben, religiöse oder politische Anschauungen, Herkunft oder Beziehungen vorzunehmen.“; ähnlich § 8 I 2 BBG und auch § 11 I LBGBW. 3 Hans-Herbert von Arnim, Ämterpatronage durch politische Parteien. Ein verfassungsrechtlicher und staatspolitischer Diskussionsbeitrag, 1980, S. 11 f., definiert parteipolitische Ämterpatronage als die Bevorzugung oder Benachteiligung von Bewerbern um ein Amt im öffentlichen Dienst aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei bei Einstellung, Beförderung oder funktioneller Veränderung des Aufgabenbereichs. 4 Nachweise zur Literatur bei Gertrude Lübbe-Wolff, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, 1998, Art. 32 Rn. 42; Ulrich Battis, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Aufl. 1999, Art. 33 Rn. 39; v. Arnim (Fn. 3); Helmut Lecheler, Der öffentliche Dienst, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des deutschen

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wird mißtrauisch darüber, ob die juristische Beurteilung hier wirklich das Entscheidende ist. Und in der Tat findet sich in den meisten juristischen Stellungnahmen der Zusatz, daß die Wirklichkeit leider nicht der Norm entspricht. Man begegnet vergleichsweise einfühlsamen, wenn nicht sogar poetischen Bemerkungen über „eine schmerzliche Diskrepanz zwischen Recht und Wirklichkeit“5 usw. Den Titel des Vortrags habe nicht ich ausgewählt, er stammt von Hans-Herbert von Arnim. Er hat sich unter ihm schon ausführlich und sehr negativ geäußert6. Die Stichworte dieses Titels eignen sich für die Stationen der weiteren Überlegungen. – Ämterpatronage ist ein Übel (2.), – Ämterpatronage ist ein Krebsübel (3.) und – Ämterpatronage nimmt in der Demokratie eine besondere Form an, ist aber nicht auf die Demokratie begrenzt.

2. Ämterpatronage als Übel Zum Sachverhalt und dem Stand der Literatur7: In der Literatur und von mir wird ein Gruppenporträt der durch Patronage Begünstigten gezeichnet. Dieses Gruppenporträt bemüht sich um typische Züge, was natürlich mit einschließt, daß die einzelnen „Patronierten“ jeweils unterschiedliche Züge zeigen. Im übrigen erfordert die Kürze der Zeit ohnehin Stilisierungen, Typisierungen und Vergröberungen. Ämterpatronage, so können wir umfassend bei von Arnim8 lesen, ist ein Übel. Sie – beseitigt die Chancengleichheit, – untergräbt die Leistung, – bläht die Bürokratie auf, – gefährdet die Neutralität,

Staatsrechts, Bd. 3, § 72 Rn. 104, 107 ff.; Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft 2000, S. 659 ff.; Walter Wiese, Der Staatsdienst in der Bundesrepublik Deutschland, 1972, S. 239; Michael Stolleis, Parteienstaatlichkeit – Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaates? VVDStRL 44 (1986), S. 7 ff., 25; Dieter Grimm, Politische Parteien, in: Ernst Benda / Werner Maihofer / Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 14 Rn. 67 f.; Helmuth Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984, S. 142. 5 Detlef Merten, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Deutschland, in: Siegfried Magiera / Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 181, 206. 6 Hans Herbert von Arnim, Staat ohne Diener, Was schert die Politiker das Wohl des Volkes?, 1993, S. 129: dort heißt es „Krebsgeschwür der Verwaltung“; ders., (Fn. 3). 7 v. Arnim (Fn. 6), S. 131 ff. 8 v. Arnim (Fn. 6), S. 129 ff.

Ämterpatronage – ein Krebsübel der Demokratie?

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– fördert Politikverdrossenheit, – preßt karrierebewußte Beamten in die Parteien, – fördert Frust auch in den Parteien (weil dort diejenigen überhandnehmen, die wegen der Vorteile in die Partei eintreten), – verbeamtet Parteien und Parlamente, – beseitigt politische Handlungsfähigkeit, – verkrustet das Denken.

Diesem langen Sündenregister kann man hinzusetzen: Ämterpatronage – verletzt das Leistungsprinzip, – untergräbt die Leistungsbereitschaft und die Leistungsmotivation bei den anderen, – belohnt die Selbstpolitisierung der von der Patronage Begünstigten, – schafft und verfestigt Abhängigkeiten (Politisierung der Bediensteten).

Auch für den Patronageherrn hat die Patronage nicht nur Vorteile, sondern auf längere Sicht auch entscheidende Nachteile. Durch die Patronage umgeben sich die Politiker mit Beamten ihrer Meinung. Die Beamten wissen, daß sie wegen ihrer bekannten Parteizugehörigkeit oder Zugeneigtheit aufgestiegen und ernannt worden sind. Sie danken dies häufig durch parteipolitische Anpassung und Stromlinienförmigkeit. Diese ist jedenfalls größer, als wenn sie keine parteipolitischen Protegés wären9. Das Ergebnis ist, daß die Politiker nur noch hören, was ihnen und ihrer Partei gefällt. Dies ist zunächst und kurzfristig sehr angenehm, die Politiker ersparen sich Widerspruch. Dies ist aber auf Dauer gesehen teuer erkauft, nämlich mit einer entschiedenen Verarmung der Argumente und der Wissensgrundlage. Es kommt nicht mehr oder zu wenig zu der für die Gesetzgebung und Regierung lebenswichtigen Auseinandersetzung zwischen politischen Gesichtspunkten und sachverständigen Kriterien, zwischen der politischen auf die Interessen der Wähler ausgerichteten Argumentation und dem Sachverstand. Im Reich der Patronage leidet tendenziell die sachverständige Beratung der Politik, zu der auch die hartnäkkige Vertretung von fachlichen Argumenten gehört. Mit Ämterpatronage fahren die Politiker kurzfristige Erfolge und mittel- und langfristige Nachteile ein. Da in der Demokratie systembedingt das Kurzfristige überbetont ist oder höhere Bedeutung genießt als langfristige Orientierung, ist es wahrscheinlich, daß die langfristigen Nachteile der Ämterpatronage für die Handelnden nicht bedeutsam sind.

9 Damit ist zugleich gesagt, daß die von der parteipolitischen Patronage Begünstigten natürlich nicht hundertprozentig und nicht in jeder Hinsicht das tun, was die Parteien wünschen.

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3. Ämterpatronage als „Krebsübel“ Ein besonderes Übel ist die Ämterpatronage, weil sie sich ausbreitet und im Laufe der vergangenen Jahrzehnte die Ämterhierarchie von oben nach unten durchdrungen hat10. Sichtbar geändert hat sich im Laufe der Bundesrepublik die Ministerialverwaltung: Gegenüber dem 19. Jahrhundert hat sie ihre erste Veränderung 1919 mit der Republik und der Demokratie erhalten. Die Weimarer Republik hat mit Einführung des parlamentarischen Regierungssystems das Amt des politischen Ministers geschaffen, der zugleich politisches Regierungsmitglied (damit meist auch Parteipolitiker) und Behördenchef im Ministerium ist. In dieser Konstellation war es für das Selbstverständnis der Beamten im Ressort wichtig, daß der Staatssekretär Exponent der Beamtenschaft war und in einer weitgehenden Distanz zur Parteipolitik stand. Dieses Grundverständnis galt auch in den beiden ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik: Die Spitzenbeamten standen in der Regel den Regierungsparteien mehr oder weniger nahe, waren aber keine aktiven Parteipolitiker und stellten sich auch nicht als solche dar. Seit dem Ende der 60er Jahre hat sich mit dem ersten vollständigen Regierungswechsel im Jahre 1969 und dann mit jedem Wechsel erneut gezeigt, daß die Stellung der beamteten Staatssekretäre nahezu vollständig parteipolitisiert worden ist; die Einrichtung der Parlamentarischen Staatssekretäre hat dem keinen Einhalt bieten können11. Ausgetauscht werden beim Regierungs-, oft auch nur beim Ministerwechsel häufig der gesamte Führungsbereich der Ministerien mit den persönlichen Referenten, Pressesprechern, zuweilen auch den Kabinettsreferenten mitsamt den dort eingerichteten Stabstellen der verschiedensten Bezeichnungen – kurz: die Leitungsmannschaft um den Minister und im Ministerbüro sind parteipolitisch gebunden und insofern auch Gegenstand von Patronage12. Für die Bezeichnung „Krebsübel“ ist dann viel wichtiger und aussagekräftiger, daß die Parteipolitisierung in das Haus hinein- und die Hierarchie hinuntergeht. Jenseits der Grenze, in der Posten als politische Beamte ausgestaltet sind, die in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden können13, ist und kann sich Parteipatronage zwar nicht mehr voll und systematisch auswirken, da die dort auf Lebenszeit eingestellten Beamten nicht entlassen werden können. Immerhin können sie aber auf uninteressante Stellen umgesetzt werden14. In die10 Renate Mayntz / Hans-Ulrich Derlien, Party Patronage and Politicization of the West German Administrative Elite 1970 – 1987, Governance 1989, S. 384, 400 ff. 11 Dazu grundsätzlich und zur Diskussion am Ende der 60er Jahre Rainer Wahl, Stellvertretung im Verfassungsrecht, 1971, S. 198 – 251. 12 Die parteipolitische Ausrichtung der Posten im näheren Umfeld des Ministers und bei einer Reihe von Posten im Kanzleramt ist letztlich unvermeidlich. Die eigentliche Problematik liegt in der Verwendung von lebenslang angestellten Beamten oder in der Verbeamtung der betreffenden Personen; die näherliegende Alternative wäre, sie zu befristet eingestellten Beratern zu ernennen. 13 Zum „politischen Beamten“ s. unten III. 2. 14 Bärbel Steinkemper, Klassische und politische Bürokraten in der Ministerialverwaltung der Bundesrepublik Deutschland, 1974, S. 50 ff. („es wird jemand auf einen Posten an der Randzone des politischen Geschehens abgeschoben“).

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sen Rängen gibt es Parteipatronage aber nicht flächendeckend und vielleicht auch nicht systematisch. Aber – und dies dürfte in der Systemwirkung und Wahrnehmung der Ministerien wichtig sein – die Ministerien und die Ministerialverwaltung werden wohl zunehmend als politische Verwaltung wahrgenommen und nicht als eine von der politischen Spitze getrennte Sphäre oder Organisation. Über die sich von unten nach oben verjüngende Hierarchie der Ämter der Beamten eines Ministeriums schiebt sich die so umgekehrte Pyramide der Ämterpatronage mit der höchsten Intensität nach oben. Diese zweite umgedrehte Pyramide dürfte bewirken, daß die öffentliche Wahrnehmung die Ministerien als stark (partei)politisiert ansieht. Die Folge davon sind die bekannten Prozesse der Selbstrekrutierung, die so ablaufen, daß tendenziell gesehen diejenigen in die Ministerialverwaltung gehen oder dort bleiben, die mit dieser Parteipolitisierung umgehen können, und zwar am leichtesten dann, wenn sie Teil davon werden. Im Ergebnis hat sich die Parteipolitisierung in den letzten zwei Jahrzehnten und aus Anlaß der beiden Regierungswechsel 1982 und 1998 noch verstärkt. Bei einem Regierungswechsel wird es in der Öffentlichkeit und in den Medien geradezu als selbstverständlich genommen, daß Staatssekretäre und häufig auch die nächstuntere Ebene sowie die Angehörigen des erweiterten Ministerbüros ausgetauscht werden. Was für die Ministerialverwaltung kurz ausgeführt wurde, gilt für jede andere Verwaltung inzwischen auch, wobei jedoch Differenzierungen vorzunehmen sind. Natürlich haben die Politisierung und die Ämterpatronage einen geringeren Grad bei Verwaltungseinheiten, die von vornherein spezialisiert und stark fachlich ausgeprägt sind. Hier bezieht sich die Patronage vermutlich stärker auf die Behördenspitze. Aber natürlich muß der, der am Ende seiner Laufbahn zur Spitze aufgestiegen ist und dabei von seinem Parteibuch oder der offenbarten Parteianhängerschaft profitiert, diese Parteinähe schon vorher zum Ausdruck gebracht und betätigt haben.

4. Ämterpatronage als Übel in der Demokratie, aber nicht nur in der Demokratie In der auf Wechsel angelegten Demokratie gibt es bei eben diesen Wechseln einen Anlaß zur Ämterpatronage, jedenfalls verspürt die neu an die Regierung gekommene Mehrheit und Parteienkonstellation ein subjektives Bedürfnis, sich mit ihren Anhängern zu umgeben und die ihnen zugehörenden öffentlichen Bediensteten zu belohnen15. Eine funktionierende Demokratie mit regelmäßigem Wechsel 15 Es scheint, daß im Laufe der Jahrzehnte der Appetit immer stärker geworden ist. Dazu leistet auch eine Begründung Vorschub, die so häufig wie falsch ist. Die jeweils neue Regierungspartei oder -parteien meint oder meinen, daß sie einen Nachholbedarf hätten und sie auf die Schläge der bisherigen Parteien nun sehr kräftige Gegenschläge in Sachen Ämterpatronage führen müßten. So ist das Argument des Nachholbedarfs eine falsche, aber fatale Begründung für eine Beschleunigung der Spirale (ähnlich auch Josef Isensee, Der Parteizugriff

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schafft die Anlässe für diesen „Bedarf“ im Maße der stattfindenden Regierungswechsel. Der Titel „Ämterpatronage – Krebsübel der Demokratie“ könnte so verstanden werden, daß es Ämterpatronage nur oder vor allem in der Demokratie gibt. Nichts aber wäre falscher. Um dies darzulegen und daraus Schlüsse zu ziehen, ist es erforderlich zu abstrahieren. Ämterpatronage ist ein Unterfall eines sehr viel weiteren Phänomens, nämlich der Patronage generell oder der Herrschaftspatronage schlechthin. Mit dieser Ausweitung der Aufmerksamkeit fällt der Blick auf Bedingungen der Herrschaftsausübung schlechthin und damit auch auf eine Reihe von nichtdemokratischen Herrschaftssystemen wie monarchische Herrschaft, Diktatur, autoritäre oder theokratische Systeme. So unterschiedlich sie sind und so fest die Herrschenden in diesen anderen Systemen im Sattel zu sitzen scheinen, sie alle benötigen unabdingbar einen umfangreichen Stab zur Ausführung ihrer Herrschaft. Dieser Stab soll gewiß sachverständig und leistungsfähig sein, aber er muß vor allem für die Herrschenden verläßlich, d. h. die Betreffenden müssen persönlich loyal und abhängig vom Herrscher oder der tragenden Institution (mag es Kirche, Familie, Dynastie oder Partei sein). Dieses Streben nach Sicherung einer verläßlichen Anhängerschaft ist ein elementares Bestreben von Herrschenden und Spitzenpolitikern in jedem Regierungssystem und Herrschaftssystem16. Gleichwohl drückt sich dieser Grundsachverhalt des Herrschens in den einzelnen Regierungssystemen und Staatsformen unterschiedlich aus, und die verschiedenen Regierungssysteme unternehmen unterschiedliche Anstrengungen zur Abwehr und Begrenzung. Dem möchte ich näher nachgehen. Zunächst jedoch einige Zahlen zur Ämterpatronage, wie sie die Literatur nennt.

5. Zum Sachverhalt der Ämterpatronage Mitten in die systembedingten Schwierigkeiten einer Bestandsaufnahme führt die Bemerkung von Hans-Herbert von Arnim17 hinein: „Daß es keine sicheren Statistiken über die Verbreitung von parteipolitischer Patronage gibt, ist aus der Natur der Sache zwar nicht überraschend, erleichtert es aber der politischen Praxis immer wieder, schlicht vorzuschützen, Ämterpatronage gäbe es in der Bundesrepublik gar nicht.“ Gleichwohl besteht für ihn realistischerweise kein Zweifel an der Existenz auf den öffentlichen Dienst – Normalzustand oder Alarmzeichen, in: Gerhard Baum / Ernst Benda / Josef Isensee [Hrsg.], Politische Parteien und öffentlicher Dienst, 1982, S. 52, 67 f.); zurückhaltender Hans-Ulrich Derlien, Die Regierungswechsel von 1969 und 1982 in ihren Auswirkungen auf die Beamtenelite, in: Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung , 1989, S. 171 ff. 16 Überlegungen dazu schon von Theodor Eschenburg, Ämterpatronage, 1961, S. 18 ff. (Nepotismus) S. 26 ff. (Patronage in Österreich und die Abschaffung der Patronage im viktorianischen England), S. 33 („negative“ neue Ämterpatronage in Deutschland vor 1918). 17 v. Arnim (Fn. 6), S. 146.

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der Ämterpatronage18. „Wenn auch aus naheliegenden Gründen – Rechtswidrigkeit der Praxis – exakte Angaben fehlen, ist dann doch rückzuschließen aus empirischen Untersuchungen, daß Ämterpatronage nicht auf Einzelfälle beschränkt, sondern weit verbreitet ist“. In einer umfassenden Befragung von Spitzenbeamten und Politikern im Jahre 1987 hielten 86,3% der befragten Beamten und 71,2% der befragten Politiker die Beamtenschaft für parteipolitisiert, während dies noch 1979 „nur“ 55% der Beamten angenommen hatten (für Politiker existierten damals keine Daten)19. Ämterpatronage betrifft auch keinesfalls nur Spitzenpositionen im öffentlichen Dienst, sondern erfaßt in vielen Verwaltungszweigen auch untere Chargen, teils bis zum Pförtner oder Hausmeister. Besonders negativ ist ihre ständige Zunahme20. Da es aber der Natur der Sache nach keine exakten Zahlen oder Statistiken gibt, sind Schilderungen von Einzelfällen besonders wichtig21; ein sogar literarisch aufgearbeiteter Fall aus der nahen Vergangenheit soll unten noch näher vorgestellt werden22. II. Ämterpatronage als Bestandteil jeder Herrschaft 1. Herrschaftspatronage in den verschiedenen Staatsund Regierungsformen Schon die klassische Abhandlung über die Ämterpatronage von Theodor Eschenburg – sein 100. Geburtstag hat sich in diesen Tagen gerade gejährt – nennt in der Geschichte verschiedene und überall auftauchende Formen der Patronage23. Ebd. S. 139. So Margot Fälker, Demokratische Grundhaltungen und Stabilität des politischen Systems: Ein Einstellungsvergleich von Bevölkerung und politisch-administrativer Elite in der Bundesrepublik Deutschland, PVS 1991, S. 71, 83. 20 Mayntz / Derlien (Fn. 10), S. 400: „The top civil service of the German Federal Republic has become steadly more politicized – in terms of a growing share of party members, and of the increasing importance of party membership of recruitment to top positions.“ 21 v. Arnim (Fn. 6), S. 137 ff. Besonders aussagekräftig sind die Beobachtungen und Beispielsfälle bei Kenneth Dyson, Die westdeutsche „Parteibuch“-Verwaltung, Die Verwaltung 12 (1979), S. 129 ff. Aufschlußreich sind auch die indirekt verwertbaren Angaben zur Parteimitgliedschaft der Spitzen der Ministerialverwaltung von Bärbel Steinkemper, Klassische und politische Bürokraten in der Ministerialverwaltung der Bundesrepublik Deutschland. Eine Darstellung sozialstruktureller Merkmale unter dem Aspekt politischer Funktionen der Verwaltung, 1974, S. 48 ff. zum ganzen vgl. auch Christiane Dreher, Karrieren in der Bundesverwaltung, 1996, S. 476 ff. 22 Unten III. 6. 23 Grundlegend geprägt wurde die Typologie von Theodor Eschenburg, Ämterpatronage, 1961 (Herrschafts-, Proporz-, Versorgungspatronage, jeweils mit Differenzierungen); dem im wesentlichen folgend Manfred Wichmann, Parteipolitische Patronage. Vorschlage zur Beseitigung eines Verfassungsverstoßes im Bereich des öffentlichen Dienstes, 1986, S. 29 ff. (Herrschafts-, Versorgungs-, Proporz-, Feigenblattpatronage, Patronage durch Veränderung des Aufgabenbereichs). 18 19

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Generalisiert man in dieser Weise, so gewinnt man einen systematischen Gesichtspunkt, um die Ämterpatronage in Deutschland beurteilen zu können. Dies fällt nämlich leichter und geschieht besser, wenn man vergleicht, anstatt nur die rechtlichen Regeln und ihre Verletzung festzustellen. Der moralische und normative Imperativ gegen die Ämterpatronage ist gewiß richtig. Die Antwort auf die Ämterpatronage darf sich aber nicht nur auf die Ausgestaltung von Normen beschränken, sondern der Blick muß sich einerseits auf die die Ämterpatronage begünstigenden Systemzusammenhänge und andererseits auf Chancen und Grenzen von institutionellen Gegengewichten richten. Unter diesem Blickwinkel ist Ämterpatronage ein Unterfall der Herrschaftspatronage und insoweit Bestandteil jeder Herrschaft. Jedes Regime muß darauf aus sein, auf Gruppen, die für ihre Herrschaft wichtig sind, Einfluß zu nehmen und sie zu vereinnahmen. Da moderne Staaten ohne beträchtliche Bürokratien nicht denkbar sind, weil diese eine „Infrastruktur“ der Herrschaft sind, kann es keinem Regime gleichgültig sein, welche Personen in der Verwaltung tätig sind. Patronage ist als Herrschaftspatronage ubiquitär. Unterschiedlich sind im Laufe der Geschichte die Patronageherren, ihre formellen und informellen Möglichkeiten. Zu fragen ist also nach den konkreten Möglichkeiten der Ämterpatronage in der Demokratie. 2. Die hohe Ämterpatronage in Deutschland nicht als notwendige Folge der Demokratie, sondern der deutschen Parteienstaatlichkeit In der Demokratie ist die Parteienpatronage gewiß nicht fernliegend. Eine Staatsform, mit institutionalisiertem, jedenfalls als normal vorausgesetztem Wechsel bei den politischen Spitzenämtern entwickelt einen systembedingten Bedarf nach verläßlichem Personal in strategisch wichtigen Ämtern in der nächsten Umgebung der jeweils Regierenden, einen Bedarf, der bei jedem Wechsel aus der Sicht der jetzt Regierenden erneut aktiviert wird. Auf der andern Seite trifft dieses subjektive Bedürfnis nach Ämterpatronage zur Herstellung eines Gleichklangs zwischen – neuer – Regierung und Beamtenschaft auf Deutschland wie auf viele andere Demokratien zu. Zu verzeichnen ist also eine strukturelle Gegenläufigkeit der Eigengesetzlichkeiten der politischen Führung und des Berufsbeamtentums. Wie man diese Gegenläufigkeit auflöst und behandelt, wird in den verschiedenen Demokratien unterschiedlich gehandhabt. Möglich ist es, die Spitzenämter des Öffentlichen Dienstes anders zu behandeln als die Basis, also sie zur Disposition der politischen Spitze zu stellen (Stichwort: politische Beamte). Vorstellbar ist weiterhin, in der Umgebung der politischen Spitzenämter befristete Berater einzusetzen24. Denkbar – und in Großbritannien realisiert – ist es aber auch, die Gegenläufigkeit stehen zu lassen und sie sogar normativ und institutionell zu verfestigen. Dann stellt man den wechselnden Regierungen einen ständigen Öffentlichen 24

Zu kurzfristig eingestellten Beratern in Großbritannien vgl. unten IV. 1.

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Dienst gegenüber, dessen Personalpolitik weitgehend vom Parteieinfluß abgeschirmt ist. Auf die strukturelle Gegenläufigkeit von Patronagewillen und Kontinuität des Öffentlichen Diensts gibt es also in den verschiedenen Demokratien unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten. Daß in Deutschland die Parteien die Patronage im wesentlichen bei sich monopolisieren und stark praktizieren, ist demnach nicht ein Kennzeichen jeder Demokratie, sondern speziell der parteienstaatlichen Demokratie. In Deutschland findet man eine hohe Parteipatronage. Dies kommt nicht von ungefähr: In der hohen Parteipatronage spiegelt sich die besonders große Bedeutung, die die politischen Parteien im Regierungssystem der Bundesrepublik gewonnen haben. Die Parteienpatronage ist ein illegitimer Abkömmling des seinerseits nicht legitimen deutschen Parteienstaats. Daß dies eine Besonderheit des deutschen Regierungssystems und nicht eine Eigengesetzlichkeit der Demokratie überhaupt ist, wird sich unten zeigen, wenn von den tatsächlich existierenden Alternativen in anderen demokratischen Ländern die Rede sein wird25. Da die konkrete Form und Intensität der Ämterpatronage in Deutschland Ausdruck und Widerspiegelung des deutschen Parteienstaates ist, gibt es starke Kräfte und Impulse, die die Ämterpatronage begünstigen und tragen. Sie ist für die Parteien, jedenfalls für die beiden großen, Teil ihrer Machtstrategie, Bestandteil ihres Erfolgs und der eigenen Einschätzung ihrer Erfolgschancen. Ämterpatronage ist ein Teil des Gesamtarrangements des deutschen Parteienstaats. Man darf nicht erwarten, daß man aus diesem Gesamtarrangement einfach und isoliert einen Teil herausbrechen kann. Worin besteht die Parteienstaatlichkeit in Deutschland, was sind ihre Besonderheiten und wann haben sich diese entwickelt? Dazu eine Erinnerung: Parteien waren einst in der Weimarer Zeit im Verfassungsrecht nicht anerkannt26, mehr noch, sie waren in der Sicht vieler Konservativer, die die Vorstellung vom neutralen Staat pflegten, als „pars“, als Partei schon grundsätzlich verdächtig. Üblich waren negative Beschreibungen wie Parteiengezänk usw. Das Grundgesetz hat die Parteien aus dieser Ecke herausgeholt, sie in das politische System (in die Normen und die Staatswirklichkeit) einbezogen. Das Grundgesetz wollte sie aber limitieren, indem es in Art. 21 GG davon spricht, daß sie bei der politischen Willensbildung des Volkes „mitwirken“. Die realpolitische Entwicklung und Interpretation des Bundesverfassungsgerichts haben aus den Mitspielern Monopolisten gemacht27. DesDazu unten IV. 1. In der Weimarer Verfassung kamen sie im Text nicht als Institution vor, nur an einer Stelle und dort defensiv; vgl. dazu unten V. 27 Zur Parteienstaatslehre des Bundesverfassungsgerichts kritisch Wilhelm Hennis, Auf dem Weg in den Parteienstaat, 1998; Jörn Ipsen, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 3. Aufl. 2003, Art. 21 Rn. 5 – 14; Rudolf Streinz, in: Hermann v. Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, Art. 21 Fn. 24 – 30; Michael Stolleis, VVDStRL 44, 1986, S. 7 ff.; Grimm, (Fn. 4), § 14 Rn. 16 f.; Klaus von Beyme, Die politische Klasse im Parteienstaat, 1993, insb. S. 39. 25 26

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halb gehört es zu den Eigenarten der deutschen Staatspraxis, daß die Parteien über den eigentlichen politischen Bereich, die Wahlen und die Besetzung der Ministerämter, weit hinauswirken und letztlich auf die Besetzung sehr vieler hoher Richterämter genauso wie Behördenleiter bis zum Schulleiter einwirken28. Im historischen Längsschnitt ist es eindrucksvoll, wie aus den verfemten und stark angegriffenen Parteien des Kaiserreichs, aber auch noch der Weimarer Zeit, die starken Faktoren und die Monopolisten des Grundgesetzes wurden – eine eindrucksvolle und beispiellose Karriere. Parteien sind im deutschen Regierungssystem, im politischen System so stark, weil ihre Mitkonkurrenten so schwach sind bzw. so schwach geworden sind. Wer sind diese Mitkonkurrenten? Es sind dies die gesellschaftlichen Gruppen in ihrer ganzen Vielfalt, Verbände, Arbeitgeber, Gewerkschaften, Bildungsinstitutionen, Forschungseinrichtungen, Universitäten, Medien. Zu besichtigen ist das ganze Dilemma der schwachen Gesellschaft und dementsprechend die Stärke der Parteipolitiker in den Rundfunk- und Fernsehanstalten. Was hat das Bundesverfassungsgericht aufgrund des Versuches eines politisch gesteuerten Privatfernsehens durch Adenauer Ende der 50er Jahre dekretiert29? Es hieß: Rundfunk- und Fernsehanstalten sollen nicht staatlich sein, sondern der Rundfunk soll staatsfrei sein. Deshalb ist der Rundfunk eine öffentliche Anstalt, er soll sich der Form des öffentlichen Rechts bedienen, um gerade nicht staatlich zu sein. Wer soll im Rundfunk und Fernsehen maßgeblich sein? – die Gesellschaft und die gesellschaftlichen Gruppen. Und unsere Rundfunkgesetze listen in der Tat in fleißiger Akribie auf, wer alles in den Rundfunk- und Fernsehräten vertreten ist30 – die Gesellschaft in ihrer Breite und ihrer Vielfalt. In den Normen ist also alles gut geregelt. Die Parteien sind auch vertreten, aber sie haben einen geringen Anteil, im übrigen dominiert die Vielfalt der Gesellschaft. Was ist aber die Wirklichkeit?31 Sie ist anschaulich abzulesen an den Sitzungen der Rundfunk- und Fernsehräte, nein, im Vorfeld der Sitzungen. Dort treffen sich 28 Wenn die Parteien wie beim Finanzierungsskandal 1998 / 99 in eine vorübergehende explizite Krise geraten, dann läuft häufig ein Bußritual ab: Hohe Parteivertreter lassen sich mit – scheinbar – nachdenklichen Äußerungen über die Auswüchse des Parteienstaats in der Praxis hören. Nachdenklich hieß es etwa von Jürgen Rüttgers, ob es denn richtig sei, daß jeder Schulleiterposten von Parteimitgliedern besetzt würde. So groß können die Bedenken nicht gewesen sein – geändert hat sich nichts. Im übrigen hatte Rüttgers schon 1992 – 93, damals als Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU / CSU, solche Bedenken veröffentlicht, s. Jürgen Rüttgers, Dinosaurier der Demokratie. Wege aus Parteienkrise und Politikverdrossenheit, 1993, weitere Nachweise bei v. Arnim (Fn. 6), S. 149 f. mit Fn. 42. 29 BVerfGE 12, 205, 259 ff. – Deutschland-Fernsehen – und die weiteren Rundfunkurteile, die auf Aufrechterhaltung der Vielfalt der Meinungen abzielen (BVerfGE 20, 162, 175; 57, 295, 320, 323 – ständige Rechtsprechung). 30 Siehe z. B. § 41 Landesmediengesetz Baden-Württemberg (mit Aufzählung der einzelnen Gruppen und Verbände in 28 Ziffern). 31 Kritisch dazu auch Helmuth Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, Art. 5 I, II Rn. 43.

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nämlich der Freundeskreis der CDU / CSU und der Freundeskreis der SPD und – wie durch ein Wunder – wie von zwei starken Magneten angezogen, ordnet sich das Feld: Der Vertreter der katholischen Kirche bei der CDU, der Vertreter der protestantischen Seite bei der SPD, Gewerkschaften und Arbeitgeber, dies ist klar, aber – leider – auch Universitätsvertreter sind dabei32. Keiner will „grau“ sein, wo alle rot oder schwarz sind. Dabei wäre es für die Institution der Rundfunk- und Fernsehanstalten so viel wert, wenn es eine größere Zahl von selbständigen und kritischen „Grauen“ gäbe, bei denen man nicht von vornherein weiß, wie sie entscheiden. Aber natürlich fürchten die Politik und die Parteien nichts mehr als die „Grauen“; lieber ist ein berechenbarer Vertreter der Gegenseite als ein unberechenbarer „Grauer“. So haben sich die Rundfunk- und Fernsehanstalten zu etwas ganz anderem entwickelt, als vom Bundesverfassungsgericht und vom Gesetzgeber vorgesehen. Sie spiegeln die Wirklichkeit und die Durchschlagskraft des deutschen Parteienstaates wider: Die gesellschaftlichen Gruppen ordnen sich selbst zu, sie haben keinen Selbststand und beharren nicht auf einem eigenen Standpunkt und einer eigenen Sichtweise. Sie beharren natürlich auf ihren Interessen, die bedient werden müssen, aber sie sind keine eigenständigen Kräfte, ja sie wollen es gar nicht mehr sein. Im selbstgewählten Verzicht der gesellschaftlichen Gruppen auf Eigenart und eigene Perspektive für die öffentlichen Dinge, in der willigen Zuordnung und Einordnung – darauf beruht auch die Stärke der deutschen Parteienstaatlichkeit33. In diesem Gesamtzusammenhang von Selbstzuordnung und Mitmachen bei der Parteipolitisierung ist auch die Ämterpatronage einzuordnen. Sie gedeiht besonders in einer Gesellschaft, die ganz allgemein davon ausgeht, daß die Parteizugehörigkeit wichtig ist und es für normal hält, daß die Parteizugehörigkeit eine Rolle spielt.

3. Die deutsche Ämterpatronage als gesteigerte Form der Patronage, die deutsche Verwaltung als im internationalen Vergleich besonders stark ausgeprägte „Parteibuchverwaltung“ Die deutsche Ämterpatronage ist eine gesteigerte Form der Patronage, nicht die notwendige und alternativlose Form der Demokratie. Dies zeigt der internationale Vergleich. Ihn hat in den 70er Jahren der englische Professor Kenneth Dyson in ruhiger Wissenschaftlichkeit angestellt und ebenso ruhig das Ergebnis seiner Untersuchungen benannt: Die deutsche Ministerialverwaltung ist eine Parteibuchverwaltung34. Diese Kennzeichnung hat nicht allen gefallen, nein, es hat manchen 32

Die Zuordnung mag im einen oder anderen Fall auch mal anders sein, aber es gibt Mu-

ster. 33 v. Beyme, (Fn. 27), S. 58 spricht von „Kolonisierung“ der Gesellschaft durch den Parteienstaat (Anführungszeichen im Original). Damit wird die eine Seite angesprochen, nämlich die von den Parteien ausgehenden Kräfte; im Text wurde hingegen die Kehrseite, die Selbstkolonisierung der Gesellschaft, ausgeführt. 34 Dyson (Fn. 21), S. 129 ff.

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sehr wenig gefallen, es hat vielen nicht gefallen. Der für die Veröffentlichung verantwortliche Redakteur der wissenschaftlichen Zeitschrift hat empörte und entrüstete Briefe erhalten, daß so etwas nicht veröffentlicht werden dürfe, wobei vielleicht offen geblieben ist, ob die Behauptung nicht zutrifft oder die zutreffende Behauptung nicht veröffentlicht werden sollte. Es war jedenfalls der damalige Speyerer Professor Roman Schnur, der in der ihm eigenen Standhaftigkeit den Aufsatz veröffentlicht hat. Dyson schildert die Anfänge der Parteipatronage in der Bundesrepublik, als die Parteien unbestritten als vertrauenswürdigste Institution und die Zugehörigkeit zu einer von den Alliierten zugelassenen Parteien als „greifbarstes Zeichen für eine demokratische Gesinnung“ galten, ebenso wie das allmähliche Anwachsen in der Zeit zwischen 1949 – 1969 und den „sichtbaren Höhepunkt der Politisierung durch die Parteien“ im Zuge des Regierungswechsels 196935. Ihren besonderen Wert haben die material- und beispielsreichen Ausführungen Dysons für die Landes- und z. T. auch für die kommunale Ebene und zwar nicht zuletzt dadurch, daß der ausländische Beobachter an keiner Stelle auch nur den geringsten Anlaß für die Befürchtung der Parteilichkeit bietet, sondern in aller Nüchternheit und Genauigkeit die „Filzokratie“ in CDU- und SPD-Ländern schildert.

4. Ämterpatronage als integrierter Bestandteil des Gesamtarrangements des Parteienabbaus Ich folgere aus den bisherigen Überlegungen, daß die Ämterpatronage nur im Gefolge von oder parallel zu einem entschiedenen Abbau der Parteienstaatlichkeit in Deutschland reduziert werden kann – oder besser gesagt: werden könnte. Gewinnt die Ämterpatronage ihre Stärke aus der Stärke der deutschen Parteienstaatlichkeit, so wie umgekehrt die erfolgreiche Ämterpatronage den Parteienstaat bekräftigt, dann ist es wegen dieser wechselseitigen Bedingungen unmöglich, die Ämterpatronage isoliert und für sich zurückzudrängen. Daß aber umgekehrt der Parteienstaat selbst reduziert oder abgebaut werden könnte, darauf zu hoffen, besteht kein Anlaß.

III. Vorschläge zur Verminderung von Ämterpatronage Es liegt nahe – und dies wird in der Literatur auch getan36 – nach dem Aufweis des Mißstandes sich jetzt mit ganzer Kraft auf die Fragen zu konzentrieren, was zu tun ist und welche Abhilfen es zur Verminderung oder gar Abschaffung der Ämterpatronage gibt. Aber gegenüber diesem Vorgehen ist Vorsicht angebracht. Nach Ähnliche Schübe gab es bei den Regierungswechseln 1982 und 1998. v. Arnim (Fn. 6), S. 150; ders., Ämterpatronage (Fn. 3); Wichmann (Fn. 23); ders., Parteipolitische Patronage. Vorschläge zur Beseitigung eines Verfassungsverstoßes im Bereich des öffentlichen Dienstes, ZBR 1988, S. 365. 35 36

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dem eben Dargelegten muß man nämlich damit rechnen, daß es kaum Chancen zu einer „großen“ Veränderung oder Verbesserung der Situation gibt, weil der entscheidende Rahmen, die spezifische deutsche Parteienstaatlichkeit, weiterbesteht. Skepsis ist vor allem gegenüber dem Versuch angebracht, direkt normativ auf die Ämterpatronage einwirken zu wollen. Zunächst ist die Ämterpatronage längst und sozusagen „perfekt“ verboten; dies ist nicht zu steigern. Verbesserungen sind, wenn überhaupt, nur durch ein umweghaftes Vorgehen, durch Einwirken auf Systemelemente des Parteienstaates oder durch Schaffung von institutionellen Vorkehrungen zu erreichen. Im folgenden werden die häufigsten in der Literatur vertretenen Änderungsvorschläge aufgelistet, ohne daß damit zur Frage der Erfolgsausichten – positiv – Stellung genommen wird.

1. Begrenzung der Institution der politischen Beamten Politische Beamte (§ 31 I BRRG37) haben Spitzenstellungen im jeweiligen Hause, sie können bei fehlendem Vertrauensverhältnis in den einstweiligen Ruhestand gesetzt werden38, 39. Zu Recht bemerkt Kenneth Dyson, daß die Bedeutung der „politischen“ Beamten bei weitem ihre geringe Zahl überschreitet. „Sie üben nämlich einen gewichtigen Demonstrationseffekt auf den Rest der öffentlichen Verwaltung aus“40. Deshalb ist die Forderung zur Begrenzung dieser Institution schlüssig.

37 § 31 BRRG: „Durch Gesetz kann bestimmt werden, daß der Beamte auf Lebenszeit jederzeit in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden kann, wenn er ein Amt bekleidet, bei dessen Ausübung er in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung stehen muß.“ § 36 BBG zählt in sieben Ziffern die einschlägigen Ämter auf: Nr. 1 nennt den wichtigsten Kreis, die Staatssekretäre und Ministerialdirektoren. In den Ländern nennt z. B. § 60 LBG-BW die Ministerialdirektoren und die Regierungspräsidenten. 38 Zur Institution des politischen Beamten Wiese (Fn. 4), S. 161 ff.; Dieter Kugele, Der politische Beamte. Entwicklung, Bewährung und Reform einer politisch-administrativen Institution, 2. Aufl. 1978; Hans-Günter Steinkemper, Amtsträger im Grenzbereich zwischen Regierung und Verwaltung. Ein Beitrag zur Problematik der Institution des politischen Beamten in der Bundesrepublik Deutschland, 1980; Hans-Ulrich Derlien, Einstweiliger Ruhestand politischer Beamter des Bundes 1949 – 1983, DÖV 1984, S. 689; v. Arnim (Fn. 3), S. 45; ders., Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, 1993, S. 209 – 240; Schuppert (Fn. 4), S. 675 ff. mit Nachweisen und umfangreichen Daten. 39 Unterschiedlich wird die Frage beurteilt, ob schon ihre Auswahl nach der Parteizugehörigkeit zulässig ist, verneinend v. Arnim (Fn. 6), S. 150 f.; anders und wohl realistischer Merten (Fn. 5), S. 205 f. („Wenn fehlende politische Konformität in bestimmten Ämtern zur Versetzung des Beamten in den einstweiligen Ruhestand berechtigten, muß bestehende politische Übereinstimmung Eignungskriterium für die Übertragung dieser Ämter sein.“). Zu der Eignungserheblichkeit politischer Überzeugungen Lübbe-Wolff (Fn. 4), Rn. 42. Zur politischen Übereinstimmung als Eignungsmerkmal Philip Kunig, in: v. Münch / Kunig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 2, Art. 33 Rn. 17. 40 Dyson (Fn. 21), S. 133.

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2. Stärkere Trennung von Amt und Mandat Das deutsche Recht trennt Amt und Mandat nur in dem wegen des Gewaltenteilungsgrundsatzes unabdingbaren Ausmaß; die gleichzeitige Ausübung eines Amtes in der Verwaltung und eines Mandats (auf derselben Ebene, z. T. auch auf verschiedenen Ebenen) ist nicht zulässig. Das passive Wahlrecht der Beamten kann nach Art. 137 GG beschränkt, aber nicht vollständig ausgeschlossen werden41. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts ermöglicht diese Vorschrift Inkompatibilitäten, aber nicht Ineligibilitäten 42. Im praktischen Ergebnis stellt das geltende Recht dem Rollenwechsel vom Beamten zum politischen Abgeordneten keine entscheidenden Hindernisse entgegen. Dementsprechend wird dieser Wechsel in Deutschland auch relativ häufig vollzogen. Ein Beamter kann sich aus seinem Amt heraus um ein Mandat bewerben; beim Scheitern seiner Kandidatur kann er sein Amt wieder aufnehmen. Während der Dauer seines Abgeordnetenmandats ruht sein Amt (vgl. § 5 AbgG), nach Beendigung des Abgeordnetenmandats hat er einen Anspruch auf Wiederverwendung (vgl. § 6 AbgG). Nach der in der Literatur herrschenden Interpretation darf die Kandidatur nicht davon abhängig gemacht werden, daß ein öffentliches Dienstverhältnis zuvor beendet ist. Änderungen an dieser Rechtslage mit dem Ziel, den Wechsel zu erschweren, setzten eine Verfassungsänderung voraus43.

3. Verbot der Parteimitgliedschaft für öffentlich Bedienstete bzw. parteipolitisches Betätigungsverbot Eine gesteigerte Version des vorherigen Vorschlags will Beamten die parteipolitische Betätigung und schon die Mitgliedschaft in einer Partei untersagen. In beiden Versionen stellen sich Fragen der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit. Die in der Literatur herrschende Auffassung verneint dies, vereinzelt wird die Frage bejaht44. 41 Die Alliierten wollten bei der Entstehung des Grundgesetztes weiterreichende Inkompatibilitätsvorschriften durchsetzen, die jetzige Fassung ist ein Kompromiß; dazu Gertrude Lübbe-Wolff, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 3, 2000, Art. 137 Rn. 2 m. w. N.; Dimitris Tsatsos, Die parlamentarische Betätigung von öffentlichen Bediensteten, und ders., Unvereinbarkeit zwischen Bundestagsmandat und anderen Funktionen, in: HansPeter Schneider / Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, § 23 Rn. 13. 42 Umfassend Wiese (Fn. 4), S. 200 ff.; Klaus Schlaich, Wählbarkeitsbeschränkungen für Beamte nach Art. 137 Abs. 1 GG und die Verantwortung des Gesetzgebers für die Zusammensetzung der Parlamente, AöR 105 (1980), S. 188; Tsatsos (Fn. 41), § 23; Lübbe-Wolff (Fn. 41), Rn. 7 ff. m. w. N. 43 Konsequent für eine Verfassungsänderung v. Arnim (Fn. 6), S. 152 f. 44 Herrschende Auffassung; anderer Meinung z. B. Klaus Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, S. 376 f. m. w. N.; v. Arnim (Fn. 3), S. 54; ders., (Fn. 6), S. 151 f.

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4. Verbesserung der Stellenausschreibung, Einschaltung unabhängiger Kommissionen bei der Ernennung Ein naheliegender und häufig gemachter Vorschlag ist es, in den Stellenausschreibungen die Anforderungsprofile zu präzisieren45 oder unabhängige Kommissionen in die Ernennung einzuschalten46. Dieses Feld bietet die Möglichkeit zu praktischen, wenn auch letztlich begrenzten Fortschritten. 5. Direktdemokratische Personalauswahl Hans-Herbert von Arnim hält letztlich als Gegengewicht zur Ämterpatronage nur die Aktivierung des Volkes für geeignet; er schlägt deshalb die Direktwahl bestimmter Amtsinhaber und die Stärkung des Einflusses der Bürger auf die Kandidatenlisten vor47. Dieser Vorschlag ist typisch für eine umweghaft vorgehende, auf vermittelte Wirkungen zielende Strategie, die breit ansetzt, damit aber auch auf einer breiten Front Einwänden und Abwehr ausgesetzt ist. 6. Ausbau der Konkurrentenklage Auf einen Ausbau der Konkurrentenklage wird immer wieder Hoffnung gesetzt. Dies ist im Ansatz durchaus zutreffend, denn eine dogmatisch gut ausgebaute Konkurrentenklage gäbe denen eine effektive Möglichkeit, die von der Ämterpatronage unmittelbar betroffen sind und die einen klaren Grund haben, sich zu wehren. Generell ist für die Rechtsdurchsetzung nichts besser, als wenn die direkt Benachteiligten eine klare prozessuale Chance haben. Die Dogmatik der Konkurrentenklage litt aber von Anfang an und zum Teil auch heute noch unter dem Grundsatz der Ämterstabilität. Nach ihm enden alle rechtlichen Möglichkeiten der Konkurrenten, selbst in das ausgeschriebene Amt zu gelangen, wenn einmal eine Ernennung stattgefunden hat. In letzter Zeit hat es neue Entwicklungen beim Konkurrentenstreit im öffentlichen Dienst gegeben. Es war aber eher eine Perfektionierung des bestehenden Systems statt einer grundsätzlichen Überprüfung48. Aber immerhin hat es in den letzten Jahren insofern Verbesserungen im Verfahren gegeben, als Erwin Scheuch, Die Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes, VR 1992, S. 55 ff. Umfassend zu den unterschiedlichen Einstellungsmodellen Matthias Niedobitek, in: Siegfried Magiera / Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäische Gemeinschaft, 1994, S. 33, und Heinrich Siedentopf, Zugang, Auswahl und Einstellung im öffentlichen Dienst der EG-Mitgliedsstaaten, ebd., S. 821. Zu den Ernennungs- und Auswahlverfahren mit Vorschlägen auch Wichmann (Fn. 23), S. 146 ff., 163 ff., 180 ff. 47 v. Arnim (Fn. 6), S. 155. 48 Zum Stand der dogmatischen Entwicklung jüngst Jörg Gundel, Neue Entwicklungen beim Konkurrentenstreit im öffentlichen Dienst: Perfektionierung des bestehenden Systems statt grundsätzlicher Überprüfung, Die Verwaltung 37 (2004), S. 401 ff. m. w. N. 45 46

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nämlich die Bewerber rechtzeitig erfahren, wer ausgewählt worden ist. So haben sie die reale Möglichkeit, rechtzeitig in den einstweiligen Rechtsschutz zu gehen und ggf. zu verhindern, dass die Stelle schon besetzt wird. Gleichwohl darf die Bedeutung des rechtlichen Mittels der Konkurrentenklage gerade in Fällen der – behaupteten – Ämterpatronage nicht überschätzt werden. Anlaß zur Skepsis gibt ein außergewöhnlich gut dokumentierter Fall der Ämterpatronage auf hoher polischer Stufe, nämlich der kaum verschlüsselte, minutiös aus den Akten recherchierte und literarisch umgesetzte Fall „Finks Krieg“ von Martin Walser49, der im folgenden sehr kurz referiert sei. Der Leitende Ministerialrat Stefan Fink, SPD-Mitglied und Katholik, seit 18 Jahren in der Staatskanzlei des Landes Hessen zuständig für die Verbindung zu den Kirchen, wird Ende November 1988, einige Zeit nach dem Wechsel zur CDUgeführten Regierung unter Ministerpräsident Wallmann, vom Staatssekretär der Staatskanzlei zur Besprechung einbestellt, bei der ihm eröffnet wird: Der von Fink betreute Aufgabenbereich wird zum Jahreswechsel zur Abteilung höhergestuft, Abteilungsleiter wird aber nicht Fink, sondern Herr Moosbrugger. Dieser war bis dahin Fraktionsassistent und soll in einem gewaltigen Sprung zum Ministerialdirigenten bestellt werden und die höchste Position nach dem Staatssekretär einnehmen. Fink soll in eine andere Funktion in der Rechtsabteilung versetzt werden. Fink wehrt sich, und zwar mit einer – zunächst – erfolgreichen Strategie: Er bewirbt sich selbst um die neue Stelle als Abteilungsleiter, wird natürlich übergangen und erhebt im Eilverfahren eine Konkurrentenklage. Fink bekommt Recht, das Verwaltungsgericht verlangt, daß zwischen den Bewerbern um die neue Stelle ein fairer Wettbewerb stattfinden müsse. Der Staatssekretär verzichtet daraufhin auf den Plan, eine neue Abteilung einzurichten. Finks Aufgabenbereich bleibt bloßes Referat, allerdings wird Fink als Referent abgelöst. Eine Änderung des Organisationsplans bestimmt Moosbrugger als neuen Referenten. Fink muß seinen Platz räumen und die Akten übergeben. Nach einer zur gleichen Zeit von Fink losgetretenen politischen Kampagne gegen Moosbrugger muß dieser seine neue Stellung aufgeben und geht nach Thüringen, neuer Referent wird ein Mitarbeiter Moosbruggers. Fink verbleiben von seinem bisherigen Referat fünf Prozent der Arbeit: die Referate Protokoll, Orden und Lebenslängliche. Erneut geht Fink gegen diese „als Organisationsplanänderung aufgemachte Willkür“ in einem zweiten Eilverfahren vor und ist wiederum siegreich. Bis hierher handelt es sich um einen ganz „normalen“ Fall der Ämterpatronage mit der bemerkenswerten Variante, dass die erfolgreiche Beschwerde von Fink zu einem kleinen Sieg des Individuums über die Parteienbürokratie geführt hat. Nun 49 Ausführliche Interpretation von Rainer Wahl, Kann es Gesundheit und Leben kosten, in einem Rechtsstaat sein Recht zu wollen? Überlegungen zu Martin Walsers „Finks Krieg“, NJW 1999, S. 1920 ff. (auch in: Hermann Weber [Hrsg.], Reale und fiktive Kriminalfälle als Gegenstand der Literatur, 2003, S. 181 f.).

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aber kommt der entscheidende Zug des Staatssekretärs und hierin liegt das Exemplarische: Die Staatskanzlei geht nicht nur in die Beschwerde zum Verwaltungsgerichtshof Kassel, sondern sie hat die Mittel, das Konfliktfeld zu ihren Gunsten entscheidend zu verändern. Der Staatssekretär bringt nämlich eine kunstvoll verbogene und falsche Begründung vor: „Und der Staatssekretär erklärte, nicht zum ersten Mal, an Eides Statt, daß die Kirchen und Religionsgemeinschaften sich mündlich und telephonisch immer wieder über den Beamten Fink beklagt hätten, über seine fehlende Nähe zur Person des Ministerpräsidenten, über sein unzulängliches Wissen, seine mangelnde Kompetenz. ( . . . ) Auf Grund der eidesstattlichen Versicherung des Chefs der Staatskanzlei ging der Senat davon aus, daß von Kirchen und Religionsgemeinschaften erhebliche Bedenken gegen den Beamten Fink vorgebracht worden sein mußten. Das Verhältnis zu Kirchen und Religionsgemeinschaften, hieß es jetzt, sei belastet, ja, tiefgreifend gestört. Beschwerden nicht nur gelegentlich und beiläufig, sondern nachdrücklich und mit zunehmender Intensität. Aber da die Beschwerdeführer nicht in Diskussionen um die Amtsführung hineingezogen werden wollten, könne er, der Staatssekretär, keine Namen nennen und sei auch gehindert an einer Konkretisierung der Beschwerden.“

Mit dieser perfid falschen Begründung wird der Fall nun zur politisch hochbrisanten Affäre: Es geht jetzt um das Prestige der Staatskanzlei, also der höchsten Stelle, es geht zudem um das Verhältnis der Kirchenvertreter zur neuen Regierung. Natürlich haben sie sich nicht beschwert, aber sollen sie den expliziten Vertreter der Regierung im Regen stehen lassen? Der Staatssekretär hat mit nur ihm zugänglichen Mitteln hoch gespielt und sich in eine beweisrechtlich exzellente Lage gebracht. Der VGH sieht nämlich erwartungsgemäß bei den Kirchenvertretern „schon mit Rücksicht auf die uneingeschränkte Vertrauenswürdigkeit keinerlei Zweifel an der Stichhaltigkeit ihrer Vorwürfe.“ Die Kirchenvertreter tun noch ein übriges: Von Fink als Zeugen seiner Version aufgerufen, erklären sie, daß sie sich „wegen des laufenden Verwaltungsstreitverfahrens“ entschlossen hätten zu schweigen. Der Fall und die meisterhafte Darstellung von Martin Walser ist damit längst noch nicht am Ende: Es beginnt jetzt erst der Lauf Finks durch alle möglichen Verfahren, der zunächst so eindeutige Fall wird hochkompliziert. Fink verwendet seine gesamte ungeheuere Energie darauf, die verschiedenen Fäden der ganzen Causa in der Hand zu halten und bemerkt nicht, wie er langsam, aber sicher zum vollständigen Außenseiter und zur „Unperson“, so eine Titelüberschrift bei Walser, wird50. Der entscheidende Schachzug des Staatssekretärs, des Repräsentanten der hohen Politik und der Partei, ist, daß er durch seine falsche eidesstattliche Versicherung die Kirchen involviert und damit den Kreis der Beteiligten so ausgeweitet hat, daß nunmehr die Sache zu einer ausgewachsenen Staatsaffäre, zu einer Prestigefrage für die Regierung geworden ist. Die zunächst einfache Prozeßsituation der Konkurrentenklage ist verkompliziert worden. Die Akteure der Ämterpatronage verlieren 50 Dieser Kern des Romans und wohl auch der realen Handlung verdient die eingehende Lektüre.

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nicht einfach nach der Rechtslage, sondern sie können weitere politische Züge tun und das Kampffeld ausweiten, neue „Tatsachen“ erfinden, dem Fall eine andere Wendung geben. Dies ist symptomatisch. Das ganze Beziehungsgeflecht der hohen Politik wird aktiviert, der einzelne, der gegen die Ämterpatronage angeht, verliert sich leicht darin und kommt um seine Chancen. Aus „Finks Krieg“ ist zu lernen, daß ein Fall der Ämterpatronage rasch in weite Dimensionen hineinwachsen kann. In dem Augenblick, in dem sich der Betroffene wehrt und den Vorgang teilweise oder voll öffentlich macht, wird sichtbar, was ohnehin der Fall ist, daß nämlich Parteipatronage Teil eines viel größeren sozialen Zusammenhangs ist. Konkret bedeutet dies: Wenn es nach der verbotenen Einstellung Kritik und die Forderung nach Revision gibt, dann zeigt sich, daß es sich bei den Akteuren der Parteienpatronage meist um sehr mächtige Personen und Amtsträger handelt. Sie können den Fall auf ein anderes Feld spielen, sie können die Aufklärung erfolgreich verunklaren. Für den Beschwerdeführer und Kläger wird die Situation sehr ungemütlich und bedrückend. Wer hält schon das Trommelfeuer, das von allen Seiten auf den Kläger eindringt, aus? Dazu bedarf es des ganzen Muts von Fink und seiner Bereitschaft, zum totalen Außenseiter zu werden. „Finks Krieg“ lehrt, daß man es sich wirklich zwei- oder dreimal überlegen muß, ehe man gegen einen solchen Fall von Patronage zu Felde zieht. Fink jedenfalls hat durch eine Persönlichkeitsveränderung und durch Jahre eines verzehrenden Kampfes sehr teuer bezahlt. Der Fall Fink zeigt auch, warum es trotz der günstigen Rechtslage, trotz der Möglichkeit der Konkurrentenklage, so wenig reale Fälle und Erfolge bei politisch hoch angesiedelten Fällen der Ämterpatronage gibt. Fast alle potentiellen Kläger geben vorzeitig auf. Nach der Lektüre des Buches versteht man, warum.

IV. Alternativen in anderen Ländern 1. Das Beispiel des englischen civil service Eine Alternative zur deutschen Parteibuchverwaltung oder, um es differenzierter zu sagen: zur übermäßigen Ämterpatronage in einem demokratischen Staat bietet der civil service in England51. Die insgesamt viel bessere Staats- und Verwaltungspraxis in England ist dort auch nicht vom Himmel gefallen, sondern sie ist eine bewußte Alternative, nachdem es lange Jahrzehnte eine sehr hohe Parteipatronage 51 Zum immer wichtiger werdenden Vergleich in Europa und speziell zu England Siegfried Magiera / Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994; Danielle Bossaert / Christoph Demmke / Koen Monden / Robert Polet, Der öffentliche Dienst im Europa der Fünfzehn. Trends und neue Entwicklungen, 2001, S. 368 ff.; Wichmann (Fn. 23), S. 442 ff.; Wiese (Fn. 4), S. 254 ff.; Frederick F. Ridley, Ethos und Verantwortung im britischen Civil Service, in: Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Führungskräfte in der öffentlichen Verwaltung, 1989, S. 35 ff.

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gegeben hat. Der knappe Überblick über den englischen civil service folgt der Darstellung von Nevil Johnson52. Mangels eines speziellen und abgegrenzten Verfassungsrechts sind die Grundlagen des öffentlichen Dienstes im Vereinigten Königreich durch spezifische Gesetze und innere Vorschriften geregelt. Von den (Ende 1991) 2,1 Millionen Bediensteten in der Zentralregierung waren annähernd 550 000 im inneren und auswärtigen Dienst beschäftigt53. Nach der Begriffsbestimmung ist ein Staatsbediensteter (civil servant) ein Diener der Krone, der in einer zivilen Stellung arbeitet und nicht a) Inhaber eines politischen oder richterlichen Amtes oder b) Inhaber von gewissen anderen Ämtern mit speziellen Vorschriften oder c) Diener der Krone in höchstpersönlicher Eigenschaft ist54. Diese und andere Definitionen ziehen eine klare Linie zwischen Staatsbediensteten und anderen. Die anderen sind insbesondere Minister und Mitglieder des Parlaments, sie sind deutlich von der Kategorie der Staatsbediensteten ausgeschlossen. Dies wird von der anderen Seite her bekräftigt, indem das Mandat im Unterhaus mit einer Reihe von öffentlichen Ämtern, einschließlich einiger im Staatsdienst, für unvereinbar erklärt wird (Gesetz betreffend Unterhausinkompatibilitäten von 1975). Die starke Trennung von civil service und politischem Mandat wird durch die klare und zugleich harte Regelung abgesichert, daß Staatsbedienstete, die sich als Parlamentskandidaten aufstellen lassen wollen, zuerst den Dienst verlassen müssen, also das gesamte Risiko der Kandidatur tragen55. Johnson beschreibt im weiteren das System interner Vorschriften, die den Rahmen für die Einstellungen geben und in ihren Einzelheiten u. a. darauf hinauslaufen, durch das Genehmigungserfordernis durch Staatskommissare so strikt wie möglich gegen die mißbräuchliche Ausübung von politischer Patronage zu schützen. Dies geschieht im übrigen mit Augenmaß und Sinn für die Notwendigkeiten des Regierens: Für eine Reihe von politischen Beamten, nämlich für politische Berater, bedarf es dieser Genehmigung nicht. Aber diese Stellen sind dafür – und dies ist wichtig und systemgerecht – befristet56.

52 Nevil Johnson, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Großbritannien, in: Magiera / Siedentopf (Fn. 51), 1994, S. 343 ff. 53 Ende 1991 umfaßte der öffentliche Sektor 5,8 Mio. Beschäftigte. Unter der Überschrift Zentralregierung wurden 2,1 Mio. beschäftigt, darunter 297.000 bei den Streitkräften und 1,1 Mio. beim nationalen Gesundheitsdienst. Von den verbleibenden 788.000, die zur Zentralregierung gehören, waren annähernd 553.000 Staatsbedienstete im inneren und im auswärtigen Dienst. 54 Johnson (Fn. 52), S. 359. An dieser Definition ist von Anfang an wichtig, daß ein Staatsbediensteter nicht Inhaber eines politischen Amtes ist. 55 Johnson (Fn. 52), S. 360. Dies ist genau die Situation, die Art. 137 GG in der Interpretation des Bundesverfassungsgerichts und der Literatur dem deutschen Beamten, der sich für ein Abgeordnetenmandat bewerben will, ersparen will, s. oben III. 2. 56 Johnson (Fn. 52), S. 362 f.

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Ein offizielles Rundschreiben des Chefs des Staatsdienstes von 1985 / 87 bekräftigt die traditionelle und heute noch wirksame Doktrin, daß die Staatsbediensteten als Diener des Staates der jeweiligen Regierung zu dienen haben57. „Der Staatsdienst als solcher hat keine verfassungsrechtliche Persönlichkeit und Verantwortung, die von der der ordnungsgemäß gebildeten jeweiligen Regierung ablösbar wäre“58. Hier nun ist der entscheidende Unterschied zur deutschen Entwicklung abzulesen. Die Staatsbediensteten werden auch im Vereinigten Königreich als Staatsdiener, also als Diener des Staates, bezeichnet, aber – hier liegt der Unterschied im Denken – als Diener des Staates haben sie der jeweiligen Regierung zu dienen. In Deutschland war es noch in der Weimarer Zeit herrschende Auffassung, den Dienst am Staat gerade als Gegensatz zu der von den Parteien bestimmten Politik der Regierung zu sehen59. Es ist noch darauf zurückzukommen, daß man in Deutschland in Reaktion auf die Hypostasierung des öffentlichen Dienstes als des reinsten Vertreters des Allgemeinwohls im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit eine Gegenauffassung etabliert hat, die nun ihrerseits das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und im Ergebnis die Beamtenschaft stark parteipolitisiert hat. In England dagegen gibt es die bewundernswerte Nüchternheit, in der man den Dienst am Staat mit der Unterordnung unter die jeweilige Regierung zusammen denkt und, um dies zu können, den öffentlichen Dienst als neutral versteht und in zahlreichen Rechtsvorschriften auch so konstruiert. Ausdrücklich qualifiziert der oben erwähnte Vermerk den Staatsdienst als einen politisch neutralen Berufslaufbahndienst, der einem Kodex von Vorschriften und Maßregeln unterworfen ist. Staatsbedienstete sollen sich, ungeachtet ihrer parteipolitischen Ausrichtung, so verhalten, wie es das Vertrauen jeder Regierung verlangt. Die Regeln für die politische Tätigkeit60 von 1949 und 1984 unterteilen den öffentlichen Dienst in drei Gruppen: – Die „politisch freie“ Gruppe, hauptsächlich Arbeiter bzw. Industriebelegschaften, die sich uneingeschränkt an nationaler und kommunaler Politik beteiligen dürfen, jedoch auch den Inkompatibilitätsvorschriften unterworfen sind. – Die Mitglieder der „politisch beschränkten“ Gruppe, die im großen und ganzen auf den höheren Ebenen vorkommen und von politischer Betätigung auf nationaler Ebene ausgeschlossen sind, aber um Erlaubnis nachsuchen können, um sich in kommunalpolitischen Belangen zu engagieren. – Eine dazwischen liegende Gruppe, die alle umfaßt, die nicht zu den beiden anderen Gruppen gerechnet werden. Diese sind berechtigt, sich mit Erlaubnis poliJohnson (Fn. 52), S. 364, 365 f. Johnson (Fn. 52), S. 365, Auszug aus dem Memorandum. 59 Selbst im Ministerium hatte man in der Weimarer Lehre einen Gegensatz zwischen dem sozusagen einsamen politischen Minister an der Spitze und dem neutralen Haus, das allein dem selbstdefinierten Staatswohl verpflichtet war. 60 Johnson (Fn. 52), S. 367. 57 58

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tisch zu betätigen, jedoch nicht, die Wahl in das nationale oder das europäische Parlament anzustreben. Die zentralen Sätze seien wörtlich zitiert: „In der Realität bewerben sich sehr wenige Staatsbedienstete aus all diesen Gruppen um ein Wahlamt . . . Tatsächlich steht der permanente Staatsdienst vollständig außerhalb jeglichen parteipolitischen Engagements . . . Der britische Staatsdienst bleibt auch in der Gegenwart ein herausragendes Beispiel für eine öffentliche Verwaltung, die der politischen Neutralität und den Werten eines unparteilichen professionellen Dienstes verpflichtet ist“61. Für die Auswahl und Einstellung gibt es vor allem in den höheren Stufen immer Auswahlverfahren mit Wettbewerb62, abgesehen von Posten auf höchster Ebene, die häufig im Wege kurzfristiger Verträge besetzt werden. Zu den Einstellungen auf den höchsten Ebenen, die vom Premierminister auf Vorschlag des Chefs des Staatsdienstes vorgenommen werden, bemerkt Johnson: „Nichts deutet darauf hin, daß parteipolitische Erwägungen bei den Entscheidungen über die Einstellung in den höchsten Ämtern im Staatsdienst eine Rolle spielen, obwohl natürlich zu erwarten ist, daß ein Premierminister, der lange Zeit im Amt ist, seinen Einfluß auf die Ernennung der Personen, die die Spitze der Karriereleiter erreichen, geltend macht“63. Zusammenfassend zeichnet Johnson das folgende Bild der politischen Neutralität des britischen civil service64: „Eine scharfe Trennung zwischen den Bereichen der Politik einerseits und der Verwaltung und des Managements im öffentlichen Dienst ist für das Vereinigte Königreich kennzeichnend. Sie wird gestützt durch verschiedene gesetzliche Bestimmungen und interne Regelungen . . . Aber die politische Neutralität verdankt auch viel dem Fehlen all jener Vorschriften, die es dem Beamten erlauben würden, sich politisch zu betätigen, während sie noch einer öffentlichen Beschäftigung nachgehen65 . . . Politische Amtsinhaber – Minister oder kommunale Ratsmitglieder – üben darüber hinaus keine umfassende politische Patronage aus. Sie sind im allgemeinen durch Gesetz oder Konventionen daran gehindert, parteipolitische, ideologische oder rein persönliche Erwägungen in die Ernennungen für den öffentlichen Dienst einfließen zu lassen66. Zwar exiEbd., S. 367. Im einzelnen ebd., S. 368 ff., geschildert. 63 Ebd., S. 379. Im weiteren berichtet er von der Regierungszeit von M. Thatcher 1979 – 1990, in der es „einiges Gerede über die Politisierung der Ernennungen in die Spitzenstellen im Staatsdienst (gegeben habe). Für diese Kritik existieren jedoch keine ernsthaften Beweise.“ 64 Ebd., S. 408. 65 Ein weiteres Element ist, daß es im Vereinigten Königreich keine Entsprechung zum „Wahlbeamten“ gibt, wie er in unterschiedlicher Form z. B. in Deutschland und Frankreich bekannt ist. Nach Johnson würde man im UK den Begriff als in sich widersprüchlich betrachten. 66 Johnson (Fn. 52), S. 408 f., Fn. 118: „Es gibt viele Ernennungen außerhalb der ministeriellen Organisation der zentralen Regierung, die direkt durch die Minister oder durch den 61 62

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stiert eine kleine Anzahl rein ,politischer‘ Ernennungen, wie z. B. die politischen Berater beim Premierminister und bei anderen Ministern. Der Anwendungsbereich solcher Möglichkeiten ist jedoch sehr eng und schlägt kaum eine nennenswerte Bresche in das allgemein angewandte Prinzip der politischen Neutralität im öffentlichen Dienst.“ Die scharfe Trennung in Großbritannien zwischen dem Bereich der Politiker und den Beamten67 wird für notwendig gehalten, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Lauterkeit und Unparteilichkeit des öffentlichen Dienstes zu bewahren. Ein Schlaglicht auf das Selbstverständnis des britischen civil service wirft das Verhalten der obersten Beamten vor einer Unterhauswahl. Der Leiter des civil service informiert die beiden Spitzenkandidaten in einer inhaltsgleichen Auflistung darüber, welche Probleme der civil service für die nächsten Jahre für wichtig hält. Das Verfahren bringt zugleich die tragende Prämisse des Systems zum Ausdruck, daß die Richtungsentscheidungen natürlich von der politischen Spitze getroffen werden.

2. Der Sinn des Vergleichs Die Situationen in zwei Ländern, wie dem Vereinigten Königreich und Deutschland, sind die Ergebnisse von Entwicklungspfaden. Die Formel vom Entwicklungspfad ist dabei weit mehr als eine Redensart. Sie deutet viel mehr an, daß es im Recht und in den staatlichen Institutionen Entwicklungen gibt, die aus einem Grundverständnis heraus entstehen, die dann in der Konsequenz und Kontinuität der beibehaltenen Grundauffassung eine Eigenlogik und innere Kraft erhalten, die sie gegenüber Änderungsvorschlägen weithin resistent werden lassen. So wie die grundsätzliche Trennung von öffentlichem Dienst und Politik für das englische Regierungs- und Rechtssystem typisch ist, so ist es die Etablierung des Parteienstaats nach 1949 in der Bundesrepublik. So wenig wie die Engländer das deutsche Premierminister vorgenommen werden. Diese werden aus diesem Grund oft als ,Patronage‘ angesehen. In diesem Bereich spielen manchmal parteipolitische Sympathien bei der Auswahl der eingestellten Personen eine Rolle. Aber solche Ernennungen erfolgen zum großen Teil für rein beratende Funktionen und sind fest befristet.“ 67 Es ist zu betonen, daß die Trennung sich auf die Rollen und Rollenverständnisse bezieht, nicht auf Politik und Verwaltung als Aufgaben und Inhalte. Daß es an der Spitze der Verwaltung und nicht nur dort der Sache nach politische Verwaltung gibt und die dort tätigen Beamten politisch denken müssen, ist unbestritten. Hier geht es darum, ob die so definierte politische Verwaltung von Personen ausgeführt wird, die sich als Politiker verstehen, sich und ihre Karriere im politischen Umfeld einer Partei abstützen und nächstens vielleicht in ein politisches Amt wechseln, oder von Beamten, die in einer Beamtenkarriere auf ihren Posten gekommen sind und diesen oder einen anderen auch in Zukunft beibehalten werden. Auch in einer politischen Verwaltung kann man die Rollenverständnisse von Politikern und Beamten trennen: In Großbritannien gibt es keinen Ausgang aus der Verwaltung in die Politik, was allein schon den Unterschied der beiden Gruppen stabilisiert.

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System übernehmen werden, umgekehrt wird dies in Deutschland geschehen; das gleiche gilt für Alternativen in anderen Ländern. Der Vergleich beider Länder ist aber trotzdem nicht unnötig. Er hat zunächst den wichtigen Sinn aufzuweisen, wie weit Rechtslage und Praxis in den beiden Ländern voneinander entfernt sind. Die englische Trennung des politischen Bereichs von der Verwaltung, vom civil service wäre in Deutschland nur nach Änderung zahlreicher Elemente und nach einem grundsätzlichen Wechsel möglich. Wichtig ist dann im weiteren, daß gegenüber der verbreiteten Selbstverständlichkeit, mit der die deutsche Parteipolitisierung wahr- und hingenommen wird, eine realisierte Alternative sichtbar wird. Die Botschaft des Vergleichs ist klar. Die Trennung von politischem Bereich und Verwaltung (civil service) ist möglich. Neutralität der Beamtenschaft ist möglich, ohne daß damit die Ideologie verbunden sein müßte, daß sich die Beamtenschaft an der Regierung und der Politik vorbei auf ein von ihr selbst definiertes Ganzes beziehen könnte. Dies ist durchaus eine – produktive – Herausforderung für das deutsche Denken und seine Selbstverständlichkeiten. Diese nützliche Provokation könnte, wenn sie wirkte, einen Diskurs entstehen lassen, der zu einem Umdenken und zu einem Weiterdenken auf einen dem englischen Modell vergleichbaren, in vielen Einzelheiten aber eigenen Weg führen würde. V. Die bleibende Bedeutung der Neutralität des öffentlichen Dienstes Der Vergleich mit England zeigt jedenfalls: Es gilt nicht die Gleichung: Demokratie = hohe Ämterpatronage. Es gibt auch Demokratien, die das Ziel eines neutralen öffentlichen Dienstes bewußt verfolgen und beträchtlichen Erfolg dabei haben. Wenn auch in Deutschland entscheidende Änderungen nicht zu erwarten sind, so gilt es gleichwohl den Sinn eines neutralen öffentlichen Dienstes zu betonen und bewußt zu halten. Dies ist umso mehr nötig, weil das Konzept der Neutralität des öffentlichen Dienstes von den – auf beiden Seiten auch ideologischen – Kämpfen der Weimarer Zeit belastet ist. Das Prinzip der Neutralität des öffentlichen Dienstes in der Demokratie muß in Deutschland neu verstanden und neu buchstabiert werden. Man muß sich dabei von den ideologischen Vorzeichen von rechts und links befreien, sowohl vom konservativen Mythos des Staates über den Parteien als auch von der sozialdemokratischen Antithese einer Verherrlichung der Parteien. Dazu hier nur im Eiltempo vom Kaiserreich bis zur Gegenwart, nicht in der Absicht, einen historischen Entwicklungsabriß zu geben, sondern um die Abfolge von Positionen und Gegenpositionen, von Kritik und Antikritik, von zunächst berechtigter Kritik und darauf folgender Vereinseitigungen deutlich zu machen. (1) Die Beamtenschaft im Kaiserreich war leistungsfähig. Es gab – natürlich – keinen Parteienstaat, weil die Rolle der Parteien in der Monarchie zweit- oder 9 von Arnim

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nachrangig war. Weil in der Monarchie die Exekutive zum „Hausgut“ der Monarchie gehörte, waren die Beamten auf die jeweilige Majestät verpflichtet. Sie hatten deshalb konservativ zu sein, wenn der Monarch konservativ dachte – was meistens der Fall war –, sie hatten liberal zu sein, wenn der Fürst oder die Regierung – ausnahmsweise – liberal war68. Angesichts der schwachen Rolle der Parteien im Herrschaftssystem konnte es keine Ämterpatronage durch Parteien geben. Was es natürlich gab, war Herrschaftspatronage zugunsten derer, die konservativ, kaiser- und königstreu waren. Gegenüber den nicht-konservativen Parteien war die Beamtenschaft neutral oder besser gesagt: abweisend. Gegenüber der Monarchie waren sie natürlich nicht neutral, sondern – dies war völlig systemkonform – positiv loyal. Und weil der Staat in der Monarchie getrennt gegenüber den Parteien gedacht war, hatte die Beamtenschaft Distanz gegenüber den Parteien. Die Beamten verkörperten ihrem Selbstverständnis nach selbst den Staat, das Ganze. (2) Waren die Beamten im Kaiserreich monarchie-loyal, dienten sie ihrem Selbstverständnis nach im Monarchen dem Staat, also dem Ganzen, und waren sie deshalb auch systemkonform abweisend gegenüber den meisten Parteien, so wurde das zugrundeliegende Staatsbild und die spezifische (gegen die Parteien und die von ihnen getragene Regierung gerichtete) Neutralitätsvorstellung zu einem falschen Leitbild unter den neuen staatsrechtlichen Bedingungen. Als die vielen Gegner der Weimarer Republik (man müßte richtiger sagen, die vielen Staatsfeinde der Weimarer Republik) das frühere Beamtentum und das Kaiserreich zu einem Ideal hochstilisierten, war dies ein Leitbild, das jetzt falsch war. Es kam die Vorstellung vom Beamten als dem Vertreter des eigentlichen Staates im Unterschied zu den Parteien als den Vertretern von Partikularinteressen auf. Vordergründig kam diesem jetzt rückwärtsgewandten Leitbild eine Bestimmung der Weimarer Verfassung zu Hilfe, die einzige, die die Parteien erwähnt, nämlich Art. 130 WRV, nach dem die Beamten Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei zu sein hatten. Diese Norm ist durchaus richtig und auch einer Demokratie angemessen. Dieser Satz wird auch, wie oben dargelegt, für den englischen civil service angewendet. Nur dient er im Vereinigten Königreich nicht als Trittbrett, um im nächsten Schritt den Beamten als den eigentlichen Vertreter des Staates eine Autonomie gegenüber der Regierung, die von Parteien getragen ist, zu attestieren, sondern der englische civil service dient dem Staat, indem er der jeweiligen Regierung loyal dient. In Weimar wurde dagegen der Satz, daß Beamte Staatsdiener sind, als Sprungbrett benutzt zur Herabwürdigung der Parteien auf der einen Seite und zur Hochstilisierung der Beamten als über dem politischen Gezänk stehende Vertreter der Allgemeinheit auf der anderen Seite. Der Staat wurde gegen die Parteien, den Bereich der Politik und gegen die Partei-Regierung ausgespielt. Mit den Beamten hatte man eine Gruppe, der man zusprach, daß sie den Staat und das Allgemein68 Wiese (Fn. 4), S. 179 wendet sich ausdrücklich gegen die „Legende“ von der parteipolitischen Neutralität des Beamtentums vor 1918; statt dessen habe der Grundsatz parteipolitischer Gebundenheit geherrscht (ebd., S. 185).

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wohl verkörperten, die Beamten erreichten in dieser Sicht eine Position über der Politik69. (3) Es war kein Wunder, daß Anhänger der Weimarer Republik, es waren bekanntlich nicht so viele, dieses nachträglich stilisierte Beamtenideal angriffen. Sie schufen sich eine Plattform für ihre Kritik mit dem Ausspruch, daß die Neutralität die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates sei oder gewesen sei. In diesem Zusammenhang galt dann Neutralität als überholt, so etwas gebe es gar nicht. Stattdessen wurden Politik und Beamtenschaft sehr nahe aneinandergerückt. Die Beamten wurden zu parteipolitischem Engagement aufgerufen, Demokratie schien Parteigänger als Beamte zu fordern. Der klassische Text zu dieser Antikritik in Weimar sind die Darlegungen von Gustav Radbruch im Handbuch des Staatsrechts70. Er ist so prägnant, daß wichtige Passagen wörtlich zitiert werden sollen. Radbruch wendet sich zunächst dem schon erwähnten Art. 130 WRV zu: „Der Art. 130 RV, der einzige Artikel, welcher überhaupt das Wort ,Partei‘ ausspricht, gedenkt ihrer çharakteristischerweise nur mit einer negativen Geste sprödester Abwehr‘71. Diese Ignorierung der Parteien in der Reichsverfassung hat ihre Wurzel weniger in der Ideologie der Demokratie als in der überkommenen und auch im neuen Staat folgenwidrig festgehaltenen Ideologie des Obrigkeitsstaates. Der Obrigkeitsstaat, dessen Regierung sich nicht auf die parteipolitische Mehrheit des Parlaments stützte, hatte zu seiner notwendigen Grundlage den ideologischen Glauben an die Möglichkeit eines Standpunkts über den Parteien: Das Vaterland über der Partei. Die Überparteilichkeit der Regierung war geradezu die Legende, die Lebenslüge des Obrigkeitsstaates. Von diesem Standpunkt aus erschien ihm der Parteikampf als ein überflüssiger ,Hader der Parteien‘, als ein sachlich arbeitsschädliches Gezänk, als Äußerung eines Parteigeistes, der aus mangelnder Einsicht und bösen Willen zusammengesetzt ist72. Die Parteien erschienen von hier aus als etwas, das nicht sein sollte. Freilich war die vermeintlich oder vorgeblich überparteiische Regierung des Obrigkeitsstaates in Wahrheit nur eine kryptoparteiliche Regierung, von der echten Parteiregierung nur dadurch unterschieden, daß ihre parteipolitischen Stützpunkte nicht sichtbar vor den Augen der Öffentlichkeit lagen, sondern Gegenstand einer innerpolitischen Geheimdiplo69 Klassische Formulierung der Auffassung – auch in ihrer ganzen Einseitigkeit – bei Arnold Köttgen, Die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts und die Bedeutung des Beamtentums im Staat der Gegenwart, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1932, § 61, S. 1 ff.; ders., Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie, 1928. 70 Gustav Radbruch, Die politischen Parteien im System des deutschen Verfassungsrechts, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, 1930, § 25, S. 285 und S. 289. 71 Radbruch zitiert hier Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, 1922, S. 64 ff. 72 Eingangs dieses Abschnitts hatte Radbruch, ebd. S. 288, festgestellt: „Die Partei ist bis auf den heutigen Tag die partie honteuse unseres Staatsrechts geblieben, und der Wahlspruch aller Prüderie: ,Man darf es nicht vor keuschen Ohren nennen, was keusche Herzen nicht entbehren können‘ – gilt auch für sie.“

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matie waren. Der vermeintliche oder vorgebliche Standpunkt ,über den Parteien‘ war in Wahrheit nur einer unter anderen Parteistandpunkten, von anderen nur dadurch unterschieden, daß er sich für den einzig möglichen, alle anderen Standpunkte aber für böswillig und töricht hielt.“ Dies ist in aller Kürze eine treffende Kritik an der in der Weimarer Zeit aufgekommenen konservativen Legende. Was aber setzt Radbruch nun dem entgegen? Der obrigkeitsstaatlichen Auffassung hält Radbruch in der Demokratie den Relativismus entgegen, daß es beweisbare und unwiderlegbare Richtigkeit im Bereich der politischen Grundanschauung nicht gibt: „Die Lehre vom Standpunkt über den Parteien, die eine ideelle Lebensbedingung des Obrigkeitsstaates war, bedeutet deshalb im Rahmen der volksstaatlichen Ideologie einen Widerspruch und eine Gefahr. Der Verekelung des Parteilebens von der Höhe eines angeblich überparteilichen Standpunkts aus muß im Volksstaate die umgekehrte Überzeugung gegenübertreten, daß, wenn Wahlrecht Wahlpflicht ist, es Bürgerpflicht ist, sich zu einer Partei zu bekennen, denn das heißt: seine Wahl im Einzelfalle aus einer Überlegung und dauernden Überzeugung und nicht aus Augenblicksstimmung zu schöpfen. Dann aber muß auch das Versteckspiel des Staatsrechts gegenüber den Parteien aufgegeben, das ,noch immer verschämte Verhältnis der Reichsverfassung zur Partei‘ (Wittmayer) in ein eingeständlich offenes verwandelt werden.“ Radbruchs Auffassung ist eine typische Gegen- und Antiposition und deshalb – dies ist nicht überraschend – überpointiert und falsch. Die Pflicht, sich in einer Partei zu betätigen, läßt sich zum Beispiel aus dem demokratischen Prinzip nicht ableiten. Auch wenn sich Radbruch an dieser Stelle nicht über die Stellung des Berufsbeamtentums als solchem äußert73, sondern über die verfassungsrechtliche Stellung der Parteien, die in Weimar noch gar nicht anerkannt war, so wird gerade auch mit seinem geflügelten Wort über die Lebenslüge des Obrigkeitsstaats ex negativo ein Bild der Parteien und des Beamtentums gezeichnet, in dem für den Kerngedanken der Neutralität kein Platz war74. 73 Das tat im zweiten Band des Handbuchs Arnold Köttgen, Die Entwicklung des deutschen Beamtenrechts und die Bedeutung des Beamtentums im Staat der Gegenwart, in: Gerhard Anschütz / Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, 1932, § 61, S. 1 ff. (generell) und z. B. S. 10 mit der entgegengesetzten Intention: Köttgen redet vom monarchischen Staat, in dem die parteipolitische Neutralität für die Beamtenschaft eine Selbstverständlichkeit gewesen sei. „Zu Unrecht hat man diese parteipolitische Neutralität des Beamten bereits für den monarchischen Staat als leere Formel bezeichnet.“ Köttgen rekonstruiert die Beamtenschaft als Repräsentantin des Staates. Die Beamtenschaft hat in ihrer Neutralität einen direkten Zugang zum Gemeinwohl und zu dem, was dem Volk nützt. Nach dieser Auffassung umgeht die Beamtenschaft und Bürokratie die von der Partei getragenen Regierung vertretenen wechselnden politischen Auffassungen und bezieht sich direkt auf das Ganze. Köttgen, einer der maßgeblichen Staats- und Beamtenrechtler in den Anfangsjahren des Grundgesetzes, hat diese Auffassung in die Interpretation des Grundgesetzes hineingetragen. Vgl. auch die frühere Schrift von Arnold Köttgen, Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie, 1928 (dort S. 91 ff.: Beamtentum und parlamentarischer Staat: Der Grundsatz des Dualismus).

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(4) 1949 ging das Grundgesetz bekanntlich weiter und erkannte den Parteien den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution zu75. Es wurde auch die parteipolitische Betätigung der Beamten rechtlich klargestellt. Erneut erhob sich die Frage, ob sich die Neutralitätsforderung gegenüber den Beamten in die Demokratie einbauen läßt oder ob sie als ein Teil einer antidemokratischen Haltung verstanden und kritisiert werden muß. Dazu ist in aller Kürze zu sagen: Nach § 35 BRRG dient der Beamte dem ganzen Volk, nicht einer Partei. Wie in Weimar wird betont, daß der Beamte nicht der Partei dient. Der Gegensatz dazu heißt jetzt nicht mehr wie in Weimar, daß der Beamte dem Staat dient, sondern als Bezug wird jetzt das Volk genannt. Wiederum aber ist die Formulierung vermieden, die man in England finden würde, daß der Beamte der – jeweiligen – Regierung dient. Nach wie vor hätte eine solche Formel in Deutschland, wo dem Dienst an der Partei immer noch der Dienst am Ganzen gegenübergestellt wird, große Schwierigkeiten. Das in Deutschland häufig anzutreffende Verständnis schließt die Option in sich, daß sich die Beamten an der Regierung vorbei auf das „ganze Volk“ beziehen. Die Beamten und der öffentliche Dienst haben aber – alle historische Erfahrungen können dies belegen – nicht einen privilegierten oder exklusiven Zugang zum Gemeinwohl oder zum Willen des Volkes als Ganzem. In der Demokratie, die auf Pluralismus gegründet ist, ist das „Richtige“ relativ, es kann von Wahlperiode zu Wahlperiode oder von Regierung zu Regierung wechseln. Die Ziele, die die Beamten zu verwirklichen haben, wechseln ebenfalls mit den Regierungen. Um aber die Regierungspolitik glaubhaft und glaubwürdig durchführen zu können, muß der öffentliche Dienst selbst neutral sein und akzeptieren, daß die Rollen und Laufbahnen von Beamten und Politikern grundsätzlich getrennt sind. Das hier vertretene Neutralitätspostulat muß sich einem Einwand stellen, den Teile der Literatur76 erheben, die beträchtliche Anstrengungen unternehmen, ein 74 Vielleicht gab es in der konkreten Situation der Weimarer Republik mit einer großen Zahl republik- und demokratiefeindlicher Beamten realistischerweise auch keine andere Strategie, als zu versuchen, dieses feindliche Bollwerk Beamtenschaft durch Hineinschleusen von Parteigängern aufbrechen zu wollen. Natürlich ist es schwierig, eine sich neutral nennende, aber in Wahrheit der Republik weithin feindlich gegenüberstehende Beamtenschaft mit einem Appell an die echte Neutralität, also Loyalität zur jeweiligen Regierung überzeugen zu wollen. Bei den Überlegungen im Text geht es nicht um die Würdigung von und um Verständnis für die komplizierte Situation in der Weimarer Zeit, sondern allein darum, ob damals ein tragfähiges Konzept für eine die Rolle der Beamtenschaft in einer von Parteien getragenen Demokratie gefunden worden ist. 75 So die weithin akzeptierte Formulierung in BVerfGE 2, 1, 73 f.; 5, 85, 133, 188; 11, 239, 241; 20, 260, 264 usw.; „Faktoren des Verfassungslebens“ (BVerfGE 1, 208, 227), „integrierende Bestandteile des Verfassungsaufbaus“ (BVerfGE 1, 208, 225; 5, 85, 133; 9, 162, 165; 11, 239, 242; 13, 54, 81 f.) und § 1 Parteiengesetz: „Die Parteien sind ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung“. 76 Dazu Schuppert (Fn. 4), S. 653 ff., mit Nachweisen. Schuppert leitet seine Ausführungen zum Thema „öffentliche Verwaltung als – auch – politische Verwaltung“ wie folgt ein: „Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht uns nicht darum, dem Idealbild eines unpolitischen Fachbeamtentums das Zerrbild einer parteipolitischen Verwaltung mit Ämterpatronage

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zeitgemäßes Bild der Verwaltung zu zeichnen und alte Entgegensetzungen von unpolitischer Verwaltung und Politik überwinden wollen. Diese berechtigten Überlegungen stehen aber – richtig verstanden – dem Konzept der Neutralität überhaupt nicht entgegen. Richtig ist: Es gibt die politische Verwaltung, und es gibt viele Positionen in der Verwaltung, die ein politisches Verständnis der Beamten und ein politisches Denken voraussetzen. Dies alles widerspricht aber nicht der Trennung der Berufsrollen der Beamten und der der Politiker. Eine loyale Beamtenschaft vorausgesetzt, hindert nichts daran, daß dieselben Beamten mit einem ausgeprägten Verständnis für die politischen Implikationen ihres Handelns in der einen Legislaturperiode die politischen Ziele der einen Regierung und ihrer Parteien und in der nächsten diejenigen der anderen Regierung durchführen. Der entscheidende Unterschied liegt im Status, im Rollenverhalten, auch in den unterschiedlichen Umgebungen und Bezugsgruppen, in der sich entweder ein Politiker oder ein Beamter beruflich aufhält. Insofern ist es relevant und ein real wahrnehmbarer Unterschied, ob politisch relevantes Handeln von einem fremden Zielen „dienenden“ Beamten oder von einem zu eigener Gestaltung aufgerufenen Politiker durchgeführt wird. Die Vereinbarkeit des Neutralitätspostulats auch in Feldern der politischen Verwaltung zu belegen, muß nun nicht auf die gesamte Theoriegeschichte und die Soziologie zum öffentlichen Dienst erneut eingegangen werden. Hier bewährt sich der Vergleich mit Großbritannien. Beim Blick auf den dortigen civil service geht es nicht darum, ein anderes Modell zu übernehmen, sondern darum, eine Blockade im Denken aufzulösen: Es gibt eine politische Verwaltung, die effektiv und sensibel politische Gesichtspunkte beachtet und die gleichwohl von einem betont neutralen öffentlichen Dienst geführt wird. Der Kampf gegen die Ämterpatronage setzt ein gedankliches Konzept voraus, das das Leitbild der Neutralität rehabilitiert und es ausdrücklich als mit der Demokratie vereinbar erklärt. Praktisch folgen müßte einem solchen Konzept die Neuorganisation der Personalpolitik, die weithin gegenüber der Politik und den politischen Spitzenämtern abgeschirmt sein müßte. Daß zur Realisierung Verfassungsänderungen notwendig wären, darf kein Denkverbot auslösen. Stattdessen muß im Vergleich etwa mit Großbritannien und im Konzeptionellen das Denken in der Alternative des neutralisierten öffentlichen Dienstes freigemacht werden.

als legitimen Normalfall gegenüberzustellen, sondern es geht uns darum zu belegen, daß die öffentliche Verwaltung von ihrer Funktion her in weiten Bereichen politisch handeln und denken muß.“

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Ausgewählte Literatur von Arnim, Hans Herbert, Ämterpatronage durch politische Parteien. Ein verfassungsrechtlicher und staatspolitischer Diskussionsbeitrag, 1980 – Der Staat als Beute, 1993 – Parteien und Patronage, Personalverwaltung 1988, S. 21 ff. Benda, Ernst, Der Stabilitätsauftrag des öffentlichen Dienstes – eine Überforderung im Parteienstaat?, in: Gerhard Baum / Ernst Benda / Joseph Isensee (Hrsg.), Politische Parteien und öffentlicher Dienst, 1982, S. 29 ff. von Beyme, Klaus, Die politische Klasse im Parteienstaat, 1993 Bossaert, Danielle / Demmke, Christoph / Monden, Koen / Polet, Robert, Der öffentliche Dienst im Europa der Fünfzehn. Trends und neue Entwicklungen, 2001 Derlin, Hans-Ulrich, Verwaltung zwischen Berufsbeamtentum und Parteipolitik: Personalrekrutierung und Personalpatronage im öffentlichen Dienst, in: Haungs, Peter (Hrsg.), Herrschaft der Bürokratie? Politische Bildung 21 (1988), Heft 2, S. 57 ff. – Einstweiliger Ruhestand politischer Beamter des Bundes 1949 – 1983, DÖV 1984, S. 689 ff. Dyson, Kenneth, Die westdeutsche „Parteibuch“-Verwaltung, Die Verwaltung 12 (1979), S. 129 ff. – Party, State and Bureaucracy in Western Germany, Beverly Hills / London, 1997 Eschenburg, Theodor, Ämterpatronage, 1961 Haungs, Peter, Alte und neue Parteienkritik, Politische Studien, Sonderheft 4 / 1993, S. 20 ff. Hennis, Wilhelm, Auf dem Weg in den Parteienstaat, 1998 Isensee, Joseph, Der Parteienzugriff auf den öffentlichen Dienst – Normalzustand oder Alarmzeichen?, in: Baum, Gerhard / Benda, Ernst / Isensee, Josef (Hrsg.), Politische Parteien und öffentlicher Dienst, 1982, S. 52 ff. Johnson, Neville, Party Government und Parteienstaat: Vergleichende Überlegungen zur Rolle der politischen Parteien in Deutschland und Großbritannien, in: Rohe, Karl / Schmidt, Gustav / Pogge von Strandmann, Hartmut (Hrsg.), Deutschland – Großbritannien – Europa, 1992, S. 323 ff. – Das Recht des öffentlichen Dienstes in Großbritannien, in: Magiera, Siegfried / Siedentopf, Heinrich (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994, S. 343 ff. Kloepfer, Michael, Politische Klasse und Ämterpatronage, ZBR 2001, S. 189 ff. – Zur Veränderung von Verfassungsinstitutionen durch politische Parteien, in: Kloepfer, Michael / Merten, Detlef u. a. (Hrsg.), Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand. Seminar zum 70. Geburtstag von Karl August Bettermann, 1984 Lorig, Wolfgang H., Parteipolitik und öffentlicher Dienst – Personalrekrutierung und Personalpatronage in der öffentlichen Verwaltung, ZParl 1994, S. 94 ff.

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Mayntz, Renate / Derlien, Hans-Ulrich, Party Patronage and Politicization of the West German Administrative Elite 1970 – 1987, Governance 1989, S. 384, 400 ff. Merten, Detlef, Das Recht des öffentlichen Dienstes in Deutschland, in: Magiera, Siegfried / Siedentopf, Heinrich (Hrsg.), Das Recht des öffentlichen Dienstes in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft, 1994 Rüttgers, Jürgen, Dinosaurier der Demokratie. Wege aus Parteienkrise und Politikverdrossenheit, 1993 Schachtschneider, Karl Albrecht, Res publica res populi, 1994 Scheuch, Erwin / Cliquen, Ute, Klüngel und Karrieren, 1992 Scheuch, Erwin, Die Parteipolitisierung des öffentlichen Dienstes, VR 1992, S. 55 ff. Steinkemper, Bärbel, Klassische und politische Bürokraten in der Ministerialverwaltung der Bundesrepublik Deutschland. Eine Darstellung sozialstruktureller Merkmale unter dem Aspekt politischer Funktionen der Verwaltung, 1974 Steinkemper, Hans-Günter, Amtsträger im Grenzbereich zwischen Regierung und Verwaltung. Ein Beitrag zur Problematik der Institution des politischen Beamten in der Bundesrepublik Deutschland, 1980 Stolleis, Michael / Schäffer, Heinz / Rhinow, René A., Parteienstaatlichkeit – Krisensymptome des demokratischen Verfassungsstaates, VVDStRL 44, 1986 Thieme, Werner, Politische Beamte und Ministerialorganisation, DÖV 1968, S. 11 ff. Wassermann, Rudolf, Ämterpatronage durch politischen Parteien, NJW 1999, S. 2330 ff. Wichmann, Manfred, Parteipolitische Patronage. Vorschläge zur Beseitigung eines Verfassungsverstoßes im Bereich des öffentlichen Dienstes, 1986 – Parteipolitische Patronage. Vorschläge zur Beseitigung eines Verfassungsverstoßes im Bereich des öffentlichen Dienstes, ZBR 1988, S. 365 ff. Wiese, Walter, Der Staatsdienst in der Bundesrepublik Deutschland, 1972

Korruption und ihre Bekämpfung – Wo steht Deutschland? Von Johann Graf Lambsdorff und Mathias Nell1 I. Einleitung Seit geraumer Zeit bestehen Bestrebungen auf internationaler und nationaler Ebene, dem Übel Korruption verstärkt Einhalt zu gebieten. So verfügen Organisationen wie die OECD, UN oder die Weltbank über eigene Anti-Korruptions- oder Governance-Abteilungen. Transparency International steht seit seiner Gründung im Jahr 1995 in bereits über 85 Ländern Regierungen und Unternehmen beratend zur Seite. Doch wo steht Deutschland im Kampf gegen Korruption? Viele signifikante Erfolge konnten in Deutschland in den letzten Jahren erzielt werden – etwa eine Verschärfung der strafrechtlichen Bestimmungen gegen Bestechung, Bestechlichkeit sowie gegen unlauteren Wettbewerb. Auch die Umsetzung der OECD Konvention gegen Bestechung im internationalen Geschäftsverkehr und die Abschaffung der steuerlichen Absetzbarkeit von Bestechungszahlungen sowie die Verschärfung des Gesetzes zur Parteienfinanzierung waren Schritte in die richtige Richtung. Doch ist bei weitem noch nicht alles getan. So ist es zweifelsohne als rückständig anzusehen, dass Deutschland noch kein bundesweites Informationsfreiheitsgesetz erlassen hat. Auch der Schutz von Hinweisgebern ist hierzulande keineswegs ausreichend. Des Weiteren ist es notwendig, Unternehmen systematischer einzubeziehen, wobei hierzu derzeit die Einführung eines Korruptionsregisters und eines Unternehmensstrafrechts diskutiert werden. Dieser Beitrag ist wie folgt gegliedert: Zuerst wird die Notwendigkeit zur Korruptionsbekämpfung in Deutschland erörtert (Abschnitt 2). Anschließend erfolgt die Analyse der vier Instrumente: Informationsfreiheitsgesetz (Abschnitt 3), Korruptionsregister (Abschnitt 4), Unternehmensstrafrecht (Abschnitt 5) und Schutz von Hinweisgebern (Abschnitt 6). Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse (Abschnitt 7).

1 Prof. Dr. Johann Graf Lambsdorff ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftstheorie an der Universität Passau. E-mail: [email protected]. Diplom-Volkswirt Mathias Nell ist wissenschaftlicher Mitarbeiter. E-mail: [email protected].

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II. Kosten der Korruption in Deutschland Ein hohes Maß an Korruption ist nicht nur deswegen schädlich, weil das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik und Bürokratie erschüttert wird. Vielmehr geht Korruption mit ökonomischen Einbußen einher. Während früher darauf verwiesen wurde, dass bei exzessiver Bürokratie Korruption auch Vorteile beinhalten kann, wird diese Ansicht inzwischen kaum noch ernsthaft vertreten. Dies liegt insbesondere daran, dass übermäßige Bürokratie durch Bestechung nicht überwunden wird, sondern – im Gegenteil – Bestechung den Nährboden für Überregulierung bietet. Denn je unüberwindlicher das bürokratische Dickicht, desto unerlässlicher können korrupte Staatsangestellte ihre „Hilfe“ anbieten. So zeigten Kaufmann und Wei2, dass Manager in Ländern mit einem hohen Korruptionsniveau mehr Zeit für die Verhandlungen mit Bürokraten aufwenden müssen. Eine genauere Darstellung der Diskussion findet sich in Lambsdorff3 und in Aidt4. Das Argument von Korruption als „Schmiermittel“ wird daher so nicht länger vertreten. Die Schädlichkeit der Korruption ist nicht identisch mit der Höhe der bezahlten Bestechungsgelder. Diese stellen eine reine Umverteilung von Ressourcen dar. Ein Schaden entsteht vielmehr dadurch, dass wichtige Entscheidungen verzerrt werden. Projekte, die hohe Bestechungszahlungen versprechen, werden bevorzugt gegenüber solchen, die der Öffentlichkeit zu Gute kommen. Es sind nicht mehr die qualifizierten Unternehmer, die einen Auftrag erhalten und es sind nicht mehr die befähigten Bewerber, die einen Arbeitsplatz erhalten. Stattdessen kommen diejenigen zum Zuge, die die höchsten Bestechungsgelder bezahlen oder die besten Verbindungen besitzen. Öffentliche Investitionen leiden darunter, dass Kontrollmechanismen zur Qualitätssicherung mit Hilfe von Bestechung unterlaufen werden. Korrupte Beamte verlangsamen u.U. ihr Arbeitstempo, damit die Bezahlung von Beschleunigungsgeldern umso notwendiger wird. Hierdurch entstehen gesamtwirtschaftliche Schäden. Die Abwesenheit von Korruption hat einen signifikanten, positiven Einfluss auf die Produktivität.5 Wie in Abbildung 1 dargestellt, weist eine Regressionsgerade eine positive Steigung auf. Eine Verbesserung um einen Punkt im Corruption Perceptions Index (CPI) bewirkt eine Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts von ca. 4 Prozent. Dies bedeutet, dass das Inlandsprodukt in Deutschland aufgrund der ver2 Kaufmann / Wei (1999): Does „Grease Money“ Speed up the Wheels of Commerce?, NBER Working Paper 7093, Cambridge, Massachusetts. 3 Lambsdorff (2002): Corruption and Rent-Seeking, Public Choice 113 (1 / 2), S. 1 – 29. 4 Aidt (2003): Economic Analysis of Corruption: A Survey, The Economic Journal 113, S. 632 – 652. 5 Lambsdorff (2003): How Corruption Affects Productivity, Kyklos 56 (4), S. 457 – 474. Produktivität ist das Verhältnis von Output zu Input. Auf eine makroökonomische Ebene bezogen kann sie gemessen werden durch das Verhältnis von Bruttoinlandsprodukt zu Kapitalstock, wobei die letztgenannte Größe durch die aggregierten (und abgeschriebenen) Investitionen der Vergangenheit bestimmt wird.

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besserten Produktivität des Sachkapitals um 6 Prozent höher wäre, hätte Deutschland die gute Bewertung von Finnland im CPI.

Produktivität, gemessen durch das Verhältnis von BIP zu Kapitalstock, 2000 (bereinigt um pro-Kopf Kapitalstock)

Figur 2: Korruption und Produktivität 0.3

0.2

0.1

0

-0.1

-0.2 0

2

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10

Hohe Korruption Niedrige Korruption Korruptionsindex 2002

Abbildung 1: Korruption und Produktivität

Korruption und Nettokapitalimporte. Investoren bevorzugen korruptionsfreie Länder, da nur in diesen ihre Eigentumsrechte glaubwürdig vor willkürlicher Politik und der Verfolgung eigennütziger Interessen seitens der lokalen Elite geschützt werden können. Insofern ist ein negativer Zusammenhang zwischen Korruption und Nettokapitalimporten eines Landes zu vermuten. Ein negativer Einfluss der Korruption wurde im Rahmen von Querschnittsanalysen bereits für Direktinvestitionen und die Investitionsquote eines Landes nachgewiesen.6, 7, 8, 9 In Lambsdorff10 findet sich eine Untersuchung des Einflusses der Korruption auf die gesamten Nettokapitalimporte eines Landes. Dieser Zusammenhang wird in Abbildung 2 dargestellt. Diese Abbildung zeigt eine positiv verlaufende Regres-

6 Wei (2000): How Taxing is Corruption on International Investors, Review of Economics and Statistics 82(1), S. 1 – 11. 7 Mauro (1997): The Effects of Corruption on Growth, Investment, and Government Expenditure: A Cross-Country Analysis, Corruption and the Global Economy, Washington D.C., Institute for International Economics, S. 83 – 107. 8 Mauro (1995): Corruption and Growth, Quarterly Journal of Economics 110 (3), S. 681 – 712. 9 Campos / Lien / Pradhan (1999): The Impact of Corruption on Investment: Predictability Matters, World Development 27 (6), S. 1059 – 1067. 10 Lambsdorff (2003): How Corruption Affects Persistent Capital Flows, Economics of Governance 4(3). S. 229 – 244.

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sionsgerade. Eine Verbesserung im Korruptionsindex (d. h. eine Verringerung der Korruption) um einen Punkt führt dabei zu vermehrten jährlichen Kapitalzuflüssen i.H.v. ca. 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Für Deutschland bedeutet dies, dass ein Niveau im CPI von Finnland zusätzliche Nettokapitalzuflüsse (oder weniger Abflüsse) in Höhe von ca. 0,75 Prozent des Inlandsprodukts induzieren würde. Es besteht also eine Notwendigkeit, in Deutschland mit gezielten Maßnahmen gegen Korruption vorzugehen. Eine Vielzahl von Mitteln steht hierbei zur Verfügung.

Figur 1: Korruption und Kapitalzuflüsse

Jährliche Nettokapitalimporte, 1970-1995 (bereinigt um pro-Kopf Einkommen, Sparquote und Rohstoffvorkommen)

0.1 0.08

0.06

0.04 0.02

0

-0.02 0 2 Hohe Korruption

4

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8 10 Niedrige Korruption

Korruptionsindex 2002

Abbildung 2: Korruption und Kapitalzuflüsse

III. Informationsfreiheitsgesetz Deutschland ist einer der wenigen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, der noch kein bundesweites Informationsfreiheitsgesetz (IFG) erlassen hat. Zwar liegen Entwürfe vor, doch deren Umsetzung verläuft schleppend. Lediglich Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein haben auf Länderebene bereits ein IFG eingeführt, deren Einhaltung von den jeweiligen Landesbeauftragten für Datenschutz und Akteneinsicht kontrolliert wird. Ein IFG würde prinzipiell jedem Bürger – unabhängig von der persönlichen Betroffenheit – das Recht auf uneingeschränkte Einsicht in alle Unterlagen der öffentlichen Verwaltung einräumen. Eine Verweigerung der Einsichtnahme wäre nur in einem gesetzlich vorgeschriebenen Rahmen möglich – etwa wenn es sich um Informationen handelte, die dem Datenschutzgesetz unterliegen. Wichtig wäre auch die Verweigerung der Einsichtnahme bei laufenden Ausschreibungen, um einen

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fairen Wettbewerb zu gewährleisten. Ansonsten liegt ein grundsätzliches Recht auf Einsicht vor; dies bedeutet, dass nicht mehr der Bürger seinen Antrag auf Akteneinsicht begründen müsste, sondern vielmehr die jeweilige Behörde eine etwaige Ablehnung. Das Prinzip der „Amtsverschwiegenheit“ würde in ein Prinzip der Öffentlichkeit umgekehrt. Somit gerieten die Behörden zunehmend in die Bringschuld, Entscheidungen z. B. bei der öffentlichen Auftragsvergabe zu begründen. Erstrebenswert ist ein bundesweites IFG schon alleine deshalb, weil hierdurch ein Grundprinzip jeder demokratischen Gesellschaft manifestiert wird: das Recht auf umfassende Information. In einer funktionierenden Demokratie ist es z. B. wohl kaum zu verantworten, dass – wie gegenwärtig in Deutschland der Fall – zum Teil nicht einmal Angehörige des Bundestages Zugang zu Akten erhalten, die für ihre parlamentarischen Entscheidungen relevant wären. So konnte auch durch eine parlamentarische Anfrage bis heute nicht geklärt werden, ob Hermes-Bürgschaften durch die Howaldtswerke DeutscheWerft AG (HDW) dafür in Anspruch genommen wurden, dass Bestechungsgelder an den Schah von Persien für einen gescheiterten Verkauf von U-Booten umsonst bezahlt wurden.11 Im Kampf gegen Korruption eignet sich ein IFG grundsätzlich, weil es Transparenz und Verantwortlichkeit in der öffentlichen Verwaltung schafft und hierdurch deren Handlungsspielraum begrenzt. Als systematischer Ansatzpunkt der Korruptionsbekämpfung ist in den letzten Jahren eine Transaktionskostenanalyse in den Mittelpunkt gerückt. Diese beruht auf dem Ansatz, dass Korruption ein mühseliges und risikoreiches Geschäft ist.12 Transaktionskosten sind Kosten, die im Zuge der Kontraktanbahnung (Such- und Verhandlungskosten), der Vertragsdurchsetzung sowie der Nachwirkungen von korrupten Verträgen, die auch das Risiko der Entlarvung umfassen, entstehen. Korrupte Akteure, sowohl auf der Nehmer- als auch auf der Geberseite, können ihre Bereitschaft zu illegalem Handeln nicht offen preisgeben, sondern müssen diese verschleiern. Sie müssen sich im „Schatten der Öffentlichkeit“ bewegen, um nicht Gefahr zu laufen, entdeckt und sanktioniert zu werden. Zudem können sie sich nicht auf Mechanismen der Vertragserfüllung verlassen, die einem rechtmäßigen Kontrakt zur Disposition stünden – wie etwa das Urteil eines Gerichts, wenn eine Seite ihren Teil der Abmachung nicht erfüllen sollte. In Deutschland nämlich gelten z. B. gemäß § 138 BGB korrupte Verträge als sittenwidrig und demnach als nichtig. Eine weitere Besonderheit einer korrupten Vertragsbeziehung besteht darin, dass diese nicht mit der beidseitigen Erfüllung des Kontrakts beendet wird. Denn beide 11 Lambsdorff (2002): Making Corrupt Deals – Contracting in the Shadow of Law, Journal of Economic Behavior and Organization, XLVIII (3), S. 221 – 241 (S. 229 – 230). 12 Idem sowie Lambsdorff (1999): Korruption als mühseliges Geschäft – eine Transaktionskostenanalyse, in Pieth / Eigen (Hrsg.): Korruption im internationalen Geschäftsverkehr. Bestandsaufnahme, Bekämpfung, Prävention, Basel / Frankfurt am Main, Luchterhand, S. 56 – 88.

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„Partner“ begeben sich in ein Abhängigkeitsverhältnis und werden potentiell erpressbar. So könnte z. B. ein Unternehmen der Amtsperson mit Denunzierung drohen, wenn gewisse Vorteile – etwa Steuerbefreiung oder bevorzugte Behandlung bei öffentlichen Aufträgen – nicht auch in der Zukunft gewährt würden. Natürlich könnte der Amtsträger ebenso reagieren. Doch liegt hier zumeist eine Asymmetrie in der Bestrafung vor, da der Amtsinhaber seine Lebensgrundlage, d. h. seine Anstellung im öffentlichen Dienst, verlieren würde. Die Unternehmung hingegen müsste zum derzeitigen Stand lediglich mit einer Geldstrafe rechnen. Diese jeder korrupten Beziehung zugrunde liegenden Unsicherheiten verlangen deshalb oft ausgeklügelte Verschleierungstaktiken und Schutzmechanismen, die ihrerseits die Transaktionskosten steigen lassen. Würden diese Kosten prohibitiv hoch, so bräche das Korruptionsgeschäft zusammen. Demzufolge ist ein wichtiger Ansatzpunkt im Kampf gegen Korruption, Maßnahmen zu wählen, die die Transaktionskosten ansteigen lassen. Das IFG ist eine derartige Maßnahme. Denn durch ein solches können und werden öffentliche Ämter – und indirekt dadurch auch die mit diesen in Beziehung stehenden Wirtschaftssubjekte – einer häufigeren und genaueren Prüfung von außen unterzogen. Komplexere Verschleierungstaktiken und –mechanismen wären erforderlich. Eine besondere Rolle in der Nutzung der Möglichkeiten eines IFG – und somit der Eindämmung von Korruption – kommt den Medien zu. Brunetti und Weder13 belegen, dass in Ländern mit einer freien Presse Korruption geringere Ausmaße annimmt. Ein bundesweites IFG würde die Position der deutschen Medien stärken, da diese Originalakten einsehen könnten, der Wert der erhaltenen Information weit über die mündlichen Aussagen von offiziellen Pressestellen hinaus ginge und somit gründlichere und umfassendere Recherchen möglich wären. Ämter würden stärker kontrolliert und kämen bei Ungereimtheiten, etwa im Zuge öffentlicher Ausschreibungen, verstärkt in Erklärungsnot. Übereinstimmend mit den oben angeführten Punkten wäre daher in Deutschland eine rasche Einführung eines bundesweiten IFG wünschenswert. Wie die Erfahrungen der vier Bundesländer zeigen, sind die Bedenken, dass durch ein IFG die Behörden überfordert würden, unbegründet. IV. Korruptionsregister Transparency International – Deutsches Chapter e.V. sowie zahlreiche Vertreter aus Politik und Wirtschaft fordern bereits seit langem die bundesweite, einheitliche Einsetzung eines Korruptionsregisters, eines bei den Gebietskörperschaften geführten, öffentlichen Verzeichnisses von deutschen und ausländischen Unternehmen, 13 Brunetti / Weder (1998): A Free Press is Bad News for Corruption, Wirtschaftswissenschaftliches Zentrum der Universität Basel Discussion Paper No. 9809.

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die wegen Korruption auffällig geworden sind und deswegen auf Zeit von der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossen werden. Erst kürzlich wurde die Debatte über ein bundesweites Korruptionsregister von Wirtschaftsminister Clement wieder ins Leben gerufen.14 Einige Vorstöße zur bundesweiten Einführung scheiterten bislang jedoch an rechtsstaatlichen Bedenken, da Unternehmen bereits aufgrund eines hinreichenden Tatverdachts auf die Liste gesetzt werden sollten. Kritiker befürchteten, dass hierdurch der Willkür Tür und Tor offen stünden. Sie forderten deshalb, dass einer Erfassung im Register ein rechtskräftiges Urteil vorangehen müsse. Jene rechtsstaatlichen Bedenken verdienen Beachtung, können hier im Rahmen einer ökonomischen Analyse jedoch nicht weiter vertieft werden. Ein Korruptionsregister ist teilweise ökonomisch sinnvoll. Private Firmen erlauben und fördern oftmals die Bestechungsaktivitäten ihrer Mitarbeiter, denn die Firmen erhalten hierdurch lukrative Aufträge. So werden schwarze Konten geduldet, Beförderungen versprochen oder ein Bonus für die erfolgreiche Akquisition bezahlt, unabhängig davon, wie diese erfolgte. Um dies zu verhindern, müssen die Firmen selbst mit Strafe bedroht sein, nicht nur die jeweiligen Mitarbeiter. Wird ein bestechendes Unternehmen erfasst und von laufenden und zukünftigen öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen, so entsteht diesem ein erheblicher finanzieller Schaden, der bis weit in die Zukunft wirken kann – von dem Schaden eines Imageverlustes ganz abgesehen. Einer Eintragung könnte auch der Verlust des Geschäfts mit anderen Unternehmen folgen. So kündigte etwa die Deutsche Bahn die Vertragsbeziehung mit der GP Papenburg Bau GmbH, nachdem bekannt wurde, dass Vertreter der GP Papenburg Bahn-Angestellte schmierten, um höhere Rechnungen ausstellen zu können.15 Infolgedessen wird ein Unternehmen zweimal darüber nachdenken, seine Mitarbeiter zu Bestechung anzustiften. Die Entscheidung zur Bezahlung eines Bestechungsgeldes folgt letztlich aus einem Kalkül der ökonomischen, individuellen Vorteilhaftigkeit. In einem solchen Kalkül wird die Höhe der möglichen Bestrafung antizipiert. Diese Strafe kann hierbei beträchtlich ausfallen. Wird ein Unternehmen in einem Register erfasst und somit von laufenden und zukünftigen öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen, so folgen hieraus beträchtliche finanzielle Einbußen. Das Korruptionsregister veranlasst demnach eine Bestrafung, die beachtlich über dem Wert des Auftrages, der auf korrupte Weise erworben wurde, liegen kann. Somit wird eine Kompensation nicht nur für den potentiellen oder tatsächlichen Schaden des derzeitigen Vergehens bewirkt, sondern vielmehr eine darüber hinausgehende Bestrafung. Ein Korruptionsregister wirkt also stark repressiv.

14 Süddeutsche Zeitung (2004): Deutschland im Kampf gegen die Bestechung: Wer schmiert, fliegt raus, Süddeutsche Zeitung, 16. November 2004. 15 Süddeutsche Zeitung (2004): Deutschland im Kampf gegen die Bestechung: Wer schmiert, fliegt raus, Süddeutsche Zeitung, 16. November 2004.

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Zu beachten ist aber, dass die Höhe der Strafe nicht alleine ausschlaggebend ist. Vielmehr muss sie in Zusammenhang mit der Entdeckungswahrscheinlichkeit gesehen werden. Die Entdeckungswahrscheinlichkeit ist aber zumeist gering, da die direkt Involvierten nicht geschädigt werden und keinen Anlass zur Anzeige haben. Stattdessen sind die Staatsanwaltschaften zumeist auf anonyme Hinweise von redlichen Mitarbeitern der betroffenen Firmen angewiesen.16 Konkurrierende Firmen, die durch die Bestechung einer Firma leer ausgingen, sind in der Vergangenheit kaum durch Strafanzeigen aufgetreten. Sie haben oftmals keine hinreichenden Beweise, sondern meistens nur Indizien und fürchten, von bestechlichen Vergabestellen in der Zukunft gar nicht mehr berücksichtigt zu werden. Hinweise kommen häufig stattdessen von den Mitarbeitern der bestechenden Firma, oft motiviert durch eine hohe Wertschätzung für Anstand und Recht. Hierbei erscheint es aber plausibel, dass durch ein Korruptionsregister die rechtstreuen Interesseninhaber dazu veranlasst werden, Stillschweigen zu bewahren – Korruptionsdelikte also nicht zu melden. Denn nur wenige werden an das Gemeinwohl denken, wenn der eigene Arbeitsplatz gefährdet ist und erhöhte Repressalien in ihrer Firma drohen. Wie sollte aber die Unternehmensleitung reagieren, wenn sie unverschuldet von den Bestechungszahlungen eines Mitarbeiters erfährt? Auch hier wäre die Staatsanwaltschaft auf deren Kooperation und Hinweise angewiesen. Dies wird aber unterbleiben, wenn der Bestechungsnachweis eine automatische Bestrafung nach sich zieht. Ein Korruptionsregister müsste daher mit einer Möglichkeit der strafmildernden Selbstanzeige für Unternehmen versehen werden. Ein Korruptionsregister kann eine doppelte Bestrafung – nämlich sowohl eines einzelnen Mitarbeiters als auch des Unternehmens – auslösen. Wie oben dargelegt, ist aber eine solch doppelte Bestrafung in jeweils vollem Ausmaß nur dann zweckmäßig, wenn die illegale Handlung von Vorteil sowohl für den einzelnen Mitarbeiter als auch für das Unternehmen war, also z. B. das Unternehmen dem Mitarbeiter einen Bonus zahlt oder einen besser dotierten Posten verspricht, wenn dieser einen Beamten besticht und somit einen öffentlichen Auftrag an Land zieht. Geschieht dies jedoch ohne das Wissen oder ohne Verschulden des Unternehmens oder wird der Mitarbeiter faktisch zur Bestechung gezwungen (z. B. indem ihm mit Kündigung gedroht wird), dann muss eine Strafmilderung für die jeweilige Partei vorliegen. Nur so würde es einem Korruptionsregister gelingen, den innerbetrieblichen Anreiz zur Meldung von Fehlverhalten an die Ermittlungsbehörden zu erhöhen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass ein realisierbares, d. h. durchsetzbares bundesweites Korruptionsregister kaum an Mindestanforderungen der Rechtsstaatlichkeit vorbeikommen würde. Konkret bedeutet dies, dass der Eintragung ein Rechtsspruch vorangehen müsste, um der Maxime in dubio pro reo gerecht zu werden. Dies impliziert jedoch zugleich, dass korrupte Akteure erstens mit erheblichen Ver16 Schaupensteiner (1998): Korruption: Der Appetit kommt beim Essen, Frankfurter Neue Presse, 14. April 1998.

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zögerungen rechnen und zweitens weiterhin – wie im Zivilrecht häufig anzutreffen – auf eine Einstellung des Verfahrens hoffen könnten. Neben solchen Einwänden bestehen begründete Zweifel, ob ein Korruptionsregister faktisch alle Unternehmen erfassen würde. So scheint es äußerst fraglich, ob große Unternehmen wie etwa Siemens oder Thyssen Krupp jemals erfasst würden. Denn welche Bundesregierung könnte es verantworten, tausende von Arbeitsplätzen zu gefährden und auf die Lieferung von teilweise unabdingbaren Vorleistungen zu verzichten? Vielmehr würde wohl ein Korruptionsregister nur kleinund mittelständische Betriebe treffen – eine Gleichstellung aller Unternehmen wäre nicht mehr gewährleistet. Bevorzugt würden hingegen solche Firmen, die sich nur einmalig um öffentliche Aufträge bewerben, da die Abschreckung dann völlig verpufft. Anstatt oder in Ergänzung zu einem Korruptionsregister könnten Vertragsstrafen bei öffentlichen Ausschreibungen vorgesehen werden. Bei nachgewiesener Bestechung müssten z. B. 10 Prozent der Auftragssumme als Vertragsstrafe bezahlt werden. Bei begründetem Tatverdacht müsste die Firma den genannten Betrag als Sicherheit hinterlegen. Die eigentliche Bezahlung der Strafe könnte dann an ein rechtskräftiges Urteil geknüpft werden. Solche Vertragsstrafen leiden nicht unter den oben genannten Mängeln eines Korruptionsregisters. Sie greifen schneller bei besserer Gewährleistung der Rechtswegegarantie. Sie können auch gegenüber großen Firmen durchgesetzt werden und bieten eine Abschreckung, die in einem ökonomisch sinnvollen Verhältnis zu dem möglichen Vorteil aus Bestechung steht. Ein Korruptionsregister, sofern es tatsächlich bundesweit eingeführt würde, sollte daher zumindest die strafmildernde Selbstanzeige vorsehen und die Bezahlung einer Vertragsstrafe als Ausstiegsoption. Alternativ könnte der Wirtschaftsminister auch ausschließlich die Idee einer Vertragsstrafe implementieren.

V. Unternehmensstrafrecht Das in Deutschland diskutierte Korruptionsregister ist nur eine der vielen Maßnahmen, die darauf abzielen, Unternehmen zunehmend in die Verantwortung zu nehmen. Vielfach geprüft wird auch die Etablierung eines Unternehmensstrafrechts. In einigen Ländern der Europäischen Union (Belgien, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Slowenien, Spanien . . . ) kommt bereits seit z.T. geraumer Zeit ein echtes Unternehmensstrafrecht bei Verfehlungen von Verbänden zum Tragen. Das bedeutet, dass juristische Personen etwa bei Betrug, Bestechung oder Geldwäsche strafrechtlich verfolgt und sanktioniert werden können. Was unter Nicht-Juristen plausibel und gerecht scheint, ist jedoch in juristischen Fachkreisen stark umstritten. So blieb bislang auch in Deutschland die Einsetzung eines echten Unternehmensstrafrechts zugunsten anderer Alternativen aus. Korrup10 von Arnim

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tionsdelikte werden in Deutschland nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG), im Speziellen nach § 30 OWiG (Geldbuße gegen juristische Personen und Personenvereinigungen), geahndet. Somit wird einer originären strafrechtlichen Haftbarkeit von Unternehmen bislang ausgewichen. Auf Dauer aber – so scheint es zumindest aufgrund der sich intensivierenden gesetzlichen Harmonisierung auf EU- und internationaler Ebene denkbar – wird auch Deutschland sich einem (zumindest europaweiten) echten Unternehmensstrafrecht nicht entziehen können. Zudem scheint es fraglich, ob Straftaten wie Korruption, die erhebliche Schäden für eine Volkswirtschaft verursachen, weiterhin bloß als Ordnungswidrigkeiten, d. h. ethisch neutrale Bagatelltaten, behandelt werden sollen.17 Zweck eines Unternehmensstrafrechts ist es – ähnlich dem eines Korruptionsregisters – Unternehmen im Ganzen und nicht nur deren Mitarbeiter zu sanktionieren: Tolerierung und Förderung von Korruption innerhalb einer Firma sollen bestraft werden. Firmen unterliegen auch einer geringeren Budgetrestriktion als Individuen. Somit können die volkswirtschaftlichen Schäden der Korruption besser kompensiert werden. Zudem soll durch ein Unternehmensstrafrecht ein z.T. anzutreffendes Gefangenendilemma gelöst werden. Dieses besteht darin, dass im Kollektiv für Unternehmen eine korruptionsfreie Geschäftswelt zwar besser wäre, doch das einzelne Unternehmen sich durch Korruption Vorteile gegenüber seinen Mitstreitern verschaffen kann. Somit kann „korrumpieren“ die bevorzugte Strategie für alle rationalen Unternehmungen sein. Zu suchen ist daher nach einer Maßnahme, die juristische Personen – und nicht bloß deren Mitarbeiter – dazu anhält, im Sinne des Gemeinwohls zu agieren. Es soll seitens der Unternehmen aus eigenem Interesse eine gesamtbetriebliche Kultur der Rechtsstaatlichkeit eingesetzt und gepflogen werden. Einem Unternehmensstrafrecht stehen eine Fülle möglicher Strafen zur Verfügung, die sich weit über monetäre Sanktionen hinaus erstrecken können – etwa eine „Unternehmenshaftstrafe“, d. h. eine Restriktion des geschäftlichen Handlungsspielraums durch Beschlagnahmung von physischen oder finanziellen Vermögenswerten. So könnte einer etwaigen Anreizproblematik eines Unternehmensstrafrechts, das ja ebenfalls das gesamte Unternehmen in die Verantwortung ziehen möchte, durch facettenreichere Sanktionen begegnet werden. Grob gefasst gibt es drei Varianten eines Unternehmensstrafrechtssystems.18 Gleich ist bei allen drei, dass eine Fiktion geschaffen wird, die es erlaubt, Unternehmen strafrechtlich sanktionsfähig zu machen. Der einen Ausprägung liegt die 1915 in Großbritannien begründete Identifikationstheorie zugrunde.19 Hierbei werden Straftaten dem Unternehmen zugehörig, wenn sie von einem leitenden Organ dessen begangen, delegiert oder wissentlich 17 Pieth (2001): Internationale Anstösse zur Einführung einer strafrechtlichen Unternehmenshaftung in der Schweiz, ZStrR 119 (2001), S. 12. 18 Heine (2000): Unternehmen, Strafrecht und europäische Entwicklungen, Gießen, 2000. 19 Idem.

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toleriert wurden. Das Unternehmen wird also gleichgesetzt mit dem directing mind20, d. h., dass sich ein Unternehmen mit jenen Personen identifizieren lassen muss, die für dieses verantwortlich tätig sind.21 Unterschiede liegen hierbei in der Interpretation, welche Personen das sind. Zumeist wird aber auf die Unternehmensführung und z.T. auf das mittlere Management abgestellt – ein potentieller Schwachpunkt jener Variante. Denn somit können zwar prinzipiell alle Straftaten erfasst werden, doch der Täterkreis und somit die Zurechenbarkeit von Straftaten an das Unternehmen ist stark eingeschränkt. Einer häufig dezentralen, flachen Unternehmensstruktur wird insofern nicht mehr Rechnung getragen. Der potentielle Täterkreis, der eine Unternehmenshaftung auslösen könnte, ist in diesem Modell also zu eng abgegrenzt. Gerade im Hinblick auf Korruptionsdelikte bei multinationalen Unternehmen scheint jenes Modell nur beschränkt geeignet, da Entscheidungen an den verschiedenen Standorten oft autonom getroffen werden. Das gesamte Unternehmen könnte sich dann leicht hinter dem Schutzschild der organisierten individuellen Unverantwortlichkeit verstecken. Zudem muss bei jener Variante eine natürliche Person als Täter festgemacht werden, was dem Strafrecht oft nicht gelingt, da Delikte das Ergebnis langjähriger prozessualer und personeller Fehlentwicklungen sein können, also oft nicht nur einer Person anzulasten sind. In einem zweiten Modell wird von der Feststellung einer natürlichen Person als Täter abgesehen und das Unternehmen in die Schuld gebracht, wenn der Täter aufgrund eines Organisationsmangels nicht festgestellt werden kann und / oder organisatorische (Kontroll-) Maßnahmen fehlen bzw. eine Unternehmenskultur vorliegt, die die Straftat ermöglichten oder tolerierten. Demnach tritt eine unternehmerische Sorgfaltspflichtverletzung in den Vordergrund. Diese Variante findet z. B. seit 2003 in der Schweiz Anwendung und wird in Österreich derzeit diskutiert. Problematisch ist bei diesem Ansatz, inwiefern sich eine Fehlerhaftigkeit der Organisation bzw. der Unternehmenskultur konkretisieren lässt. Ein Unternehmen könnte wohl jederzeit einen gut bezahlten „Frühstücksdirektor“ auserwählen, der die Verantwortung für ein Delikt übernimmt und somit dem Unternehmen aus der Patsche hilft.22 Erklärt dieser nämlich seine individuelle Schuld, so würde von einer Bestrafung des Unternehmens selbst abgesehen werden. Die freiwillige Übernahme der Schuld, die Tätigkeit als fall guy, kann auch tatsächlich teilweise beobachtet werden – im Austausch z. B. für die Bezahlung der Anwaltskosten, eine großzügige Versorgung der Familienangehörigen während der Haftzeit oder durch Bedrohung und Erpressung.

20 Pieth (2001): Internationale Anstösse zur Einführung einer strafrechtlichen Unternehmenshaftung in der Schweiz, ZStrR 119 (2001), S. 12. 21 Heine (2000): Unternehmen, Strafrecht und europäische Entwicklungen, Gießen, 2000. 22 Schellenberg Wittmer (2003): Neue Strafbarkeit von Unternehmen, Schellenberg Wittmer Newsletter November 2003, Zürich.

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Der ersten zwei Varianten inhärente Problematik der Zurechenbarkeit begegnet ein drittes Modell. Hier wird bei betrieblichen Vergehen, die das Wohl der Allgemeinheit betreffen (z. B. Arbeitsplatzsicherheit, Umweltdelikte, Terrorismus, Geldwäsche, Korruption) gänzlich darauf verzichtet, eine natürliche Person oder betriebliche Fehler festzumachen: Eine Straftat wurde begangen, das Unternehmen haftet automatisch. Dieses System scheint das effizienteste zu sein – zumindest aus Sicht der Legislative und der Judikative. Allerdings ist es rechtsstaatlich auch am kontroversesten. Hierdurch würde auch die Kooperation mit der Staatsanwaltschaft erschwert werden. Wie bereits im Fall des Korruptionsregisters dargelegt, hätte die Unternehmensleitung keinen Anreiz mehr, ein Fehlverhalten seiner Mitarbeiter den Strafverfolgungsbehörden zu melden. Stattdessen würden firmeninterne Hinweisgeber mit besonderer Härte von Kollegen und Vorgesetzten rechnen müssen. Anonyme Hinweise auf Fehlverhalten könnten daher abnehmen. In einem Vergleich der drei diskutierten Modelle scheint das zweite trotz seiner Probleme das zweckmäßigste. Es umgeht die Feststellung einer natürlichen Person und entlastet somit die Strafbehörden. Ein dieser Variante folgendes Strafrecht zwingt außerdem Unternehmen zur Einführung und Pflege von effektiven betriebsinternen Kontrollmechanismen. Window-dressing (z. B. ein schwammiger Mitarbeiter-Kodex über ethische Geschäftspraktiken) würde nicht ausreichen, um sich einer Strafe zu entziehen. Auch würde ein Unternehmen strafbar, wenn es Bestechungsaktivitäten erlaubt oder fördert – etwa durch die Führung von schwarzen Konten oder die Bezahlung von unredlichen Gratifikationen. Denn hierdurch schafft es eine Kriminalität begünstigende Unternehmenskultur. Frei nach dem Motto „Wer besticht steigt auf“. Allerdings bleibt hierbei unklar, inwiefern die Schuld des Unternehmens zweifelsfrei zu klären ist. Um der Sorgfaltspflicht formal Genüge zu tun, könnten Unternehmen dazu neigen, sich jährlich die Wohlverhaltensregeln von den Mitarbeitern unterschreiben zu lassen. Ethikschulungen würden verpflichtend eingeführt werden. Sofern sich ein Unternehmen in dieser Form von der Verantwortung „freikauft“, könnte es aber weiterhin informell zur Bezahlung von Bestechung anstiften. Die zweite Variante würde eventuell also eine Doppelmoral fördern. Dennoch bleibt jene Variante die effektivste, insbesondere wenn sie mit der Option für Straffreiheit oder –milderung bei Selbstanzeige versehen wird. Durch eine solche Option, die auch gerade für das strafrechtliche Verfahren gegen einzelne Mitarbeiter gelten muss, würde es wahrscheinlicher, dass eine Partei (Unternehmensleitung oder Mitarbeiter) ein Fehlverhalten an die Behörden meldet, um mit einer geringeren Strafe davonzukommen. Die (kriminelle) Beziehung zwischen Unternehmensführung und Mitarbeitern würde tendenziell destabilisiert, weil sich keine Seite mehr auf das Stillschweigen der anderen verlassen könnte. Durch ein abgestimmtes Verhalten könnten beide Parteien zwar die gesamte Bestrafung verringern. nun würde aber ein Anreiz entstehen, lieber den „eigenen Kopf aus der Schlinge“ zu ziehen. Die bei Variante drei drohende Verringerung der Entdeckungswahrscheinlichkeit würde hier also vermieden werden.

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In Abwägung der Vor- und Nachteile erscheint daher die zweite Variante überlegen. Dieser Vorteil wird umso deutlicher, je weniger Gerichte sich durch windowdressing täuschen lassen und je weniger sie „Opferlämmer“ und fall guys zur Reduktion der Unternehmensstrafe akzeptieren.

VI. Schutz von Hinweisgebern Deutschland sollte den Schutz von Informanten oder Hinweisgebern, so genannten whistle-blowers, ausweiten und festigen. Denn bisher existieren kaum rechtliche Grundlagen, die z. B. eine straf- oder arbeitsrechtliche Verfolgung von Informanten sinnvoll einschränken würden. Das in Art. 17 GG verankerte Petitionsrecht („Jedermann hat das Recht, sich einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen schriftlich mit Bitten oder Beschwerden an die zuständigen Stellen der Volksvertretung zu wenden.“) könnte zwar von Relevanz sein, doch ist bis jetzt nicht hinreichend geklärt, ob und wie dieses sich auf bzw. in einem Beschäftigungsverhältnis auswirken könnte.23 Denn zumeist wird jenes Recht als Schutz vor staatlichen, nicht aber betrieblichen Sanktionen – etwa der fristlosen Kündigung – angesehen.24 Auch das in Art. 5 Abs. 1 GG gewährte Grundrecht zur freien Meinungsäußerung bietet für Informanten nur unzureichend Schutz, da nicht geklärt ist, wann sich jemand an die Öffentlichkeit wenden darf.25 Dies wird zumeist im Einzelfall entschieden, was eine erhebliche Quelle von Unsicherheit für potentielle whistleblowers darstellt und somit der effektiven Korruptionsbekämpfung nicht dienlich ist. Spezielle Regelungen existieren zwar seit längerem für mit Sonderfunktionen ausgestattete betriebliche Beauftragte und auch Tarifverträge skizzieren vage einen Schutz für Informanten. Doch erfassen diese nicht „[ . . . ] Beschwerden und Anzeigen, die [ . . . ] die Interessen außenstehender Dritter oder der Allgemeinheit betreffen [ . . . ]“;26 und somit auch nicht Korruptionsdelikte. Der Schutz von Hinweisgebern in Deutschland muss lückenlos gesetzlich verankert werden. Denn moralisch handelnden Mitgliedern der Gesellschaft muss zumindest Rechtssicherheit gewährt werden, damit sie gewillt sind, korruptes Verhalten in ihrem (betrieblichen) Umfeld zu melden – wenn man sie schon zumindest kurz- bis mittelfristig nicht von den Bürden des Images eines „Nestbeschmutzers“ 23 Deiseroth (2004): Zivilcourage am Arbeitsplatz: „Whistleblowing“, in: Meyer / Dovermann / Frech / Gugel (Hrsg.): Zivilcourage lernen: Analysen, Modelle, Arbeitshilfen, Bonn, 2004, S. 130. 24 Idem, S. 131. 25 Idem, S. 131. 26 Idem, S. 131.

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befreien kann. Dies weist darauf hin, dass ein Umdenken generell wünschenswert wäre. Whistle-blowers sollten nicht mehr schief angesehen, sondern vielmehr für ihre Zivilcourage bewundert werden. Gemäß dem Vorbild des amerikanischen Time Magazine, das im vergangen Jahr drei Damen, die sich gegen ihre Vorgesetzten in der Öffentlichkeit aussprachen, zu Persons of the Year kürte.27 Zu bedenken ist auch, dass alle oben diskutierten Maßnahmen ihre ganze Wirkung nur durch einen effektiven Schutz von Hinweisgebern entfalten können. Insbesondere das oben favorisierte Modell eines Unternehmensstrafrechts würde (noch) effektiver, da die Mitarbeiter mehr Anreize zur Meldung von Fehlverhalten an Ermittlungsbehörden bekämen.

VII. Schlussbemerkung Es wurde gezeigt, dass Korruption in Deutschland erhebliche volkswirtschaftliche Einbußen mit sich bringt. Hätte Deutschland im Corruption Perceptions Index die gute Bewertung von Finnland, könnte das Bruttoinlandsprodukt um 6 Prozent höher sein und die Nettokapitalzuflüsse würden um 0,75 Prozent des Inlandsprodukts ansteigen. Hieraus – aber auch weil Korruption das Vertrauen der Bevölkerung gegenüber dem bestehenden politischen und wirtschaftlichen System erschüttert – entsteht das Erfordernis, Korruption mit gezielten Maßnahmen zu bekämpfen. Zahlreiche Entwicklungen in Deutschland sind positiv zu beurteilen. Doch ist noch längst nicht alles getan. Von besonderer Dringlichkeit sind die Einsetzung eines bundesweiten Informationsfreiheitsgesetzes und der Ausbau des Schutzes von Hinweisgebern. Durch erstere Maßnahme würde mehr Transparenz in der öffentlichen Verwaltung geschaffen und deren Handlungsspielraum eingeschränkt. Die Behörden gerieten in die Position, Entscheidungen z. B. bei der öffentlichen Auftragsvergabe gegenüber der Öffentlichkeit und insbesondere den Medien rechtfertigen zu müssen. Unregelmäßigkeiten könnten leichter aufgedeckt werden. Wie die Erfahrungen einiger Länder zeigen, würden die Ämter durch ein IFG nicht überlastet. Die zweite Maßnahme ist unabdingbar , um rechtstreue Mitbürger zur Aussage gegen korrupte Akteure zu bewegen. Bis jetzt reichen die rechtlichen Grundlagen hierfür nicht aus. Das von Wirtschaftsminister Clement erst kürzlich wieder propagierte Korruptionsregister müsste zumindest eine Strafmilderung bei Selbstanzeige sowohl für Unternehmen als auch Mitarbeiter beinhalten. Andernfalls würde es Verschwiegenheit erhöhen und somit auch die Arbeit der Staatsanwaltschaften erschweren. Zweifelhaft ist auch, ob große Unternehmen jemals in einem Korruptionsregister aufgenommen würden. Deshalb sollte auch über Alternativen nachgedacht werden. 27 Time Magazine (2003): Persons of the Year, Cover Story, December 30, 2002 / January 6, 2003.

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Vertragsstrafen etwa greifen schneller, können auch gegen große Firmen durchgesetzt werden und stehen in einem ökonomisch sinnvollen Verhältnis zu den durch Bestechung induzierten Kosten. Aufgrund internationaler Bestrebungen wird Deutschland einem echten Unternehmensstrafrecht mittel- bis langfristig wohl nicht ausweichen können. Hierbei sollte eine Variante gewählt werden, die Unternehmen zur Rechenschaft zieht, wenn Korruption das Resultat unzureichender Kontrollmaßnahmen ist oder diese sogar toleriert oder gefördert wird. Wir plädieren dafür, weitgehend dem Schweizer Vorbild eines Unternehmensstrafrechts zu folgen, d. h. Strafmilderungen zuzulassen für Unternehmen, welche effektive Maßnahmen gegen Bestechung nachweisen können. Zusätzlich plädieren wir für Strafmilderung im Rahmen der strafrechtlichen Verfolgung für solche Mitarbeiter, welche nachweisen können, zu ihren Taten von ihrem Unternehmen angestiftet worden zu sein. Durch einen solchen Strafnachlass gäbe es Anreize, window-dressing auf Unternehmensseite aufzudecken.

Zusammenfassung Korruption bringt für Deutschland erhebliche volkswirtschaftliche Einbußen mit sich. Hätte Deutschland im Corruption Perceptions Index die gute Bewertung von Finnland, wäre das BIP um 6 Prozent und die Nettokapitalzuflüsse um 0,75 Prozent des Inlandprodukts höher. Zahlreiche Maßnahmen – etwa die Abschaffung der steuerlichen Absetzbarkeit von Bestechungszahlungen – wurden bereits umgesetzt. Dennoch bestehen noch viele Defizite im Kampf gegen Korruption. Rückständig ist Deutschland insbesondere in der Einführung eines bundesweiten Informationsfreiheitsgesetzes und der Stärkung des Schutzes von Hinweisgebern. Bestrebungen, Unternehmen zunehmend in die Verantwortung zu ziehen, sind prinzipiell begrüßenswert. Die Zweckmäßigkeit eines Korruptionsregisters scheint jedoch fraglich, da es u.U. falsche Anreize setzt. Zumindest müsste es einhergehen mit einer Strafmilderung bei Selbstanzeige und durch Vertragsstrafen als Ausstiegsoption ergänzt werden. Vertragsstrafen sollten aber auch als Substitut für ein Korruptionsregister in Erwägung gezogen werden.

Abstract Corruption induces serious costs on the German economy. If Germany had the standing of Finland in the Corruption Perceptions Index, GDP would increase by 6 per cent and net capital inflows would increase by 0.75 per cent of GDP. Numerous measures – for instance the abolition of bribes’ tax deductibility – have already been put into action. Yet, many deficiencies in the battle against corruption still remain. Germany is backward with regards to the introduction of a federal infor-

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mation freedom act and the strengthening of whistle-blowers. In principle, endeavors to introduce corporate liability are welcome. However, the practicality of a black list seems questionable due to its potential to create wrong incentives. It would at least have to go along with mitigating self-reporting and supplementary contractual penalties.

Verzeichnis der Autoren Hans Herbert von Arnim, Dr., Universitätsprofessor, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Johann Graf Lambsdorff, Dr., Universitätsprofessor, Universität Passau. Joachim Linck, Dr., Universitätsprofessor, Direktor des Thüringer Landtags, Erfurt. Heike Merten, Dr., Geschäftsführerin des Instituts für Deutsches und Europäisches Parteienrecht und Parteienforschung, Düsseldorf. Hans Meyer, Dr., Dr. h.c., Universitätsprofessor, Humboldt-Universität zu Berlin. Mathias Nell, Diplom-Volkswirt, Universität Passau. Rüdiger Pohl, Dr., Universitätsprofessor, Universität Halle-Wittenberg. Volker von Prittwitz, Dr., Universitätsprofessor, Freie Universität Berlin. Wolfgang Renzsch, Dr., Universitätsprofessor, Universität Magdeburg. Rainer Wahl, Dr., Universitätsprofessor, Universität Freiburg.