Widerstand: Beiträge auf der 13. Speyerer Demokratietagung vom 27. bis 28. Oktober 2011 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.] 9783428539376, 9783428139378

Neueste Entwicklungen haben das uralte Thema »Widerstand« gegen illegitime Macht wieder aktuell werden lassen. Beispiele

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Widerstand: Beiträge auf der 13. Speyerer Demokratietagung vom 27. bis 28. Oktober 2011 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer [1 ed.]
 9783428539376, 9783428139378

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Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 215

Widerstand Beiträge auf der 13. Speyerer Demokratietagung vom 27. bis 28. Oktober 2011 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von

Hans Herbert von Arnim

Duncker & Humblot · Berlin

HANS HERBERT VON ARNIM (Hrsg.)

Widerstand

Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 215

Widerstand Beiträge auf der 13. Speyerer Demokratietagung vom 27. bis 28. Oktober 2011 an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Herausgegeben von Hans Herbert von Arnim

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0561-6271 ISBN 978-3-428-13937-8 (Print) ISBN 978-3-428-53937-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-83937-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Neueste Entwicklungen haben das uralte Thema „Widerstand“ gegen illegitime Macht wieder aktuell werden lassen. Beispiele sind die Aufstände gegen Diktatoren in Nordafrika und im Nahen Osten. Die 13. Speyerer Demokratietagung behandelte nicht nur den „Königsmord“ und möglichen Widerstand nach Art. 20 Abs. 4 GG, sondern auch demokratisch und rechtsstaatlich sublimierte Formen des Widerstands wie die Anrufung von Verwaltungs- und Verfassungsgerichten, direkte Demokratie, Demonstrationen und Widerstand mit Wort und Feder. Auch in etablierten Demokratien haben viele das Gefühl, selbst die wichtigsten politischen Beschlüsse würden über unsere Köpfe hinweg getroffen. Die wahrgenommene Kluft zwischen Berufspolitikern und Volk scheint immer größer zu werden. Das Wort „Wutbürger“ wurde geboren. Diese Situation ruft geradezu danach, das Thema „Widerstandsrecht“ etwas genauer zu beleuchten. Bei der Zusammenstellung des Tableaus wurde besonderer Wert drauf gelegt, neben Wissenschaftlern auch Vertreter aus der Zivilgesellschaft als Referenten zu gewinnen, um über konkrete Erfahrungen mit Widerstand zu berichten. Die neun, zum Teil erheblich überarbeiteten Referate sind in diesem Buch abgedruckt. Den Referenten sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt. Die Diskussionen, die den Beiträgen folgten, wurden protokolliert, auch um sie – angesichts der Themenaktualität – öffentlich zugänglich zu machen. Dafür sei den wissenschaftlichen MitarbeiterInnen der Universität und des Forschungsinstitutes, Andrei Király, Dr. Elisabeth Musch, Matthias Strunk und Dr. Johanna Wolff, besonders gedankt, Andrei Király darüber hinaus für die redaktionelle Betreuung des Bandes. Speyer, im Mai 2012

Hans Herbert von Arnim

Inhaltsverzeichnis Dürfen UN und NATO den innerstaatlichen Widerstand gegen Diktatoren unterstützen? Von Christian Tomuschat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bericht über die Diskussion des Beitrags von Christian Tomuschat Von Johanna Wolff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die Euro-Rettung: ein Thema für Wut-Bürger? Von Hans-Olaf Henkel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bericht über die Diskussion des Beitrags von Hans-Olaf Henkel Von Johanna Wolff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Widerstand heute Von Hans Herbert von Arnim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bericht über die Diskussion des Beitrags von Hans Herbert von Arnim Von Matthias Strunk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Direkte Demokratie: eine Form des Widerstands? Von Daniel Thürer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bericht über die Diskussion des Beitrags von Daniel Thürer Von Elisabeth Musch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Götterdämmerung in Bayern? Der Sturz eines Ministerpräsidenten und die Komplotte gegen politische Reformen Von Gabriele Pauli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bericht über die Diskussion des Beitrags von Gabriele Pauli Von Andrei Király . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Widerstand durch direkte Demokratie – aus der Sicht eines Aktivisten Von Sebastian Frankenberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Widerstand mit Wort und Feder: gegen politische Korrektheit Von Thilo Sarrazin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

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Inhaltsverzeichnis

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Thilo Sarrazin Von Matthias Strunk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Seid untertan der Obrigkeit? Wandel des Widerstandsverständnisses der Evangelischen Kirche Von Eberhard Cherdron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Bericht über die Diskussion des Beitrags von Eberhard Cherdron Von Matthias Strunk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Gegen die Diskriminierung der Frau – Der Kampf für die Emanzipation Widerstand im Kontext des Kampfs um das Frauenstimmrecht Von Nadja Braun Binder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Bericht über die Diskussion des Beitrags von Nadja Braun Binder Von Matthias Strunk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

Dürfen UN und NATO den innerstaatlichen Widerstand gegen Diktatoren unterstützen? Von Christian Tomuschat I. Einleitung Wer möchte unterdrückten Menschen Hilfe verweigern? Die mit dem Thema gestellte Frage verlangt geradezu nach einem emotionalen: Ja! Wer unter der Knute eines Diktators lebt, muss doch wohl auf Beistand von außen rechnen können, so lautet die erste überschlägige Überlegung. Aber sobald man sich etwas näher auf die Frage einlässt, stellt man zunächst fest, dass die hier in Rede stehenden Kernbegriffe allesamt eine erhebliche Unschärfe aufweisen. Am eindeutigsten lässt sich noch die NATO definieren – als das gute alte Militärbündnis des Westens, das bis heute den Kalten Krieg überlebt hat. Die NATO – das ist kein Verein zur Förderung der Menschenrechte in der Welt,1 sondern ein durchaus eigennütziges Unternehmen, das aber auch als Instrument zur Förderung internationaler Wohlfahrtszwecke außerhalb des euro-atlantischen Vertragsgebiets verwendet werden kann.2 Schon weniger scharf konturiert ist die UNO, obwohl im Alltagsleben in der Regel recht unbefangen und undifferenziert von „der UNO“ gesprochen wird. Aber die UNO existiert in den unterschiedlichsten Aggregatszuständen. Unter ihrem Dach sind Gremien versammelt, die sich nach Zusammensetzung, Zielsetzung und Zuständigkeiten scharf voneinander abheben. Der Sicherheitsrat verfolgt häufig eine andere Logik als die Generalversammlung, das Organ, in dem alle Mitgliedstaaten in gleicher Weise Sitz und Stimme haben, und die zahlreichen Sachverständigengremien fühlen sich im Allgemeinen nur dem ihnen speziell erteilten Auftrag verpflichtet, ohne sich ohne weiteres in das allgemeine politische Fahrwasser der Weltorganisation hineinstoßen und dort mitführen zu lassen. Aber dann erst beginnen die eigentlichen Schwierigkeiten. Was ist eigentlich Widerstand? Wie lässt sich Widerstand im Hinblick auf nicht weniger als 193 Staaten 1 In der Präambel des NATO-Vertrages. Vom 4. 4. 1949, BGBl. 1955 II, 289, bekräftigen die Vertragsparteien ihre Entschlossenheit, „die Freiheit, das gemeinsame Erbe und die Zivilisation ihrer Völker, die auf den Grundsätzen der Demokratie, der Freiheit der Person und der Herrschaft des Rechts beruhen, zu gewährleisten“. 2 So trug die NATO im Rahmen der vom UNO-Sicherheitsrat durch Resolution 1386 (2001) eingesetzten International Security Assistance Force (ISAF) zum zivilen Wiederaufbau Afghanistans bei, vgl. BVerfGE 118, 244, 263 – 270.

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definieren? Unvermittelt an diese Frage schließt sich die weitere Frage nach der Art und Weise von Unterstützungshandlungen an. Es ist ja nicht gleich, ob die internationale Gemeinschaft friedliche Formen eines Bürgerprotestes unterstützt oder ob sie sich mit Waffengewalt in einen innerstaatlichen Konflikt einmischt. Mancher denkt bei der Verbindung der beiden Wörter „Widerstand“ und „Unterstützung“ in der Tat sogleich an den Einsatz militärischer Gewalt, was in gewisser Weise durch die jüngsten Ereignisse in Libyen nahe gelegt wird. Aber das ist eine Simplifizierung der Problemlage. Waffen können immer nur als ultima ratio eingesetzt werden. Staatskunst muss zunächst alle anderen Mittel anzuwenden versuchen, wie es dem Ideal der Friedlichkeit entspricht, das nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1945 in der UNO-Charta verankert worden ist.3 II. Widerstand gegen eine Diktatur 1. Zur Diktatur Diktaturen widersprechen dem demokratischen Prinzip, das ebenfalls die UNOCharta durchdringt, sich aber bis zum heutigen Tage nicht zu einer für alle Staaten verbindlichen Norm verfestigt hat.4 Niemand nimmt Anstoß daran, dass sich unter den Mitgliedstaaten der Weltorganisation auch Regime befinden, die kaum den Anspruch auf demokratische Legitimation erheben können. Namen brauchen an dieser Stelle nicht genannt zu werden, aber jeder weiß, dass es etwa nach wie vor Monarchien gibt, die nicht oder doch nur kaum durch konstitutionelle Schranken eingehegt sind. Schlimmer noch sind Diktaturen, die sich als die wahre Volksherrschaft ausgeben, aber eben doch nur die gewaltsame Unterdrückung der Mehrheit des Volkes durch eine Minderheit institutionalisiert haben. Das kaum noch zu überbietende Modellbeispiel für diese Perversion lieferte die Staatsdoktrin des nationalsozialistischen Deutschen Reiches, wo es Ernst Rudolf Huber gelang, die unbeschränkte Innehabung der politischen Macht durch eine Person, den Führer Adolf Hitler, als den perfekten Sieg des Volkswillens darzustellen: „Das völkische Führerreich beruht auf der Erkenntnis, dass der wahre Wille des Volkes nicht durch parlamentarische Wahlen und Abstimmungen gefunden werden kann, sondern dass der Wille des Volkes nur durch den Führer rein und unverfälscht hervorgehoben wird.“5

3 Das UNO-System hat sogar ein Recht der Völker auf Frieden entwickelt, Resolution 39/ 11 der UNO-Generalversammlung (GV), 12. 11. 1984, dessen Konturen allerdings bis zum heutigen Tage trotz aller Bemühungen um eine Konkretisierung unscharf geblieben sind. 4 Vgl. aber die GV-Resolution 55/96, 4. 12. 2000, zur Förderung und Konsolidierung der Demokratie. Eingehend zu der Frage Karl-Peter Sommermann, Demokratie als Herausforderung des Völkerrechts, in: Pierre-Marie Dupuy et al. (Hrsg.), Völkerrecht als Wertordnung. Festschrift für Christian Tomuschat (Kehl: N.P. Engel, 2006) 1051 – 1065. 5 Ernst Rudolf Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches (Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 2. Aufl. 1939) 194.

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Gravierender als die Absage an das demokratische Prinzip ist in den Diktaturen zumeist die Absage an die Rechtsstaatlichkeit. Entweder verzichtet eine Diktatur überhaupt auf die verbindliche Festlegung von Rechtsnormen in den Bereichen, welche die Rechte und Freiheiten der Bürger berühren, oder man manipuliert die Gesetzgebung so, dass jedes politisch gewünschte Ergebnis mit irgendeinem Akt des positiven Rechts begründet werden kann, oder schließlich wird alles Recht vom ideologischen Machthintergrund her interpretiert, so dass die einzelne Norm zu einem fungiblen Versatzstück in einem von oben her orchestrierten Räderwerk wird. In der Zeit des Dritten Reiches hat Deutschland auch insoweit reiches Anschauungsmaterial zur Aushärtung von Unrecht als positives Recht sammeln können,6 und die DDR hat diese Tradition über Jahrzehnte hinweg unter anderem Vorzeichen fortgeführt.7 Mittlerweile braucht man gar nicht in die eigene deutsche Vergangenheit zurückzublicken, um instruktive Belege dafür zu finden, wie fein sich mittlerweile die Techniken der Monopolisierung der Macht in den Händen einer Minderheitsgruppe oder gar nur einer zahlenmäßig unbedeutenden Clique entwickelt haben. Repression und Korruption lassen sich in ein sorgsam ausgependeltes Gleichgewicht bringen. Hinzu mag eine kleine Prise Redefreiheit am familiären Küchentisch kommen – und schon mag für den außen stehenden Beobachter alles in bester Ordnung erscheinen. 2. Zum Widerstand In der Diktatur beginnt der Widerstand mit an sich so einfachen Handlungen wie einer der Regierung gegenüber kritischen Meinungsäußerung. Selbst ein gemaltes Bild kann von einem Diktator als unbotmäßiger und daher zu sanktionierender Akt empfunden werden. Denkt man wiederum an die deutsche Vergangenheit, so taucht unvermeidlich die Tat der Geschwister Scholl auf, die im Februar 1943 in den Hof der Münchner Universität Flugblätter warfen, auf denen das von den Nationalsozialisten begangene Unrecht offen benannt und kritisiert wurde. In der Zeit der Sowjetunion gab es eine im Geheimen veröffentlichte Samisdatpresse, deren Hauptziel es war, die kommunistischen Machtmissbräuche allgemein bekannt zu machen. Verfolgt wird heute, wer in Weißrussland oder in Syrien ein offenes Wort über die politischen Verhältnisse sagt. Allein dies, das offene, unverblümte Wort, wird von den Machthabern als strafbare Staatsgefährdung verfolgt. Und gerade deswegen kann von einem Akt des Widerstandes gesprochen werden – denn es verlangt Mut, sich gegen die Staatsideologie zu stellen, deren Fundamente offenbar so brüchig sind, dass sie allein schon durch Kritik in Gefahr gebracht werden könnten. Noch deutlicher wird, dass in einer Diktatur Massendemonstrationen, die sich gegen das herrschende Regime richten, so wie sie etwa heute in Syrien stattfinden und vor wenigen Jahren in Teheran niedergeknüppelt worden sind, alle Anzeichen 6

Exemplarisch sei verwiesen auf Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (Tübingen: Mohr Siebeck, 6. Aufl. 2005). 7 Kernbegriff war insoweit die „sozialistische Gesetzlichkeit“, vgl. insbesondere Staatsrecht der DDR (Berlin: Staatsverlag der DDR, 2. Aufl. 1984) 377 ff.

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einer Widerstandshandlung zeigen. Wenn die vom Staat eingerichteten Mechanismen sämtlich in den Dienst der Unterdrückung gestellt worden sind, einschließlich der gerichtlichen Verfahren, bleibt als letztes friedliches Mittel nur der gemeinsame Protest auf der Straße. In der DDR haben die Montagsdemonstrationen entscheidend zur Beseitigung der kommunistischen Diktatur beigetragen. Im Iran hat die religiös eingefärbte Machtoligarchie diesen Widerstand durch Gewaltexzesse gebrochen. Wie die Verhältnisse in Syrien sich entwickeln werden, wissen wir im Augenblick nicht. III. Unterstützung des Widerstandes durch die UNO 1. Sanfte Mittel des politischen Dialogs Darf die UNO solche Akte des friedlichen Widerstands durch Meinungsbekundungen unterstützen? Über Jahrzehnte hinweg war die interne Menschenrechtspraxis der Staaten eine Tabuzone, ängstlich gehütet vor allem von der Sowjetunion und ihren Verbündeten. Man hatte keine Einwände dagegen, wenn auf internationaler Ebene allgemeine menschenrechtliche Standards formuliert wurden. Obgleich die Sowjetunion und ihre Satelliten sich im Dezember 1948 bei der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Stimme enthalten hatten, wirkten sie doch im Jahre 1966 bei der Annahme der beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte einerseits, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte andererseits8 ohne grundsätzliche Vorbehalte mit – was sie vor allem beim Politischen Pakt erhebliche Überwindung kosten musste. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten vertraten aber nach wie vor die Auffassung, dass die innerstaatliche Beachtung und Durchführung der menschenrechtlichen Garantien im ausschließlichen Zuständigkeitsbereich der Staaten liege,9 mit Ausnahme von gravierenden Verstößen wie Apartheid und sonstiger rassischer Diskriminierung. Diese künstliche Scheidelinie, die ja den international verbürgten Menschenrechten jede reale Durchschlagskraft nehmen sollte, konnte sich auf Dauer nicht halten. Bekanntlich verbürgen die universell geschützten Menschenrechte nicht nur Zonen privater Abgeschiedenheit, sondern gewährleisten auch die soziale Interaktion des Menschen mit anderen Menschen, insbesondere sein Handeln im politischen Raum. Im Zentrum dieser politisch akzentuierten Rechte steht offensichtlich die Meinungsäußerungsfreiheit, die sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art. 19) wie auch im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 10) ihre Anerkennung gefunden hat. Hinzu kommen jeweils Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 20 bzw. Art. 21, 22) sowie das Recht auf Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten (Art. 21 bzw. 25), das sehr nahe an 8

GV-Resolution 2200 A (XXI), 16. 12. 1966. Exemplarisch Bernhard Graefrath, Menschenrechte und internationale Kooperation – 10 Jahre Praxis des Internationalen Menschenrechtskomitees (Berlin: Akademie-Verlag, 1988) 35, 44 f. 9

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ein echtes Recht auf Demokratie herankommt. Abgerundet werden diese Rechte und Freiheiten durch ein Verbot der Diskriminierung aus politischen Gründen (jeweils Art. 2 Abs. 1). Es lässt sich geradezu von einem Manifest der politischen Freiheit sprechen, das einen breiten internationalen Konsens widerspiegelt. Angesichts dieses Befundes konnte eigentlich kaum erwartet werden, dass Verhinderungsstrategien nationaler Regierungen von der internationalen Gemeinschaft auf Dauer geduldet würden. In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts nahmen die zuständigen Organe des Menschenrechtsschutzes in der Tat zunehmend das Recht für sich in Anspruch, auf systematische Menschenrechtsverletzungen in einem Lande mit harter Kritik zu reagieren.10 Es entwickelte sich ein Verfahren für die Diskussion einer Sünderliste, das zunächst noch einen geheimen Verfahrensabschnitt hatte, aber dann doch letzten Endes die Dämme der Anonymität sprengte.11 Nachdem die beiden Weltpakte im Jahre 1976 in Kraft getreten waren, wo alle Vertragstaaten in regelmäßigen Abständen durch ausführliche Berichte Rechenschaft abzulegen hatten, war auch nicht mehr einzusehen, weshalb nun die innerstaatliche Praxis der Menschenrechte in die ausschließliche innerstaatliche Zuständigkeit fallen sollte. Im Jahre 1993 stellte die UNO-Weltmenschenrechtskonferenz in Wien fest, dass Förderung und Schutz der Menschenrechte „a legitimate concern of the international community“ seien.12 Seitdem steht fest, dass es in diesem Bereich keine rechtlichen Schlupfwinkel mehr gibt. Verfahrensmäßig wurde diese Grundsatzposition im Jahre 2007 durch das Verfahren des „Universal Periodic Review“ („Allgemeine Periodische Überprüfung“) ausgestaltet.13 Danach werden alle Mitgliedstaaten der Weltorganisation in einem vierjährigen Rhythmus einer Überprüfung ihrer gesamten menschenrechtlichen Praxis unterworfen, ganz ohne Rücksicht darauf, ob sie nun die einschlägigen internationalen Übereinkommen ratifiziert haben oder nicht. In diesem UPR-Verfahren ist jeder Staat als Prüfer und Kritiker zugelassen, so er denn will. Natürlich hat das Verfahren seine Schwächen.14 Es bietet vor allem vielfältige Möglichkeiten der Manipulation. Die entscheidende mündliche Phase ist mit drei Stunden äußerst knapp bemessen. Darauf kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Festzuhalten ist nur das Ergebnis: Da Meinungsäußerungsfreiheit, Versammlungsfreiheit 10 Näheres dazu bei C. Tomuschat, Human Rights – Between Idealism and Realism (Oxford: Oxford University Press, 2. Aufl. 2008) 136 – 146. 11 Verfahren nach der Resolution 1503 (XLVIII) des Wirtschafts- und Sozialrates vom 27. 5. 1970. Heute wird dieses Verfahren unter dem Titel „Beschwerdeverfahren“ („Complaint Procedure“) mit allerdings wesentlichen Veränderungen weitergeführt. 12 Vienna Declaration and Programme of Action, 25. 6. 1993, International Legal Materials 32 (1993), 1661, 1665, Abschnitt I 4. 13 Human Rights Council, Resolution 5/1, 18. 6. 2007, Institution-building of the United Nations Human Rights Council, Abschnitt I. 14 Kritische Kommentierung durch Christian Tomuschat, Internationaler Menschenrechtsschutz – Anspruch und Wirklichkeit, Vereinte Nationen 56 (2008), 195 – 200; ders., Universal Periodic Review: A New System of International Law with Specific Ground Rules?, in: Ulrich Fastenrath et al. (eds.), From Bilateralism to Community Interest. Essays in Honour of Judge Bruno Simma (Oxford: Oxford University Press, 2011) 609 – 628.

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und Vereinigungsfreiheiten zu den Fundamentalrechten gehören, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wie auch im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte niedergelegt sind, sind die Organe der Vereinten Nationen nicht gehindert, die Einhaltung dieser Rechte einzufordern und damit auf sanfte Weise den politischen Widerstand in diktatorisch regierten Ländern zu stärken. Einige Beispiele seien gleich angefügt. Mit der Resolution 65/241 vom 21. März 2011 äußerte sich die Generalversammlung drastisch über die politische Lage in Myanmar, dem früheren Burma, indem sie ihre Besorgnis über die Einschränkung der politischen Freiheiten äußerte, die Freilassung aller politischen Gefangenen („prisoners of conscience“) forderte, Aufklärung über den Aufenthaltsort aller inhaftierten Personen und das Ende aller politisch motivierten Verhaftungen verlangte. In weiteren Abschnitten der Resolution bedauert die Generalversammlung, dass es in dem Lande keine freien, fairen, transparenten und umfassenden Wahlen gegeben habe. Verlangt wird ferner die Aufhebung aller Einschränkungen der freien Meinungsäußerung in allen ihren Spielarten. Deutlicher kann die Einmischung in die internen politischen Abläufe des politischen Verfahrens kaum sein. Freilich handelt es sich nicht um eine der üblichen Konsens-Resolutionen, sondern um einen hart umkämpften Text, der von 85 Staaten – hauptsächlich europäische und lateinamerikanische Staaten – gegen 26 Staaten15 befürwortet wurde, während 46 sich enthielten. Kennzeichnend ist auch, dass nicht weniger als 35 Staaten einfach abwesend waren – teils wohl einfach aus Gründen der Zeitknappheit, andere aber auch aus politischem Kalkül, weil sie wohl – wie etwa Papua New Guinea – ungünstige politische Reaktionen aus Myanmar befürchteten. Unvermeidlich gehörte Kuba zur Gruppe der Neinsager. Wo immer man dem Gedanken der politischen Freiheit entgegentreten kann, ist Kuba mit von der Partie. Ganz ähnlich ist eine vom Menschenrechtsrat am 17. Juni 2011 verabschiedete Resolution gegen Weißrussland (Belarus) gefasst,16 wo kategorisch ein Ende aller Verfolgung gegen Menschenrechtsaktivisten sowie die Freilassung aller politischen Gefangenen gefordert wird. In dem Abstimmungsbild werden freilich wiederum politische Gräben sichtbar. Der Westen verdankt seinen Sieg mit 21 Stimmen vor allem der Unterstützung fasst aller Lateinamerikaner (mit Ausnahme Guatemalas) sowie einiger weniger afrikanischer Staaten. Den harten Block des Nein mit fünf Stimmen bilden China, Kuba, Ecuador, Nigeria und Russland, während die Mehrheit der afrikanischen und asiatischen Staaten (19 Stimmen) sich enthält. Ganz offensichtlich gibt es nach wie vor eine heftige Abneigung gegen die Aufdeckung von Missständen in einer amtlichen Resolution. Aus dem Menschenrechtsausschuss nach dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte kommen ähnliche Stellungnahmen gleichsam routinemäßig. In diesem Expertenausschuss gibt es keine abweichenden Stimmen. Die ab15 Unter diesen 26 Staaten befanden sich auch Russland und Weißrussland, während die Ukraine sich zu einem Ja entschloss. 16 Resolution 17/24.

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schließenden Bemerkungen nach einer Berichtsprüfung sind von großer Geschlossenheit, verzichten auf diplomatische Rücksichtnahme und sprechen die realen Probleme des jeweils geprüften Landes direkt und ohne Schonung an. Hervorgehoben seien etwa die abschließenden Bemerkungen zu Libyen vom 30. Oktober 2007, wo damals schon Stellung bezogen wurde gegen die Praxis des Verschwindenlassens von Personen und der außergerichtlichen Hinrichtungen, der Folter und der Einschränkung der Freiheit von Versammlung und Vereinigung.17 Ein ähnliches Bild ergibt sich für Syrien aus den abschließenden Bemerkungen des Ausschusses aus dem Jahre 2005, wo die Verfolgung von Menschenrechtsverteidigern kritisiert wird und wo der Ausschuss vor allem die effektive Gewährleistung der Kommunikationsfreiheiten anmahnt und zugleich seine Sorge über die Praxis willkürlicher Verhaftungen und die hohe Zahl der Todesurteile äußert.18 Was ist von all dem zu halten? Handelt es sich um irrelevante Erklärungen, nicht das Papier wert, auf dem sie niedergelegt worden sind? In der Tat mögen die heute bestehenden Verhältnisse sowohl in Myanmar wie auch in Weißrussland und Syrien das Vorurteil bekräftigen, dass ja eigentlich die drastischen Worte der UNO-Gremien in den Wind gesprochen seien. Aber man verkennt die Gesetze der Politik, wenn man so pauschal urteilt. Es ist eben für ein Land doch nicht gleichgültig, ob es internationale Achtung genießt. Dieser Legitimitätsaspekt wirkt sich in den internationalen Beziehungen in vielfältiger Weise aus. Es geht dabei nicht nur um Sympathiepunkte, die sich etwa an der Tatsache festmachen lassen, ob der jeweilige Staatspräsident in das Ausland eingeladen wird und an internationalen Konferenzen teilnehmen darf oder ob man umgekehrt ausländische Staatsgäste empfangen kann. Viel handfestere Reaktionen auf innerstaatliches Unrecht können in den Wirtschafts- und Finanzbeziehungen eintreten. Ein Land, das massiv Menschenrechte verletzt, muss damit rechnen, vom internationalen Kredit ausgeschlossen zu werden, oder dass Handelsbeziehungen abgebrochen werden. Insgesamt ist das Dasein als Paria wenig angenehm. Regierungen, wenn sie sich nicht gänzlich in die Rolle des Außenseiters verstiegen haben, suchen einen solchen Zustand in der Regel zu vermeiden. Der moralisch-politische Druck ist eine Hypothek, die das Land in seiner Handlungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen kann. Der Einfluss sanfter Mittel der Überzeugungsbildung sollte keinesfalls unterschätzt werden. Insgesamt ist das System des internationalen Menschenrechtsschutzes auf Dialog und Verständigung aufgebaut. Wenn innerstaatliche Oppositionsgruppen von den Vereinten Nationen durch Zuspruch und Ermutigung unterstützt werden, wächst ihnen eine hohe moralische Kraft zu. Sie wissen, dass sie nicht isoliert dastehen, sondern dass es für sie einen internationalen Rückhalt gibt. Steter Tropfen höhlt 17

[2007/2008] Report of the Human Rights Committee, UN-Dok. A/63/40, Vol. I, 23, §§ 14, 15, 23, 25. 18 UN-Dok CCPR/CO/84/SYR, 9. 8. 2005. In den Jahren 1977 bis 1980 hatte der Menschenrechtsausschuss ein syrisches Mitglied, Botschafter Kelani. Dieser äußerte sich während seiner Amtszeit nicht ein einziges Mal zur Sache. Aus heutiger Sicht versteht man die Gründe dieser Zurückhaltung besonders gut.

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den Stein. Die südafrikanische Apartheidspolitik wurde über Jahrzehnte hinweg angeprangert – bis es sich eines Tages für das Regime als unausweichlich erwies, die Macht mit der Mehrheit der schwarzen Bevölkerung zu teilen. Das alles sind keine raschen Erfolgmeldungen. Aber welche Alternative gibt es? Die radikale Alternative ist die Anwendung von Gewalt, der Krieg. Kriege lassen sich nicht unter allen Umständen vermeiden. Aber sie kosten zwangsläufig Menschenleben. Dessen muss man sich durchweg bewusst sein. Man darf den Krieg nicht als selig machenden Friedensbringer missverstehen. 2. Zwangsmittel Wenn Ermahnungen und Aufforderungen, das unrechte Tun abzustellen, nichts fruchten, kommt automatisch die Frage auf, ob nicht härtere Mittel eingesetzt werden können. Damit langt man grundsätzlich beim Sicherheitsrat an, der ja das einzige UNO-Gremium ist, dem die Charta echte Machtmittel an die Hand gibt. Grundsätzlich ist die Generalversammlung auf den Erlass von Empfehlungen beschränkt. Sie kann im Außenverhältnis nicht selbst verbindliche Entscheidungen erlassen oder sogar militärische Mittel einsetzen.19 Dies alles ist dem Sicherheitsrat vorbehalten, jener Institution, auf der viele Hoffnungen ruhen, die aber auch immer wieder die in sie gesetzten Erwartungen enttäuscht hat, vor allem deshalb, weil jede Sachentscheidung durch ein Veto blockiert werden kann. Nach Kapitel VII der Charta besitzt der Sicherheitsrat vielfältige Handlungsmöglichkeiten. Er kann verbindliche Entscheidungen erlassen, er kann auch entscheiden, dass Gewalt anzuwenden sei. Seine Vollmachten sind geradezu überwältigend. a) Aber schon die Ausgangsfrage lässt Hindernisse erkennen: Kann es dem Sicherheitsrat überhaupt gestattet sein, in eine innerstaatliche Auseinandersetzung einzugreifen? Nach Art. 24 der UN-Charta ist es seine Aufgabe, den „Weltfrieden und die internationale Sicherheit“ („international peace and security“) zu wahren und ggf. wiederherzustellen. Können Maßnahmen gegen eine nationale Opposition Maßnahmen sein, die den Weltfrieden und die internationale Sicherheit berühren? Nach dem ursprünglichen Verständnis der Charta war mit der Formel das Verhältnis zwischen Staaten angesprochen. Dem Sicherheitsrat sollte es obliegen, das Gewaltverbot in den zwischenstaatlichen Beziehungen zu sichern.20 Es ist ein qualitativ weit tragender Schritt, dem Sicherheitsrat überdies eine Verantwortung für rechtsstaatsgemäße innerstaatliche Verhältnisse aufzubürden. Die Mittel juristischer Auslegungskunst können freilich viele Wege öffnen, die über den scheinbar so eindeutigen Gegensatz hinwegführen. Ohne Verbiegung seines Sinnes lässt sich das Attribut „international“ auch auf den Ordnungsrahmen beziehen. Wenn international garantierte Menschenrechte für die innere Ordnung eines Staatswesens maßgebend sind, dann 19 Die Reservekompetenz, die sich die Generalversammlung mit der Uniting for PeaceResolution (377 (V), 3. 11. 1950) vorbehalten hat, ist noch niemals praktisch zur Anwendung gekommen. 20 Vgl. etwa H. Kelsen, The Law of the United Nations. A Critical Analysis of Its Fundamental Problems (New York: Praeger, 1950) 19.

Dürfen UN und NATO innerstaatlichen Widerstand gegen Diktatoren unterstützen? 17

darf sich an diese Feststellung die Folgerung anschließen, dass grobe Verstöße gegen sie auch „international peace and security“ gefährden. Es ist dem Drängen der Praxis zuzuschreiben, dass dieser Kunstgriff der Interpretation sich durchgesetzt hat. Außerhalb des Zusammenhangs der Apartheid21 bekannte sich der Sicherheitsrat zum ersten Mal mit aller Deutlichkeit zum Schutz der Menschenrechte als dem internationalen Element in seinem Handlungsauftrag, als er im Jahre 1992 in einer Resolution zu Somalia feststellte, dass „das Ausmaß der durch den Konflikt in Somalia verursachten menschlichen Tragödie“ eine Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit darstelle.22 Es wurde also nicht auf irgendwelche Folgeerscheinungen dieses Konflikts Bezug genommen. Keinen Hinweis gab es auf die uns heute bekannte Tatsache, dass Abertausende Zuflucht in anderen Ländern suchen würden. Es war allein die Notlage in dem Lande selbst, welche den Sicherheitsrat motivierte, einen Einsatz zu beschließen. In späteren Beschlüssen wurde dieser Faden aufgenommen. So stellte der Sicherheitsrat in seiner Resolution 917 (1994) vom 6. Mai 1994 fest, dass die Militärherrschaft auf Haiti, von der die demokratisch legitimierte Regierung verdrängt worden war, eine Gefährdung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit bilde. Für das hier erörterte Thema ist diese Resolution von besonderer Aussagekraft. Spätere Resolutionen haben die damit eingeschlagene Linie bekräftigt. Es handelt sich bei dieser Praxis des Sicherheitsrates nicht lediglich um eine tatsächliche Abweichung von der Legalität, die nicht zum positiven Recht gezählt werden darf. Im Völkerrecht, und insbesondere im Recht der Vereinten Nationen, gewinnen informelle Rechtsänderungen eine besondere Bedeutung vor allem deswegen, weil eine förmliche Änderung der UNO-Charta praktisch ausgeschlossen erscheint. Zustimmen müssen einer Änderung im Vertragswege zwei Drittel der Mitgliedstaaten, unter denen sich sämtliche ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates befinden müssen. Diese hohe Hürde zu überwinden setzt eine intensive Vorbereitung voraus. Nur in zwei Punkten ist die Charta bisher modifiziert worden: man hat sowohl die Zahl der Mitglieder des Sicherheitsrates wie auch die Zahl der Mitglieder des Wirtschafts- und Sozialrates erhöht. Sonst ist nichts gelungen. Nicht einmal die obsoleten Feindstaatenklauseln (Art. 53, 107) sind aus dem Text getilgt worden.23 So kommt es im Wesentlichen darauf an, ob eine Praxis innerhalb der Weltorganisation Zustimmung findet. Gegen die Ausweitung der Zuständigkeit des Rates auf ursprünglich innerstaatliche Angelegenheiten hat es aber keinen Widerspruch gegeben. Darüber hinaus hat sogar die Generalversammlung ihr ausdrückliches Plazet gegeben. Der World Summit Outcome von 2005, das Schlussdokument der im Rahmen der Generalversammlung abgehaltenen Versammlung der Staats- und Regierungschefs der UN-Mitgliedstaaten, bekräftigt ausdrücklich, dass es eine „Schutzverantwortung“ 21

Dazu die Resolution 554 (1984), 17. 8. 1984, des UNO-Sicherheitsrates. Resolution 794 (1992), 3. 12. 1992, Präambel, Abs. 3. 23 Das Schlussdokument des World Summit Outcome, GV-Res. 60/1, 16. 9. 2005, Nr. 177, hat an sich eine Einigung über diese Bereinigung der UNO-Charta erreicht. 22

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(„Responsibility to Protect“) gibt, die alle Staaten dazu verpflichtet, ihre Bevölkerung vor „Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu schützen.24 An sich ist diese Feststellung nichts Neues. Die Schutzdimension aller Menschenrechte im Hinblick auf elementare Lebensgüter ist seit langem anerkannt. Die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gehen also weit hinaus über den Schutz vor internationalen Verbrechen. Bemerkenswert ist aber, dass die Generalversammlung sich entschließt, die Schlussfolgerung anzufügen, dass bei Versagen friedlicher Mittel der Streitbeilegung der Sicherheitsrat ermächtigt sein soll, Zwangsmaßnahmen nach dem Kapitel VII der Charta anzuwenden.25 Die mit der Somalia-Resolution begonnene Linie hat also ihre definitive Billigung gefunden. Der Sicherheitsrat darf ggf. auch mit militärischer Gewalt einschreiten. b) Wenn also der Sicherheitsrat ermächtigt ist, Sanktionen zu ergreifen, auch solche militärischer Art, dann stellt sich in jedem Fall die Frage, ob er dies tun sollte und welche Mittel insoweit in Frage kommen. Es sei nochmals betont, dass Vorrang in jedem Fall friedliche Mittel haben. Sollten sich diese als unergiebig erweisen, dann muss nicht in jedem Falle sogleich militärische Gewalt angewendet werden. Der Sicherheitsrat hat seit vielen Jahren ein breites Instrumentarium von Sanktionen entwickelt, das auch gegenüber Diktatoren angewandt wird, nämlich insbesondere Reisebeschränkungen und Vermögensbeschlagnahmen („Einfrieren“). Solche Maßnahmen zeigen mehr als missbilligende Stellungnahmen der Generalversammlung und des Menschenrechtsrates, dass es der internationalen Gemeinschaft wirklich ernst ist mit ihrem Einsatz für die Rechte der unterdrückten Personengruppen. Hinter Resolutionen des Sicherheitsrates steht auch meist das volle politische Gewicht der fünf ständigen Mitglieder; zumindest dürfen sie sich nicht verweigert haben. So wurden auch gegenüber den libyschen Machthabern mit Resolution 1970 (2011) vom 26. Februar 2011 sowohl Reiseverbote wie auch Vermögensbeschlagnahmen angeordnet. Eine so stigmatisierte Regierung hat jede internationale Legitimität verloren. Sie wird sich auf Dauer nicht halten können. Bezeichnend ist freilich, dass gegenüber Syrien solche Anordnungen bisher nicht ergangen sind. c) Wenn auch dann keine Besserung der Lage eintritt, bleibt als letzte Möglichkeit tatsächlich der Einsatz bewaffneter Gewalt. Hier sind zwei Etappen des Entscheidungsprozesses zu unterscheiden. Zunächst fragt es sich, ob der Einsatz bewaffneter Gewalt technisch möglich ist und auch ethisch verantwortet werden kann. Krieg zu führen ist etwas anderes, als sich auf ein Indianerspiel einzulassen. Viel zu häufig wird in der Öffentlichkeit naiv die Forderung erhoben, es müsse doch „die UNO“ einschreiten. Aber die UNO hat keine stehenden Streitkräfte. In jedem Fall müssen die Mitgliedstaaten die anfallenden Lasten tragen. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um das Opfer menschlichen Lebens. Zeigt die Voranalyse, dass umfassende Kriegsoperationen notwendig wären, um das Übel zu beseitigen, so wird in 24 25

Ibid., Nr. 138. Ibid., Nr. 139.

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aller Regel ein Einschreiten unterlassen. Es wäre in höchstem Maße unvernünftig, ja geradezu menschenrechtswidrig, um der Rettung weniger Menschen willen hunderte, ja tausende von Menschenleben zu opfern. Gegen Staaten wie Myanmar, Weißrussland oder den Iran lässt sich eine UN-„Polizeiaktion“ allein wegen der faktischen Kräfteverhältnisse nicht durchführen. So erscheint auch die These höchst unüberlegt, wenn der Sicherheitsrat in einem Falle eingreife, müsse er an anderer Stelle ebenfalls eingreifen. Kein Land ist wie das andere. Höchste staatsmännische Kunst ist gefragt, wenn es um die Einschätzung der Erfolgschancen einer Intervention und ihrer Kosten geht. Im Falle Libyens hat sich der Sicherheitsrat mit seiner Resolution 1973 (2011) vom 17. März 2011 entschlossen, einzelnen Staaten oder Regionalorganisationen die Anwendung von Gewalt zum Schutze von Zivilisten und von von Zivilisten bewohnten Gegenden zu gestatten. Bekanntlich hat sich Deutschland bei der Abstimmung über diese Resolution der Stimme enthalten. Kritiker haben der Resolution vorgeworfen, sie beruhe nicht auf einer sorgsamen Abwägung der relevanten Tatsachen; nicht in Betracht gezogen worden sei, dass die Kampfhandlungen in jedem Falle mehr an Verlusten nach sich ziehen würden, als sie je durch menschenrechtswidrige Sanktionsmaßnahmen des Gaddafi-Regimes zu erwarten gewesen wären. Diese Kritik geht an der bewusst gewählten Logik des im Sicherheitsrat gipfelnden Systems zur Wahrung von Weltfrieden und internationaler Sicherheit vorbei. Dem Sicherheitsrat ist bewusst ein breiter Entscheidungsspielraum eingeräumt worden. Die Kautelen und Sicherungen liegen in dem Verfahren. Erreicht werden muss im Sicherheitsrat eine Mehrheit von neun Stimmen, unter denen sich eben auch sämtlich ständigen Mitglieder der Sicherheitsrates befinden müssen, wenn sie sich nicht auf die neutrale Position der Enthaltung zurückziehen. Vorausgeht jeder Entscheidung des Sicherheitsrates eine breite Diskussion in diesem Gremium, wo alle Argumente und Gegenargumente extensiv erörtert werden. Dem lässt sich nicht die Logik des verwaltungsgerichtlichen Prozesses in Deutschland entgegenstellen mit der Zentralbehauptung, der Maßstab der Verhältnismäßigkeit sei nicht eingehalten worden.26 Natürlich ist jede Entscheidung des Sicherheitsrates politischer Kritik ausgesetzt. Gerade im nachhinein mag sich erweisen, dass die angestellte Prüfung nicht gründlich genug war. Einen Rechtsfehler bedeutet dies nicht.27 26 So Reinhard Merkel, Die Militärintervention gegen Gaddafi ist illegal, FAZ, 22. 3. 2011; gegen ihn Christian Tomuschat, Wenn Gaddafi mit blutiger Rache droht, FAZ, 23. 3. 2011; ausführlicher jetzt Merkel, Die Intervention der NATO in Libyen. Völkerrechtliche und rechtsphilosphische Anmerkungen zu einem weltpolitischen Trauerspiel, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik 6 (2011), S. 771 – 783. Eine ähnliche Diskussion hat sich in Deutschland zu der Frage entwickelt, ob das BVerfG gesetzgeberisches Handeln schematisch am Maßstab der Verhältnismäßigkeit überprüfen darf; vgl. dazu Oliver Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Christoph Schönberger/Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius/Christoph Möllers, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht (Berlin: Suhrkamp, 2011) 159, 208. 27 Vgl. zur Libyen-Intervention auch Katja Creutz, The International Intervention in Libya, Helsinki Review of Global Governance 2 (2011) 55 – 58.

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d) Wie aber kann der Sicherheitsrat einen einmal gefassten Beschluss zum militärischen Einsatz konkret umsetzen? Um es nochmals hervorzuheben: die UNO hat keine eigenständige Streitmacht. In Art. 43 der Charta war vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten der Weltorganisation auf der Grundlage von Sonderabkommen Truppenverbände dauernd zur Verfügung stellen. Dieses Konzept hat sich nicht verwirklichen lassen. Als Ersatz war das Instrument der Blauhelme entwickelt worden, die keinen Kampfauftrag haben, sondern lediglich einen unstabilen Frieden an den Grenzen zweier verfeindeter Mächte stabilisieren sollen. Seitdem der Sicherheitsrat tatsächlich seine ihm zugedachte Funktion wahrnehmen konnte, nämlich seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems in Mittel- und Osteuropa, hat er, wenn ein Kampfauftrag oder eine sonstige umfassende Ordnungsaufgabe zu erfüllen war, stets Ermächtigungen („authorizations“) ausgesprochen, die dann einer Staatengruppe das Recht verliehen, gegebenenfalls auch militärische Gewalt anzuwenden. Berühmt geworden ist die Resolution 678 (1990) zur Befreiung Kuwaits, wo die mit der Regierung des Landes zusammenarbeitenden Staaten in diesem Sinne ermächtigt wurden, „all necessary means“ einzusetzen.28 Nachdem die Koalition von USA und Vereinigtem Königreich im Jahre 2003 im Irak einmarschiert war, wurde der Besatzungsmacht in mehreren aufeinander folgenden Resolutionen gestattet, in dem Lande die einer Besatzungsmacht zufallenden Verantwortlichkeiten wahrzunehmen.29 In dem jüngsten Beschluss zur Libyen (Resolution 1573) geht die Einladung wiederum an nicht genauer bestimmte Staaten oder Regionalorganisationen, die für den Schutz der Zivilbevölkerung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Es ist nicht selbstverständlich, dass der Sicherheitsrat seine Kernaufgabe der Friedenssicherung an eine beliebige Koalition delegieren darf. Das Gewaltverbot gehört zu den Eckpfeilern der heutigen internationalen Ordnung. Gewaltanwendung ist daher nur unter engen Voraussetzungen gestattet, wenn ein Land sich gegen einen bewaffneten Angriff zur Wehr setzen muss oder wenn der Sicherheitsrat eine entsprechende Anordnung trifft. In der Charta ist an sich vorgesehen, dass der Sicherheitsrat selbst die erforderlichen Maßnahmen ergreift. Angedeutet ist allerdings sowohl in Art. 48 wie auch in Art. 53 der Charta, dass auch dritte Parteien, insbesondere die Mitgliedstaaten der Weltorganisation, zu diesem Zweck herangezogen werden sollen. An sich entspricht es der Logik der Charta, dass der Sicherheitsrat auf Grund von Kontrollverfahren die Fäden in der Hand behält. Er kann nicht beliebig mit seinen Kompetenzen umspringen, die ihm ja nicht als persönliches Eigentum zustehen, sondern die ihm von den Mitgliedstaaten als eine Gemeinwohlfunktion anvertraut worden sind.30 Da aber andere Mittel und Wege als die der Ermächtigung oder der De-

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Hier war eine Rechtfertigung allerdings auch als Maßnahme kollektiver Sicherheit gegeben (Art. 51 UNO-Charta). 29 Resolutionen 1483 (2003), 22. 5. 2003; 1511 (2003), 16. 10. 2003. 30 Dazu der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in seiner Entscheidung in Behrami und Saramati, Applications 71412/01 und 78166/01, 2. 5. 2007, § 132.

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legation nicht zur Verfügung stehen, hat sich ein breiter Konsens herausgebildet, dass der Sicherheitsrat die Hilfe der potenten Mächte in Anspruch nehmen darf.31 Rechtfertigung auf Grund einer Ermächtigung durch den Sicherheitsrat heißt natürlich auch Einhaltung der Grenzen der Ermächtigung. Der Rechtslogik nach muss jeder bewaffnete Angriff gegen ein Land als Aggression gewertet werden, wenn er nicht durch einen Rechtfertigungsgrund gedeckt ist. Nach Nr. 4 der Resolution 1973 (2011) war der Einsatz bewaffneter Gewalt nur zum Schutz der Zivilbevölkerung gestattet worden, nicht jedoch zum Sturz des Gaddafi-Regimes. Wäre eine solch weit reichende Ermächtigung von den Initiatoren der Resolution von vornherein gefordert worden, wäre wahrscheinlich der Resolutionsentwurf nicht gebilligt worden. Aber man darf nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass dem Wortlaut eine gewisse Widersprüchlichkeit innewohnt. Schutz der Zivilbevölkerung konnte ja nicht Schutz jeweils nur im konkreten Einzelfall bedeuten, zumal ja lediglich Angriffe aus der Luft und von See gestattet worden waren, während die Resolution die Entsendung von Landstreitkräften ausdrücklich ausschloss. Es musste also darum gehen, umfassend gegen die Truppen des Diktators vorzugehen, der ja existenziell-bedrohliche Drohungen gegen alle seine Gegner ausgestoßen hatte. Diese Erkenntnis musste letztlich darauf hinauslaufen, die militärischen Verbände des Diktators insgesamt niederzuringen. Damit war man im praktischen Ergebnis beim Sturz des Regimes angelangt. Es ist gut verständlich, dass sich Russland und China über eine missbräuchliche Auslegung der Resolution beklagen. Aber eigentlich mussten sie sich von vornherein im Klaren darüber sein, dass die Gestattung von Schutzmaßnahmen zugunsten der Zivilbevölkerung auf nichts anderes als einen Schlag gegen die Macht der Diktatur hinauslaufen würde. Im Grunde hatten sie sich damit geschickt in eine neutrale Mitte positioniert. Sie hatten die westlichen Bestrebungen zum Sturze des Regimes nicht behindert, auf der anderen Seite wollten sie diesen Sturz aber auch nicht aktiv mitbefördern, konnten jedenfalls geltend machen, dass sie dies auf keinen Fall gewollt hätten. Wie die Dinge nun abschließend zu bewerten sind, kann ein Jurist, der die Einzelheiten der tatsächlichen Lage nicht kennt, nicht beurteilen. Es zeigt sich aber, wie wetterwendisch die internationale Politik ist. Schon ein halbes Jahr später interessiert niemanden mehr ernstlich die Frage, ob die intervenierenden ausländischen Mächte sich in den Grenzen der Ermächtigung gehalten haben. Das Regime Gaddafi hat sein Ende gefunden. Der Nationale Übergangsrat begrüßt die mittlerweile eingetretene Entwicklung. So wischt die neue politische Harmonie alle früheren Rechtsverstöße beiseite. Vielleicht ist die Resolution 1973 (2011) ein Glücksfall gewesen, der sich nicht so leicht wieder einstellt. Vorstöße, im Sicherheitsrat ein Mandat für einen „regime change“ zu erhalten, haben noch nie Erfolg gehabt, wenn sie überhaupt jemals ernst31 Vgl. die vom Institut de droit international bei seiner Session auf Rhodos im September 2011 gefasste Resolution „Authorization of the Use of Force by the United Nations“, http:// www.idi-iil.org/idiE/resolutionsE/2011_rhodes_10_%20D_en.pdf.

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haft auf den Weg gebracht worden sind. Als im Kosovo im Jahre 1999 die Gefahr eines breiten Völkermordes an den albanischen Kosovaren drohte, ließ Russland erkennen, dass es einer Ermächtigung zu einem militärischen Eingreifen nicht zustimmen würde. Die NATO-Mächte entschlossen sich daher, ohne Legitimation durch den Sicherheitsrat eigenständig vorzugehen. Ein dreimonatiges Bombardement des jugoslawischen Territoriums führte schließlich zu einem Rückzug der serbischen Truppen, der durch die Resolution 1244 (1999) vom 10. Juni 1999 konsolidiert wurde und dann schließlich im Februar 2008 mit der Ausrufung der kosovarischen Unabhängigkeit seinen vorläufigen Abschluss fand. Was Syrien angeht, so sträuben sich offenbar Russland wie China hartnäckig dagegen, auch nur einer Verurteilung der gegenwärtigen Unterdrückungsmaßnahmen zuzustimmen. Sie fürchten, so wird berichtet, dass jede solche Verurteilung sogleich als Vorwand für eine militärische Intervention genutzt werden könnte. Wäre es zulässig, auch ohne Autorisierung durch den Sicherheitsrat gegen das Regime des Diktators Assad vorzugehen? Mancher mag die Luftoperationen gegen Jugoslawien als passendes Vorbild sehen. IV. Humanitäre Intervention Es ist eine der meistumstrittenen Fragen im heutigen Völkerrecht, ob es die Rechtsfigur der sog. „humanitären Intervention“ noch gibt.32 Sie diente im 19. Jahrhundert als Rechtfertigung vor allem für den bewaffneten Einsatz der Westmächte zum Schutz bedrohter christlicher Glaubensgemeinschaften im Nahen Osten. Gab es überhaupt jemals einen solchen Rechtssatz? Man muss hier bedenken, dass bis zum Jahre 1945 ein umfassendes Kriegs- und Gewaltverbot nicht vorhanden war. Gewaltanwendung gehörte zu den als fast selbstverständlich gehaltenen Handlungsmitteln der Außenpolitik, zu den sog. „facts of life“. Bewusst hat die UNO-Charta die rechtliche Landschaft umgestaltet. Mit der Einführung des allgemeinen Gewaltverbots sollte gerade der früheren souveränitätsbetonten und imperialistischen Machtpolitik der europäischen Mächte ein definitives Ende bereitet werden. Konnte unter diesen Umständen ein in seiner Geltung höchst zweifelhaftes Rechtsinstitut überleben? Man darf sehr ernstliche Zweifel an der These haben, dass sich die humanitäre Intervention in das neue Völkerrecht der Gewaltfreiheit hinübergerettet habe. Aber damit ist die Debatte noch nicht beendet. Kann es richtig sein, dass nationale Souveränität und territoriale Integrität absolute Höchstwerte sind, die unter keinen Umständen in Frage gestellt werden dürfen? Im Recht gibt es selten derartige Abso32

Vgl. etwa Enzo Cannizzaro/Paolo Palchetti (Hrsg.), Customary International Law on the Use of Force. A Methological Approach (Leiden/Boston: Martinus Nijhoff, 2005); Christine Gray, International Law and the Use of Force (Oxford: Oxford University Press, 2. Aufl. 2004) 29 – 58; Stefan Oeter, Humanitäre Intervention und die Grenzen des völkerrechtlichen Gewaltverbots, in: Herfried Münkler/Karsten Malowitz (Hrsg.), Humanitäre Intervention. Ein Instrument außenpolitischer Konfliktbearbeitung (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwisssenschaften, 2008) 29 – 64; Christian Tomuschat, Humanitäre Intervention – ein trojanisches Pferd?, ibid., 65 – 88.

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lutheitsansprüche. Durchweg wird versucht, durch Rechtsregeln verfestigte Werte zu einem Ausgleich zu bringen, wenn sich Konfliktslagen ergeben. Man schaue wieder zurück in die deutsche Vergangenheit. Millionen von wehrlosen Menschen wurden in den Tod getrieben, auf schändliche Art erschossen oder vergast oder einfach, wie im Falle der sowjetischen Kriegsgefangenen, durch Nichtverpflegung dem Hungertod preisgegeben. Wenn solche Zustände eintreten: Kann dann die internationale Gemeinschaft tatenlos als Beobachter am Rande stehen bleiben, weil im Sicherheitsrat eine der ständigen Mächte ein Veto gegen jeden Rettungsversuch durch militärische Intervention einlegt? Emotional fällt die Antwort nicht schwer. Sie lässt sich aber auch systematisch als richtig erweisen. Denn neben der staatlichen Souveränität gewährleistet die UNO-Charta auch die Menschenrechte, wobei selbstverständlich bei Verletzungen Stufen des Schweregrades unterschieden werden können. Auf der untersten Stufe stehen die Verletzungshandlungen, die auch in einem an sich intakten System als Ausrutscher auf Grund menschlichen Versagens vorkommen können. In den Gremien der UN wurde über Jahrzehnte hinweg auf einer zweiten Ebene von einem „Gesamtzusammenhang schwerer und verlässlich belegter Menschenrechtsverstöße“ gesprochen.33 Die Ebene höchsten Schweregrades wird erreicht mit internationalen Verbrechen, wie sie insbesondere im Statut des Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien und im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs umschrieben sind und an die mit der Rechtsfigur der Schutzverantwortung angeknüpft wird. Solche Straftaten sind unheilbar illegal. Kein staatlicher Rechtsbefehl kann ihnen Gültigkeit verleihen, da sie gegen Normen des völkerrechtlichen jus cogens verstoßen. Das Rechtssystem der Vereinten Nationen hat sich seit dem Jahre 1945 sinnfällig fortentwickelt. Während damals die staatliche Souveränität noch zu den Höchstwerten in der internationalen Rechtsordnung zählte, ist dies heute nicht mehr der Fall. Die Menschenrechte haben an Statur und Gewicht in hohem Maße gewonnen. Nur die Gefahr missbräuchlicher Berufung auf angeblich menschenrechtswidrige innerstaatliche Entwicklungen hält die Regierungen der Welt davon ab, sich rückhaltlos zu einer Aufsichtspflicht der internationalen Gemeinschaft zu bekennen. In der Tat gilt nicht, dass automatisch für Staaten, die sich schwerster Taten gegen Grundnormen des heutigen Völkerrechts schuldig machen, das völkerrechtliche Gewaltverbot außer Kraft gesetzt wäre. Jus cogens enthält kein Revolutionspotential. Aber es muss doch den Weg in eine Abwägung eröffnen. In den vorbereitenden Dokumenten für den World Summit Outcome von 2005 hatte die eigens eingesetzte hochrangige Expertengruppe in vorsichtiger Form zum Ausdruck gebracht, dass in solchen Fällen auch einzelne Staaten das Recht zum militärischen Eingreifen erhalten sollten, war dann aber doch in letzter Konsequenz davor zurückgeschreckt,

33 „Consistent pattern of gross and reliably attested violations of human rights“. Die Erfüllung dieses Tatbestandes war der Auslöser für das Verfahren nach der ECOSOC-Resolution 1503 (XLVIII) vom 27. 5. 1970.

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eine Umgehung des Sicherheitsrats zu empfehlen.34 Es gibt also keinen sichtbaren Konsens über ein einseitiges Handeln auch nur in Extremfällen. Und doch kann mit der Verabschiedung des World Summit Outcome-Dokuments das definitive Wort nicht gesprochen sein. Letzten Endes steht der Mensch im Zentrum der gesamten Rechtsordnung. Staatliche Souveränität und territoriale Integrität sind nur Hilfsmittel, um einen Zustand allgemeiner Wohlfahrt zu erreichen. Die Duldung der systematischen Vernichtung von Menschen zerstört das Recht als legitime Lebensordnung. Im Grunde hängt auch die Dritte Welt die Attribute staatlicher Souveränität nicht im Olymp auf, wie allein schon die Tatsache beweist, dass in der Verfassung der Afrikanischen Union ein Recht der Union vorgesehen ist (Art. 4 h): „to intervene in a Member State pursuant to a decision of the Assembly in respect of grave circumstances, namely war crimes, genocide and crimes against humanity.“

Aber es wird sich wohl nie ein förmlicher Konsens über die Frage ausbilden. Die Dritte Welt leidet noch unter der Obsession der Kolonialherrschaft. Befürchtet wird nach wie vor, dass die Anerkennung eines Interventionsrechts auf weltweiter Ebene als Aufforderung zur Etablierung einer Vorherrschaft der mächtigen Staaten missverstanden werden könnte. So versteckt man sich eher. Die Zustimmung wird von Fall zu Fall erteilt, jeweils im Lichte der besonderen Umstände. Bezeichnend ist insoweit, dass die Resolution 1244 des Sicherheitsrates am 10. Juni 1999 an dem Tage noch verabschiedet werden konnte, als die Waffen zum Schweigen kamen. Hätte die internationale Gemeinschaft den NATO-Einsatz gegen Jugoslawien als ein schweres internationales Verbrechen betrachtet, dann hätte sie nicht im Handumdrehen ihre Zustimmung zu einer Statusregelung erteilen können, die nicht anderes als den Erfolg jenes Einsatzes bedeutete. Was die Lage in Syrien betrifft, so kann von einem eindeutigen Schwarz-Weiß nicht die Rede sein. Es sind sicher schwere Menschenrechtsverletzungen begangen worden, und die Kette der Gewalttaten gegen friedliche Demonstranten reißt nicht ab. Aber es handelt sich gleichzeitig und hauptsächlich um einen internen Machtkampf, der sich nicht auf die einfache Formel bringen lässt: der Diktator gegen das Volk. Starke Kreise des Landes stehen hinter dem Präsidenten. Ein militärischer Einsatz würde sicherlich auf Missbilligung in der gesamten arabischen Welt stoßen und würde vor allem zu Kampfhandlungen führen, bei denen mit weit mehr Toten gerechnet werden müsste, als sie bisher dem Regime zur Last fallen. Auch die konkrete Abwägung spricht also ganz eindeutig gegen Versuche, Präsident Assad mit Gewalt von außen zu stürzen. Schrecken muss insbesondere der Präzedenzfall Irak. Dort übte der Diktator Sadam Hussein gewiss eine zügellose Schreckensherrschaft aus. Aber die Invasoren USA und Vereinigtes Königreich begründeten ihren Einmarsch auch gar nicht als Hilfsaktion für das irakische Volk, sondern beriefen sich auf längst überholte Resolutionen des Sicherheitsrates aus der Zeit des irakisch-kuwaitischen Krieges. So wäre es von vornherein verfehlt gewesen, der militärischen 34 A More Secure World: Our Shared Responsibility, Report of the High-Level Panel on Threats, Challenges and Change, UN-Dok. A/59/565, 2. 12. 2004.

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Operation zweier Führungsmächte des Westens das Mäntelchen des Widerstands umzulegen. V. Unterstützung des Widerstandes durch die NATO Von der NATO war bisher kaum die Rede. Sie steht im Titel meines Vortrags so einträchtig neben der UNO, als ob es sich um gleichwertige Institutionen handeln würde. Das ist in rechtlicher Sicht aber nicht der Fall. In den Vereinten Nationen hat sich die internationale Gemeinschaft organisatorisch zusammengeschlossen und ihnen ein Gewaltmonopol verliehen, das sonst kein Staatenzusammenschluss für sich in Anspruch nehmen kann. Die NATO ist in erster Linie ein Bündnis der kollektiven Selbstverteidigung. Gleichzeitig ist sie vom Sicherheitsrat als eine Regionalorganisation anerkannt worden, der eine Ermächtigung zur Gewaltanwendung eingeräumt werden kann. Was aber eigenmächtiges Handeln zur Sicherung von Menschenrechten außerhalb eines solchen Mandats angeht, steht die NATO grundsätzlich nicht anders da als ein einzelner Staat. Dennoch muss man sagen, dass jedenfalls unter Legitimitätsgesichtspunkten eine internationale Organisation wie die NATO eine sehr viel vertrauenswürdigere Stellung hat als ein beliebiger Einzelstaat. Vorhanden sind Elemente einer quasi-konstitutionellen Rationalität, da ja Entscheidungen in den zuständigen Gremien jeweils erst nach gründlicher Debatte, nach Abwägung des Für und Wider im Kreise aller Bündnismitglieder ergehen. So hat auch die Resolution 1244 (1999) ihr besonderes Vertrauen in die NATO dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie der NATO bei der Bildung der KFOR-Schutztruppe eine führende Rolle zuwies. Auch ein einseitiges Eingreifen der NATO bleibt also im Regelfall rechtswidrig, es rührt aber nicht in derselben Weise an die Grundpfeiler der heutigen Völkerrechtsordnung wie eine Lizenz, die man jedem einzelnen Staat erteilen würde. Nochmals sei in diesem Zusammenhang auch die Bestimmung in der Verfassung der Afrikanischen Union unterstrichen, die ja eine Verantwortung der Organisation für die Menschenrechtslage in Afrika stipuliert und sich dabei von jeder Bindung an die UNO-Charta freispricht. VI. Schlussbemerkung Wie so häufig, ist die klare Frage, die am Anfang dieses Referats stand, durch feinsinnige Distinktionen zerredet worden. Ich will dennoch einen Versuch der Zusammenfassung machen. Unterstützung internen Widerstandes durch Kritik, Ermahnung und sogar harsche Verurteilung einer menschenrechtswidrigen Regierungspraxis ist heute unstreitig zulässig. Von völkerrechtswidriger Intervention lässt sich in einer Zeit, wo die Menschenrechte eine Angelegenheit von „international concern“ geworden sind, nicht mehr sprechen. Zwangsmaßnahmen gegen eine Regierung unterhalb der Schwelle der Gewaltanwendung wie Reiseverbote oder Vermögensbeschlagnahmen liegen im Ermessensbereich des Sicherheitsrates und müssen hingenommen werden; es stellen sich allerdings Fragen nach dem angemessenen Rechtsschutz.

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Dem Sicherheitsrat ist es nach der von der Generalversammlung gebilligten Doktrin der Schutzverantwortung gestattet, militärische Gewalt anzuwenden oder solche Gewalt zu autorisieren, wenn in einem Lande schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit drohen oder bereits begangen werden. Ob auch Einzelstaaten oder Militärbündnisse und Regionalorganisationen wie die NATO in solchen Fällen einseitig vorgehen dürfen, bleibt im rechtlichen Zwielicht. In Extremfällen wie systematischem Völkermord muss freilich solche Nothilfe zulässig sein. Die Juristen können sich nicht auf die bequeme Position zurückziehen, das Eingreifen sei zwar rechtswidrig, lasse sich aber moralisch legitimieren.35

35 Dazu schon Hermann Mosler, Die Intervention im Völkerrecht. Die Frage des Verhältnisses von Souveränität und Völkergemeinschaft, 1937, S. 62 f.

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Christian Tomuschat Von Johanna Wolff Moderator Prof. Dr. Joachim Linck, Direktor des Landtags Thüringen a.D., eröffnete die Diskussion mit zwei eigenen Fragen: Erstens bat er um eine Einschätzung Tomuschats dazu, ob nicht auch das, was nach einer Intervention zu erwarten sei, in die Abwägung für deren Zulässigkeit einzubeziehen sei. Zweitens frage er sich, ob nach einem Einsatz eine Pflicht zur Initiierung und Unterstützung beim Aufbau demokratischer Strukturen in den betroffenen Ländern bestehe. Tomuschat stimmte Linck insofern zu, dass der Sicherheitsrat mögliche Folgen seiner Entscheidungen berücksichtigen müsse. Was allerdings tatsächlich nach einem Einsatz passiere, könne man nie vorhersagen. In Libyen müsse man nun hoffen, dass demokratische Strukturen aufgebaut würden. Die Verantwortung hierfür trage das libysche Volk. Eine Rechtspflicht der internationalen Gemeinschaft bestehe zwar nicht. Aber auch von der Fehlvorstellung eines surgical strike, bei dem man das Übel sauber herausschneiden und einen Monat später wieder abziehen könne, hätten sich selbst die USA mittlerweile verabschiedet. Peter Vonnahme, Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof i.R., äußerte Zweifel daran, dass die materiellen Voraussetzungen für einen Einsatz in Libyen mit Blick auf Art. 2 und 39 der UN-Charta vorgelegen haben. Jedenfalls aber seien die Grenzen des Mandats nicht eingehalten worden. Ziel der Resolution 19731 sei allein der Schutz der Zivilbevölkerung gewesen, nicht dagegen die Parteinahme für eine Bürgerkriegspartei, ein regime change oder die Beseitigung eines Machthabers. In der Praxis sei es aber zu all dem gekommen. Vonnahme wollte nun wissen, ob es „wegen dieses Missbrauchs“ schwieriger werde, in Zukunft in der UN Resolutionen zu fassen. Tatsächlich wird laut Tomuschat die „weite Interpretation“ der Ermächtigung 1973 China und Russland vorsichtiger machen, sich in Zukunft wieder zu enthalten und so den Weg für Interventionen frei zu machen. Dies sehe man jetzt bei Syrien, wo man sich selbst auf bloße Kritikäußerung nicht mehr leicht einigen könne, weil offenbar befürchtet werde, dass diese später zum Vorwand für einen Militäreinsatz genommen werden könnte. Zu der Annahme, dass die Grenzen des Mandats gesprengt seien, sagte Tomuschat, die Resolution sei „durchaus unlogisch und widersprüchlich 1 Verabschiedet vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am 17. 3. 2011, abrufbar unter: www.un.org/depts/german/sr/sr_11/sr1973.pdf (Stand: 3. 7. 2012).

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gefasst“, was auch Russland und China keineswegs entgangen sein dürfte. So habe man zwar den Schutz der Zivilbevölkerung als einziges Ziel genannt, aber Bodenkräfte explizit ausgeschlossen. Weil es unmöglich sei, allein durch Bomben und durch Schüsse von See aus, ganz gezielt nur in konkrete Gefahrensituationen für Zivilpersonen einzugreifen, sei durch die Beschränkung auf Luft- und Seestreitkräfte faktisch der Weg für eine generelle Bekämpfung der Gaddafi-Truppen eröffnet worden. Diese Interpretation der Resolution durch die Westmächte sei „nicht ganz so abwegig“. Bei der Bewertung, ob überhaupt die Voraussetzungen zum Erlass der Resolution gegeben gewesen seien, müsse man bedenken, dass die UN-Charta immer von einer weiten Einschätzungsprärogative des Sicherheitsrates ausgegangen sei. Bewusst gebe es auch keine gerichtliche Kontrolle. Bei Anordnungen gegenüber Staaten seien die Entscheidungen des Sicherheitsrates, anders als etwa im so genannten Kadi-Fall2, in dem ein Individuum unmittelbar betroffen war, hinzunehmen. Arne Schimmer, MdL aus Sachsen, fragte anschließend, welche Risiken der Prozess berge, durch den – nach seiner Einschätzung – das Verständnis vom Völkerrecht als Staatenrecht verloren gehe. Der Einsatz in Libyen sei allein mit dem Schutz der Menschenrechte begründet worden. Dabei zeige der Fall, dass es Menschenrechte anscheinend nicht an sich gebe, sondern es darauf ankomme, welche Macht bindend definiere, was Menschenrechte und Menschenrechtsverletzungen seien. Die Behauptung, Menschenrechte würden beliebig umgedeutet, sei „schlicht falsch“, erwiderte Tomuschat. Es gebe klare Standards, die etwa in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte niedergelegt seien. An diesen Standards gemessen, habe es unter Gaddafi klare Menschenrechtsverletzungen gegeben. Ebenso stelle aber auch die sofortige Erschießung von Kriegsgefangenen und von Gaddafi selbst durch Aufständische eine klare Menschenrechtsverletzung dar. Zur These des sich wandelnden Völkerrechts bestätigte Tomuschat, dass wir „auf einem Weg in eine veränderte Staatenwelt“ seien, in der die internationale Gemeinschaft aufgefordert sei, sich um die Einhaltung des Menschenrechtsschutzes zu bemühen. Dies sei aber nicht immer zu erreichen. So sei auch nicht zu erwarten, dass sich die Praxis des Sicherheitsrats „wie ein Ölteppich“ verbreite. Die Erfahrungen etwa aus Irak und Afghanistan schreckten

2 Anm. der Protokollantin: Es handelt sich um einen Fall, der in den vergangenen Jahren den Europäischen Gerichtshof (EuGH) und das europäische Gericht erster Instanz (EuG) beschäftigt hat (EuG, Urt. v. 21. 9. 2005, Kadi/Rat, Rs. T-315/01; EuGH, Urt. v. 3. 9. 2008, Kadi, verb. Rs. C-402/05 P und C-415/05 P; EuG, Urt. v. 30. 9. 2010, Kadi, Rs. T-85/09). Der saudische Staatsangehörige Kadi war von Resolutionen des UN-Sicherheitsrats betroffen, aufgrund derer in allen Mitgliedstaaten die Konten von bestimmten Personen „eingefroren“ werden sollten, weil diese angeblich in Verbindung zu dem Al-Qaida-Netzwerk stehen. In der EU wurde Kadis Name in zwei Verordnungen übernommen, wogegen sich dieser jeweils gerichtlich wandte. Der EuGH stellte in diesem Zusammenhang unter anderem fest, dass die Unionsgerichte, insbesondere wenn Grundrechte Einzelner betroffen sind, zur Kontrolle der von der EU zur Umsetzung von Resolutionen des UN-Sicherheitsrats erlassenen Handlungen befugt seien.

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Christian Tomuschat

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ab, und die Kosten – finanziell sowie vor allem in Bezug auf Menschenleben – seien viel zu hoch. Prof. Dr. Albert Janssen, Landtagsdirektor i.R., regte anschließend an, dass, „wenn sich eine Resolution an die andere reiht“, irgendwann der Gleichheitssatz ins Spiel komme. Zudem hakte er nach, ob unter dem Gesichtspunkt „humanitärer Intervention“ ein Einsatz grundsätzlich auch ohne Resolution des Sicherheitsrates legitim sein könne. Eine Einsatzpflicht der internationalen Gemeinschaft für andere Konflikte könne man, so Tomuschat, aus keinem Einsatz ableitet. Die Sachverhalte seien zu verschieden. Zudem gebe es eine Grenze dessen, was die Intervenienten überhaupt leisten könnten. Eine Anwendung des Gleichheitssatzes im Völkerrecht mit der Selbstverständlichkeit, mit der er etwa im deutschen Recht auf Subventionsempfänger angewendet werde, sei „völlig unvorstellbar“. Zur Frage der humanitären Intervention bestätigte Tomuschat, dass nach seiner Meinung in Extremfällen auf ein Mandat des Sicherheitsrats verzichtet werden könne. Er verwies auf die deutsche Geschichte und erinnerte an Züge voller Menschen, die in Richtung Konzentrationslager gefahren sind. In einem solchen Fall müssten auch Juristen für eine Abwägung offen sein, sonst verzichteten sie auf „Recht, Beruf und professionelles Ethos“. Der Rechtsanwalt Dr. David Schneider-Addae-Mensah äußerte schließlich Bedenken zur Entwicklung des Völkerrechts im letzten Jahrzehnt. Im Kosovo sei er auch noch für eine Intervention gewesen. Aber Irak, Afghanistan und Libyen belegten eine Interventionspolitik, die nicht mehr nur bei schwersten Vorfällen, wie Völkermord, greife. In diesen Ländern habe es immer Menschenrechtsverletzungen gegeben, sodass der jetzige „Aktionismus“ fragwürdig sei. „Einmischungen“ mit dem Ziel, der Welt die Demokratie zu bringen, seien mit Blick auf Art. 2 UN-Charta unzulässig. Tomuschat erwiderte, er beobachte keine zunehmende Interventionspolitik. Im Falle Libyens habe es zwar unter Gaddafi immer Menschenrechtsverletzungen gegeben. Doch habe die Lage in diesem Jahr eine Zuspitzung erfahren. Menschen seien wie die Ratten vernichtet worden. Man könne nicht sagen, dass das schon immer so gewesen sei und man jetzt nur einen Vorwand gesucht habe, endlich einzugreifen. Dass bei der Entscheidung für einen Einsatz auch die Ölzufuhr aus Libyen eine Rolle gespielt habe, stimme wohl. Dies mache aber andere, legitime Motive nicht illegitim.

Die Euro-Rettung: ein Thema für Wut-Bürger?* Von Hans-Olaf Henkel Das letzte Mal war ich hier noch als Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, um hier eines unserer 86 Forschungsinstitute zu besuchen, auf das ich sehr stolz bin – immer noch. Damals habe ich es versäumt, den Dom zu Speyer zu besuchen, aber heute Morgen hatte ich dazu Zeit. Wer hier in Speyer ist und sich das entgehen lässt, der ist selbst schuld. Übrigens müsste das Sprichwort heute nicht mehr heißen, Eulen nach Athen zu tragen, sondern Milliarden Euros nach Athen zu tragen. Vorneweg möchte ich etwas von den Veranstaltungen sagen, die gerade erwähnt wurden, weil die Medien diese Auftritte teilweise mit Häme begleiten. Die Eintrittskarten dazu kosten Geld. Da ich selbst keine Logistik dafür habe, beauftragte ich damit eine Entertainment-Agentur. Normalerweise haben diese Leute wie die Opernsänger Netrebko und Schott oder die Rolling Stones im Angebot. Jetzt Hans-Olaf Henkel, mit dem Unterschied, dass er ohne Honorar auftritt. Ich lege großen Wert darauf, das klarzustellen, da immer wieder unterstellt wird, ich würde mich für Alternativen zur Euro-Politik aus kommerziellen Gründen einsetzen. Ich mache das genauso ehrenamtlich, wie ich meine Präsidentschaft der Leibniz-Gemeinschaft für einen Euro im Jahr ausgeübt habe. Nicht mal den habe ich bekommen. Auch meine Präsidentschaft des BDI, das wissen die wenigsten, habe ich sechs Jahre lang für einen Euro jährlich ausgeübt. Nein – für eine Mark! Heute bringe ich Ihnen vier Fragen mit, die ich Ihnen vorher nennen werde. Das hat für Sie den Vorteil, dass Sie wissen, wo ich mit meinem Vortrag jeweils bin. Für mich hat es den Vorteil, dass ich mir nur solche Fragen zu stellen brauche, von denen ich glaube, eine einigermaßen überzeugende Antwort zu haben. Später stehe ich natürlich zu weiteren Fragen zur Verfügung. Vorneweg: Ich war einmal ein enthusiastischer Befürworter des Euro. Als ich mich damals als Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie dafür eingesetzt habe, entsprach das nicht der Mehrheitsmeinung der Mitgliedsfirmen. Hätte ich damals eine anonyme Umfrage unter den über 100.000 Firmen gemacht, wäre wahrscheinlich ungefähr das Gleiche herausgekommen wie bei den Umfragen der Bürger – eine Ablehnung. Ich habe mich trotzdem für die Einheitswährung eingesetzt. Aus Gründen, die Sie alle kennen und die man heute immer noch hört. Übrigens auch von meinem Nach-Nachfolger Herrn Keitel als Präsidenten des BDI. * Der frei gehaltene Vortrag wurde für die Veröffentlichung transkribiert.

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Allerdings habe ich meine Meinung geändert. Die erste Frage, die ich für Sie beantworten möchte, ist: Warum? Die zweite Frage, die ich mir stelle: Wo führt das alles hin, was passiert jetzt? Die dritte: Gibt es Alternativen? Angeblich gibt es ja keine. Hat Frau Merkel gestern wieder im Bundestag gesagt. Jetzt sagt sie es allerdings anders. Sie sagt nicht mehr: Das ist alternativlos. Sie sagt jetzt: Alle anderen Möglichkeiten hätte sie überprüft und würden keinen Sinn machen. Die vierte Frage: Was bedeutet das eigentlich für Europa? Wenn ich Sie jetzt fragen würde, was Sie davon halten, wenn Deutschland zusammen mit Österreich, Finnland und Holland aus dem Euroverbund austreten, um eine eigenen Währung zu begründen, würden wahrscheinlich nur ganz wenige unter Ihnen das für eine gute Idee halten. Schon deshalb ist es auch Unsinn, meine Position als populistisch hinzustellen, wie das immer wieder versucht wird – eine bei uns besonders beliebte Methode, Andersdenkende, die an den deutschen Tabus rütteln, zu verunglimpfen. Wir haben ja hier heute jemanden unter uns, der das sehr leidvoll erfahren musste, Herrn Sarrazin! Mit Herrn von Arnim wären es schon zwei, mit mir nun drei. Wir alle merken immer wieder: Gehen dem Gegner die Argumente aus, werden wir in die rechte Ecke gestellt. Was bei mir relativ schwer fällt, nicht nur, weil ich lange bei Amnesty International tätig bin, sondern mich auch immer für die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union eingesetzt habe. Auch diese Position hat einer meiner Nachfolger im BDI inzwischen kassiert, ohne dass man ihm Populismus vorwarf. Zur ersten Frage: Ich habe meine Meinung aus drei Gründen geändert. Erstens hat die Politik sämtliche, und ich wiederhole, sämtliche Versprechen, die sie uns damals bei der Aufgabe der D-Mark gegeben hat, gebrochen. Die Verschuldungsgrenzen wurden inzwischen über 60 Mal überschritten, von Frankreich und Deutschland ganz am Anfang. Das Versprechen, nur solche Länder aufzunehmen, die nachhaltig bewiesen haben, dass sie reif für den Euro sind, wurde mit der Aufnahme Griechenlands gebrochen. Die Süddeutsche Zeitung hat vor Kurzem ausgegraben, dass ich bereits früh öffentlich gegen die Aufnahme Griechenlands protestierte. Ich wurde damals niedergemacht mit dem Argument, ich hätte keine Ahnung von der Geschichte, denn die Wiege der europäischen Demokratie müsse doch wohl von Anfang an dabei sein. Und wenn was schief ginge, dann würden die drei Prozent, die das Volumen Griechenlands im Euroverbund ausmachen, doch nichts anrichten können. Jeder der Ski fährt weiß, dass man eine Lawine mit einem kleinen Schneeball auslösen kann. Der größte Fehler wurde dann im Mai 2010 gemacht. Es war unter anderem Horst Köhler, der damals als Staatssekretär unter Finanzminister Waigel die „nobail-out-Klausel“ gegen erbitterten Widerstand der Franzosen durchgesetzt hat. Diese Klausel war für mich die entscheidende Brandmauer zwischen dem deutschen Steuerzahler und seinen Kindern und den Politikern in anderen Ländern. Wie Sie alle wissen, ist der Bundespräsident Horst Köhler zwei Tage, nachdem er den Abriss seiner Brandmauer im Schloss Bellevue unterschrieben hat, aus persönlichen Gründen zurückgetreten.

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Und ich sage mal ganz klar und deutlich an alle diejenigen, die immer noch glauben, der Euro war die richtige Entscheidung: Niemand von ihnen hätte damals dem Euro zugestimmt, wenn auch nur eine einzige dieser Bedingungen, die inzwischen über Bord geworfen wurden, nicht vorhanden gewesen wäre. Wie man dann heute immer noch sagen kann, der Euro sei eine Erfolgsgeschichte und die Entscheidung sei richtig gewesen, erschließt sich mir nicht. Der zweite Grund für meine Meinungsänderung liegt darin, dass ich erst im Laufe der Jahre merkte, dass eine Einheitswährung in unterschiedlichen Währungs- und Wirtschaftskulturen zu Verwerfungen führen muss. Dafür drei Beispiele. Erstes Beispiel: Die griechische Regierung hätte sich niemals so verschulden können, wenn sie nicht plötzlich Zugriff zu den niedrigen deutschen Zinssätzen gehabt hätte – eine Folge des Euro. Die Zinsaufwendungen im griechischen Haushalt sind zwischen 1998 und heute deshalb auch lange nicht so angestiegen wie die Schulden. Anstatt die Zinsersparnisse dazu zu benutzen, die griechische Infrastruktur aufzubauen und aufgenommene Schulden zurückzuzahlen, haben dort die Politiker zusätzliche Schulden gemacht. Ohne die mit dem Einheitseuro einhergehenden Einheitszinsen wäre das nicht möglich gewesen. Dies zuzugeben, fällt nicht nur griechischen, sondern auch unseren Euromantikern offensichtlich sehr schwer. Das zweite Beispiel ist die Immobilienblase in Spanien. Niemals hätte diese mit spanischen Zinssätzen entstehen können. Nur wegen der zu niedrigen Einheitszinsen entstand eine Immobilienblase, die in ihrer Wucht der in den Vereinigten Staaten nicht nachstand. Das dritte Beispiel: Der Euro hatte allen Südländern zwischen Griechenland und Frankreich die Möglichkeit genommen, ihre Wettbewerbsfähigkeit über Abwertungen zu sichern. Griechenland ist auch deshalb nicht mehr wettbewerbsfähig, Frankreich auch nicht. Ich habe elf Jahre in Frankreich gelebt und gearbeitet. Die französische Wirtschaft ist heute auch nicht mehr konkurrenzfähig. Aber über Jahrzehnte konnte sie auch durch teilweise starke Abwertungen den Anschluss an die Wettbewerbsfähigkeit halten. Daran ändert auch nicht die Tatsache, dass sich die französische Währung in den Jahren vor der Einführung des Euro stabilisierte. Und der dritte Grund für meinen Meinungswechsel: Der Euro hat sich zu einer veritablen Ansteckungsmaschine entwickelt. Es war vorher undenkbar, dass wir in Deutschland husteten, wenn Griechenland eine Erkältung bekam. Die Bonität Deutschlands wird demnächst wegen der Schuldenprobleme anderer Euroländer in Mitleidenschaft gezogen. Seit Einführung des Einheitseuros hängt alles mit allem zusammen. Statt uns durch die Brandmauer, die „no-bail-out-Klausel“, vor dem Übergreifen von Brandherden in der Eurozone zu schützen, sorgt der Euro jetzt für Funkenflug. Hier haben Sie also die Antwort auf meine erste Frage. Anscheinend bin ich immer noch der Einzige, der früher mal für den Euro gewesen war und nun zugibt, dass das ein Fehler war. Diejenigen, die damals schon dagegen waren, Schachtschneider, Hankel, Starbatty & Co., sind natürlich auch heute noch dagegen und füh-

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len sich zu Recht bestätigt. Ich ziehe meinen Hut vor ihnen. Nur, wieso bleibe ich bisher der Einzige, der öffentlich zugibt, sich beim Euro geirrt zu haben? Die Antwort: Das Rütteln am Einheitseuro ist zu einem Tabu erklärt worden. Herr Sarrazin hat an einem anderen Tabu gerüttelt. Bei uns tanzt man um die Tabus wie um goldene Kälber, und die sich politisch korrekt gebende Denkpolizei macht jeden nieder, der sie infrage stellt. Heute Morgen hat mich Poscher, ein Schreiber von der „Welt“, mal so eben als Neo-Populisten bezeichnet. Damit hat er eine ebenso geschickte wie infame neue Melange aus „neoliberal“ und „rechtspopulistisch“ zusammengebraut, um mich zu diskreditieren. Das sind Goebbelsche Methoden und auch von Schnitzler hätte das im Schwarzen Kanal des DDR-Fernsehens nicht besser gekonnt. Nun könnte man ja den Standpunkt vertreten, dass Fehler nun mal passiert seien und man nach vorn blicken müsse, anstatt sich dauernd mit der Vergangenheit zu beschäftigen, wie ich das eben getan habe. Eine durchaus vernünftige Vorgehensweise, die übrigens auch von Vertretern aus der Wirtschaft in Krisenzeiten angewendet wird. Zu Recht, denn man vergeudet wertvolle Zeit. Diese braucht man für die Lösung der Probleme für die Zukunft und nicht zum Jammern über die Vergangenheit. Allerdings: Wenn man die aktuellen Probleme lösen will, müsste man sich doch zumindest darüber Gedanken machen, warum es schief gelaufen ist. Erst wenn man eine klare Diagnose für den Europatienten hat, sollte man eine Therapie verschreiben. Genau diese Diagnose wurde nie erstellt, von einer Prognose ganz zu schweigen. Und das führt mich zur zweiten Frage: Wo führt das eigentlich alles hin? Für mich ist das völlig klar. Ich habe es schon vor 15 Monaten in meinem Buch beschrieben. Damals hatte man versucht, mich erst für verrückt zu erklären, dann auszugrenzen. Inzwischen konvergieren fast alle Ökonomen und fast alle Wirtschaftsredaktionen in einer meiner Diagnose für den Euro-Patienten. Sie brauchen Sie ja nur die FAZ, die Financial Times oder das Handelsblatt aufzuschlagen, auch den Spiegel, der den Euro schon zwei Mal auf der Titelseite beerdigt hat. Alle sagen mehr oder weniger alle das Gleiche. Sie lamentieren über die Gesetzesbrüche, über die von der EZB gekauften Schrottpapiere, über die angeworfene Gelddruckmaschine. Sie sind sich auch mehr oder weniger in der Prognose einig und sehen die ursprüngliche Währungsunion ziemlich klar auf dem Weg in die Transferunion. Nur eine alternative Therapie beschreibt keiner. Kein Wunder, dass Frau Merkel einfach behaupten kann, ihre Europolitik sei alternativlos. Was bedeutet eigentlich eine Transferunion? Wir haben in Deutschland eine lange Erfahrung mit dem Länderfinanzausgleich. Eine Armee von Finanzfachleuten im Bundestag hat seit Jahrzehnten immer wieder versucht, dieses System organisierter Verantwortungslosigkeit zu ändern. Übrigens nicht nur aus der CDU/CSU, sondern auch Leute aus der SPD. Zurzeit versucht Herr Kretschmann, der Grüne aus BadenWürttemberg, den Länderfinanzausgleich wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Es wird nicht klappen, weil die drei Geberländer von den 13 Nehmerländern immer wieder dann überstimmt werden, wenn dieses System geändert werden soll. Was ist das für ein System? Wenn Herr Seehofer einen Euro mehr einnimmt, muss er 97 Cent

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davon abgeben. Entsprechend wenig unattraktiv ist es für ihn, sich um zusätzliche Einnahmen zu bemühen. Das Gleiche gilt für das überschuldete Bremen. Wie gefährlich dieses System sein kann, zeigte der letzte Wahlkampf in Berlin. Klaus Wowereit hat versprochen, alle Kindergärten in Berlin kostenlos anzubieten. Ich persönlich fände es auch viel besser, wenn man Kindergärten kostenlos anbieten würde und dafür Studiengebühren an den Universitäten erhebt. In Berlin kostet jetzt beides nichts mehr. Das bedeutet aber, dass diese Kindergartenplätze in Berlin nun von den Steuerzahlern von Hessen, Baden-Württemberg und Bayern finanziert werden. Dort kosten Kindergärten heute immer noch was. Und wie reagieren die dortigen Ministerpräsidenten auf die Großzügigkeit Berlins? Sie glauben, ihren Wählern kaum zumuten zu können, nicht nur ihre eigenen, sondern auch noch die Kindergartenplätze Berlins bezahlen zu müssen. Resultat: ein Wettrennen in Richtung immer mehr Ausgaben, immer weniger Einnahmen und am Ende höhere Schulden. Dieses System organisierter Verantwortungslosigkeit führen wir jetzt in der Eurozone ein. Nun fand gestern im Bundestag wieder einmal eine große Diskussion über weitere Rettungsschirmmilliarden statt. Das Hauptthema war die parteienübergreifende Forderung, über weitere Zahlungen oder Bürgschaften jedes Mal den Bundestag zu befassen. Das war auch eine Auflage des Bundesverfassungsgerichts. Für mich war das eine Geisterdiskussion, denn längst hat die Europäische Zentralbank ein zweites Loch im Eimer aufgemacht. Durch diese fließen jetzt die Milliarden zu unseren Lasten, ohne dass Bundestag, ja ohne dass unsere Regierung, jemals damit befasst wäre. Inzwischen werden jede Woche Staatspapiere in Milliardenhöhe nicht nur mehr aus Griechenland und Portugal, sondern inzwischen auch Spanien und Italien gekauft. Heute sind es schon 170 Milliarden – mit steigender Tendenz. Wir wissen weder wie viele dieser Papiere aufgekauft werden, noch wofür. Aber wir glauben zu wissen, dass Axel Weber aus persönlichen Gründen zurückgetreten ist. Damals ging es um die Abstimmung darüber, ob griechische und portugiesische Staatsanleihen gekauft werden sollen. Als darüber abgestimmt wurde, ob nun auch spanische und italienische Anleihen aufgekauft werden sollen, trat Jürgen Stark aus persönlichen Gründen zurück. Der demnächst zu verabschiedende ESM entzieht dem Bundestag, der Regierung und natürlich uns Bürgern ohnehin völlig die Kontrolle über neue Bürgschaften und Kredite. Die Transferunion ist also längst da. Demnächst haben Hessen, Baden-Württemberg und Bayern nicht nur die dreizehn deutschen Nehmerländer, sondern auch noch 14 weitere Eurozonen-Nehmerländer zu alimentieren, zusammen mit drei anderen Geberländern aus der Eurozone: Finnland, Holland und Österreich. Ich unterscheide immer gern zwischen dem, was ich glaube, was passiert und dem, was passieren müsste. Was passieren wird? Wir sind auf dem Weg von einer Währungsunion über eine Schuldenunion und dann schnurstracks in eine Inflationsunion. Offensichtlich sieht Angela Merkel tatsächliche keine Alternative mehr. Seit dem Einreißen der Brandmauer, der „no-bail-out-Klausel“, auf französischen Druck, be-

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findet sie sich auf einem abschüssigen und glitschigen Pfad, von dem sie kaum noch herunter kann. Den entscheidenden Fehler hat sie im Mai 2010 mit dem Einreißen dieser Brandmauer begangen. Damals rettete der deutsche Steuerzahler nicht Griechenland, er rettete auch nicht den Euro, er rettete französische Banken. Als Madame Lagarde vor Kurzem vorschlug, die Banken in der Eurozone zu re-kapitalisieren, was auch ich für vordringlich halte, fügte sie schlauerweise hinzu, dies müsse über den EFSF geschehen. Damit hat sie wieder einmal klar gemacht, dass die Deutschen mit ihrem Anteil am ESFS vor allem französische Banken sanieren sollen. Natürlich haben wir auch in Deutschland Banken, die Papiere in Griechenland im Feuer haben, aber nicht nur viel weniger als die Franzosen, sondern bei uns liegen sie sowieso schon meist in den Tresoren staatlicher oder verstaatlichter Banken. Hätten wir Griechenland damals dem IMF überlassen und insolvent werden lassen, hätte Frankreich seinen Anteil ohne deutsche Beteiligung allein abschreiben müssen. Das hätte sofort dazu geführt, dass die französischen Banken allesamt hätten verstaatlicht werden müssen. Das Rating Frankreichs wäre schnell auf dem Niveau Portugals gelandet. Mit unserer Bonität erhalten wir es. Die Frage ist: wie lange? Irgendwann wird auch unsere Bonität in Mitleidenschaft gezogen. Das führt mich jetzt zur dritten Frage: Welche Alternativen gibt es? Der Euro wird weiter „gerettet“, koste es – die Deutschen – was es wolle. Das ist die wahrscheinliche Alternative, ich nenne sie mal die Alternative „A“. Sehen wir uns jedoch die Alternative „B“ einmal an. Über die wird in Deutschland inzwischen gesprochen, ohne dass man gleich in der Schweiz um politisches Asyl nachsuchen muss. Vor Kurzem war es noch politisch höchst inkorrekt, darüber zu spekulieren. Es geht um Griechenland. Da gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine, ich nenne sie mal B1: Wir entlasten Griechenland von seinen Schulden. Was bedeutet das? Nun, wenn Griechenland entschuldet wird, spricht man ja auch vom „haircut“. Ich habe noch ein paar Haare, viele von Ihnen auch. Vor drei Wochen war ich beim Friseur, ich muss in drei Wochen wieder zum Friseur. Und das wird Griechenland genauso gehen. Denn es gibt nicht einen einzigen Grund anzunehmen, dass Griechenland durch eine Entschuldung wettbewerbsfähiger wird. Ich habe jetzt eine Woche dort verbracht, davor zwei Tage in Istanbul. Allein der Vergleich dieser Länder, die bei Einführung des Euro in einem recht ähnlichen Zustand waren, zeigt die verheerende Wirkung, die eine starre und zu starke Währung auf ein sich noch entwickelndes Land hat. Wir können Griechenland völlig entschulden, aber dadurch wird nicht ein griechisches Textilunternehmen, nicht eine Reederei, nicht ein Hotel wettbewerbsfähiger. Die Türkei boomt dagegen. Industrie hat sich dort angesiedelt, die Neuverschuldung ist unter Kontrolle, die Arbeitslosenzahlen sinken, die Steuerbasis steigt. Nur komisch: Gegenüber der türkischen Lira hat der griechische Euro stark zugelegt. Umgekehrt hätte es laufen müssen. In der Tat, es gibt viele Beispiele für erfolgreiche Entschuldungen. Russland war eins, Argentinien ein anderes. Es gibt über 100 andere. Aber es gibt nicht ein einziges Beispiel dafür, dass man ein Land ohne Abwertung entschuldet hätte. Eine Abwertung ist aber in der Eurozone nicht möglich. Durch die Entschuldung Griechenlands

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wird wieder einmal nur Zeit gekauft; mit einer nur internen Abwertung, wie jetzt durch die teilweise absurd unrealistischen Sparversprechungen griechischer Politiker versucht, kann man die griechische Wirtschaft nie wettbewerbsfähig machen. Kommen wir zur Alternative B2. Man könnte ja Griechenland aus der Eurozone entlassen. Das ginge auch legal, obwohl der Vertrag einen Austritt oder Ausschluss nicht vorsieht. Griechenland hat sich die Mitgliedschaft durch Vorgabe falscher Zahlen erschlichen. Und wie überall im Leben, kann man aus einem Verein, in den man sich durch Vorgabe gefälschter Angaben eingeschlichen hat, auch wieder ausgestoßen werden. Ich wusste vorher auch nicht, dass Griechen türken können. Ich habe trotzdem Verständnis dafür, dass die Politik Angst davor hat, Griechenland aus der Eurozone zu entlassen. Es gibt sofort einen Bankensturm in Athen. Das hat ja schon ein bisschen eingesetzt. Die BILD-Zeitung, die immer in unsäglicherer Form auf Griechenland und die Griechen einschlägt, aber in unverbrüchlicher Treue zum Einheitseuro steht, berichtete soeben, dass reiche Griechen schon über 200 Milliarden in der Schweiz gebunkert haben. Aber wir müssen auch mit einem Sturm auf die Banken in Lissabon, am darauf folgenden Tag in Rom und dann vielleicht in Paris rechnen. Das Szenario, Griechenland rauszuwerfen, ist also extrem risikoreich. Deshalb glaube ich auch, dass es richtig war, diesen Schritt nicht zu riskieren. Das bringt mich zur Alternative „C“: Deutschland, Finnland, Österreich und Holland lassen den Euro da, wo er ist, lassen ihm auch die Europäische Zentralbank, steigen aber von sich gemeinsam aus und begründen eine eigene Euro-Währung, die genauso konzipiert ist, wie sie mal für den Euro vorgesehen war: Mit einer von der Politik unabhängigen Zentralbank, mit genau den Regeln, die früher mal in Maastricht festgelegt wurden, natürlich ohne Eurobond oder ähnlichen Systemen der Vergemeinschaftung von Schulden, mit der alten Brandmauer, der „no-bail-out-Klausel“. Die verbleibenden Euroländer dagegen wollen den Eurobond. Sie können ihn haben. Sie wollen eine Europäische Zentralbank, die sich so verhält wie die Federal Reserve Bank in den USA. Wir sollten ihnen diese Möglichkeit eröffnen. Wir wollen die Schuldenbremse, die Sozialisten in Frankreich wollen sie nicht. Sollen sie doch ohne weitermachen. Durch diese Trennung würde der Euro natürlich abgewertet. Aber genau das gäbe den Südländern auch die Chance, wieder zu wachsen. Heute haben sie diese nicht mehr. Überall dort schrumpft das Inlandsprodukt, sinkt die Zahl der Unternehmen, steigt die Arbeitslosigkeit, schrumpft die Steuerbasis. Der „Nord-Euro“ würde aufgewertet. Völlig klar, dass dann unsere Exporte nicht mehr so leicht laufen würden wie heute. „Aber Herr Henkel, dann bekommen wir ja Schweizer Verhältnisse“, meinte Frau von der Leyen kürzlich in einer Fernsehsendung. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass mal ein Politiker mit Empörung von den „Schweizer Verhältnissen“ reden würde. Diese Verhältnisse hätte ich recht gern. In der Schweiz ist die Arbeitslosigkeit halb so hoch wie bei uns, die Schweiz hat eine viel niedrigere Verschuldung, eine geringere Inflation.

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Natürlich würden unsere Exporte durch eine Aufwertung des „Nord-Euro“ belastet. Aber das Schweizer Problem würden wir nicht bekommen. Deutschland ist kein Fluchtwährungsland und wird es nach Bekanntwerden der rot-grünen Steuerpläne bestimmt auch nicht werden. Im Augenblick flüchten die Deutschen mit ihrem Geld in die Schweiz. Und warum nun plötzlich alle, wenn der Nord-Euro käme, mit ihrem Geld nach Deutschland flüchten würden und dadurch den „Nord-Euro“ einen zusätzlichen Aufwertungsschub geben sollen, ist nicht ersichtlich, zumal im verbleibenden Euroraum viel höhere Zinsen gezahlt würden. Ich habe mir mal herausgenommen, ein anderes Beispiel zu nehmen, an dem wir uns eher orientieren können: Schweden, ein Nicht-Euro-Land mit einer ähnlichen Wirtschaftsstruktur wie Deutschland, ähnlich klein wie die Schweiz, hat auch eine Aufwertung erfahren, diese aber unter Kontrolle bekommen und mit guten Resultaten: niedrigere Arbeitslosigkeit als wir, dort wächst der Export auch, die Inflation ist übrigens schon lange niedriger als bei uns, die Neuverschuldung auch. 91 % der Schweden wollen den Euro nicht mehr haben. Natürlich weiß ich, dass meine Nachfolger im BDI sich für einen Verbleib im Einheitseuro einsetzen; auch die Vertreter der meisten großen Firmen, obwohl die Front unter vier Augen schon längst begonnen hat, zu wackeln. Aus der Sicht der Deutschen ist der Euro erfreulich weich, das hilft unseren Exporten überall in der Welt. Aus der Sicht der Franzosen, Griechen und Italiener ist er zu schwer. Aber wir hatten früher auch 17 Aufwertungen der D-Mark und die deutsche Industrie hat immer davon profitiert, dass der ständige Aufwertungsdruck ihr immer im Genick war. Wir mussten schon deshalb immer besser sein als die anderen, produktiver, effizienter, kreativer. Dieser Druck schwindet Jahr für Jahr mit dem Einheitseuro. Es lässt sich kurzfristig ganz nett damit leben. Man braucht sich mit den Gewerkschaften nicht mehr so anzulegen, wir exportieren trotzdem. Für mich ist das aber ein groteskes Exportförderungsmodell der deutschen Bundesregierung, welches der Exportindustrie hilft, aber die finanziellen Folgen im Süden der Eurozone den deutschen Steuerzahlern und seinen Kindern aufbürdet. Noch ein paar Informationen zum „Nord-Euro“ – die Details kann ich Ihnen hier aus Zeitgründen nicht alle ausbreiten. Wir hätten also zwei Zentralbanken: Neben der EZB, die weiterhin für den Euro zuständig wäre, eine nach dem Modell der Bundesbank konzipierte Zentralbank, für den „Nord-Euro“. Wir können davon ausgehen, dass einige der EU-Länder, die heute nicht mehr bereit sind, dem Euro beizutreten, sofort beim „Nord-Euro“ mit von der Partie wären, Schweden, Tschechien, Dänemark zum Beispiel. Das Ergebnis: In der EU hätten wir eher weniger als mehr Währungen. Eine „flexible membership“ zwischen beiden Währungsgebieten wäre möglich. Irland würde einen Übergang zum „Norden“ innerhalb weniger Jahre schaffen können. Die Zentralbank für den Norden würde extreme Wechselkursschwankungen ähnlich begegnen können, wie es die Schweizer Nationalbank jetzt auch erfolgreich praktiziert, in dem sie eine weitere Aufwertung des Franken unter den Kurs von 1,20 erfolgreich verhindert. Natürlich ist der Übergang nicht einfach, aber wenn es möglich war, aus siebzehn Einzelwährungen eine zu machen, dann sollte es auch möglich

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sein, aus einer wieder zwei zu machen. In jedem Fall würden beide Währungen der unterschiedlichen Wirtschafts- und Stabilitätskulturen des Südens und des Nordens viel eher entsprechen. Die Währungen wären nicht mehr zu weich für den Norden und nicht mehr zu hart für den Süden. Es ist sicher realistischer, eine Währung den Bedürfnissen eines Kontinents anzupassen, als mit dem Festhalten am Einheitseuro einen ganzen Kontinent den Bedürfnissen einer Währung unterzuordnen. Im Übrigen: Irgendwann mal, wenn wirklich die europäische Realität so verändert wird, dass eine einheitliche Währung allen passt, kann man ja wieder zu einer gemeinsamen Währung zusammenfinden. Lassen Sie mich zur vierten Frage, der nach Europa, kommen. Frau Merkel wird nicht müde zu sagen: „Scheitert der Euro, scheitert Europa“. Ich halte das für eine unverantwortliche Aussage. Auch der Konvent für Deutschland, dem ja nicht nur Sozialdemokraten und Grüne, sondern auch Christdemokraten und Freie Demokraten unter der Führung von Roman Herzog angehören, hat sich von dieser Gleichsetzung des Euro mit Europa öffentlich distanziert. Auch deshalb, weil der Euro ja durchaus scheitern könnte. Bisher sind alle Währungsverbünde wieder aufgelöst worden. Zuletzt die zwischen Tschechien und der Slowakei. Und was sagt Frau Merkel uns dann? Man muss sie daran erinnern, dass es Europa auch schon vor dem Euro gab, dass Europa aus 51 Ländern besteht und nicht nur den 17 Ländern der Eurozone und dass selbst in der EU immer noch 10 Länder sind, die nicht im Euro sind und deren Bevölkerung ihn, mit Ausnahme Rumäniens, gar nicht mehr wollen. Glauben Sie doch nicht, dass Schweden oder Dänemark oder Großbritannien oder Polen oder Tschechien in diesen Club der organisierten Verantwortungslosigkeit eintreten wollen, wenn sie als Eintrittsticket erst mal eine anteilige Schuldenübernahme von Griechenland und Portugal übernehmen müssen. Das können die Politiker dieser Länder ihren Wählern nicht mehr zumuten. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, welches die Perversion dieses Systems am allerbesten illustriert. Finnland. Sie alle wissen, dort gibt es „Die wahren Finnen“. Aus deutscher Sicht sind sie Rechtsradikale. Das ist natürlich Quatsch. Aber es war nicht etwa eine Vertreterin dieser Partei, es war die sozialdemokratische Finanzministerin von Finnland die gesagt hat. „Wir machen beim EFSF nicht mit. Wir können unseren finnischen Steuerzahlern, Rentnern und Arbeitnehmern nicht zumuten, dass wir für das, was die da im Süden veranstaltet haben und noch veranstalten werden, mithaften.“ Wissen Sie, was die Griechen dann gemacht haben? Sie haben der finnischen Regierung Sachwerte in genau dem Umfang überschrieben („collaterals“), mit dem Finnland dann im EFSF gebürgt hat. Und keine deutsche Zeitung hat das skandalisiert. Wäre dieser Deal zwischen Finnland und Griechenland nicht zustande gekommen, hätte es den EFSF nicht gegeben, wäre die Währungsunion geplatzt. Wissen Sie, wer letzten Endes für diese den Finnen gegebenen Garantien haftet, wenn Griechenland den Bach runtergeht? Wir! Denn wir haben dann entsprechend weniger Werte, auf die wir in der Konkursmasse zugreifen könnten. Die Finnen dagegen sind fein raus. Allein dieses Beispiel sollte auch den größten Euromantikern zeigen, dass der Einheitseuro auch moralisch an die Wand gefahren ist. Und wenn Frau Merkel uns jetzt erzählt, dass wir den Euro für Europas

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Integration und für den Frieden brauchen, muss man sie daran erinnern, dass er inzwischen genau das Gegenteil von dem anrichtet, für das er einmal gedacht war. Es tun sich doch immer mehr Gräben in Europa auf. Vor der Griechenland-Krise war Deutschland das beliebteste Land in Griechenland. Heute sind wir dort das am meisten verhasste, obwohl wir für Griechenland am meisten bürgen. Die „Bild am Sonntag“ hatte vor einigen Wochen auf der Titelseite eine Fotografie der Demonstrationen in Athen. Da war die schöne Europa-Flagge mit den 12 gelben Sternen und diese waren in der Form eines Hakenkreuzes angeordnet. Klar, der größte potenzielle Gläubiger meint, es seinen Steuerzahlern schuldig zu sein, den größten potenziellen Schuldnern auf die Finger zu klopfen. Nur, es ist auch verständlich, dass das zu enormen Ressentiments der Schuldner gegenüber dem Gläubiger, in diesem Fall gegenüber Deutschland führen muss. Herr Schäuble verlangt von den Griechen Firmen zu privatisieren, deren Äquivalente in Deutschland immer noch in staatlicher Hand sind, und bei uns nicht einmal auf der Privatisierungsliste stehen. Frau Merkel verlangt von den Belgiern, das dortige Lohnfindungssystem, das an die Inflation gekoppelt ist, aufzugeben. Bei uns wäre das ein eklatanter Bruch der Tarifautonomie. Kein Wunder, dass sich die Belgier diese Einmischung verbitten. Wir verlangen von den Portugiesen und Italienern, dass sie mehr sparen, von den Spaniern, dass sie ihren Arbeitsmarkt liberalisieren und nicht so lange Urlaub machen, von den Franzosen das Renteneintrittsalter nicht wieder zu senken, sondern anzuheben und dazu noch eine Schuldenbremse in deren Verfassung aufzunehmen. Alles logisch aus der Sicht eines Gläubigers, aber was bedeutet das für den Zusammenhalt in Europa? Was für die Demokratie? Innerhalb der Eurozone tut sich bereits jetzt ein ganz klarer Graben zwischen potenziellen Geber- und Nehmerländern auf. Und das wird nicht so gemütlich laufen, wie zwischen Geber- und Nehmerländern in Deutschland. Und dann muss ich auf einen anderen Graben aufmerksam machen. Der macht mir mindestens genauso viel Sorge. Ursprünglich sollte ja mal die Eurozone identisch mit der EU sein. Das wird sie nicht mehr. Mit jedem Schritt in mehr Richtung Eurointegration und Fiskalunion wird die Chance geringer, dass die anderen Länder, die heute nicht in der Eurozone sind, da mitmachen. Dieser Graben verbreitert sich ständig. Bei den Briten tut sich zurzeit eine Bewegung innerhalb der Konservativen auf, sogar aus der EU auszusteigen, eindeutig als Folge der chaotischen Nachrichten über den Euro vom Kontinent. Aber auch bei uns ist das zu beobachten. Nicht nur ist die Zufriedenheit mit dem Euro auf einem historischen Tief, die Zufriedenheit mit der EU ist es auch. Das ist auch eine direkte Folge des Einheitseuros. Wie kann man da immer noch behaupten, wir brauchen den Euro zur Integration, wenn er heute schon für zentrifugale Fliehkräfte sorgt? Noch etwas: Wann haben Sie das Wort Subsidiarität von einem deutschen oder einem europäischen Politiker zuletzt gehört? Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen. Hier wird buchstäblich als Nebenprodukt von Eurorettungspakten ein zentralistisches Eurozonen-Europa aufgebaut. Frau von der Leyen redete kürzlich schon von den Vereinigten Staaten von Europa. Aber nicht einmal in den

Die Euro-Rettung: ein Thema für Wut-Bürger?

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USA kommt jemand auf die Idee, dass Texas dem überschuldeten Kalifornien mit Rettungsschirmen an die Seite springt. Herr Schäuble will den Präsidenten Europas zukünftig vom Volk wählen lassen. Was für ein Wahnsinn! Wir haben 23 unterschiedliche Sprachen in der EU. Stellen Sie sich mal eine Talk-Show bei Anne Will vor, in der ein Portugiese, ein Grieche, ein Brite und ein Deutscher, jeweils mit Simultanübersetzung, sich den deutschen Wählern als Kandidat für die Präsidentschaft Europas vorstellen. Wir dürfen ja nicht mal unseren eigenen Präsidenten direkt wählen. Dieser ganze Unsinn erblickt das Licht der Welt, „um den Euro zu retten“. Die Diskussion muss wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Erst mal müssen wir doch die Frage beantworten, ob wir wirklich ein Vaterland Europa wollen. Ich will es nicht. Ich habe Europa immer als ein Europa der Vaterländer verstanden. Ich war immer für Subsidiarität in Deutschland und natürlich auch in Europa, so wie im Vertrag von Lissabon auch vorgesehen. Subsidiarität ist ein Erfolgsrezept, egal ob in der Politik oder in der Wirtschaft. Größe ist kein Selbstzweck. Man muss die Verantwortung möglichst so weit nach unten legen wie möglich, nah am Kunden, nah mal Bürger. Um den Euro zu retten, bekommen wir über die Hintertür eine Fiskalunion, einen Zentralstaat, und den nur für die 17 Länder der Eurozone! Meine Damen und Herren, Sie kennen nun meinen Vorschlag. Wir erleben eine wahre griechische Tragödie. Sie wird enden wie eine griechische Tragödie. Die Frage ist, welches Ende ist das Beste für ein gedeihliches Europa. Ein „Weiter so“ ist es bestimmt nicht. Für mich ist ein Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne Ende!

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Hans-Olaf Henkel Von Johanna Wolff Sebastian Frankenberger, Landesvorstand der Initiative „Mehr Demokratie in Bayern“ und Bundesvorsitzender der ÖDP, stellte in Frage, dass der Euro „ein Thema für Wutbürger“ sein kann. Konkret frage er sich, wohin der Protest, den Henkel sich offenbar wünsche, denn münden solle. Nicht einmal die Politik, selbst die auf europäischer Ebene, könne nach seiner Einschätzung noch mitentscheiden. Henkel sagte darauf, dass nach einer Forsa-Umfragen eine Partei, die für Europa und gegen den Einheitseuro wäre, Aussicht auf 37 Prozent der Stimmen bekommen würde und damit erfolgreicher wäre als derzeit die CDU. Ein Ventil für Wutbürger könne es daher theoretisch sein, eben diese Partei zu gründen – „wenn eine Parteigründung in Deutschland nicht so schwer wäre“. Seine eigene Strategie sei, stattdessen jedem, der in der FDP ist, zu raten, für die so genannte Scheffler-Initiative1 zu stimmen, und jedem, der nicht in der FDP ist, zu raten, dort einzutreten. Eine Partei zu beeinflussen sei einfacher, als eine neue zu gründen. Arne Schimmer, MdL im Sächsischen Landtag, machte zur Einleitung seiner Frage auf Erkenntnisse des Ökonomen Hans Werner Sinn aufmerksam, wonach die Bundesbank etwa 400 Milliarden Euro an Notenbanken in Südeuropa und Irland im Rahmen des EZB-Zahlungsverkehrssystem Target22 verliehen habe und dieser Betrag nun ausfallgefährdet sei.3 Da es für die Überweisungen weder einen Parlaments- noch einen Kabinettsbeschluss gebe, erschienen ihm diese verfassungswidrig. 1 Anm. der Protokollantin: Gemeint ist die Initiative des MdB Frank Scheffler für einen Mitgliederentscheid in der FDP. In dem entsprechenden Aufruf spricht sich Scheffler unter anderem gegen „unbefristete Rettungsmaßnahmen für europäische Staaten“ aus und plädiert dafür, „überschuldeten Staaten einen geordneten Austritt aus dem Euro zu ermöglichen, um ein ungeordnetes Auseinanderbrechen unserer Währung zu verhindern“, wenn „sich die bisher beschlossenen Maßnahmen nicht als hinreichend herausstellen“. Der Antrag ist abrufbar unter: www.fdp-mitgliederentscheid.de/positionen/antrag/ (Stand: 15. 11. 2011). 2 Anm. der Protokollantin: Die Abkürzung steht für „Trans-european Automated Real-time Gross settlement Express Transfer system“. 3 Anm. der Protokollantin: Vgl. Frankfurter Allgemeinen Zeitung v. 11. 11. 2011, „465 Euro Risiko“ – auch zu den Gegenargumenten der Bundesbank, wonach die Target2Salden „kein sinnvoller Indikator für Risiken“ sind – abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/ wirtschaft/deutsche-bundesbank-465-milliarden-euro-risiken-11525275.html (Stand: 15. 11. 2011).

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Henkel erwiderte, dass, auch wenn in der von Sinn errechneten Summe von 465 Milliarden Euro „alles drin“ sei – „nämlich die Target2-Salden, unser Anteil von ca. 17 Prozent der Ankäufe der EZB, die Bürgschaften, die Einlagen bei der EZB usw.“ – diese Summe „beängstigend“ sei. Verwunderlich sei allerdings, dass sich sämtlich Ökonomen und Wirtschaftsredaktionen gegenseitig in „Schwarzmalerei“ überträfen, gleichzeitig aber der Eindruck vermittelt würde, es gebe keine Alternativen. Zur Frage einer möglichen Anrufung des Bundesverfassungsgerichts sagte Henkel, er halte das nicht für aussichtsreich. Thilo Sarrazin, Finanzsenator a.D., Vorstand der Deutschen Bundesbank a.D., ging anschließend zunächst noch einmal auf das System Target2 ein, indem er die Funktionsweise erläuterte: Wenn ein Land in der Leistungsbilanz Defizite habe, bedeute das „nichts anderes, als dass das Ausland ihm Geld leiht“. So habe auch Deutschland anderen Ländern Geld geliehen, etwa über Handelswechsel, über Kredite und eben auch über Salden im Zahlungssystem. Diese Salden habe man „naiv auflaufen lassen“, weil etwa griechische und italienische Banken, die diese Salden am Ende gehabt hätten, als ungefährdet gegolten hätten. Ungefährlich und unproblematisch sei diese Praxis aber in dem Moment nicht mehr, in dem diese Banken insolvenzgefährdet seien. Darüber hinaus wies Sarrazin auf einen „kritischen Punkt“ in Henkels Vortrag hin: Das von Henkel prognostizierte, auf den Euro-Raum zukommende solidarische System könne man nicht gut, wie Henkel dies getan hatte, mit dem im Grundgesetz vorgesehenen Länderfinanzausgleich vergleichen. Der Länderfinanzausgleich sei nämlich allein an den Einnahmen orientiert; bei den Ausgaben seien die Bundesländer allein. Den von Henkel vorgeschlagenen Weg eines Nord-Euro bezeichnete Sarrazin als „ungeheuer elegant“ und „faszinierend“. Politisch gesehen sei es jedoch nur ein „Scheinausweg“. Er glaube schon nicht, dass Deutschland „die Kraft finden würde, diesen Weg zu gehen“. Vor allem aber, sinke, wenn der „ehemalige DMRaum“ (Österreich und die Niederlande hätten schon seit den 50er Jahren faktisch ihre Währungen an die DM gebunden) aus dem Euro ausscheide, die Attraktivität der Übriggebliebenen so sehr, dass auch für diese das Zusammenbleiben keinen Reiz mehr habe. Den Süd- und den Nord-Euro werde es daher nach seiner Einschätzung nicht geben. Henkel dankte Sarrazin für die Klarstellung bezüglich des Länderfinanzausgleichs. Er werde auf den Vergleich künftig verzichten. Die Chancen für einen Nord- und einen Süd-Euro sehe er, anders als Sarrazin, steigen. Unter den „Süd-Ländern“ gebe es – insbesondere mit Frankreich – eine steigende Zahl, die „das deutsche Modell“ insofern ablehnten, als sie keine Unabhängigkeit der Zentralbank und keine Schuldenbremsen wollten, dafür aber eine Abwertung der Währung. Es sei daher, so Henkel, nicht zu erwarten, dass andere Länder sich Deutschland anpassten. Die Angleichung werde vielmehr andersherum verlaufen: „Wir werden weniger diszipliniert, und wir werden weniger wettbewerbsfähig.“ Damit laufe es darauf hinaus, dass sich Europa auf einem Durchschnitt einpendele, „der ungefähr der Situation

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von Frankreich“ entspreche, wodurch die Euro-Zone insgesamt nicht mehr wettbewerbsfähig sein werde. Der Diskussionsleiter, Ministerialdirigent Dr. Thomas Darsow, Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern, stellte nun selbst eine Frage: Er wollte wissen, wie sich Henkel ein weiteres Vorgehen, insbesondere angesichts der Tatsache vorstelle, dass es beim Thema Euro keine Opposition gebe. Henkel antwortete, das wisse er auch nicht. Er sei ein Einzelkämpfer und fühle sich wie das Kind in „Des Kaisers neue Kleider“ oder wie ein Autofahrer, der mit lauter Geisterfahrern auf der Autobahn allein sei. Dabei sei sein Vorschlag gangbar. Diejenigen Staaten, die nicht am Nord-Euro teilnehmen würden, seien auch keine Verlierergesellschaft. Sie könnten eine dynamische Gruppe bilden, die wieder wächst. Griechenland etwa sei gut mit der Türkei vergleichbar, die derzeit boome und acht Prozent Wachstum verzeichne. Der Unterschied sei nur, dass die Türkei ihre Währung abwerten könne. Albert Janssen, Landtagsdirektor i.R., äußerte sich skeptisch zu der Idee einer Staatsschuldenbremse, da diese nach seiner Einschätzung effektiv „überhaupt nichts bewirken“ würde. Im Übrigen sehe auch er die Entwicklung des Euro sehr kritisch. In diesem Zusammenhang bemängelte er insbesondere, dass „die deutsche Mentalität intensiv eine Europagläubigkeit vertritt“. Henkel warf zu dem ersten Gedanken ein, dass man sich „keine Illusionen machen solle“: Tatsächlich könne eine Schuldenbremse jederzeit mit einer Zwei-DrittelMehrheit wieder abgeschafft werden. Zur Frage einer möglichen Europagläubigkeit merkte er an, dass es falsch sei, den Euro mit Europa gleich zu setzen. Ebenso falsch sei es, dass die Durchsetzung deutscher Interessen mit Europafeindlichkeit gleich gesetzt werde.

Widerstand heute Von Hans Herbert von Arnim I. Einleitung 2011 war ein bewegtes Jahr, das die Menschen auch innerlich aufgewühlt hat, und das geht wohl auch 2012 so weiter. Zunehmend haben viele das Gefühl, selbst die wichtigsten politischen Beschlüsse würden über unsere Köpfe hinweg getroffen. Die wahrgenommene Kluft zwischen Berufspolitikern und Volk scheint immer größer zu werden. Das Wort „Wutbürger“ wurde geboren. Diese Situation ruft geradezu danach, das Thema „Widerstandsrecht“ etwas genauer zu beleuchten. Dabei soll unter „Widerstand“ ein Agieren der Bürger gegen die Herrschenden, ein Aufbegehren gegen Unrecht, gegen Gemeinwohl- und Demokratieverstöße und gegen anderes illegitimes Handeln verstanden werden. Es geht mir dabei um die Durchsetzung von Allgemeinbelangen, die zu kurz zu kommen drohen, nicht um die Durchsetzung bloßer Eigeninteressen. Bürgerinitiativen und Demonstrationen gegen Deponien, Windräder, Strommasten etc. nach dem Motto „Not in my backyard“ (Nimby) oder, auf Deutsch: „Hannemann, geh du voran!“ sind also nicht die Aktionen, die ich hier unter den Begriff „Widerstand“ subsumieren möchte. Oft geht es auch gar nicht so sehr um den Inhalt, also um das Was, sondern um das Wie der Entscheidung, also darum, dass die Menschen sich als politisch und wirtschaftlich entmachtet empfinden. Für den Juristen besteht die zentrale Frage darin, ob und unter welchen Umständen ein Recht zum Widerstand besteht. Es geht in der Diskussion aber darüber hinaus auch um die Frage: Unter welchen Umständen kann Widerstand – unabhängig vom Recht – ethisch gerechtfertigt sein? In Nordafrika, im Nahen Osten und in vielen anderen Staaten ist auch heute noch der Widerstand gegen Tyrannen und gegen diktatorische Regime das große Thema. Uns Deutsche erinnert das unwillkürlich an den 20. Juli 1944 und an die unblutige Revolution 1989 in der DDR. Doch das ist für den Westen eigentlich untypisch. Das Abendland hat seine Aufklärung und seine Revolutionen, die die schärfste Form des Widerstandes darstellen, hinter sich. Sie erfolgten bereits vor mehr als 200 Jahren: die Amerikanische Revolution von 1776 und die Französische Revolution von 1789. Gedanklich vorbereitet wurden sie durch englische und französische Staatstheoretiker • wie John Locke, der die ewigen Menschenrechte beschwor und ein Widerstandsrecht gegen Unterdrückung propagierte,

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• durch Charles de Montesquieu, den Vater der Gewaltenteilung, • durch Jean-Jacques Rousseau und seine Lobpreisung der Demokratie. Rousseaus Contrat Social von 1762 beginnt mit den berühmten Worten: „Der Mensch ist frei geboren, ist frei – und liegt doch überall in Ketten.“ • Aber auch Friedrich Schiller, der Verkünder des deutschen Idealismus, hatte großen Anteil an der Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts in unserem Lande, und auch er postulierte ein Widerstandsrecht gegen Unterdrückung. Vor 200 Jahren war das noch ganz schön gefährlich. Nur wenig später mussten das auch die großen Pfälzer, Hanns Wirth und Philipp Siebenpfeiffer, am eigenen Leibe erfahren. Sie bezahlten ihr aufrührerisches Denken, das sie auf dem Hambacher Fest von 1832 mit zündenden Reden zum Besten gegeben hatten, mit dem Verlust ihrer bürgerlichen Existenz. Aber zurück zu Schiller. In seinem Schauspiel „Wilhelm Tell“, das Schiller 1802 abgeschlossen hatte, lässt er den Stauffacher, vor der versammelten Mannschaft der Verschwörer, Sätze sagen, die in ihrem idealistischen Pathos auch heute noch ins Mark zielen. Ich zitiere: „Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last – greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel, Und holt herunter seine ewgen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenüber steht – Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben – Der Güter höchstes dürfen wir verteidgen Gegen Gewalt – Wir stehn vor unser Land, Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder!“ (Wilhelm Tell, II. Akt, 2. Szene, Verse 1257 – 1289)

Hier wird – neben dem Recht auf Widerstand – die Idee der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte ganz deutlich, die überpositiv, d. h. unabhängig vom geschriebenen Recht, gelten. – Und dass sie heute auch bei uns wirklich Geltung beanspruchen, hat das Grundgesetz ganz klar gemacht. Art. 1 Abs. 2 GG lautet: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum (gemeint ist: wegen der in Abs. 1 für unantastbar erklärten Menschenwürde) zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Auch ein Widerstandsrecht findet sich heute im Grundgesetz. Die Vorschrift wurde 1968 bei Erlass der Notstandsverfassung – sozusagen als Beruhigungspille – ins Grundgesetz eingefügt. Art. 20 Abs. 4 GG lautet:

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„Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung (gemeint ist die verfassungsmäßige Ordnung) zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“

Doch bis zum Bekenntnis zu vorgegebenen Menschenrechten und zum Widerstandsrecht dauerte es bei uns in Deutschland eineinhalb Jahrhunderte. Die größten deutsche Köpfe waren lange strikt dagegen: Immanuel Kant lehnte Widerstand ab, er akzeptierte nur schriftliche oder mündliche Kritik. Martin Luther war auf religiösem Gebiet zwar selbst der allergrößte Revolutionär – und ein erfolgreicher dazu. Aber zum Widerstand gegen den Missbrauch weltlicher Herrschaft nahm er eine eher restriktive Haltung ein. Bekannt wurde seine Berufung auf den Römerbrief, 13, 1 : „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott.“ Von dieser widerstandskeptischen Haltung rückte die evangelische Kirche dezidiert und entschlossen erst mit ihrer großen Denkschrift von 1985 ab, die den Titel trägt: „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe“. Heute ist es geradezu eine Ironie der Geschichte, dass die Verankerung der Menschenrechte und des Widerstandsrechts im Grundgesetz zu einer Zeit geschah, als sie ihre praktische Bedeutung bereits weitgehend verloren hatten. So jedenfalls die herrschende Auffassung unter meinen staatsrechtlichen Kollegen. Denn im Grundgesetz scheinen nunmehr – sozusagen als Krönung der geschichtlichen Entwicklung – viele Errungenschaften der rechts- und sozialstaatlichen Demokratie verankert und damit rechtlich festgeschrieben, wofür frühere Revolutionäre gestritten, gekämpft und gelitten haben. II. Der kleine Widerstand der Normallage Widerstand gegen ein diktatorisches Regime ist bei uns, zum Glück, nicht mehr aktuell. Allenfalls in Grenzfällen müssen wir auf das frühere Gedankengut zurückgreifen. Darauf wird noch zurück zu kommen sein. Daneben kennen wir aber auch den „Widerstand der kleinen Münze“, wie Arthur Kaufmann das genannt hat, und viele Formen dieses kleinen Widerstandes, den das Grundgesetz und die Landesverfassungen ausdrücklich gestatten, sind hoch aktuell. Dabei geht es dann nicht um Revolution, sondern um das Einfordern von Reformen. 1. Widerstand mit Wort und Feder So ist der Widerstand mit Wort und Feder durch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung und die Freiheit der Medien und der Wissenschaft garantiert. Die Kritik von Missständen sollte eine Hauptaufgabe von Journalisten und Intellektuellen sein. Vor allem sollte sie – dieser Hinweis auf den eigenen Berufsstand sei gestattet – zum Wesen des Professorenamts – jedenfalls von Staats- und Politikwissenschaftlern – gehören. Womit wollte man sonst den privilegierten Status des staatsfi-

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nanzierten, mit wissenschaftlicher Freiheit ausgestatteten Lebenszeitbeamten rechtfertigen? Das hatte wohl auch Ernst Fraenkel im Sinn, einer der theoretischen Gründungsväter an der Wiege der Bundesrepublik. Fraenkel schrieb: Die Wissenschaft vom Staat und von der Politik ist „kein Geschäft für Leisetreter und Opportunisten.“ Eine Wissenschaft, „die nicht bereit ist, ständig anzuecken, die … davor zurückschreckt, Vorgänge, die kraft gesellschaftlicher Konvention zu arcana societatis erklärt worden sind, rücksichtslos zu beleuchten,“ habe „ihren Beruf verfehlt“. Hier dürfte dem Medium Internet eine mit der Zeit immer größere Rolle zukommen. Erlaubt das Internet doch jedermann, ohne dass dies erst durch die Schleuse mächtiger Zeitungs- oder Rundfunk-Redakteure gehen muss, Kritik an Missständen zu äußern. 2. Demonstrationsrecht Ganz wichtig ist auch das Demonstrationsrecht, das Art. 8 GG garantiert. Die breite Berichterstattung über Stuttgart 21 hat den Menschen überall Mut gemacht, nicht mehr alles über sich ergehen zu lassen. Auch die „Occupy Wallstreet“-Bewegung gehört hierher. In Indien war erst kürzlich ein alter Mann, Anna Hazare, in den Hungerstreik getreten, weil das neue indische Antikorruptionsgesetz Spitzenpolitiker von der Strafbarkeit ausnahm. Hazare entfachte eine ganze Volksbewegung, so dass die Regierung schließlich versprach, die Gesetzeslücke zu schließen. In Deutschland ist die Lage – wenn auch auf deutlich niedrigerem Korruptionsniveau – gar nicht so unähnlich. Man kann einem deutschen Abgeordneten Geld oder sonstige Vorteile anbieten – und riskiert in der Regel nicht mehr, als dass der einen rauswirft. Dabei fordert eine – eigentlich für Bananenrepubliken gedachte – Antikorruptions-Konvention der Vereinten Nationen Deutschland seit langem auf, einen wirksamen Straftatbestand gegen die Korruption von Abgeordneten zu erlassen – bisher erfolglos. Mit den Worten Ciceros möchte man heute ausrufen: Quo usque tandem, Bundestag, abutere patientia nostra ? Wie lang willst du, Bundestag, unsere Geduld noch strapazieren? 3. Direkte Demokratie Auch Volksbegehren und Volksentscheid gehören hierher. Der Widerstandsersatz-Charakter von Volksentscheiden ist dann offensichtlich, wenn die Initiative dazu von unten kommt, durch Volksbegehren aus der Mitte der Bürgerschaft. Derartiges gibt es bisher nur in Kommunen und Ländern und in Form eines Initiativrechts neuerdings auch in der EU. Mit dem Instrument der direkten Demokratie wurde vor 15 Jahren in vielen Bundesländern die Direktwahl der Bürgermeister durchgesetzt, die es früher nur in Süddeutschland gegeben hatte. Und neuerdings ist in NordrheinWestfalen ja auch eine Abwahl des Bürgermeisters auf Initiative des Volkes und durch das Volk möglich, wie das etwa in Duisburg praktiziert wurde.

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Jetzt steht ein anderes großes Projekt an, die Direktwahl der Ministerpräsidenten. Auch diese Reform kann natürlich nur an der politischen Klasse vorbei, also durch Volksbegehren und Volksentscheid, durchgesetzt werden. In Bayern soll dazu im Frühjahr 2012 eine Initiative beginnen. Die Reform will die dortige Landesverfassung umkrempeln, im Mittelpunkt steht die Einführung der Wahl des Ministerpräsidenten direkt durch das Volk. Auf Bundesebene werden Volksbegehren und Volksentscheid den Bürgern bisher allerdings noch vorenthalten. Auch der Mitgliederentscheid innerhalb politischer Parteien kann, wenn er nicht „von oben“ initiiert ist, ein Instrument des Widerstandes sein. Ein Beispiel für einen derartigen Versuch lieferte Ende 2011 der Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler, der innerhalb der FDP eine Initiative gegen weitere Rettungsmaßnahmen für überschuldete Euro-Staaten angestrengt hatte. 4. Wahl und Abwahl Die Möglichkeit, Politiker abzuwählen bzw. nicht wieder zu wählen, ist ebenfalls ein Mittel des Widerstandes. Der große Staatsphilosoph Karl Raimund Popper erblickt geradezu das Wesen der Demokratie darin, schlechte Politiker ohne Blutvergießen wieder los zu werden. Aber – Hand aufs Herz – besitzen wir in der Bundesrepublik diese Möglichkeit wirklich? Können nicht, eigentlich abgewählte, Regierungschefs durch geschickte Koalitionspolitik, wohlgemerkt: nach den Wahlen, ihre Stellung dann doch behaupten? Nicht einmal unfähige Abgeordnete kann der Wähler wieder loswerden, solange die Partei an ihnen festhält und sie bei Wahlen an sicherer Stelle platziert. 5. Klagen vor Verfassungsgerichten a) 5 %-Klausel bei Europawahlen Ein anderes Mittel des kleinen Widerstandes sind Klagen vor Verfassungsgerichten. Eine solche Klage hatte ich gegen die Europawahl von 2009 erhoben u. a. wegen Verfassungswidrigkeit der 5 %-Klausel. 30 Verfassungsrechtsprofessoren und 500 weitere Bürger waren der Klage beigetreten. Darauf erklärte das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 9. November 2011, das mit einer Mehrheit von 5:3 erging, die Sperrklausel für verfassungswidrig. In Zukunft werden Europawahlen ohne Sperrklauseln stattfinden. b) Kopernikanische Wende: Aufbrechen des Parteienkartells Bemerkenswert ist auch die Begründung des Urteils. Sie markiert fast so etwas wie eine kopernikanische Wende der Rechtsprechung zu Wahlen. Diese Wende hat der zuständige Zweite Senat des Gerichts nun endgültig vollzogen, nachdem er und die Landesverfassungsgerichte bereits die 5 %-Klausel bei Kommunalwahlen

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für verfassungswidrig erklärt hatten. Das Bundesverfassungsgericht kontrolliert nunmehr sehr viel schärfer als früher und begründet das wie folgt: Da der Wahlgesetzgeber „in eigener Sache tätig“ werde, bestehe die Gefahr, dass er „sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten“ lasse und „die Wahl eigener Parteien auf europäischer Ebene durch eine Sperrklausel und den hierdurch bewirkten Ausschluss kleinerer Parteien absichern könnte.“ Deshalb unterlag die 5 %-Klausel „einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle“ – und wurde aufgehoben. 6. Botschaft des 5 %-Urteils: Überhangmandate: verfassungswidrig Dass die Parteien und Abgeordneten, wenn es um Machterhalt geht, nicht unbefangen sind, wollten die Abweichler im Zweiten Senat, Udo di Fabio und Rudolf Mellinghoff, und auch der Bundestagspräsident Norbert Lammert allerdings nicht wahrhaben. Aber ist es nicht offensichtlich? Sieht man es nicht auch jetzt wieder, und zwar an der Beibehaltung von Überhangmandaten im soeben verabschiedeten neuen Bundestags-Wahlgesetz? Die Union hatte bei der Bundestagswahl 2009 24 Überhangmandate erhalten. Deshalb nutzten die Regierungsparteien ihre Mehrheit, um an dem Mechanismus, der zur Entstehung von Überhangmandaten führt, entschlossen festzuhalten. So wollen sie ihre Chancen auch bei der nächsten Bundestagswahl verbessern. Die Opposition wollte Überhangmandate dagegen beseitigt sehen. Sie wies auf den demokratischen Supergau hin, der droht, falls die nächste Regierungsmehrheit tatsächlich auf dem Systemfehler der Überhangmandate beruhen sollte. Nach der Botschaft, die das 5 %-Urteil aussendet, dürfte es nunmehr aber fast sicher sein, dass es schon deshalb nicht zu einem solchen Gau kommen wird, weil das Gericht schon vorher das neue Bundeswahlgesetz aufheben wird. Mehrere Klagen sind bereits anhängig. III. Widerstand des klaglos gestellten Bürgers gegen krasse Rechtswidrigkeiten? 1. Der parteienstaatliche Absolutismus Häufig aber fehlt dem Bürger selbst bei groben Verfassungsverstößen die Befugnis zu klagen. Dabei geht es weniger um Details wie die überzogene Altersversorgung vieler Politiker, um steuerfreie Bezüge, um die verfassungswidrige Selbst-Bewilligung von Extra-Diäten, um die fehlende Strafbarkeit von Abgeordneten-Korruption, um den lebenslangen Ehrensold von Bundespräsidenten oder um Fälle parteipolitischer Ämterpatronage, die vor kaum einem wohl dotierten staatlichen Posten halt macht. Es geht vielmehr um das Ganze. Schaut man nämlich genauer hin, so erkennt man eine politische Klasse von Berufspolitikern, die sich von den Bürgern abschottet und – verzeihen Sie mir die dras-

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tische Ausdrucksweise – eine neue Form des Absolutismus bildet, einen parteienstaatlichen Absolutismus: Die politische Klasse hat sich auf höchst raffinierte Weise „legibus absolutus“ gemacht, d. h. von der Bindung an die für alle geltenden Normen befreit. Formal unterliegt sie zwar den Gesetzen. Doch die macht sie selbst – in ihrem Sinne. Das gilt vor allem für die zentralen Regeln des Machterwerbs (wie Wahlrecht und Politikfinanzierung). Formal unterliegt sie auch dem Grundgesetz. Doch das kann sie ändern, und die Richter, die das Grundgesetz auslegen und damit verbindlich erklären, was es besagt, bestimmt sie selbst nach ihren Vorstellungen – und äußert öffentliche Entrüstung, wenn das Gericht nicht „spurt“ und Richter – getreu dem sog. Beckett-Effekt – ihr Amt wichtiger nehmen als die Wünsche derer, die sie berufen haben. Zudem wird den Bürgern, die Verfassungswidriges vors Gericht bringen wollen, oft die Klagebefugnis vorenthalten – nach einer Prozessordnung, über die wiederum die politische Klasse disponiert. Im Wettrennen von Hase und Igel gleicht das Volk dann meist dem Hasen. Einst richtete sich der Widerstand gegen absolute Herrscher. Die hatten sich mit Ludwig XIV. gebrüstet „L‘etat c‘est moi“ und damit ganz klar gemacht, wer den Staat in der Hand hat und wer bestimmt, wohin die Reise geht. Wäre es nun aber in der heutigen Situation ganz falsch, wenn die etablierten politischen Parteien bzw. ihre politische Klasse in Regierungen und Parlamenten sagen würden „Der Staat sind wir“? Um eine – zugegeben kühne – Parallele aus dem Märchen von „Tausend und eine Nacht“ zu bemühen: Reitet die politische Klasse nicht den Staat ganz ähnlich wie die – zunächst ganz harmlos anmutende – alte Frau, die sich von Sindbad, dem Seefahrer, auf den Schultern durch den Fluss tragen ließ, ihm dann aber mit dem Druck ihrer Schenkel den Hals zuzudrücken drohte und ihn so in ihre Richtung zwang – bis er sie schließlich betrunken machte und abwerfen konnte? – auch ein Akt des Widerstandes. Jetzt ernsthaft: Wird hier nicht ein lange übersehener Mangel unserer Rechtsordnung deutlich? Die Väter und Mütter des Grundgesetzes bauten – die Exzesse des Nationalsozialismus vor Augen – zwar den Rechtsstaat in bisher nie gekannter Weise aus. Dem Volk aber, das einem Adolf Hitler zugejubelt hatte, trauten sie wenig zu. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuß verglich das Volk – man mag es heute gar nicht mehr glauben – im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz 1948 entwarf, tatsächlich mit einem wütenden Hund, vor dem man sich in Acht nehmen müsse. „Cave canem!“ war sein fatales Wort, mit dem er den Parlamentarischen Rat die Furcht vor dem Volke lehrte – und das an der Wiege der geplanten bundesrepublikanischen Demokratie! Dabei waren es politische Parteien (einschließlich Theodor Heuß selbst), die Deutschland an Hitler ausgeliefert hatten, als sie 1933 im Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zustimmten. Wegen dieses Geburtsmangels unserer Republik sind die demokratischen Verbürgungen in unserem Lande so wenig ausgeprägt. In die Lücke konnten die politischen Parteien einströmen und sich mit den Jahren immer breiter machen. Das demokra-

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tische Defizit zeigt sich z. B. an der merkwürdigen Wahl des Bundespräsidenten durch die sog. Bundesversammlung, die aber praktisch auf ein Bestimmung durch wenige Parteiführer hinausläuft. Nicht von ungefähr galt Christian Wulff als Bundespräsident von Angela Merkels Gnaden. Das Defizit sieht man auch am Ausschluss von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene und vor allem daran, dass die Parteien im Wesentlichen bestimmen, wer Abgeordneter wird und wer nicht – und nicht die Bürgerschaft. Damit stellt sich der Rechtswissenschaft in Bezug auf das Widerstandsrecht ein neues Problem. Historisch entwickelte sich das Institut „Widerstand“ im Kampf gegen Gewaltherrschaft. Davor schützt heute der ausgebaute Rechtsstaat. Der Mangel an Demokratie und die Usurpation des Staates durch die politische Klasse schaffen dagegen Probleme, zu denen ein Widerstandsrecht dogmatisch erst noch konzipiert werden muss. In einem Vortrag müssen dazu Andeutungen genügen. 2. EU-Recht und Währungsunion Ein weiterer Kandidat, der möglicherweise zu einem Widerstandsrecht führen könnte, ist die Entwicklungen in der Europa- und Währungsunion, insbesondere die Verletzungen des EU-Rechts bei der Entstehung der Euro-Krise und bei den Versuchen, sie zu bewältigen. Denn das Bundesverfassungsgericht hat es in seinem Rettungsschirm-Urteil vom 7. September 2011 abgelehnt, darüber zu entscheiden, ob der Rettungsschirm gegen Europarecht verstößt, obwohl dies m. E. ziemlich offensichtlich ist, und die Rechtmäßigkeit vom Europäischen Gerichtshof klären zu lassen, haben Bürger und Steuerzahler kein Recht. Hier ist also eine andere Abhilfemöglichkeit für den Bürger im Sinne des Art. 20 Abs. 4 GG nicht ersichtlich. 3. Art. 146 GG Eine Widerstandssituation könnte auch bei Übertragung gewichtiger weiterer Kompetenzen auf die Europäische Union aktuell werden. Eine solche Übertragung ist unter dem Grundgesetz nämlich nicht möglich, weil die deutsche Demokratie dann ihr Wesen aufgäbe. Dafür bräuchte es gemäß Art. 146 GG einen Volksentscheid. So hat jedenfalls das Bundesverfassungsgericht in mehreren Urteilen entschieden. Von solchen Eingriffen in die „integrationsfeste Verfassungsidentität“ der Bundesrepublik scheint die offizielle Politik aber gar nicht mehr allzu weit entfernt. Dagegen könnte zwar das Gericht angerufen werden, so dass „andere Abhilfe“ im Sinne des Art. 20 Abs. 4 GG möglich erschiene. Wie aber wenn das Gericht, falls es zum Schwur kommt, „einknicken“ und seine bisherige Rechtsprechung verleugnen sollte (worauf manche hoffen)? Müsste man dann nicht zu dem Schluss kommen, dass tatsächlich eine Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Art. 20 Abs. 4 GG droht?

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4. Widerstandsrecht gegen einzelne grobe Rechtswidrigkeiten Selbst wenn man die Voraussetzungen für ein solches „großes“ Widerstandsrecht verneinen sollte, ist das Thema noch keineswegs erschöpft. Auch eine mittlere Widerstandsebene erscheint möglich. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich auch ein Widerstandsrecht gegen einzelne Rechtswidrigkeiten erwogen. Ein solches Widerstandsrecht könnte (mit dem früheren Bundesverfassungsrichter Willi Geiger) mit Art. 1 Abs. 2 GG begründet werden. Darin bekennt sich, wie erwähnt, das deutsche Volk zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten, die, früher jedenfalls, auch ein Widerstandrecht gegen Verfassungsverstöße beinhalteten. IV. Formen des Widerstandes: ziviler Ungehorsam ausnahmsweise rechtmäßig Um welche Formen des Widerstandes geht es? Um politischen Streik? Um die Verweigerung von Steuern? Damit wird erst recht juristisches Neuland betreten. Nicht zu vergessen ist ja auch, dass Steuerhinterziehung an sich unter Strafe steht und Widerstand gegen die Staatsgewalt nach § 113 StGB sowieso. Ob Strafbarkeit vorliegt oder der Betreffende ausnahmsweise durch das Widerstandsrecht gerechtfertigt ist, entscheiden wieder die Gerichte, in letzter Instanz das Bundesverfassungsgericht. Wer Widerstand übt, tut das also auf eigene Gefahr. Ist der Bürger auch hier wieder nur der Hase? Immerhin erscheint es angebracht, auch an den sog. zivilen oder bürgerlichen Ungehorsam zu erinnern. Als solchen bezeichnet man, wie das Bundesverfassungsgericht in Anlehnung an die erwähnte Denkschrift der Evangelischen Kirche von 1985 ausführt „– im Unterschied zum Widerstand gegen ein Unrechtsregime – ein Widerstehen des Bürgers gegenüber einzelnen gewichtigen staatlichen Entscheidungen …, um einer für verhängnisvoll und ethisch illegitim gehaltenen Entscheidung durch demonstrativen zeichenhaften Protest bis zu aufsehenerregenden Regelverletzungen zu begegnen.“ Ziviler Ungehorsam ist – jedenfalls im Allgemeinen – rechtswidrig. Gerade in der ostentativen Inkaufnahme entsprechender Sanktionen liegt ja das Mittel, besonders nachhaltig auf den öffentlichen Prozess einzuwirken. Wenn nun aber wirklich schwere Rechtswidrigkeiten der Staatsorgane vorliegen, gegen die der Bürger keine Klagemöglichkeit zu den Gerichten besitzt, muss dann nicht wenigstens ziviler Ungehorsam möglich sein, der dann eben ausnahmsweise nicht rechtswidrig, sondern in Wahrnehmung des Widerstandsrechts erlaubt wäre? Dieser Gedanke rückt die Voraussetzungen anerkannten zivilen Ungehorsams in den Mittelpunkt. Normalerweise sind diese gar nicht so relevant, weil ziviler Ungehorsam ohnehin als rechtswidrig gilt. In Wahrnehmung eines Widerstandsrechts aber könnte er ausnahmsweise gerechtfertigt, d. h. legal, sein. Das Bundesverfassungsgericht hat die Voraussetzungen definiert. Anlass zu Aktionen des zivilen Ungehorsams kann danach

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• „nur eine Angelegenheit von wesentlicher allgemeiner Bedeutung, insbesondere die Abwendung schwerer Gefahren für das Gemeinwesen sein“; • dabei gehe es „nicht um eine faktische Verhinderung des Protestanlasses, insbesondere nicht um eine effektive Lähmung staatlicher Funktionen, sondern um ein dramatisches Einwirken auf den Prozess der öffentlichen Meinungsbildung;“ • „kennzeichnend sei stets, dass der Ungehorsam unbedingt gewaltfrei und damit unter Ausschluss eines Risikos für andere auszuüben sei“, • „ferner öffentlich und demgemäß prinzipiell kalkulierbar“ • „und im Übrigen zeitlich und örtlich verhältnismäßig im Sinne praktischer Konkordanz unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände.“ Eine, zugegeben noch sehr zurückhaltende, vorläufige These geht also dahin: Mindestens dann, wenn die genannten Voraussetzungen gegeben sind und der Ungehorsam in Ausübung eines Widerstandsrechts erfolgt, müsste er als gerechtfertigt und legal anerkannt werden. V. Gemeinsinn und Zivilcourage Die Existenz von Widerstandsrechten ist allerdings nur notwendige Voraussetzung, reicht aber noch lange nicht hin. Von den Rechten auch Gebrauch zu machen, verlangt zusätzlich eine bestimmte innere Haltung, die man kurz mit Gemeinsinn und Zivilcourage umschreiben kann. Wie wir uns auch drehen und wenden: Wir kommen an der Erkenntnis nicht vorbei, dass die Durchsetzung der nötigen Verbesserungen unseres Gemeinwesens „unsere Aufgabe ist und wir nicht darauf warten dürfen, dass auf wunderbare Weise von selbst eine neue Welt geschaffen werde“ (Karl Raimund Popper). Politik ist nun mal zu wichtig, als dass man sie allein den Berufspolitikern überlassen dürfte.

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Hans Herbert von Arnim Von Matthias Strunk Der Diskussionsleiter Konrad Hiersemann dankte Prof. von Arnim für seine Darstellung. Es sei deutlich geworden, dass auch das Grundgesetz das Ergebnis einer revolutionären Vorgeschichte sei, gleichwohl nicht so klassisch wie bei der französischen oder US-amerikanischen Verfassung. Interessant sei, dass die Grundrechte ein tägliches Widerstandsrecht zur Verfügung stellen würden. Joachim Link erkundigte sich, welche Mittel im Hinblick auf den Begriff „Widerstand agieren gegen Unrecht“ erlaubt seien, um Widerstand auszuüben. Dürfte Widerstand auch mit rechtswidrigen Mitteln ausgeübt werden? Dürfe der Castor-Transport mit Sitzen auf den Schienen und Schottern verhindert werden und NPD-Demonstrationen durch Sitzdemonstrationen? Nach seiner Ansicht seien rechtswidrige Mittel nicht legitimiert. von Arnim verwies auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der seit einiger Zeit auch normale Sitzblockaden zulässig seien. Widerstand sei nur als letztes Mittel überhaupt zulässig. Wenn man beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag stellen und ein Urteil herbeiführen könne, sei Widerstand nicht zulässig – dies sei die Ultima Ratio-Voraussetzung. Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Urteil zum Rettungsschirm vom 7. September keine Stellungnahme zur „No-Bail-Out-Klausel“ getroffen. Auch der Europäische Gerichtshof habe diese Frage ausgeklammert, obwohl eine Europarechtswidrigkeit vorliege. Die Bürger hätten zudem kein Klagerecht vor dem EuGH. In diesem Fall sei die Ultima Ratio-Voraussetzung gegeben, dennoch bleibe die Frage bestehen, wie weit man mit Widerstand gehen könne und welche Mittel erlaubt seien. Holger Kruse sprach das Verwaltungsgericht in Bayern an, bei dem in vielen Bereichen das Widerspruchsverfahren abgeschafft worden sei. Da eine Klage mit Kosten verbunden sei, sei das Widerstandrecht praktisch per Dekret abgeschafft worden. Rechtswidrige Verwaltungsentscheidungen würden dadurch umgesetzt, auch wenn sie in einem Widerspruchsverfahren hätten ausgeräumt werden können. Daher stelle sich die Frage, wie eine solche Abschaffung der Widerspruchsverfahren rückgängig gemacht werden könne. von Arnim erwiderte, dass man in diesem Fall die Partei wählen müsse, die die Wiedereinführung von Widerspruchsverfahren verspreche. Da es viele unterschiedliche Gerichtsbarkeiten gebe, bei denen kein herkömmliches Widerspruchsverfahren

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existiere und daher geklagt werden müsse, könne man nicht sagen, dass gegen die Abschaffung des Widerspruchverfahrens zwangsläufig Widerstand in Betracht komme. Michael Trieflinger meinte, dass gegen die Dritte Gewalt inzwischen – zumindest der kleine – Widerstand angesagt sei. Die Rechtsprechung erlasse gehäuft Unrechtsurteile, da der BGH durch seine Rechtsprechung den Rechtbeugungsparagraphen und die Dienstaufsicht verwässert habe. Die Rechtsprechung schotte sich somit von jeglicher Kontrolle und Kritik ab. So werde bei Beschwerde gegen ein Fehlurteil vom Gerichtspräsidenten erwidert, das Urteil dürfe aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit nicht bewertet werden. Dies sei falsch, da die richterliche Unabhängigkeit nur bis zum Urteil gelte und die Entscheidung müsse danach der Kritik unterliegen. von Arnim betonte, dass Widerstand normalerweise dann nicht gegeben sei, wenn Rechtsmittel zu den Gerichten offen ständen. Das Problem sei vielmehr, wer die Kontrolleure kontrolliere. Die vielen bestehenden Instanzen in Deutschland bis zum Bundesverfassungsgericht und zum Europäischen Gerichtshof bzw. zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte würden die Annahme zulassen, dass eigentlich ausreichend Möglichkeiten beständen, um gegen ein rechtswidriges Urteil vorzugehen. Sei dieser Weg ausgeschöpft, stelle sich die Frage, inwiefern Widerstand berechtigt sei. In kleiner Form sei er in jedem Fall berechtigt und würde bereits umgesetzt in Form von Leserbriefen, möglicherweise Demonstrationen und eventuell direkter Demokratie, wobei letztere meist nicht passe, da es sich um Einzelfälle handle. Trieflinger ergänzte, dass Vorschriften, die der Kontrolle der Rechtsprechung dienen, wieder als solche gefasst werden sollten, um so ihrer Aufgabe gerecht werden zu können. von Arnim fügte hinzu, dass dann der Widerstandsgegner der Gesetzgeber sei. Bei vielen kritisierten Dingen würde auf einem sehr hohen Niveau geklagt, da ein hohes Maß an Rechtsstaatlichkeit bestehe, nicht jedoch an Demokratie. Peter Vonnahme erläuterte, dass vieles, was heute als Widerstand bezeichnet werde, im Kern eigentlich nur Akte des zivilen Ungehorsams seien, was nicht das Gleiche wie Widerstand sei. Das deutsche Verfassungssystem beruhe auf der Vorstellung, dass der Unterlegene von heute der Sieger von morgen sein könne. Es sei also zumutbar mit einer Mehrheitsentscheidung zu leben, in der Hoffnung, dass diese später durch Veränderung der Machverhältnisse korrigiert werde. Die Frage sei, ob dieses Prinzip der Gelassenheit immer und uneingeschränkt gelte. In die Diskussion müsse deshalb ein weiteres Kriterium kommen, nämlich die Frage der Reversibilität politischer Entscheidungen. Wenn eine staatliche Maßnahme irreversibel sei, wie beispielsweise unwiderrufliche Umweltzerstörungen, so sei die Legitimität von Widerstandsakten offenkundig und umso mehr müsse es legitim sein, sich in einem Verfassungsstaat dagegen aufzulehnen. Dies sei echter Widerstand. Der Begriff des Widerstands solle daher auf die tatsächlichen Fälle eingeschränkt werden.

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von Arnim machte darauf aufmerksam, dass ziviler Ungehorsam nach herrschender Auffassung eine Rechtsverletzung voraussetze. Er sei nach herrschender Meinung dadurch definiert, dass man bewusst ein Recht breche und die Sanktionen dieses Rechtsbruchs auf sich nehme, um auf diese Weise demonstrativ die öffentliche Meinung hinter sich zu bringen und besonders aufzustacheln. Auf die Aussage von Vonnahme erwiderte er die Frage, ob ein solches System, wie dieser es geschildert habe, denn tatsächlich bestehe. Der englische Philosoph Karl Popper habe Demokratie dadurch definiert, dass sie eine Regierungsform sei, mit der das Volk schlechte Herrscher ohne Blutvergießen wieder loswerden könne. von Arnim verwies auf die Bundestagswahl 2009, bei der für die Wähler aufgrund der praktischen Gegebenheiten nicht die Möglichkeit bestanden habe, Angela Merkel als Kanzlerin abzuwählen. Ein weiteres Beispiel sei die Landtagswahl im Saarland 2009, bei der die CDU mit Peter Müller zuvor die alleinige Mehrheit gehabt und diese bei der Wahl sehr deutlich verloren habe. Überraschenderweise habe er dann nicht nur mit der FDP, sondern auch mit den Grünen eine Jamaica-Koalition gebildet, so dass er weiterhin regiere. Folglich erlaube das System eine solche Rotation, wie sie Vonnahme angesprochen habe, nicht. Ein weiteres Beispiel sei die Idee, eine neue Partei zu gründen, wenn sich Parlamentsparteien einig seien, um so als Outsider den Machthabern die Augen zu öffnen, damit diese auch die Missstände aufgreifen könnten. Dies setze jedoch Chancengleichheit voraus, die nicht bestehe. In seinem kürzlich veröffentlichten Band „Die politischen Parteien im Wandel“ habe er aufgezeigt, welche unerhörten Finanzmittel, aber auch sonstige personelle Ressourcen diejenigen hätten, die Insider seien – die Fraktionen, Abgeordneten, Parteienstiftungen. Diese Finanzmittel würden im Jahr über 500 Mio. Euro allein an Inlandsausgaben betragen. Dieses Geld werde in Stellung gebracht gegen jeden, der von außen die Burg des Parlaments stürmen wolle. Dem angesprochenen Punkt der Reversibilität von Maßnahmen, dass man bei irreversiblen Entscheidungen erst recht misstrauisch sein müsse, könne er dagegen voll zustimmen. Thilo Sarrazin meinte, dass man vor allen Dingen Zivilcourage meine, wenn man von Widerstand spreche. Zivilcourage sei das Vorfeld von Widerstand. Jeder, der in Gremien tätig sei oder andere Strukturen kenne, wisse, dass es daran fehle. Bei der gestrigen Abstimmung im Bundestag habe es sicherlich unter den vier Parteien, die grundsätzlich bei einigen Enthaltungen dafür gestimmt hätten, 80 bis 100 Abgeordnete gegeben, die vielleicht lieber anders gestimmt hätten. Sie hätten sich nicht geäußert, obwohl die Mehrheit andernfalls auch dagewesen wäre. In seinen Veranstaltungen kämen die Leute auch hinterher zu ihm und würden sagen, es sei gut, dass er das Thema endlich anspreche. Er erwidere daraufhin meist, dass einer nichts Neues sage. Aber wenn das alle sagen würden, ändere sich etwas. Hans-Ulrich Hartwig verwies auf den Grundsatz „Alle Macht geht vom Volke aus“. Das Wichtigste, was das Volk könne, sei wählen. Es wähle Parlamente, doch die Erfahrung zeige, dass diese in zweiter Reihe stünden und Entscheidungen von

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Regierungen in einer intransparenten Sphäre getroffen würden. Er fragte von Arnim daher, wie er die Transparenz einschätze und wie man sie wiederherstellen könne. Widerstand sei eine Möglichkeit, wieder auf die Parlamente einzuwirken. Auf der anderen Seite setze Widerstand jemanden voraus, den man kenne. In Hinblick auf die Finanzmärkte sei die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland im Juni oder Mai noch positiv dargestellt worden und plötzlich sei innerhalb von zwei Monaten die Krise da. Die Frage sei, wie man aufgrund solcher intransparenter und diffuser Bewegungen mit Widerstand reagieren könne. Per Lennart Aae fragte, ob zu den fünf Kriterien für Widerstand, die von Arnim genannt habe, nicht noch ein Grund hinzugefügt werden müsse. Deutschland sei ein demokratisch verfasster, souveräner Nationalstaat und werde von der Mehrheit der Bevölkerung so verstanden sowie vom Grundgesetz als solcher bestimmt. Der Staatsund Europarechtler Karl-Albrecht Schachtschneider sowie andere hätten jedoch festgestellt, dass dies aufgrund des Lissabon-Vertrages und der EU-Entwicklung nicht mehr gegeben sei. Dies ergebe sich aus zwei Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht 1993 im Maastricht-Urteil definiert habe, nämlich zum einen das Kriterium der demokratischen Verfasstheit, konkret dem sog. Legitimationskettenprinzip bei der Gesetzgebung, zum anderen das Kriterium der Souveränität, dass sich dadurch ausdrücke, dass kein anderes Konstrukt, dem Deutschland angehöre, selbst ein Staat werden dürfe. Die Frage sei, ob die Wegnahme der Grundlage des sozialen Kontraktes, also des staatsrechtlichen Vertrages zwischen den Menschen, der auch dem Staat und der Loyalität gegenüber dem Staat zugrunde liege, nicht auch ein wichtiges Kriterium oder ein wichtiger Grund sei, Widerstand zu leisten. Eckhard Kochte sagte, es würde in der laufenden Diskussion nur über kleinen Widerstand gesprochen, aber in Art. 20 Abs. 4 GG sei nur vom Widerstand gegen die Beseitigung des Staates oder die staatliche Ordnung die Rede, also der große Widerstand. Sei es erlaubt, aufgrund des Grundgesetzes so etwas wie eine Revolution durchzuführen? Die Möglichkeit der Staatsbeseitigung sei ja nicht mehr theoretisch, sondern es gebe Stimmen, die das durchaus für möglich oder sogar gegeben halten würden. Norbert Hiltner verwies auf den Vortrag von Christian Tomuschat, der davon gesprochen habe, dass die Menschenrechtspraxis bis vor einigen Jahren eine Tabuzone gewesen sei, sowie auf den Vortrag von Hans-Olaf Henkel, der ausgeführt habe, dass die offene Erörterung über die Notwendigkeit des Einheits-Euro absolute Tabuzone gewesen und auch heute noch in weiten Teilen von Politik und Wirtschaft sei.1 Bezüglich des von Arnim angesprochenen hohen Niveaus an Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik stelle er die Frage, ob dies nicht auch ein Tabu sei, was zu erörtern einmal notwendig wäre. Die Griechen hätten bereits gesagt, jede Staatsform neige zur Entartung – die Monarchie zur Tyrannei, die Aristokratie zur Oligarchie und die Demokratie zur Ochlokratie. Unsere heutige Demokratie neige nicht mehr zur 1

Beide Vorträge sind im vorliegenden Band enthalten.

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Ochlokratie, zur Herrschaft des Pöbels, sondern zur Herrschaft von Parteien, die letztendlich nicht mehr als verantwortlich erscheinen würden. Die Gegner der Demokratie kämpften heute nicht mehr mit Schwert und auch nicht mit Gaskammer. Aber sie würden mit der Verächtlichmachung des Gegners kämpfen. Die Deutschen seien dabei nicht sehr empfindlich, wenn jemand als Querulant verunglimpft werde. Dabei sei bekannt, dass auch die Männer des 20. Juli 1944 von den damaligen Machthabern als Querulanten verurteilt worden seien. Es müsse also aufgepasst werden, wenn Leute mit Zivilcourage ihre Meinung mit Nachdruck vertreten würden. Ein Beispiel sei die Diskrepanz zwischen Wolfgang Bosbach, der mit Nachdruck seinen Standpunkt gegen die Euro-Rettungsschirme profiliert habe, und Roland Pofalla, der ihm in unheimlich krasser Weise den Mund verboten habe. Ein weiteres Beispiel sei der vor zwei Jahren verstorbene Klaus Förster, der die erste Parteispendenaffäre, die sog. Flick-Affäre aufgedeckt habe. In keiner großen Zeitung habe es einen Nachruf gegeben. Noch ein Beispiel sei die zweite Parteispendenaffäre, das Ehrenwort von Helmut Kohl und im Gefolge damit der hessische Ableger und die sog. jüdischen Vermächtnisse. Ein aktuelles Thema sei ein Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag wegen vier Steuerfahndern, die aus seiner Sicht seit zehn Jahren um das Recht kämpfen würden. Ihnen sei offenbar rechtswidrig angewiesen worden, gewisse steuerliche Untersuchungen, die zu Mehreinnahmen hätten führen können, nicht durchzuführen. Sie seien von einem Arzt für Psychiatrie als dauernd querulatorisch, paranoid und dienstunfähig erklärt worden. Der Arzt sei inzwischen zu 10.000 Euro verurteilt, aber passiert sei nichts und diese Leute würden weiterhin vor dem Hessischen Landtag kämpfen. Er wolle deshalb das Wort an von Arnim richten, ob man diese aktuellen Fälle einmal so aufgreifen könne, dass auch die Presse, die Wissenschaft und andere Institutionen sowie die Parteien dies ernsthaft diskutieren würden. von Arnim stimmte Hartwig zu, dass eines der Probleme missbräuchlicher Herrschaft das Verschleiern sei. Nicht umsonst habe Machiavelli gesagt, wenn du nicht überzeugen könnest, müssest du verwirren. Dies sei eine bewusste und unbewusste Strategie, möglicherweise Missbräuche zu verschleiern. Es müsse klar sein, dass Widerstand nicht nur gegen erkannte Missbräuche, sondern auch gegen Intransparenz durchaus in Betracht komme. Auf die Anmerkung von Aae erläuterte er, dass die Grenzen des souveränen Staates nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlassen werden, wenn z. B. Frau Ursula von der Leyen sage, wir müssten einen europäischen Bundesstaat schaffen. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, habe ausgeführt, dass in diesem Fall das Grundgesetz zweifellos verletzt werde und dann sei eine Widerstandslage da. Diese könne allerdings überwunden werden, wenn man das Grundgesetz durch eine neue Verfassung ersetze. Dies habe das Bundesverfassungsgericht zuletzt am 7. September, aber auch im Lissabon- und Maastricht-Urteil gesagt, dass dann der Fall des Art. 146, also das Erfordernis einer neuen Verfassung mit Volksabstimmung, bestehe. Im Augenblick bestehe keine Volkssou-

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veränität, weil das Volk die Verfassung bzw. das Grundgesetz nicht gemacht habe. Volkssouveränität setze dies jedoch voraus durch die Wahl eines parlamentarischen Rates, der den Entwurf mache und darüber abstimme. Die Frage von Kochte, ob das Grundgesetz eine Ermächtigung zur Revolution darstelle, beantwortete er damit, dass dies auf den ersten Blick einen Widerspruch in sich darstelle, jedoch sage Art. 146 GG, dass an die Stelle des Grundgesetzes irgendwann eine vom Volk abgesegnete Verfassung treten müsse. Wenn nun Andreas Voßkuhle als Präsident des Bundesverfassungsgerichts sage, dass dies der Fall sei, wenn noch erheblich mehr Kompetenzen an die EU abgegeben würden, sei die Formulierung gar nicht so abwegig. Wenn der EU mehr Kompetenzen übertragen würden, wie es Ursula von der Leyen gesagt habe, dann sei zweifellos im Grundgesetz selbst die Revolution angelegt. Dies ginge nach Art. 146 GG nur durch eine neue Verfassung. An den von Hiltner angesprochenen Tabus sehe man die Grenzen des formalen Rechts. Sie seien auch durch die Medien bedingt. Die von ihm angesprochenen Beispiele, wie die Strafversetzung von Klaus Förster, der anschließend von den Medien nicht weiter bedacht wurde oder die Steuerfahnder in Hessen würden zum Himmel schreien. Die Steuerfahnder hätten nur getan, was ihre Pflicht verlange und man wolle nun, weil es der Politik nicht genehm war, ihre Karriere zerstören. Man habe sie abgesetzt und mit Scheingutachten, über die sonst aus der Sowjetunion berichtet wurde, für nicht zurechnungsfähig erklärt. Das Hauptproblem sei nicht die Rechtsstaatlichkeit, da sei Deutschland auf einem sehr hohen Niveau, auch in Reaktion auf die schrecklichen Missbräuche der Naziherrschaft. Das Hautproblem sei stattdessen das Demokratiedefizit, in Europa sowieso, aber auch in Deutschland. Hier bestehe ein fürchterliches rechtsstaatliches Problem.

Direkte Demokratie: eine Form des Widerstands? Von Daniel Thürer I. Einleitung Die Diskussion um das Ob und das Wie direkter Demokratie markiert – wie Hans Herbert von Arnim festhält1 – neben der Ausgestaltung des Wahlrechts und der Bundesstaatlichkeit in Deutschland die zentrale Frage in der Demokratie. Ich muss sagen, dass mich die Thematik „Direkte Demokratie: eine Form des Widerstands?“, die mir aufgegeben wurde, zunächst etwas verunsichert hat. Denn wir erleben in der Schweiz die Demokratie vielmehr als eine Form der fortlaufenden Integration des Landes – seiner Sprachregionen und Bevölkerungsschichten. Es gibt originäre, staats- oder status-begründende Entscheidungen, in denen das Volk selbst als „We the People“ in Erscheinung tritt, wie wir dies zur Zeit in der arabischen Welt erleben. Thomas Kuhn2 würde hier von Paradigmenwandel und Bruce Ackerman3 von „constitutional moments“ sprechen. Das sind Akte der „démocratie constituante“, die Epochen oder Abschnitte in der Verfassungsgeschichte eines Landes einleiten. In Normalzeiten erleben wir die direkte Demokratie aber als ein Gefüge von Institutionen und Verfahren, Traditonen, Praktiken und Mentalitäten: als „démocratie constituée“, die als Teil des politischen Alltags auf Erhaltung und Fortgestaltung der Identität, auf Kontinuität gerichtet sind.4 Ein Widerstandsrecht tritt als solches eigentlich nur im ersten Fall in Erscheinung; im zweiten Fall könnte man allenfalls von einem Widerstandsrecht in „geronnener“ Gestalt oder von Formen des Widerstands in institutionell verfestigter Ausgestaltung sprechen.5

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Hans Herbert von Arnim, Volksparteien ohne Volk – Das Versagen der Politik, 2. Aufl., München 2009, S. 359. 2 Thomas S. Kuhn, The Structure of Scientific Revolutions, 4th ed., Chicago 2012. 3 Vgl. etwa Bruce Ackerman/James S. Fishkin, Deliberation Day, New Haven/London 2004. 4 Larry D. Kramer, The People Themselves – Popular Constitutionalism and Judicial Review, Oxford 2004. 5 Zum Ganzen vgl. etwa Hans Herbert von Arnim, Volksparteien ohne Volk – Das Versagen der Politik, 2. Aufl., München 2009, S. 359 ff.; ders., Die Deutschlandakte – Was Politik- und Wirtschaftsbosse unserem Land antun, 2. Aufl., München 2009, S. 73 ff. Vgl. auch René A. Rhinow, Widerstandrecht im Rechtsstaat?, Bern 1984; Daniel Thürer, Widerstandrecht im Rechtsstaat, in: Herausforderung des Rechts durch die Moral, studia philosphica 44, 1985,

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In diesem Text werde ich zwei Punkte aufgreifen: Ich komme zunächst auf Fragen der originären, staatsbegründenden Form der Demokratie zu sprechen; dabei werfe ich einen Blick auf die Ereignisse des sog. „arabischen Frühlings“. In einem zweiten Teil gehe ich auf den Fall Schweiz ein, die als Inbegriff eines direkt-demokratischen Landes gilt und über die ich am ehesten glaubwürdig, authentisch berichten kann. Dabei suche ich nach einer begrifflichen Klärung zwischen der „démocratie constituante“ und der „démocratie constituée“ einerseits und – im Rahmen der konstituierten Demokratie – zwischen sachlichen und plebiszitären Ausgestaltungen der direkten Demokratie, und ich erwähne konkrete Problemsituationen. II. Originäre, staatsbegründende Form der Demokratie am Beispiel des „arabischen Frühlings“ Wenn wir uns heute Gedanken machen zum Thema von „direkter Demokratie“ und „Widerstand“, so dürfen wir die fundamentalen Ereignisse nicht ausser Acht lassen, die sich ausserhalb unserer Länder abspielen. Denn ist es nicht so, dass in der Geschichte der Staaten und ihrer Verfassungen immer wieder Situationen entstanden sind, in denen sich Völker gegen ihre Herrscher erhoben und direkt die Gestaltung ihrer Schicksale in die Hand zu nehmen verlangten? Ich denke etwa die Amerikanische oder die Französische oder an die Russische Revolution oder an Glasnost und Perestroika in Russland. Ich denke auch etwa an die Emanzipation der weit mehr als hundert Völker, die seit dem Zweiten Weltkrieg aus Kolonialherrschaften hervorgegangen sind; nicht zufällig heisst es im Ingress der Satzung der Vereinten Nationen, in deren Rahmen sich die Entkolonialisierung vollzog, sie sei von „We the Peoples“ proklamiert worden.6 Die Rede ist vom direkten Rückgriff von Völkern auf ihr Selbstbestimmungsrecht, um ein Unrechtsregime zu beseitigen, dies in der Regel unter Bruch der bestehenden rechtlichen Ordnung. Eine neueste Runde von solchen Revolten und Prozessen revolutionärer Umgestaltung beobachten wir in der arabischen Welt, und diese Vorgänge sollen hier zumindest erwähnt werden.7 Ausgelöst wurde die Bewegung in Tunesien mit der Selbstverbrennung eines jungen Gemüsehändlers, der als Universitätsabgänger keine adäquate Stelle gefunden hatte. Die Revolte richtete sich gegen das Regime von Ben Ali, welches das Volk ausS. 142 f.; Daniel Thürer, Das Willkürverbot nach Art. 4 BV, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 1987/II, S. 412, S. 431 ff. 6 Vgl. Daniel Thürer und Thomas Burri, Self-determination, in: Max Planck-Encyclopedia of Public International Law www.mpepil.com, 2011. 7 Conversation with Ambassador David Mack, Ghadhafi, Libya, and Politics of Change in the Middle East, in: The Fletcher Forum of World Affairs, Summer 2011, p. 5 ff.; Alexandra Dunn, Unplugging a Nation – State Media Strategy During Egypt’s January 25 Upising, in: The Fletcher Forum of World Affairs, Summer 2011, p. 15 ff.; Judy Bachrach, WikiHistory – Did the Leaks Inspire the Arab Spring? In: World Affairs, July/August 2011, p. 35 ff.; Samir Amin, An Arab Springtime? In: Monthly Review, October 2011, p. 8 ff.

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beutete und unterdrückte. Mobilisiert wurde das Volk durch eine geheime Internet„Message“ des Amerikanischen Botschafters in Tunis an die amerikanische Regierung über Korruption und Machenschaften rund um den Präsidenten Ben Ali, die durch Wikileaks publik gemacht wurde. Ben Ali wurde von der aufgebrachten Volksmenge gestürzt und verliess das Land fluchtartig nach Algerien. Der Funke der Revolution ging nach Ägypten über. Da kam es, lange nach einer früheren Volksbewegung in den Dreissiger Jahren, zu einem zweiten demokratischen Frühling. Wie in Tunesien führten vor allem Vertreter der jungen, gut ausgebildeten Generation, die keine angemessene Arbeit fanden, die Revolte an. „Facebook“ und Emails spielten als Kommunikationsmittel eine zentrale Rolle. Präsident Mubarak wurde, obwohl Wahlen bevorstanden, unmittelbar aus dem Land verdrängt, und es wurde ihm der Prozess gemacht. Das Land wurde in der Folge (d. h. im Juli 2012) von einem Sicherheitsrat beherrscht. Es stellt sich die Frage der Verfassungsgebung. In der alten Verfassung heisst es, in Art. 20, noch immer, die Sharia sei die grundlegende Quelle der Rechtsordnung Ägyptens. Die Frage, vielleicht die Schicksalsfrage, wird sein, wie die Islamisten in den neu zu gestaltenden Staat integriert werden können. Libyen ist als Land viel weniger entwickelt als Tunesien und Ägypten. Im Oktober wurden ein Verfassungsrat und Übergangsrat gewählt. Das Land wurde seit 1969 von Ghadhafi und seinem Clan beherrscht. Die besitzende Mittelschicht und eine funktionsfähige Staatsbürokratie verschwanden von der Bühne. In Libyen kam es gleich zu militärischen Auseinandersetzungen, die mit der Tötung von Ghadhafi praktisch ein Ende fanden. Im Juli 2012 wurde ein nationales Parlament gewählt. Ich habe hier, pars pro toto, nur drei Länder genannt. Andere – wie Bahrein, Katar, Jemen, Syrien, Jordanien oder Marokko – müssten in eine Gesamtbetrachtung einbezogen werden. Es würde sich dabei zeigen, dass die demokratischen Widerstandsbewegungen in jedem Land wieder anders abliefen. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Die Aufstände waren getragen von Angehörigen der jungen Generation, die mit den ökonomischen Bedingungen ihres Lebens unzufrieden waren. Es handelt sich um „digital“ inszenierte und gesteuerte Revolutionen (in Tunesien scheint die grösste Facebook-Dichte der Welt zu bestehen), wobei die neue Form der Kommunikation, wie sich gezeigt hat, nur schwer unterbunden werden konnten. Die Kommunikation unter den Rebellen erfolgte in Ländern wie etwa Tunesien, Ägypten oder Libyen weitgehend in einer gemeinsam verständlichen arabischen Sprache und auf dem Wege gemeinsamer Slogans, weshalb die Bewegung trotz ihrer national bedingten Vielgestaltigkeit auch gewisse panarabische Züge aufwies; Slogans wie „The people wants to overthrow the regimes“ lauteten gleich in den verschiedenen arabischen Staaten. Wir fragen uns, ob nicht demokratische Revolutionen gegen Machthaber immer wieder nach ähnlichen Mustern verlaufen. Das Grundmuster wurde vielleicht in der 1776 von Thomas Jefferson formulierten Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung gelegt. Dort heisst es:

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Die Frage wird sein, in welchem Masse und auf welche Weise die genannten Grundrechte und der „consent of the governed“ gesichert werden können, z. B. in einem System der „Checks and Balances“ und insbesondere durch unabhängige, unparteiische und auf gesetzlicher Grundlage verlaufende gerichtliche Verfahren, durch direkt-demokratische Institutionen oder durch ein föderatives System. III. Gedanken zur direkten Demokratie am Beispiel der Schweiz „Direkte Demokratie – eine Form des Widerstands?“ So wurde die Thematik der mir zugedachten Ausführungen formuliert, dies sicher in der Erwartung, dass ich besonders auf die Schweiz Bezug nähme, gilt die Schweiz doch als Inbegriff eines direkt-demokratischen Landes. Das Thema hat mir, wie gesagt, Schwierigkeiten bereitet. Denn gewiss gründen Staat und Verfassung der Schweiz letztlich auf originären Formen des Widerstandes, wie sie soeben geschildert wurden. Keiner hat den originären Widerstand gegen die Tyrannenmacht plastischer beschrieben als Friedrich Schiller in seinem Schauspiel „Wilhelm Tell“. Und zu ähnlichen Formen des Widerstandes kam es in den Untertanen-Gebieten der Schweiz im Gefolge der Französischen Revolution und dann, „mutatis mutandis“ in neuester Zeit, etwa im Zusammenhang mit der Neuschaffung des Kantons Jura. Heute aber präsentiert sich die Situation so, dass Institutionen und Praktiken der direkten Demokratie zwar typischerweise auf Widerstandsakte zurückgehen, nunmehr aber zu kodifiziertem, institutionell-verfahrensrechtlich geregeltem und anerkanntem Recht geworden sind und gerade dazu dienen, Konsens und Stabilität zu sichern und Akte des Widerstands an sich gegenstandslos zu machen. Ich möchte zunächst einige begriffliche Klärungen vornehmen und dann einige Bemerkungen zur Lage in der Schweiz anbringen. Schliesslich sollen, im Vergleich von Schweiz und Deutschland, einige Überlegungen allgemeiner Natur zu den Vorzügen und Gefahren der direkten Demokratie angestellt werden.

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1. Begriffliche Klärungen Was verstehen wir unter demokratischer Staatsform? Was für Typen gibt es? Zu unterscheiden ist zuerst zwischen repräsentativer (indirekter) und direkter (besser: halb-direkter) Demokratie. In einer repräsentativen oder indirekten Demokratie besitzen die Bürger nur ein Recht auf Wahl ihrer Repräsentanten. In einer (halb-) direkten Demokratie ist ihnen auch ein Recht auf Teilhabe an Sachentscheiden zuerkannt. Dabei ist es, wenn wir von direkter Demokratie sprechen, unerlässlich, terminologisch und der Sache nach eine Unterscheidung zu treffen, die nur allzu oft vernachlässigt wird: nämlich zwischen „plebiszitären“ Formen der direkten Demokratie einerseits und auf „Volksrechten“ gegründeten Formen der direkten Demokratie andererseits.8 In der plebiszitär ausgestalteten Demokratie, wie sie etwa in Frankreich von beiden Bonapartes bis de Gaulle in Erscheinung trat, suchen staatliche Organe (z. B. Staatspräsidenten, Regierungen, Parlamente oder Parlamentsteile) „von oben herab“ nach Gutdünken und Opportunität die Akklamation und Legitimierung des Volkes zu einer (allenfalls schon entschiedenen) Sachfrage, zu ihrer Person oder zu beidem, während in der (halb-)direkten „Demokratie der Volksrechte“ die Verfassung den Bürgern nach allgemein gefassten Regeln Rechte zusichert und sie damit ermächtigt, auf einzelne Sachgeschäfte des Staates „von unten nach oben“ Einfluss zu nehmen und mitzuentscheiden. Die Volksrechte können darin bestehen, bereits beschlossene Akte des Repräsentativorgans „nachzuentscheiden“ (Referendum) oder einen staatlichen Willensbildungs- und Entscheidprozess in Gang zu setzen (Volksinitiative). Beim Volksentscheid kann es sich also um die Annahme oder Verwerfung einer bereits vom Parlament getroffenen Massnahme handeln, wobei die Abstimmung automatisch kraft Eintritts bestimmter (verfassungsrechtlicher) Bedingungen oder auf dem Wege der Auslösung durch die Bürger selbst (obligatorisches bzw. fakultatives Referendum) anzuordnen ist; es kann die Verfassung aber den Stimmbürgern auch das Recht in die Hand geben, selbst auf die politische Agenda Einfluss zu nehmen und insbesondere diejenigen Fragen zu bestimmen, über die schliesslich in einer Volksabstimmung zu befinden ist (Volksinitiative). So definiert, gibt es auf der Welt eigentlich nur ganz wenige direkt-demokratisch organisierte Staaten: die Schweiz, einige Gliedstaaten der USA, alle 16 „Länder“ in der Bundesrepublik Deutschland9 und – „konditioniert“ durch die konstitutionelle Macht des Fürsten – auch Liechtenstein. Die Schweiz hat in einer langen Geschichte eine reiche Vielfalt von direkt-demokratischen Instrumenten geschaffen. Sie hat 8

Hierzu René Rhinow, Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts, Basel/Genf/ München 2003, S. 323 ff.; Gehard Kirchgässner/Lars P. Feld/Marcel R. Savioz, Die direkte Demokratie – Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig, Basel/Genf/München 1999. 9 Näheres hierzu bei Hans Herbert von Arnim, Die Deutschlandakte – Was Politiker und Wirtschaftsbosse unserem Land antun, 2. Aufl., München 2009, S. 79 ff.

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hierin – zählt man die Geschichte der Kantone und des Bundes zusammen – Erfahrungen über mehrere tausend Jahre hinweg gesammelt. Ihre Verfassungsgeschichte ist ein unvergleichliches Laboratorium und Experimentierfeld der direkten Demokratie, und die Prozesse schöpferischer Weitergestaltung brechen nicht ab. 2. Beispiele aus der politischen Praxis Die (halb-)direkte Demokratie gehört, neben dem Föderalismus und der Mehrsprachigkeit, zu den Wesensmerkmalen des schweizerischen Staates. Sie hat im Grossen und Ganzen gut funktioniert. Dies vielleicht gerade wegen der Differenziertheit ihrer Handlungsformen. Denken wir etwa an die Neugestaltung des Bahnhofs Zürich, die trotz vieler Fragwürdigkeiten nie zur politischen Zerreissprobe führte. Teilentscheide wurden unter Einbezug direkt Interessierter von den zuständigen Behörden im Bund gefällt, andere Teilentscheide unterstanden in Kanton und Gemeinden dem Finanzreferendum. Auf diese Weise wurden, Etappe für Etappe, in Bund, Kanton und Gemeinden interessierten Kreisen direkt oder indirekt in die Projektplanung und -umsetzung einbezogen, und möglichen Projektgegnern Gründe zur späteren Opposition von vorn herein entzogen. Es sind allerdings, in letzter Zeit, auch „Unglücksfälle“ (wie ich meine) direktdemokratischer Entscheide zu verzeichnen. Ich denke etwa an die Annahme einer Volksinitiative, durch die der Bau von (weiteren) Minaretten in der ganzen Schweiz verboten werden sollte (2009); zwei Staatsrechtler reagierten allerdings, indem sie das Projekt lancierten, den Minarettartikel in der Bundesverfassung durch einen Toleranzartikel zu ersetzen.10 Ich denke auch an die sog. Ausschaffungsinitiative mit ihren undifferenzierten Vorschriften zur Ausweisung von gewissen unliebsamen Gruppen von Ausländern; in diesem Fall formulierte das Parlament einen sog. Gegenvorschlag. Es sollte damit von der Möglichkeit zum Entscheid über Alternativfragen Gebrauch gemacht werden, eine interessante Spielart direkt-demokratischer Entscheidverfahren; im vorliegenden Fall wurde (bedauerlicherweise) der Text der Volksinitiative angenommen; der Status quo und der Gegenvorschlag fanden im Jahr 2010 keine Mehrheit in Volk und Ständen. 3. Direkte Formen der Demokratie: Realität in der Schweiz – Potenzial im Ausland? Wir haben über einige Wesenszüge der direkten Demokratie in der Schweiz gesprochen. Wir haben auch gesehen, dass die Demokratie in Deutschland auf der Ebene des Bundes rein repräsentativ konstituiert ist. 10 Vgl. Jörg Paul Müller/Daniel Thürer, Toleranz als Bedingung religiöser Freiheit im Zusammenleben fehlbarer Menschen, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 2011/I, S. 287 ff.

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Bisherige Anläufe, direkt-demokratische Institutionen ins Grundgesetz einzufügen, sind gescheitert. Hauptargument gegen solche Reformen waren schlechte Erinnerungen an die Weimarer Zeit. Die Verfassungsgebende Nationalversammlung hatte damals, 1919, als „Korrektiv gegen einseitige Parlamentsherrschaft und Parteiherrschaft“ Beteiligungsrechte des Volkes an der Gesetzgebung vorgesehen, die aber nie richtig zum Tragen kamen. Heute liegt Weimar weit zurück. Deutschland ist aber – um mit den Worten von Georges Burdeau zu sprechen – noch immer mehr eine „démocratie gouvernée“ als eine „démocratie gouvernante“.11 Was für Gründe könnten dafür sprechen, den „status quo“ zu ändern? Ich nenne fünf Gesichtspunkte, wobei ich mir gestatte, empfehlend und skeptisch auch auf meinen schweizerischen Erfahrungshintergrund zurückzugreifen. Ich erlaube mir, dabei auf die Stellungnahmen zurückzugreifen, die ich am 19. April 2002 als Sachverständiger zuhanden des Innenausschusses des Deutschen Bundestages erstellt hatte.12 a) Wandel zur Bildungs- und Informationsgesellschaft Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten fundamental gewandelt. Den Bürgern sind, so scheint mir, in der modernen Bildungs- und Informationsgesellschaft grundsätzlich Sachverstand und Unbefangenheit zuzutrauen, auch grundlegende, komplexe politische Sachfragen unmittelbar mitzuentscheiden. Sind die deutschen Bürger – so frage ich mich – im Grund genommen nicht unterfordert, wenn sie sich darauf beschränken müssen, alle vier Jahre entweder „links“ oder „rechts“ oder „Mitte“ zu wählen? Jean-Jacques Rousseau hatte sich seinerzeit über die Engländer mokiert, die nur einmal alle paar Jahre eigentlich frei seien, nämlich dann, wenn sie die Mitglieder des Unterhauses wählten. Heute fällt auch das Wahlrecht weitgehend ins Leere. Es beschränkt sich in Deutschland – etwas überspitzt ausgedrückt – darauf, zwischen den an Fernsehduellen präsentierten Spitzenkandidaten und ihren Parteien zu optieren und in der Folge nicht als „Volk“, sondern als „Publikum“ das politische Spektakel in den Medien mitzuverfolgen. Sollten oder könnten sich aber die Menschen nicht, als mündige Bürger, vermehrt „in ihre Anliegen einmischen“ (Max Frisch) und ihre Stimme zur Geltung bringen, um Missbräuche zu verhindern und korrigieren, Werte zu setzen, die Richtung des weiteren politischen Geschehens zu beeinflussen, Gemeinwohlanliegen zu fördern oder zu bestimmen oder Einzelfragen zu lösen?

11 Zur Diskussion in Deutschland vgl. Otmar Jung, Grundgesetz und Volksentscheid – Gründe und Reichweite der Entscheidungen des Parlamentarischen Rates gegen Formen direkter Demokratie, Opladen 1994. 12 Vgl. Daniel Thürer, Direkte Demokratie in Deutschland? Rechtspolitisches Forum des Instituts für Rechtsvergleichung an der Universität Trier, 2007 (mit weiteren Hinweisen).

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b) Erzieherisch-integrierende Wirkung Direkt-demokratische Rechte hätten, ins deutsche Grundgesetz eingefügt, natürlich nicht dieselbe Breite und prägende Kraft, wie dies in der Schweiz der Fall ist. Dennoch könnten sie dazu beitragen, die Kluft zwischen der Staatsmacht und dem Volk zu verringern. Sie hätten insbesondere einen staatsbürgerlich erzieherischen Wert. Natürlich ist es so, dass gerade in Staaten mit einem weit ausgebauten demokratischen System Bürger oft der Urne fernbleiben, und oft sind sie nur ungenügend informiert. Auch sind wir weit vom Idealbild der Demokratie entfernt, wie es Perikles in seiner berühmten Totenrede entworfen hatte, wonach die demokratische Kultur den Sinn für das Schöne und den Geist mit wirksamer Tat zu verbinden vermöge, und in der auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil sei.13 Die Wirklichkeit der Abstimmungsdemokratien zeigt, im Gegensatz zum Idealbild der Demokratie, beim Bürger häufig einen Mangel an deliberativer Qualität. Immerhin ergäbe aber, bemerkte der Staatsrechtler Jean-François Aubert, die Annahme, dass sich von 20 Stimmbürgern nur einer die Mühe nähme, sich über das Geschäft zu informieren, in der Schweiz 200.000 Bürger, die über Staatsgeschäfte informiert wären; die demokratischen Rechte seien eben „un excellent moyen d’éducation civique et d’intégration au pays“.14 c) Qualität der Deliberationsprozesse Die Güte der Demokratie bemisst sich mitunter an der Qualität der Deliberationsprozesse, die ihren Beschlussfassungen vorangehen. Allgemein vermitteln die Abstimmungserfahrungen in der Schweiz, was Informationsstand und Beurteilungshorizont der Bürger angeht, gewiss ein gelegentlich ernüchterndes Bild. Grundsätzlich ist aber doch festzuhalten, dass die Behörden wohl sorgfältiger und eingehender deliberieren und ihre Argumente verständlicher darlegen, wenn ihre Beschlüsse in einer zweiten Runde der demokratischen Willensbildung noch der Volksabstimmung unterstehen und vor einer breiten Öffentlichkeit erörtert werden müssen.15 13 Ausschnitt aus der Totenrede des Perikles. Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges (431 bis 404 v. Chr.), München 1976, II 40, S. 142: (… ) „Wir lieben das Schöne und bleiben schlicht, wir lieben den Geist und werden nicht schlaff. Reichtum dient bei uns der wirksamen Tat, nicht dem prahlenden Wort, und Armut ist einzugestehen keinem schimpflich, ihr nicht tätig zu entgehen schimpflicher. Wir vereinigen in uns die Sorge um unser Haus zugleich und unsre Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heisst einer, der daran gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter, und nur wir entscheiden in den Staatsgeschäften selber oder denken sie doch richtig durch. Denn wir sehen nicht im Wort eine Gefahr fürs Tun, wohl aber darin, sich nicht durch Reden zuerst zu belehren, ehe man zur nötigen Tat schreitet.“ (…) 14 Jean-François Aubert, Exposé des institutions politiques de la Suisse à partir de quelques affaires controversées, Lausanne 1978, S. 257. 15 Cass R. Sunstein, Designing Democracy – What Constitutions Do, Oxford 2001, S. 6 ff.

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In unserem Zusammenhang ist aber vor allem die Tatsache bedeutsam, dass – wie sich seinerzeit Fritz Fleiner ausdrückte – die Volksinitiative als „Antrag aus dem Volk an das Volk“ als Verfassungsinstitut den Gedanken des Dialogs geradezu verkörpert: des von den Initianten lancierten Vorschlags einer Gruppe von Bürgern an die Gesamtheit ihrer Mitbürger, wobei die Behörden sich im Wesentlichen mit der Rolle eines „Schiedsrichters“ begnügen oder sich, mittels Gegenvorschlägen oder Abstimmungsempfehlungen, selbst in den Abstimmungskampf einschalten. d) Im Grossen und Ganzen gute Ergebnisse Die direkt-demokratischen Rechte haben im Grossen und Ganzen keine schlechten Ergebnisse produziert. Ich denke etwa an zwei Beispiele aus meinem engeren Umkreis: den Beitritt der Schweiz zur UNO, der im März 2002 gestützt auf eine Volksinitiative beschlossen wurde, die massgeblich auch von Studentinnen und Studenten getragen war, oder an die Tatsache, dass 1998 Professoren auf die Strasse gingen, um Mitbürger für die Ablehnung einer Genschutz-Initiative zu gewinnen. Natürlich weist die direkte Demokratie, wie wir sie im Alltag erleben, auch Schattenseiten auf. So steht sie insbesondere in Gefahr, für Anliegen von Nicht-Stimmberechtigten und „auswärtige“ Themen blind zu sein, also insbesondere Ausländerfragen und das Ausland nicht adäquat zu erfassen. Auch sind wir in der Schweiz zurzeit mit dem Phänomen konfrontiert, dass Volksrechte zu kommerziellen Zwecken und, vor allem in einem Wahljahr, zur Schürung von Fremdenhass und Rassismus missbraucht werden, und es wird eine der grossen staatspolitischen Herausforderungen sein, mit den Mitteln des Rechts (vor allem rechtlicher Kontrollverfahren) bzw. anderer Formen der Konfliktregelung, vor allem aber durch öffentlichen Diskurs und Vertrauensbildung den zersetzenden, gefährlichen Virus der Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz zu bekämpfen, der gerade in der direkten Demokratie offene Wirkungsfelder vorfindet. e) Finanzwirtschaftliche Vorzüge Nicht zu missachten sind schliesslich die finanzwirtschaftlichen Aspekte der direkten Demokratie. Es ist evident und empirisch erhärtet, dass Volksrechte tendenziell eine sparsame und effiziente Wahrnehmung der öffentlichen Angelegenheiten durch die Behörden sowie relativ niedrige Staatsquoten und eine geringe Verschuldung der öffentlichen Hand begünstigen, während die Volksvertreter eher der Versuchung von „Beglückungsvorlagen“ und den Gefährdungen des „Gefälligkeitsstaates“ zu erliegen scheinen (Theodor von Eschenburg). Das Finanzreferendum, das in der Schweiz alle Kantone kennen, ist ein „Sparinstrument“ par excellence.

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IV. Schluss Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir befinden uns an der renommierten Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaft in Speyer. Ich entstamme dem Zürcher Institut für Völkerrecht und ausländisches Verfassungsrecht. Wir alle vergleichen rechtliche Phänomene, dies aber nicht als „art pour art“, sondern um daraus Lehren „de lege ferenda“ zu ziehen. Das erinnert mich an die Figur von Hans Nawiasky, der 1933 aus seiner Universitätsstadt München vertrieben wurde, in der Folge an der Hochschule St. Gallen Staatsrecht lehrte und dann massgeblich an der Ausarbeitung der Bayrischen Verfassung beteiligt war16. Er fragte sich unentwegt, weshalb in Deutschland im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg keine ernsthaften Versuche unternommen worden seien, sich an den schweizerischen Einrichtungen zu orientieren. Die Kritik der gegenseitigen Isolierung des staatsrechtlichen Denkens scheint heute in diesem Masse nicht mehr begründet. Zu vielfältig sind die Interaktionen in Theorie und Praxis des Staatsrechts geworden. Es bestehen heute vielfältige Möglichkeiten, voneinander zu lernen und zwar in beiden Richtungen. Dabei scheint mir die folgende politisch-pragmatische (und nicht „szientistische“) Optik bedeutsam: Wir sollten uns als deutsche und schweizerische Bürger stets fragen, ob unsere politischen Rechte und, um einen Ausdruck aus der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 aufzugreifen, die Verfolgung des Glücks („pursuit of happiness“) in unserer Gemeinschaft nicht besser gewährleistet wären, wenn wir uns diese oder jene Rechte, die Bürger des anderen Staates geniessen und die sich dort bewährt haben, zu eigen machen könnten. Wir würden heute eher von der Verfolgung des Gemeinwohls als Staatsziel sprechen.17 Wenn wir uns fragen, was für den deutschen Beobachter am Schweizer Beispiel besonders interessant ist, wäre dies vielleicht die Ausgestaltung der (verfassungs)politischen Prozesse des permanenten Experimentierens. Schweizerische Politik zeichnet sich durch grosse Nähe zur Realität aus. Allerdings impliziert dies auch häufig eine Geisteshaltung der Kleinlichkeit, einen Mangel an Grosszügigkeit und der Wertschätzung des „Anderen“18, in jüngster Zeit sind in zunehmendem Masse auch hässliche Begleittöne in Abstimmungskampagnen in Erscheinung getreten. Was mir für die Schweiz am deutschen und vergleichbaren Modellen interessant zu sein scheint, 16 Vgl. Hans Nawiasky, Von der unmittelbaren Demokratie; die Bereitschaft der Schweiz – die Zurückhaltung in Deutschland, in: Festschrift für Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, S. 195 ff. Zu Hans Nawiasky vgl. Andreas Kley, Geschichte des öffentlichen Rechts der Schweiz, Zürich/St. Gallen 2011, S. 514 f., 177 ff. Zu den grösseren Zusammenhängen vgl. Hans F. Zacher, Einschluss, Ausschluss und Öffnung im Wandel, in: Zeitschrift für Sozialreform 1/2009, S. 25 ff. 17 Allgemein zur Kultur der politischen Kommunikation Gunnar Folke Schuppert, Politische Kultur, Baden-Baden 2008, S. 233 ff. 18 Parker J. Palmer würde von einem Mangel an „appreciation of the value of ,otherness‘“ sprechen, in: Healing the Heart of Democracy – The Courage to Create a Politics Worthy of the Human Spirit, San Francisco 2011, S. 44.

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ist das Konzept der verfassungsrechtlich eingebetteten Demokratie (auf Englisch spricht man von „constitutional democracy“). Wir müssen lernen, auf die eine oder andere Weise und unter Beachtung der Grundsätze der Liberalität Verfahren zu entwickeln, welche die demokratische Willensbildung in den Schranken der Grundgebote der Rechtsstaatlichkeit halten.19

19 Vgl. Daniel Thürer, Res publica – Von Menschenrechten, Bürgertugenden und neuen Feudalismen, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 60, Tübingen 2012, S. 281 ff.

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Daniel Thürer Von Elisabeth Musch Die Moderatorin Ruth Henn, Direktorin des Amtsgerichts Gera, dankte Prof. Dr. Daniel Thürer für seinen Vortrag und leitete die Diskussion mit einem Goethe-Zitat ein: „Das Gleiche lässt uns in Ruhe, aber der Widerspruch ist es, der uns produktiv macht.“ Damit wolle sie an Thürers und von Arnims Bezugnahme auf Friedrich Schillers Drama Wilhelm Tell anschließen. Beide hatten Wilhelm Tell als Beispiel einer Form des Widerstands gegen die Tyrannei genannt.1 Prof. Dr. Joachim Linck, Landtagsdirektor a.D., Erfurt, und Vorstandsmitglied in Thüringen im Landesvorstand des Vereins „Mehr Demokratie“, merkte an, dass in dem Vortrag deutlich geworden sei, wie diffus der Begriff des Widerstands sei. Wenn man nicht von einem sehr weiten Begriff des Widerstands ausgehe, wie ihn von Arnim zu Beginn seines Vortrags gefasst habe, so käme man zu dem Ergebnis, dass sich die Frage des Widerstands in Deutschland gar nicht stelle. Denn alle relevanten politischen Kräfte in Deutschland, wie etwa die politischen Parteien, die teilweise sehr viel Sympathie für mehr Demokratie hätten, aber z. B. auch der Verein Mehr Demokratie e.V. Thüringen würden sich dafür einsetzen folgende zwei Ziele zu verfolgen: erstens, das zu nutzen, was an rechtlichen Möglichkeiten gegeben sei und zweitens, die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten zu verbessern. Da dies mit rechtsstaatlichen Mitteln möglich sei, würde sich das Thema Widerstand in Deutschland überhaupt nicht stellen.

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Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last – greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel, Und holt herunter seine ew’gen Rechte, Die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – Der alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegenübersteht – Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben – Der Güter höchstes dürfen wir verteid’gen Gegen Gewalt – Wir stehn vor unser Land, Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder! (Stauffacher, in: Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, 2. Aufzug, 2. Szene)

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Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, kommentierte zunächst mit Bezug auf Thürers Ausführungen zu den zwei Typen direkter Demokratie (Referendum und Volksinitiative), dass die Initiative, die von unten komme, also vom Volk ausgehe, eindeutig als eine Widerstandsersatzfunktion betrachtet werden könne. Denn bei einer Initiative von unten handele es sich um einen Kampf gegen die Repräsentanten, also das Parlament und die Regierung. Die Initiative wäre überflüssig, wenn Parlament und Regierung selbst den mit der Initiative angestrebten Akt einleiten bzw. durchsetzen würden. Dagegen könne beim Referendum, das von der Regierung von oben eingeleitet werde, nicht von Widerstandsersatz gesprochen werden. Dass diese Nuancierung in der Schweiz fast nicht thematisiert wird, liege nach von Arnim daran, dass das Widerstandsersatzrecht dort so gut funktionieren würde. von Arnims anschließende Frage richtete sich auf die Minarettverbotsinitiative und die hiermit verbundene kritische Äußerung Thürers, dass hier eine Minderheit von einer Mehrheit unterdrückt werde. von Arnim führte aus, dass eine direktdemokratische Entscheidung gegen Minarette in Deutschland eindeutig verfassungswidrig sei, weil sie die Grundrechte der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit und der allgemeinen Handlungsfreiheit verletzen würde. Es gebe somit keinen ersichtlichen Grund, der das Verbot von Minaretten rechtfertigen würde. Die Frage sei nun, ob in der Schweiz nicht auch die Bekenntnisfreiheit und die allgemeine Handlungsfreiheit bestünden, wie sie vom deutschen Grundgesetz garantiert würden und auf die sich eine Religionsgemeinschaft beziehen könne. Falls entsprechende Grundrechtsgarantien in der Schweiz fehlten, fehle hier auch die Vergleichbarkeit mit dem deutschen Fall. Denn die Bekenntnisfreiheit und allgemeine Handlungsfreiheit sind als Grundrechte im Grundgesetz garantiert und aller Erfahrung nach mittels Verfassungsbeschwerde durchsetzbar. Da direktdemokratische Entscheidungen auf kommunaler Ebene ebenso wie auf Landesebene dem Grundrechtsschutz unterliegen, könne in Deutschland eine vergleichbare Problematik wie in der Schweiz nicht entstehen. Dr. h.c. Hans Joachim Bauer, Präsident a.D. des Thüringer Verfassungsgerichtshofs und Präsident a.D. des Thüringer Oberlandesgerichts, Speyer, merkte an, dass die Schweiz mit dem historischen Mythos eines großen Widerstands lebe und dadurch möglicherweise das Problem auch heute anders wahrgenommen würde. Was die direkte Demokratie als Widerstandsersatz betreffe, sei er aber der Ansicht, dass sie als „Verminderungsmittel“ gesehen werden könnte. Die Funktion eines Ersatzes könnte sie aber nicht übernehmen. Direkte Demokratie könne den Widerstand vielleicht quantitativ vermindern, aber er bezweifle, dass sie den Widerstand, wenn er denn geleistet werde, in qualitativer Hinsicht verändern werde. Prof. Dr. Christian Tomuschat, ehemaliges Mitglied des UN-Menschrechtsausschusses und der UN-Völkerrechtskommission, Humboldt-Universität zu Berlin, erklärte einleitend er wolle etwas Wasser in den Wein gießen. So würde vielfach die Vorstellung vorherrschen, dass in der direkten Demokratie die politischen Parteien überhaupt keine Rolle spielen würden, dass sich das Volk direkt und unverfälscht

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ohne irgendwelche Umwege äußern könne. In der Regel zeige sich jedoch, dass sich hinter einer Initiative meistens eine politische Partei verberge und dass politische Parteien die Volksinitiative strategisch für ihre eigenen Zwecke nutzen würden. Daher seine Frage an Herrn Thürer, inwieweit dies gegenwärtig auf die Schweiz zutreffe: habe es hier Situationen gegeben, die deutlich erkennen ließen, dass eine politische Partei mit einer Initiative im Grunde sich selbst nur hat profilieren wollen. Daran schloss sich Tomuschats zweite Frage nach einer stärkeren Emotionalität im Zusammenhang mit Volksentscheiden an. Tomuschat fragte, ob politische Entscheidungen gerade im Volksentscheid leichter manipuliert werden könnten, weil die Wähler möglicherweise mit weniger Überlegung abstimmen als wenn in der repräsentativen Demokratie lange Vorläufe stattfinden, in denen Argumente und Gegenargumente geprüft und ausgetauscht würden. Thürer ging auf die Fragen und Kommentare in umgekehrter Reihenfolge ein. Auf die Frage Tomuschats antwortete er, dass politische Parteien für die direkte Demokratie der Schweiz eine untergeordnete Rolle spielen würden. Es handele sich um gesellschaftliche Vereinigungen, die gesetzlich nicht geregelt seien. Laufend würden neue Parteien gegründet. Die Vielfalt von politischen Parteien sei ihm bei den jüngsten Wahlen des Nationalrates wieder bewusst geworden, so gebe es u. a. Parteien gegen die Religion und auch die Piratenpartei. Als Motoren der direkten Demokratie spielten sie jedoch keine große Rolle. Die Frage Tomuschats nach einer stärkeren Emotionalität bei Volksentscheiden hingegen bejahte Thürer. Hierbei handele es sich um das sog. demagogische Argument, das vor allem im Zusammenhang mit den neuen Massenmedien zu sehen sei. Bisher hätte darauf vertraut werden können, dass sich der sog. Normalbürger seines gesunden Menschenverstandes bedienen und sich extremen Anliegen widersetzen würde. In der Vergangenheit seien extreme Forderungen nie durchgekommen und auch alle fremdenfeindlichen Vorlagen seien bis vor zwei bis drei Jahren von einer großen Mehrheit der Bevölkerung und der Kantone abgelehnt worden. Für die Gegenwart könne dies nicht mehr gelten. Das könne sicherlich als Folge der neuen Kommunikationslandschaft interpretiert werden, die ihren Ausdruck etwa in primitiven einsilbigen Zeitungen, Fernsehsendungen und widerwärtigen Plakaten fände. Wie eingangs erörtert, würden die politischen Parteien für die direkte Demokratie keine zentrale Rolle spielen, die Gefahr der Manipulation durch Parteien bestände aber durchaus. Thürer kam dann auf die Frage von von Arnim zu sprechen, die sich auf die Gewährleistung von Religionsfreiheit vor dem Hintergrund der Problematik des Minderheitenschutzes bezog, der durch Formen der direkten Demokratie verletzt werden könne, wie am Beispiel des Minarettverbots in der Schweiz aufgezeigt. Thürer erläuterte, dass Volksinitiativen in der Schweiz auf Verfassungsänderungen gerichtet sind und nicht auf die Schaffung oder Änderung von einfachen Gesetzen. Selbstverständlich gäbe es auch in der Schweiz seit längster Zeit die Religionsfreiheit, die Schweiz sei auch Mitglied der Menschenrechtspakte etc. Die Religionsfreiheit und nicht vordergründig die Sprachenfrage sei stets ein brisanter Konfliktgegenstand zwischen den Landesteilen gewesen. Initiativen wie die des Minarettverbots beträfen jedoch

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die Ebene der Verfassungsänderung. Die Frage sei, ob es innerhalb der Verfassung höheres Verfassungsrecht gebe, dem einfaches Verfassungsrecht entsprechen müsse. Dies beträfe die Gesamtdiskussion über materielle Schranken der Verfassungsrevision, in der sich zwei Lager gebildet hätten. Das eine Lager, vor allem französischsprachige Schweizer, wie die Staatsrechtler Jean François Aubert und Zaccaria Giacometti, verträten die Meinung, dass die Bürger dazu berechtigt sein sollten, über alles abzustimmen. Dem Volk könne zugetraut werden, tolerant und vernünftig genug zu sein, um gute Entscheidungen zu fällen. Die Vertreter des anderen Lagers, die sich stärker am deutschen Grundgesetz orientierten, argumentierten, dass es übergeordnete Kerne der Verfassung gebe, gegen die auch eine Verfassungsänderung, die durch Schweizer Bürger initiiert würde, nicht verstoßen dürfe. In Bezug auf die Minarettinitiative, die wahrscheinlich, aber nicht sicher, der Religionsfreiheit widerspreche, stelle sich nun genau diese Frage, ob nicht auf irgendeine Weise Schranken eingebaut werden müssten, die einen Missbrauch des Initiativrechts verhindern können. Aber auch hierzu bestände ein typisch schweizerischer approach, nämlich der, dass generell nicht gewollt wird, dass ein Verfassungsgericht Initianten darauf hinweist, dass ihre Initiative gegen das Grundgesetz verstoße und sie die Initiative daher nicht einreichen können. Stattdessen sei ein Vorschlag aus der Zivilgesellschaft eingebracht worden, der civil society, wobei er eher von civic society sprechen würde. Dieser Vorschlag sah vor, dass eine Gruppe von Bürgern bestehend aus z. B. ehemaligen Richtern, Professoren, Pfarrern und Wissenschaftlern eingesetzt werden sollte, die das Vertrauen der Bürger genieße. Diese Gruppe von Vertrauensleuten soll Initiativen, die eingereicht würden, beurteilen. Im Falle, dass Initianten ihre Initiative trotz Abraten der Gruppe der Vertrauensleute lancieren wollten, müssten sie entsprechende Argumente vorbringen, die das Einreichen der Initiative aus ihrer Sicht rechtfertigen. Dieser approach verdeutliche, dass das Vertrauen in Gerichte, in rechtsstaatliche Verfahren usw. in der Schweiz viel geringer sei als in Deutschland. In der Schweiz bestehe die Auffassung, dass das Volk sich aus dem politischen Prozess heraus regenerieren müsse. Deshalb hätten sie auch eine beschränkte Verfassungsgerichtsbarkeit und keine umfassende Verfassungsgerichtsbarkeit wie in Deutschland. Den Kommentar Lincks über die Möglichkeiten des Volkes selber Widerstandsfälle zu vermeiden, beantwortete Thürer mit einem Beispielfall in der Schweiz, der für ihn sehr entscheidend gewesen und ihn selbst sehr geprägt habe. Das sei der schönste Moment für ihn gewesen, den er als Dozent an der Universität Zürich erlebt hätte. So hätte er Jahr für Jahr darüber lamentiert, dass die Schweiz noch nicht Mitglied der Vereinten Nationen sei. Er hätte dies nie verstehen können und vor den Studenten immer wieder dieselben Klagen vorgebracht. Im Jahr 2000 sei dann plötzlich eine Gruppe von Studenten, vor allem Studentinnen, auf ihn zugekommen und hätte ihm gegenüber geäußert, dass sie Widerstand leisten wollten gegen eine so unannehmbare Situation, dass die Schweiz nicht Mitglied der UNO sei. Sie beabsichtigten das Initiativrecht zu nutzen, um einen Verfassungsartikel zu lancieren, der den Bund in die Lage versetzen würde, einen Beitritt zur UNO zu ermöglichen. Daraufhin hätte

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Thürer sie in sein Institut für Völkerrecht eingeladen. Er hatte gedacht, es würden zwei bis drei Studenten kommen, aber es seien 60 Studenten in seinem Institut erschienen. Sie hätten dann ein Aktionskomitee gegründet und der ehemalige Justizminister der Schweiz hätte sich an der Unterschriftensammlung für den Beitritt der Schweiz zur UNO beteiligt. Während dieser Initiative hätte man auf der Gemüsebrücke, am Bahnhof oder an der Tramstation in Zürich immer wieder Studenten mit den Unterschriftenbögen getroffen. Es sei ein sehr befreiendes Erlebnis gewesen, sich als Bürger so unmittelbar ausdrücken zu können. Als dann die Aufnahme der Schweiz als Mitglied in die UNO durch die Generalversammlung im Jahr 2002 erfolgte, hätte der japanische Botschafter drei Studenten des Schweizer Initiativkomitees nach New York eingeladen, um dem Akt beizuwohnen. Wie ihm nachher berichtet worden sei, hätte der japanische Botschafter gesagt, dass die UNO nie so stark gewesen sei, wie in diesem Moment, in dem zum ersten Mal in der Geschichte, das Volk selber, „we the people“, zum Ausdruck gebracht hätte, dass sie den Vereinten Nationen angehören wollten. Diese Erlebnisse seien es, die in der Schweiz neben den Schattenseiten den Alltag der direkten Demokratie prägen würden. Sie seien es, die einem Freude bereiten würden, sich an Diskussionen zu beteiligen. Eine letzte Frage wurde von Yaya Jaiteh, Schüler aus Maintal gestellt. Seine Frage betraf die Rededemokratie. In der Schule hätten sie zum einen über Rededemokratie gesprochen, zum anderen würde sie auch aktiv unter Schülern mit Klassensprechern, Schulsprechern und Stufensprechern praktiziert. Daher würde er gerne Thürers Einstellung zur Rededemokratie erfahren. Thürer erklärte, dass er vielleicht nicht die nötige Distanz hätte, weil er im System der Schweiz aufgewachsen sei. Aber schon der Staatsrechtler Professor Wilhelm Karl Geck hätte gesagt, dass die Schweiz föderalistisch, mehrsprachig und demokratisch sei. Wenn sie nicht mehr föderalistisch, mehrsprachig und demokratisch sei, dann sei dies nicht mehr die Schweiz. Diese Elemente sind es, die die Schweiz sehr stark prägen würden, sie seien die Säulen des schweizerischen Staates. Nicht jeder Staat könne so funktionieren, wie sie es in der Schweiz gewohnt seien und wie dies historisch begründet sei. In Bezug auf Jaitehs Frage zur Rededemokratie und den Hinweis, dass er Klassensprecher sei, sei er der Ansicht, dass die direkte Demokratie nicht nur eine Veranstaltung der Politik sei, sondern Demokratie in der zivilen Gesellschaft beginnen müsse, z. B. in den Schulen. Denn die Schule sei eine ganz wichtige Schule der Demokratie. Eine wichtige Schule seien auch die Vereine. Er verwies auf Alexis de Tocqueville, der die amerikanische Gesellschaft im Vereinswesen, aus dem die Politik hervorgehe, verwurzelt sah. In der Schweiz gebe es keine starke Unterscheidung zwischen dem politischen und gesellschaftlichen Leben. Die Gesellschaft, der tägliche Ablauf in den Wirtschaften, in den Parteien, in den Zeitungen, an den Schulen, in den Kirchengemeinden usw. fließe nahtlos über in den politischen Prozess. Eine direkte Demokratie könne nicht bestehen, ohne dass diese auch eine starke Verwurzelung in der Gesellschaft der Bürger habe.

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Die Moderatorin bedankte sich abschließend bei Thürer und beendete die Diskussion mit dem Hinweis, dass man wieder einmal von der Schweiz lernen könne, woraufhin Thürer ergänzte, dass dies auch umgekehrt gelten könne, also für beide Richtungen zutreffe.

Götterdämmerung in Bayern? Der Sturz eines Ministerpräsidenten und die Komplotte gegen politische Reformen Von Gabriele Pauli I. Einleitung Die CSU hat ihre Stellung als „staatstragende Volkspartei“ verloren. Da sie ihre durch die Landtagswahl 2003 erworbene Zweidrittelmehrheit missbräuchlich einsetzte und Ministerpräsident Edmund Stoiber seinen Machtanspruch rigoros ausweitete, erlitt sie einen dauerhaften Vertrauensverlust. Sie könnte wieder „Stimme des Volkes“ werden, wenn sie ihrem eigenen Anspruch einer christlich-sozialen Politik gerecht und diese Werte auch sichtbar vorleben würde. Ich habe im Freistaat Bayern und auch im Bundesgebiet in unterschiedlichster Weise versucht, neue politische Ansätze und eine an Werten orientierte Politik umzusetzen. Dies war u. a. im Jahre 2006 mit der öffentlich geäußerten Forderung verbunden, Ministerpräsident Edmund Stoiber solle nicht mehr erneut für dieses Amt kandidieren. Der „Sturz von Edmund Stoiber“ wird mir bis heute von der Bevölkerung und auch den Medien zugute gehalten, aber auch vor allem von der CSU-Führung als infames Komplott gegenüber Edmund Stoiber angelastet. Der personelle Umbruch in Bayern schlug sich allerdings nicht in einer politischen Neuorientierung nieder. Im Gegenteil: Die Landespolitik blieb orientierungslos und unverändert einem fragwürdigen politischen Machtkalkül unterworfen. Ein politisches System ändert sich solange nicht, solange vorhandene Strukturen alles daran setzen, reformerische Gedanken zu verhindern. Erklärbar ist dies mit dem Begriff der Autopoiesis von Niklas Luhmann, der ihn aus der Biologie übernimmt, auf das Zusammenleben von Menschen transferiert und feststellt, „… dass das System sich mit der gerade aktuellen Aktivität nicht beendet, sondern weitermacht“ (Niklas Luhmann: „Soziale Systeme, Grundriss einer allgemeinen Theorie“, 1984, S. 233). Demnach kann ein System, das in sich geschlossen ist, keine äußeren Veränderungen annehmen, sonst würde es aus dem inneren Gleichgewicht gebracht. Im Folgenden möchte ich die von mir erlebten (Un-)Möglichkeiten schildern, in unserem Staat unter den gegebenen strukturellen Bedingungen neues politisches Gedankengut einzubringen. Alles habe ich persönlich durchlaufen: Die Mitwirkung in einer sehr stark in der Bevölkerung verankerten etablierten Partei wie der CSU, den bundesweiten Aufbau eines Verbandes loser Bürgerbewegungen der „Freien Wäh-

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ler“, die Gründung einer neuen politischen Partei, der Freien Union, und den Status als „parteilose“ Abgeordnete des Bayerischen Landtages, den ich im Moment bekleide. Nach diesen Erfahrungen komme ich zu folgender Schlussfolgerung: Obwohl die etablierten Parteien alles daran setzen, ihre Macht zu erhalten, wird sich die Bundesrepublik sehr bald zu einem Vielparteiensystem entwickeln. Die großen Parteien haben die Alleinregierungsmacht inzwischen verloren und werden in der Wählergunst weiter abnehmen. So sieht es auch der ehemalige Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der in der Bevölkerung trotz seines Plagiatskandals beliebt ist. Auf die Frage, aus welchem Grund die einst unbesiegbar scheinende CSU 2008 ein Landtagswahlergebnis von deutlich unter 50 % erhielt, meint er: „Sie ist, wie andere Parteien auch, von einer Infektion befallen, die das allmähliche Sterben der Volksparteien auslösen könnte oder bereits ausgelöst hat.“ (Karl-Theodor zu Guttenberg: „Vorerst gescheitert“, 2011, S. 167). Guttenberg sieht sogar „Spinnweben“ an der CSU kleben – und für diese Diagnose bekam er natürlich Widerspruch von der weißblauen Staatspartei. Denn nichts schmerzt so sehr wie die Wahrheit. Die reformerische Kraft unserer Bürger wird sich künftig über neue Parteien am besten Ausdruck verschaffen können. Die sogenannten kleinen Parteien werden dann Popularität und Gewicht haben, wenn sie sich zu Wahlbündnissen zusammenfinden, was einen weiteren Machtrückgang der etablierten Parteien bedeutet. Dieser Prozess wird sich dadurch vollziehen, indem Menschen erkennen, dass sie einen höheren Anspruch an ihr Leben haben, als glatt drehende Rädchen in einer Staatsmaschinerie zu sein. Der französische Dichter Victor Hugo hat den politischen Grundsatz formuliert: „Keine Armee der Welt kann sich der Macht einer Idee widersetzen, deren Zeit gekommen ist.“ Wie wahr. Menschen haben mächtige Möglichkeiten, wenn sie sich für die richtige Idee zusammenschließen. So wurde 2010 in Bayern zum Beispiel per Volksbegehren der Schutz der Nichtraucher in allen Gaststätten beschlossen. Mit dieser Kraft können wir einen Staat erschaffen, der den Menschen in viel größerem Umfang dient. Mit dem Erkennen unserer Möglichkeiten und unserer Kraft verwandeln wir nicht nur uns selbst, sondern auch die uns umgebende Welt. II. Grundwerte versus Pragmatismus und Lobbyismus Mit 16 Jahren begann ich, mich für politische Vorgänge zu interessieren und für meine Altersgenossen einzusetzen. Der Weg in die Politik führte mich über das Amt der Schulsprecherin zur Jungen Union Bayern und dann in die CSU. Meine Motivation war, Menschen zu mehr Freiheit und Chancen zu verhelfen, damit sie ohne Druck und äußere Zwänge ihr selbstbestimmtes Leben führen können. Ich erlebte beispielsweise, wie in meiner SPD-regierten Heimatstadt unter einem autoritär führenden Bürgermeister die Geschäftsleute zu Handlangern einer Politik wurden, die sie im Grunde ablehnten. In der Jungen Union Bayern interessierte mich eine breite Palette aktueller Tagesthemen ebenso wie Wertediskussionen. Daher widmete ich mich als stellvertretende

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Landesvorsitzende schwerpunktmäßig Fragen des Einsatzes der Gentechnologie, des technologischen Fortschritts und der Grundlagenforschung sowie der Entwicklungspolitik. Letzteres Thema war auch beruflich bedingt, denn ich arbeitete bei zwei Bundestagsabgeordneten als 3.Welt-Fachreferentin. Damals kam ich nicht nur mit der angeblichen Hilfslosigkeit, sondern auch mit sehr eigennützigen Strategien der „Geberländer“ gegenüber der sogenannten 3. Welt in Berührung. Auf unserem Planeten herrscht unglaubliches Elend und brutale Gewalt, andererseits wird Entwicklungshilfe an Wirtschaftsinteressen bis hin zu Waffenlieferungen gekoppelt. Bis heute ist diese „doppelte“ Moral ein Bestandteil westlicher Politik. Entwicklungspolitik ist Instrument von Außen-, Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen, was u. a. die Evangelische Kirche kritisiert (Ulrich Williams: „Entwicklung, Interesse und Moral, Die Entwicklungspolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland“, 1998). Meine in manchen Ohren naiv klingende Überzeugung war und ist: Glaubwürdiges politisches Handeln stellt den Menschen in den Mittelpunkt, ist nicht geleitet von Kommerz, Gewinnsucht und Machtgier. Als ich im Jahre 1990 im Alter von 32 Jahren zur Landrätin des Landkreises Fürth gewählt wurde, wollte ich den Bedürfnissen der Bürger unverfälscht und unbeeinflusst dienen. Ich erlebte in dieser Zeit jedoch auch, dass Menschen nicht danach entscheiden, was sie eigentlich wollen: Viele Entscheidungen in meinem Umfeld waren geprägt vom Bestandserhaltungsdenken von Organisationen und Gremien und dienten der Absicherung von Entscheidungsträgern. Auch in „meiner“ Partei, der CSU, vermisste ich Geradlinigkeit, Offenheit und Ehrlichkeit. Es fiel mir schwer, die Abweichungen der Partei von den in Programmen und Reden formulierten Grundsätzen nachzuvollziehen. Das betraf u. a. falsche Versprechen in der Schulpolitik, aber auch das nach dem Volksentscheid mit Wirkung zum 1. Januar 2004 in die Bayerische Verfassung (Art. 83, (3) und (7)) aufgenommene „Konnexitätsprinzip“, wonach der Staat Kommunen in größerem Umfang finanziell unterstützen sollte. Diese Verfassungsänderung sollte dazu beitragen, die chronische Unterfinanzierung der Gemeinden durch vom Land übertragene Aufgaben zu lindern. Der Landkreis Fürth war der Erste in Bayern, der die Staatsregierung wegen der Nichteinhaltung dieses Grundsatzes verklagte, obwohl ich es damals als CSU-Landrätin bedauerte. Auch einen durch meine Initiative eingebrachten „Fallkatalog“ der mittelfränkischen Landratsämter „unsozial“ eingesetzter staatlicher Fördermittel nahm die CSU erst wohlwollend auf, startete dazu sogar einen Gesetzesänderungsantrag im Deutschen Bundestag und stimmte schließlich mit Ausnahme eines Bundestagsabgeordneten dagegen. Angeblich sei der Druck von Kirchen und Wohlfahrtsverbänden zu groß gewesen, wie man mir dann berichtete. Diese immer wiederkehrenden Diskrepanzen zwischen vertretenen Prinzipien und dem tatsächlichen Entscheidungsverhalten von CSU-Politikern wollte ich nicht mehr hinnehmen. Ich hatte dabei nicht die „Rebellion“ im Auge, sondern nach ausgiebigen parteiinternen Diskussionen die Glaubwürdigkeit der CSU. Auch im Amt empfand ich mich aber immer als Landrätin für alle, nicht als CSU-Landrätin. Mit Ehrlichkeit und Verlässlichkeit wollte ich vor meinen Bürgern bestehen. 1990 hatte ich von mei-

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nem Amtsvorgänger Dietrich Sommerschuh (SPD) den Landkreis mit der höchsten Verschuldung aller bayerischen Landkreise übernommen. Zunächst war daher ein strikter Sparkurs angesagt, der den Landkreis zu einem der finanziell solidesten in ganz Bayern werden ließ. Ich setzte die Kenntnisse aus meinem betriebswirtschaftlichen Studium in Kombination mit einem neuen Weg des bürgerschaftlichen Engagements ein; die Lebensqualität der Landkreisbürger sollte trotz aller Sparmaßnahmen nicht merklich eingeschränkt werden, so zum Beispiel durch eine Umschichtung der Mittel vom gut entwickelten Straßenbauetat in den schulischen Bereich. Ich sanierte den Landkreis Fürth mit Hilfe von über mehrere Fraktionen hinweg gebildeten Mehrheiten konsequent und dennoch mit steigender Beliebtheit durch die Wähler. Erhielt ich 1990 in einer heiß umkämpften Stichwahl zunächst 50,3 % der Wählerstimmen, so steigerte sich dies 1996 auf 59,1 % und 2002 auf 65,4 %. Ich führte mein Amt mit großer Hingabe an „meine Bürger“ und freute mich über das wachsende gegenseitige Vertrauen. Bürger wollen bei Politikern neben aller Sachorientierung auch das Wohlwollen spüren, die Bereitschaft, sich für deren Sorgen und Probleme mit dem Herzen zu öffnen. Das beflügelte mich. III. Unruhen in der CSU 2006 – 2007 1. Zunehmender Unmut Die CSU nahm jahrzehntelang die Anliegen der Bevölkerung offen auf. Parteivorsitzender Franz Josef Strauß verstand es wie keiner seiner Nachfolger, das ganze soziale Spektrum der Bevölkerung einzubinden. Er symbolisiert bis heute das selbstbewusste und leistungsstarke Bayern. Seine Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten haben seinen persönlichen Nimbus nie erreicht. Stoiber übernahm das Ministerpräsidentenamt nach der sogenannten „Amigo“-Affäre um Max Streibl im Mai 1993. Bei den Landtagswahlen 1994 und 1998 konnte Edmund Stoiber als Spitzenkandidat der CSU die absolute Mehrheit der CSU mit 52,8 % bzw. 52,9 % der abgegebenen Stimmen verteidigen. Und im Januar 2002 setzte er sich gegenüber Angela Merkel als gemeinsamer Kanzlerkandidat von CDU und CSU für die Bundestagswahl 2002 durch. Edmund Stoiber hatte diese bundespolitischen Ambitionen planmäßig vorbereitet, indem er den Freistaat in den Jahren zuvor zum „Vorzeigebundesland“ entwickelte. Den Bundestagswahlkampf nutzte Edmund Stoiber daher auch großartig für die Außendarstellung Bayerns, auch wenn er das Ziel, Kanzler zu werden, dann knapp verfehlte. Als „Dank“ für seinen bundesweiten Einsatz wählte die bayerische Bevölkerung die CSU 2003 mit dem zweitbesten Wahlergebnis ihrer Geschichte mit 60,67 %. Das beste Ergebnis aller Zeiten hatte Alfons Goppel 1974 mit 62,1 % erzielt. Aufgrund dieser Zweidrittelmehrheit im Bayerischen Landtag wollte die CSU allerdings nicht wahrhaben, dass gleichzeitig die Wahlbeteiligung mit 57,1 Prozent ein Rekordtief in der bayerischen Geschichte erlangt hatte (www.bayern.landtag.de), und dass somit die Mehrheit der bayerischen Bevölkerung nicht hinter ihr stand.

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Als ich bei Parteiveranstaltungen ansprach, dass die CSU in Bayern als Ergebnis dieser Wahl noch nicht mal die Hälfte der Bevölkerung vertrat, dominierte die Euphorie über die neu gewonnene Macht. Kaum jemand wollte meinen Hinweis hören. Das Begriffspaar „Machtvergessenheit und Machtversessenheit“ (Richard von Weizsäcker) prägten das Bild. Edmund Stoiber begann, drastische Sparmaßnahmen umzusetzen, um seine Vision eines ausgeglichenen Haushalts zu realisieren. Ihm wurde ein „Musterknabensyndrom“ unterstellt, als er in seiner Regierungserklärung verkündete (Plenarprotokoll des Bayerischen Landtags 15/5 vom 06. 11. 2003): „Wir wollen ab 2006 im Staatshaushalt als erstes Land in Deutschland keine neuen Schulden mehr machen.“ Er sagte weiterhin: „Gemessen am Jahr 2003 wollen wir bis zum Jahre 2008 insgesamt 15 % einsparen. Für 2004 streben wir Einsparungen in Höhe von 10 % an.“ Außerdem befürwortete er zur Überraschung des gesamten Landtagsplenums die Verkürzung der gymnasialen Schulzeit von neun auf acht Jahre. Noch wenige Wochen zuvor hatte er gegenüber Lehrerverbänden geäußert: „Die CSULandtagsfraktion hat sich mit dem Thema bislang nicht beschäftigt. Es ist auch nicht vorgesehen, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen“ (in: bpv.de/gymnasium.htm, s.www.spd-landtag.de). Dieser eklatante Wortbruch stieß ebenso auf Unmut in der Öffentlichkeit, wie weitere Forderungen, die Einschulung von Kindern bereits mit fünf Jahren vorzunehmen und die Arbeitszeit im öffentlichen Dienst auf 42 Stunden ohne finanziellen Ausgleich zu erhöhen. Keine dieser Reformvorhaben wurde vorher innerparteilich oder öffentlich diskutiert. Die Abgeordneten der CSU hatten alle Mühe, diesen neuen „Stoiber-Kurs“ in der Bevölkerung zu rechtfertigen, die Vertrauenserosion der CSU begann. Ich meldete mich zu diesen und anderen Themen in den Gremien der Partei zu Wort, auch im Parteivorstand der CSU, dem ich seit 1989 zunächst als jüngstes Mitglied angehörte. So verlangte ich u. a. für die Kommunen eine bessere finanzielle Ausstattung und äußerste mich kritisch zu Hartz IV. In dieser Zeit erbrachte die stufenweise Einführung von Hartz-I/IV nicht, wie ursprünglich von der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ angekündigt, weniger Arbeitslose. Für viele Menschen „an der Basis“ wurde die wachsende Armut deutlich sichtbar und spürbar. Die Essensausgabe an den „Tafeln“ zog immer größer werdende Kreise von Bedürftigen an. Menschen ohne Arbeit waren verzweifelt, während sich die Große Koalition unter Angela Merkel bemühte, diese u. a. dadurch aus der Arbeitslosenstatistik zu entfernen, indem ihnen „Umschulungsmaßnahmen“ auferlegt wurden. Im Jahre 2008 wurde die Arbeitslosenstatistik weiter manipuliert, indem auch über 58-Jährige aus ihr gestrichen wurden. (Süddeutsche Zeitung: „Sonderregelung erlaubt Rechentrick – Regierung schönt Arbeitslosenstatistik“, 30. 12. 2011), während im Widerspruch dazu das Renteneintrittsalter inzwischen auf 67 Jahre festgelegt wurde. Am 22. November 2005 wurde Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt und das Kabinett ernannt. Auf wenig Verständnis traf in der Öffentlichkeit der „Schlingerkurs“ des designierten Wirtschaftsministers Edmund Stoiber. Er legte sein neu erworbenes Bundestagmandat 3 Wochen nach der Wahl zur großen Überraschung aller

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nieder und lehnte es ab, das eigens für ihn konstruierte, mit umfangreichen Kompetenzen angereicherte Bundeswirtschaftsministerium anzunehmen. Diesen Rückzug begründete er mit dem damals ebenso angekündigten Rücktritt von Franz Müntefering als Parteivorsitzender der Sozialdemokraten, was vollends auf Unverständnis stieß (Welt Online: „Stoiber geht, Müntefering bleibt“, 02. 11. 2005). Ich trug den Unmut der „Basis“ bei einer CSU-Bezirksversammlung dem CSU-Parteivorsitzenden Edmund Stoiber in Nürnberg vor, so wie die Tatsache, dass er damit Erwin Huber und Günther Beckstein in aller Öffentlichkeit gedemütigt hatte, denn beide hatten sich als Nachfolger für das Amt des Ministerpräsidenten bereits positioniert. Im Januar 2006 wurde Edmund Stoiber das „Schlusslicht auf der Beliebtheitsskala“ im ZDF-Politikbarometer (Der Spiegel: „CSU: Brennender Ehrgeiz“, 30. 01. 2006) und „Die Welt“ kommentiert: „Seit seinem überraschenden Verzicht auf einen Ministerposten in Berlin Ende 2005 hat der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber an Autorität verloren“ (Die Welt: „Stoibers Demontage begann mit dem Rückzug aus Berlin“, 18. 1. 2007). Im Sommer 2006 sprach ich über die Situation der CSU bei einem CSU-Ortsverband im mittelfränkischen Herzogenaurach. Die Parteimitglieder teilten in der Diskussion meine Ansicht, Edmund Stoiber solle trotz seiner Verdienste bei der nächsten Landtagswahl 2009 nicht erneut als Ministerpräsident Bayerns antreten. Die Presse berichtete über diese Stimmung an der CSU-Basis eher nebensächlich. Dennoch wurde ich zur Sendung des Bayerischen Rundfunks „Quer“ eingeladen. Zwei Tage später bestürmten mich beim CSU-Parteitag, dem ich viele Jahre als Delegierte und Landesvorstandsmitglied angehört hatte, nicht nur die Vertreter der Medien, auch manche meiner Parteikollegen teilten mir ihren Unmut über Edmund Stoibers unverständlichen Rückzug aus Berlin mit. Allerdings wollte kaum einer diese Meinung öffentlich vertreten. Ich blieb ungewollt „Solistin“ und bekam auch bald die Gegenoffensive der CSU zu spüren. Zivilcourage in der Politik ist eben kein Massenphänomen. 2. Gegenwehr des CSU-Apparates Die Öffentlichkeit hatte ein neues Thema: Die „schöne, junge CSU-Landrätin“ gegen den alternden Technokraten eines mächtigen Regierungsapparates. Die Medien stürzten sich förmlich auf mich und jeder Schritt von mir wurde begleitet, kommentiert, dann jedoch verzerrt und verspottet. Die Bevölkerung verlangte den Rückzug von Edmund Stoiber als Ministerpräsident, was auch anhand der Beantwortung einer von mir ins Internet im November 2006 offen gestellten Frage deutlich wurde. Als ich dieses Forum auf Drängen von Günther Beckstein nach kurzer Zeit schloss, erreichten mich innerhalb der folgenden Wochen Tausende von Zuschriften und Mails aus allen Regionen Deutschlands und des Auslands, größtenteils mit der Bitte, von meinen Aussagen nicht abzuweichen. Dann erfuhr ich im Dezember 2006 von einem dubiosen Telefonat. Michael Höhenberger, Edmund Stoibers Büroleiter in der Staatskanzlei, hatte ausführlich mit

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einem politischen Freund aus Fürth telefoniert. Er wurde befragt, welche besonderen „Neigungen“ ich haben könnte in Bezug auf mein Privatleben, Alkohol etc. Michael Höhenberger sagte, es ginge wortwörtlich darum, mir „etwas anzuhängen“. Ich verlangte umgehend ein 4-Augen-Gespräch mit Edmund Stoiber, der mir allerdings ausrichten ließ, ich könne mit dem CSU-Generalsekretär Markus Söder sprechen, was ich jedoch dankend ablehnte. In der Weihnachtssitzung des Parteivorstands wurde diese „Bespitzelungsaffäre“ als unwahr abgetan. Edmund Stoiber sagte außerdem, er habe das 4-Augen-Gespräch mit mir nicht führen wollen, weil ich „nicht wichtig“ sei. Er war sich offenbar zu schade, mit mir zu reden und ließ mich seine herablassende Verächtlichkeit spüren. Diese Parteivorstandssitzung fand zwar hinter verschlossenen Türen statt, aber kurz nach Sitzungsende waren Journalisten bereits in voller Kenntnis der dort geführten Diskussion. Das öffentliche Entsetzen über die „Höhenberger-Affäre“ begann ungeahnte Ausmaße anzunehmen. Michael Höhenberger trat am 22. 12. 2006 von seinem Amt zurück, wurde jedoch dann als Ministerialdirektor für den Bereich Gesundheit im Bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit eingesetzt. Seine Beamtenlaufbahn setzte er somit ungehindert fort. 3. Der „Putsch“ Viele meiner „Parteifreunde“ gingen damals zu mir auf Distanz, wohl aufgrund einer falsch verstandenen innerparteilichen Solidarität. Die alte Weisheit, dass gerade Parteifreunde zu Feinden werden können, bewahrheitete sich wieder einmal. Auch der damalige Innenminister Günther Beckstein nahm kurz vor Weihnachten 2006 Anlauf zu einem eigens mit mir in der CSU-Geschäftsstelle in Nürnberg anberaumten „Friedensgespräch“ und ermahnte mich angeblich ohne „Weisung von Edmund Stoiber“, jetzt Ruhe zu geben. Er behauptete, Edmund Stoiber würde nie und nimmer vorzeitig aus dem Amt scheiden und wollte mich davon abbringen, dies weiterhin zu fordern. Vier Wochen später zählte Beckstein zu den „Gewinnern“ des „Putsches“ gegen Edmund Stoiber bei der CSU-Klausurtagung im winterlich verschneiten Wildbad Kreuth. Diese Tagung der Landtagsfraktion wurde zur „Krisensitzung“, zumal Edmund Stoiber Umfragen zufolge kaum mehr Rückhalt in der Bevölkerung hatte. Wie eine Erhebung für das Magazin „Stern“ ergab, sprachen sich 69 Prozent der Wahlberechtigten im Freistaat dagegen aus, dass Stoiber bei der nächsten Landtagswahl 2008 erneut als Spitzenkandidat antrat (Handelsblatt: „Mehrheit der Bayern gegen neue Stoiber-Kandidatur“, 15. 01. 2007). Bis heute ranken sich um die Vorgänge in Wildbad Kreuth widersprüchliche Interpretationen. Am 18. 01. 2007 gab Edmund Stoiber dann in einer eiligst einberufenen Pressekonferenz in der Staatskanzlei seinen geplanten Rückzug vom Amt des Ministerpräsidenten bekannt: „Diese Entscheidung habe ich getroffen, weil es mir wichtig ist, zum richtigen Zeitpunkt für Bayern und für die CSU zu handeln“, sagte er (Spiegel Online: „Stoibers Servus – Blitzrücktritt des Ober-Bayern“, 18. 01. 2007). In Wildbad Kreuth hatte man außerdem die Nachfolgefrage bereits

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vorbereitet. Günther Beckstein wurde als Ministerpräsident vorgesehen, Erwin Huber als Parteivorsitzender. Edmund Stoiber selbst sprach Monate später davon, seine Position nicht freiwillig aufgegeben zu haben. Er habe in Kreuth seine Ämter nicht von sich aus zur Verfügung gestellt und auch niemanden für die Nachfolge vorgeschlagen (www.faz.net: „Stoibers erzwungener Rücktritt ,Kreuth hat mir wehgetan‘“, 29. 08. 2007). Dagegen behaupten seine Nachfolger Erwin Huber und Günther Beckstein, dass Edmund Stoiber seinen Abgang durch eigenen Entschluss erledigt habe. Im Oktober 2011 schreibt Günther Beckstein unter der Überschrift „Spannende Stunden in Kreuth“, dass Edmund Stoiber ihn lediglich gebeten habe, zusammen mit Erwin Huber die Nachfolgefrage zu regeln (Günther Beckstein: „Die Zehn Gebote. Anspruch und Herausforderung“, 2011). Auch Erwin Huber vertrat die Version, Edmund Stoiber habe „seine eigene Entscheidung“ getroffen. Edmund Stoiber weist dies jedoch zurück: „Klar ist, dass ich natürlich nicht von mir aus in Kreuth meine Ämter zur Verfügung gestellt habe oder zur Verfügung stellen wollte und auch niemanden selbst für die Nachfolge vorgeschlagen habe“, sagte er in seinem einzigen großen Interview dazu im Jahr 2008 (Merkur Online: „Das dunkle Geheimnis von Kreuth“, 14.01.12). Erwin Huber erklärte zu Beginn des Jahres 2012 in einem Interview erneut, es habe „kein Bündnis Beckstein/Huber gegen Stoiber gegeben, das sei ,Spekulation.‘ … Auch der Rücktritt war ein Alleingang von Edmund Stoiber.“ (Süddeutsche Zeitung: „Das Trauma von Kreuth“, 13. 01. 2012). Auf der anderen Seite rangelte man dennoch um das „Verdienst“, Edmund Stoiber zu diesem Schritt bewegt zu haben. Erwin Huber schildert (Süddeutsche Zeitung: „Das Trauma von Kreuth“ vom 13. 01. 2012): „Kreuth 2007 hat uns vor der Oppositionsbank gerettet. Es gäbe heute, 2012, keinen Ministerpräsidenten der CSU, keinen Minister der CSU, wenn nicht die Fraktion in einer Ansammlung des gesamten Mutes, in einer Konzentration des Selbsterhaltungstriebes, beschlossen hätte, dem übermächtigen Stoiber ins Antlitz zu sagen, es geht nicht mehr weiter so.“ Günther Beckstein und Erwin Huber wollen zwar bis heute die „Heldentat“, Edmund Stoiber zum Rückzug bewegt zu haben, für sich verbuchen, andererseits jedoch die Verantwortung dafür wiederum nicht übernehmen, um nicht als „Königsmörder“ zu gelten. Dazu hatte man mich auserkoren. Dabei geriet man aber in der männerdominierten Partei CSU in einen argumentativen Widerspruch: Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Es ging gegen die „männliche Ehre“, dass der Sturz von Edmund Stoiber in irgend einem Zusammenhang mit der „roten Rebellin“ stehen könnte, wie ich von den Medien u. a. genannt wurde. Die CSU war immer schon eine Domäne der Männer, der Frauenanteil betrug in der CSU 2008 lediglich 18,8 % (Niedermayer, Oskar: Parteimitglieder in Deutschland: Version 1/2009. Arbeitshefte a. d. Otto-Stammer-Zentrum, Nr. 15, FU Berlin 2009). Und diese wollten die Oberhand behalten. Es war der Mut der Verzweifelten, der die Fraktion endlich zu einer klaren Aussprache bewegte. Die Einsicht von Edmund Stoiber, dass die Fraktion ihn nicht mehr

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trug, führte schließlich dazu, dass er am 18. 01. 2007 aufgab. Dies erklärte er mir auch in dem anschließenden Gespräch in der CSU-Landesleitung, das allerdings dann unter anderen Vorzeichen stattfand, als zunächst vorgesehen. Ich teilte den vor der Parteizentrale wartenden Journalisten im Anschluss daran Edmund Stoibers Worte mit, er habe seine Ämter zur Verfügung gestellt, um die Geschlossenheit in der CSU und der gesamten Union wieder herzustellen (www.n-tv.de: „Gerangel um die Nachfolge – Stoiber tritt zurück“, 18. Januar 2007): „Stoiber habe anerkannt, dass es derzeit keine Geschlossenheit mehr gebe und er an der Basis Vertrauen verloren habe, sagte Pauli am Donnerstag in München nach einem mehr als einstündigen Vieraugengespräch mit Stoiber.“ Viele hätten seinen Rückzug aus Berlin nicht verstanden. Ab diesem Tag begann sich das Blatt gegen mich zu wenden. Edmund Stoiber, der noch neun quälend lange Monate im Amt blieb, tat sich beim traditionellen CSUAschermittwoch in Passau dann auch schwer, seinen Schritt plausibel und ohne Gesichtsverlust zu begründen. „Kurz vor Ende seiner fast zweidreiviertel Stunden dauernden Rede erzählt er eine Anekdote: Putin habe ihm jüngst auf der Sicherheitskonferenz scherzend mitgeteilt, selbst sein Geheimdienstchef wisse nichts über die Gründe für seinen Rückzug. Ob er sie ihm denn sagen könne? Da bricht der Saal in ,Pauli raus!‘-Rufe aus.“ (Spiegel: „CSU feiert Stoiber-Party – Watschn für Pauli und Seehofer“, 21. 02. 2007). Ich hatte ja nach offizieller CSU-Auslegung einerseits nichts mit dem Rückzug Edmund Stoibers zu tun, trotzdem diffamierte man mich auf Transparenten u. a. als „Hexe“ und „Königsmörderin“ und skandierte zu Generalsekretär Markus Söders Rufen ins Mikrofon „Pauli raus“. Für die einen hatte ich als „kleine Landrätin“ in Bayern heldenhaft einen Erdrutsch ausgelöst, in der CSU wurde ich aber zur ungeliebten und verhassten „Verräterin“, die unter Begleitschutz den Saal in Passau verlassen musste. Der Rachefeldzug gegen mich begann. 4. Die Hetzkampagne Mein Arbeitspensum in dieser Zeit war enorm. Ich führte meinen Landkreis nach wie vor mit großer Umsicht, nahm Feuerwehrtermine ebenso wahr, wie Einweihungen, Bürgerversammlungen, Sitzungen etc. Nahezu jeder Fernseh-Moderator, von Michael Friedman bis zu Sabine Christansen, wollte die bayerischen Vorfälle mit mir in Gesprächsrunden diskutieren und ich unterzog mich diesen Fragen soweit es zeitlich möglich war. Am Tag nach Aschermittwoch gönnte ich mir eine „Auszeit“ und folgte einer Einladung von „Park Avenue“, einer Zeitschrift, die es heute wegen Erfolgslosigkeit nicht mehr gibt. Im Nachhinein muss ich feststellen, dass das Interview mit diesem Blatt der eklatanteste Fehler meiner politischen Laufbahn war. Ich tappte in eine „Falle“, mit der ich bis heute zu kämpfen habe. Ich ließ mich in Designerkleidern fotografieren und dachte dabei nicht im Geringsten an „Lack und Latex“. Abgesprochen mit der Journalistin war ein sympathisch-positives Portrait über mich und meine politischen Vorstellungen. Ich baute ohne Vertrag auf die mündliche Zusage einer Journalistin, dieses Vertrauen rächte sich bitter. Fotos, deren Ver-

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öffentlichung ich nicht zugestimmt hatte, wurden ohne meine Freigabe in vielen Zeitungen verbreitet, dazu ein Text mit angeblich von mir abgesegneten Zitaten, die nie und nimmer meine Aussagen wiedergaben. Bis heute ist es nicht gelungen, den aus dieser Zeit stammenden „politischen Rufmord“ in den Medien und im Internet zu beenden. Heute kann ich endlich mit Hilfe eines patenten Anwalts gegen verschiedene Medien vorgehen, die sich zu unverschämten und herabwürdigenden Beleidigungen verstiegen. „Meine“ CSU überhäufte mich damals mit öffentlichen Schmähungen, bis hin zu Forderungen, ich möge aus der CSU austreten, die u. a. auch Edmund Stoiber erhob (Merkur Online: „Stoiber legt Pauli Austritt aus der CSU nahe“, 19.09.07). In vielen Medien wurde ich zunächst als die „Heldin“, dann als die „verruchte Domina“ und „Sexsymbol“, dann als die „psychisch Kranke“, dann als die „Gescheiterte“, „Wirre“ und „Einsame“ dargestellt. Die Hoffnung der CSU war wohl, dass ich mich aus der Politik gänzlich zurückziehen würde. 5. Kandidatur zum Parteivorsitz Der CSU-Parteitag am 28./29. September 2007 setzte den Feldzug gegen mich fort. Innenminister Günther Beckstein hatte sich im Vorfeld zu der öffentlichen Aussage, ich sei ein „Fall für den Psychiater“, verstiegen. Auf dem CSU-Parteitag forderte ich ihn auf, mir dazu eine Erklärung zu geben. Die Parteitagsregie antwortete mit dem Abstellen des Mikrofons. Die Delegierten verfolgten diese Inszenierung „solidarisch“ mit der CSU und feierten am Abend Edmund Stoibers Abschied. Die CSU hatte zu diesem Zeitpunkt längst ihre christliche Wertorientierung verlassen. Auch der Umgang mit Horst Seehofers außerehelichem Vaterglück zeigte die doppelte Moral, die viele Menschen in Bayern nicht mehr verstanden. Der Umgang mit mir war ein Zeichen für die Zerrüttung der Partei und für mich persönlich nicht einfach anzunehmen, zumal mich andererseits viele Menschen als neue „Hoffnungsträgerin“ der Politik ansahen. Die Süddeutsche Zeitung hatte berichtet: „Eine klare Mehrheit der Bayern unterstützt nach einer Umfrage die Kandidatur von Gabriele Pauli für den CSU-Vorsitz. … Bei vielen CSU-Politikern stieß Paulis Ankündigung im Gegensatz zur Basis auf Unverständnis“ (Süddeutsche Zeitung: „Pauli erntet Beifall der Bayern“, 15. 07. 2007). Natürlich sah ich „meine Partei“, der ich damals 30 Jahre angehört hatte, inzwischen mit anderen Augen. Umso mehr wollte ich die „Erneuerung“, die Einbeziehung der Parteibasis, einen toleranten Umgang mit neuen Ideen, die gesellschaftliche Veränderungen aufnahmen. Ich kandidierte zum Parteivorsitz zusammen mit Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer und Wirtschaftsminister Erwin Huber, der schließlich dieses Amt einnahm. Ich wollte durch diese Kandidatur zum Parteivorsitz aufzeigen, dass es auch noch Ehrlichkeit und Verlässlichkeit geben müsse, woran sich politische Entscheidungen orientieren sollten. Die Agitation gegen mich hatte jedoch deutliche Wirkung – der „Stern“ schrieb: „Eine Frau, die zur Verliererin gemacht wurde. Von Männern, die

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ein Problem haben.“ (Stern: „Der Exorzismus der Gabriele Pauli“, 30. 09. 2007) Ich erhielt 24 Stimmen. Ich konnte mich nicht durchsetzen, aber ich gewann etwas für mich selbst, denn ich hatte für mich entschieden, nichts mehr zu tun, was ich nicht wirklich aus voller Überzeugung wollte. Ich wollte und will mich nicht aus der Angst heraus verbiegen, keine Mehrheit zu bekommen. Dadurch kann ich inzwischen frei und offen das ansprechen, was in unserem Staate nicht konform mit den Wünschen der Bürger ist. Durch diese Erfahrungen weiß ich heute eines besonders zu schätzen: meine eigene Kraft, die ich nicht allein auf äußerer Zustimmung beruht, sondern die ich in mir trage. Damals konnte ich jedoch nicht ermessen, welchen Weg ich noch einschlagen würde. Je mehr Widerstand ich spürte, umso mehr wuchs meine innere Überzeugung, dennoch meinen Standpunkt zu vertreten. Ich konnte jeden „Rückschlag“ überwinden, denn in mir entstand gleichzeitig die Gewissheit, dass das, was ich tat, aus einem ehrlichen Gefühl, getragen von einem starken Glauben heraus entstand. IV. Neuorientierung Ich hatte in sehr vielen Reden gesagt: „Wenn sich die CSU nicht aus sich selbst heraus erneuert, dann wird sie von außen erneuert.“ Es gibt zur Veränderung einen schmerzhaften Weg und einen durch Erkenntnis. Hätte die CSU rechtzeitig erkannt, dass sie Mehrheiten deshalb verlieren würde, weil sie nicht mehr fähig war, den Willen der Bevölkerung aufzunehmen, dann wäre ihr dieser Prozess schwindender Popularität erspart geblieben. 1. Initiativen bei den Freien Wählern/Gründung der Freien Union Im November 2007 erklärte ich wegen des anhaltenden Mobbings gegen meine Person meinen Austritt aus der CSU. Ein halbes Jahr zuvor hatte ich bekannt gegeben, zur nächsten Kommunalwahl im März 2008 als Landrätin nicht mehr anzutreten. Die Rache der CSU traf mich auch hier, denn man verweigerte mir per Kreistagsbeschluss eine Pension, die ich – wie andere Kommunalpolitiker auch sofort nach Amtsaufgabe erhalten hätte. Aber selbst diese „Drohung“, mir das finanzielle Auskommen zu versagen, hielt mich nicht davon ab, nach 18 Jahren das Landratsmandat an meinen Nachfolger der CSU zu übergeben. Diesen hatte ich „meinen Bürgern“ empfohlen und ihn auch im Wahlkampf unterstützt, obwohl die CSU öffentlich gegen mich hetzte. Im Sommer 2008 kamen die Freien Wähler auf mich zu und baten mich, für den Landtag zu kandidieren. Ich trat auch deshalb dem örtlichen Verband der Freien Wähler (FW) bei, weil sie wenig starr strukturiert und offen für neues Gedankengut schienen. Die in Bayern vor allem im ländlichen Raum populären Freien Wähler waren seit Edmunds Stoibers Sparpolitik die „Angstgegner“ der CSU, bereit, im sogenannten bürgerlichen Lager die vielen Unzufriedenen aufzufangen. Basierend auf

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einem konservativen Weltbild konnten sie das Vertrauen ehemaliger CSU-Wähler gewinnen, die mit der politisch inzwischen in Widersprüchen und Personalquerelen belasteten CSU nichts mehr anfangen konnten. Die für die CSU formulierten Programmpunkte flossen jetzt in meine Wahlkampfreden der Freien Wähler ein. Ich kandidierte auf Platz 8 der Mittelfrankenliste, wurde dort auf Platz eins vorgewählt und rangierte damit in der mittelfränkischen Gesamtstimmenzahl gleich hinter dem Ministerpräsidentenkandidaten Günther Beckstein und erreichte mehr Stimmen als der Vorsitzende der Freien Wähler in Bayern, Hubert Aiwanger. In der Bevölkerung war mein Rückhalt groß, auch wenn ich nicht mehr der CSU angehörte. Durch meine Kandidatur gewannen die Freien Wähler enormen Zulauf und schafften erstmals den Sprung in den Bayerischen Landtag mit sensationellen 10,2 %. Die CSU büßte ihre absolute Mehrheit damit ein. Man bot mir das gewichtigste Amt im Landtag an, das man als Oppositionspolitikerin erhalten konnte, den Vorsitz des Innenausschusses. Aber bei den Freien Wählern begannen Eifersüchteleien und interne Machtkämpfe und einige setzten alles daran, meinen Einfluss zu minimieren. Während dieser ersten Monate im Landtag kristallisierte sich auch meine Kandidatur für das Europaparlament auf Platz 1 der Liste der FW heraus und ich führte den bundesweiten Wahlkampf mit enormem Einsatz. Bei der Europawahl 2009 errangen die auf Bundesebene nicht strukturierten Freien Wähler auf Anhieb 1,7 %. Schon während des Wahlkampfes hatte ich von Mitgliedern der FW vernommen, dass sie einer Bundestagskandidatur der FW aufgeschlossen gegenüberstünden. Mein Vorschlag, dass die FW zur Bundestagswahl 2009 antreten sollten, rief jedoch bei dem Landesvorsitzenden der bayerischen FW, Hubert Aiwanger, Widerstand hervor, obwohl er zwei Wochen vorher das Gleiche öffentlich gefordert hatte (Focus, 26. 05. 2009: „Freie Wähler erwägen Teilnahme an der Bundestagswahl“). Er sah seine Autorität durch mich bedroht, beantragte deshalb meinen Ausschluss aus der Landtagsfraktion und gewann die Abstimmung. Die Möglichkeit, mit reformerischen Konzepten an die Bürger heranzutreten, war mir damit erneut versperrt. Ich hatte während des Landtags- und Europawahlkampfes die Aufbruchfreude und die Bereitschaft zu neuen politischen Gedanken unter den Bürgern gespürt. Noch nie traten in der Geschichte der Bundesrepublik so viele „neue“ und „kleine“ Parteien an, wie zur Bundestagswahl 2009. Auch die Zahl der Wahlverweigerungen stieg bei der Wahl zum Deutschen Bundestag immens an. Die Nichtwählerquote lag bei historisch einmaligen 29,2 % (2009). Politische Parteien wehren viele Anliegen und Wünsche der Bevölkerung zunehmend ab und verfallen in tagespolitischen Aktionismus. Unser Staat entwickelt Karrieremuster, Bildungswege, Verhaltenskonzepte fürs Alter, Vorgaben für Gesundheit, Regelungen für Sicherheit etc., und dies alles begleitet von erstickender Bürokratie und Konformität. Alle diese Festlegungen sollten auf den Prüfstand, denn viele Gesetze und Reglementierungen treffen nicht mehr die wahren Vorstellungen der Menschen von einem freien und glücklichen Leben.

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Fünf Tage nach meinem Ausschluss aus der Fraktion der FW gründete sich auf meine Initiative am 21. 06. 2009 die Freie Union, deren Grundsätze ich entwarf. Ich wollte diesen „Neustart“ so „basisdemokratisch“ wie möglich gestalten und lud deutschlandweit „über die Medien“ ein, die darüber berichteten. Es kamen über 500 Gründungswillige und Schaulustige, rund 300 Mitglieder begleiteten den Start der neuen Partei. Nach einer in der Geschichte der Bundesrepublik wohl einmalig kurzen Vorbereitungszeit wurden alle formalen Kriterien der Parteigründung erfüllt, die Partei basierte innerhalb von zwei Wochen auf einem bundesweit vollständigen Netz von Landesverbänden und erfreute sich eines sensationell raschen Zulaufs. Nach 10 Tagen hatte sie rund 2.000 Mitglieder. In kürzester Zeit begannen aber auch die Gegenströmungen innerhalb der Freien Union den Aufbau einer funktionsfähigen Organisationsstruktur zu verhindern. Aus anderen Parteien waren Mitglieder eingeschleust worden, die interne Streitigkeiten anzettelten und die die Freie Union fast zum Erliegen brachten. Das Ziel, zur Bundestagswahl 2009 anzutreten, wurde deshalb nicht erreicht, weil der Bundeswahlausschuss die Teilnahme mit einer rechtlich nicht haltbaren Begründung ablehnte. Man argumentierte, dass der Antrag zwar formal gültig sei, aber angeblich eine Unterschrift fehle. Diese Entscheidung des Bundeswahlausschusses kam aufgrund der Pattsituation durch die Doppelzählung der Stimme des Bundeswahlleiters Reinhold Egeler zustande. Damit war jedoch die rasche Aufbauarbeit der Freien Union zunichte gemacht, die Hoffnung vieler Bürger auf eine Alternative zu den etablierten Parteien war zerschlagen. Die internen Zwistigkeiten in der Freien Union mit dem Ziel, diese Partei nie arbeitsfähig werden zu lassen, waren dann auch der Grund meines Austritts im Mai 2010. Das Gedankengut der Freien Union ist jedoch nach wie vor einzigartig in der Bundesrepublik, denn es skizziert eine gesellschaftliche Weiterentwicklung, die christliche Ansätze mit emanzipatorischen Handlungsformen auf neue Weise verknüpft. Wir sind der Staat – und dies nicht nur verkörpert durch Politiker der großen Parteien. Deshalb sollten sich die vielen kleinen und neuen Parteien aufmachen, ihre Gemeinsamkeiten zu suchen. Die bisher nicht verankerten „kleinen“ Parteien der Mitte haben Chancen, sich zu Wahlen zusammenfinden, um reformerische Ziele mit mehr Kraft anzugehen. Ich möchte hiermit den Anstoß geben, dass sich diese „kleinen Parteien“ aufeinander zu bewegen und ihre Egoismen dabei fallen lassen sollten. Es kommt nicht darauf an, wer welche Personen voranstellt, sondern vielmehr um einen wirkungsvollen Aufbruch in eine neue Gesellschaft und die vielen Ansätze dazu sind in den Köpfen der Mitglieder dieser neuen Bewegungen bereits vorhanden. Sie können sich formieren und Wesentliches erreichen, indem sie zum Beispiel zur nächsten Bundestagswahl mit einer gemeinsamen Liste antreten.

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2. „Das Streben der Menschheit nach Glück verändert die Welt“ In seiner weitsichtigen „Berliner Rede“ mit dem Titel „Das Streben der Menschheit nach Glück verändert die Welt“ vom 01. 10. 2007 setzte Bundespräsident Horst Köhler neue Maßstäbe für die Politik: Er forderte für die Menschen Glück! Er sprach die wachsende Armut in der Dritten Welt genauso an, wie die Ungleichheit bei der Einkommensentwicklung in der Bundesrepublik. Endlich hinterfragte jemand aus dem konservativen Lager die Wachstumsphilosophie des Westens. Die TAZ berichtet: „Dass sich die Industrieländer nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft auf ein Ende des Wachstums einstellen müssten, war das mehrfach wiederkehrende Leitmotiv. … Jeder könne etwas tun, erklärte das Staatsoberhaupt: ,Immer mehr ziehen daraus persönliche Schlussfolgerungen und ändern ihre Lebensgewohnheiten‘“ (www.taz.de: „Köhler für Glück ohne Wachstum“, 24. 03. 2009). Die Änderung unserer Lebensgewohnheiten setzt jedoch Erkenntnis voraus, ein Erkennen von Verantwortung für einen richtigen oder falschen Weg. Horst Köhler, als ehemaliger Sparkassenpräsident ein Mann der Zahlen, ist es zu verdanken, dass er auf die individuelle Besinnung hinweist, die uns zu veränderten Handlungsweisen führt. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem bayerischen Innenminister Günther Beckstein, kurz bevor er Ministerpräsident wurde. Es sollte dazu dienen, die Vorwürfe der Vergangenheit zu bereinigen. Ich erklärte ihm mein Verständnis von politischem Handeln, dass Politik die Rahmenbedingungen abstecken müsse, damit Menschen den Weg zu sich und einem Gefühl von Zufriedenheit und Glück fänden. Er jedoch meinte, ich solle dies in einem Politikseminar oder in einem „Esoterikkurs“ einbringen, das hätte im politischen Leben nichts zu suchen. Politik müsse einen Staat funktionsfähig erhalten, Glück sei die Privatsache eines jeden Einzelnen. Auch da wurden wir uns nicht einig. Den Gedanken des Glücks in die Politik einzubringen, ist nichts Ungewöhnliches, denn auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung spricht von „pursuit of happiness“. Die Verbindung von Politik mit dem Gedanken des „Glücks“ könnte auch in der Bundesrepublik zu ganz anderen politischen Schlussfolgerungen führen. So sollte die in westlichen Demokratien verbreitete Wachstumsphilosophie auf den Prüfstand gestellt werden. „Glücksforscher“ kommen zu dem Schluss: „Eine starke Wirtschaft, eine gut funktionierende Regierung und eine lebendige Kultur stellen an sich noch kein Wohlbefinden her“ (John Hall: „Ein neuer Blick auf den Fortschritt“, in: Bormans, Leo: „Glück“, 2011, S. 250 ff.). Glück und Zufriedenheit entstehen nicht durch perfekte Organisationen, wenn nicht auch ein Inhalt, ein Wertesystem, eine Philosophie über den Lebenssinn dahinter steht. Viele Menschen jagen „falschen“ Zielen hinterher, Wünschen, die gar nicht ihren Vorstellungen von einem glücklichen Leben entsprechen. Dies greift auch die Gemeinwohlökonomie auf, die den Wachstumszwang der Wirtschaft kritisch betrachtet (Christian Felber: Die Gemeinwohlökonomie, Deuticke 2010). Allerdings wagt die Politik nicht, andere Wege

Götterdämmerung in Bayern?

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aufzuzeigen. Im Gegenteil: Politiker verbiegen sich, um Mehrheiten zu gewinnen und verlassen damit ihr eigenes Wertefundament. Der Stimmenverlust der CSU bei der Landtagswahl 2008 um 17 Prozent und der Verlust der absoluten Mehrheit, verbunden mit der geringsten Wahlbeteiligung in der Geschichte Bayerns, war und ist deutlicher Ausdruck der Unzufriedenheit der Bayern. Auch die Mitgliederentwicklung der CSU machte den Zerfall deutlich: 1990 war mit 186.200 Mitgliedern der höchste Mitgliederstand festzustellen. Seither nimmt die Zahl der Mitglieder ab. Ende 2007 lag sie bei etwa 166.400 (www.bpb.de). Bis heute hat die CSU die Ereignisse um Edmund Stoiber nicht verkraftet. Und dies u. a. auch deshalb, weil er selbst an der Demontage seines Nachfolgers Günther Beckstein beteiligt war. Stoiber hatte in einer Rede vor der Landtagswahl 2008 seinen Nachfolger heftig kritisiert. Als die CSU in der Wahl dann von 60,7 auf 43,4 Prozent abrutschte, machte er das neue Zweiergespann für das Wahldebakel persönlich verantwortlich, obwohl dieses erst knapp ein Jahr im Amt war. Das jedoch ließen Günther Beckstein und Erwin Huber nicht auf sich sitzen und machten Edmund Stoiber wiederum für das Wahlergebnis mitverantwortlich. Günther Beckstein sah dann ein, „es sei der größte Fehler seiner Amtszeit gewesen, dass er sich von seinem Vorgänger nicht genügend abgesetzt habe“ (Spiegel Online, „CSU-Wahlniederlage – Huber und Beckstein schieben Stoiber die Schuld zu“, 02. 10. 2008). Auch im Jahre 2012 herrscht noch Uneinigkeit in der CSU-Führungsriege, wer eigentlich den „Sturz“ oder „Rückzug“ von Edmund Stoiber zu verantworten hat. CSU-Parteivorsitzender Horst Seehofer griff Anfang Januar 2012 in einem Interview Günther Beckstein und Erwin Huber mit der Feststellung an, dass es nach dem „Sturz“ von Edmund Stoiber mit der CSU bergab gegangen sei. Er bezeichnete die Entmachtung Edmund Stoibers als „falsch“. Es sei eine Illusion, dass der Austausch von Personen Probleme löse. In der CSU habe es vor 2008 „zu wenig inhaltliche und personelle Erneuerung gegeben“ (Süddeutsche Zeitung: „Der Sturz Stoibers war ein Fehler“, 06. 01. 2012). Daraufhin meldete sich Erwin Huber zu Wort mit der Aussage, dass der Abgang Edmund Stoibers dessen eigener Entschluss gewesen sei, und er (Huber) sich nichts vorzuwerfen habe (Süddeutsche Zeitung: „Das Trauma von Kreuth“, 13. 01. 2012). Bis heute scheint die Verantwortung für den Rückzug Edmund Stoibers ungeklärt. Der Münchner Merkur (Merkur-Online.de: „Stoiber: Ich bin einer, der alles gegeben hat“ 28. 09. 2011) stellte Edmund Stoiber folgende Frage: „Der Putsch von Kreuth beendete 2007 Ihre politische Laufbahn. Haben Sie den Rebellen Beckstein und Huber vergeben?“ Darauf seine Antwort: „Natürlich haben die Vorgänge das Verhältnis ein Stück weit verändert. Das Schlimmste war ja nicht mein Sturz, sondern danach der Verlust von 17 Prozent Wählerstimmen …“. Der ehemalige Chef der Landtagspresse, Rudolf Erhard, beschreibt es so: „Das Beben der Wahlniederlage vom September 2008 hat die CSU stärker erschüttert, als sie wahrhaben will. Solange das nicht grundlegend aufgearbeitet wird und solange nur vordergründige Sündenböcke benannt werden, aber keine Ursachenanalyse stattfindet, wird es die CSU schwer haben.“ (Rudolf Erhard: „Edmund Stoiber – Auf-

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stieg und Fall“, Köln 2008, S. 222) Bis heute ringt die CSU um eine Erklärung ihres Machtverlustes, ohne gleichzeitig das Ansehen ihrer Parteispitze schädigen zu wollen. Eine ernsthafte und ehrliche Darstellung wäre für den fundierten Fortbestand der CSU der einzige Ausweg, den die Parteispitze jedoch nicht gehen will, denn die Wahrheit wäre zu bitter. Die Bayernhymne „Gott mit Dir Du Land der Bayern“ spricht von Eintracht und Frieden und damit von Werten, die auch im Christentum verankert sind. Als ich es im Landtag gewagt habe, von der für das politische Handeln wesentlichen „göttlichen Kraft“ zu sprechen, kamen selbst aus den Reihen der CSU abfällige Bemerkungen. Als ob Gott etwas Deplatziertes wäre. Viele Politiker nennen sich christlich, besuchen Gottesdienste und leben zumindest formal nach den Regeln der Kirche. Aber das sind Äußerlichkeiten, wenn der Glaube an die Kraft des göttlichen Geistes fehlt. Christentum beginnt im Herzen, da wo Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit als Leitgedanken für das Leben verankert sind.

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Gabriele Pauli Von Andrei Király Der Diskussionsleiter Prof. Dr. Albert Janssen, Landtagsdirektor i.R., eröffnete die Diskussion mit einem Dank an die Referentin für ihren außerordentlich authentischen Bericht. Peter Vonnahme, Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof i.R., führte an, er wolle nicht als Jurist, sondern lediglich aus seinem „bayerischen Herz“ sprechen: Pauli habe in Bayern einem übermächtigen Parteien- und Staatsapparat widerstanden. Sie sei innerhalb der Partei, die Bayern seit 50 Jahren regiert, „der einzige Mann“ in einer schwierigen Zeit gewesen, wofür sie viel Respekt gewonnen habe. Jochen Kirchner, parteiloser Bürgermeister in Kirchhain (Hessen), merkte an, dass ähnliche Verhältnisse, wie Pauli sie für Bayern geschildert hatte, auch anderswo anzutreffen seien. Er selbst habe nach seiner Wahl heftige Gegenwehr seitens der etablierten Parteien erlebt. Er habe sich dabei allerdings nicht als Widerstandkämpfer, sondern als Demokrat gesehen. Zu lernen sei daraus, dass die Demokratie hierzulande längst nicht so gefestigt sei, wie manche es glauben. Horst Trieflinger, Vorsitzender des Vereins gegen Rechtsmissbrauch e. V., fragte Pauli nach ihrer Position zu Nebentätigkeiten von Parlamentariern. Diese hätten seiner Ansicht nach derartig viele Nebenämter, dass sie es kaum mehr schaffen würden, sich mit den Problemen der Bevölkerung zu beschäftigen. Helmut Krause, Rechtsanwalt und Mitbegründer der Freien Union, unterstrich die Schwierigkeiten, mit denen sich die Begründung einer neuen Partei konfrontiert sieht. Er fragte darum, ob bei den nächsten Bundestagswahlen die Aufstellung von Direktkandidaten eine Lösung sei, um politisch etwas zu verändern. Sina Ditzel, Schülerin, fragte Pauli, ob sie ihr Anliegen vor dem Gang an die Medien nicht verstärkt innerparteilich hätte erörtern müssen. Der Diskussionsmoderator Janssen fragte die Referentin, welche konkrete Ratschläge sie für all diejenigen hätte, die den Gedanken tragen, sich zu engagieren. Ist es sinnvoll eine neue Partei zu gründen oder sollte man sich eher an die etablierten Kräfte halten? Pauli bedankte sich für die unterstützenden Bemerkungen. Hinsichtlich der Nebentätigkeit von Abgeordneten habe sie große Bedenken, denn es könne schnell eine ungesunde Verquickung mit der Wirtschaft entstehen. Dasselbe gelte im Übrigen

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auch für den schnellen Wechsel in die Privatwirtschaft, nachdem Politiker aus dem Amt ausgeschieden seien. Direktkandidaten für die Bundestagswahlen seien auf jeden Fall sinnvoll. Sollte sich der Betroffene über genügend Popularität erfreuen, könne er an die Parteien vorbeiziehen und direkt gewählt werden. Die Auseinandersetzung mit Kandidaten von Parteien sei allerdings durch hohe Hürden – nicht zuletzt finanzieller Natur – erschwert. Die Kritik an Edmund Stoiber hätte sie zunächst innerparteilich vorgetragen. Bereits als dieser das auf ihn zugeschnittene Amt des „Superministers“ (Finanz- und Wirtschaftsminister in einer Person) in Berlin kurzfristig abgelehnt hatte, habe sie sich dazu intern kritisch geäußert. Sie hätte mit ihren Fragen sogar Stoiber selbst konfrontiert. Die Reaktionen seien jedoch unbefriedigend gewesen. Währenddessen sei der Unmut nicht nur bei der Parteibasis, sondern auch in der Bevölkerung immer stärker zu spüren gewesen. Darum habe sie den Schritt an die Medien gewagt – ein Vorgehen, das in der Demokratie wichtig sei. Es sei falsch verstandene Solidarität, wenn alle ewig schweigen würden. Neue Parteien zu gründen, sei grundsätzlich gut. Dennoch würde sie jetzt anders vorgehen. Bei ihrer Parteigründung habe sie aus Idealismus und wegen der anstehenden Bundestagswahl zu schnell mit einem zu großen Personenkreis angefangen. Dass Menschen, die sie sich untereinander kaum kannten, zusammenarbeiten müssten, habe die Parteiorganisation überfordert. Auch das Geld habe gefehlt. Man sollte mit einem kleinen Kreis von Personen, denen man vertrauen kann, anfangen und langsam wachsen. Trotz aller Hürden habe eine kleine Partei durchaus Chancen, mit der Zeit an Bedeutung zu gewinnen. Hilfreich seien zudem einige populäre Persönlichkeiten, die das mediale Interesse auf die Parteien ziehen könnten. Ohne Partei zu arbeiten, sei enorm schwierig. Es fehle die nötige technische und personelle Infrastruktur. Sie hätte früher den Riesenapparat der CSU mit seinen ausgesprochen gut entwickelten Netzwerken erlebt und könne das nun mit ihrem jetzigen Status als Einzelabgeordnete im Bayerischen Landtag vergleichen: Die Diskrepanz sei enorm.

Widerstand durch direkte Demokratie – aus der Sicht eines Aktivisten* Von Sebastian Frankenberger Begonnen hat eigentlich alles 2007. Damals gab es noch keinen wirklichen Nichtraucherschutz in Deutschland. Es gab nur eine sehr schwammige Freiwilligenlösung, an der sich aber so gut wie kein Wirtshaus beteiligt hat. Ich empfand schon immer Zigarettenrauch als sehr unangenehm, vor allem beim Essen oder in Lokalen. Zum einen mochte ich es nicht, dass Haare und Kleidung am späten Abend oder nachts eklig nach diesem Rauch rochen. Zum anderen fand ich immer besonders unangenehm den Rauch einzuatmen. Auch nach meinen Kostümtheater-Stadtführungen gab es immer Probleme mit den Kostümen. Ich gehe nämlich mit meinen Gruppen zum Essen und anschließend war es immer sehr aufwändig, die Kostüme von diesem kalten Rauch, der sich in ihnen festgehängt hatte, zu befreien. Damals nahm ich mit Pro-Rauchfrei und der Nichtraucherschutzinitiative München Kontakt auf, ließ jedoch alles sehr schnell wieder einschlafen, da die bayerische Staatsregierung ankündigte, das strengste Nichtraucherschutzgesetz in Deutschland zu verabschieden. Wie kam es dazu? Es war die Zeit, als wir in Bayern einen neuen Ministerpräsidenten hatten. Edmund Stoiber war gerade zurückgetreten. Günter Beckstein und sein Fraktionschef im bayerischen Landtag, Georg Schmid, verabschiedeten das schärfste Nichtraucherschutzgesetz Deutschlands, das am 1. Januar 2008 in Kraft trat. Dieses Gesetz erlaubte eigentlich keine Ausnahmeregelung. Es klappte am Anfang auch wunderbar. Doch findige Szene-Gastronomiebesitzer entdeckten ein Schlupfloch, das der sogenannten geschlossenen Gesellschaft. So richteten sie Raucherclubs ein, in denen man mit einem geringen Jahresbeitrag von einem Euro, Mitglied werden konnte. So wurden Kneipen, Bars und Diskotheken regelrecht „zugeraucht“. Bei mir in Passau gab es kein einziges Nichtraucherlokal mehr, um abends „rauchfrei“ weggehen zu können. Nach und nach hielt man auch in der Speisegastronomie den Nichtraucherschutz nicht mehr ein. Niemand kontrollierte und die Staatsregierung machte mehr und mehr Zugeständnisse. So war das Rauchen in Festzelten erlaubt, da man befürchtete, dass es beim Oktoberfest auf der Wies’n zu Krawallen kommen könnte. Als die CSU die Landtagswahl im September 2008 verlor und zum ersten Mal nach vierzig Jahren eine Koalition eingehen musste, war der Nichtraucherschutz die willkommene Ausrede, weshalb man die Wahl verloren hatte. Dass es mit Arroganz, den vielen Amigo-Affären und der schlechten Politik * Auszug aus der Autobiographie des Autors „Volk, entscheide! – Visionen eines christlichen Politrebells“ erschienen im Kösel-Verlag, München 2011 (ISBN 978 – 3466370252).

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zu tun haben könnte, war damit gut zu vertuschen. Und praktisch war es auch noch: Man hatte mit der FDP einen Koalitionspartner, dem man Zugeständnisse gerade bei der „Freiheit“ machen musste – wie zum Beispiel beim Nichtraucherschutz. Es dauerte jedoch noch ein halbes Jahr, bis die Pläne konkret wurden. Das war der Zeitpunkt, an dem ich wieder aktiv wurde. Ich konnte dieses Zugeständnis nicht verstehen. Der Nichtraucherschutz hatte am Anfang doch wunderbar funktioniert. Ich ärgetre mich über Politiker, die ihre Meinung änderten wie das Fähnchen im Wind, rein zu ihrem persönlichen und parteipolitischen Vorteil. Die Rückruderversuche von Horst Seehofer und Fraktionschef Georg Schmid, die vom Paulus zum Saulus wurden, was die Gesundheit der Bevölkerung betrifft, waren phänomenal. Und so wurde es wirklich Zeit, dass das Volk entschied. Als erstes fühlte ich in der ÖDP vor. Ich war zu dem Zeitpunkt stellvertretender Geschäftsführer in Bayern geworden und als hauptamtlicher Beisitzer im Landesvorstand ausgeschieden. Ich schlug vor, zu diesem Thema ein Volksbegehren zu machen. Man zögerte, da Volksbegehren einen enormen Aufwand bedeuten, verbunden mit vielen Kosten. Außerdem waren die letzten zwei Volksbegehren – zur Gesundheitsvorsorge beim Mobilfunk und zum Verbot des Klonens von Menschen – an der Zehn-Prozent-Hürde gescheitert. Das hatte gerade die Aktiven vor Ort viel Energie gekostet. Wir hielten daher eine Strategie-Tagung mit den aktiven Kreisverbänden über die Frage ab, ob es in Zukunft überhaupt noch Volksbegehren geben sollte, wenn die finanziellen Voraussetzungen nicht gesichert wären. Die Aktiven vor Ort forderten mindestens 500.000 Euro für den Wahlkampf, nur dann dürften in Zukunft Volksbegehren gestartet werden. Dieser Antrag wurde am Parteitag Anfang April 2009 diskutiert, doch die Delegierten entschieden anders und argumentierten wie folgt: Volksbegehren sind ein Mittel, das die ÖDP schon seit vielen Jahren einsetzt, und sollten auch weiterhin gestartet werden können, selbst wenn die Finanzierung nicht gesichert und viel Energie nötig ist. Das ist unser Auftrag: einerseits die politische Willensbildung, nämlich einen Denkprozess anzustoßen, auch wenn wir ein Volksbegehren nicht gewinnen, andererseits aber auch, sozusagen als außerparlamentarische Opposition, Politik zu betreiben, da wir nicht im Parlament vertreten sind. Zwei Wochen später tagte der neu gewählte Landesvorstand. In diesen zwei Wochen hatte ich bei einer Fahrt durch das Donautal die Idee, ob wir es nicht doch noch einmal mit einem Volksbegehren zum Nichtraucherschutz versuchen sollten – mit dem Beschluss des Parteitages im Rücken. Und so schlug ich in dieser konstituierenden Sitzung vor, ein Volksbegehren zum Nichtraucherschutz zu starten. Die Stimmung war zweigeteilt, aber die Bedenkenträger waren doch in der Minderheit. Ich versprach, dass ich die Organisation übernehmen würde, und meinte, dass wir so schnell wie möglich starten sollten. Der Beschluss stand und wir wollten loslegen. Der Landesvorstand vergewisserte sich in Telefonaten mit den bayerischen Kreisvorsitzenden, ob auch sie hinter der Aktion stünden, während ich in diesen drei Tagen bereits erste Bündnispartner zu ge-

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winnen versuchte. Pro Rauchfrei und die Nichtraucherschutz-Initiative München waren sehr schnell mit an Bord. Ein Freund der Nichtraucherschutz-Initiative, Professor Dr. Wiebel, sagte zu, dass er mit dem Arbeitskreis Rauchen und Gesundheit als Unterstützer vonseiten der Ärzteschaft ebenfalls mit dabei sei würde. Als taktisches Manöver übernahmen wir 1:1 den Gesetzesentwurf der CSU, strichen nur den Satz, der zur Lücke für die Raucherclubs geführt hatte, nämlich „Gaststätten, soweit diese öffentlich zugänglich sind“. Mit diesem Gesetzesentwurf in der Tasche druckten wir sofort die Unterschriftenlisten, ohne sie – wie beim Volksbegehren zuvor – zuerst vom Innenministerium überprüfen zu lassen. Wir wollten nämlich ohne Vorwarnung eine Pressekonferenz geben, um mit einen fulminanten Start zu beginnen. Dies gelang. Die Pressekonferenz fand am 28. April statt und wir wurden von den Journalisten förmlich überrollt. Innerhalb dieser zehn Tage organisierte ich also zusammen mit der bayerischen Geschäftsstelle der ÖDP die Unterschriftenliste, eine Website, Plakate und den Rückhalt in der Partei. Es war wahrlich nicht viel Vorbereitungszeit, doch die ersten Presseberichte schlugen ziemlich ein. Wir spürten, wir hatten einen Nerv in der Bevölkerung getroffen. Die Anfragen in der Geschäftsstelle und bei unseren Kreisverbänden waren so enorm wie noch nie in unserer Parteigeschichte trotz der vielen, vielen politischen Aktionen. Wir schickten unseren Gesetzesentwurf mit der Unterschriftenliste sicherheitshalber doch zur Überprüfung an das Innenministerium. Das Innenministerium wandte ein, dass die Liste um einige Millimeter von der Norm abweiche, und empfahl zur Sicherheit neue Listen zu drucken. Das taten wir. Innerhalb von zwei Tagen wurden die alten eingestampft, neue Listen produziert und erneut verschickt. Wir waren zu diesem Zeitpunkt bereits in einer sehr hektische Phase: Die 25.000 Unterschriften, die zur Zulassung eines Volksbegehrens benötigt werden, sammelten wir nicht, wie üblich, über mehrere Monate, sondern in zwei Wochen. Wir wurden an den Infoständen förmlich überrannt. Teilweise unterschrieben pro Stunde 200 bis 300 Leute. Dieser enorme Zuspruch gab wirklich allen einen ungeheuren Motivationsschub. Nach vier Wochen hatten wir gut 50.000 Unterschriften beisammen. Jetzt begann das Sortieren, denn die Unterschriften auf einer Liste dürfen jeweils nur aus einer Gemeinde stammen. Schließlich hatten wir über 10.000 Listen, die – nach Gemeinden sortiert – an die betreffenden Kreisverbände und Gemeinden geschickt wurden, auf dass jede einzelne Unterschrift von der dortigen Behörde beglaubigt würde. Die Listen mussten dann zu uns zurückgeschickt und wieder sortiert werden. Nun mussten noch die Adressen derer abgetippt werden, die auf den Listen ein Häkchen gesetzt hatten, um weitere Informationen zu erhalten. Eingereicht haben wir die Unterschriften, zwei Tage nachdem der Landtag im Juli letztendlich beschlossen hatte, dass es ein neues Nichtraucherschutzgesetz geben solle. Dieses Gesetz, das am 1. August 2009 in Kraft trat, enthielt die Regelung, dass das Rauchen in Nebenräumen generell gestattet wird, wobei nicht definiert war, was ein Nebenraum ist. Bei der „getränkegeprägten“ Gastronomie unter 75 m2 durfte generell wieder geraucht werden. Man kann sich vorstellen, dass bei

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derart schwammigen Regelungen nichts eingehalten und dass der Nichtraucher nicht mehr geschützt werden würde. Im August und September des Jahres 2009 nutzte ich die Zeit, weitere Bündnispartner zu gewinnen. Die SPD und die Grünen waren relativ schnell mit an Bord und wir konnten langsam das Aktionsbündnis zu einem großen Team erweitern, aus Ärzten, Apothekern, Naturschutzverbänden wie dem Bund Naturschutz, dem Naturfreundehaus und dem Alpenverein. Auch aus Sportverbänden, das heißt zuerst aus dem Bayerischen Leichtathletikverband und später auch vom Bayerischen Sportverband erhielten wir Unterstützung. Nichtsdestotrotz war die Zehn-Prozent-Hürde ein Problem: Bei der zweiten Stufe, dem sogenannten Volksbegehren, müssen innerhalb von 14 Tagen auf dem örtlichen Rathaus 10 Prozent der bayerischen Wahlberechtigten, ungefähr 940.000 Personen, unterschreiben. Diese Hürde ist so hoch, dass sogar populäre Volksbegehren, wie die Rücknahme des achtstufigen Gymnasiums G8 oder das Waldvolksbegehren des Bund Naturschutz’ gescheitert sind. Auch die ÖDP ist – wie schon erwähnt – mit zwei Volksbegehren gescheitert. Das letzte Volksbegehren, das diese Hürde erfolgreich genommen hatte, war das zur Abschaffung des Senats – im Jahr 1998 ebenfalls von der ÖDP durchgeführt. Diese Phase musste also gut vorbereitet werden, wobei es trotz langfristiger Planung letztendlich doch sehr knapp wurde. Ich würde nicht sagen: Viele Köche verderben den Brei. Aber viele Köche, die auch die wichtigen Geldgeber in dieser Phase waren, also die Initiativen und die Parteien, verzögern zum Beispiel wenn es um die Gestaltung der Plakate und Flugblätter geht, doch etwas den engen Zeitplan. Und so waren wir mit dem Druck von Werbemitteln viel zu spät dran. Sie hätten drei Wochen früher verschickt werden sollen, als sie gerade erst in Druck gingen. Die 14-tägige Eintragungszeit, die vom Innenministerium nach Prüfung der Zulassung unserer Unterschriften vom 19. November bis zum 2. Dezember angesetzt wurde, war eine meiner anstrengendsten Phasen im Leben. Die Wochen davor waren schon von höchster Anspannung und Dauerstress geprägt, aber diese 14 Tage toppten alles. Wir starteten mit einem fulminanten ersten Eintragungstag, an dem ich mittags schnell nach München zu einem Interviewtermin für das Rundschau-Magazin des Bayerischen Fernsehens fahren musste, nachmittags aber eine Liveschaltung für das Magazin Wir in Bayern hatte, die im Alten Bräuhaus in Passau stattfand, und direkt im Anschluss daran wieder nach München zur Abendschau um 21 Uhr fuhr. Es war mein erster Liveauftritt vor richtig großem Publikum, ich war nervös. An diesem Tag wurde ich erst zum Gesicht für das Volksbegehren. Ursprünglich hatten wir in der ÖDP geplant, Klaus Mrasek als „Gesicht“ aufzubauen, da er der neue Landesvorsitzende von Bayern als Nachfolger von Bernhard Suttner werden sollte. Nachdem er aber relativ stark eingespannt war, wenig Zeit hatte und ich die Organisation des Volksbegehrens übernommen hatte, nahm ich also diese Termine wahr. Aber das war nicht der einzige Stress an diesem Tag. Wir hatten überhaupt nicht mit derart zahlreichen Zugriffen auf unsere Website gerechnet. Um den Leuten die

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Eintragung auf den Rathäusern zu vereinfachen, hatten wir alle bayerischen Gemeinden gebeten, uns ihre unterschiedlichen Öffnungszeiten mitzuteilen. Wir hatten sie nicht nur auf der Website veröffentlich, sondern auch auf Werbematerial. Leider hatten nur 300 Gemeinden von insgesamt 2000 mitgemacht. Ferner hatten wir unsere Website dafür zur Verfügung gestellt, dass die für Gemeinden die Gesamtzahl ihrer Wahlberechtigten und den Stand der Unterschriften veröffentlichen konnten. Auf diese Weise konnten wir eine Hochrechnung für ganz Bayern anbieten, die wir täglich um 11.30 Uhr veröffentlichen wollten. Die Zugriffszahlen auf die Internetseite lagen im Vorfeld bei circa 200 bis 400 Personen pro Tag, sodass wir während des Volksbegehrens mit vielleicht 3.000 bis 5.000 Zugriffen rechneten. Aber allein am ersten Tag – ohne Hochrechnung! – hatten wir bereits über 10.000 Zugriffe. Unser Server war darfür nicht ausgelegt und brach bereits am Nachmittag zusammen, als die ersten Gemeinden ihre Daten per Formular rückmeldeten. Wir rechneten auch nicht damit, dass sich von den 2.000 bayerischen Gemeinden 1.400 an der Rückmeldung beteiligten. Und so programmierten wir – ich war selbst für einen Teil der Website verantwortlich – in der Nacht noch diverse Neuerungen, um den Ansturm in den kommenden Tagen bewältigen zu können. Aber schon am nächsten Morgen, am zweiten Eintragungstag, überraschte uns die Zugriffszahl erneut: sie lag weit über 20.000, bei fast 30.000 in der Stunde, als wir die erste Hochrechnung veröffentlichten. Diese erste Hochrechnung war tatsächlich ermutigend. Knapp ein Prozent der Bevölkerung hatte sich in die Unterschriftenlisten bayernweit eingetragen. Damit lagen wir weit über unserer Erwartung: Wir hatten gehofft, zwischen 0,5 und 0,7 Prozent erreichen zu können, das waren die Erfahrungswerte basierend auf dem „Senatsvolksbegehren“. Damals gab es jedoch noch die Rückmeldung per Fax und Telefon und es waren längst nicht 1.400 Gemeinden beteiligt.Und tatsächlich: Es ging fast jeden Tag so weiter. Steigende Zugriffszahlen! Und immer, wenn wir wieder ein Kapazitätsproblem bewältigt hatten, kam ein neues auf uns zu. Am laufenden Band gingen Interviewanfragen ein, sodass ich täglich nach München gependelt bin. In der Nacht hatte ich teilweise noch versucht, Plakate und Material auszufahren, da wir durch die Anfragen total überlastet waren. Wir hatten in der Geschäftsstelle mit 15 Studenten in einem Zwei-Schichten-Betrieb fast täglich 300 bis 500 Bestellungen abgearbeitet und trotzdem nicht alles rechtzeitig geschafft. Im Vorfeld hatten wir uns eine Strategie, eine Dramaturgie ausgedacht: Wie schaffen wir ein Volksbegehren? Das Wichtigste ist, dass in der Woche nach dem Start Artikel in der Presse erscheinen, konstant. Die Presse sollte nicht nur über den Start und das Ende berichten, sondern laufend. Dies ist uns sehr gut gelungen, vor allem durch die Hochrechnung, sodass wir Vergleiche zwischen den Regionen und zwischen den Städten, zum Teil mit Wetten von Aktionskreisen – wer wird am Schluss der Bessere sein? – ziehen und so auch in der Durchhängephase eine Dramaturgie erzeugen konnten. Aber viel wichtiger als das Internet waren in dieser Phase die vielen, vielen Ehrenamtlichen, die Rathauslotsen, die Flugblätter und Plakate verteilt, die einen enormen Aufwand betrieben und auch sehr viel privates Geld investiert haben. Ohne die-

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sen knallharten Straßenwahlkampf hätten wir sicherlich das Ziel nicht erreicht. Dazu kam, dass wir bei Facebook bereits 15.000 Fans hatten, die laufend mit neuen Ideen daherkamen und sich gegenseitig puschten. Ich erinnere mich gut, wie in den letzten Tagen, als die Hochrechnungen wahnsinnig knapp wurden, und ehrenamtlicher Mitarbeiter im Halbstundentakt die aktuellsten Zwischenstände vom Rathaus in München bei Facebook veröffentlichte. Wir hatten das Gefühl: Wir sind eine große Gemeinschaft, hier äußert sich wirklich ein Begehren des Volkes, das nicht von irgendwelchen Politikern initiiert ist, sondern es entstammt dem das Engagement von vielen Ehrenamtlichen, denen es wirklich um die Sache geht. Gemeinden, die uns ihre Öffnungszeiten nicht mitgeteilt hatten, wurden auf einmal von nichtorganisierten Bürgern angesprochen, warum sie solche Hürden aufbauten. Auch Gemeinden, die keine Hochrechnungen veröffentlichten, bekamen massiven Druck oder die Leute vor Ort meldeten uns die Zahlen selbst. So hatten wir letztendlich nicht nur 10 Prozent der Wahlberechtigten in die Rathäuser bekommen, sondern – wir waren selbst überrascht – tatsächlich 13,9 Prozent! Damit waren es 1,3 Millionen Menschen, so viele wie sich noch nie zuvor bei einem Volksbegehren beteiligt hatten. Wohltuend für mich persönlich: Es war überhaupt keine Politikverdrossenheit zu spüren. Die Leute waren interessiert und begeistert dabei und vor allem über alle Parteigrenzen hinweg. Bei Facebook war zum Beispiel folgenden Kommentar zu lesen: „Das war jetzt am Schluss spannender, ob wir es schaffen oder nicht, als ein WM-Sieg. Am liebsten würde ich jetzt über die Leopoldstraße in München laufen und einfach nur triumphieren, jubilieren.“ Zu diesem Zeitpunkt ist mir klar geworden, dass wir mehr geschaffen haben als nur das Nichtraucherschutzgesetz zur Abstimmung zu bringen. Es war auch die Erfahrung, dass sich Menschen wieder an Politik beteiligen, dass das Volk eine Möglichkeit hat mitzusprechen, und dass alle motiviert waren, sich auf einen Volksentscheid einzulassen. Dennoch war meine Motivation erst einmal völlig aufgebraucht. Ich habe ja schon beschrieben, in welches Loch ich gefallen bin und wie langwierig und schwierig es war, daraus herauszukommen. Aus den großen Skeptikern der Anfangsmonate wurden auf einmal Besserwisser. Es war nicht immer einfach, mit diesem Team das nächste Ziel, den Volksentscheid, anzugehen. Vor allem auch, da wir finanziell ausgeblutet waren. Wir hatten alles gegeben, um die Zehn-Prozent-Hürde zu knacken, und hatten keine Reserven für den Volksentscheid angesammelt. Ich bin bei meinem Spaziergang in Berlin mittlerweile am Reichstag angekommen, der immer noch umzäunt ist und den man wegen der Terrorgefahr nicht direkt betreten darf. Zwei Polizisten mit Maschinengewehren, die Patrouille gehen, wärmen sich gerade an einem Becher Kaffee. Ich weiß noch, wie es im März des vergangenen Jahres 2010 war, als ich zur re:campaign nach Berlin gekommen war. Ich wollte mich bei diesem Kampagnentreffen mit anderen austauschen, wie wir es anpacken können, um den Volksentscheid mit einem sehr kleinen Budget doch zum Erfolg zu führen. Ich nutzte damals eine entspannte Minute, um die Kuppel

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des Reichstages zu besichtigen. Ich erinnere mich, wie ich an den Erklärungstafeln vorbei immer weiter hinauf geschlendert bin und die Geschichte gelesen habe, wie sich in Deutschland das Volk noch im 19. Jahrhundert für ein eigenständiges Parlament stark gemacht hat, für einen parlamentarischen Weg, wie die Massen gefeiert und gejubelt haben, endlich Politik betreiben zu können. Wie bei den Montagsdemonstrationen durch den lebensgefährlichen Einsatz der DDR-Bürger Geschichte geschrieben wurde. Und wie die Massen ebenfalls da waren, als die Mauer fiel. Es war immer der Wille des Volkes, der etwas bewegt hat. Ich weiß noch, wie mir damals der Gedanke kam: Warum lassen wir nicht viel häufiger das Volk sprechen? Warum mache ich mir jetzt Gedanken, wie ich eine Kampagne entwickeln könnte? Wir könnten sie doch mit dem Volk gemeinsam entwickeln. Und tatsächlich ist es so geschehen. Wir sind mit einer Internetseite gestartet, deren Layout und technische Voraussetzungen tatsächlich sehr bescheiden waren. Im Laufe der Zeit haben wir zusammen mit der Facebook-Gruppe eine richtige interaktive Kampagnenwebsite entwickelt. Ein enormer Zeitaufwand. Allein, die Diskussionen in dieser Gruppe zu moderieren! Aber wichtig war es, alle Leute einzubinden. Auch den Plakat-Slogan und viele Ideen für Werbemittelkampagnen entwickelten die Gruppe und keine teure Werbeagentur. Dieses Gemeinsam-etwas-Entwickeln ist nicht zu unterschätzen, es braucht viel Zeit und Geduld, dies zu moderieren. Die schon erwähnte Sofie Langmeier hat sich damals unendlich für diese Gruppe eingesetzt, die am Schluss auf insgesamt 30.000 Fans angewachsen war. Wir haben immer versucht, sachlich, fair, neutral zu argumentieren und haben weder Angriffe von Rauchern noch von Nichtrauchern geduldet. Neben den Unterstützern in Facebook gab es ein Team um einen amerikanischen Studenten, der ein App entwickelte. Damit konnten die ehrenamtlichen Helfer vor Ort rückmelden, wo sie gerade Flugblätter und Plakate verteilten. Da wir einfach kein Geld mehr hatten, versuchten wir auch mit witzigen spontanen Aktionen, wie Miniflashmobs, auf unsere Nichtraucherschutz-Kampagne aufmerksam zu machen. Im Gegensatz zur Zeit des Volkbegehrens hatten wir jetzt Gegner, die sich für den Erhalt des lockeren Gesetzes engagierten, die Gruppe Bayern sagt Nein! und das Bündnis für Fairness und Toleranz. Beim Volksbegehren konnten wir uns auf unsere eigene Kampagne konzentrieren, aber jetzt gab es diese beiden Gegenbündnisse, initiiert von Gastwirten, aber auch eine von der Tabaklobby finanzierte Kampagne, die mit offiziell 615.000 Euro im Vergleich zu unseren geplanten 125.000 Euro über einen wirklich üppigen Werbeetat verfügten. In unserem Organisationsteam haben wir uns teilweise leider darüber gestritten, wer nun die bessere Werbeidee oder die besseren Statistiken herausgegeben hatte, sodass die Telefonkonferenzen für mich eher eine Qual als eine Bereicherung waren. Deshalb bin ich Theresa Schopper von den Grünen sehr dankbar, dass sie mich immer wieder motiviert, mir Rückendeckung gegeben hat und mir mit politischem Weitblick zur Seite gestanden hat. Eine wirklich tolle Frau, die, wie ich vermute, bei den Grünen auch nicht immer einen leichten Stand hat. Aber wie heißt es so schön: Der Prophet gilt nichts im eigenen Land. Aber sie wäre wirklich eine grandiose, ausgleichende Landesmutter und

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wird hoffentlich irgendwann einmal Ministerpräsidentin von Bayern. Nur keine Angst, ich werde nicht zu den Grünen gehen! Aber wenn die ÖDP bei den ökologischen und anderen Grundsatzfragen im Parteiprogramm weiterhin den Grünen sehr nahe ist, würde ich gern mit ihnen eine Koalition eingehen. Vorausgesetzt, wir als ÖDP schaffen endlich einmal den Sprung in den Landtag! Spannend war in der Vorphase des Volksentscheids, dass ich versucht habe, wirklich jeden TV Sender, und war er noch so klein und regional, ein Lokalradio oder eine Zeitung vor Ort zu besuchen und überall in Bayern einen Vortrag zu halten. Diese sehr aufwändige Tour, die ich mir mit Theresa Schopper aufgeteilt habe, war für mich nicht nur bereichernd, weil ich für das Volksbegehren aktiv war, sondern auch weil ich Bayern kennenlernen durfte. Wie schön Bayern ist, dieses herrliche Fleckchen Erde! Ob es die Oberpfalz ist, die ich bisher viel zu wenig kannte, die Kirchen und Klöster, die Täler, die einsamen, wie verwunschenen Landstriche oder die liebliche Gegend in Unterfranken – ich kann nur jedem sagen: Wir brauchen definitiv nicht in die Ferne zu schweifen bei unseren Urlaubsreisen, manchmal liegt das Schönste direkt vor unserer Haustür, wo es viel zu entdecken gibt. Spannend waren auch die vielen Interviewtermine mit dem Gegner Bayern sagt Nein! Wir haben uns im Vorfeld mit allen anderen Gruppierungen getroffen und vereinbart, dass wir einen fairen Wahlkampf miteinander führen, dass keiner den anderen angreift oder mit unfairen Zahlen agiert. Leider ist es doch teilweise etwas härter als geplant geworden, aber ich habe immer versucht, sympathisch, nicht als militanter Nichtraucher aufzutreten, der ich schließlich nicht bin. Denn mit dem Rauchen im Freien habe ich kein Problem, solange mir nicht jemand den Rauch ins Gesicht bläst. Es ging immer um die geschlossenen Räume, ohne Ausweichmöglichkeiten, wo das Passivrauchen nachweislich gesundheitsschädlich ist. Bei den Interviewterminen war Franz Bergmüller vom Bündnis Bayern sagt Nein! sehr schnell sehr empört, als ich erwähnte, dass es auch um schwangere Bedienungen geht und um Kinder in Volksfestzelten. Als ich das Wort „Tabaklobby“ ausgesprochen habe, ist er explodiert. Ich freute mich daher meist auf die Interviewtermine; es war immer wieder eine Herausforderung, ruhig zu bleiben und sachlich dagegen zu argumentieren. Doch niemand von uns wusste natürlich, wie der 4. Juli ausgehen würde. Hochrechnungen gab es nämlich keine. Es war mitten während der Fußball-WM und wir hatten ein bisschen Angst, dass die Partystimmung, die gezielte Werbung von Bayern sagt Nein! bei Partygängern und eher jungem Publikum vielleicht doch Erfolg haben könnte. So waren wir alle gespannt auf den Wahlausgang, dem wir in München gemeinsam entgegenfieberten. Dass die ersten Hochrechnungen bei 60 Prozent lagen, hatten wir nicht erwartet, und es ging konstant so weiter. Nirgends in Bayern gab es einen Wert unter 50 Prozent. Letztendlich haben wir bei einer Wahlbeteiligung von zwar nur 37,7 Prozent, aber mit einer deutlichen Mehrheit von 61 Prozent den Volksentscheid für uns entschieden und am 1. August 2010 trat unser konsequentes Gesetz für Nichtraucherschutz in Kraft.

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Auf einmal war ich ein gefragter Mann. Und ich hatte gehofft, dass es nach dem Volksentscheid ruhiger würde! Ich wollte mich erholen und zurückziehen und vor allem meiner Tätigkeit als Fremdenführer wieder nachgehen. Aber ich wurde eines anderen belehrt. Fast täglich musste ich zu drei, vier Interviewterminen. Das zog sich bis September, ja weit in den Oktober hinein. Womit ich aber überhaupt nicht gerechnet hatte, waren die vielen, vielen Anfeindungen. Es gab nach dem Volksbegehren schon Beschimpfung, Vergleiche mit dem Nationalsozialismus oder die eine andere Morddrohung. Aber was ich nach dem 1. August erlebte, als unser Gesetz in Kraft trat, toppte alles bisher Dagewesene. Mittlerweile sind es mehrere tausend Beschimpfungen per E-Mail, Schmähungen in Facebook, vor allem viele postalische Briefe, in denen ich aufs Übelste beschimpft wurde. Ich kann damit ganz gut umgehen, wenn ich selbst einen Filter einsetze und versuche zu verstehen, warum Leute ihren Frust so an mir auslassen müssen. Ich nehme also Kritik sehr wohl ernst und setze Lehren darau auch um, aber ich glaube nicht, dass wir bei der Organisation des Volksbegehrens etwas hätten anders machen können. Wir haben nicht provoziert und haben auch keinen Keil zwischen Raucher und Nichtraucher getrieben, sondern immer betont: Es geht um Gesundheitsschutz. Und ganz wichtig: Es ist ein demokratisches Instrument, Bürgerinnen und Bürger entscheiden zu lassen. Aber merkwürdigerweise wird mir genau das vorgeworfen. Ich sei einer der übelsten Politiker, ein Diktator, der den Menschen den Nichtraucherschutz aufgezwungen habe. Ich wurde ganz oft mit Hitler verglichen, bekam auch entsprechende Bilder und Briefe. In einem wurde das KZ Ausschwitz gezeigt mit dem Schriftzug „Rauchen macht frei“ über dem Eingangstor. Auf einem anderen Bild befanden sich Judensterne, die zu Rauchersternen umgewidmet waren. So etwas leite ich sofort an meinen Rechtsanwalt und die Staatsanwaltschaft weiter, denn das ist unter jeglichem Niveau. Von den Stalking-Anrufen und Stalking-Bestellungen war schon die Rede. Man bestellte auf meinen Namen Sexprodukte, einen Treppenlift, sämtliche Tageszeitungen aus dem deutschsprachigen Raum, Alkoholika und anderes – das hat, wie bereits erwähnt, Spuren hinterlassen. Hätte ich gewusst, dass die Belästigungen solche Ausmaße annehmen, wäre ich sicherlich nicht am 1. August nach Waldkirchen im Bayerischen Wald zum Volksfest gefahren, um mit einem befreundeten Journalisten anzuschauen, wie denn der Nichtraucherschutz am ersten Tag auch in einem Festzelt funktioniert. Funktioniert hat er hervorragend. Es wurde im Zelt nicht geraucht, die Raucher hielten sich vor dem Zelt auf. Was nicht funktionierte, war, wie man mit mir umging. Ich betrat dieses Zelt ohne zu provozieren und setzte mich hin, um mit dem Reporter ein kurzes Interview zu führen. Der Wirt wollte mich nicht bedienen und verwies mich des Zeltes, Bedienungen kamen sehr aufgebracht mit Besenstielen auf mich zu. Als man mich sozusagen vor die Tür gesetzt hatte, war die Stimmung so gefährlich, dass ich sofort mit meinem Auto wegfuhr, weil mir sonst sicher noch etwas geschehen wäre. Ich konnte es nicht glauben! Es war eine Volksabstimmung, ein Riesenbündnis u. a. aus Ärzten, Parteien, Sportverbänden, es war nicht ich, der den Leuten etwas „aufgezwungen“ hat. Aber alle Ablehnung fokussier-

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te sich auf meine Person. Ich habe eine Woche später mit einem Journalisten vom Spiegel, der nicht glauben konnte, dass die Reaktion wirklich so heftig war, ein Volksfest bei Deggendorf besucht. Als ich nur über den Festplatz ging, wurde ich tätlich angegriffen, sodass der Sicherheitsdienst eingreifen musste. Was war es, das die Menschen so provoziert hat? War es das Kamerateam, das mich begleitete? Aber auch, wenn weder Journalisten noch Kameraleute dabei waren, reizte mein Erscheinen. Ich denke an den Besuch der Passauer Herbstdult als Stadtrat, als ich Polizeischutz benötigte, über den Seiteneingang hineingeführt wurde und ständig zwei Bewacher hatte, die aufpassten, dass keiner mich zusammenschlug. Dort konnte ich nicht vom Tisch aufstehen, ohne dass alle im Zelt zu pfeifen anfingen. Es war nur ein Pflichttermin zum feierlichen Bieranstich, aber mir wurde klar, dass das Thema „Nichtraucherschutz“ mehr Emotionen hervorrief, als ich jemals gedacht hatte. Aber auch dies wäre noch zu verkraften gewesen, wenn mich nicht auch noch Parteikollegen angegriffen hätten: Wie ich ein Volksfest besuchen könne, ich solle mich doch zurückziehen und ruhig verhalten und nicht noch weiter provozieren. Aber wissen sie, wie man sich fühlt, wenn man sich gemäß dem urdemokratischen Recht frei bewegen will und das auf einmal nicht mehr kann? Natürlich machte mich das Medienecho auf die Beschimpfungen und Bedrohungen hin immer bekannter und nicht zuletzt war das mit ausschlaggebend, dass ich in meiner Partei nicht nur wegen der organisatorischen Fähigkeiten, die ich beim Volksbegehren gezeigt hatte, sondern auch wegen meines Bekanntheitsgrades zum Bundesvorsitzenden gewählt wurde. Aber ich erwähne bei den Vorträgen auch jedes Mal gerade zum Schluss, dass trotzdem Demokratie erlernt werden muss, dieser Prozess, das Volk solle entscheiden. Wenn wir einmal vergleichen: Wann wurde in Deutschland das Frauenwahlrecht eingeführt? Im Jahr 1919. Wann wurde es in der Schweiz auch bei Volksabstimmungen eingeführt? In den 70er Jahren, teilweise 80er Jahren in den letzten Kantonen, wo die Frauen dieses Recht einklagen mussten. Da merkt man ganz deutlich, Demokratie ist ein Prozess, der sich entwickelt hat, wo wir jetzt die ersten und weitere Schritte gehen müssen, um den Menschen mit seiner positiven, auch politischen Macht und seiner Verantwortung miteinzubinden, ihn daran zu erinnern: „Du kannst ganz konkret etwas bewirken, du musst aber dann auch die Tragweite für dein komplettes Handeln abschätzen.“ Das Tolerieren einer anderen Meinung, dem anderen überhaupt zuzuhören, welche Meinung er hat, das wäre in diesem Fall ein wichtiger Baustein hin zu einer sozialeren, gemeinschaftlicheren Welt. Damit wir überhaupt in diesen Prozess gehen können, nämlich uns kritisch und tolerant auseinandersetzen, dazu braucht es eben ein Bildungssystem, das uns zu solchen Menschen erzieht. Zu Menschen, die reflektieren können, sich selbst kennen, ohne Scheuklappen auf den anderen zugehen und die Kritikfähigkeit gelernt haben. Und kein Vortrag endet, ohne die Aufforderung, werden sie aktiv. Sie haben es selbst in der Hand. Gehen sie nach Hause und informieren sie weitere Freunde und Bekannte und schreiben sie vor allem den

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Politkern der C-Parteien. Denn diese verhindern als letzte die Einführung des bundesweiten Volksentscheides. Und wir können gerade im Zeit des Internets alle auf einfachem Wege Fragen stellen. Aber es geht auch darum, dass wir bei uns anfangen müssen, wenn wir etwas verändern wollen. Wir haben die Verantwortung für unser Engagement vor Ort, aber auch überregional und sogar für die ganze Menschheit. Wir können alle selber zu Ökostromanbietern wechseln und den Atomausstieg beschleunigen. Wir müssen uns entscheinden, was wir wollen. Volk, entscheide! Das sind zwei Botschaften. Entscheide mit in der Politik, aber entscheide Dich auch in deinem Umfeld! So komme ich immer wieder auch auf meine Philosophie zu sprechen, dass wir Menschen, die Verantwortung und auch die Möglichkeit haben, aus uns und der Gesellschaft etwas zu machen.

Widerstand mit Wort und Feder: gegen politische Korrektheit Von Thilo Sarrazin Die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland sind, so sollte man glauben, durch das Grundgesetz ausreichend bestimmt. Der Artikel 5 des Grundgesetzes hat aus der Urfassung des Gesetzes bis heute unverändert überlebt und ist deshalb von jener schönen und schlichten Klarheit, die neuere Textpassagen, wie z. B. jene zur Schuldenbremse, leider nicht auszeichnet.1 Doch so einfach ist es nicht. Die tatsächlich gelebte und praktizierte Meinungsfreiheit weist andere Grenzen auf als jene des Gesetzes. Diese Grenzen sind nicht formalisiert, aber doch deutlich enger. Sie ergeben sich aus informellen Regeln gesellschaftlicher Gruppen, aus spezifischen Bestimmungen staatlicher und privater Institutionen und aus den jeweils geltenden Grenzen von Anstand und Sitte. Sie sind letztlich Ausdruck eines komplexen gesellschaftlichen Codes. Dieser verändert sich im Zeitablauf und kann zum gleichen Zeitpunkt in derselben Gesellschaft für unterschiedliche Gruppen ganz unterschiedlich sein. Diese Codes unterliegen keinem allgemeinen Trend. Es kann sein, dass sich die Grenzen gesellschaftlich nicht sanktionierter Äußerungen auf bestimmten Gebieten verengen und gleichzeitig auf anderen Gebieten erweitern. So sind die Grenzen für Meinungsäußerungen und explizite Darstellungen bei sexuellen Themen sicherlich heute wesentlich weiter gesteckt als noch vor vierzig Jahren. Aber ein verfehlter Scherz zur Nazi-Diktatur oder zu Frauenrechten kann im Gegensatz zur Zeit vor vierzig Jahren heute jemanden im öffentlichen Amt oder in einer gut sichtbaren privaten Position durchaus die Karriere kosten. Dagegen enden heute Karrieren nicht mehr wegen außerehelicher Affären oder einer bekannt gewordenen von der Norm abweichenden sexuellen Neigung.

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Der Text lautet: „(1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. (3) Kunst und Wissenschaft. Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“

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Dieses Netz komplexer Regeln, das die Grenzen der tatsächlich ausübbaren Meinungsfreiheit bestimmt, ändert sich im Zeitablauf ständig. Es wird nicht gebildet durch gesellschaftliche Beschlüsse, sondern durch den impliziten Konsens meinungsbildender Gruppen, der bisweilen allerdings auch eine formale Ausprägung erfährt. Es ist das Wesen solcher quasi vorgesetzlichen Grenzen der freien Meinungsäußerung, dass sie dem Einzelnen oft gar nicht bewusst sind. Er richtet sich mit seinen Äußerungen spontan an dem jeweils für ihn geltenden gesellschaftlichen Code aus. Inhalt und Lage dieser Grenzen einer gesellschaftlich tolerierten Meinungsäußerung können zur selben Zeit in derselben Gesellschaft für unterschiedliche Gruppen ganz unterschiedlich sein. Was in einer bestimmten Nische der Pop- und Jugendkultur an Äußerungen oder Verhaltensweisen vollständig tolerabel ist oder sogar bejubelt wird, kann in einer anderen Gruppe oder einem anderen Kontext zur gesellschaftlichen Ächtung führen. Die impliziten Grenzen freier Meinungsäußerung schwanken nicht nur im Zeitablauf oder weisen gruppenspezifische Unterschiede auf. Auch in westlichen Demokratien gibt es vielmehr themenbezogen deutliche Unterschiede von Staat zu Staat, von Nation zu Nation. Während z. B. in Schweden die Inanspruchnahme käuflicher sexueller Dienste verboten und auch entsprechend gesellschaftlich geächtet ist, hat es den Wahlchancen des italienischen Ministerpräsidenten in Italien lange Zeit nicht geschadet, dass seine privaten Partys auch von Prostituierten besucht werden. Erst als der Verdacht aufkam, einige von diesen seien minderjährig, kam er in Probleme. Äußerungen, die in einem Land als berechtigte sachliche Kritik völlig akzeptabel scheinen, solange sie belegbar sind, können in einem anderen Land schon deshalb kaum getan werden, weil sie Kritik enthalten und Kritik einen Gesichtsverlust des Kritisierten bedeutet. Die Bedeutung solcher Normen sah man an der zögerlichen Art, mit der in Japan im März 2011 in den ersten Tagen der Atomkatastrophe die Probleme kommuniziert wurden. Das fein gesponnene und sich ständig verändernde Netz gesellschaftlicher Normen, die die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung begrenzen, kann sich bei manchen Themen verdichten bis zum gesellschaftlichen Tabu. Hier kann es sein, dass nicht nur bestimmte Meinungsäußerungen, sondern sogar bestimmte Fragen verboten sind und geächtet werden. Freiheit der Meinungsäußerung und Freiheit des Denkens sind miteinander untrennbar verwoben und wirken aufeinander ein. Das Denken des Menschen ist auf Mitteilung gerichtet. Wo ihn etwas interessiert, möchte er sich anderen mitteilen. Und auf Gebieten, wo Mitteilung nicht möglich ist, stellen die meisten Menschen auch das Denken ein. Die Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Diktaturen richtet sich auf die Unterdrückung falschen Denkens mindestens genauso wie auf die Unterdrückung falscher Meinungen. Wo man nicht denkt, können auch keine Meinungen entstehen. Wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Fortschritt ging immer damit Hand in Hand, dass in gewissem Umfang freies Denken möglich war. Selbst in autokratischen Regierungs- und Gesellschaftsformen kann es ja weite Bereiche geben, in denen der denkende Geist frei schweifen und sich auch mitteilen kann.

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Gesellschaften, die ein Übermaß an Mitteilungs- und Denkverboten praktizieren, behindern ihre eigene Entwicklung. Häufig allerdings sind diese Verbote tief in den historischen, kulturellen und religiösen Traditionen dieser Gesellschaften angelegt. Dann sind sie ein nicht hinterfragter, integraler und selbstverständlicher Teil des gesellschaftlichen Seins und des Bewusstseins ihrer Menschen. Solche Gesellschaften sind sich ihrer eigenen Grenzen gar nicht bewusst und können diese folglich auch nicht überwinden. Das gilt für die heilige Kuh bei den Hindus genauso wie für die untergeordnete abhängige Rolle der Frau in den meisten islamischen Gesellschaften. Der Aufstieg des westlichen Abendlandes wurde ermöglicht durch die Freiheit des Denkens und Forschens, die seit der frühen Renaissance auf allen Gebieten um sich griff. Die formale Garantie von Meinungsfreiheit im Rahmen der Gewährung bürgerlicher Freiheiten stand am Ende, nicht am Anfang dieses Prozesses. Zuerst kam die Inanspruchnahme von Meinungsfreiheit, dann ihre Kodifizierung im Gesetz. Umgekehrt gilt auch: Wenn der implizite gesellschaftliche Konsens die Grenzen zur freien Meinungsäußerung verengt, dann verengt er gleichzeitig die Grenzen des Denkens, und dies wiederum beeinflusst Richtung und Inhalt der gesellschaftlichen Diskussion und der künftigen gesellschaftlichen Entwicklung. Denken ist Macht, und wo um gesellschaftliche Macht gerungen wird, da wird gleichzeitig auch immer um den Umfang und das Ausmaß gesellschaftlicher Denkverbote gerungen. Diese wiederum werden durchgesetzt über die gesellschaftlichen Regeln zu den Grenzen der freien Meinungsäußerung. Solche Prozesse werden nicht planvoll gesteuert. Sie laufen weitgehend unbewusst ab, aber sie prägen das Verhalten aller Beteiligten. Von gesellschaftlichen Einwirkungen auf ihre Meinung am unabhängigsten sind die Menschen stets dort, wo sie eine eigene fachliche Kompetenz haben, das heißt im Kernbereich ihrer Berufsausübung. Das gilt für den Tischler genauso, wie für den Arzt oder den Physiker. Je weniger die Menschen dagegen zu einer Sache ein eigenes Urteil haben, umso mehr verlassen sie sich auf jene, die aus ihrer Sicht Experten für die jeweiligen Fragen sind. Da der normale Mensch lieber im Konsens als im Dissens lebt und zudem sozial möglichst wenig anecken möchte, neigt er dazu, auf allen Gebieten, auf denen er kein Experte ist, jene Meinungen zu teilen, die er als Mehrheitsmeinung in der Gesellschaft oder in seiner eigenen Bezugsgruppe wahrnimmt. So entstehen Moden des Denkens genauso wie Moden der Kleidung. Gesellschaftliche Diskussionen werden demnach nicht von der breiten Masse berufstätiger Menschen bestimmt, egal ob es sich um einen Bauarbeiter oder einen Manager handelt. Gesellschaftliche Diskussionen werden bestimmt von der Klasse der Sinnvermittler. Dies waren in früheren Jahrhunderten die Theologen, dann die Philosophen und Dichter, später auch die Presse. Heute sind es vor allem die Vertreter der Medien, angereichert durch den ein oder anderen medientauglichen Schriftsteller oder Wissenschaftler.

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Der größte Teil der im Medienbereich Tätigen hat keine Ausbildung für einen klassischen Brotberuf, etwa als Jurist, Ökonom, Ingenieur oder Naturwissenschaftler. Er hat meist Politikwissenschaft, Germanistik oder Geschichte studiert. Soweit er Experte ist, ist er ein Experte für Kritik und Sinngebung, nicht aber für Problemlösungen in der sozialen und physischen Wirklichkeit. Bedingt durch Ausbildung und Tätigkeit, haben Mitglieder dieser Gruppe oft auch keinen ausgeprägten Sinn für Zahlen, Proportionen oder die Widerspenstigkeit realer Sachzusammenhänge. Ihre Aufgabe sehen die medialen Sinnvermittler in der wertenden Kommentierung des Weltgeschehens und des Geisteslebens. Bei der Abgabe ihrer Wertungen und der Tendenz ihrer Analysen folgen sie oft herrschenden Moden und unterliegen dabei auch einem gewissen Herdentrieb. Es gibt eine Hackordnung unter den Protagonisten und eine Rangordnung der vertretenen Meinungen und der Werte. Diese wechselt mit der Zusammensetzung der Gruppe und den Moden des Zeitgeistes. Die sinnstiftende Medienklasse hat als meinungsbildendes Kollektiv Macht und übt sie auch gerne aus: Dort, wo die Bürger nicht beruflich bedingt selbst Experten sind (oder eine hohe eigene emotionale Beteiligung haben bzw. einen großen Problemdruck spüren), folgen sie nämlich unabhängig von ihrem Bildungsgrad zu 90 % den Meinungen, die ihnen in den Medien angeboten werden. Aus diesem Grund achtet die politische Klasse zuerst auf die in den Medien geäußerten Meinungen und dann erst auf die Meinung der Bürger. Das nämlich, was über Personen, Programme, Probleme, Skandale, Entscheidungen geschrieben wird, ist in den meisten Fällen auch das, was der Bürger glaubt. Es gibt Ausnahmen, aber sie bestätigen eher die Regel. Natürlich gibt es in den Medien unterschiedliche Meinungen und widerstreitende Interessen, genau wie in der Politik. Das ändert aber nichts daran, dass die politische Klasse einerseits und die Medienklasse andererseits aufeinander angewiesen und auch aufeinander fixiert sind: Die Politik lässt sich durch die Medien lenken. Die Medien bewerten die Politik und haben durch die Art, wie sie den Daumen heben und senken, erheblichen Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess. Politiker und sinnstiftende Medienklasse sind auch dadurch vereint, dass sie nur selektiv lesen und oft genug auch wenig lesen. Welcher Wirtschafts- oder Finanzpolitiker liest denn mehr als einen Teil der Zusammenfassung im Jahresgutachten des Sachverständigenrats für die gesamtswirtschaftliche Entwicklung? Und welcher Wirtschaftsredakteur macht es anders? Es gibt Ausnahmen, bei einem Teil der Journalisten, die Bücher rezensieren, besteht die Hoffnung, dass sie diese vorher in Gänze gelesen haben. Aber auch das ist häufig nicht die Regel. Ich möchte an dieser Stelle nicht verallgemeinern: Aber bei meinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ kann man anhand fehlerhafter Sachdarstellungen belegen, dass rund 70 Prozent der Kommentatoren das Buch allenfalls durchgeblättert und maximal 10 Prozent es zur Gänze gelesen haben. Trotz allen Streites längs der Parteigrenzen und um Einzelthemen sind Politikerklasse und Medienklasse stark aufeinander bezogen. Erstere brauchen die letztere,

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weil die mediale Zustimmung weitgehend über den Erfolg des Politikers und seine Chancen zum Aufstieg und zur Wiederwahl bestimmt. Letztere brauchen die erstere, weil die Kommentierung von Politik gleichzeitig deren Beeinflussung ermöglicht und damit Macht gibt. Die Präferenzen des Bürgers bleiben dabei leicht auf der Strecke. Die Medienklasse glaubt mehrheitlich, sie sei aufgeklärter und politisch reifer als der gemeine Bürger, und der normale Politiker glaubt dies im Grunde auch. Darum war das erfolgreiche Volksbekehren gegen die Schulreform in Hamburg so eine Überraschung. Auch die Berliner Landespolitik kam ziemlich durcheinander, als die mit einer Verfassungsänderung 2006 neu eingeführten Möglichkeiten zum Volksbegehren und Volksentscheid tatsächlich genutzt und auch gegen die Regierungspolitik eingesetzt wurden. In der Schweiz hat es gegen die Mehrheit der Medien und der Politik zwei erfolgreiche Volksabstimmungen zum Minarettverbot und zur sogenannten Ausschaffungsinitiative für kriminelle Ausländer gegeben. Nach der vorherigen Medienberichterstattung hätte es diese Abstimmungsergebnisse eigentlich gar nicht geben dürfen, auch die Umfragen gaben ein solches Ergebnis nicht her. Bei meinem Interview in Lettre International im September 2009 und der Veröffentlichung meines Buches „Deutschland schafft sich ab“ im August 2010 gab es beide Male eine Entwicklung, mit der weder die Politikerklasse noch die Medienklasse gerechnet hatten. In beiden Fällen waren die negativen Voraburteile aus politischem Munde und in den Kommentarspalten praktisch bereits gesprochen oder gedruckt, ehe die Druckerschwärze der Zeitschrift bzw. des Buches überhaupt trocken war. Beide Male gab es einen völlig unerwarteten anhaltenden Mediensturm bei Lesern und Zuschauern zugunsten meiner Aussagen. Das führte dazu, dass Politik und Medien ihre Positionen teilweise korrigierten. An dieser Stelle geht es nicht um die Frage, ob ich Recht oder Unrecht hatte, sondern allein darum, dass in diesem Ausnahmefall die weitgehende einvernehmliche Ablehnung meiner Analysen und Aussagen durch Politik und Medien letztlich nicht durchschlug. So etwas geschieht immer dann, wenn Tabus der politischen Diskussion, die meist unter dem Begriff der „politischen Korrektheit“ subsumiert werden, verhindern, dass eine Frage, die viele Bürger intensiv bewegt, tatsächlich auch politisch diskutiert wird. Das führt zu einem Stau in den Unterströmungen des nicht sichtbaren politischen Diskurses, der sich Bahn brechen kann, wenn das tabuisierte Thema doch sichtbar wird. Eine Tabuisierung von bestimmten Fragen oder Antworten erhöht auf die Dauer die Distanz und das Misstrauen zwischen der Politik und den Bürgern. Ähnliches kann aber auch geschehen, wenn sich die Präferenzen der Bürger allmählich ändern und die Politik davon nichts mitbekommt. Letzteres war der Fall bei der Auseinandersetzung um „Stuttgart 21“ – ein weiterer Fall im Jahre 2010, bei dem sich Bürger letztlich mit Erfolg gegen die Meinung von Politik und Medien zur Geltung brachten. Der Erfolg meines Buches entgegen aller Verdammnisse durch Politik und Medien und der Stuttgarter Volksaufstand gegen ein planfestgestelltes Großprojekt frus-

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trierten die politische Klasse und die Medienklasse. Der Ärger über den erfolgreichen Volksentscheid zur Schulreform in Hamburg gegen das Votum aller in der Bürgerschaft vertretenen Parteien kam hinzu. Diesen gemeinsamen Frust brachte der Spiegel-Redakteur Dirk Kubjuweit im Herbst 2010 auf einen Begriff, er erfand den „Wutbürger“. Die Fans meines Buches wurden deshalb auch zu den Wutbürgern gezählt, weil sich einige von ihnen bei einer Lesung in München zu Missfallenskundgebungen gegen einen Journalisten, der mich kritisiert hatte, hinreißen ließen. Darüber erregte sich die Süddeutsche Zeitung sehr und sah flugs Gefahren für die Demokratie. Der Wutbürger also ist ein Bürger, der sich aus egoistischen Antrieben oder allgemeinem Frust gegen die Meinungsbildung der Politik und der Medien wendet. Er ist, folgt man der Beschreibung seines Erfinders, meist arriviert, häufig älter, wenig aufgeklärt und jedenfalls ein barbarischer Rückschritt gegenüber dem Zustand, als die Medien und die Politik die öffentlichen Angelegenheiten unter sich ausmachten. Mit dieser wenig wohlwollenden Interpretation der Kritik am Wutbürger habe ich natürlich überspitzt, aber das fördert vielleicht den Erkenntnisgewinn. Im Begriff des „Wutbürgers“ ist bereits die Diffamierungsabsicht erkennbar: Wer die Wut hat, hat sich nicht unter Kontrolle, dessen Rationalität ist eingeschränkt, möglicherweise ist er für seine Handlungen auch nicht voll verantwortlich. Von solcher Art sind eben jene Bürger, die die von Politik und Medien gemeinsam ausgestellten Wechsel nicht einfach querschreiben. Die bis hierher beschriebenen Mechaniken wirken grundsätzlich in jeder demokratisch verfassten Gesellschaft, so dass die tatsächlich ausgeübte und ausübbare Meinungsfreiheit immer nur eine Teilmenge der gesetzlich möglichen Meinungsfreiheit ist. Der Unterschied zwischen der gesellschaftlichen akzeptierten und rechtlich zulässigen Ausübung von Meinungsfreiheit ist ein in seinen Grenzen unscharfer und selten genau bestimmbarer Raum. Wer sich mit seinen Meinungsäußerungen in diesem Raum bewegt, hat zwar keine rechtlichen Sanktionen zu gewärtigen, er muss aber mit gesellschaftlichen Sanktionen rechnen. Dazu gehört alles von moralischer Verurteilung und gesellschaftlicher Ächtung bis hin zu übler Nachrede, persönlicher Diffamierung, Lächerlichmachen der Person, Verleumdung und Mobbing. Wegen des wahrgenommenen Tabubruchs, der in einer Meinungsäußerung außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses liegt, sehen sich viele Kritiker und insbesondere deren Mitläufer auch der Notwendigkeit enthoben, sich mit den Inhalten der kritisierten Äußerung seriös auseinanderzusetzen oder sich auch nur der Anstrengung zu unterziehen, diese geistig aufzunehmen und inhaltlich zu verstehen. Bei der Sanktionierung einer gesellschaftlich nicht akzeptierten, obzwar legalen, Meinungsäußerung herrschen die emotionalen Gesetze einer steinzeitlichen Stammesgesellschaft. Wer sich durch falsche Meinungen zum Außenseiter des Stammes machte, der wurde verstoßen, oft auch getötet, und auf unterschiedliche Weise mal-

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trätiert. Die bereits etwas aufgeklärten antiken Athener hielten für schwere Fälle gesellschaftlich unakzeptabler Meinungen den Schierlingsbecher bereit, den musste Sokrates trinken. Für leichtere Fälle gab es den Ostrakismos, das Scherbengericht, solche Menschen wurden in die Verbannung geschickt, wenn die Mehrheit es so wollte. An die Stelle des Stammes tritt in der modernen Gesellschaft eine virtuelle Werteoder Gesinnungsgemeinschaft. Diese umfasst in den meisten Fragen stets nur Teile der Gesellschaft. Es ist das Kennzeichen der modernen Gesellschaft, dass in ihr ganz unterschiedliche Werte- und Gesinnungsgemeinschaften nebeneinander existieren, die sich teilweise überlappen, teilweise ignorieren, teilweise ständig aneinander reiben. Derselbe Mensch kann in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen oder unterschiedlichen Teilaspekten seiner Persönlichkeit ganz unterschiedlichen Werteund Gesinnungsgemeinschaften angehören. Die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher Werte- und Gesinnungsgemeinschaften produziert innere Widersprüche in großer Zahl. Darum hat das Geistesleben in einer liberalen offenen Gesellschaft immer auch etwas Chaotisches, und das ist gut so. Die Formen der Auseinandersetzung zwischen unterschiedlichen Werte- und Gesinnungsgemeinschaften sind zu keiner Zeit besonders vornehm gewesen, da sie aus den beschriebenen Gründen vorwiegend gefühlsgesteuert sind und ihren emotionalen Antrieb aus sehr ursprünglichen Schichten tief im menschlichen Stammhirn gewinnen. Besonders heftig wird die emotionale Abstoßung dort, wo nicht ohne weiteres zu widerlegende Fakten oder einfache logische Überlegungen wesentliche Inhalte einer Werte- und Gesinnungsgemeinschaft in Frage stellen können. Die heilige Inquisition hatte für solche Fälle den Scheiterhaufen, die Sowjetunion nahm in den siebziger Jahren Rückgriff auf die Irrenhäuser, nachdem Massenerschießungen oder Lagerhaft mittlerweile als politisch inkorrekt galten. Ich empfand es in diesem Zusammenhang als eine besonders schöne Pointe, dass der Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau, Arno Widmann, Anfang Oktober 2009 in einem vor Wut schäumenden Kommentar zu meinem Interview in der Zeitschrift Lettre International erklärte, Thilo Sarrazins Ansichten könnten gar nicht ernsthaft diskutiert werden, dieser Mann gehöre ins Irrenhaus. Er war sich der Parallele zur späten Sowjetunion offenbar nicht bewusst, auch Feuilletonchefs können eben Bildungslücken haben. Das bislang Gesagte war bis auf einige Beispiele genereller Natur, ich habe Gesetzlichkeiten beschrieben, die in der einen oder anderen Form für alle Gesellschaften gelten. In allen modernen Demokratien westlichen Typs spielen die Meinungen der als Sinnvermittler tätigen Medienklasse aus den beschriebenen Gründen eine besondere Rolle, denn es ist sowohl für Politiker als auch für Bürger schwer, sich den dort vorherrschenden Meinungen zu entziehen oder ihnen offen zu widersprechen.

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Die Sinn vermittelnde Medienklasse bestimmt damit weitgehend darüber, wie weit oder eng der Korridor gesellschaftlicher zulässiger Meinungsäußerungen ist. Allerdings wirkt auch der Bürger mit, je nachdem, wie intensiv er solchen Vorgaben Widerstand leistet oder eben nicht. Darüber wird noch zu sprechen sein. Dass der Widerstand gegenwärtig wächst und die Medienklasse darüber unzufrieden ist, haben wir an der Diffamierungsvokabel „Wutbürger“ gesehen. Die schrecklichen Verirrungen des zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere der Nationalsozialismus, haben in Deutschland besonders große mentale Verwüstungen angerichtet. Die Entwicklung in Deutschland war aber auch nur Teil eines allgemeinen Trends, der hier besonders ausgeprägt war. Die Verunsicherung des Bürgertums und der Wunsch nach einer heilenden Utopie führten dazu, dass antiautoritäres, linksliberales und teilweise auch marxistisches, in jedem Falle aber antibürgerliches Gedankengut die Werte und Gesinnungen in der Medienklasse weitaus stärker prägte als in der Gesellschaft insgesamt. Daraus entstand ein recht hermetischer Code des Guten, Wahren und Korrekten, der große Teile der Medienklasse dominiert. Die Kritik an diesem Code kommt im Begriff der „political correctness“ zum Ausdruck. Die militanteren Vertreter der Medienklasse setzen ihren Begriff des politisch Korrekten mit den Grenzen des Anstands gleich. Wer sich ihren Wertungen nicht fügt, hat die Grenzen des Anstandes eben verletzt und ist schon aus diesem Grund seriöser Auseinandersetzung nicht wert. So verfährt z. B. Patrick Bahners in seinem Buch „Die Panikmacher“, bei seiner Kritik an den Islamkritikern. Die 2006 verstorbene italienische Journalistin Oriana Fallaci nannte in ihrer Streitschrift „Die Wut und der Stolz“ aus dem Jahre 2001 die Vertreter der politischen Korrektheit in den Medien angesichts ihrer süßen Gesänge „die Zikaden“, „diese Insekten, bei denen an die Stelle der marxistischen Ideologie die Mode der politischen Korrektheit getreten ist“… die „Mode oder wohl eher die Demagogie, die im Namen der Gleichheit (sic!) Leistung und Erfolg, Werte und Wettbewerb negiert, die eine Mozart-Symphonie und eine Monstrosität namens Rap oder einen Renaissancepalast oder ein Zelt in der Wüste auf ein und derselben Ebene ansiedelt.“2 Man muss den polemischen Impuls von Oriana Fallaci nicht teilen, um den Kern ihrer Kritik zu verstehen. Natürlich dominiert in der Medienklasse nicht ein ein für allemal abgeschlossener Code der politischen Korrektheit, natürlich gibt es Inkonsistenzen, Unterschiede und gleitende Übergänge, aber man kann doch sagen, dass der Code, dem die Mehrheit der Medienklasse zuneigt, folgende Elemente umfasst: • Ungleichheit ist schlecht, Gleichheit ist gut. • Sekundärtugenden wie Fleiß, Genauigkeit und Pünktlichkeit haben keinen besonderen Wert. Leistungswettbewerb ist moralisch fragwürdig (außer im Sport), weil er die Ungleichheit fördert. 2

Oriana Fallaci: Die Wut und der Stolz, Berlin 2004, S. 184 f.

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• Wer reich ist, sollte sich schuldig fühlen – außer, er hat sein Geld als Sportler oder Pop-Star verdient. Wer arm ist, ist ein Opfer von Ungerechtigkeit und mangelnder Chancengleichheit. • Unterschiede in den Lebensverhältnissen liegen nicht an den Menschen, sondern an den Umständen. • Alle Kulturen sind gleichwertig, insbesondere gebührt den Werten und Lebensformen des christlichen Abendlandes und der westlichen Industriestaaten keine besondere Präferenz. Wer anderes glaubt, ist provinziell und fremdenfeindlich. • Der Islam ist eine Kultur des Friedens, wer Bedenken gegen muslimische Einwanderung hat, macht sich der Islamophobie schuldig. Das ist fast so schlimm wie Antisemitismus. • Für Armut und Rückständigkeit in anderen Teilen der Welt tragen westliche Industriestaaten die Hauptverantwortung. • Männer und Frauen haben bis auf ihre physischen Geschlechtsmerkmale keine angeborenen Unterschiede. • Die menschlichen Fähigkeiten hängen im wesentlichen von Bildung und Erziehung ab, angeborene Unterschiede spielen kaum eine Rolle. • Auch Völker und Ethnien haben keine Unterschiede, die über die rein physische Erscheinung hinausgehen. • Der Nationalstaat hat sich überlebt, nationale Eigenheiten haben keinen Wert. Das Nationale ist per se eher böse, jedenfalls nicht erhaltenswert. Das gilt ganz besonders für Deutschland und die Deutschen. Die Zukunft gehört der Weltgesellschaft. • Alle Menschen auf der Welt haben nicht nur gleiche Rechte, sondern sie sind auch gleich, und sie sollten eigentlich alle einen Anspruch auf die Grundsicherung des deutschen Sozialstaats haben. • Kinder sind Privatsache, Einwanderung löst alle wesentlichen demografischen Probleme. In allen diesen Aussagen stecken ein richtiger politischer Kern und ein ehrenwerter moralischer Impuls. Es ist sogar grundsätzlich richtig, dass die Gesellschaft bestimmte Werthaltungen, etwa die Meinung, dass die Frau dem Manne nicht ebenbürtig sei, mit einem negativen Werturteil versieht. Solche Werturteile beeinflussen unmittelbar die öffentliche Meinung, denn die meisten Menschen akzeptieren gesellschaftlich dominierende Werturteile und übernehmen sie für sich selbst, ohne sie zu hinterfragen. Gleichzeitig verzerren solche Werturteile aber auch das Bild, das die Gesellschaft von ihrer eigenen Meinung hat. Menschen scheuen sich nämlich zumeist, Meinungen zu äußern, die nach ihrer eigenen Einschätzung nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen. Dieser Effekt wird von den Medien und der Politik noch verstärkt. Wer sich außerhalb des Konsenses stellt, wird von den Medien abgestraft, und Mei-

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nungen, die von den Medien abgestraft werden, werden vom Mainstream der Politik schon gar nicht geäußert. Politische Korrektheit erwächst aus dem Grundimpuls, Einstellungen und Werthaltungen zu ächten, die man als moralisch verwerflich oder gesellschaftsschädlich empfindet. Aber politische Korrektheit überdehnt, indem sie verabsolutiert. Wo sie die Legitimität unterschiedlicher Werthaltungen und Fragestellungen im Übermaß einschränkt, gleitet politische Korrektheit ab in Meinungsenge, ja sogar Meinungsterror. Die Meinungsenge zeigt sich darin, dass bestimmte Fragestellungen oder bestimmte Interpretationsmöglichkeiten empirischer Fakten ausgeklammert werden. Der Meinungsterror beginnt dort, wo diejenigen, die nach den jeweils geltenden Maßstäben der politischen Korrektheit die falschen Fragen stellen oder die falschen Antworten geben, lächerlich gemacht, gezielt missverstanden oder moralisch abqualifiziert werden. So wird aus dem Diktat der politischen Korrektheit leicht ein neues Spießertum. In drei Fällen wütete in Deutschland der Furor der politischen Korrektheit besonders schlimm, und es ist kein Zufall, dass alle drei mit dem Holocaust zu tun hatten: • Ein Aufsatz des Historikers Ernst Nolte in der FAZ vom 6. Juni 1986 löste den sogenannten Historikerstreit aus, dabei rückte Nolte den Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus in ein enges Entsprechungsverhältnis. Ernst Nolte vertrat Thesen, die man zu Recht als teilweise fragwürdig und teilweise unhaltbar betrachten konnte. Die über den sachlichen Widerspruch hinausgehenden Angriffe gegen ihn verloren jedes Maß und bewirken bis heute seine weitgehende Isolation und Ächtung. • Der Bundestagspräsident Philipp Jenninger musste sein Amt aufgeben, weil er in einer Rede am 11. November 1988 zum Gedenken an die Reichsprogromnacht, deren Text vollständig in Ordnung war, eine Passage falsch betont hatte, so dass seine Distanz zum Inhalt dessen, was er zitierte, nicht ausreichend deutlich wurde. • Der Schriftsteller Martin Walser hatte am 11. Oktober 1998 in einer Rede beim Friedenspreis des deutschen Buchhandels gesagt: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule.“ Er sprach damit eine besondere Eigenart des politischen Diskurses in Deutschland an und musste ungeheure Diffamierungen über sich ergehen lassen. Gewaltbereite Demonstranten, gegen die niemand einschritt, machten es ihm jahrelang unmöglich, an deutschen Universitäten aufzutreten. Kürzlich erschien eine Veröffentlichung der Friedrich Ebert Stiftung: In einer repräsentativen Studie mit jeweils 1.000 Befragten waren in acht europäischen Ländern Einstellungen zu Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus,

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Islamfeindlichkeit und Homophobie abgefragt worden.3 Bei vier Fragenkomplexen gab es nennenswerte Abweichungen zwischen den Ländern. Bei „Fremdenfeindlichkeit“ und „Islamfeindlichkeit“ dagegen waren die Ergebnisse recht homogen. Die Autoren interpretieren aber den Umstand, dass sich in allen Ländern rund 50 % der Befragten negativ äußerten, nicht als Ausdruck einer europaweit recht ähnlichen Problemlage in Bezug auf Zuwanderer und Muslime, sondern folgern, dass sich die acht Länder in der Verbreitung fremdenfeindlicher oder islamfeindlicher Vorurteile nur gering unterscheiden.4 Die Autoren wussten offenbar schon vor ihrer Untersuchung, dass es sich nur um Vorurteile handeln könne. Je höher der Anteil negativer Urteile, desto größer ist nach ihrer Meinung die Unaufgeklärtheit der Gesellschaft. Dieselben Autoren halten die Mehrheit der Menschen der acht Länder für sexistisch, weil deutlich über 50 % der Befragten meinten, die Frauen sollten ihre Rolle als Frau und Mutter ernster nehmen. Vielleicht wäre ja ein ähnliches Ergebnis herausgekommen, wenn die Umfrage auch erhoben hätte, ob die Männer ihre Rolle als Ehemänner oder Väter wieder ernster nehmen sollten. Das wurde aber nicht gefragt. Es kam den Autoren offenbar nicht in den Sinn, dass die Befragten vielleicht nur ihrer Sorge über hohe Scheidungsraten, Kinderarmut und Kindesvernachlässigung Ausdruck gaben. Das illustriert: Im Bannkreis der politischen Korrektheit gibt die Wahl der Fragestellung die Grenzen der Erkenntnis bereits vor und beschränkt zugleich das Interpretationsraster denkbarer Antworten. Der Furor der politischen Korrektheit trifft in der erwähnten Studie zunächst die deutsche Sprache. Die Studie spricht über „Vorurteile gegen Einwanderer/innen, Juden/Jüdinnen, Schwarze …, Muslim/innen“, sie ermahnt „Akteur/innen, Meinungsmacher/innen“ und bedauert „Außenseiter/innen in Europa – die Adressat/innen von Menschenfeindlichkeit“. Ganz sicher haben es die Autor/innen bedauert, dass die deutsche Sprache es beim besten Willen nicht zulässt, von „Schwarz/innen“ zu reden.5 Natürlich steht für die Autor/innen fest, dass die erwähnten Menschen (warum eigentlich nicht Mensch/innen) „nach wie vor aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit diskriminiert werden, wenn es um gleiche Chancen beim Zugang und der Teilhabe zu beispielsweise Bildung, Gesundheit, Wohnen oder Arbeit geht.“6 Dass Frauen länger leben als Männer und mittlerweile auch die besseren Bildungsabschlüsse haben, dass Homosexuelle im Durchschnitt gebildeter sind, besser verdienen und beruflich erfolgreicher sind als Heterosexuelle, dass Inder, Chinesen und Vietnamesen im Bil3

Andreas Zick, Beate Küpper, Andreas Hövermann: Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung, Bonn 2011. 4 Vgl. ebenda, S. 64 und S. 71. 5 Ebenda, S. 18 ff. 6 Ebenda, S. 19.

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dungssystem erfolgreicher sind als Einheimische und auch höhere Erwerbsquoten haben, all das geht unter in einem undifferenzierten Diskriminierungsgejammer. Das Problem für die Autor/innen ist allein die „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Jemand, der meint, „Frauen sollten ihre Rolle als Ehefrauen und Mütter ernster nehmen“, also 53 % der Deutschen, wird nach diesem Raster genauso der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ geziehen wie jemand, der gleichgeschlechtliche Ehen nicht für eine gute Sache hält, also 88 % aller Polen und 17 % aller Niederländer.7 Die Autor/innen sind der Meinung, „dass Vorurteile, Stereotype und diskriminierende Mentalitätsbestände in einzelnen Ländern die Demokratie gefährden oder sogar zersetzen“ und halten „die Ergebnisse der vorliegenden Publikation“ für einen „sowohl aufschlussreichen als auch besorgniserregenden Lagebericht“.8 Wo bleibt da die Wirklichkeit? Die Weimarer Demokratie ist bestimmt nicht daran gescheitert, dass die Mehrheit der Deutschen der Meinung war, Frauen sollten ihre Rollen als Ehefrauen und Mütter ernster nehmen, und die Demokratiebewegung von Solidarnosc gegen die kommunistische Diktatur wurde nicht dadurch behindert, dass knapp 90 % der Polen nicht finden, dass gleichgeschlechtliche Ehen eine gute Sache sind. Ich habe mich bemüht, bei der exemplarischen Diskussion dieser Studie ohne Spott und Ironie auszukommen. Ganz ist mir das nicht gelungen. Grundsätzlich ist es ja ein ehrenwerter Impuls, „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ zu vermeiden. Dies ist allerdings nicht das zentrale Problem z. B. bei der Erhöhung der Bildungsneigung muslimischer Migranten oder der Bekämpfung von Zwangsheiraten. Wer die wirkliche Welt und ihre Probleme ausschließlich oder vorwiegend durch die Brille eines Codes der politischen Korrektheit betrachtet, der klammert zahlreiche Fragen systematisch aus oder verneint ihre Berechtigung. Er vergibt die Möglichkeit, die Welt realistisch zu erklären, und verpasst wesentliche Ansatzpunkte für politisches Handeln. Ein zu enges Korsett an politischer Korrektheit verengt den Kreis an Fragestellungen, den man ohne Furcht vor politischen Sanktionen aufwerfen darf, und er verengt den Kreis der Antworten, die man geben darf. Beides behindert die gesellschaftliche Diskussion und beeinträchtigt die Lösungskapazität für politische Probleme. Gesellschaften, die ihr Meinungsspektrum zu eng fassen, gefährden ihre Reformfähigkeit. Die Verwalter der politischen Korrektheit in Deutschland sind, wie bereits erwähnt, die Sinnstifter in den Medien, unterstützt durch Kronzeugen aus den Geisteswissenschaften, die bei Bedarf zu Hilfe eilen, mit der politischen Klasse als großenteils willfährigem Resonanzboden. Vielen Zugschaffnern habe ich in den letzten Monaten Autogramme gegeben (wäre ich politisch korrekt, so hätte ich jetzt schreiben müssen „Zugschaffner/ innen“). Im Januar 2011 setzte sich im Zug eine jüngere Schaffnerin zu mir, bat 7 8

Vgl. ebenda, S. 74. Ebenda S. 12.

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mich um ein Autogramm, um es in ihr Buch einzukleben, und während ich schrieb, bemerkte sie still „Was Sie alles leiden müssen, nur weil Sie sagen, was wir alle denken.“ Ich sagte nichts. Später dachte ich darüber nach: Als Opferlamm war ich mir eigentlich gar nicht vorgekommen. Die Schaffnerin sah ja nicht die gewaltige Zustimmung, die mir vielerorts entgegenschlug. Sie sah nicht den Ruhm, den ich auch erfuhr. Sie sah die Häme, die in vielen Medien über mich ausgeschüttet wurde. Sie sah die hasserfüllten Kommentare, den Versuch, mich nicht nur als Autor, sondern auch als Mensch in meiner Integrität zu treffen. Und weshalb das alles? Sicherlich nicht wegen meiner Tabellen und Fußnoten. Ich hatte Fragen aufgeworfen und Hypothesen aufgestellt, die jene, die den oben skizzierten Code der politischen Korrektheit in Deutschland verinnerlicht hatten, offenbar als skandalös empfanden, und zwar als umso skandalöser, je stringenter die Logik meines Arguments und je klarer die zitierten Fakten waren. Zu den offenbar besonders skandalösen Feststellungen zählten folgende: Intelligenz ist teilweise erblich. Dass intelligentere Eltern weniger Kinder bekommen, ist deshalb ein gesellschaftliches Problem. Bildung kann angeborene Begabungsunterschiede nur teilweise ausgleichen. Zuwanderergruppen unterscheiden sich voneinander systematisch in ihrer Bildungsneigung und ihrem Integrationswillen. Der islamische religiöse Hintergrund ist vielfach ein Integrationshindernis. Es ist bedauerlich, wenn die Deutschen wegen ihrer geringen Kinderzahl in wenigen Generationen aussterben. Die nationale Eigenart der Völker in Europa ist erhaltenswert. Es ist bedauerlich, wenn deutsche Kultur und deutsche Sprache mit der Zeit verschwinden. Für die politisch Korrekten half offenbar nur eines: Sich nur ja nicht mit den konkreten Inhalten meiner Analysen auseinandersetzen, dabei könnte sich ja ergeben, dass Argumente fehlen, statt dessen aber Vorwürfe erheben, die mit den Inhalten des Buches gar nichts zu tun haben. Bei der Auseinandersetzung mit mir und meinem Buch haben die Diffamierung, das sachliche Desinteresse und das gezielte Missverständnis bei vielen Medien nach wie vor Konjunktur. Als ich mein Buch veröffentlichte und der Empörungssturm über mich hereinbrach, war ich in der Endphase meiner beruflichen Laufbahn, strebte kein weiteres Amt mehr an und hatte eine sichere Altersversorgung. Nur eine Minderheit in Deutschland ist so abgesichert. Die Mehrheit braucht ihren Broterwerb, und viele hoffen auf weitere Aufstiegsmöglichkeiten. Das wollen die meisten nicht durch eine übermäßige Inanspruchnahme des Rechts auf freie Meinungsäußerung aufs Spiel setzen. So ist die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht nur in Deutschland. Es ist den meisten Menschen aber auch unabhängig von objektiven Bedrohungsängsten zutiefst zuwider und trifft auf ihre instinktive Abwehr, sich außerhalb des Mainstreams jener Meinungen zu bewegen, in deren Bandbreite man unauffällig mit-

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schwimmen kann. Dies gilt auch für die Medienklasse und die Klasse der Politiker. Manchmal könnte man sogar den Eindruck haben, dass die Bandbreite der im Sinne der politischen Korrektheit als akzeptabel geltenden Meinungen eher abgenommen hat. Und besonders stromlinienförmig kommen mir dabei die mittleren und die jüngeren Jahrgänge vor. Paradoxerweise haben die Jahrzehnte des Wohlstands und der freiheitlichen Demokratie weniger den persönlichen Mut als die Anpassungsbereitschaft und Streben nach Unauffälligkeit genährt. Das wäre nicht gut. Mit der Freiheit ist das nämlich so eine Sache. Sie floriert nur dort, wo sie auch in Anspruch genommen wird. Wo die Bandbreite der Meinungsfreiheit im öffentlichen Diskurs nicht genutzt wird, wird auch der Pfad der künftig nutzbaren Meinungsfreiheit allmählich schmaler. Meinungsfreiheit ist wie ein Muskel am Gesellschaftskörper: Was nicht bewegt wird, atrophiert, und wer seine Muskeln nicht regelmäßig streckt, muss wissen, dass der künftige Bewegungsradius seiner Gliedmaßen sinkt.

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Thilo Sarrazin Von Matthias Strunk Der Moderator Dr. Stefan Brink dankte Sarrazin für seinen Vortrag zu Denkverboten, medialer Stimmvermittlung und Bürgerwillen. Peter Vonnahme wies Sarrazin darauf hin, er habe sich zur Rechtfertigung seines Buches und seiner Thesen auf Art. 5 GG berufen, dabei jedoch Art. 2 GG vergessen, nach dem diese Rechte ihre Schranken „in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre“ finden würden. Diesen Absatz hätte er berücksichtigen sollen. Die Grundrechte seien Abwehrrechte gegen den Staat und dieser habe ihn augenscheinlich nicht verfolgt, weshalb der Raum, den er mit Berufung auf Art. 5 GG beanspruche, nicht tangiert werde. Da der Staat ihn weder verurteilt noch ihm ein Verbot zur Meinungsäußerung erteilt habe, sei sein Problem tiefer zu hängen. Er habe vielmehr gesellschaftlich markante und provokante Thesen vertreten, weshalb er sich nicht wundern dürfe, wenn aus eben dieser Gesellschaft Gegenreaktion komme. Wer Wind säe, brauche sich über Gegenwind nicht zu wundern. Deshalb sei Sarrazin kein Opfer, sondern jemand, der die Reaktion bekomme, die er ausgelöst habe. Sarrazin erwiderte, dass es unbestritten sei, dass die Grenzen der Meinungsfreiheit dort lägen, wo man die Rechte anderer berühre. Er fühle sich zudem auch nicht als Opfer und der Vortrag beziehe sich größtenteils nicht auf sein Buch. Dieses habe ihn allerdings dazu veranlasst, über bestimmte Mechaniken nachzudenken. Der Kern seiner Aussage sei, dass sich die faktischen und die rechtlichen Grenzen der Meinungsfreiheit unterscheiden würden. Per Lennart Aae erläuterte in Bezug auf Vonnahmes Wortmeldung, dass die Schranken in Art. 5 Abs. 2 GG besagen würden, die Meinungsfreiheit finde ihre Grenzen in den allgemeinen Gesetzen. Dazu führte er weiter aus, dass Meinungen als Störung, beispielsweise der Harmonie oder des Anstands, empfunden werden könnten. Der Schritt zu gesellschaftlichen, außergerichtlichen Sanktionen, wie z. B. der Verweis aus einem Hotel, sei dann nicht mehr weit. Davon sei wiederum der Schritt nicht weit entfernt, hier Rechtsgüter zu sehen, die Einfluss auf gerichtliche Entscheidungen in Streitigkeiten über Meinungen haben könnten. Somit müsse eigentlich nach Art. 5 Abs. 2 GG jedes Mal, wenn über Meinungsäußerung vor Gericht, z. B. im Kontext der Volksverhetzung, gestritten werde, eine Abwägung zwischen dem verfassungsrechtlich hohen Rechtsgut der Meinungsfreiheit auf der einen Seite und dem Meinungsgut der persönlichen Ehre, der Ehre des Staates oder der

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Achtung vor dem Staat, die der Meinungsfreiheit entgegenstehen könnten, auf der anderen Seite stattfinden. Eine solche Abwägung, auf deren Grundlage das Urteil gefällt werden müsse, finde häufig nicht statt. Gerichte nähmen stattdessen einen Verstoß gegen die Harmonie in der Gesellschaft bzw. den Anstand explizites verbis als eine unzulässige Meinung war. So würden seiner Ansicht nach der Volksverhetzungsparagraph oder § 86 StGB ohne Abwägung zu einer Verurteilung führen. Dies sei ein schwieriges Problem im Rahmen der Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit, über das in diesem Kontext gesprochen werden müsse. Sarrazin erklärte, dass er eine Reihe von Verfahren unterschiedlicher Dauer und auch zur Volksverhetzung überstanden habe. Es sei unstreitig, dass der Justizapparat ihn in der Summe korrekt behandelt habe. Thema seines Vortrags seien jedoch nicht die Rechtsfragen, sondern er habe aus rein pädagogischen Gründen Art. 5 GG zitiert, der in seiner scheinbaren Einfachheit so schön sei. Es gehe vielmehr darum, inwieweit Meinungsfreiheit in einer Gesellschaft ausübbar sei. Alle würden durch gesellschaftliche Belohnungen und Sanktionen unterschiedlicher Art gesteuert, wodurch auch die Grenzen der tatsächlich ausübbaren Meinungsfreiheit bestimmt würden. Yaya Jaiteh erkundigte sich, ob er Sarrazin richtig verstanden habe, dass Integration durch Religion beeinflusst werde und dabei der Islam negativen Einfluss habe bzw. ein Hindernis darstelle. Da er selbst Moslem sei, kenne er sich in diesem Thema aus und nehme dies als seine Argumentationsgrundlage. Er wolle nicht sagen, dass die Meinung Sarrazins falsch sei, aber er verstehe nicht, wie er auf diese Meinung komme, da eine Religion keinen primären Einfluss auf die Integration haben könne, sondern nur deren Interpretation. Er könne beispielsweise auch nicht sagen, dass im übertragenen Sinne die Schule Schuld sei, wenn er eine schlechte Note kriege oder nicht durchkomme, sondern stattdessen nur die Person, die sich in der Schule weiterbilden wolle, oder dass der Lehrer einen Fehler gemacht habe. Ebenso liege bei der Integration die Schuld bei der Person, die eine Religion ausübe, oder dem religiösen Führer. Ein wichtiger Faktor sei es, wo ein Auswanderer hinkomme, da ein Mensch den leichtesten Weg zu finden versuche, wie der Strom den des geringsten Widerstands wähle. So würden in seinem Bereich viele Türken leben und wenn neue türkische Bürger nach Deutschland kämen, gingen diese meist in einen Bereich, in dem andere türkische Mitbürger wohnen, so dass sie ein Leben führen könnten, ohne eine neue Sprache zu erlernen. Das hindere seiner Meinung nach die Integration. Er bat daher Sarrazin, dass er ihm seine Meinung noch einmal darlege und begründe sowie ihm sage, was die Ursachen für Fehlintegration im Islam seien. Sarrazin erklärte, dass vieles von dem, was Jaiteh gesagt habe, völlig richtig sei und es auch vollkommen korrekt sei, dass es immer auf den Einzelnen ankomme, den man aus seiner Verantwortung für sich selbst nicht entlassen könne. Bei gesellschaftlichen Fragen könne jedoch nicht über Millionen Einzelne geredet werden, sondern man rede über unterschiedliche Gruppen und deren Verhalten. Dabei ergebe sich – und das sei auch von keinem bestritten worden –, dass unterschiedliche Gruppen von

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Migranten unterschiedliche Integrationserfolge hätten, was anhand der Bildungsbeteiligung, der Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit gemessen werden könne. Dabei kämen Gruppen mit unterdurchschnittlichen Bildungserfolgen im Wesentlichen aus islamischen Ländern und hätten einen muslimischen Glaubenshintergrund, gleichwohl es natürlich Unterschiede gebe. Dies sei keine deutschlandweite, sondern eine europa- bzw. weltweite Beobachtung. In seinem Buch stelle er dieses Faktum dar und versuche es zu erklären, da es keine soziale Erscheinung ohne Ursache gebe. Bestimmte Merkmale des durchschnittlich ausgeübten islamischen Glaubens würden dafür eine gute Erklärung bieten. Selbst wenn man diese Erklärung nun nicht akzeptiere, müsse man sich mit der Tatsache als solche gleichwohl auseinandersetzen. Prof. Dr. Albert Janssen erwähnte die Begriffe der Politischen Klasse, den Prof. von Arnim entwickelt habe sowie den der Medienklasse, den Sarrazin gebraucht und damit auch einen Teil der Lebenswirklichkeit getroffen habe. Nun tauche das zentrale Problem auf, wer für wen entscheidend sei. Dazu erzählte er, dass bei Einrichtung des Raums der Landespressekonferenz im Niedersächsischen Landtag seitens der Presse gesagt worden sei, dass sie diejenigen wären, die die Politik an die Bevölkerung verkaufen würden, da diese sie sowieso nicht verstehe. Seine These sei daher, dass die Medienklasse die führende Klasse sei, von der die politische Klasse abhinge. Hier müsse eine Priorität gesetzt werden. Eine Parallele, die dazu gezogen werden könne, würden die Finanzmärkte darstellen, die als Folgemärkte im Grunde den ökonomischen Daten folgen sollten, inzwischen jedoch die Führung über diese übernommen hätten. Sarrazin stimmte dem ersten Teil der Aussage von Janssen zu und erläuterte, dass es ebenfalls die Selbstwahrnehmung der Medienklasse sei, die eigentlichen Führer zu sein und dass Angela Merkel das tun solle, was ihr im jeweiligen Zeitungskommentar vorgeschlagen werde, da der Redakteur sonst gekränkt sei. Die Analogie zu den Finanzmärkten würde er dagegen nicht ziehen. Er halte die Spekulation nicht für eine eigenständige Ursache irgendwelcher Probleme, sondern mehr für ein Symptom.

Seid untertan der Obrigkeit? Wandel des Widerstandsverständnisses der Evangelischen Kirche Von Eberhard Cherdron Die folgende Abhandlung nimmt in einem sehr kursorischen Durchgang Beobachtungen zum Verständnis des Widerstandes im evangelischen Raum auf. Ein biblisches Zitat steht am Anfang. Und das ist auch gut so. Noch ist den meisten Bürgern bewusst, dass es in der Überschrift um ein biblisches Zitat geht. Biblische Worte sind für eine gute Theologie eine unausweichliche Herausforderung des Verstehens. Die Formulierung des Themas verhindert es zudem, dem Fehlschluss zu erliegen, als ob über das Widerstandsverständnis in der Evangelischen Kirche erst ab dem 16. Jahrhundert zu sprechen wäre. Das biblische Zitat verweist auf die Anfänge des christlichen Denkens, auf das Neue Testament. I. Obrigkeit und Widerstand im Neuen Testament und in der frühen Christenheit Im 13. Kapitel seines Briefes an die Römer schreibt der Apostel Paulus: „Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt der Anordnung Gottes; die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu. Denn vor denen, die Gewalt haben, muß man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so tue Gutes; so wirst du Lob von ihr erhalten. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst; sie ist Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut. Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen. Deshalb zahlt ihr ja auch Steuer; denn sie sind Gottes Diener, auf diesen Dienst beständig bedacht. So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid: Steuer, dem die Steuer gebührt; Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.“ (Lutherbibel, Revidierte Fassung 1984)

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Es ist schon wichtig, dass man sich den ganzen Textabschnitt vor Augen hält und natürlich dabei die Auslegungsgeschichte des Textes vor Augen hat, die für die evangelische Theologie in Deutschland im letzten Jahrhundert untrennbar mit dem Kirchenkampf im Nationalsozialismus und den Auseinandersetzungen mit dem Sozialismus in der DDR verbunden ist. Immer noch am besten hat Ernst Käsemann diesen Text interpretiert. (Siehe dazu die Angaben im Literaturverzeichnis) Als Mitglied der Bekennenden Kirche im Widerstand des Nationalsozialismus hat Ernst Käsemann selbst Verfolgung erfahren. Danach war er ein engagierter Lehrer der exegetischen Theologie. Ganz persönlich war er im Schicksal seiner Tochter Elisabeth betroffen von dem Widerstand der Nach-68-ger. Diese wurde nach einiger Tätigkeit in verschiedenen Ländern Südamerikas 1977 unter der Militärjunta in Argentinien ermordet. Auf dem Hintergrund seiner Interpretation will ich einige Feststellungen zu Römer 13 treffen: Der Abschnitt Römer 13, 1 – 7 muss im Kontext der Paränesen des Paulus gelesen werden. Auch im Verhältnis zu den politischen Gewalten wird des Christen Gottesdienst in der Welt realisiert (Römer 12,1+2). Paulus lebt in Vorstellungen von Über- und Unterordnung, wie wir diese auch am Beispiel des Verhältnisses von Mann und Frau oder auch an seinem Festhalten an der Sklaverei erkennen können, die für uns so nicht mehr gelten können. Es wäre verfehlt, aus unserem Abschnitt eine naturrechtlich fundierte Ordnungstheologie abzuleiten, in der auch der Staat seine Rolle findet. Dass nach Gottes gutem Willen politische Gewalten die Aufgabe haben für Recht und gutes Zusammenleben zu sorgen, muss nicht notwendigerweise zu einer Theologie der „Schöpfungsordnungen“ führen. Römer 13,1 – 7 setzt fraglos voraus, dass die politischen Gewalten diesen guten Willen Gottes erfüllen, sich wahrhaft als „Diener“ Gottes erweisen. Die Perversion zum Unrechtsstaat hat Paulus nicht im Blick. Gerade dieser Gesichtspunkt ist wichtig bis in die neuzeitliche Diskussion über Römer 13. Aber sie ist ja schon von Bedeutung für Paulus selbst. Er wird zum Märtyrer, erfährt staatliche Verfolgung bis zu seinem Tod. Leider gibt es in seinen Schriften keinen Reflex über diesen Sachverhalt, zur Frage also: Wie verhält sich Römer 13, 1 – 7 zu den Verfolgungen und dem Unrecht, das Paulus selbst vom römischen Staat erfährt? Auch in der Apostelgeschichte selbst, mit den komponierten Reden des Paulus, wird diese Frage nicht thematisiert. Dort finden wir aber, in einer der ersten Verfolgungsgeschichten, den Satz, der für die Diskussion von Widerstand, Widerstandsrecht und Widerstandspflicht in der frühen Kirche von entscheidender Bedeutung ist. Nachdem einige Apostel erst gefangen genommen wurden, dann durch ein Wunder freikamen und während der folgenden öffentlichen Verkündigung wieder festgenommen wurden und vor den Hohenpriester gebracht wurden, wurde ihnen dort vorgehalten: „Haben wir euch nicht streng geboten, in diesem Namen (dem Namen Jesu) nicht zu lehren? Und seht, ihr habt Jerusalem erfüllt mit eurer Lehre und wollt das Blut dieses Menschen über

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uns bringen. Petrus aber und die Apostel antworteten und sprachen: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apostelgeschichte 5, 28 f.)

„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, in der Konsequenz dieser Aussage, der sogenannten „clausula petri“, liegt es, was in der frühen Christenheit Diskussionen auslöste: Gibt es nicht nur ein Recht auf passiven Widerstand (die Verweigerung des Kaiseropfers), sondern die Pflicht dazu? Die Diskussion um die „Apostaten“ zeigt dies. Da ging es ja um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen ein Christ, der dem Kaiser geopfert hatte, wieder in die Gemeinde aufgenommen werden konnte. (Eine ähnliche Diskussion gab es bei der Einführung der Jugendweihe in der DDR: Darf ein Jugendlicher, der an der Jugendweihe teilgenommen hat, konfirmiert werden?) Die Märtyrertradition, die mit der Geschichte des Stephanus in der Apostelgeschichte (Kapitel 6+7) begonnen hat, setzt sich hier fort. In all diesen Fällen ging es um Fragen der Religionsfreiheit und die Freiheit den eigenen Glauben leben zu können. Die Tendenz der frühen christlichen Theologen ist dabei die Bejahung und Forderung der Verweigerung gegenüber den staatlichen Zumutungen. Es geht um die Standhaftigkeit im Glauben, die auch angesichts der Gewalt und der Todesdrohung durchhält. Aber es gibt in diesem Zusammenhang keine Aufforderung für einen aktiven Widerstand. Zum Umsturz der politischen Verhältnisse wird nicht aufgerufen. Der Widerstand zeigt sich in der Verweigerung. Auf die wichtige Diskussion der Scholastik über das Recht des Tyrannenmordes wird hier nicht eingegangen. In ähnlicher Weise findet sie sich dann auch wieder in den Positionsbestimmungen während der Streitigkeiten im Zuge der Reformation. II. Der zweite Reichstag von Speyer 1529 – ein Ort protestantischen Widerstandes? Mit der Forderung nach der freien Ausübung des Glaubens, befinden wir uns ohne Zwang schon in der Diskussion der Reformationszeit, etwa auch beim Reichstag zu Speyer von 1529. Um was ging es dabei? Nach den Beschlüssen des ersten Speyerer Reichstages von 1526, die die Religionsfrage offen hielten und es den einzelnen Territorien überließen, ob der evangelische Gottesdienst eingeführt wurde, beschloss die Mehrheit des zweiten Speyerer Reichstages 1529, dass die Reformen rückgängig zu machen seien und im Reich allein die alte Religion zulässig sei. Hiergegen legte eine Minderheit von 6 Fürsten und 14 Reichsstädten in der „Protestation“ Widerspruch ein. In unserm Zusammenhang kann die Frage gestellt werden: War die Protestation ein Ausdruck des Widerstandes oder „nur“ die Wahrnehmung eines Rechtsaktes? Natürlicherweise wurde in den heroisierenden Darstellungen des Reichstags von 1529, zumindest was seine Wahrnehmung in der Pfalz anging, dieser gerne als der zentrale Widerstandsort der evangelischen Minderheit gegen die Mehrheit des Reiches dargestellt. Die Verbindung der beiden Worte Protest und Widerstand lässt dies

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ja auch leicht zu. So konnte bei der Protestations-Gedächtnis-Feier 1929 ein Prediger zur Protestation formulieren: „Das war mehr als ein papierener Protest, den man zu den Akten des Reichstages hätte legen mögen, – es war eine Tat des Ungehorsams gegenüber einem starken Kaiser im Gehorsam gegen einen noch stärkeren heiligen lebendigen Herrn und Gott; es war eine Tat der Auflehnung gegenüber erzwungener Unterwerfung einer Minderheit unter den Willen einer Mehrheit bei freier Unterordnung unter Gottes zwingenden Befehl; es war eine Tat aus Luthers Glauben, der seines Gottes gewiss ist, ,und wenn die Welt voll Teufel wär‘.“ (Senior Erich Stöckl, Wien, in: Die Speyerer Protestationsgedächtnisfeier S. 35)

Und über der Darstellung des Speyerer Reichstages von 1529 in der Dreifaltigkeitskirche in Speyer aus dem Anfang des 19. Jahrhundert ist der Spruch zu lesen: „Wo Kraft und Wahrheit zeugen, muß Wahn und Macht sich beugen.“

Ist die Evangelische Kirche selbst ein Produkt des Widerstandes gegen eine tyrannische römisch-katholische Kirche, die eine schlimme Liaison mit dem Kaiser eingegangen ist? Dies zu bejahen, steht hinter dem Pathos, mit dem die Protestation auf dem Reichstag 1529 in späteren Jahrhunderten gefeiert wurde. Doch immer haben auch schon evangelische Theologen vor einer solchen Sicht der Geschichte gewarnt. Ich zitiere hier gerne Johann August Heinrich Tittmann, der aus Anlass des Protestationsjubiläums im Jahre 1829 die Protestationsurkunde neu herausgegeben hat und in der Einführung schreibt: „Die Protestation der evangelischen Reichsstände auf dem Reichstag zu Speyer 1529 kann weder recht verstanden noch richtig beurteilt werden, wenn man nicht den Gang der über die Religionsstreitigkeiten gepflogenen Reichsverhandlungen von Anfang an verfolgt, damit sich zeige, wie jenes wichtige Unternehmen sey nicht, wie man oft gesagt habe, bloße Parteysache gewesen, sondern habe in der Verfassung des Reichs, so wie in den Rechten der Stände selbst gerechten Grund gehabt. Und so wie es überhaupt nötig ist, daß die Triebfedern und die Zwecke einer Handlung mit dem Rechtmäßigen derselben nicht verwechselt werden, so ist dieß besonders bey der Entstehung der evangelischen Kirche der Fall. Lange genug hat man ja die Reformation eine gesetzlose und rechtswidrige Umwälzung gescholten, und noch jetzt hört man nicht auf, dieselbe eine Revolution zu nennen, welche gleichsam der Quell aller nachfolgenden gewesen sey. Es ist nicht nöthig, hier den Begriff, welchen man mit diesem Worte zu verbinden allein berechtigt ist, genauer zu erörtern; von jeher hat man jede Veränderung, welche unrechtmäßiger Gewalt misfiel, mit diesem Namen bezeichnet, und die evangelische Kirche mag es sich immer gefallen lassen, wenn man ihr einen bösen Namen macht, wie die Pharisäer von dem Herrn selbst sagten: ,er wiegelt das Volk auf.‘ Aber die Geschichte dieser Protestation zeigt allein auf das unwidersprechlichste, daß die evangelische Kirche ganz auf dem Wege des Rechts, ja auf ganz verfassungsmäßigem Wege gegründet worden sey.“ (Tittmann S.1 f.)

Es kann hier nicht auf den Ablauf des Reichstages von 1529 eingegangen werden, bei dem es zur Vorlage der „Protestation“ als einer Beschwerdeschrift und Darlegung der Gründe kam, warum man dem Reichtagsabschied nicht beitreten könnte. In dieser „Protestation“ und Beschwerdeschrift spielt dabei die Berufung auf das Gewissen eine zentrale Rolle:

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„Protestiren und bedingen wir anfangs öffentlich vor Gott und männiglich, dem diese unsere Appellation und Beruffung zu lesen oder zu hören vorkommt, daß unser Wille, Gemüth und Meynung anders nicht stehet noch ist, dann allein die Ehre Gottes des Allmächtigen, seines heiligen Wortes, und unser, auch männigliches Seelen Seligkeit zu suchen, auch nichts anders dadurch zu handeln, dann was uns das Gewissen ausweiset und lehret, und dasjenige, so wir vor Gott dem Allmächtigen, sondern männigliches Verkleinerung, Schmähung oder Verachtung, zu thun schuldig, und billig thun.“ (Zitat bei Tittmann S. 34)

Mit all diesen Aussagen befinden wir uns ja in der Interpretation eines historischen Ereignisses, des Reichstags von 1529 und seiner Beschlüsse. Schon in dieser sehr verkürzten Darstellung wird aber deutlich, wie schon in der Interpretation der Geschichte die Frage nach Widerstand und Widerstandsrecht umstritten sein kann. Welcher politische Schritt oder Rechtsakt ist eigentlich als Widerstand zu bezeichnen? III. Die Diskussion des Widerstandsrechtes in den Religionskämpfen der Reformationszeit Die Ergebnisse des zweiten Reichstages zu Speyer 1529 und des folgenden Reichstages von Augsburg 1530, mit der Vorlage der evangelischen Bekenntnisschrift, des „Augsburger Bekenntnisses“, brachten in der Religionsfrage keine Ruhe. Die Auseinandersetzungen spitzten sich zu. Es kam zu blutigen Kämpfen, in denen auch die Frage des Widerstandsrechtes eine Rolle spielten. So ist in der Folge der Religionskämpfe Martin Luther von seinem ursprünglichen Festhalten an der unbedingten Gültigkeit von Römer 13 (in seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ 1523) abgerückt und hat den Fürsten ein Widerstandsrecht gegen den Kaiser, vor allem aus Gründen der „cura religionis“, zugebilligt. Nach dem Reichstag von 1555 und seiner erst einmal befriedenden Lösung (cuius regio, eius religio) ist die Diskussion um ein Widerstandsrecht im Luthertum zurückgegangen. Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass es eben schon auf die konkrete geschichtliche Situation ankommt, in der die Diskussion um Widerstand geführt wird. Interessant ist noch ein Blick auf die Diskussion bei den Reformierten in Frankreich. Grundsätzlich hat Calvin selbst das Recht auf Widerstand bestritten. In Auslegungen, die mit der Zahl der Auflagen immer erweitert wurden, hat er in seiner „Institutio“ dies begründet. Dennoch entsteht unter dem Druck der Verfolgung im reformierten Bereich eine neue Würdigung des Widerstandsbegriffes. Hier wird in einzelnen Schriften konsequent das Widerstandsrecht der verfolgten Reformierten formuliert. Theodor Beza beispielsweise hat in seiner Schrift „De jure magistratuum in subditos“, die unmittelbar nach den Massakern der Bartholomäusnacht entstanden ist, überwiegend mit juristischen Argumenten erläutert, wie die inferiores magistratus zum Widerstand gegen den tyrannischen Herrscher verpflichtet sind. Es ging ja in den Konfessionskämpfen in Frankreich nicht nur um Religionsfreiheit, sondern zugleich auch um die politische Macht. Gerade die stark juristisch orientierten Begründungen der calvinistischen „Monarchomachen“ erlaubten es dann der katholischen

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Theologie mit wörtlichen Anleihen eine Rechtfertigung zur Ermordung des zwar aus Gründen der Staatsraison katholisch gewordenen, aber evangelisch gesinnten Heinrich IV. zu liefern. Dies ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Schaffung von Begründungszusammenhängen für gewaltsamen Widerstand von den jeweils unterdrückten oder sich unterdrückt fühlenden Parteien wechselseitig auch gegeneinander gebraucht werden können. Nach den Religionskriegen ist die Diskussion über ein Widerstandsrecht deutlich zurück getreten. Die Einbettung des protestantischen Kirchenwesens in die staatliche oder städtische Ordnung, der Landesherr als Oberhaupt der evangelischen Kirche, ließ eine solche Diskussion nicht mehr zu. IV. Vom 17. Bis zum 19. Jahrhundert: Ruhe ist des Christen erste Pflicht In Folge der französischen Revolution ist es nicht zu einer grundlegenden Änderung in der politischen Ethik des Protestantismus gekommen, die doch – trotz der genannten Einschränkungen – im Absolutismus und in der Aufklärung eine grundsätzlich staatstreue Ethik war. Rechtliche Begründungen für einen Widerstand sind da nicht auszumachen. Und ist nicht die Widersprüchlichkeit der französischen Menschenrechtserklärung von 1791 selbst ein weiterer Beleg für die Schwierigkeit der rechtlichen Begründung des Widerstandes, wenn einerseits in Art. 2 die „résistance à l’oppression“ zu den Menschenrechten gezählt wird, andererseits der gesetzwidrige Widerstand unter Strafe gestellt wird. Immanuel Kants Sicht, dass in dem auf Gewaltenteilung beruhenden Rechtsstaat das Widerstandsrecht ein Widerspruch in sich ist, hat dann Theologen des 19. Jahrhunderts, wie etwa Schleiermacher, zu Gegnern eines Widerstandsrechtes gemacht. Und dies sei am Rande erwähnt, selbst der preußische Kulturkampf hat in der katholischen Kirche nicht zu einer neuen Diskussion über Widerstand geführt. Hier scheint im gesamten 19. Jahrhundert in der seltsamen Koalition von liberalem Konstitutionalismus und spätabsolutistischer Restauration eine durchgängige Ablehnung, bzw. Nichtbeachtung des Widerstandsrechtes vorherrschend zu sein. Für die ev. Theologie ist es kennzeichnend, dass noch in den beiden ersten Auflagen des großen theologischen Nachschlagewerkes „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ von 1909 – 1913 und 1927 – 1932 das Stichwort „Widerstand/Widerstandsrecht“ fehlt, ja nicht einmal im Gesamtregister vorkommt. So wenig ist die ev. Theologie gerüstet bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933. V. Das 20. Jahrhundert Was von Seiten evangelischer Theologen im 20. Jahrhundert als Widerstand verstanden und gelebt, ja auch erlitten wurde, wird exemplarisch an drei Persönlichkeiten aufgezeigt, die für eine bestimmte Zeit stehen. Damit wird zugleich auch zum

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Ausdruck gebracht, dass „Widerstand“ nicht einfach nur theoretisch durchdacht werden kann, sondern dass die Frage nach dem Widerstand ihre wirkliche Antwort nur aus dem gelebten Leben erhält. Es sind die gelebten Entscheidungen von einzelnen Menschen, die sie in ihrer Verantwortung tragen, die uns Fraglichkeit und menschliche Größe des Widerstandes zeigen. 1. Evangelischer Widerstand im Nationalsozialismus Es ist nicht verwunderlich, dass die Mehrheit der evangelischen Theologen und Kirchenführer erst einmal den „nationalen Aufbruch“ begrüßten. Es herrschte durchaus das Gefühl vor, dass mit diesem Aufbruch das kirchliche Leben eine Erneuerung erfahren könnte. Später, als die antikirchliche Haltung des Nationalsozialismus deutlich wurde, pflegten auch die Repräsentanten der Bekennenden Kirche zu betonen, dass sich ihr Kampf gegen die Eingriffe in Leben und Lehre der Kirche richteten und nicht als Widerstand gegen die nationalsozialistische Politik insgesamt zu verstehen sei. Vereinzelte Äußerungen oder Aktivitäten, die sich über den Bereich der Kirche hinaus, gegen staatliches Handeln richteten, blieben zumeist im Rahmen passiven Widerstandes oder des Wortprotestes (etwa der Protest von Bischof Theophil Wurm 1940 gegen die Euthanasie-Maßnahmen). Aber es gab auch schon früh sehr sensible Einschätzungen des politisch Notwendigen. Hierzu zähle ich auch den Aufsatz von Dietrich Bonhoeffer aus dem Jahre 1933 „Die Kirche vor der Judenfrage“, in dem er mit der Formulierung „dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“ Widerstand gegen staatliche Maßnahmen gegen die Juden umschreibt. In dem Aufsatz bleibt noch in der Schwebe, ob diese Situation 1933 schon gegeben ist. Der Aufsatz insgesamt gibt einen guten Einblick an einer konkreten Frage, wie evangelische Theologie bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten reagiert hat. Einerseits geht Bonhoeffer von der grundsätzlichen Trennung des staatlichen Handelns von dem, was Kirche zu sagen und zu tun hat, aus. Er betont zu Beginn seines Aufsatzes: „Zweifellos ist die reformatorische Kirche nicht dazu angehalten, dem Staat in sein spezifisch politisches Handeln direkt hineinzureden. Sie hat staatliche Gesetze weder zu loben noch zu tadeln, sie hat vielmehr den Staat als Erhaltungsordnung Gottes in der gottlosen Welt zu bejahen, sie hat sein – vom humanitären Gesichtspunkt aus gesehen: gutes oder schlechtes – Ordnungsschaffen anzuerkennen und zu verstehen als begründet in dem erhaltenden Willen Gottes mitten in der chaotischen Gottlosigkeit der Welt. Diese Beurteilung des staatlichen Handelns durch die Kirche steht jenseits jedes Moralismus und unterscheidet sich vom Humanitarismus jederlei Schattierung durch die Radikalität der Trennung des Ortes der frohen Botschaft und des Ortes des Gesetzes. Das staatliche Handeln bleibt frei vom kirchlichen Eingriff. Es gibt hier keine schulmeisterliche oder gekränkte Einrede der Kirche.“ (DBW XII, S. 350)

Dies alles klingt zuerst einmal, als ob in der konsequenten Trennung von Geistlich und Weltlich, in der konsequenten Durchführung der 2-Reiche-Lehre eine Einmischung der Kirche in staatliches Handeln nicht vorkommen dürfte. Doch Dietrich

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Bonhoeffer hat dies wohl doch nicht in dieser Konsequenz gemeint. Von der grundsätzlichen Frage aus, was Geschichte ist und wer Geschichte zu beurteilen hat, gibt er auch der Kirche ein Einspruchsrecht: „Die Geschichte wird nicht von der Kirche gemacht, sondern vom Staat; aber freilich nur die Kirche, die vom Kommen Gottes in die Geschichte zeugt, weiß, was Geschichte und daher auch, was der Staat ist. Und eben aus diesem Wissen heraus gibt sie allein Zeugnis von der Durchbrechung der Geschichte durch Gott in Christus und läßt den Staat weiter Geschichte machen.“ (DBW XII S. 350 f.)

Als eines der geschichtlichen Probleme mit dem der nationalsozialistische Staat fertig werden muss, sieht Bonhoeffer die „Judenfrage“. Hier sieht er vor allem die Einflussnahme der humanitären Verbände und „einzelner sich dazu aufgerufen wissender christlicher Männer“ gefragt. Auch eine Kirche, „die wesentlich als eine Kulturfunktion des Staates betrachtet wird“, hätte hier mit Einreden aufzufahren. Die „wahre Kirche Christ“ hat aber nur drei Möglichkeiten: Sie kann den Staat nur fragen, ob er wirklich Recht und Ordnung schafft. In der Judenfrage hält Bonhoeffer diese Anfrage in aller Deutlichkeit für notwendig (immerhin schon 1933!). Sie kann als zweites nur den Opfern staatlicher Ungerechtigkeit helfen. Und als drittes bleibt es, „dem Rad selbst in die Speichen zu fallen“. Diese Option hält D. Bonhoeffer 1933 noch offen. Er schreibt dazu: „Dieses dritte Handeln der Kirche, das gegebenenfalls in den Konflikt mit dem bestehenden Staat führt, ist nur der paradoxe Ausdruck ihrer letzten Anerkennung des Staates, ja die Kirche selbst weiß sich hier aufgerufen den Staat als Staat vor sich selbst zu schützen und zu erhalten. In der Judenfrage werden für die Kirche heute die beiden ersten Möglichkeiten verpflichtende Forderungen der Stunde. Die Notwendigkeit des unmittelbar politischen Handelns der Kirche hingegen ist jeweils von einem ,evangelischen Konzil‘ zu entscheiden und kann mithin nie vorher kasuistisch konstruiert werden.“ (DBW XII, S. 354)

Gerade in ihrer Ambivalenz zeigen trotz aller Konsequenz die Überlegungen von Dietrich Bonhoeffer, wie schwer sich evangelische Theologie in der Zeit des Nationalsozialismus mit der Frage des Widerstands tun musste. Bonhoeffer blieb ja nicht in den Überlegungen stehen. Er hat keine Ethik des Widerstandes entfaltet. Er ist einfach den Weg des Widerstandes gegangen, in den illegalen Predigerseminaren der Bekennenden Kirche, in seinem Anschluss an die Umsturzvorbereitungen in der militärischen Abwehr, in Gefangenschaft und Tod. Als nach dem Krieg 1951seine Aufzeichnungen aus der Haft veröffentlicht wurden, hat ihnen der Herausgeber Eberhard Bethge den schönen Titel „Widerstand und Ergebung“ gegeben. Wer in diesen Aufzeichnungen nach einer Lehre vom Widerstand sucht, sucht vergeblich. Das haben schon alleine die Haftbedingungen nicht zugelassen. „Widerstand und Ergebung“, das findet sich in diesen Texten ganz bezogen auf die Lebenssituation des Häftlings Dietrich Bonhoeffer. Zentral ist hierzu eine Stelle aus einem Brief vom 21. 2. 1944 an den Freund Eberhard Bethge, die vieles über „Widerstand“ sagt, aus der Zelle heraus, und über den Glauben und die rechte Zeit der Ergebung:

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„Ich habe mir hier oft Gedanken darüber gemacht, wo die Grenzen zwischen dem notwendigen Widerstand gegen das ,Schicksal‘ und der ebenso notwendigen Ergebung liegen. Der Don Quijote ist das Symbol für die Fortsetzung des Widerstands bis zum Widersinn, ja zum Wahnsinn – ähnlich Michael Kohlhaas, der über der Forderung nach seinem Recht zum Schuldigen wird – Du weißt, daß ich beim Lesen des Don Quijote oft an Klaus denken mußte! – der Widerstand verliert bei beiden letztlich seinen realen Sinn und verflüchtigt sich ins Theoretisch-Phantastische; der Sancho Pansa ist der Repräsentant des satten und schlauen Sichabfindens mit dem Gegebenen. Ich glaube, wir müssen das Große und Eigene wirklich unternehmen und doch zugleich das selbstverständlich – und allgemein-Notwendige tun, wir müssen dem ,Schicksal‘ – ich finde das ,Neutrum‘ dieses Begriffes wichtig – ebenso entschlossen entgegentreten wie uns ihm zu gegebener Zeit unterwerfen. … Die Grenzen zwischen Widerstand und Ergebung sind also prinzipiell nicht zu bestimmen; aber es muß beides da sein und beides mit Entschlossenheit ergriffen werden.“ (DBW 8, S. 333 f.)

In diesen Zusammenhang gehört das Gedicht, das Dietrich Bonhoeffer nach dem Scheitern des 20. Juli 1944 in der Zelle verfasst hat und dem Freund Eberhard Bethge zu dessen Geburtstag am 14. 8. 1944 übersandt hat: Stationen auf dem Wege zur Freiheit Zucht. Ziehst du aus, die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem Zucht der Sinne und deiner Seele, daß die Begierden und deine Glieder dich nicht bald hierhin, bald dorthin führen. Keusch sei dein Geist und dein Leib, gänzlich dir selbst unterworfen, und gehorsam das Ziel zu suchen, das ihm gesetzt ist. Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sei denn durch Zucht. Tat. Nicht das Beliebige, sondern das Rechte tun und wagen, nicht im Möglichen schweben, das Wirkliche tapfer ergreifen, nicht in der Flucht der Gedanken, allein in der Tat ist die Freiheit. Tritt aus ängstlichem Zögern heraus in den Sturm des Geschehens nur von Gottes Gebot und deinem Glauben getragen, und die Freiheit wird deinen Geist jauchzend umfangen. Leiden. Wunderbare Verwandlung. Die starken tätigen Hände Sind dir gebunden. Ohnmächtig einsam siehst du das Ende Deiner Tat. Doch atmest du auf und legst das Rechte Still und getrost in stärkere Hand und gibst dich zufrieden. Nur einen Augenblick berührtest du selig die Freiheit Dann übergibst du sie Gott, damit er sie herrlich vollende. Tod. Komm nun, höchstes Fest auf dem Weg zur ewigen Freiheit, Tod, leg nieder beschwerliche Ketten und Mauern Unsres vergänglichen Leibes und unsrer verblendeten Seele, daß wir endlich erblicken, was hier uns zu sehen mißgönnt ist.

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Freiheit, dich suchten wir lange in Zucht und in Tat und in Leiden. Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst.

Mit der Folie dieses Gedichtes ließe sich Bonhoeffers Leben und Sterben in seinen einzelnen Stationen darstellen. Das kann hier nicht ausgeführt werden. Aber sein Leben und Sterben ist eine der wesentlichen Geschichten evangelischen Widerstandes im Nationalsozialismus. Für die Diskussion um das Verständnis von Widerstand aus evangelischer Sicht ist dies nicht ohne Wirkung geblieben, wie das überhaupt für die Diskussion um das Widerstandsrecht in der Bundesrepublik galt. Ob das inzwischen auch noch gilt oder sind uns diese Zeiten so fern gerückt und ist das Leben im demokratischen Rechtsstaat so selbstverständlich geworden, dass die Erinnerung an den Nationalsozialismus nur noch Erinnerung an undenkbare Zeiten ist? 2. Die evangelische Diskussion um den Begriff der „Obrigkeit“ Noch kurz nachgezeichnet werden muss die Diskussion um das Widerstandsrecht im Blick auf die DDR und die Diskussion der 68-er Bewegung. 1959 erregte die kleine Schrift „Obrigkeit?“ des damaligen Berliner Bischofs Otto Dibelius große Aufmerksamkeit. Es ging um die Auslegung von Römer 13 und für den Bischof der gespaltenen Stadt um eine Beurteilung des DDR-Regimes. Die Schrift selbst war ein ursprünglich nur als Privatdruck gedachter Glückwunsch zum 60. Geburtstag an Landesbischof Hans Lilje. Darin stellte er die Frage, ob der Jubilar nicht eine neue Interpretation des Begriffs der „Obrigkeit“ geben könnte, die einleuchtender wäre, als der alte, von Luther geprägte Begriff. Zuerst gibt Dibelius, und das wurde bisweilen in der späteren Diskussion übersehen, zu bedenken, ob in der parlamentarischen Demokratie die Aussagen von Römer 13 überhaupt noch ihr Recht haben. Denn für Personen, die sich in einer parlamentarischen Demokratie in der Minderheit befinden, gehört es geradezu zu ihrem Recht, auf den Sturz der derzeitigen Inhaber der politischen Macht hinzuarbeiten. Und da gilt es zu fragen: „Wie aber kann jemand, auf dessen Sturz ich hinarbeite, für mich Autorität sein?“ (Dokumente zur Frage der Obrigkeit, S. 26)

Oder Dibelius trifft die Feststellung: „Der Regierende Bürgermeister von Berlin, wenn er zu einer anderen Partei gehört als ich, kann für mich nicht in dem Sinne Autorität sein, wie es für Martin Luther der Kanzler Brück war und der Kurfürst, der hinter seinem Kanzler stand.“ (Dokumente zur Frage der Obrigkeit S. 26)

Schon an dieser Stelle kann man mit Recht fragen, ob Otto Dibelius der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik gerecht wird. Hier hatte die politische Ethik des Protestantismus in den 50er Jahren durchaus schon zu ganz anderen positiven Formulierungen gefunden. Auch wenn etwa der evangelische Theologe Wolfgang Trillhaas noch 1956 formulieren konnte,

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„daß bis zur Stunde die Demokratie für sie (die politische Ethik der lutherischen Theologie) das eigentlich unbewältigte Thema darstellt.“ (Zitat nach H. Gollwitzer, Bürger und Untertan, S. 152)

Besonders angegriffen wurde Dibelius, weil er gleichzeitig zur Kenntnis gab, dass er den Begriff der Obrigkeit im Sinne von Römer 13 nicht auf die Machthaber des „totalen Staates“, zu dem für ihn auch die DDR gehörte, anwenden möchte. Er formuliert: „Machthaber eines totalitären Regimes als ,Obrigkeit‘ zu bezeichnen, wäre ein Hohn auf die deutsche Sprache. Es wäre vor allem – und darauf muß es den Theologen ankommen – etwas völlig anderes, als was Paulus Römer 13 hat sagen wollen.“ (Dokumente zur Frage der Obrigkeit S. 30)

Im totalitären Staat ist vom Christen Gehorsam nicht mehr verlangt, er kann, ohne dass er sich schuldig fühlen muss, die Gesetze übertreten. Unglücklicherweise hat Dibelius dies ausgerechnet an der Frage der Übertretung der Geschwindigkeitsbeschränkung im Verkehr exemplifiziert. Das hat seiner Argumentation bei seinen kirchenpolitischen Gegnern eine erhebliche Angriffsfläche geboten. Schließlich schlug Dibelius, auch wenn er dies selbst als stümperhaft empfand, als Übersetzung anstelle des Begriffs der „Obrigkeit“ in Römer 13 „rechtmäßige Gewalt“ vor. Der Anfang von Römer 13 könnte nach ihm dann lauten: „Rechtmäßige Gewalt soll bei jedermann Gehorsam finden.“ (Dokumente zur Frage der Obrigkeit, S. 31 a)

Es gab nach dem Bekanntwerden dieser Schrift erhebliche Auseinandersetzungen in der Berlin-Brandenburgischen Kirche, die ja als westliche (West-Berlin) und östliche (Ost-Berlin und Brandenburg) Region eine Kirche bildete. Die Auseinandersetzung reichte natürlich auch in die EKD hinein. Es ist dabei erstaunlich, wie gerade der theologische Flügel, der aus der Bekennenden Kirche kam, Otto Dibelius heftig widersprach. Dabei verhinderten letztlich die politischen Implikationen des Kalten Krieges, dass eine wirklich offene Sachdiskussion geführt werden konnte. Wie sollte dies auch möglich sein, da natürlich jede kirchliche Stellungnahme in die Auseinandersetzungen des Kalten Krieges hinein geriet. Damit konnte man auch kaum der Lage der Christen in der DDR gerecht werden. Oftmals wurde in der Auseinandersetzung die Situation des kleinen Landpfarrers in der DDR genannt, dem mit diesen Äußerungen nun auch der letzte Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Nach den Auseinandersetzung hat Otto Dibelius schließlich 1963 seine Schrift „Obrigkeit“ veröffentlicht, die wesentlich moderater und überlegter, aber doch grundsätzlich an der Überzeugung festhält: „Wir müssen es ablehnen, irgend einem totalitären System die Anerkennung zuteil werden zu lassen, daß es im Sinne von Römer 13 ,von Gott’ sei.“ (Dibelius, Obrigkeit, S. 100)

Beim Erscheinen dieser Schrift war eigentlich der Streit schon ausgestanden und vorübergegangen. Neue Entwicklungen standen ins Haus, mit neuen Fronten.

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3. Neue Diskussionen nach 1968 1962 finden wir bei Helmut Gollwitzer in einem überarbeiteten Vortrag aus dem Jahre 1956 in einer Anmerkung eines der ersten Zitate des Wortes „außerparlamentarische Demokratie“. Bevor Jahre später mit dem Begriff der „außerparlamentarischen Opposition“ die Studentenbewegung oder der Protest gegen die große Koalition identifiziert wurden, hat H. Gollwitzer eine ähnliche Umschreibung als bewusste Erweiterung und Abstützung der parlamentarischen Demokratie gebraucht. Für ihn sind die Meinungsfreiheit und die Presse- und Versammlungsfreiheit notwendige Urforderungen der Demokratie. Daraus folgert er: „Deshalb war das Ermächtigungsgesetz 1933 ein Selbstmord der Demokratie, und es hätte, nachdem es das Grundrecht der Meinungsfreiheit aufhob, nicht mit dem Trost, daß doch Reichstag und vierjährige Wahlperiode bleiben, verharmlost werden dürfen; die Folge hat bewiesen, daß das Betrug und Selbstbetrug war.“ (H. Gollwitzer, Bürger und Untertan, S. 162)

Als Anmerkung dazu führt er an: „Wie unzulänglich diese Zusammenhänge in das Bewußtsein auch unserer führenden Politiker in Deutschland eingegangen sind, zeigte sich an der entrüsteten Reaktion einiger von ihnen auf die Proteste akademischer Kreise gegen die Ernennung des niedersächsischen Kultusminister Schlüter im Mai 1955 und kurz vorher gegen den Aufruf der Paulskirchenkundgebung zu öffentlichen Stellungnahmen gegen die Ratifizierung der Pariser Verträge. Einen ,Appell an die Straße‘ konnte das nur nennen, wer die Machtübertragung als vollständige Machtabgabe durch das Volk verstand, d. h. an die Stelle des Prinzips der Demokratie das Prinzip des früheren Obrigkeitsstaates (,Ruhe ist die erste Bürgerpflicht‘) setzte – wer also nicht verstanden hat, daß ohne die außerparlamentarische Demokratie auch die parlamentarische gar nicht möglich ist.“ (Ebd. S. 162)

Nun war Gollwitzer selbst in der Paulskirchenbewegung engagiert und in den 50er Jahren ein entschiedener Gegner der atomaren Rüstung. In seinem berühmt gewordenen Buch über seine Erfahrungen aus der Kriegsgefangenschaft „Und führen, wohin du nicht willst“ hatte er sich noch als harter Kritiker des Sowjetkommunismus erwiesen. Und 1951 hatte er formuliert: „Als säkularisiertes Evangelium, aber mit dem Anspruch eines Evangeliums auftretend, mußte er (der Marxismus) notwendig, statt sie (die Menschenwürde) allen zu verschaffen, den Weg zum totalitären System des technischen Massenmenschen führen, in dem der Mensch seine Würde für Sicherheit eintauscht, um beides zu verlieren. Menschenwürde ist weder etwas selbstverständlich Gegebenes, noch erst in einer späteren Gesellschaftsordnung Erreichbares, sondern begründet allein in der Beziehung des Menschen zu Gott und erhaltbar stets nur im Widerstand gegen die entmenschlichenden Tendenzen des Soziallebens, das immer dazu drängt, den Menschen als Mittel zum Zweck anzusehen. Dieser Widerstand findet seine letzte, unerschütterliche Begründung nur in der durch das Evangelium geschehenden Bindung des Menschen an Gott und geschieht durch sie.“ (Forderungen der Freiheit, S. 145)

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In der Folge der Jahre nach 1968 veränderte sich Gollwitzers Haltung zum Sozialismus. Das muss hier nicht vertieft werden. Seine Nähe zur Studentenbewegung, für die er dann teilweise auch zum Idol wurde, hat hierbei sicher mitgewirkt. Es war aber ja auch der Versuch ein Erklärungsmuster für die immer komplizierter werdenden weltweiten wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge zu finden. Man kann hier nur mit einiger Betroffenheit etwa seine Ausführungen in „Dank an Karl Marx“ zu einer „menschenwürdigeren Zukunft“ aus dem Jahre 1983 (zu Karl Marx 100. Todestag) lesen. Hier wird in den gängigen marxistischen Kategorien der zwangsläufige Weg zur planetarischen Revolution beschrieben und am Schluss festgehalten: „So erfolgt die Revolution zur Überwindung des Kapitalismus. So erfolgt sie, wenn sie erfolgt. Daß sie erfolgt, davon hängt das Überleben der Menschheit ab, d. h. das Überleben in eine menschenwürdige Zukunft hinein, in die sozialistische Gesellschaft, und nicht in die Barbarei, um das prophetische Wort Rosa Luxemburgs zu erwähnen, das durch die Barbarei unseres Jahrhunderts so furchtbar bestätigt worden ist. Daß sie erfolgt, wird damit zur Aufgabe jedes einzelnen. Wer sich an diese Aufgabe macht, wird des Mannes, der uns dafür mit unentbehrlichem Rüstzeug versehen hat, an seinem 100. Todestag dankbar gedenken.“ (Ausgewählte Werke, Band 6, S. 274)

Die Studentenbewegung, die Veränderungen im gesellschaftlichen Miteinander, aber auch Anfragen aus der Ökumene mussten auch in der EKD zu neuen gemeinsamen Formulierungen führen. Es sind die grundsätzlichen Stellungnahmen und Denkschriften, in denen sich in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsame Verständigung in der EKD niederschlägt. Für unsere Fragestellung in der Zeit nach 1968 sind es besonders zwei solcher Stellungnahmen, die für unser Thema von Bedeutung sind. Da ist zum einen die Thesenreihe „Gewalt und Gewaltanwendung in der Gesellschaft“ aus dem Jahre 1973. Diese Thesenreihe wurde erarbeitet von der Kammer für öffentliche Verantwortung unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Roman Herzog, damals Staatssekretär. Anlass für diese Thesenreihe war sowohl die Gewaltbereitschaft im Zuge der Studentenbewegung wie aber besonders die aus der Ökumene gestellte Frage, ob und wie sich Christen an innerstaatlichen Konflikte wie „Bürgerkriegen“, „Revolutionen“ oder „Befreiungskriegen“ beteiligen dürften. Die Anfragen kamen teilweise mit dem Anti-Rassismus-Programm des ÖRK auf den Tisch. In der ersten These geht es um den Einfluss unterschiedlicher Verhältnisse auf die Frage der Gewaltanwendung. Hier stellt die Kammer unmissverständlich fest: „Die unterschiedliche gesellschaftliche und staatliche Situation läßt es weitgehend nicht zu, über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Gewaltanwendung für jede Gesellchaft und jeden Staat in gleicher Weise und vor allem mit gleichem Ergebnis zu urteilen. In einer ,offenen Gesellschaft‘, wie sie z. B. in der Bundesrepublik Deutschland besteht, stellt sich die Frage der Gewaltanwendung prinzipiell anders als in diktatorisch regierten und freiheitlichrechtsstaatliche Grundsätze prinzipiell mißachtenden Ländern.“

Mit dieser Klarstellung schon zu Beginn der Thesen zeigt es sich, dass die Frage der Gewaltanwendung sich nicht in der Bundesrepublik stellen kann, sondern doch

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weitgehend nur im Blick auf Gesellschaften insbesondere der „Dritten Welt“ diskutiert werden muss. Über die Notwehrthematik (These 2) und die Darstellung von struktureller Gewalt (These 3) kommt es zur Darstellung der Problematik gesellschaftlicher Notwehr als gewaltsamer Gegenwehr gegen institutionalisierte Unterdrückung (These 4). Es folgt dann die Erläuterung des staatlichen Gewaltmonopols (These 5), die verschiedenen Formen des Widerstandes werden aufgezählt (These 6), die Beziehung des Widerstandrechtes auf die Menschenrechte wird dargestellt (These 7) und nach einer besonderen Würdigung des gewaltfreien Widerstandes (These 8) und dem Hinweis auf die Gefahren der Gewaltanwendung im Widerstand (These 9) formuliert These 10 „die Bedingungen für die ausnahmsweise Anwendung von Gegengewalt“: „Gewaltanwendung setzt wegen ihrer prinzipiellen Gefährlichkeit voraus, daß ohne sie eine Änderung unmenschlicher Lebensumstände ausgeschlossen ist. Sie kann also erst dann ernstlich in Betracht gezogen werden, wenn alle anderen Wege zur Besserung der Verhältnisse versagt haben oder doch völlig aussichtslos sind. Selbst dann müssen noch weitere Bedingungen erfüllt sein: Es muß ein realisierbares Konzept einer neuen funktionsfähigen Ordnung vorhanden sein, die die bekämpfte alte Ordnung ersetzen kann. Die angestrebte Ordnung muß ihrerseits am Gedanken der Menschenrechte ausgerichtet sein und auch den bisherigen Unterdrückern Lebensraum gewähren. Die Gewaltanwendung muß ein erfolgversprechendes Mittel zu dem festumrissenen Zweck sein, eine bestehende gewaltsame Unterdrückung in überschaubarer Zeit zu beseitigen.“

These 11 formuliert die zwangsläufige Schuldverstrickung durch Gewaltanwendung. These 12 hält zum Schluss die dennoch geltende Verpflichtung des Christen auf Versöhnung und Nächstenliebe fest. Die Thesen, die nicht den Charakter einer Denkschrift haben, erteilen für die Bundesrepublik einem gewaltsamen Widerstand eine grundsätzliche Absage. Sie haben aber für die Teilhabe von Christen an gewaltsamen Veränderungsprozessen in diktatorischen und unmenschlichen Verhältnissen eine Möglichkeit eröffnet. 4. Die Demokratie-Denkschrift der EKD von 1985 Eine Beschreibung der Demokratie und ihrer Akzeptanz hat die EKD erst im Jahre 1985 gegeben, in der Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“. Auch diese Denkschrift wurde von der Kammer für öffentliche Verantwortung erarbeitet, unter Vorsitz des Theologen Trutz Rendtorff, dann aber auch vom Rat der EKD als Denkschrift verabschiedet. Diese Denkschrift ist eine sehr engagierte Darstellung eines demokratischen Gemeinwesens, seiner Chancen, aber auch seiner Gefährdungen. Bis heute ist sie für die Formulierung des politischen Engagements von evangelischen Christen und der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik unverzichtbar, wenn auch zu wenig bekannt. Auch zu Fragen des Widerstandes äußert sich die Denkschrift und kann dazu ja auch auf die Grundgesetzänderung verweisen. Zwei Absätze seien hier zitiert, die am

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besten wiedergeben, was der derzeitige Stand zur Frage von Widerstand in der evangelischen Kirche ist: „Die politische Auseinandersetzung einschließlich der Kritik an der Regierung ist in der Demokratie ein konstruktives Element des politischen Lebens. Die Ablösung der Regierung gehört zur politischen Normalität. Jede politische Gruppe darf um öffentliche Zustimmung werben und hat die Chance, durch Ablösung der Regierung selbst die Macht zu gewinnen. Aus diesem Grunde hat das Widerstandsrecht in einem demokratischen Rechtsstaat eine andere Bedeutung als in anderen Staatsformen. Die Demokratie stellt vielfältige Möglichkeiten bereit, Veränderungen im Namen der Vernunft und des Rechtes durchzusetzen. Aus dieser Eigenart ergibt sich ein Recht zum Widerstand nur gegen den, der es unternimmt, die Ordnung des Grundgesetzes zu beseitigen, sofern eine andere Abhilfe nicht möglich ist (Art.20 Abs.4 GG) Dies ist ein Widerstandsrecht zugunsten der Ordnung des Grundgesetzes, nicht gegen sie.“ (S. 21)

Neben diesen grundsätzlichen Ausführungen zum Widerstand im demokratischen Gemeinwesen, wird noch eingegangen auf das Widerstehen gegen einzelne politische Entscheidungen: „Eine andere Frage ist das Widerstehen des Bürgers gegen einzelne gewichtige Entscheidungen staatlicher Organe, wenn der Bürger die Entscheidung für verhängnisvoll und trotz formaler Legitimität für ethisch illegitim hält. Wer nur eine einzelne politische Sachentscheidung des Parlaments oder der Regierung bekämpft, will damit nicht das ganze System des freiheitlichen Rechtsstaats in Gefahr bringen. Sieht jemand grundlegende Rechte aller schwerwiegend verletzt und veranschlagt dies höher als eine begrenzte Verletzung der staatlichen Ordnung, so muß er bereit sein, die rechtlichen Konsequenzen zu tragen. Es handelt sich dabei nicht um Widerstand, sondern um demonstrative, zeichenhafte Handlungen, die bis zu Rechtsverstößen gehen können. Die Ernsthaftigkeit und Herausforderung, die in solchen Verstößen liegt, kann nicht einfach durch den Hinweis auf die Legalität und Legitimität des parlamentarischen Regierungssystems und seiner Mehrheitsentscheidungen abgetan werden. Zum freiheitlichen Charakter einer Demokratie gehört es, daß die Gewissensbedenken und Gewissensentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger gewürdigt und geachtet werden. Auch wenn sie rechtswidrig sind und den dafür vorgesehenen Sanktionen unterliegen, müssen sie als Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernstgenommen werden.“ (S. 21 f.)

Mit diesen Ausführungen sind wir beim aktuellen Stand gegenwärtiger Diskussion in der EKD. Auch der frühere Ratsvorsitzende der EKD, Wolfgang Huber, der einst selbst bei der Erarbeitung der Denkschrift beteiligt war, hat sich in späteren Stellungnahmen immer wieder darauf bezogen. 5. Die Rolle der Evangelischen Kirche in der Protestbewegung am Ende der DDR Es ist immer wieder und mit Recht betont worden, dass der evangelischen Kirche in der Protestbewegung des Jahres 1989 in der DDR eine wesentliche Rolle zukam. Schon in den Jahren zuvor wurden in der Evangelischen Kirche und ihren Gruppen kritische Themen diskutiert und kam es zu öffentlichen Aktionen. Am bekanntesten

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ist die Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ in den 80er Jahren geworden. Der Hauptinitiator dieser Aktivität, der damalige sächsische Landesjugendpfarrer Harald Brettschneider, wird gerade auch dafür am 31. Oktober 2011 mit der Martin-Luther-Medaille der EKD ausgezeichnet. Aber nicht nur Friedensfragen, auch Themen der Ökologie waren in den Gruppen der Evangelischen Kirche in der DDR kritische Themen. Und schließlich führten auch grundsätzliche Reformanfragen und schließlich die Kommunalwahlen als Protestthema im Jahre 1989 zu den wachsenden Friedensgebeten und Demonstrationen, für die weitgehend die Kirchenräume einen Platz boten und bei denen Pfarrerinnen und Pfarrer und andere Mitarbeitende der Kirche wesentliche Aufgaben wahrnahmen. Eine gute Zusammenfassung dieser letzten Phase der DDR bietet Rudolf Mau in seinem Abriss der Kirchengeschichte „Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945 – 1990)“. Die große Bedeutung des Protestantismus für die friedliche Revolution in der DDR kann gar nicht überschätzt werden. Es ist aber auch hier die historische Wertung noch nicht grundlegend erfolgt. Was bedeutet das Verhalten der evangelischen Christen in dieser Protestbewegung für das Verständnis von Widerstand aus evangelischer Sicht? Zumindest das Bemühen um Gewaltfreiheit ist eine der deutlichen Signaturen. Das galt für die Protestierenden selbst, aber das Bemühen um Gewaltfreiheit spielte gerade in den Gesprächen mit den Machthabern eine wichtige Rolle. Dass dies im Wesentlichen gelungen ist, ist ein Wunder der Geschichte, das natürlich auch eingebettet ist in die gesamte politische Lage zwischen Ost und West am Ende der 80er Jahre. VI. Zusammenfassung Nach dem historischen Überblick kann in systematischer Weise folgendes gesagt werden: Es hat sich gezeigt, dass das Verständnis von Widerstand doch immer geprägt ist durch die jeweilige gesellschaftliche Situation. Im neuen Testament und in der frühen Kirche war der passive Widerstand als Ungehorsam gegen den Staat, der den Abfall vom Glauben wollte, regelrecht als Pflicht des Christen gesehen worden. (clausula Petri: Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen) Dies galt auch gegenüber den Forderungen von Römer 13! Dennoch hat sich auch die Ordnungsvorstellung von Römer 13 in der Theologie deutlich niedergeschlagen und wirkte über das Mittelalter und die Reformation bis in die Theologie des 19. Jahrhunderts. Die neuzeitliche Theologie ist zum einen in dieser Fragestellung geprägt durch die Erfahrungen im Nationalsozialismus, zum andern musste sich erst ein rechtes Verhältnis zur Demokratie herausbilden. Das war insbesondere in der Nachkriegsgeneration nicht selbstverständlich. (Vgl. Otto Dibelius)

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In den Auseinandersetzungen mit den Studentenunruhen und den Befreiungskämpfen in der „Dritten Welt“ bildete sich dann in der EKD ein neues und klares Bild der Zustimmung zur Demokratie, wie es seinen Niederschlag in der Denkschrift von 1985 findet. Hier finden sich dann auch Aussagen, die bis heute tragfähig für die politische Auseinandersetzung auch in Einzelfragen und Protesten sind. Mit der „friedlichen Revolution“ in der DDR 1989 haben evangelische Christen gezeigt, wie ein ganzes politisches System verändert werden kann, ohne dass der Protest und Widerstand zur Gewalt führen muss. Für die vielen politischen Veränderungen in der Welt sollte dies auch immer ein Lernfeld sein, auf das wir als evangelische Kirche durchaus stolz sein können. Literatur Beza, Theodor, De iure magistratuum, Neukirchen-Vluyn 1965 Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung, in: DBW 8, Gütersloh 1998 – Die Kirche vor der Judenfrage, in: DBW 12, Gütersloh 1997, S. 349 – 358 Dibelius, Otto, Obrigkeit, Stuttgart 1963 Die Speyerer Protestationsgedächtnisfeier 1529 – 1929, Speyer 1929 Dokumente zur Frage der Obrigkeit, Darmstadt 1960 Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, Gütersloh 1985 Gewalt und Gewaltanwendung, in: Die Denkschriften der Evangelischen Kirche, Band1/2, Gütersloh 1978, S. 61 – 86 Gollwitzer, Helmut, Bürger und Untertan in Politik und Ethik, Damstadt 1969 – Forderungen der Freiheit, München 1964 (2. Auflage) – Ausgewählte Werke, München 1988 Huber, Wolfgang, Gerechtigkeit und Recht, Gütersloh 2006 (3.überarbeitete Aufl.) Käsemann, Ernst, An die Römer, Tübingen 1974 (2. durchgesehene Aufl.) – Grundsätzliches zur Interpretation von Römer 13, in: Exegetische Versuche und Besinnungen, Zweiter Band, Göttingen 1964, S. 204 – 222 Mau, Rudolf, Der Protestantismus im Osten Deutschlands (1945 – 1990), Leipzig 2005 Miethke, Jürgen/Strohm, Christoph/Reuter, Hans-Richard, Artikel „Widerstand“, in: TRE, Band 35, Berlin 2003, S. 739 – 774 Schmude, Jürgen, Artikel „Widerstandsrecht“, in: Evangelisches Staatslexikon, Spalte 3981 – 3993, Stuttgart 1987 (3.neu bearbeitete Auflage) Tittmann, Johann August Heinrich, Die Protestation der evangelischen Stände auf dem Reichstage zu Speyer im Jahre 1529, Leipzig 1829

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Eberhard Cherdron Von Matthias Strunk Prof. Dr. Albert Janssen eröffnete die Diskussion mit einem Dank an den Referenten. Prof. Dr. Joachim Linck erkundigte sich nach dem konkreten Widerstandsrecht in der heutigen Zeit. Insbesondere in den ostdeutschen Ländern bestehe ein besonderes Problem in den Demonstrationen der NPD, die dort in höherem Maße stattfänden als in den westdeutschen Ländern und gegen die unter anderem einzelne Pfarrer zur Blockade aufrufen würden. Diese Blockaden seien rechtswidrig und würden von evangelischen Pfarrern und der Kirche dadurch versucht zu legitimieren, dass sie friedliche Veranstaltungen wären. Die Demonstrationen der NPD seien jedoch rechtmäßig und die Politik gehe nicht den Schritt, die NPD zu verbieten. Linck formulierte daher die provokante These, dass diese Pfarrer nicht die demokratisch gesetzten Normen dieses Staates akzeptieren und stattdessen eine höhere Legitimation beanspruchen würden. Cherdron verwies zunächst auf die von ihm genannte Denkschrift von 1985, die diese Fragestellung aufgreife und den Fall erörtere, dass Bürger einzelne gewichtige und von staatlichen Organen getroffene Entscheidungen – zu denen auch die Zulassung einer Demonstration zähle – für verhängnisvoll oder trotz formaler Legitimität für illegitim halten würden. In einem solchen Fall müsse eine begrenzte Verletzung der staatlichen Ordnung wie Sitzblockaden u. ä. akzeptiert werden und auch ein Christ könne diese Möglichkeit nutzen. Solche Aktionen seien moralisch gerechtfertigt, gleichwohl in Kauf genommen werden müsse, dass beim Rechtsverstoß die entsprechende Ahndung erfolge. Die evangelische Kirche würde sich dabei nicht für die Aussetzung einer Strafverfolgung einsetzen, wenn eine Blockade rechtswidrig sei. Die Strafverfolgung des Staates gegen rechtswidrige Akte müsse akzeptiert werden, auch wenn das eigene Gewissen diese Akte befürworte. Zum freiheitlichen Charakter einer Demokratie gehöre es, ob wir damit übereinstimmen würden, dass Gewissensbedenken und -entscheidungen der Bürgerinnen und Bürger gewürdigt und geachtet werden, auch wenn sie rechtswidrig seien und den dafür vorgesehenen Sanktionen unterliegen würden. Er habe daher Verständnis für Bürger, die eine rechtswidrige Aktion gegen eine Demonstration der NPD ausführen, weil sie dies für richtig halten würden. Solche begrenzten Gewissensentscheidungen seien Bestandteil des freiheitlichen Rechtsstaats und der freiheitlichen Demokratie und würden dabei auch dazu beitragen, ob sich unter Umständen politische Meinungsbildung am Ende verändere.

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Es sei dabei die eigene Entscheidung eines Pfarrers, wenn er sage, sein Gewissen verlange dies von ihm, und auch die clausula petri „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ könne man dafür heranziehen. Die Kirche würde sich dennoch an dieser Stelle nicht für Sanktionsfreiheit aussprechen. Per Lennart Aae stellte in Bezug auf die Wortmeldung von Linck die Frage, ob es nicht eine Perversion des Widerstandsgedankens sei, wenn man Widerstand gegen andere Meinungen leiste. Widerstand im Kontext der stattfindenden Diskussion sei doch eigentlich Widerstand gegen die Obrigkeit. In einer Situation, in der weder geistige Auseinandersetzung noch ein anderes Mittel möglich seien und wo kein legaler Weg begehbar sei, könne man unter bestimmten Umständen Widerstand z. B. durch zivilen Ungehorsam gegen die Obrigkeit leisten. Linck spreche dagegen von Widerstand gegen eine kleine Minderheit, die das Recht in Anspruch nehme, in der Öffentlichkeit aufzutreten und ihre Meinung kundzutun. Cherdron antwortete, dass dies letztendlich eine Frage der Demonstration und auch der Veränderungen im Sinne eines zivilen Ungehorsams von Demonstration sei, da unterschiedliche politische Kräfte wirken würden. Es sei klar, dass es nicht erlaubt sei, strafrechtliche Aktionen durchzuführen und diese zu legitimieren versucht würden. Hier bewege man sich gegebenenfalls in einem politischen Feld der Auseinandersetzungen mit Demonstration und Gegendemonstration. Ob man dafür den Begriff des Widerstands oder die Frage der Demonstrationsfreiheit und der Auswirkungen anwende, sei eine ganz andere Frage. Er sei dabei nicht unbedingt geneigt zu sagen, das gehöre direkt mit in den Widerstandsbegriff hinein.

Gegen die Diskriminierung der Frau – Der Kampf für die Emanzipation Widerstand im Kontext des Kampfs um das Frauenstimmrecht Von Nadja Braun Binder I. Einleitung Das weite Feld ,Frauenbewegung‘ resp. ,Kampf um die Rechte der Frauen‘, hat einen markanten Dreh- und Angelpunkt. Für viele Aktivistinnen der Frauenbewegungen des letzten Jahrhunderts, aber auch für heutige Historikerinnen, war die Erlangung des Frauenstimmrechts unabdingbarer Ausgangspunkt für die Emanzipation der Frauen in allen Bereichen. Es wird gleichsam als Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für die Gleichstellung der Geschlechter verstanden. Diesem in faktisch allen Ländern hart erkämpften Frauenstimmrecht widmet sich dieser Beitrag. Mit der Forderung nach verbindlicher politischer Mitbestimmung stießen die Frauen auf heftigen Widerstand – und übten ihrerseits heftigen Widerstand aus. Im Folgenden werden, nach einem Überblick über die Einführung des Frauenstimmrechts weltweit, die verschiedenen Formen von Widerstand im Kontext des Kampfs um das Frauenstimmrecht rekonstruiert und in ein Schema gebracht. Im Anschluss daran wird die Frage diskutiert, welche Aktionen erfolgreich waren. II. Einführung des Frauenstimmrechts weltweit Die Einführung des aktiven und passiven Frauenstimmrechts weltweit erstreckt sich über einen Zeitraum von über 100 Jahren. Den Startschuss setzte Neuseeland 1893, 91 Jahre später erhielten die Frauen in Liechtenstein das Stimmrecht, 2005 wurde das Frauenstimmrecht in Kuwait eingeführt. Die nachfolgende, nicht abschließende Auflistung führt die Jahre auf, in denen das uneingeschränkte Frauenstimmrecht auf Landesebene beschlossen wurde1:

1 Auf gliedstaatlicher Ebene wurde das Frauenstimmrecht teilweise schon viel früher gewährt: in den USA galt bspw. in New Jersey von 1776 bis 1807 ein Zensus-Frauenstimmrecht, 1870 wurde das Frauenstimmrecht in Utah und 1893 in Colorado eingeführt.

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1893 Cookinseln, Neuseeland (aktives Wahlrecht)

1951 Antigua, Barbados, Dominica, Grenada, St. Lucia, andere karibische Inseln, Sierra Leone

1902 Australien (ohne Aborigines)

1952 Bolivien, Griechenland

1906 Finnland

1953 Libanon, Mexiko

1913 Norwegen

1954 Belize, Ghana

1915 Dänemark

1955 Äthiopien, Honduras, Malaysia, Nicaragua, Peru

1917 Estland, Lettland, Litauen, Russland

1956 Ägypten

1918 Österreich, Tschechoslowakei, Deutschland, Luxemburg, Polen

1957 Kolumbien, Singapur

1919 Niederlande, Schweden, Neuseeland (passives Wahlrecht resp. 1941)

1958 Irak, Mauritius, Paraguay, Tansania

1920 USA, Island

1959 Nepal

1922 Irland

1960 Zentralafrikanische Republik, Zypern, Gambia, Kanada

1924 Mongolei

1961 Rwanda, Somalia

1928 Großbritannien

1962 Australien (Aborigines), Bahamas, Monaco

1930 Türkei

1963 Iran, Mozambique

1931 Spanien (später wieder entzogen), Sri Lanka

1964 Afghanistan, Libyen, Malediven, Sudan

1932 Brasilien, Thailand, Uruguay

1965 Burundi

1934 Kuba

1966 Fiji, Lesotho

1937 Philippinen

1967 Seychellen, Zaire (demokratische Republik Kongo)

1939 El Salvador

1968 Nauru, Swasiland

1941 Indonesien

1971 Kiribati, Schweiz

1942 Dominikanische Republik

1973 Syrien

1944 Frankreich, Jamaica

1975 Mozambique, Papua Neu Guinea, Portugal

1945 Bulgarien, Guatemala, Italien, Japan, Panama, Trinidad und Tobago

1976 Spanien (wieder eingeführt)

1946 Albanien, Ecuador, Malta, Rumänien, Jugoslawien

1978 Tuvalu

1947 Argentinien, Pakistan, Venezuela

1980 Kap Verde

1948 Belgien, Burma, Israel, Südkorea

1984 Jordanien, Liberia, Liechtenstein

1949 Chile, Costa Rica, Volksrepublik China, 1994 Südafrika Indien

Gegen die Diskriminierung der Frau 1950 Haiti

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2005 Kuwait

Quellen: Caroline Daley und Melanie Nolan (Hrsg): Suffrage & Beyond: International Feminist Perspectives, New York 1994; International Museum of Women, http://www.imow.org/dynamic/press_pdfs/ press_pdfs_pdf_144.pdf; Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts in eidgenössischen Angelegenheiten (vom 22. Februar 1957), in: Bundesblatt (BBl) 1957 I 679 – 689).

Ausgehend von dieser chronologischen Darstellung wird üblicherweise fest gestellt, dass die ersten Länder, die das Frauenstimmrecht einführten – also die britischen Kolonien Neuseeland und Australien sowie die skandinavischen Länder Norwegen und Finnland – im gleichen Zeitraum bestrebt waren, ihre Unabhängigkeit und ihr nationales Selbstbestimmungsrecht zu stärken2. Des Weiteren wird darauf hingewiesen, dass das Frauenstimmrecht in einigen Ländern zeitnahe zum ersten Weltkrieg eingeführt und von der Politik häufig damit begründet wurde, dass die Frauen für ihren Beitrag zum Krieg belohnt werden sollten3. Außerdem wird die Frage aufgeworfen, weshalb das Frauenstimmrecht mancherorts – etwa in der Schweiz – erst so spät eingeführt wurde. Eine gängige These lautet, dass dort, wo die Männer das uneingeschränkte Stimmrecht früh bekamen – in der Schweiz bspw. 1848 – die Frauen umso länger darum ringen mussten4. III. Formen des Widerstands in Frauenstimmrechtsbewegungen Diese Argumentationslinien und insbesondere die chronologisch vergleichende Betrachtungsweise wird im Folgenden, mindestens vorerst, ausgeklammert, und die Thematik durch die Brille der Widerstandsaktionen betrachtet. D.h. es werden die einzelnen Akte des Widerstands in ausgewählten Ländern analysiert, wobei die jeweiligen historischen Kontexte ausgeklammert werden. Dabei werden zwei wesentliche Systematisierungskriterien angewandt: 1. Entsteht der Widerstand aus situativer Empörung oder entspringt er generellen Überlegungen zur Gleichheit der Geschlechter? 2. Wird die Grenze der Legalität überschritten oder bewegen sich die Aktionen im Rahmen der rechtsstaatlich vorgesehenen Möglichkeiten? Die durch die zahlreichen Frauenstimmrechtsbewegungen und Einzelpersonen (sowohl Frauen als auch Männer) genutzten Formen des Widerstands zur Durchsetzung der Forderung nach dem Frauenstimmrecht sind mannigfaltig. Angefangen bei 2 Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 199; Diane Sainsbury: Rights without seats: The puzzle of women’s legislative recruitment in Australia, in: Marian Sawer (Hg): Elections: full free and fair, Sydney 2001, S. 63 ff. 3 Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 200; Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 327 und 333. 4 Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 213 ff.

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Leserbriefen, Zeitschriftenbeiträgen und Petitionen über das Durchführen von Versammlungen, Akte zivilen Ungehorsams bis hin zu militanten Aktionen sind viele Nuancierungen vertreten. Die verschiedenen Aktionen werden in insgesamt vier Kategorien eingeteilt, je nachdem, ob es sich dabei um spontane, situative Einzelaktionen oder geplante und organisierte Aktionen handelt und ob diese Aktionen legal oder illegal waren:

Legal

Einzelne, situative Aktionen

Organisierte, geplante Aktionen

Leserbriefe, aufsehenerregende Einzelfälle

Petitionen, Versammlungen, Demonstrationen, Publikationen, Lobbyarbeit, Werbematerial, Boykott von Parteien, internationale Vernetzung

Illegal Sachbeschädigung, Hungerstreik

Versammlungen, Publikationen, Aktive zivilen Ungehorsams, Sachbeschädigung, Hungerstreik, Märtyrertod

1. Einzelne, situative Aktionen legaler Natur Unter ,einzelnen, situativen Aktionen‘ werden Handlungen verstanden, die aus einer spontanen Empörung heraus entstehen. Darunter fallen ihrer Natur nach lediglich Aktionen, die durch eine gewisse zeitliche Unmittelbarkeit geprägt sind. Als solche situative Aktionen legaler Natur, welche die Einführung des Frauenstimmrechts zum Gegenstand haben, sind einerseits Leserbriefe5 auszumachen und andererseits aufsehenerregende Einzelfälle. Die aufsehenerregenden Einzelfälle waren von Bedeutung, wenn es darum ging, das Thema Frauenstimmrecht im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. So landete bspw. in der englischen Stadt Westminster im Jahr 1867, als anlässlich von Nachwahlen ein verwaister Sitz im Parlament nachbesetzt werden musste, der Name einer Frau, Lily Maxwell, versehentlich auf einer der Wahllisten. Lily Maxwell war eine alleinstehende, wohlhabende Hauseigentümerin. Unterstützt von einer der Vorkämpferinnen des Frauenstimmrechts im England des 19. Jahrhunderts, Lydia Becker, und weiteren Suffragistinnen, begab sich Lily Maxwell am Wahltag ins Wahllokal und verlangte Zutritt zur Urne mit der Begründung, dass man ihr – wenn sie doch auf den Wahllisten figuriere und damit ihr passives Wahlrecht erwiesen sei – doch auch das aktive Wahlrecht kaum abstreiten könne. Nach großer Beratung wurde ihrem Begehren schließlich statt gegeben. Worauf die begleitenden Frauen Lily Maxwell im Triumphzug als erste britische Wählerin durch die Stadt führten. Das Beispiel machte Schule, und für die Wahl 1868 meldeten sich in Manchester

5 In England bspw. durch Annie Besant, britische Theosophin, Frauenrechtlerin, Journalistin, Schriftstellerin und Politikerin. Vgl. Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 97.

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5.346 Hausbesitzerinnen und Steuerzahlerinnen für das Wahlregister an6. Als 1868 in Manchester tatsächlich einige Wahlkreise Frauen auf den Listen platzierten, versuchten diese ihr aktives Wahlrecht gerichtlich einzuklagen7. Das Gericht wies die Klage allerdings in zirkelschlüssiger Argumentation ab. Auch in anderen Ländern gab es aufsehenerregende Einzelfälle: in Portugal war es 1911 der Ärztin und verwitweten Mutter Carolina Beatriz Angelo bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung gelungen, mit Verweis auf ihre Eigenschaft als Familienoberhaupt ihre Stimme abzugeben und gerichtlich anerkennen zu lassen8. 2. Organisierte, geplante Aktionen legaler Natur Eines der wichtigsten rechtlichen Instrumente der Frauenbewegungen weltweit war das Einreichen von Petitionen9. In der Schweiz etwa reichten 1919 158 Frauenverbände eine Petition ein10, und 1929 erreichte eine weitere Petition für das Frauenstimmrecht die Rekordzahl von fast 250.000 Unterschriften; ca. 78.000 davon waren Unterschriften von Männern. Sie lag damit weit über der damals für eine eidgenössische Volksinitiative verlangten Anzahl von 50.000 Unterschriften11. Auch die Durchführung öffentlicher Versammlungen und Demonstrationen gehörte zum einschlägigen Repertoire der Aktivistinnen.In Deutschland bspw. fand am 2. Dezember 1894 in Berlin die erste öffentliche Volksversammlung statt, an welcher die Forderung nach dem Frauenstimmrecht thematisiert wurde12. Und 1911 rief die SPD in Berlin zur ersten Demonstration für das Frauenwahlrecht auf13. In England fand am 14. April 1868 in Manchester die erste öffentliche Versammlung zur

6 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 112 f. 7 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 113. 8 Vgl. Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 185. 9 Vgl. Ute Gerhard, Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit, in: Ute Gerhard (Hg): Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997, S. 535. 10 Beatrix Mesmer: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht. Die Politik der schweizerischen Frauenverbände 1914 – 1971, Zürich 2007, S. 86. 11 Vgl. Beatrix Mesmer: Staatsbürgerinnen ohne Stimmrecht. Die Politik der schweizerischen Frauenverbände 1914 – 1971, Zürich 2007, S. 156 ff. und BBl 1957 I 689 – 703, hier bes. 697 f. 12 Anna Lindemann: Die Frauenstimmrechtsbewegung in Deutschland, in: Jahrbuch der Frauenbewegung 1913, S. 159, vgl. dazu ausführlicher Bärbel Clemens: Der Kampf um das Frauenstimmrecht in Deutschland, in: Christl Wickert (Hg): Heraus mit dem Frauenwahlrecht, die Kämpfe der Frauen in Deutschland und England um die politische Gleichberechtigung, Pfaffenweiler 1990, S. 51 – 131, hier: S. 58 ff. 13 Vgl. Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 210.

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Unterstützung des Frauenstimmrechts statt14. Später, ab dem 13. Februar 1907 wurden in England regelmäßig sog. Frauenparlamente abgehalten15. Die Versammlung von ,Seneca Falls‘ (New York) im Jahre 1848 stellte den Beginn des amerikanischen Frauenstimmrechtskampfes dar16. In der Schweiz war die Forderung nach dem aktiven und passiven Frauenstimmrecht die zweite von insgesamt neun Forderungen anlässlich des Landesstreiks von 191817. Die Durchführung von Versammlungen, ebenso wie das Herausgeben eigener Publikationen, muss zweifach klassifiziert werden: einmal als legale Aktion und einmal als illegale Aktion. Dies aus folgendem Grund: in manchen Ländern war es den Frauen (wie auch den sich für das Frauenstimmrecht einsetzenden Männern) verboten, sich in politischen Vereinen zu organisieren oder Versammlungen durchzuführen. Auch war in einigen Ländern die Pressefreiheit stark eingeschränkt. Bis 1908 galt bspw. in neun deutschen Bundesländern ein Verbot politischer Frauenvereine und -versammlungen18. Die in Deutschland seit 1902 aktive Frauenstimmrechtsorganisation hatte sich für ihre Gründung denn auch auf eine Gesetzeslücke abstützen müssen: der Sitz war in Hamburg, wo es den Frauen nicht verboten war, politische Vereine zu gründen. Und da es auch vor 1908 in keinem deutschen Bundesland verboten war, einem legal gegründeten Verein beizutreten, konnte die Organisation ihre Arbeit aufnehmen19. Dem Anliegen nach Einführung des Frauenstimmrechts wurde weltweit zudem in eigenen Publikationen Ausdruck verschafft. Eigens diesem Thema gewidmete Zeitschriften und Zeitungen wurden heraus gegeben, zahlreiche Manifeste20, Flugblätter21, aber auch Monographien verfasst. Von 1870 an gab Lydia Becker (britische Frauenrechtlerin) die erste Zeitschrift zum Frauenstimmrecht heraus (Women’s Suffrage Journal). Die englische ,National Union of Women’s Suffrage Societies‘ gab ebenfalls eigene Zeitschriften heraus und mit ,The Common Cause‘ ab 1909 auch eine eigene Zeitung. In Frankreich erschien

14 Vgl. Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 112. 15 Vgl. Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 217. 16 Janice E. Ruth/Evelyn Sinclair: Women of the Suffrage Movement, Warwickshire 2006, S. 6 f. 17 Hans von Greyerz: Der Bundesstaat seit 1848, in: Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 2, S. 1019 – 1267, hier: S. 1138. 18 Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 211. 19 Bärbel Clemens: Der Kampf um das Frauenstimmrecht in Deutschland, in: Christl Wickert (Hg): Heraus mit dem Frauenwahlrecht, die Kämpfe der Frauen in Deutschland und England um die politische Gleichberechtigung, Pfaffenweiler 1990, S. 51 – 131, hier: S. 54. 20 Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 202 f. 21 Vgl. Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 106.

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die Zeitschrift ,La Citoyenne‘ von Hubertine Auclert und in Deutschland die ,FrauenZeitung‘ von Louise Otto22. Zahlreiche Publikationen philosophischer und politischer Natur befassten sich mit dem Frauenstimmrecht und forderten dieses ein. In Frankreich bspw. die im Laufe der französischen Revolution verfasste und im September 1791 veröffentlichte Schrift ,Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne‘ von Olympe de Gouges. In England zum Beispiel William Thompson’s ,Appeal of One Half of the Human Race, Women, Against the Pretension of the Other Half, Men, to Retain Them in Political, and thence in Civil and Domestic Slavery‘, erschienen 1825 in London23 oder John Stuart Mill (englischer Philosoph und Ökonom, der von 1865 – 1868 liberaler Abgeordneter im Unterhaus war) mit der Schrift ,Enfranchisement of Women‘ (1851), die allerdings das Werk seiner Ehefrau Harriet Taylor Mill ist24. In Deutschland entfaltete die Schrift „Der Frauen Natur und Recht“ (1876) von Hedwig Dohm eine breite Wirkung und in der Schweiz wurde das Frauenstimmrecht bspw. von Carl Hilty, dem Berner Staatsrechtsprofessor (1874 – 1909), 1890 – 1909 Nationalrat und später erster Vertreter der Schweiz am Internationalen Gerichtshof in Haag (vgl. seinen Beitrag zum ,Frauenstimmrecht‘ im Politischen Jahrbuch der Schweiz. Eidgenossenschaft Band 12 [1897]) oder Charles Secrétan, einem Lausanner Philosophieprofessor (vgl. sein Werk ,Le droit de la femme‘ Lausanne/Paris 1886), befürwortet. Verschiedene Frauenstimmrechtsorganisationen setzten außerdem Werbematerial ein. Die englische Frauenstimmrechtsbewegung kreierte ihr eigenes Corporate Design mit den Farben Grün, Weiß und Violett25. Sie ließ Ansteckknöpfe, Fahnen, Schärpen, Postkarten, Poster, Spielkarten, Seifen etc. produzieren und verteilte diese26. In den USA wurden ebenfalls Werbematerialien nach englischem Vorbild eingesetzt27. In der Schweiz wurden in den 1920er Jahren moderne Werbeträger

22 Vgl. Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 113 und 174, und Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 181. 23 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 105. 24 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 107, Janice E. Ruth/Evelyn Sinclair: Women of the Suffrage Movement, Warwickshire 2006, S. 44 ff. 25 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 222 und J. Hannam/M. Auchterlonie/K. Holden: International Encyclopedia of Women’s Suffrage, Santa Barbara, California (ABCCLIO) 2000, S. 3 f. 26 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 212. 27 Janice E. Ruth/Evelyn Sinclair: Women of the Suffrage Movement, Warwickshire 2006, S. 35 ff. und J. Hannam/M. Auchterlonie/K. Holden: International Encyclopedia of Women’s Suffrage, Santa Barbara, California (ABC-CLIO) 2000, S. 3 f.

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wie Film und Leuchtreklame genutzt28. Die meisten Frauenstimmrechtsorganisationen betrieben zudem parlamentarische Lobbyarbeit29. Das englische Beispiel zeigt noch eine weitere Form des Widerstands: die Frauenstimmrechtsorganisationen waren dort zeitweise so mächtig, dass sie politische Parteien resp. deren Kandidaten boykottieren konnten: Die militante englische Frauenstimmrechtsorganisation ,Women’s Social and Political Union‘ versagte, enttäuscht über die mangelnde Unterstützung ihres Anliegens, Kandidaten der Liberalen ihre Unterstützung, indem ihre Mitglieder öffentlich gegen die Kandidaten sprachen, Ladenlokale pachteten und dort Frauenstimmrechtsliteratur verkauften und alle Säle in der Umgebung anmieteten, so dass den Kandidaten keine Lokale für Großveranstaltungen mehr übrig blieben30. Die Frauenstimmrechtsbewegungen waren international stark untereinander vernetzt und unterstützten sich gegenseitig. 1904 wurde bspw. in Berlin der ,Weltbund für das Frauenstimmrecht‘ gegründet. Er führte regelmäßig Kongresse durch und trug zur weltweiten Vernetzung der verschiedenen Bewegungen bei31. 3. Einzelne, situative Aktionen illegaler Natur Neben den legalen Aktionen gab es auch illegale Formen des Widerstands. Unter die situativen Aktionen ist die Form der spontanen Sachbeschädigung zu subsumieren. Was später bspw. von der militanten englischen Frauenstimmrechtsbewegung als strategisches Mittel eingesetzt werden sollte, fand erstmals aufgrund einer situativen Empörung Anwendung: Als der englische Premier sich weigerte, eine Abordnung der Frauenstimmrechtsbewegung zu empfangen, begaben sich zwei Frauen, Mary Leigh und Edith New, zur Downing Street Nr. 10, dem Wohnsitz des Premiers, und warfen dort die Scheiben ein32. Auch die ersten Fälle von Hungerstreiks englischer Frauenstimmrechtsaktivistinnen können als situative Einzelaktionen qualifiziert werden. Angesichts der großen Wirkung wurde auch diese rasch als strategische und klar geplante Maßnahme eingesetzt. 28

Vgl. Originaldokumente unter www.wissen.sf.tv/Dossiers/Historisch/Frauenstimmrecht#!videos (abgerufen am 21. 11. 2011). 29 Vgl. Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 174. 30 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 215. 31 Vgl. z. B. Regine Deutsch: Fünfundzwanzig Jahre Weltbund für Frauenstimmrecht, 1904 – 1929, Berlin 1929. 1908 fand der ,All-Russian Women’s Congress‘ und 1931 die ,AllAsian Women’s Conference‘ statt. Vgl. J. Hannam/M. Auchterlonie/K. Holden: International Encyclopedia of Women’s Suffrage, Santa Barbara, California (ABC-CLIO) 2000, S. 10 f. 32 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 224.

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4. Organisierte, geplante Aktionen illegaler Natur Wie bereits erwähnt (vgl. III.2. hiervor), müssen Versammlungen und Publikationen teilweise als illegal eingestuft werden. Die Einstufung richtet sich danach, was von den Behörden zum damaligen Zeitpunkt verboten wurde – auch wenn dies aus heutiger Sicht anders eingestuft würde. So wurde bspw. in Deutschland die Zeitschrift ,Die Staatsbürgerin‘ 1919 verboten33. Weiter sind zu dieser Kategorie von Aktionen auch Akte zivilen Ungehorsams zu zählen. In England bspw. das sog. ,Zwischenfragen‘: am 13. Oktober 1905 stellten zwei Frauen, Christabel Pankhurst und Annie Kenny anlässlich der Versammlung der Liberalen mit lauter Stimme die – unbeantwortet gebliebene – Frage ,Wird die liberale Regierung den Frauen das Wahlrecht geben?‘, worauf die beiden ein Banner mit den Worten ,Votes for Women‘ entrollten34. Der mediale Erfolg dieser Aktion führte dazu, dass die militante englische Frauenstimmrechtsorganisation ,Women’s Social and Political Union‘ – deren Führungsriege die beiden Frauen angehörten – die Form des ,Zwischenfragens‘ zu einer Strategie ausbaute und dabei darauf abzielte, eine Verhaftung zu provozieren und die Gefängnisstrafe abzusitzen. Dies garantierte die größte Aufmerksamkeit durch die Presse35. Wie bereits erwähnt, nahm die Sachbeschädigung – nachdem sie einzelfallweise eingesetzt worden war und große mediale Aufmerksamkeit erzeugt hatte – in England ein breites Ausmaß an und wurde Teil einer bewusst gewählten Strategie militanter Frauenstimmrechtsaktivistinnen36. Zu den eingesetzten Mitteln gehörten das Einwerfen von Fensterscheiben – meist an öffentlichen Gebäuden, aber auch Privatwohnsitzen von Gegnern des Frauenstimmrechts oder Schaufenstern37 –, aber auch weitere Sachbeschädigungen wie das Aufschlitzen von Sitzen in Eisenbahnwaggons, Zerstören von Straßenlaternen oder auch der Versand von ,Niespulver‘ in verschlossenen Umschlägen an Politiker bis hin zu Bombenattentaten auf Wohnhäuser von Politikern38. Als Protest dagegen, dass ihnen ein höherer Wert zugestanden werde als den Frauen, wurden in England auch gezielt Kunstwerke zerstört39. 33 1886 wurde diese Zeitschrift bereits einmal verboten; vgl. dazu Anna Lindemann: Die Frauenstimmrechtsbewegung in Deutschland, in: Jahrbuch der Frauenbewegung 1913, S. 159. 34 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 208. 35 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 209. 36 Vgl. Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 223. 37 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 228, 256. 38 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 274 f. 39 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 277.

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Nadja Braun Binder

Als Folge davon wurden in England viele Aktivistinnen verhaftet. Als äußerst öffentlichkeitswirksame Widerstandsaktionen traten viele der verhafteten Frauenstimmrechtsaktivistinnen in den Gefängnissen in Hungerstreik40, später verweigerten einzelne auch die Aufnahme von Flüssigkeit41 und traten teilweise zusätzlich in den sog. ,Ruhestreik‘, d. h. sie bewegten sich, um schneller ans Ende ihrer Kräfte zu gelangen und weigerten sich zu schlafen42. Schließlich ist in dieser Kategorie ein Todesfall zu erwähnen: am 4. Juni 1913 wirft sich Emily Wilding Davison beim Derby vor das Pferd des Königs; ihr Tod wird als Märtyrertod für das Frauenstimmrecht verstanden43. IV. Erfolg der Widerstandsaktionen Nach der Rekonstruktion und Schematisierung der einzelnen Widerstandsaktionen stellt sich die Frage, inwiefern diese Widerstandsaktionen die Einführung des Frauenstimmrechts tatsächlich gefördert haben. Die Herausforderung besteht darin, den Erfolg resp. die Effektivität der Widerstandsaktionen messbar zu machen: Es stellt sich die Frage, welche Indikatoren zu diesem Zweck heran gezogen werden können: • Der Umstand, ob die Aktionen organisiert oder situativ verliefen? • Die Intensität der Aktionen? Die Tatsache, ob auch illegale Mittel eingesetzt wurden? • Besteht eine Korrelation zwischen dem Beginn der Widerstandsaktionen und dem Zeitpunkt der Einführung des Frauenstimmrechts? Diese drei Fragen werden im Folgenden als Indikatoren zur Messung des Erfolgs der Widerstandsaktionen überprüft. 1. Indikator: Organisiert oder situativ Die Tatsache, ob eine Aktion situativ oder organisiert verlief, kann als Indikator zur Beurteilung der Effektivität des Widerstands erste Anhaltspunkte liefern. So ist festzustellen, dass situative Einzelaktionen unabhängig davon, ob sie durch unbekannte Personen oder bekannte Exponenten der Frauenstimmrechtsbewegungen durchgeführt wurden, immer dann, wenn sie in der Öffentlichkeit eine große Reso40 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 229 ff. 41 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 282. 42 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 283. 43 Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 280 f.

Der Kampf der Suffragetten um das Der Kampf der Suffragetten um das Der Kampf der Suffragetten um das Der Kampf der Suffragetten um das

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nanz fanden, von den Frauenstimmrechtsorganisationen aufgegriffen und systematisch eingesetzt wurden. Anders ausgedrückt: eine Einzelaktion, die nicht in Form einer organisierten Widerstandsaktion wieder aufgegriffen wird, kann als nicht zielführend eingestuft werden44. Oder noch einmal anders ausgedrückt: letztlich überwiegen die organisierten Aktionen bei Weitem und es ist zu vermuten, dass hauptsächlich die organisierten und geplanten Aktionen maßgeblich zur Einführung des Frauenstimmrechts beigetragen haben. Allein mit situativen Einzelaktionen hätten die Frauen wohl länger auf ihr Stimmrecht warten müssen. 2. Indikator: Intensität und Einsatz illegaler Mittel Die Messung der Intensität der Aktionen würde den Umfang dieses Beitrages klar sprengen. Ein vergleichender Blick auf England und Frankreich lässt aber folgende Vermutung – welcher natürlich keine normative Kraft zukommen kann – zu: demnach könnte die Intensität der einzelnen Widerstandsaktionen einen Unterschied gemacht haben: das Beispiel England, wo die Frauenstimmrechtsbewegung äußerst militant verlief, und das Frauenstimmrecht bereits nach dem Ersten Weltkrieg eingeführt wurde, kann dabei im Vergleich zu Frankreich, wo es keine starke Frauenstimmrechtsbewegung gegeben hatte und das Frauenstimmrecht auch erst später eingeführt wurde, gesehen werden45. Dieses Beispiel würde dafür sprechen, dass intensivere Aktionen schneller zur Einführung des Frauenstimmrechts führten. 3. Indikator: Beginn der Widerstandsaktion und Einführung des Frauenstimmrechts Ein Indikator besteht in der Dauer von den ersten Aktionen bis zu deren Ziel, der Einführung des Frauenstimmrechts. In Anlehnung an Gisela Bock werden als Ausgangspunkte für die Widerstandsaktionen, die in der folgenden Tabelle angeführten Jahre herangezogen46. Diesen wird das Jahr der Einführung des Frauenstimmrechts gegenübergestellt: Land

Erste Widerstandsaktionen

Einführung Frauenstimmrecht

England

1825

1928

Deutschland

1840er Jahre

1918

44 Beispiel: Ethel Smyths ,March of the women‘, der auf Wunsch der Suffragettenanführerin Emmeline Pankhurst komponiert wurde, ist nicht zur ,Internationale der Frauenstimmrechtsaktivistinnen‘ geworden und ging nach der Erringung des Frauenstimmrechts in Grossbritannien nahezu vergessen. Vgl. dazu Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 203 und 363. 45 So auch Michaela Karl: Wir fordern die Hälfte der Welt. Der Kampf der Suffragetten um das Frauenstimmrecht, Frankfurt am Main 2008, S. 229 ff. 46 Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte, München 2005, S. 181.

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USA

1848

Frankreich

184847

1920 1944

Spanien

1854

1931

Italien

1861

1945

Schweiz

1860er Jahre

1971

Norwegen

1884

1913

Schweden

1899

1919

Finnland

Jahrhundertwende

1906

Russland

1905

1917

Portugal

1910

1975

Auf den ersten Blick wird klar, dass kein direkter Zusammenhang besteht zwischen dem Jahr des Beginns der Widerstandsaktionen und der Einführung des Frauenstimmrechts. Sowohl in den USA als auch in England dauerte der Kampf um die Einführung des Frauenstimmrechts relativ lange. Der amerikanische und der englische Weg zum nationalen Frauenstimmrecht dauerte jeweils fast ein Jahrhundert. Kürzer war die Zeitspanne in denjenigen Ländern, in denen das Frauenstimmrecht früh eingeführt wurde, also bspw. in den skandinavischen Ländern. Auch das Beispiel der Schweiz, wo das Frauenstimmrecht vergleichsweise spät eingeführt wurde, weist nicht auf einen Zusammenhang mit dem Beginn der Widerstandsaktionen hin. Die Frauenbewegung hatte sich in der Schweiz nahezu zeitgleich und in starkem Austausch mit Bewegungen im Ausland etabliert48. 4. Vorläufiges Fazit Die Frage, welche Widerstandsaktionen erfolgreich waren, ja, ob die Aktionen der Frauenstimmrechtsbewegungen überhaupt zielführend waren, muss – mindestens teilweise – offen gelassen werden resp. ist nur in Zusammenhang mit einer historischen Kontextualisierung zu beantworten. Wie eingangs bereits angetönt, werden in der Literatur denn auch zahlreiche Umstände genannt, die von den Frauenstimmrechtsbewegungen selbst nicht direkt beeinflusst werden konnten: etwa die Rolle des ersten oder auch zweiten Weltkrieges, die Frage der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts oder der Staatsreligion. Andere, lediglich teilweise steuerbare Faktoren – wie etwa die Koppelung der Frauenstimmrechtsforderung mit der Forde47 In Frankreich die erste Widerstandsaktion auf 1848 anzusetzen, ist kritisch zu hinterfragen: Olympe de Gouges verfasste ihre viel beachtete Erklärung der Rechte der Frau bereits einen Monat nach der Déclaration des droits de l’homme der Französischen Assemblée nationale, im September 1791. 48 In Schweizer Kantonen gingen zunächst viele Abstimmungskämpfe für ein Frauenstimmrecht auf kommunaler oder kantonaler Stufe verloren. Vgl. die umfassende tabellarische Zusammenstellung in BBl 1957 I 694 f.

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rung nach einem Alkoholverbot oder der Abschaffung der Sklaverei – waren ebenfalls von Bedeutung. Klar ist dagegen, dass die Forderung nach dem Frauenstimmrecht durch die Widerstandsaktionen auf die politische Agenda gesetzt wurde. Und dies war eine unabdingbare Voraussetzung dafür, dass das Frauenstimmrecht letztlich eingeführt wurde. V. Schluss Bei der Auseinandersetzung mit den einzelnen Widerstandsaktionen der Frauenstimmrechtsbewegungen drängt sich automatisch ein Vergleich mit Widerstandsaktionen für andere politische Forderungen auf. Die von den Frauenstimmrechtsbewegungen eingesetzten Aktionen fallen dadurch auf, dass sie mehrheitlich von Frauen geplant und umgesetzt wurden. Abgesehen davon sind die Aktionen selbst aber ohne weiteres auch in anderen Kontexten anzutreffen. Bspw. im Rahmen des indischen Unabhängigkeitskampfes oder im aktuellen Kontext des sog. ,Arab Spring‘, auf den nun der ,US Autumn‘ (Stichwort ,Occupy Wall Street‘) folgt. Gemeinsam ist all diesen Widerstandsbewegungen, dass stets auch Aktionen gewählt werden, die eine große Öffentlichkeitswirkung entfalten. Ein zweites Element, das den modernen Widerstandsaktionen gemein ist, das aber auch bereits die Frauenstimmrechtsbewegungen stark geprägt hat, ist die internationale Vernetzung. Heute wird diese durch das Medium Internet und das Mobiltelefon stark begünstigt. Zu Zeiten der Frauenstimmrechtsbewegungen – jedenfalls derjenigen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – wurde die Vernetzung durch eine rege Reisetätigkeit einzelner Aktivistinnen resp. die Bildung internationaler Strukturen ermöglicht.

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Nadja Braun Binder Von Matthias Strunk Hans Herbert von Arnim dankte Nadja Braun Binder für ihren Beitrag. Sie habe anhand der Emanzipationsbewegung der Frau verdeutlicht, wo und wann Widerstand erfolgreich sein könne und dass dies eine gute Lehre für die Gegenwart sei. Per Lennart Aae erläuterte, dass die von Braun Binder dargestellte Emanzipationsbewegung der Frau, zu der unter anderem das Wahlrecht gehöre, überwiegend in der großen Öffentlichkeit stattgefunden habe. Gleichzeitig habe durch die gesellschaftliche Entwicklung die Existenz in der Massengesellschaft gegenüber der Existenz in der Kleingruppe bzw. Familie an Bedeutung gewonnen. Eine Korrelation zwischen diesen beiden Entwicklungen könne seiner Meinung nach nicht bestehen. Aus der durch die Emanzipation erlangten neuen Rechtsstellung der Frau würden nun neue Forderungen an das Verhalten der Menschen in der Kleingruppe bzw. Familie gestellt. Er fragte, ob die dargestellte Systematik um diesen Aspekt erweitert werden könne. Eckhard Kochte wies darauf hin, dass die Frauenbewegung für mehr demokratische Mitbestimmung in England von Begüterten getragen worden sei und nicht von Arbeitern oder Bauern. Im Gegensatz dazu wären die Frauen im schweizerischen Appenzell, die durch den Verkauf von Stick- und Häkelarbeiten wirtschaftlich besser stünden als die Männer, an der Erlangung des Stimmrechts nicht interessiert gewesen. Aufgrund ihrer besseren wirtschaftlichen Stellung gegenüber den Männern hätten sie keine demokratischen Rechte gebraucht. Eine ähnliche Stimmung sei auch bei Besitz- und Bildungsbürgern in Deutschland verbreitet, so dass sie keinen Wert auf Mitbestimmung legen würden, insbesondere nicht auf direkte Demokratie, da sie ihre Rechte auf dem Rechts- oder wirtschaftlichen Weg besser durchsetzen könnten als Arbeiter oder Menschen mit niedrigem Bildungsstand. Somit beeinflusse die wirtschaftliche Güterstellung die Einstellung zu demokratischen Rechten. von Arnim fragte, ob es eine empirische Untersuchung darüber gebe, ob sich die Gleichstellung der Frau im wirtschaftlichen Bereich auf die Leistungskraft der betreffenden Wirtschaft, des Vorstands oder Aufsichtsrats auswirke bzw. deren Leistungsfähigkeit fördere. Braun Binder beantwortete zunächst die Frage von Aae: Die von ihr dargestellte Systematik müsse nicht erweitert werden, da sie unter einer juristischen Fragestellung behandelt worden sei. Die von ihm erläuterte Frage zum Verhältnis des öffent-

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Matthias Strunk

lichen Raums zum privaten Raum sei dagegen eine soziologische Betrachtung, zu der es zahlreiche Untersuchungen gebe. Es sei unbestritten, dass sowohl die Einführung des Frauenstimmrechts, als auch die Ausweitung des Wahlrechts mit einem gesellschaftlichen Wandel einhergehe. Vergleichbares liege auch bei der Einführung der geheimen Stimmabgabe vor, da sich die Überzeugung gewandelt habe, dass nicht mehr nur eine offene Stimmabgabe als demokratisch angesehen, sondern die geheime Stimmabgabe aufgrund befürchteter Repressionen als notwendig verstanden worden sei, um die eigene Meinung kund zu tun. Auf den Hinweis von Kochte erläuterte sie, dass nicht ausschließlich die begüterten Frauen sich für das Frauenstimmrecht in England eingesetzt hätten, sondern auch die Arbeiterbewegung und die Arbeiterinnen. Die Frauenstimmrechtsbewegung habe sich über die Frage gespalten, ob in einem ersten Schritt zunächst ein Zensuswahlrecht und damit das Gleiche wie für die Männer gefordert werden solle oder ein allgemeines Wahlrecht für Frauen, mit dem man einen Schritt weiter gegangen wäre. In der Realität habe daraufhin zunächst eine schrittweise Ausweitung des Männerwahlrechts stattgefunden, dem die Einführung des Frauenwahlrechts gefolgt sei. Zum Wahlrecht der Frauen in Appenzell-Innerrhoden erklärte sie, dass diverse Argumente vorgebracht worden seien, um dessen Einführung zu verhindern. Die Frage, inwiefern Frauen am Stimmrecht interessiert seien, lasse sich empirisch beantworten. So würden sich Frauen in der Schweiz tendenziell weniger an Wahlen und Abstimmungen beteiligen als Männer. Über die Gründe dafür müsse diskutiert werden. Zu von Arnims Frage verwies sie auf zwei Studien, aus denen hervorgehe, dass Unternehmen, in denen auch Frauen in Führungspositionen säßen, krisenresistenter und kreativer seien. Nähere Quellenangaben zu den Studien könne sie direkt jedoch nicht geben. Holger Kruse erkundigte sich, wie die Förderung der schweizerischen Emanzipationsbewegung der Frau aus dem Ausland stattgefunden habe. Zudem fragte er, worauf die führende Rolle der skandinavischen Länder bei der Umsetzung von Reformen, wie beispielsweise bezüglich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, zurückzuführen sei. Peter Vonnahme fragte, wie Braun Binder die Einführung einer Frauenquote, wie sie derzeit in Deutschland diskutiert werde, bewerten würde und ob diese aus Sicht einer emanzipatorischen Bewegung möglicherweise kontraproduktiv sei und die Anliegen der Frauen eventuell zurückwerfe. Daniel Thürer regte an, dass die Systematik von Braun Binder um zwei Elemente, die die Staatsstruktur beträfen, erweitert werden könne: Zum einen die Bedeutung des Föderalismus, denn die Emanzipationsbewegung der Frau in der Schweiz habe sich von Genf über Neuenburg und weitere französischsprachige Kantone ausgeweitet, bis zur deutschsprachigen Schweiz. Der Föderalismus sei ein Experimentierfeld, durch das viele Argumente der Gegner des Frauenstimmrechts in Hinblick auf Kantone, in denen die Frauen das Stimmrecht bereits hatten, hätten widerlegt werden können. Somit begünstige der Föderalismus Reformprozesse in gewisser

Bericht über die Diskussion des Beitrags von Nadja Braun Binder

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Hinsicht. Zum anderen könne die Justiz als weiteres Element hinzugefügt werden. Art. 4 der Bundesverfassung, wonach alle Schweizer vor dem Gesetz gleich seien, sei lange unter dem Vorbehalt der Verfassungsautonomie der Kantone so ausgelegt worden, dass die politischen Rechte des Kantons hätten selbst definiert werden können. Dieser Vorbehalt sei abgeschwächt worden, so dass das Bundesgericht entschieden habe, der allgemeine Grundsatz gelte auch für Frauen, was wiederum AppenzellInnerrhoden dazu angehalten habe, das Frauenstimmrecht einzuführen. Ein Spezifikum der Schweiz sei es, dass politische Rechte bedeutsamer seien als in anderen Ländern. Braun Binder wies darauf hin, dass die Schweiz zwar erst spät das Frauenstimmrecht eingeführt habe, sie jedoch das Land sei, in dem das Stimmrecht der Frauen von der Mehrheit der Männer in einer Volksabstimmung gebilligt wurde. Die Einführung einer Quotenregelung halte sie für ein zweischneidiges Schwert, da eine solche Regelung einerseits einen ersten Impuls setzen könne, andererseits jedoch risikobehaftet sei. Daher würde sie eine Quotenregelung nur befürworten, sofern diese von weiteren begleitenden Maßnahmen unterstützt werde. Auf die Frage von Kruse zur Unterstützung der Emanzipationsbewegung in der Schweiz aus dem Ausland antwortete sie, dass nur von einer internationalen Frauenstimmrechtsorganisation belegt sei, dass sie in der Schweiz produzierte Filme zur Einführung des Frauenstimmrechts mitfinanziert habe. Ansonsten seien durch internationale Vernetzung nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit Gelder zur Unterstützung der Emanzipationsbewegung verteilt worden. Zur Frage nach der führenden Rolle der skandinavischen Länder bei der Umsetzung von Reformen erläuterte sie, dass aus ihrer Sicht zwei Elemente dafür entscheidend seien: Zum einen das starke Bestreben nach Unabhängigkeit in Skandinavien, zum anderen auch die Kultur. Weitere Beispiele für die Bedeutung der Unabhängigkeitsbewegung für die Einführung des Frauenstimmrechts seien Neuseeland und Australien, in denen das Stimmrecht sehr früh eingeführt worden sei und in denen es in dieser Zeit ebenfalls eine Unabhängigkeitsbewegung gegeben habe, bei der es auch darum ging, den Staat in der heutigen Form aufzubauen und sich gegenüber außen abzugrenzen.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer* Dr. iur. Nadja Braun Binder, MBA, ehem. Leiterin des Rechtsdienstes der Schweizer Bundeskanzlei Eberhard Cherdron, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche der Pfalz i.R. Sebastian Frankenberger, Initiator des Volksbegehrens zum Rauchverbot in Bayern, Vorsitzender der ÖDP Prof. Dr. Hans-Olaf Henkel, Honorarprofessor an der Universität Mannheim, Präsident des BDI a.D., Präsident der Leibniz-Gemeinschaft a.D. Andrei Király, Dipl.-Volkswirt, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer Dr. Elisabeth Musch, Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer Dr. Gabriele Pauli, Mitglied des Bayerischen Landtags, Landrätin a.D. Dr. Thilo Sarrazin, Senator a.D., Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank a.D. Matthias Strunk, M. A., Mag. rer. publ., Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Prof. Dr. Dr. h.c Daniel Thürer, LL.M. (Cambridge), Universität Zürich, Mitglied des Permanent Court of Arbitration, Den Haag Prof. Dr. Dr. h.c. Christian Tomuschat, Humboldt-Universität zu Berlin, ehem. Mitglied des UN-Menschenrechtsausschusses und der UN-Völkerrechtskommission Dr. Johanna Wolff, LL.M. (KCL), Deutsches Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer

* Die Hochschule hat im Frühjahr 2012 ihren Namen verändert in „Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer“.