Ständische Modernisierung: Der kurländische Ritterschaftsadel 1760-1830 9783050047546, 9783050044781

"Die Moderne ist kein Monopol eines Gesellschaftstyps und wird nicht erreicht, sondern variabel ausagiert. Das kons

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Ständische Modernisierung: Der kurländische Ritterschaftsadel 1760-1830
 9783050047546, 9783050044781

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Mathias Mesenhöller Ständische Modernisierung

Elitenwandel in DER

Moderne Herausgegeben von Heinz Reif Band 9 Band 1 Heinz Reif (Hg.) Adel und Bürgertum in Deutschland I. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert Band 2 Heinz Reif (Hg.) Adel und Bürgertum in Deutschland II. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert Band 3 René Schiller Vom

Rittergut zum Großgrundbesitz.

Ökonomische und soziale Transformationsprozesse

der ländlichen Eliten in

Brandenburg im 19. Jahrhundert Band 4

Stephan Malinowski Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung

im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat Band 5 Wolfram G. Theilemann Adel im grünen Rock.

Adliges Jägertum, Großprivatwaldbesitz preußische Forstbeamtenschaft 1866

und die

1914

-

Die

Logik

Band 7 Martin Kohlrausch Der Monarch im Skandal der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie

Mathias Mesenhöller

Ständische Modernisierung Der kurländische Ritterschaftsadel 1760-1830

Akademie

Verlag

Gedruckt mit Unterstützung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig

Abbildungen auf dem Einband: Karte aus Sohr-Berghaus Universal Atlas 1860 Silhouette nach Gottfried Schadow 1820

A. & P. M. mit Dank

ISBN 978-3-05-004478-1 © Akademie Das

Verlag GmbH, Berlin 2009

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

-

Satz: Thomas Klemm

Einbandgestaltung: Jochen Baltzer Druck: Medienhaus Berlin Buchbinderei Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany

Bindung:

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung. 9

Einleitung. 11 14 Modellbildung Gegenstand.25 .

Text .31

Das

Herzogtum.35

1

Der sippschaftliche Herrschaftsverband.35 1 Polis.38 Vorgeschichte und Verfassung .38 Adel und Freie.59 2 Oikoi.75

Landbesitz.75 Herren und Untertanen.84 2

Die Praxis der Bereicherung.99 1 Die Wirtschaft mit den Privatgütern. 104 Intensivierung der extensiven Exploitation. 105 Intensivierung. 107 118 Extensivierung 2 „Politische Ökonomie": Der Kampf um die Domänen. 123 .

Vorspiel Eskalationsbedingungen.

.

Eskalation 3

.

123 135 145

Der Diskurs der Aufklärung. 153 1 Transferlinien. 155

6

Inhaltsverzeichnis

2

Bildungskarrieren. Öffentlichkeit. Die Anverwandlung des Diskurses

.

„Patriotism".

Gutsgesetze.

156 164 171 171 181

3 Der Griff des Adels nach der Landesherrschaft. 192 193 Challenge .

Response.202 Die Agonie des Ancien 4

Régime.221

Staat.223 1 „Revolutionen".225 Staat als zivile Veranstaltung.225

Diskursumwälzung.233 Staatsabwälzung.250

2 Autokratie.258 Institutionen.258 Kosten.270 5

Gesellschaft .277 1 Land und Leute.277 Erosion der Grundlagen.277 Reformversuche .289 2 Markt und Herrschaft.301

Krieg.301

Märkte.308 Res publica amissa?.322

Imperialisierung.335 6

Reformen.339 1 Die Aufhebung der Leibeigenschaft.339 Das Gesetz.339

Implementierung.356 Folgen .366 2 Staat und Stand.373 „Das Land".374 Der Adelige Credit-Verein .387

7

Inhaltsverzeichnis

„Obenbleiben".405 1 Adligkeit(en) um 1830.407

7

Neue

Optionen.407

Elitenwandel.423 2

Sinnstiftung.435

Geschichte.435

„Zivilisierung" und „Deutschbalten" (Ausblick).447 Überblick.473 Anhänge 1: 2: 3: 4: 5: 6: 7: 8:

Ehen 1700-1875 .483 Begebungen Leibeigener 1700-1819 .501 Adliger und fürstlicher Güterbesitz 1785.503 Gütertransaktionen 1730-1850.506 Fideikommissstiftungen 1740-1850.512

Güterbesitz, personenseitig (ca. 1730-1850).513 Güterbesitzstruktur [1826].518

Vermögensentwicklung Adolph v. Hahns

1778-1818.530

9: „Bauer-Klagesachen" 1822/28.535 10: Militärdienst und Dienstgrade der Jahr-

gänge 1701-1825.541

11: Maße,

Währungen, Vergleichsgrößen

.547

Zeittafel.555

Quellen- und Literaturverzeichnis

Abkürzungen.559

Genutzte Archivbestände.561 Veröffentlichte Quellen und Literatur.563

Personenregister.603 Karte Kurland und Pilten 1783.615 Karte Gouvernement Kurland 1819.617

Vorbemerkung

Der folgende Text stellt die redaktionell überarbeitete Fassung einer 2007 an der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg verteidigten Dissertation dar. Der Mühe der Zweitbegutachtung haben sich Monika NeugebauerWölk und Heinz Reif unterzogen; Heinz Reif danke ich darüber hinaus für die Aufnahme des Buchs in die Reihe Elitenwandel in der Moderne. Ansonsten möchte ich mich bei der Erwähnung derjenigen, von deren Wissen, Gedanken und Hilfsbereitschaft ich profitieren durfte, auf die Mitarbeiter des Berliner Zentrums für Vergleichende Geschichte Europas (ZVGE) und des Leipziger Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) beschränken; unverzichtbare Gesprächspartner waren zumal die Freunde im Leipziger Projekt „Elitenwandel" unter der Leitung Michael G. Müllers. Dessen Kenntnisreichtum, freies Denken und große Geduld haben ihn einen idealen Betreuer sein lassen, intellektuell wie menschlich. Ihm sei an dieser Stelle für sehr viel gedankt. Verpflichtet bin ich schließlich der VolkswagenStiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Studie finanziert haben; die DFG gewährte zudem einen Satz- und Druckkostenzuschuss.

Leipzig, im Oktober 2008

„Die Tragödien der Geschichte entspringen nicht dem Konflikt zwischen konventionellem Recht und Unrecht. Sie sind groß-

artiger und komplexer. Caesar hatte ebendas Recht auf seiner Seite. so wie Brutus -

-

"

Ronald Syme1

„Ist einer eine grobe Sau, qui non est delectatur cognitione historiarum.

"

Philipp Melanchthon2

Einleitung

Ernst v. Rechenberg-Linten starb in dem Bewusstsein, Erstaunliches gesehen zu haben. Die Welt, seine Welt, hatte eine Metamorphose durchlebt. Sie war noch dieselbe aber eben wie der Schmetterling so unbestreitbar wie unwirklich mit der Raupe zusammenhängt. Kurz vor seinem Tod 1858 wandte sich Linten deshalb mit einem Buch an „eine jüngere Generation", das „einen Anhaltspunkt über den Gang dieser Verhältnisse" bieten sollte, da „mit der Zeit die Erinnerungen verschwinden, wie sich Sitten, Gebräuche und Gesetze eines Landes allmählig umgestaltet haben".3 Die Zustände Kurlands im vorigen und diesem Jahrhundert wollen ein Herkommen vergegenwärtigen, den Weg aus einer -

Ronald Syme, Die römische Revolution. Machtkämpfe im Antiken Rom, hg. v. Christoph Selzer und Uwe Walter, Stuttgart 2003 (engl. EA: The Roman Revolution, 1939), S. 66. 2 Zt. nach Jörn Rüsen, Historische Vernunft. Grundzüge zu einer Historik, Bd. 1 : Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1983, S. 7. 3 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 3f.; vgl. a. ebd., S. 53. Ganz ähnlich zur selben Zeit Neumann, Rückblicke, S. 508: „Zustände, welche noch die jetzige Generation gesehen hat, kommen ihr bereits so abgethan, so ganz in das ,todte Archiv' gelegt vor, daß sie sich des Zusammenhangs der selben mit der Gegenwart kaum bewußt ist." 1

12

Einleitung

fremd gewordenen Vergangenheit festhalten und zugleich Hinweise auf die Ratio dieser Geschichte geben. Ihr Fazit ist optimistisch. Verglichen mit dem westlichen Europa, vor allem England und Deutschland als Referenzgrößen, sah Linten die heimischen Verhältnisse etwa gleichauf,4 wertete jedoch die ständische Option der Ostseeprovinzen, die meritokratische und aristokratische Elemente im Rahmen einer imperialen Monarchie verbinde, als das zivilisatorisch überlegene Modell.5 Die gesellschaftlichen Verhältnisse schienen ihm gerechter und humaner, die politischen weiser eingerichtet, daher stabiler. Geschichte und Fortschrittsgedanke dienen dem Text durchaus als Modus der Kritik, doch grundiert vom Selbstgefühl einer eigenständigen Lösung, das sich vor dem Horizont einer historisch offenen Zukunft aus der Erfahrung eben jener „Umgestaltung" der Verhältnisse seit dem 18. Jahrhundert speist. Die Zustände Kurlands handeln vom Erfolg einer ständisch moderierten Modernisierung. Spätere Historiker sahen es skeptischer. Werner Conzes Diktum vom „Hineinragen ständisch gebundener Strukturen in die Moderne"6 ist die wohl eleganteste Formulierung des Vorwurfs an die deutschbaltischen Eliten, notorisch beharrend das Mittelalter bis 1917/20 fortgeschrieben, einen zähen Anachronismus abgegeben zu haben.7 Das Kopfschütteln angesichts solcher „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen"8 ist dem Lin-

„Wir haben mit der Civilisation des Auslandes und mit dem materiellen Zeitalter ziemlich gleichen Schritt gehalten": Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 71. 5 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 33, 129, 157, 159ff.: Insbesondere die

4

Unmenschlichkeiten und die drastische Verschärfung der relativen Vermögensunterschiede im (englischen) Industriekapitalismus, aber auch die 1848 zutage getretene soziale und politische Instabilität der deutschen und französischen Entwicklungsgänge seien vermieden worden. 6 Werner Conze, Kann es heute noch eine lebendige Geschichte des Deutschtums in Ostmitteleuropa geben?, in: Baltische Briefe 5 (1952, 8/9), S. 7, hier nach Pistohlkors, „Hineinragen", S. 43, 51; s.a. ders., Die Ostseeprovinzen, S. 363. Ähnlich bereits Wittram, Leistungen, S. 13. 7 Zu Teilen handelt es sich um eine Umwertung. Mit konservativer Sympathie formulierte Hans Rothfels 1930: „So ragte hier [in Livland] ein ganz exzeptioneller verfassungsmäßiger und staatlich-sozialer Zustand tief ins 19. Jahrhundert hinein, ein Stück Mittelalter, noch dazu verengert und konzentriert. Aber in den scheinbar fossilen Formen wirkten Anschauungen des staatlichen Lebens sich aus, die rückwärts gewandt und vorwärtstreibend zugleich waren." (Rothfels, Reich, Staat und Nation, S. 225). Vgl. a. Pistohlkors, Argumentationen, S. 236. 8 Vgl. Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 363; ders., „Hineinragen", v.a. S. 54; Benz/Sinnig, Modernisierung, S. 187: „Ungleichzeitigkeit mit den meisten Epochen Europas"; auch Hirschhausen, Stand, Region, Nation und Reich, wiewohl dezidiert skeptisch gegenüber der „normativen Vorstellung eines homogenen Modernisierungsbildes": ebd., S. 397.

13

Einleitung

über die archaischen Sitten der Väter nicht unähnlich. Es folgt aber einer stärker homogenisierten historischen Teleologie und stellt nicht allein das Jetzt normativ der vergangenen Ordnung entgegen, sondern spricht dieser die Zugehörigkeit bereits zu ihrer eigenen Zeit ab, als an sich schon widersinnig. „Ungleichzeitigkeit" behauptet kein konkurrierendes, sondern ein Nicht-Geschehen, eine Art Leerstelle im Ablauf, die irritiert, bis das allgemeine Geschehen „die" Geschichte sie endlich in katastrophischer Erlösung füllt. Es ist weniger die Parteinahme für den demokratischen, industrialisierten Nationalstaat, die daran fragwürdig erscheint, als die Unausweichlichkeitshypothese, die das Urteil impliziert. Sie ist epistemologisch heikel als unabgesicherte Kontingenzreduktion und politisch beunruhigend, insofern sie ein Bewusstsein eigener Alternativlosigkeit transportiert.9 Auf der Basis des Konvergenzpostulats wurden nicht nur die sprichwörtlichen „baltischen Barone", sondern ganze Großregionen, Diskurswelten und Sozialgefüge als ,failed histories' traktiert; unter wechselnden Auspizien geschriebene Defizitgeschichten attestieren ihnen „Rückständigkeit" oder „Deformation",10 eben „Ungleichzeitigkeit" gegenüber der (Vorstellung von einer) europäischen Normalzeit." Während Ernst Blochs paradoxales Sprachbild seinen rhetorischen Charme der offen polemischen Absicht verdankte,12 hat der Ausdruck seitdem eine gewisse Karriere als Gedankenersatz gemacht. tens

-

9

10

11

-

Vgl. Schulzes, Ende der Moderne?, S. 84, scheinbar banalen, aber selten konsequent beachteten Hinweis an das „Kontinuitätsdenken", „daß jede Vergangenheit immer mehr war als nur die Vorgeschichte unserer Gegenwart. Sie war auch die Vorgeschichte vieler anderer Entwicklungsmöglichkeiten." Kritik: Müller, Historisierung; vgl. a. Mergel, Geht es weiterhin voran? Charakteristisch für ein aufgeklärtes Beharren auf Maßstab und Abweichung dagegen Winkler, Der lange Weg, Bd. 2, S. 657: „Und wenn auch alle Geschichte eine Geschichte von Sonderwegen ist, so gibt es doch einige, die besonderer sind als andere." George Orwell hätte es nicht schöner sagen können. Vgl. dagegen Mergel, Geht es weiterhin voran?, S. 218, der dauerhafte „Ungleichzeitigkeiten" für das Frankreich des 19. Jahrhunderts konstatiert, das Bild aber in

Interessen- und Kulturkonflikte auflöst: „Gesellschaften können mit tiefen inneren Furchen leben, und Nicht-Konvergenz kann Stabilitätsbedingung sein." Ähnliche Differenzierung eingeschliffener Auto- und Xenostereotype mit Bezug auf die Modernisierung in Deutschland: Collins, German-Bashing. 12 Bloch, Erbschaft, S. 104 ff. Auch Reinhart Koselleck meinte, als er es für die Begriffsgeschichte aufnahm, eben nicht ein Nebeneinander von Unpassendem, sondern die Komplexität übereinanderlagernder Bedeutungsschichten bzw. das Auseinanderklaffen je zeitgenössischer Erfahrung und Erwartung (z. B. Blochs); vgl. Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 125f., 324f

14

Einleitung

Denn ein Paradoxon erklärt letztlich nichts, sondern weist die Stelle aus, die der Erklärung bedarf oder den blinden Fleck des verwendeten Modells. Anstelle von Abfolgetypologien, die zeitgleiche Phänomene teleologisch hierarchisieren und daraufhin dieses oder jenes „Ausbleiben" konstatieren, scheint ein Deutungsrahmen wünschenswert, der es erlaubt, tatsächliche Dynamiken als vergangene Gegenwart mit offener Zukunft zu beschreiben, ohne auf eine systematische Verortung zu verzichten. Ernst v. Rechenberg-Linten nahm in den Zuständen Kurlands fundamentalen Wandel nicht für einen Befund, sondern zur Voraussetzung als Schreibanlass. Dass er die Veränderung absichtsvoll deutet, wenn man will: schönfärbt, ist das eine. Dass er sich überhaupt herausgefordert sah, einer einschneidenden Veränderung Sinn zu verleihen, das entscheidende. Darin liegt der Schreibanlass wiederum für dieses Buch. Sein Anliegen ist kein vorrangig landesgeschichtliches, wenn die Studie auch auf dieser Ebene einige Lücken schließt und Revisionen beziehungsweise zeitgemäße Deutungen vorschlägt. In erster Linie verstehe ich den Text als Beitrag zu einer vergleichenden europäischen Geschichte, die die Interpretamente der „Rückständigkeit" und „nachholenden Entwicklung" auf die Seite stellt zugunsten der Annahme einer unhintergehbaren Gleichzeitigkeit in der (interdependenten) Heterogenität. Zu diesem Zweck soll, zweitens, mit Hilfe eines revidierten Konzepts von Modernisierung die Neugewinnung des Terminus als eines gemeineuropäischen Epochenbegriffs erprobt werden, wobei die Untersuchung sich deren Frühphase zuwendet, dem Kern jener Koselleckschen „Sattelzeit", die die alte Welt von der modernen trennt oder mit ihr verbindet, je nach dem. Schließlich, oder eigentlich, werden eine oder mehrere Geschichten erzählt im Sinne des vorab zitierten Philipp Melanchthon. In der Summe: „Ständische Modernisierung", das hat den Beiklang eines hölzernen Eisens. Gegen diese Hörgewohnheit geht es. -

-

-

Modellbildung Übertrieben skeptische Annahmen bezüglich der Anpassungsleistungen

der frühneuzeitlichen Ständegesellschaften im Osten Europas sind seit längerem der Revision unterzogen worden, teils mit weitreichenden systematischen Implikationen für die europäische Geschichte überhaupt. Aus

Einleitung

15

den Ansätzen zu einer Neueinschätzung seien drei Argumentationsstränge hervorgehoben.13 Eine vor allem auf Polen konzentrierte Forschung betont die Kontinuität republikanisch-freiheitlicher Traditionen bei der Ausweitung der Adelsnation zur Volksnation. Die zentrale These lautet, dass das Zusammenfallen absolutistisch-bürokratischer Penetration mit Fremdstaatlichkeit ein Postulat der „Modernisierungsfähigkeit aus sich selbst heraus" (Zernack) provoziert habe. Im Rahmen dessen sei die Transformation ständischer Libertas und exklusiver Partizipationschancen in moderne Freiheit und demokratische Teilhabe programmatisch geglückt und habe dem polnischen Nationalismus ein spezifisches, ungebrochen emanzipatorisches Profil verliehen.14 Ein zweiter Strang untersucht den „politischen Wandel im Osten", konkret in Ost- und Westpreußen, mit Hilfe einer Kombination verfassungs- und sozialhistorischer Methoden, um den Übergang „von den alten Ständen zum Konstitutionalismus" neu zu fassen.15 Unter Rückgriff auf Otto Hintze sollen an Max Weber orientierte, auf staatsbürokratische Dynamisierung fixierte Geschichtsbilder relativiert werden: Die von exogenen Marktimpulsen ausgelöste Mobilisierung des Bodens habe zur Reaktivierung und Ausweitung einer traditionell breiten politischen Teilhabe geführt, die in etwas Neues vorauswiesen.I6

13 Methodisch offenere Ansätze, denen ich zahlreiche Anregungen verdanke, wurden zudem diskutiert auf den Projekttagungen „Bauern und Adel im Prozeß der Modernisierung. Agrarische Eliten im ostelbischen Deutschland, Nordeuropa und Ostmitteleuropa im 19. Jahrhundert", Herder-Institut Marburg 16.-17. Juli 1999, und „Wege aus dem Absolutismus. Orientierungskrisen agrarischer Eliten im ostelbischen Deutschland, Nordeuropa und Ostmitteleuropa im 19. Jahrhundert", Marburg 3.-5. Mai 2001; Tagungsberichte: Herder Aktuell. Informationen aus dem Herder-Institut 1999/9, S. 3f; AHF Information 50, 12.9.2001, URL: www.ahf-muenchen.de/Tagungsberichte/Berichte/htm/2001 /50-01 .htm (letzter Zugr. 22.7.2008). Jüngerer Überblick über die Ständeforschung zum östlichen Europa: Bömelburg, Forschungen; vgl. a. Mühle, Geschichte Ostmitteleuropas, S. 178ff. 14 Zernack, Staatsmacht, S. 4: „Die Wende zur modernen Welt wurde also in sozialgeschichtlicher Hinsicht verzögert, eine spezifische Demokratietradition aber, der Weg von der altständischen Libertät zur liberalen Demokratie, war geebnet." Dort auch eine knappe Charakterisierung der ostmitteleuropäischen „adligen Reichsnationen". Vgl. a. Schramm, Reformen, für eine schon euphorische Pointierung. 15 Neugebauer, Politischer Wandel. 16 Vergleichende Einordnung: Neugebauer, Standschaft; ähnliche, wenn auch schwächere Entwicklungen in den mittleren Provinzen Preußens: ders., Staatskrise. Für die ältere Literatur zur „ständischen Renaissance" um 1800 überhaupt s. ebd. sowie die weiteren Aufsätze in Gehrke, Aufbrüche in die Moderne.

16

Einleitung

Erwähnt seien schließlich Forschungen, die Konzepte von „Zivilgesellschaft" nutzen, um „Ostmitteleuropa" an die Trendlinie des europäischen Exzeptionalismus heranzuschreiben, etwa indem das Mobilisierungspotential nationaler Bewegungen oder das Assoziationenwesen fokussiert und Verwandtschaften, zumindest Vereinbarkeiten („Gleichzeitigkeit") insbesondere auf dem heutigen EU-Gebiet entdeckt werden.17 Die entsprechenden Arbeiten beziehen sich allerdings vorwiegend auf eine spätere als die hier in Frage stehende Zeit. Doch auch die beiden erstgenannten Ansätze sind auf die kurländische Adelsgesellschaft um 1800 kaum übertragbar. Als grundlegende Differenz sticht ins Auge, dass der kurländische Adel klein und exklusiv war, es ein Massenadels-Problem als Agentur der Dynamisierung nicht gab. Weiterhin, dass Kurland de facto eine Adelsrepublik in noch weitergehendem Sinn als die Adelsmonarchien Polen oder Ungarn war, jedoch keine vergangene Größe oder ein Corona regni-Konzept als mobilisierender Mythos dienen konnten,18 auch kein sprachethnisch homogener Kernraum zu Verfügung stand, der eine Transponierung von adelspatriotischem Libertasdenken in modernen Nationalismus erlaubt hätte.19 Endlich, dass das von Neugebauer am Beispiel Preußens dargestellte Zusammenwirken von breiter Partizipationstradition und Marktimpuls, eine soziale Mobilisierung des zu politischer Teilhabe berechtigenden Bodens nicht stattfand. Für Livland, wo sich die Verhältnisse in mancher Hinsicht ähnlich ausnahmen, ist zudem ein Ende auch der von oben, der imperialen Zentrale, ausgehenden Veränderungsimpulse nach der Ablösung Schwedens durch Russland 1710/21 und in der Folge ein Erstarren im Adelskonservativismus postuliert worden,20 das auf Kurland zu projizieren naheliegt. Relative Zurückhaltung der Krone, Polyethnizität, Schwäche des Bürgertums und „ostmitteleuropäische" Privilegien eines 17

Vgl. etwa die entspr. Aufsätze in Conrad/Hildermeier/Kocka, Europäische Zivilgesellschaft; Baubrkämper, Praxis der Zivilgesellschaft; programmatisch: Kocka, Das östliche Mitteleuropa; in empirisch satter, methodisch reflektierter Ausprä-

gung: Hirschhausen, Grenzen der Gemeinsamkeit. In diesem, starken Sinne verstanden sich die Kurländer nicht als Glieder des „von unten" aufgebauten „föderativen Staatsverbandes" der Rzeczpospolita (Zernack, Staatsmacht, S. 3); inwieweit der über die konfessionelle Differenz vermittelte faktische Ausschluss von Staatsämtern (Heyking, Letzte Tage, S. 88 f., 135, 138, auch 183 ff.) Anlass oder Einkleidung der Autonomiebehauptung war, sei hier dahingestellt. Zu den engeren Verbindungen in früherer Zeit Bues, Kurland und der Norden. 19 Krude gesagt waren Adel, Stadtbürgertum und Klerus deutschsprachig, die Masse der bäuerlichen Leibeigenen lettischsprachig; Differenzierung s. u., S. 66 ff, 86 f. 20 Zernack, Ständeausgleich, S. 255 f. 18

17

Einleitung

„westeuropäisch" kleinen Adels lassen sich als die Strukturbedingungen außergewöhnlicher Beharrungskraft und Wandlungsblockaden eines auffälligen Modernisierungsrückstands lesen. Nimmt man das Empfinden massiver Veränderung, das Zeitgenossen wie Linten äußerten, jedoch ernst, drängt sich die Vermutung auf, der Eindruck relativer Statik könnte eher aus dem Zuschnitt der herangetragenen Fragen rühren als aus dem Gegenstand. Statt das aus anderen Kontexten Bekannte zu suchen, soll deshalb ein Modell die Analyse instruieren, das zwar gleichfalls von „westlichen" Verläufen abgezogen ist, aufgrund seines Abstraktionsgrades aber eine erhebliche Offenheit für divergente Empirien aufweist und so die Erörterung der „Modernisierung" als eines das ganze Europa erfassenden Prozesses zulässt. Der Vorschlag, dazu ausgerechnet den Begriff der Modernisierung -

heranzuziehen, mag überraschen. Sind doch klassische Modernisie-

rungstheorien eben wegen ihrer normativen Überfrachtung in Misskredit geraten,21 wegen der reduktionistischen Vorstellung von Normalwegen in mehr oder weniger wünschenswerte Gegenwartsgesellschaften („Verwestlichung") beziehungsweise von Annäherungen an soziale Utopien (industrieller Nationalstaat, Wohlfahrtsdemokratie, „Bürgergesellschaft" usf.) während diesem Ziel nicht zustrebende oder auch nur von einem -

idealisierten Muster abweichende Verläufe als nicht- oder anti-modern relegiert wurden.22 In der Tat können Konvergenzmodelle, die auf teilweise tautologischen oder selektiven Definitionen und Abgrenzungen gegen „traditionale" Gesellschaften beruhen, oft in Form kumulativer Phänomenologien, kaum mehr überzeugen.23 Doch werden seit etlicher Zeit eine Wiedergewinnung des entsprechenden heuristischen Bestandes und seine Reformulierung in „Theorien von (multiplen) Moderni21

Von der Zähigkeit der zugrundeliegenden Dispositionen zeugt indessen die fortdauernde theoretisch abstinente, wenn nicht unbedachte Verwendung des Begriffs in der historiographischen Umgangssprache. 22 Überblick: Mergel, Geht es weiterhin voran?; Literatur mit Nähe zum Gegenstand: Neugebauer, Politischer Wandel, S. 11 ff.; Diskussion und pragmatische Anwendung für Russland: Dixon, Modernisation, S. Iff; weniger reflektiert für Riga: Hirschhausen, Wahrnehmung des Wandels, S. 477f. 23 Beispiele dafür, wie auch kritischer Umgang den normativen Selbstbezug nicht zu sprengen vermochte: Wehler, Modernisierungstheorie; Schissler, Theorien. Schisslers Definition war öffnend gegenüber nichtkapitalistischen Entwicklungsmodi gemeint, liefert dabei aber das Paradigma präsentistischer Reduktion: „Modernisierung ist derjenige kumulative Wandlungsprozeß, der die uns heute bekannten Gesellschaftsformationen der Gegenwart hervorgebracht hat" (ebd., S. 155). Kritik zumal im Hinblick auf einen verbreiteten „institutional fetishism": Therborn, European Modernity, v.a. S. 5. -

-

18

Einleitung

sierungen" angeregt, die sich der erkannten Schwächen entledigen.24 In diesem Sinne lässt sich ein historisierter Begriff von Modernisierung zur Bezeichnung einer Epoche denken, die von übergreifenden Prozessen in großem Reichtum lokaler Ausprägungen charakterisiert war. Das beinhaltet dreierlei:

auf hinreichend abstraktem Niveau bestimmt, das es erlaubt, von einem gemeineuropäischen Phänomen zu sprechen, ohne die Geschichte Kurlands oder sonst eine dem direkten Abgleich mit anderweitig gewonnenen Vorstellungen zu unterziehen und nach Erscheinungen Ausschau zu halten, die etwa die Modernisierung in Flandern ausgemacht haben. Ob der Begriff auf diesem Niveau trägt oder nicht neuerlich einen inadäquaten Transfer von Vbrgangshypothesen darstellt, kann sich erst an der Empirie erweisen. 1. Der

Begriff wird

-

-

2. Der Begriff wird seines normativen Gehalts entleert. Das meint dezidiert nicht, mögliche Modernisierungseffekte wie die Ausweitung politischer Rechte, sozialer Chancen und materieller Wohlfahrt, demokratisierte Kommunikation, gesteigerte Lebenserwartung etc. normativ zu relativieren.25 Es soll aber der Zusammenhang ihrer Durchsetzung als eine Epoche verstanden werden, die in sich vielfältiger war, die nicht nur dieses, sondern phänomenal anderes hervorgebracht hat, das sich nichtsdestoweniger als epochencharakteristisches Novum darstellt und als modifizierte Tradition unzutreffend qualifiziert ist. Als analytischer Periodisierungsbegriff kann „Modernisierung" einer fruchtbaren historischen Komparatistik dienen, während der Terminus als Chiffre für grundsätzlich Wünschenswertes reserviert „die" Geschichte ideologisch verengt und den Blick auf das heterogene Kontinuum des Geschichtsraumes Europa verstellt. Die erweiterte Perspektive soll den Gegenständen adäquate Vergleiche ermöglichen, denen es nicht um au24 Mergel, Geht es weiterhin voran?, S. 225ff.; Eisenstadt, Multiple Modernities; ders. Vielfalt, v.a. S. 11 f.; vgl. a. Therborn, European Modernity, S. 3f., der allerdings, wiewohl er „the very generality of the concept" als Vorzug anführt, eine gewisse kulturalistische Engführung unternimmt. 25 Vielmehr werden durch die Entkopplung von einem räumlich, zeitlich und sozial gebundenen Programm Argumente für eine Universalisierbarkeit entsprechender Normen, Konzepte und Techniken entlastet. Ähnlich für einen verwandten Topos Muller, Historisierung, S. 164: „Es geht nicht um den Streit über das Projekt der Aufklärung, sondern um den Streit darüber, ob die Geschichte der damit assoziierten gesellschaftlichen Normen und Werte in Europa mit der Geschichte bürgerlicher Gesellschaften gleichzusetzen ist."

19

Einleitung

togene Wege

zu

einer „Moderne", sondern

um

verschiedene

Ausprä-

gungen von Modernisierung geht.26 3. Der Begriff wird mithin ohne Rest prozessualisiert. Das reagiert auf Probleme, die Periodisierungsversuchen solchen, die mit scharfen Zäsuren argumentieren, ohnehin aus ihrer empirischen Überprüfung erwachsen sind:27 Was zu beschreiben ist, sind nicht „erreichte" oder „überwundene" Zustände, sondern spezifische Dynamiken, Verschiebungen mit mannigfaltigem Vorlauf und ohne eindeutigen Abschluss. Im weiteren wird deshalb von „Modernisierung" die Rede sein; wo um des Sprachflusses willen „Moderne" auftaucht, ist kein (finaler) Status gemeint, sondern ein fortdauerndes Geschehen. Nicht zuletzt unterläuft der Prozessansatz auch implizite Hierarchisierungen, indem offene Verläufe als „mehr" oder „weniger" modern einzustufen sinnlos ist. -

-

Ein Modell, das diese Anforderungen weitgehend erfüllt, lässt sich aus einem Systematisierungsversuch gewinnen, den Hans van der Loo und Willem van Reijen in Anlehnung an Talcott Parsons und Hans Adriaansens unternommen haben.28 Ausgangspunkt ist ein konzeptionelles Schema, das menschliches Handeln und Leiden aus vier Perspektiven erfasst, wobei die analytischen Kategorien, das sei betont, Aspekte bezeichnen, die in jedem Handeln oder Handlungskomplex kombiniert sind nicht etwa gegeneinander abzugrenzende Sektoren gesellschaftlicher Realität.29 In diesem Sinne meint Struktur „die soziale Wirklichkeit, in der Menschen bestimmte gesellschaftliche Rollen ausfüllen", in ihrem Handeln „fortwährend auf andere bezogen" bestimmten Interak-

26 Darin divergiert die Fragestellung von der z. B. Neugebauers, Politischer Wandel, S. 6, wenn er Peter Herdes Zutrittsbedingung für die Ständegesellschaften zu .unserer' Vorgeschichte akzeptiert: „daß nicht die Einzelkämpfe der Stände mit ihren jeweiligen Fürsten urteilsbestimmend sein können, sondern, ,ob sie [...] sich von der bloßen Abwehrhaltung zur positiven Mitwirkung bei der Entstehung neuer Verfassungsformen erhoben und damit einen Anteil an der Entwicklung des modernen Verfassungsstaates für sich beanspruchen können'". Im Unterschied zu dieser „Prüffrage" (ebd.) wird der Begriff „Prozess" im folgenden abzüglich seiner justiziellen Konnotation gebraucht. 27 Schulze, Ende der Moderne? ,v. a. S. 82; vgl. a. den Überblick bei Bader-Zaar/Hämmerle, Neuzeit; mit Fokus auf die Elitenforschung: Hartmann, Kontinuitäten. 28 van der Loo/van Reuen, Modernisierung, v.a. S. 30ff. Die folgende Wiedergabe reduziert das Modell auf das hier Notwendige. 29 van der Loo/van Reuen. Modernisierung, S. 32, sprechen auch von „Dimensionen". Um Verwechslungen vorzubeugen: Die drei bis fünf eher sektoral argumentierenden „Dimensionen" oder „Achsen" der Gesellschaftsgeschichte (Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1987, S. 7, 11, 13, Bd. 4, München 2003, S. XVIIf.) sind nicht gemeint.

20

Einleitung

tionsmustern folgen. Unter Kultur wird die „Wirklichkeit von Auffassungen, Ideen, Symbolen, Werten, Normen und Bedeutungen verstanden, die [dem] Handeln Richtung geben und Sinn verleihen". Person: „Mag unser Handeln auch in hohem Maß von den Begrenzungen und Möglichkeiten der uns umgebenden Strukturen und Bedeutungssysteme bestimmt sein, so ist damit natürlich auch ein Persönlichkeitsaspekt verbunden." Man könnte auch sagen: Zu sich verändernden Graden ist Agency indeduzibel. Endlich kommen mit dem Aspekt der Natur die physischen Bedingungen in den Blick, unter denen Menschen Sozial Strukturen, Bedeutung und Handlungsmacht (re)produzieren und auf die sie zurückwirken oder auch nicht -, inklusive des menschlichen Körpers selbst.30 -

Modernisierung lässt sich dann beschreiben als Differenzierung der Strukturen: Es kommt zu verstärkter Arbeitsteilung und funktionaler Spezialisierung, der Ausbildung stets engerer Feldlogiken bei einer gleichzeitig weiträumigeren Integration lokaler Zusammenhänge, damit einer Vervielfältigung sporadischerer sozialer Kontakte und konkurrierender Stratifizierungsmuster, kurz: zu wachsender Komplexität auf der systemischen Ebene, einer Aufspaltung und Pluralisierung der sozialen Rollen auf der der Akteure.

Individualisierung der Person: van der Loo und van Reijen betonen wesentlich den emanzipatorischen Aspekt eines säkularen Trends, „in immer mehr Lebensbereichen immer mehr selbständige Entscheidungen treffen" zu können,31 verbunden mit einem Übergang von der Wertschät-

zung der Geburt zu einer des Verdienstes.32 Das ist Teil des Bildes. Ihre Spezifik erhält die Sache jedoch erst durch die Einfassung in den Imperativ der „Authentizität", oder personalen Konsistenz.33 Hat mit Herder jeder Mensch sein eigenes Maß,34 so ist er zugleich angehalten, dieses sein Maß zu finden und ihm zu leben, „der eigenen Originalität treu zu sein"35 oder sein Leben zu „verfehlen". Individualisierung als Selbst-

30 Alle Zitate: van der Loo/van Reuen, Modernisierung, S. 31 f. 31 van der Loo/van Reuen, Modernisierung, S. 180. Dass die Optionenausweitung einiger mit einer Optionenreduktion anderer einhergehen konnte, demonstriert etwa die Geschlechtergeschichte. 32 van der Loo/van Reuen, Modernisierung, S. 184. 33 Taylor, Unbehagen, S. 38f.; vgl. a. van der Loo/van Reuen, Modernisierung, S. 208 ff. 34 Hier nach Taylor, Unbehagen, S. 38. 35 Taylor, Unbehagen, S. 39.

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Einleitung

Verwirklichung meint beides, die Befreiung vom sozialen Kontext wie die Verpflichtung auf ein dekontextualisiertes Semper idem. Dabei ist das eine wie das andere durchaus nicht an eine Aufhebung ständischer Zuschreibungen gekoppelt; zu Ende gedacht hieße das, Individualisierungsprozesse an die Auflösung gesellschaftlicher Strukturen überhaupt zu binden. Sie verlaufen aber notwendig im strukturellen Bezug, der immer mit Askriptionen operiert. Domestizierung der Natur: Die Abhängigkeit individuellen wie kollektiven Handelns, ganzer Gesellschaften von vorgefundenen Bedingungen und klimatischen Wechselfällen sinkt zugunsten einer solchen von Apparaten und Organisationen, der Raum schnurrt ein, verbesserte Ernährung, Hygiene und Medizin gehen einher mit gesteigerter Fremd- und Selbstkontrolle des Körperlichen, Devianz wird pathologisiert und damit „heilbar", kurz: das „technologische Regime"36 befreit und unterwirft den Menschen.

der Deutungsweisen: Sind die ersten drei Annahmen im wesentlichen von van der Loo und van Reijen übernommen, so überzeugt die dort getroffene vierte einer kulturellen „Rationalisierung" weniger. „Rationalität" im Sinne glückender Syllogismen auf der Basis bestimmter (nie letztbegründbarer) Axiome, Diskursivität und Argumentationszwang sind weder eine Eigentümlichkeit der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte, noch deckte sich deren Denken und Deuten mit den Traditionen des Rationalismus.37 Auch hier: Ein spezifisches „Ordnen und Systematisieren der Wirklichkeit, um sie vorhersehbar und beherrschbar zu machen",38 mag Teil des Bildes sein, verkürzt es aber um fortwährende Ausbrüche aus dem „stählernen Gehäuse", die die Modernisierung nicht minder konstituierten.39

Vergeschichtlichung

36 Im Sinne einer

Verschmelzung

von

Wissenschaft und Technik:

Reuen, Modernisierung, S. 228ff. 37 So, bei aller Differenzierung, die Essenz

von van der

van der

Loo/van

Loo/van Reuen, Moderni-

sierung, S. 132ff. Dagegen (und mithin gegen Weber) vgl. Foucaults Plädoyer, „eher gewisse spezifische Rationalitäten [zu] analysieren, statt sich beständig auf den

Rationalitätsprozeß im allgemeinen zu berufen": Bernhard Taureck, Michel Foucault, Reinbek 1997, S. 92. -Ein anderer Kandidat, die Säkularisierung, kann als widerlegt gelten: Bayly, Birth of the Modern World, S. 325 ff; vgl. a. Hugh McLEOD/Werner Ustorf

(Hg.),

The Decline

of Christendom

in Western

Europe,

1750-2000, Cambridge/New York 2003, mit Betonung einer Zäsur erst um 1960.

38 van der Loo/van Reuen, Modernisierung, S. 34. 39 Die terminologische Okkupation, die „rational", „modern", „Aufklärung" und „Bürgertum" tendenziell synonymisiert, illustriert vielmehr eine spezifische durchaus nicht ungebrochene historisch-politische Selbstvergewisserung. -

-

22

Einleitung

Das Gemeinsame moderner Kultur scheint eher in einer umfassenden Vergeschichtlichung zu liegen. Damit ist nicht historisches Erinnern per se gemeint, sondern das Dominantwerden von Narrativen, deren Träger sich auf einem Entwicklungspfad verorten, der Reise aus einer überwundenen oder verlorenen Vergangenheit in eine mehr oder minder -

-

offene, jedenfalls „andersartige"40 Zukunft.41

Im Begriff der vergeschichtlichten Sinnstiftung lassen sich Aufklärung und Romantik, philosophischer Rationalismus und Irrationalismus und was der Dichotomien mehr sind vergleichsweise mühelos aufheben. Die zugrundeliegende „Öffnung des historischen Horizontes"42, den Wechsel der Perspektive, hat prägnant Göran Therborn auf den Punkt gebracht: „Pre-modernity is looking back, over its shoulder, to the past, to the latter's example of wisdom, beauty, glory, and to the experiences of the past. Modernity looks at the future, hopes for it, plans for it, constructs it, builds it."43 Geschichtsbewusstsein und Geschichtswissenschaft sind Ausdruck dieser Hinwendung zur Zukunft. Die Modernisierung begreift sich selbst als Stadium und wendet sich nicht mehr fallweise an die Vergangenheit als Reservoir überzeitlicher Muster, sondern sucht systematisch Auskunft über das zu Gewärtigende, Verbürgung ihrer Hoffnungen und Konstruktionen.44 Indem es das Gewesene als unwiederholbaren Vorlauf auf seine jeweilige Gegenwart hin auffasst, die eine abermals fundamental gewandelte Zukunft vorbereitet, beschwört das geschichtliche Denken zugleich die Macht der Genetik und die Veränderbarkeit der Verhältnisse: „Ironically, the discovery of history as the essential mode of explanation for all phenomena, natural and human, was the most revolutionary change of the nineteenth [!] century."45 Dass das historische Bewusstsein in dieser Form die Philosophie durchdrungen -

40 41

Habermas, Diskurs der Moderne, S. 15.

eschatologisch-heilsgeschichtliche ist diese Zukunft, sind moderne Narrative immanent: auf eine WWigeschichte bezogen („die Weltgeschichtliche geschichte ist das Weltgericht"). Das schließt religiöse Aufladungen nicht aus; von einer Negation des Transzendentalen ist hier nicht die Rede wohl aber von dessen Beglaubigung oder zumindest Ergänzung durch eine (erzählbare und erzählenswerte) innerweltliche, dabei über „Geschehnis" hinausgehende „Entwicklung", die einen eigenen, vor-endzeitlichen Spannungsbogen aufweist. 42 Koselleck, Vergangene Zukunft, v.a. S. 300ff. (.Neuzeit'), 349ff. (.Erfahrungsraum und .Erwartungshorizont'); ders., Das achtzehnte Jahrhundert; vgl. a. ders., Kritik und Krise, v. a. S. 90f ; Habermas, Diskurs der Moderne, S. 21 ff. 43 Therborn, European Modernity, S. 4. 44 Vgl. Foucault, Ordnung der Dinge, S. 269ff., v.a. 271: Geschichte als „die fundamentale Seinsweise der Empirizitäten" in der modernen Episteme. 45 Bayly, Birth of the Modern World, S. 484. Grundlegend zum Problem der „Geschichtlichkeit" Schwietring, Kontinuität. Anders als eine

-

'

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und die Theologie regelrecht unterworfen hat, liegt zutage. Als narrativer Modus lässt es sich aber auch in kruderen Glaubenserzählungen, in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, in der Astrophysik, der evolutionistischen Biologie, der Psychoanalyse und Selbst-Repräsentation, im modernen (einen anderen gibt es nicht) Roman ausmachen. Die Modernisierung war weder unbedingt „rational" noch frei von Magie, aber sie war besessen vom Gedanken der Entwicklung. Nun sind strukturelle Differenzierung, Individualisierung, Naturbeherrschung und Geschichtsdenken nicht auf das 18. bis späte 20. Jahrhundert beschränkt. Etwa lässt sich am kurländischen Fall das, was unten als „Praxis der Bereicherung" beschrieben wird, ebensogut für das 16. und 17. Jahrhundert zeigen: wirtschaftlicher Aufschwung, dessen strukturveränderndes Potential und seine teilweise Realisierung, bevor jeweils verheerende Kriege zu tiefen Einschnitten führten. Ähnliches ließe sich von weiten Teilen Europas im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert sagen, über die „Entdeckung" des Individuums in der Renaissance, die Aufwertung des Geschichtlichen in den Reformationen, das Einsetzen der europäischen Expansion, den technisch-gewerblichen Wandel, verschiedene Ausformungsstufen des Militär-, Steuer- und Anstaltsstaats, die Durchsetzung neuer Gewalttechniken usw. Partielle, sporadische, auch umfassende Modernisierungen im definierten Sinne gab es verschiedentlich. Doch erst die sich gegenseitig bedingende und verstärkende Beschleunigung und Totalisierung der benannten Großprozesse zwischen 1750 und 1850 macht es plausibel, von epochestiftenden Vorgängen und der Modernisierung als einem sich dergestalt ausbildenden europäischen46 Zeitalter zu sprechen. Dessen Reichweite rührte nicht 46 Von einem europäischen Zeitalter spreche ich aus zwei Gründen: Erstens stellt Europa den Horizont dieser Arbeit dar, den der implizit oder explizit mitlaufenden Vergleiche das entspricht weitgehend dem Horizont der Akteure, aber auch schlicht dem meiner Kompetenz. Zweitens: Die Modernisierung war wesentlich ein globaler, oder besser: globalisierender Vorgang; sie wurde geprägt vom Ausgreifen europäischer Mächte über den Globus und dem Zurückwirken ,der Welt' auf Europa. Unter dieser Prämisse von einem europäischen Zeitalter zu sprechen, mag verfehlt klingen. Es scheint jedoch sinnvoll, will man hinter Austausch und Legierung nicht die Machtzusammenhänge verschwinden lassen: Die Modernisierung der Welt speiste sich aus einer Vielzahl heterogener Quellen, stellt sich als ein globales Amalgam dar, doch sie stand im Zeichen eines unerhörten Unterwerfungsund Penetrationsvorgangs. Außereuropäische Waren, Moden, Ideen und Techniken wurden universell und fanden Eingang in Europa der Export von Statthaltern verlief ausschließlich in der Gegenrichtung, direkte Abschöpfung wurde einseitig geübt, keiner überseeischen Macht gelang es, einen Genozid in Europa zu begehen. -

-

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Zusammenhang, geteilten Wurzeln oder Entwicklungsnotwendigkeiten, sondern gesteigerter Interdependenz. Handelte es sich etwa beim „Großen" Nordischen und dem Spanischen Erbfolgekrieg noch um schwach wechselwirkende Parallelaktionen, an deren Ende Arrangements für kontinentale Subsysteme standen, wurden spätestens seit dem Siebenjährigen Krieg größere Konflikte in umfassenden Allianzen mit kontinentalen oder globalen Rückwirkungen ausgetragen. In welchen Graden man politische und Mächtegeschichte nun als Symptom oder Ursache veranschlagen mag Handelsbeziehungen, Informationsaustausch und Kulturtransfers zeigen ein ähnliches Bild -, die in ihnen augenfällige wechselseitige Abhängigkeit und Wahrnehmung markieren die notwendige Bedingung für die Epochenhypothese. Ihre hinreichende lautet: Die Modernisierung ist seitdem unter keinem Aspekt abgebrochen oder zum Erliegen gekommen. Vielmehr steht sie im Begriff, in qualitativ Neues zu überschießen. Orientiert sich Therborn zufolge die Vormoderne zurück, die Moderaus

einem inneren

-

-

-

auf die Zukunft, so fährt er an der genannten Stelle fort: „Post-modernity has lost or thrown away any sense of time direction."47 Dieser Text entsteht unter der Annahme, dass die Historisierung der Moderne auch deshalb möglich wird, weil sich ihre Ablösung durch eine Epoche, die man in Ermangelung eines besseren Begriffs getrost „Postmodernisierung" nennen mag, deutlich abzeichnet.48 Die Dynamik der Differenzierung gesellschaftlicher Rollen beginnt strukturlösend zu wirken, funktionale Feldlogiken diffundieren, kategoriale Askription wird unglaubwürdig, Status amorph. Damit einhergehend weicht die emphatische Individualisierung mit ihrer gleichzeitigen Betonung von Emanzipation und personaler Konsistenz multiplen, kontextorientierten Selbst- und Freiheitsverständnissen und Verhaltensweisen. Neben die Domestizierung und Manipulation des natürlich Gegebenen treten genuine Werkstoff- und Bio-Artefakte, hier wie oben: einschließlich des menschlichen Körpers selbst. Was endlich Deutung und Sinnstiftung angeht, ist Therborn wenig hinzuzufügen. Nachdem das geschichtliche Denken im Prozess der Modernisierung die Mehrzahl der sich zu Disne

-

47 48

Wie Anm. 43. Betont sei, dass entsprechend der normativen Entladung darin weder ein Grund zur Freude noch der Trauer erblickt wird, so dass programmatische „Strategien zur Aussöhnung mit der Moderne", die dem ,,manische[n] Zwang zur Suche nach einer wie auch immer gearteten Postmoderne als der Überwindung der diskreditierten Moderne" begegnen wollen, obsolet erscheinen wie es auf hohem Niveau und mit Anregungen für das hier gewählte Modell Schulze, Ende der Moderne?, unternimmt (Zte. ebd., S. 96). -

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Einleitung

ziplinen ausdifferenzierenden Wissensweisen infiltriert hat, befindet es sich von (post-)poststrukturalistischen Literaturtheorien über die „New Biology" bis zu neospirituellen Religiositäten auf dem Rückzug vor einem pragmatischen Präsentismus.49 -Abermals, die Rede ist nicht von Zäsuren oder Brüchen, sondern von merklichen Verschiebungen. zur Auswahl und Interpretation. Erklärungen ergeben sich daraus im Unterschied zu einer „Theorie" nicht. Sie sind ad hoc zu bilden. Der Deutungsrahmen definiert lediglich einen Horizont, innerhalb dessen sich das Material absichtsvoll arrangieren lässt und entscheiden, welche der unzählig möglichen Geschichten erzählt werden sollen, welche nicht. Im weiteren muss folglich nicht fortwährend Bezug auf die Vorüberlegungen genommen werden, da sie sich implizit allenthalben niederschlagen.

„Modell" heißt Anleitung

Gegenstand Das Herzogtum Kurland entstand 1561 aus dem Zusammenbruch Altlivlands als ein säkularisiertes Lehen Polens unter dem letzten Deutschordens-Herrmeister Gotthard Kettler. Verfassung und Status wurden an die des Herzogtums Preußen angelehnt.50 Während aber dort die dynastische Vereinigung mit Brandenburg im 17. Jahrhundert die Herauslösung aus dem Rzeczpospolita-Verband und eine „absolutistische Revolution von oben zur Durchsetzung der rationalisierten Staatsmacht gegen die Adelsgesellschaft"51 herbeiführte, entwickelte sich Kurland zu einem „Polen en miniature"52: Die Selbstbehauptung ständischer Libertät ging einher mit schwacher Anstaltsstaatlichkeit und starken äußeren Abhängigkeiten bis hin zur politischen Durchdringung und schließlich Annexion durch das Russische Reich 1795 ohne dass jedoch vergleichbar spektakuläre Reformanstrengungen zur Abwendung dieses Schicksals -

49 Auch in der Geschichtswissenschaft selbst: „As the history text becomes more real than the past itself, all the traditional notions of truth, referentiality and objectivity, which, paradoxically, gave rise to its status as historical truth, fade" (Munslow, Deconstructing history, S. 178). Vgl. a. das Kapitel „Als es mit dem Lernen aus der Geschichte vorbei war" bei Gumbrecht, 1926, S. 445 ff., zur Begründung der von Gumbrecht gezogenen Konsequenz eines erlebnisorientierten Histotainment. 50 Strohm, Kurländische Frage, S. 11 f.; detailliert und mit Vergleich: Bues, Kurland und der Norden. 51 Zernack, Preußen als Problem, S. 98. 52 Nach einem Wort des Reiseschriftstellers Nathanael Wraxall: Strohm, Kurländische Frage, S. 10.

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wurden wie in Warschau. Unter russischer Herrschaft erreichte die Ritterschaft die Bestätigung, teilweise Erweiterung ihrer Privilegien, wenn sie auch 1817 in die Aufhebung der Leibeigenschaft einwilligen musste. Ansonsten vermochte der Indigenatsadel seine ständischen Vorrechte bis in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, in Teilen bis in die Revolution von 1917/20 zu wahren, damit einhergehend Kernbestände seiner materiellen, politischen und symbolischen Überlegenheit und Führungsansprüche. Leitet der Gegenstand die Modellbildung an, so folgt nicht weniger die Wahl des Gegenstands dem Erkenntnisinteresse, das dem Modell zugrunde liegt. Es geht darum, eine Sozialformation heranzuziehen, die allgemein als außergewöhnlich modernisierungsresistent gilt. Zugleich erfordert die Weite des Ansatzes eine Fokussierung, in diesem Fall auf eine relativ überschaubare Landschaft und die „Sonde" der Elitenforschung. Die zu überprüfende Hypothese lautet mithin konkret, dass die Betonung einer vordergründig-nomenklatorischen Rechts- und undifferenziert behaupteten Machtkontinuität den Blick auf einen Wandel zu etwas substantiell Neuem während des letzten Drittels des 18. und dem ersten des 19. Jahrhunderts verstellt auf jene frühe Modernisierung, die sich zufolge der oben gemachten Annahmen auch in der ständisch imprägnierten Peripherie beobachten lassen müßte und als modifizierte Tradition unzureichend beschrieben ist. Unter forschungspragmatischen Gesichtspunkten sprach für Kurland, dass außer einer recht kontinuierlichen Produktion von SpezialStudien53 zentrale Quellen regestenförmig veröffentlicht vorliegen54 sowie vor allem im Lettischen Historischen Staatsarchiv (Latvijas Valsts vestures arhlvs, LVVA) und der Lettischen Nationalbibliothek (Latvijas Nacionälä unternommen

-

-

53

Bibliographien: Kaegbein, Baltische Bibliographie; Hasselblatt, Dissertationes Balticae; nützlich auch Titel zum Thema Kurland; Wittram-Hoffmann, Baltische Monatsschrift (Register); Katalog des Schrifttums. Forschungsberichte: Pävuläns, Vestures pëtîjumi; Biron/Dorosenko, Sovetskaja istoriografija; Biskup, Neuere Forschungen; Heyde, Polnische Forschungen. Auch die Erschließung durch Nachschlagewerke

ist

gründlich:

Baltisches Rechtswörterbuch (BRW); Feldmann/zur

Mühlen, Baltisches Historisches Ortslexikon (BHO; hier: Bd. 2); Frey, Baltisches

54

Biographisches Archiv (BBA); Genealogisches Handbuch der baltischen Ritterschaften (GenHB; hier: Teil Kurland); Lenz, Deutschbaltisches Biographisches Lexikon (DBBL). Im weiteren werden die Abkürzungen verwandt. V.a. Ziegenhorn, Staats Recht; ders., Zusätze; Schwartz, Staatsschriften; für die frühere Zeit Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse; Erschließung der gedruckten Quellen: Winkelmann, Bibliotheca. Einige Schlüsseldokumente zur Verfassungsgeschichte, die hier noch aus dem Archiv bzw. aus älteren Publikationen zitiert werden, liegen seit jüngstem gedruckt vor: Keller /Oberländer, Kurland.

27

Einleitung

bibliotêka, LNB; beide in Riga) umfangreiche Bestände

zu

praktisch

allen in Betracht kommenden Fragen überliefert sind.55 Es ist zwar mit Recht bemerkt worden, dass die Desiderata der kurländischen Landesgeschichte eher andere Gruppen als die Ritterschaft oder überhaupt die deutschsprachigen Eliten betreffen.56 Doch ist die Untersuchung weniger als ein landesgeschichtlicher Beitrag konzipiert,57 als dass sie sich den traditionell starken Zweig einer Landesgeschichte zunutze macht, um exemplarisch ein weiter gefasstes Argument zu führen. Allerdings fehlt auch eine neuere Geschichte des kurländischen Adels, die die narrativ veralteten faktographisch unverändert wertvollen Synthesen aus dem 19. Jahrhundert sowie mehr oder weniger deskriptive jüngere Schriften ersetzen könnte.58 Zudem wird bis auf wenige Ausnahmen die Geschichte der Landschaft mit der Inkorporation in das Russische Reich 1795 abgeschlossen59 und das Weitere am Rande „(deutsch)baltischer" Geschichte insgesamt verhandelt, die sich wiederum überwiegend auf die Geschichte Livlands konzentriert und an der Zeit nach dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts interessiert ist.60 Damit dauert längst geäußerten Bedenken61 zum Trotz ein Erzählrahmen fort, der zugleich mit den Topoi „baltischer Eigenart" und „deutscher Auf-

-

55 56 57

58

59 60

61

Archivführer: Ryékov, CentraTnyj gosudarstvennyj istoriceskij archiv; En5, Iz istorii. Genutzte Bestände s. hinten. Duhanovs / Ronis, Par dazämjaunä ieztmem, S. 37. Wäre sie es, müßte sie sich in der Tat den nach 35 Jahren kaum überholten Vorwurf gefallen lassen, weder die Perspektive der Beherrschten adäquat zu berücksichtigen noch die Geschichte der Landschaft hinreichend in die ihrer Oberherrschaften zu integrieren: wie vorherg. Vgl. a. den programmatischen Aufsatz Hirschhausens, Wahrnehmung des Wandels, v.a. S. 475f., zum Problem ethnischer Engführung in den historiographischen Traditionen der Region; Lösungsvorschlag: dies., Grenzen der Gemeinsamkeit. Hingegen ist hier der Fokus auf den Adel nicht ethnisch, sondern methodisch bzw. sozial, nämlich vom elitengeschichtlichen Ansatz motiviert. Cruse, Curland (1833/37); Richter, Geschichte (1858); Seraphim, Geschichte (1896/1904); Kurland und seine Ritterschaft (1971); quasi-synthetischen Charakter hat auch die Skizze bei Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 309 ff. (1899). So noch Misans/ Oberländer bzw. Oberländer, Das Herzogtum Kurland; zur Mühlen, Ostbaltikum, S. 243ff.; zur lettischen Historiographie s. u. Synthesen mit der entsprechenden Literatur: Wittram, Baltische Geschichte; Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen; Whelan, Adapting to Modernity; Schlau, Die Deutschbalten. Pistohlkors, Reformpolitik, S. 56f.: Die Loyalität des Adels aller drei Provinzen galt bis wenigstens zur Mitte des 19. Jahrhunderts der eigenen Korporation bzw. Provinz, Gemeinsamkeitsgefühle blieben schwach; Pistohlkors'Anregungen zu einem konzeptuellen Regionalismus verfolgen denn auch weniger eine Affirmation der Raumkonstruktion als eine sozial- und strukturgeschichtliche Weiterung der „baltischen" Geschichte: Pistohlkors, Regionalismus.

28

Einleitung

bauarbeit", einer Reformtätigkeit der Ritterschaften aus dem Geist eines

gemäßigten und rechtlich-humanen Konservativismus,62 etabliert wurde und sich noch bei etlichen scharfen Gegnern abbildet. Die klassische Meistererzählung erhielt ihren Raumbezug, indem politische Interessen die zeitweilige administrative Zusammenführung der drei Landschaften und ihre Ansprache als „Est-, Liv- und Kurland" oder „deutsche Ostseeprovinzen Russlands" in eine regionalisierende Selbstverständigung Etikett „baltische Lande" überführten,63 die zweieinhalb Jahrhunderte getrennter Geschichte in höchst unterschiedlichen Kontexten tendenziell herunterspielt.64 Doch stechen bereits bei oberflächlicher Betrachtung erhebliche Divergenzen hervor (Politik der Oberherrschaften, unter dem

Verfassung, Matrikelbildung, Heiratskreise, Läuflingsströme, Klima), die es ratsam scheinen lassen, auch für die ersten Dekaden des gemeinsamen Generalgouvernements Riga Befunde zu Estland und Livland nur mit äußerster Vorsicht auf Kurland zu übertragen. Die deutschbaltische Vorstellung einer „gesünderen" Entwicklung im Sinne aller Bewohner des Landes als Gegenentwurf zum Modernisierungsmodus der nationaldemokratischen Revolution ist im 20. Jahrhundert von national- wie sowjetlettischer Seite teilweise heftiger, vor allem sozial- und wirtschaftsgeschichtlich argumentierender Kritik unterzogen worden.65 So zeitgebunden gerade die marxistisch angeleiteten

Arbeiten, ihr Interesse

Kapitalismus"66

und ihre

an

einem

„Übergang vom Feudalismus zum

Deutungsangebote

sich vielfach

62

Programmatisch Schirren,

66

Dribins, Aufbau. Bspw. Strods, Eauksaimniecïba Latvijä; ders., Kurzemes Krona

darstellen,

Livländische Antwort; auch Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands; Tobien, Die Livländische Ritterschaft; Taube, Landesverwaltung; ähnlich noch Kroeger, Zur Situation. Kritischer Abriss: Pistohlkors, Geschichtsschreibung und Politik; aus dessen anderen Arbeiten v. a. ders., Reformpolitik; ders., „Russifizierung". Vgl. a. unten, S. 447ff. 63 Vgl. unten, S. 464ff. 64 Gegenüber 350 Jahren von der Gründung Rigas ( 1201 ) bis zum Zerfall Altlivlands; konsequenterweise wählt etwa Almut Bues für ihre Studie über das frühneuzeitliche Kurland das polnische Preußen als Vergleichsgröße, nicht Livland: Bues, Kurland und der Norden, S. 19. 65 Vgl. Biron/DoroSenko, Sovetskaja istoriografija; paradigmatisch Duchanov, Ostzejcy. Für die sowjetestnische Forschung v.a. Kahk, Krise; ders., O „dvorjanskoj politëkonomike"; aus national-/exillettischer Perspektive Sväbe, Latvijas vesture 1800-1914; aus sowjetlettischer Zutis, Kauguru nemieri; ders., Zemnieku brtvlaisana; für Kurland relevant sind insbesondere die materialreichen Arbeiten von Strods. Vergleichbare Argumentation schon vor 1914 von deutschbaltischer Seite: Agthe, Landarbeiter. Knappe Skizze der Zwischenkriegshistoriographie: Krise.

zemes;

Kahk,

29

Einleitung

sind die materiellen Befunde überaus hilfreich. Sie ermöglichen erst große Teile zumal der agrarökonomischen Argumentation, die in eigener Quellenarbeit nicht zu decken gewesen wäre.67 Allerdings sind auch diese Texte außer bezüglich ihrer theoretischen Vorannahmen in Hinsicht auf ihr räumliches Homogenisierungsanliegen differenziert zu lesen: Der nationalisierende Ordnungsrahmen „Lettland" ist nicht minder konstruiert als sein regionalisierendes Gegenstück.68 Abermals, Studien, deren Quellenbasis nicht ausdrücklich aus Kurland stammt, werden nur bedingt herangezogen. Durchaus kritisch mit der Tradition ist auch die jüngere deutsche Forschung umgegangen, wobei das oben Gesagte zur Konzentration auf Livland und das spätere 19. Jahrhundert gilt.69 Eine Ausnahme bilden Beschäftigungen mit bisweilen vernachlässigten, vor allem nichtindigenen Gruppen und Protagonisten der Aufklärung,70 die jedoch, wo es um den Adel geht, wenig mehr als Reproduktionen der zeitgenössischen Kritik bieten.71 Seit der zweiten Unabhängigkeit erschienene lettische Arbeiten schließlich sind zumeist auf die engere Vorgeschichte des Nationalstaats oder die Frühphase des Herzogtums gerichtet und bieten bezüglich der Zeit um 1800 und zumal der ritterschaftlichen Elite wenig Neues.72 Wollte man vor diesem Hintergrund den Ort, an dem die Untersuchung in der Forschung anzusiedeln ist, mit Hilfe zweier jüngerer Arbeiten bezeichnen, wäre einerseits Klauspeter Strohms politik- und -

mächtegeschichtlich angelegte Abhandlung zur „Kurländischen Frage"

67 68

Vgl. unten, S. 104 ff. Selten klare Aufforderung, zulasten der historischen Nationsvorstellung die lokalen Unterschiede angemessen zu würdigen: KrëslinS, Pärdomas, v. a. S. 29, 31 ; zur territorialen Rahmung konkurrierender Meistererzählungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Hirschhausen, Stand, Region, Nation und Reich; dies., Grenzen der

Gemeinsamkeit, S. 341 ff. 69 Zu nennen sind v.a. die Arbeiten Pistohlkors'; zur vorhergehenden Konkurrenz der betroffenen „Volksgeschichten" vgl. Hackmann, Ethnos oder Region? 70 Mit Bezug zu Kurland v. a. Elias, Aufklärung; Donnert, Kurland im Ideenbereich; 71 72

ders., Eisen; Stepermanis, Atbläzma. Ausgeprägt Taterka, Anhang; dagegen allerdings Neuschäffer, Unterschlagene

Machtpolitik. Repräsentativ BerzinS, Latvija; ähnlich die Exilhistoriographie, v. a. Dunsdorfs, Latvijas vesture 1710-1800; mit früherem Schwerpunkt Berkis, The history; unbefriedigend Bilmanis, A History; Plakans, The Latvians. Übersicht über Forschungslandschaft und -tendenzen seit 1990: Misäns, Geschichtswissenschaft; Straube, Institutionen; Feldmanis, Promotions- und Habilitationsarbeiten; in Thesenform Hirschhausen, Nationalisierung der Geschichte; vgl. a. die Auswahlbibliographie bei Oberländer, Das Herzogtum Kurland, S. 295 ff.

30

Einleitung

zwischen 1700 und 1763 zu nennen,73 andererseits Heide Whelans primär sozial- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Studie zu „Family, Caste and Capitalism among the Baltic German Nobility" im 19. Jahrhundert.74 Methodisch, räumlich und zeitlich bilden die folgenden Erörterungen eine Art Scharnier zwischen beiden. In einem weiteren Zusammenhang schließen sie an die zuletzt kräftig aufgelebte Forschung zum europäischen Adel an, die insbesondere Fragen nach Gründen und Wegen seines „Obenbleibens" (Sombart / Braun75) oder Verschwindens im Prozess der Modernisierung stellt, nach „Neuerfindungen" von „Adligkeit"76 beziehungsweise den Adaptionsleistungen der ständischen Eliten des Ancien Régime, mithin erfolgreichen oder scheiternden Elitenkompromissen und deren Auswirkungen auf die Physiognomie jeweiliger moderner (National-) Gesellschaften.77 Dieser forschungsprogrammatische Rahmen schwingt im Hintergrund mit, wird jedoch nicht durch eine systematisch vergleichende Einbettung im Text reflektiert: Die Untersuchung soll auf die Empirie des konkreten Falls und ihre analytische Explikation konzentriert bleiben. Nicht „die" Modernisierung oder „der" Elitenwandel, gar „in Ostmitteleuropa" (wo immer es liegen mag) wird erwogen, sondern ein Ensemble von Modernisierungsvorgängen in einer nach Maßgabe von Bevölkerungsdichte, Verkehrsströmen und Machtlage peripheren europäischen Landschaft,78 Strohm, Kurländische Frage; bisher zum Thema: Zutis, Ostzejskij vopros; Strods, Kurljandskij vopros. 74 Whelan, Adapting to Modernity. 75 Braun, Konzeptionelle Bemerkungen. 76 In heuristischer Anlehnung an den Begriff der „Bürgerlichkeit"; vgl. Schulze Wessel, Traditional Elites, S. 205; Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 119; auch Schiller, Vom Rittergut, S. 24f. 77 Resümees der Forschung: Asch, Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit; 73

Wienfort, Adel in der Moderne; bis 1999 Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert; vgl. a. Hartmann, Kontinuitäten (1998); konziser Problemaufriss: Fríe, Adel um 1800.

Jüngere

bzw.

grundlegende

Sammelbände und

Überblicksdarstellungen:

Asch, Der europäische Adel im Ancien Régime; Conze /Wienfort, Adel und Moderne; Denzel/ Schulz, Deutscher Adel; Fehrenbach, Adel und Bürgertum in Deutschland; Lieven, Abschied; Marburg /Matzerath, Schritt in die Moderne; Mayer, Adelsmacht; Reif, Adel und Bürgertum; Scott, European Nobilities, v. a. Bd. 2; Wehler, Europäischer Adel. Aus den speziellen Monographien seien hervorgehoben Godsey, Nobles and Nation; Lotman, Rußlands Adel; Matzerath, Adelsprobe; Schiller, Vom Rittergut; nach wie vor maßstabsetzend Reif, Westfälischer Adel. Für Polen vgl. Müller, Adel und Elitenwandel; ders., „Landbürger". 78 Vgl. Müllers, Wo und wann, S. 78, Plädoyer für eine Differenzierung nach Situationen und Prozessen anstelle statischer

Himmelsrichtungen.

Kompartementierungen

nach

31

Einleitung

die mit den Ereignissen andernorts nicht essentiell oder teleologisch, sondern über dingfest zu machende Interdependenzen verbunden war.

Text Der Text selbst ist in erster Linie thematisch-argumentativ gebaut, erst in zweiter chronologisch. Die Kapitel nehmen zentrale, in der speziellen wie allgemeinen Forschung etablierte Topoi auf, um an ihnen den Wandel zu zeigen; sie sind aber nicht als Ummünzung der aspektuellen Dimensionen in sektorale misszuverstehen, auch wenn bestimmte Fragestellungen bestimmte Perspektiven privilegieren mögen. Einer zeitlichen Ordnung gehorcht der Text, insofern er sich von einem früheren auf einen späteren Zeitpunkt zubewegt. Doch wird die Veränderung als Gefüge mählicher, vielfach aber nicht notwendig wechselwirkender Verschiebungen behandelt, die Vor- und Rückgriffe erzwingen. Und während vieles von dem, was über die Mitte des 18. Jahrhunderts zu sagen ist, auch um 1830 noch Bestand hatte, lässt sich etliches, das sich erst durchsetzte, in Anfangen schon früh nachweisen der Gestaltwandel dominierte, völliges Verschwinden und abruptes Ersetzen blieb die Ausnahme. Entsprechend sind die Eckdaten in hohem Maße arbiträr. Den gewählten Ein- und Ausstiegspunkten (Wiedereinsetzung Ernst Johann Birons als Herzog 1763; Abschluss der Bauernbefreiung und Gründung des Güterkreditvereins 1830/32) ließen sich zahlreiche nicht minder plausible Entwürfe entgegensetzen: Herzog Ernst kam in keine Windstille, und um 1830 waren die Dinge im Fluss wie eh. Was stattgefunden hatte, und das wird zu argumentieren sein, war eine Qualitätsänderung des Geschehens unter den genannten vier Aspekten, die sich als Formatierung der weiterverlaufenden Modernisierung auffassen lässt. Im einzelnen gehe ich stark selektiv vor, sowohl bei der Auswahl der Themen79 als auch bei der der Einzelbeispiele. Zwischen dem Ausgewählten klaffen Lücken. Damit trägt der Text nicht nur der Unausfüllbarkeit des Modells Rechnung, sondern auch der Annahme einer essentiellen Diskontinuität der Phänomene, die keinen Sinnzusammenhang aufweisen, sondern jedes für sich singular und unverbunden dastehen, -

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-

79 Etwa bleiben Religion bzw. Konfessionalität und Hétérodoxie weitgehend unbehandelt, ebenso geschlechtergeschichtliche Hinsichten oder das Verhältnis zu Gutsverwaltern und -pächtern. Teils fehlen kritische Vorarbeiten, teils schienen andere Aspekte vorrangig, teils ist die Quellenlage diffizil am Ende steckt in jeder derartigen Entscheidung ein Schuss Willkür. -

32

Einleitung

bevor sie narrativ verkoppelt und einem Deutungsanliegen unterworfen werden. Dieser unabdingbare Konstruktionsakt ist kenntlich zu halten. Ähnlich verwenden die abstrahierenden und deutenden Passagen Theoreme und Terminologien aus unterschiedlichen Kontexten, wo und wie sie mir nützlich erscheinen, einen Vorgang interpretatorisch aufzuhellen, ohne die Kompatibilität der Hintergründe weiter zu achten. Jerzy Topolskis Mahnung, „Begriffe, die aus verschiedenen theoretischen Traditionen und theoretischen Strukturen stammen, können, falls man sie nicht im Lichte einer Theorie interpretiert, keine kohärente Struktur der Narration bieten",80 entspringt einer Auffassung vom Wesen und Zweck von Begriffsbildung, deren Konsistenzpostulat und unterstellte oder erhoffte Möglichkeit von Welt-Text-Entsprechung ich nicht zu teilen vermag.81 Auch deshalb instruiert dezidiert nicht eine („starke") Theorie, sondern ein offenes Modell die Untersuchung, das es zulässt, die Empirie mit Hilfe kleinteiliger Interpreta-

mente zum

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Sprechen zu bringen.

Was endlich die Quellen anlangt, wurde nicht ein geschlossener Körper oder bestimmter Typus abgearbeitet, sondern aus dem publizierten Material und verschiedenen Fonds vor allem des LVVA und der LNB gezielt das geschöpft, was jeweils Aufklärung verhieß. Oft war eine Beschränkung auf wenige Proben notwendig, wo an anderer oder derselben Stelle mehr oder Ähnliches zu finden ist wie überhaupt manche bessere Quelle zu haben gewesen wäre, zahlreiche Ergänzungen, Bereicherungen, nicht zuletzt Widerlegungen: in Privatarchiven, den Beständen in Warschau, Petersburg, Dresden, Berlin, Marburg usw. Das fragwürdige Verhältnis zwischen Aufwand und Ertrag sowie die längst nicht ausgeschöpfte Reichhaltigkeit der Bestände in Riga haben jedoch eine Konzentration auf diese nahegelegt. Die Selektivität im großen wie im einzelnen birgt Risiken. Vor der Wahl zwischen weiter Anlage und archivalischer Dichte habe ich mich für das erste entschieden: Auch deshalb muß der Text essayistisch genannt werden. Von Geschlossenheit, einer „Beweisführung" gar, kann keine Rede sein. Es handelt sich um den Versuch einer erkundenden, erzählenden Thesenbildung. -

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80 Topolski, Patronage, S. 18. 81 „The idea of the truth being rediscovered in the evidence is a nineteenth-century modernist conception and it has no place in contemporary writing about the past": Munslow, Deconstructing history, S. 178.

33

Einleitung

Abschließend zur Terminologie und Zitierweise. „Der Adel" ist ein problematischer Kollektivsingular, der gleichwohl um der Lesbarkeit willen verwendet wird, und zwar, sofern nicht explizit anders ausgewiesen, als Synonym für die Indigenen als die zur Ritterschaft Immatrikulierten, also für den „Ritterschafts-" oder

„Indigenatsadel".

Ebenso werden „das

Herzogtum"

und die nomenklatorisch korrekte

Formulierung „die Herzogtümer" (Kurland und Semgallen) nach rheto-

rischem Bedarf variiert. Die Schreibweise der Familiennamen folgt außer in Zitaten und bei Autorenangaben im allgemeinen der letzen Matrikelpublikation in Kurland und seine Ritterschaft: also Foelckersahm, nicht Fölkersam(b), Holtey, nicht Holthey oder Holtei. Die Vornamen folgen dem jeweiligen Fundkontext, sonst dem DBBL: George Benedict, nicht Georg Benedikt v. Engelhardt. Analog wird mit den Orts- und Güternamen verfahren, wobei im Zweifel das Lemma im BHO den Ausschlag gibt. Auf eine Beifügung der lettischen (russischen, polnischen) Benennungen zu den deutschen verzichte ich weitgehend, ebenso auf eine Konkordanz das gut zugängliche BHO leistet hier alles Wünschenswerte. Die zeitgenössische Interpunktion und bisweilen skurrile Orthographie und Grammatik der Quellen werden unkommentiert zitiert. Datierungen entsprechen den Angaben der jeweiligen Quelle, also für russische Provenienzen und kurländische ab 1796 dem Julianischen Kalender, ansonsten dem Gregorianischen,82 ohne dass das jeweils eigens kenntlich gemacht würde. Für Maße und Summen sei auf Anhang 11 hingewiesen, der die Einheiten aufschlüsselt und einige Vergleichsgrößen zur Orientierung bietet. Der Apparat enthält durchgängig Kurztitel, mit Ausnahme einiger weniger Referenzen, die einmalig auftauchen und der Bibliographie systematisch fremd wären. -

82

Einführung des Gregorianischen Kalenders 1618: Keller /Oberländer, Kurland, S. 11 ; Wiedereinführung des Julianischen nach der Unterwerfung: Räder, Curonen, S. 3.

"In order to chart these broad trends, the book takes as a bench mark the world of the mid-eighteenth century. It is not intended to suggest that this world was static or parochial. [...] It is from this time, however, that the forces of change outlined above began to pick up speed dramatically, as contemporaries noticed as clearly as later historians. "'

Das

1

Herzogtum

Der

sippschaftliche Herrschaftsverband

„Der antike Stadtstaat ist in seinem Kern eine Konföderation von Sippenverbänden eines Stammes oder einer Gruppe von Stämmen, die ein

gemeinsames Heiligtum und die grundlegenden Institutionen einer politischen Lebensgemeinschaft besitzen [...]. Die Ständekämpfe bewegen sich hier in der Richtung einer Erweiterung dieser Rechte auf die ungesippte oder zugezogene plebejische Bevölkerung. In der einheitlich ge-

schlossenen Gemeinde, die so entsteht, und die eine früher vorhandene monarchische Spitze abgestoßen hat, gibt es keine Dualität, die das Entstehen einer Repräsentation der Bürgerschaft durch privilegierte Stände begünstigt hätte. Die Institution der Sklaverei verstärkt diese Tendenz auf einen rechtlich und politisch homogenen Bürgerverband, der zwar Interessenunterschiede und Parteibildungen hervorgebracht hat, aber keine privilegierten Stände im mittelalterlichen Sinne."2 Demgegenüber stellten monarchische Spitze und allgemeine Freiheit der Person, folgt man Otto Hintze, die „weltgeschichtlichen Bedingungen der Repräsen1 2

Bayly, Birth of the Modern World, S. 21. Hintze, Weltgeschichtliche Bedingungen, S. 32.

36

Das

Herzogtum

tativverfassung" dar, wie sie sich aus den „FeudalStaaten" des nachkarolingischen Europa einerseits, in den „Privilegienstaaten" etwa Polens und Ungarns andererseits ausbildete, wobei letztgenannte „ohne den Umweg über ein feudalistisches Großreich [...] unmittelbar aus dem Stammesleben in das Staatsleben übergegangen" seien.3 Ein Versuch, das Kurland des 18. Jahrhunderts in dieser typologischen Matrix zu verorten, hätte folgendes zu berücksichtigen: Zunächst war mit Herzog und Landtag die monarchisch-ständische Dualität gegeben. Doch es gab nur einen politischen, also vertretungsberechtigten Stand, den Ritterschaftsadel. Dieser, in unregelmäßiger Verklumpung clanweise verschwägert, das Schibboleth des lutherischen Bekenntnisses gegenüber Oberherrschaft und Nachbarn teilend, imaginierte sich als gleich und frei. Hingegen gewann die in der Tat vielfach erst später zuziehende4 „plebejische Bevölkerung"5 im Laufe der Verfassungsentwicklung nicht an Rechten, sondern unterlag parallel zur Einhegung, am Ende fast völligen Depotenzierung der fürstlichen Gewalt eher noch verschärfter Exklusion, während die Masse der Bevölkerung als persön-

-

lich unfreie, handelbare und besitzrechtslose Gutsuntertanen per se unvertreten blieb6. Der adelskommunale Privilegienverband der „gesippten" Freien wiederum ließ sich in keiner Weise auf einen primordialen „Stamm" zurückzuführen; er stellte vielmehr das Resultat uneinheitlicher Migrations- und Transfervorgänge aus dem „feudalstaatlichen" Europa einerseits, dem polnischen „Privilegienstaat" andererseits dar, die allerdings zumal nach der Auflösung der altlivländischen Konföderation und der Neukonstituierung von Landschaften im 16. und 17. Jahrhundert von rechtlicher und politischer Homogenisierung und konnubialer Abschließung begleitet wurden.7 Hintze, Weltgeschichtliche Bedingungen, S. 33; vgl.

a. ders., Typologie, S. 244f. Starke Neueinwanderung zumal von Handwerkern und Akademikern nach Pest und Nordischem Krieg: Hellmann, Ein bayerischer Diplomat, S. 15. 5 Kurland und seine Ritterschaft, S. 409, übersetzt den Begriff aus § 39 der Regimentsformel mit „bürgerlich". 6 „Man kann nur Personen repräsentieren, nicht Sachen": Hintze, Weltgeschichtliche Bedingungen, S. 35. Differenzierung s.u., Anm. 329. 7 Er wurde auch nicht entsprechend konstruiert. Die Berufung auf eine Deszendenz von den vorwiegend niederdeutschen Ordensrittern, die Ziegenhorn, Staats Recht, S. 285, kritisch diskutiert (1772), verfolgte kein ethnisches Argument, sondern eines der Anciennität, derer sich folgerichtig etliche, etwa die Lieven oder Koskull, zu versichern suchten, indem sie sich „aus dem uralten heydnischen Adel" herleiteten (ebd.); auch die Möglichkeit der förmlichen Rezeption adliger (!) Ausländer folgt diesem, nicht einem Ethnos-Prinzip. Ebenso meinte die Differenzierung von „deutsch" und „undeutsch" für die Nichtindigenen ständerechtliche Kategorien einen kurländischen Sarmatismus gab es nicht. Ziegenhorns Pointe liegt denn auch in

3 4

-

Der

37

sippschaftliche Herrschaftsverband

Kurz, das frühneuzeitliche Kurland wies, zumindest vordergründig,

allen drei Typen Hintzes auf und dieser Oberflächengewahrt bleiben. Ziel ist, wie schon bei der Wahl eines vergleichsweise antiquierten Referenztextes,8 systematisierende beziehungsweise ex-nucleo-kausal argumentierende Großnarrative zu unterlaufen, um die eingangs gemachte Annahmen einzulösen: Hinter der Oberfläche verbirgt sich nichts. Beobachtbar sind nicht Spielarten von Entwicklungsmustern, sondern hybride, kontingente Verläufe. Wo der Verlauf anscheinend Mustern folgte oder die Akteure es postulierten -, offenbart sich kein idealer Nexus, sondern schlägt sich Interdependenz nieder. Modernisierungslogiken (als Beispiel) unterliegen regionalen, überregionalen, am Ende globalen Wechselwirkungen nicht aber genetischen Codes.9 Sie sind im Wortsinne konkret: In ihnen wächst allerhand Heterogenes zusammen. Soll sie greifen, bedarf die postulierte Deprogrammierung ihres Reflexes auf der sprachlichen Ebene: terminologischer Verzerrung, oder Kontaminierung. Sie braucht Bilder, die die dominante Tropik der Erzählung brechen. Darauf zielt die Verwendung archaisierender Metaphorik wie „Polis" oder „Oikos": die analytische Dekonstruktion durch rhetorische Verfremdung abzusichern, um Unterordnungs- und Typologisierungsversuche, Verlaufsschematisierungen, die ideologische EinEindeutigkeit des historischen Essentialismus von vornherein zu sabotieren. Entsprechend wird der Ritterschaftsadel als „sippschaftlicher Herrschaftsverband"10 angesprochen.

Analogien

zu

-

eindruck soll

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-

der subtilen Dekonstruktion der Anciennität als eines ständischen Exklusionsarguments durch die Betonung immerhin gesicherter meritokratischer Distinguiertheit, begleitet vom steten Hinweis, dieser Adel sei gewiss dennoch großenteils sehr alt und zweifellos ehrenwert. 8 Allerdings haben Hintzes grundlegende Thesen eine gewisse Neuentdeckung erlebt, vgl. Neugebauer, Standschaft, darin v. a. das Geleitwort von Klaus Zernack, S. 7 ff. 9 Entsprechend scheint mir der Versuch, historische Verläufe um „äußere" Einflüsse bereinigt zu denken, um einem „inneren Zusammenhang" oder urwüchsigen Entwicklungspotentialen auf die Spur zu kommen, vergleichsweise fruchtlos; vgl. a. unten, Anm. 270. 10 Zeitgenössisch wurde für Pilten der Begriff eines „Schwagerregiments reicher Gutsbesitzer" geprägt: Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 153.

38

1.1

Das

Herzogtum

Polis

Vorgeschichte und Verfassung Am 28. November 1561 unterwarf sich der letzte livländische Herrmeister Gotthard Kettler polnischer Lehnshoheit, um Hilfe gegen die Invasion Ivans IV. zu finden." Dabei erwies sich seine Verhandlungsposition als zu schwach, den Säkularisierungserfolg Albrechts von Brandenburg in größerem Maßstab nachzuahmen, und er musste sich mit dem Ordensgebiet südlich der Düna und dem Titel „in Livland Herzog von Kurland und Semgallen" zufriedengeben, während der überdünische Teil Altlivlands direkt an Polen kam.12 Auch die Kettler zugesagte Angliederung des Stifts Kurland /Puten, das drei größere Enklaven im Westen des Fürstentums bildete, blieb aus.13 Der „Piltensche Kreis" bestand bis 1795 als separate Adelsrepublik im Rahmen der Rzeczpospolita fort14 historischen Skizze insgesamt vgl. die nach wie vor unverzichtauch kritisch zu lesenden älteren Überblicksarbeiten zur politischen Geschichte: Cruse, Curland (hier Bd. 1, S. 27 ff., 38 f.); Richter, Geschichte (hier Bd. 3, S. 5 ff.); außerdem Seraphim, Geschichte (hier S. 3 ff.). Gerafft: zur Mühlen, Ostbaltikum, S. 243ff.; in je weiterem Rahmen: Dunsdorfs, Latvijas vesture 1710-1800, S. 132ff.; Wittram, Baltische Geschichte, S. 107ff. In jüngerer Zeit v.a. Strohm, Kurländische Frage, hier S. 11 ff.; Bues, Kurland und der Norden (mit eingehender geographischer Darstellung); Keller, Herzog Friedrich; auch die beiden Aufsatzbände Misäns/Oberländer bzw. Oberländer, Das Herzogtum Kurland. Aktueller Abriss: Keller, Das Herzogtum Kurland. Dort jeweils auch die weiterführende Literatur. 12 Der erzstiftische Adel unterwarf sich erst im März 1562, doch war Erzbischof Wilhelm bei den Verhandlungen in Wilna zugegen; Kettler fungierte noch bis zur Vereinigung Li viands mit Litauen 1566 als königlicher Statthalter: Wittram, Baltische Geschichte, S. 70, 79; Dybas, Livland und Polen-Litauen, S. 109f., 127; instruktive historiographiegeschichtliche Skizze zu Kettler: Plüer, Kettler. Im Laufe der Zeit etablierte sich das Pars pro toto „Herzogtum Kurland": Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 1. Estland fiel an Schweden, das 1621/29 Polen auch den größeren Teil Livlands im engeren Sinne abnahm, 1710/21 beide Provinzen an Russland verlor. PolnischLivland (Inflanty) kam im Zuge der ersten Teilung 1772 an Russland. 13 Dybas, Livland und Polen-Litauen, S. 111 f., 122; Jakovleva, Territorium, S. 72f.; Mattiesen, Gebiet. Jakob Kettler soll sein Territorium später einen „Fetzen" längs der Düna genannt haben: ebd., S. 199. 14 Die Bezeichnung setzte sich ab 1717 durch: Kurland und seine Ritterschaft, S. 465; dort, S. 26ff, auch historischer und Verfassungsabriss; vgl. a. das „Precis für Puten": Schwartz, Staatsschriften, Nr. 281, S. 464f. Geschichte bis 1717: Dybas, Na obrzeiach; mit Fokus auf die 1685-1698/1717 kurzfristig erfolgreichen Unionsbemühungen ders., Die Union; vgl. aber auch ders., Livland und Polen-Litauen, S. 122ff. Die Auflösung als Verwaltungseinheit erfolgte 1817/18 (Befehl Alexanders I.: Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 287 ff.), die Vereinigung 11

Zur

folgenden

baren,

wenn

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Der

39

sippschaftliche Herrschaftsverband

und diente wiederholt antiherzoglichen Frondeuren als Rückzugsraum, zeitweilig auch zum verfassungspolitischen Ideal.15 Anders denn als politische Ressource spielte die Grenze hingegen kaum eine Rolle. Die beiden Ritterschaften teilten Kultur und Herkommen und erkannten sich gegenseitig das Indigenat zu,16 wobei die Mehrzahl der in Pilten akzeptierten Familien ohnehin auch in der kurländischen Matrikel verzeichnet war.17 Die Heiratsbeziehungen waren eng, Güterbesitz und -handel grenzüberschreitend; auf den Landtagen wurden analoge Materien parallel verhandelt,18 nach außen das Vorgehen koordiniert, denselben Delegierten übertragen.19 Die Quellen zeugen denn auch von einer selbstverständlich empfundenen Gemeinsamkeit.20 Deshalb werden im weiteren, während die politische Geschichte weitgehend auf die Herzogtümer beschränkt bleibt, unter strukturellen Aspekten die Piltener mitherangezogen Unscharfen beziehungsweise Kontextabhängigkeiten der (Selbst-) Zurechnung, zumal über die Generationen hinweg, lassen es auch kaum anders zu.21 Mit den Verträgen von 1561 erhielt das Fürstentum seine „Leges fundamentales": die Pacta subjectionis (oder Provisio Ducalis), die die Rechte und Pflichten des Lehnsnehmers und seiner Erben regelten, und das Privilegium Sigismundi Augusti (PSA) für den Adel. Letzteres -

15

16 17

18

der Ritterschaften 1819, der Matrikel 1845: Kurland und seine Ritterschaft, S. 34; „Provinzial-Verbrüderungsakte" 27.3.1819, LVVA 640/4/258, pp. 1 ff. Kurland und seine Ritterschaft, S. 13, 415f.; vgl. a Oberländer, Kurland im 18. Jahrhundert, S. 39; Ischreyt, Streiflichter, S. 241; zur personalen und ideologischen Verbindung Cruse, Curland, Bd. 2, S. 33. Ziegenhorn, Staats Recht, §570, S. 210. Vgl. die Liste der „Piltenschen" in Kurland und seine Ritterschaft, S. 466; da der Kreis überschaubar und kein fürstlicher Gegenpol vorhanden war, erübrigte sich eine schriftliche Fixierung: ebd., S. 465. Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 153; ein Seitenaspekt hierzu ist die 1615 beschlossene Übernahme der „Piltenschen Statuten" als kurländisches Landrecht, statt derer dann aber 1617 eine wiewohl stark an das Vorbild angelehnte eigene Landrechtssetzung erfolgte: ebd., S. 40, 42. Heyking, Letzte Tage, S. 234ff., 254ff., 336ff. Ggf. leistete auch das kurländische Militär dem piltenschen Landratskollegium Exekutionshilfe: Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 17. Etwa in der Leibeigenschaftsdebatte: Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 266. Cruse, Curland, Bd. 2, S. 86: „So war, wenn man [im Ausland] von Curland sprach, immer der piltensche Kreis mit begriffen, obgleich er einen ganz für sich bestehenden Staat bildete", und entsprechend ,,[n]annten sich die Eingesessenen desselben Curländer" politisch und jurisdiktioneil beharrten sie freilich strikt auf ihrer Autonomie. Diese Absetzung betonen zumal die Forschungen von Bogustaw Dybas, wie Anm. 14. -

19

20 21

-

-

40

Das

Herzogtum

anerkannte und ergänzte Herzog Gotthard nach seiner Investitur 1570 im Privilegium Gotthardinum, nachdem bereits 1569 das persönliche Lehnsverhältnis in ein staatsrechtliches zum unierten Polen-Litauen umgewandelt worden war.22 Die Pacta garantierten im wesentlichen die Freiheit der Augsburgischen Konfession, deutsche Obrigkeit, die Indigenats- und Besitzbindung der Ämter sowie überhaupt die „bisherigen Rechte, Lehen und Privilegien nach den alten Gesetzen, Gewohnheiten und Gebräuchen" und legten die fürstliche Erbfolge auf die männliche Linie fest. Das PS A definierte darüber hinaus den Instanzenweg und die Adelsrechte; das Privilegium Gotthardinum fügte dem noch die hohe und niedere Gerichtsbarkeit über die Bauern hinzu, bestätigte die Abgabenfreiheit und allodifizierte die alten Lehen, bei explizitem Konditionierungsvorbehalt für neu zu vergebende.23 Um Auslegung und Anwendung dieser Texte entstand bald heftiger Streit, der 1617 mit der Formula Regiminis beigelegt wurde. Als „Verfassung" Kurlands entkräftete sie die Landtagsbeschlüsse seit Gründung des Herzogtums und fixierte dessen Regierungsform von Grund auf, jedoch unbeschadet der Bestimmungen der Unterwerfungsverträge und Investiturbriefe;24 daneben trat mit den Statuta Curlandica ein Landrecht.25 In der Summe handelte es sich um eine Stärkung des Adels, die dadurch, dass nun auch polnische und litauische Adlige für indigen

22 Texte: Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 50, 53, 76, S. 51 ff., 57ff., 85ff.; Keller /Oberländer, Kurland, S. 54ff, 72ff, 98ff. Konzise Abrisse: Hübner, Herzog und Landschaft, S. 30ff.; Bues, Kurland und der Norden, S. 148ff. Übrigens erstreckte sich das PSA auf den gesamten altlivländischen Adel, insofern sind die Geltungsbereiche der Akte nicht deckungsgleich. 23 Die von Gotthard ausgegebenen neuen Lehen, teils von beträchtlichem Umfang, waren erblich und gewannen im Laufe der Zeit quasi-allodialen Charakter; die rechtsförmige Umwandlung folgte 1776: Abdr. der Urkunde bei Klopmann, GüterChroniken, Bd. 1, S. 21 Iff. 24 Text: Schiemann, Regimentsformel, S. 1 ff.; Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 104, S. 129ff; Keller / Oberländer, Kurland, S. 122 ff.-„Verfassung": ebd., S. 122; Hübner, Herzog und Landschaft, S. 52; differenzierend zum Begriff eben wegen der ausdrücklichen Anerkennung der Fundamentalgesetze Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 40. Der Realität am nächsten kommt es wohl, die Rechtsbestände insgesamt als kumulative Verfassung zu begreifen. 25 Bzw. „Jura et Leges in Usum Nobilitatis Curlandiae et Semigalliae", Text: Schiemann, Regimentsformel, S. 12ff; Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 105, S. 135ff. Abriss: Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 42ff.; römisch-rechtlicher Einfluss: Ylander, Die Rolle des römischen Rechts, S. 436.

Der

sippschaftliche Herrschaftsverband

41

gelten sollten, sobald sie im Land besitzlich wurden,26 letztendlich kaum relativiert wurde eine derartige Ansiedlung fand selten statt. Vielmehr

kauften sich im Laufe der Zeit zahlreiche Kurländer im benachbarten Litauen an und bildete sich die Praxis aus, solche jenseits der Grenze siedelnden Indigenen als gleichwertig „bene possessionati", mithin ämterfähig zu behandeln.27 Ähnlich wie bezüglich Piltens dominierte die Logik des Sippschaftsverbandes die der Territorialität, beziehungsweise die Akteure instrumentalisierten oder ignorierten diese oder jene nach ihren jeweiligen Bedürfnissen. Ungleich wichtiger für das Weitere wurde denn auch die gleichzeitige Konstitution der Ritterschaft als exklusive Kooptationsgemeinschaft, indem Fürst und Oberherrschaft in die Schaffung einer Matrikel willigten.28 Kurland wurde eine „Adelsrepublik mit fürstlicher Spitze".29 Aufgrund von „Notorietät", Urkundenbeweis oder königlichen oder kaiserlichen Privilegien erkannten zwischen 1620 und 1634 die „Ritterbanken" 110 Familien als adlig und angesessen an;30 weitere acht konn-

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30

Schiemann, Regimentsformel, § 3, S. 2. Konsequenterweise wurde auch die Freiheit der katholischen Konfession festgeschrieben: ebd., §39, S. 9. Schroeders, Nachrichten, S. 2ff.; Hahn, Litauische Briefladen, 1902, S. 167ff.; Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 28ff.; auch wurden die lutherischen Kirchen in Litauen bei Vakanzen von Kurland aus mitbetreut und regelmäßig mit Kollekten unterstützt: Diederichs, Diarium, S. 51. Vgl. a. unten, S. 149f, sowie Anh. 6. Weniger ausgeprägt im Verhältnis zu (Ost-) Preußen: Mülverstedt, Noch Etwas, v.a. S. 147. Schiemann, Regimentsformel, §34, S. 8. Der Begriff „Matrikel" setzte sich erst Ende des 18. Jahrhunderts durch und verdrängte den des „Ritterbuchs": Kurland und seine Ritterschaft, S. 414. Hier wird er durchgängig gebraucht. Wittram, Baltische Geschichte, S. 113; Hübner, Herzog und Landschaft, S. 54; Hoheisel, Deutsche Bevölkerung I, S. 226: „Adelsrepublik mit herzoglicher Spitze"; skeptisch dazu Keller, Das Herzogtum Kurland, S. 21. Eben diesen Terminus benutzte Otto Hintze, Weltgeschichtlichen Bedingungen, S. 47, zur Charakterisierung des frühneuzeitlichen Ungarn und Polen: ,,Adelsrepublik[en] mit monarchischer Spitze". Abweichungen zwischen der Wiedergabe des Landtagsschlusses bei Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 131, S. 169ff., der verbesserten Matrikel bei Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 21 ff., der ,,Kurländische[n] Adelsmatrikel", gedruckt Mitau 1833 (LNB B 929; LVVA 640/2/25) und der Aufstellung „Kurländische Ritterbank oder Verzeichniß sämmtlicher zum Kurländischen Indigenatsadel gehörigen Geschlechter" von 1863 auf der Basis des Landtagsschlüsse von 1840/45 (ebd. / 26) betreffen die Familien Roenne, Rummel und Königseck sowie Finkenaugen/Finkenstein (wohl eine Verwechslung 1833), so dass man auf 109 bis 111 Familien kam. Da Ende des 18. Jahrhunderts die Originalabschiede als verloren, die Abschriften als mangelhaft galten und „in Kurland selbst aus der Adelsmatrikul, ich weiß nicht aus welchem Grund, eine Art Geheimniß gemacht wird", musste, wer sie „berichtigen" wollte, „eine ausgebreitete Kenntniß von dem dasigen Adel besitzen":

42

Das

Herzogtum

zu einer endgültig letzten Ritterbank 1642 ihren Anspruch durchsetzen; noch einmal neun wurden 1645/48 vom Landtag rezipiert.31 In einigen Fällen wurde wohl auch der Adel zugestanden, mangels Besitz aber die Eintragung (zunächst) nicht vorgenommen.32 Dergestalt formierte sich bis Mitte des 17. Jahrhunderts ein Verband von rund 130 Familien, dem zugleich seine wirksame Abschließung gelang: Nach 1642 bedurfte die Aufnahme in den Indigenatsadel ungeachtet aller sonstigen Diplome der Zustimmung des Landtags.33 Diese wurde bis ins letzte Viertel des 18. Jahrhunderts kaum ein halbes Dutzend Mal gewährt,34 und auch als man sich später der Indigenatserteilung verstärkt bediente, um einflussreichen Würdenträgern vor allem des Petersburger Hofs eine Ehre zuteil werden zu lassen, blieb das für Physiognomie und Funktionsweise des Verbandes weitgehend folgenlos, da die allerwenigsten der Ausgezeichneten sich im Land niederließen.35 Obgleich so der ursprüngliche Bestand durch Erlöschen oder Abwanderung deutlich schrumpfte-1833 wurden noch 68 der 1634 anerkannten und vier der bis 1775 hinzugekommenen Familien als ansässig geführt36 -, verwehrte die Ritterschaft Mitgliedern etlicher zurückgewiesener Geschlechter, den sogenannten „Nobilisten",37 hartnäckig die Adelsrechte, darunter lange den Bührens, späteren Herzö-

ten bis

Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 6, 8. Der Anonymus, der Hupel 1785 den Text zulieferte, war Kurländer (ebd., S. 3), verfügte also über einschlägige Kenntnisse, wenn auch nicht notwendig Vorurteilsfreiheit. Jüngste Rekonstruktion: „Kurländisches Ritterbuch", erarb. und zusammengestellt von Alexander Senning, Gotthard v. Manteuffel-Szoege und Fritz v. Drachenfels, in Kurland und seine Ritterschaft, 31

S. 407 ff. Auch hier

ergeben Unstimmigkeiten.

sich zwischen den verschiedenen

Matrikelüberlieferungen

32 Fircks, Ritterbanken, S. 104: Brucken-Fock und weitere kontroverse Fälle. Neueste Darstellung: Keller, Herzog Friedrich, S. 70ff. 33 Formal gesprochen bedurfte es seiner Einwilligung, damit der Herzog dem König eine Indigenatsverleihung an einen Adligen empfehlen konnte: Ziegenhorn, Staats Recht, §494, S. 180. Das Privileg war mithin ein defensives; darauf, dass die Vetomacht zweier tendenziell antagonistischer Instanzen die Exklusivität noch verstärkte, weist die rezeptionsfreudigere Praxis in Pilten hin. 34 Grundlage wie Anm. 30. 35 Kurland und seine Ritterschaft, S. 414, 463 ff. (Liste der nicht ansässig Gewordenen); ebd., S. 68, 415, zu den Grafen Suvalov als Ausnahme; zu Heinrich Graf Brühl als frühestem Fall (1746) Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 142. Vgl. aber auch unten, S. 314ff., zu den Folgen für den Landgüterbesitz. 36 „Kurländische Adelsmatrikel", wie Anm. 30; einige im Litauischen Kleinbesitzliche mögen allerdings schlicht übersehen worden sein: Schroeders, Nachrichten, S. 6. 37 Kurland und seine Ritterschaft, S. 12, 412 f.

Der

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sippschaftliche Herrschaftsverband

gen Biron.38 Wieder andere, wiewohl nicht verzeichnete, ließ man in der Ausübung der Rechte unbehelligt, bis sie durch Reichtum Begehrlichkeit weckten39 oder aus dem gegnerischen Lager kommend politisch Karriere machten und für Adelsusurpation angegriffen wurden.40 Insgesamt erwies sich Übereinkommen als so stark wie Satzung:41 Eine Reihe Familien, die den Termin verpasst hatten, zu der Zeit über keinen volljährigen, besitzlichen Vertreter im Land verfügt, sich mit dem nie niedergesetzten piltenschen Indigenat begnügt hatten, zwischen dem Schluss der Ritterbanken und dem Frieden von Oliva 1660 von nördlich der Düna übergesiedelt oder anderweitig nicht aufgenommen worden waren,42 genossen aufgrund allgemeiner Akzeptanz die vollen Indigenatsrechte, ohne immatrikuliert zu sein, etwa die Behr, Finkenstein, Brucken-Fock, Freiherrn Kettler, Koskull, Offenberg, Orgies-Rutenberg, Saß.43 Die von Hupel 1785 veröffentlichte Liste enthält 52 Namen und den Hinweis, es möge noch „mehrere" andere geben;44 die Matrikel von 1833 führt 57 derartige „notorisch" indigene Familien, darunter 34 erloschene, die mit der früheren Liste bei weitem nicht übereinstimmen. Der Abgleich mit der Matrikel von 1840 / 63 wiederum ergibt, dass von den 1833 vermerkten bei der „Regulierung der Ritterbank" 1841 /45, einer Art Revision, 44 nachgetragen wurden, 13 keine Berücksichtigung fanden, dafür aber 18 weitere Familien hinzutraten ohne nun wieder mit den 1785 genannten zusammenzufallen.45 Kurz, die Akzeptanz war bis unmittelbar vor der Kodifizierung des 19. Jahrhunderts Wahrnehmungs- beziehungsweise Aushandlungssache. Das formell eindeutig definierte Corps hatte faktisch unscharfe Ränder, an denen sich die Rechtsbewehrung flexibel handhaben ließ darin dem Territorialbezug ähnlich. Beide komplementierten die sippschaftliche Konstitution eher, als dass sie sie ablösten, und -

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38 Fircks, Die Bühren, S. 54f. 39 v. d. Raab-Thülen: LTD 1768, Beilage O, S. 38 ff. 40 v. Engelhardt: GenHB, Bd. 1, S. 224; erfolgreiche Gegenwehr: ebd., S. 223 f.; LVVA 640/4 /4, p. 172. Die Matrikel von 1833 verzeichnet die Engelhardt wie die Thülen, gleichwohl wurden sie nach 1840 als aus dem Notorium kommend geführt: Quellen wie Anm. 30. 41 Schon bei der ersten Verzeichnung hatte die Anerkennung durch die Ritterbankrichter als „notorisch von Adel" für die „probatio probatissima" gegolten und hatte die übergroße Mehrheit der schließlich Immatrikulierten sich auch darauf berufen: Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 131, S. 169; vgl. a. Kurland und seine Ritterschaft, S. 410. 42 Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 85. 43 Ziegenhorn, Staats Recht, §431, S. 158, nennt irrtümlich auch die Schlippenbach. 44 Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 66ff., 70f. 45 Wie Anm. 30.

44

Das

Herzogtum

entsprach nicht zuletzt eine ausgeprägte Endogamie innerhalb des Anerkennungsv&rbandesft Insofern ist es bezeichnend, dass die Aufwertung des strikten Formalprinzips durch Versuche zu einer schriftlichen Fixierung und endlich die Regulierung, die im Zuge der Vereinigung mit der piltenschen Ritterschaft das informelle Notorium beseitigte,47 in eine Zeit fielen, da sich das Binnenkonnubium gelockert hatte.48 Seiner Größenordnung nach glich der derart umrissene Stand während des gesamten Zeitraums eher westlichen als den „strukturtypisch" ostmitteleuropäischen Adelskommunitäten. Die ersten verlässlichen Zahlen bietet die Seelenrevision von 1797, die rund 2400 Adlige ausweist. Bei einer Bevölkerung von 417000 waren das 0,6 %.49 Auf diesen Grundlagen von 1617 bildete sich in der zweiten Hälfte dem

des 17. Jahrhunderts eine Art Nebeneinander von Adel und Fürst heraus, das die eigentümlichen, später folgenreichen Besitzverhältnisse ermöglichte. Herzog Jakob Kettler50 (1642-1681) nutzte nach einer kurzen, fruchtlosen Auseinandersetzung mit der Ritterschaft seinen umfangreichen Domänen- und Allodialbesitz, um einen ehrgeizigen Landesausbau im Geist des Merkantilismus zu betreiben, für den er auf Beiträge und Zustimmung der Ritterschaft nicht angewiesen war. Er kombinierte intensive Agrarwirtschaft und Rohstoffexport mit verarbeitendem Gewerbe und Eisenwerken, einer Überseeflotte, Sklavenhandel, schließlich dem Kolonialbesitz von Tobago und St. Andreas (Gambia). Allein etliche Titel aus den ausgreifenden Unternehmungen blieben totes Papier, nicht zu exekutieren. Das Land, nach einem Bonmot Gustav Adolfs für einen Herzog zu reich, für einen König zu arm,51 war kein Machtakteur.52 Ab 1658 besetzten und verheerten es die Schweden, dann die Polen, 1661/62 brachten erst Niederländer, dann Engländer und Franzosen die Kolonien an sich. Es folgten Konjunktureinbrüche und Seuchen, mit Friedrich Kasimir (1682-1698) ein prunkender Barockfürst,53 Anh. 1, Tab. 1-4. Kurland und seine Ritterschaft, S. 408, 416. Anh. l,Tab. 1-4; näher unten, S. 316ff. Hoheisel, Bevölkerung 1797, S. 553, 555. Darunter auch einige Nichtindigene. Zu ihm und zum Folgenden Eckert, Kurland unter dem Einfluß des Merkantilismus; JuSkevics, Hercoga Jêkaba laikmets; Jakovleva, Merkantilismus; Überblick mit der wesentlichen Literatur: Strohm, Kurländische Frage, S. 17 ff, 55; vgl. a. zur Mühlen, Ostbaltikum, S. 251 ff. 51 Schiemann, Herzog Friedrich Wilhelm, S. 121. 52 Vgl. a. Keller, Das Herzogtum Kurland, S. 24f. 53 Überblick auch zum Folgenden: Strohm, Kurländische Frage, S. 23ff. und 31 ff.; vgl. a. Bues, Einleitung, als Abriss der kurländischen Geschichte unter dynastischfiskalischen Gesichtspunkten überhaupt.

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Der sippschaftliche Herrschaftsverband

der in hochgeschraubten Kettengeschäften Staatsgüter verpfändete, mit den Pfandsummen Adelsgüter zu seinem Allod kaufte und diese wiederum verpachtete oder verpfändete.54 Vor allem jedoch brachte ab 1700 der Nordische Krieg wechselnde Besatzer, Zerstörung und den Zusammenbruch jeder politischen Ordnung, am Ende die Pest und mit ihr die Auflösung selbst der lokalen Gefüge, demographischen Einbruch zur Einordnung der materiellen und gesellschaftlich-kulturellen Verhältnisse, wie sie weiter unten geschildert werden, ist dies vor Augen zu halten: Anfang des 18. Jahrhunderts war das Land ruiniert, die Regierung haltlos überschuldet, von den Ansätzen des 17. Jahrhunderts kaum mehr etwas zu ahnen. Mehr noch, das Ringen um die Vorherrschaft im nördlichen System ließ Kurland Objekt von Annexions- und Kompensationsplänen der umliegenden Mächte werden,55 bis bei Poltava die schwedischen und nicht weniger die preußischen Ambitionen nichtig wurden. Livland und Estland fielen an Russland, bezüglich Kurlands einigten sich Berlin und Petersburg auf eine indirekte Einflussnahme unter den Auspizien russischer Hegemonie, also in etwa das, was 1720 der Potsdamer Vertrag bezüglich der Rzeczpospolita stipulierte.56 Noch 1709 wurde der minderjährige Sohn des verstorbenen Friedrich Kasimir, der preußisch erzogene Erbprinz Friedrich Wilhelm für mündig erklärt, um eine Halbnichte Peters I., Anna Ivanovna, heiraten und den Thron besteigen zu können.57 Friedrich Wilhelm von Kurland erhoffte sich von der Verbindung nicht zuletzt eine Mitgift, die ihm die Auslösung der von seinem Vater verpfändeten Güter erlaubt hätte. Er wurde enttäuscht. Der Zar diktierte den Ehekontrakt: Anna Ivanovna erhielt 200000 Rbl. S. Mitgift, von denen jedoch 160000 als mit 5 % verzinslicher Kredit auf fürstlichen Gütern lasteten; im Gegenzug musste sich Friedrich Wilhelm zu einer Mor-

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54 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 86. 55 Zum gesamten Komplex Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 1, mit nicht immer ganz ausgewogenem, aber umfassendem Quellen- und Literaturüberblick (S. 10ff, 28 ff.); auf die mächtepolitische Analyse fokussiert: Zutis, Ostzejskij vopros; aus der älteren deutschsprachigen Literatur insbesondere Stupperich, Entscheidung. Mit Strohm, Kurländische Frage (hier Kap. 2, S. 31 ff), haben die politische Geschichte Kurlands 1700-1763 und ihre äußeren Bedingungen eine detaillierte wenn auch bisweilen schlampig gearbeitete Darstellung auf zeitgenössischem Niveau erhalten, die es erlaubt, in dieser Hinsicht äußerst knapp zu verfahren. 56 Zum Abkommen und seiner Bedeutung Zernack, Der große Nordische Krieg, S. 267; zur späteren Rolle Kurlands als Versuchsfeld russischer Polenpolitik Nosov, Kurljandskoe gercogstvo, v.a. S. 65. 57 Strohm, Kurländische Frage, S. 48. -

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Das

Herzogtum

von 10000 Rbl.S. verpflichten, einer jährlichen Bar-Apanage 15000 sowie der Unterhaltung eines Hofstaates nach dem Belieben seiner Frau. Sollte bei einem Tod Annas oder ihres Mannes mit Nachkommen immerhin ein Teil der Mitgift dem Kettlerschen Haus verbleiben, war sie bei einem erbenlosen Tod des Herzogs und Annas Wiederverheiratung verzinst zurückzuzahlen. Ging die Witwe keine neue Ehe ein, hatte sie Anspruch auf ein fürstliches Wittum nebst 40000 Rubel jährliche Renten und konnte über ihr Eingebrachtes frei verfügen ein Szenario, das das ohnehin niederliegende Land in vollständige materielle Abhängigkeit von Russland bringen musste.58 Vermutlich steckte dennoch nichts als Peters etwas robuste Auffassung von Vergnügen dahinter, wenn der preußische Gesandte George Johann v. Keyserlingk von den Hochzeitsfeierlichkeiten „klagend nach Berlin berichtete, sein armer Herzog musste sich in Petersburg ,zu Tode saufen'"59. Keyserlingk war ein feiner Beobachter.60 Friedrich Wilhelm starb kurz nach Antritt der Rückreise im Januar 1711 auf einem Gut des Fürsten Mensikov.61 Auf Befehl Peters nahm die Herzoginwitwe 1716 ihren Aufenthalt in Kurland, ließ von russischen Truppen die ihr zustehenden Summen eintreiben, kaufte Höfe und Schuldforderungen gegen das herzogliche Haus an, damit Pfandgüter. Russland wurde der bedeutendste Landbesitzer, also Verpächter und Kreditor in Kurland. Anders als in Polen übte es von nun an Außensteuerung nicht durch Parteienlenkung, sondern durch direkte, militärisch abgesicherte wirtschaftliche Kontrolle: „eine Art permanente Zinsknechtschaft".62 Unterdes verschärften sich die inneren Gegensätze, die bereits während der vormundschaftlichen Administration ( 1698-1709) des nunmehr letzten Kettler, Herzog Ferdinands, zwischen ihm, den Oberräten und der Witwe Friedrich Kasimirs aufgebrochen waren und dem Adel Gelegenheit gaben, seine Standesinteressen zu forcieren. Zwar entschied eine polnische Kommission 1717 weitgehend zugunsten des Adels, doch verlagerte sich der Konflikt damit nur auf die Rechtsgültigwerdung dieser Commissorialischen Dezisionen.a Ferdinand residierte derweil seit

gengabe von

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58 Zahlen nach Strohm, Kurländische Frage, S. 52f. 59 Stupperich, Entscheidung, S. 81; dort „Kayserling", vgl. aber DBBL, S. 376. 60 Und, seinem Nachruhm eine Fußnote, selbst ein versierter Trinker womit er sich bei Friedrich I. überhaupt für die Aufgabe qualifiziert hatte: Taube, Baltischer Adel,?,. 11. 61 Stupperich, Entscheidung, S. 82; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 97. 62 Strohm, Kurländische Frage, S. 58, 63, Zt. S. 64. 63 Strohm, Kurländische Frage, S. 65; Texte: Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 258ff, S. 298ff. -

Der

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sippschaftliche Herrschaftsverband

außer Landes, in Danzig, war zudem unverheiraHeimfall und eine Inkorporation64 die des Herzogtums in Rzeczpospolita zu erwarten stand von der der Adel eine Aufteilung des Landes in Wojewodschaften und Palatinate zugunsten polnischer Würdenträger fürchtete, das Ende der „deutschen Obrigkeit" und konfessionellen Freiheit.65 Daraus wiederum entstand eine Interessenkonvergenz mit Petersburg, wo man eine Inkorporation ebenfalls unter keinen Umständen zu dulden gewillt war.66 Die Vorentscheidung in dem von interessierten inneren und äußeren Parteien zäh betriebenen Ringen um mögliche dynastische Lösungen brachte der Tod Peters II. und die Krönung Anna Ivanovnas zur Zarin 1730. Mit Anna ging Ernst Johann v. Bühren/Biron67 nach Russland,68 der zunächst unter ihrem Verwalter Bestuzev gedient hatte, später ihr Favorit geworden war.69 Nun avancierte er zur Grauen Eminenz, erhielt einen russischen und einen römischen Reichsgrafentitel und das von seiner Familie lange reklamierte Indigenat. Da man ihn nicht mehr übergehen konnte, tat der Landtag ihm noch die Kränkung an, ihn „für seine Verdienste" explizit neu zu rezipieren.70 Kurz darauf führte der polnische Thronfolgekonflikt eine Konstellation herbei, in der Sachsen auf Russlands Unterstützung angewiesen war, Petersburg mangels eines besseren Gegenkandidaten zu Stanislaw Leszczyñski auf den Wettiner einschwenkte.71 Im Dezember 1733 wurde mit Hermann Karl v. Keyserling ein Vertrauter Birons und Protagonist einer stetig wachsenden Gruppe, die die beste Garantie der kurländischen Selbständigkeit von einer engen Anlehnung an das Zarenreich erwartete, zum russischen Gesandten am sächsisch-polnischen Hof er-

Beginn

des

Krieges

tet und nicht mehr jung, so dass der

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64 In den Reichsverband „inkorporiert" war das Herzogtum freilich schon seit 1569, aber eben als selbstregierte Einheit; vgl. Keller, Das Herzogtum Kurland, S. 18. 65 Strohm, Kurländische Frage, S. 67 f. Als eine neuerliche Kommission 1727 eine Inkorporation dezidierte, stellte diese freilich de facto die Beibehaltung der bestehenden Verhältnisse unter Abschaffung der Herzogswürde dar: ebd., S. 114. 66 Strohm, Kurländische Frage, Kap. 4 und 5, v.a. S. 63, auch S. 106, 114; vgl. a. Ziegenhorn, Staats Recht, § 210, S. 79. 67 Die Namensform begann sich ab etwa 1712 zu ändern; ob eine Verbindung zu den französischen Herzögen de Biron reklamiert wurde oder die Vermutung später nur „zugelassen", ist unklar: Lancmanis, Etappen, S. 9f. 68 Zunächst nach Moskau, die Übersiedlung nach Petersburg folgte 1732: Lancmanis, Etappen, S. 12. 69 Verheiratet war er mit Benigna v. Trotta-Treyden; einen biographischen Abriss bietet Lancmanis, Etappen, hier S. lOff.; v.a. für Quellen und Literatur vgl. a. die Skizze bei Strohm, Kurländische Frage, S. 125 ff. 70 Fircks, Die Bühren, S. 88. 71 Mächtepolitischer Hintergrund: Müller, Teilungen. S. 19 ff.

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Das

Herzogtum

dieser Funktion organisierte er die Bestätigung Augusts III. als legitimen Königs auf dem Pazifikationsreichstag 1736 und erhielt im Gegenzug für Kurland die Anerkennung des Rechts, beim Erlöschen der Kettler eine neue Dynastie zu wählen. Als Herzog Ferdinand im darauffolgenden Jahr starb, fiel die Wahl, maßgeblich von Keyserling beeinflusst, auf Ernst Johann Biron.72 Biron konnte sich nicht nur auf die russischen diplomatischen und Machtmittel stützen, sondern vor allem auf die Großzügigkeit Anna Ivanovnas. Sie trat ihm ihre in Kurland erworbenen Güter sowie Witwenansprüche ab und schenkte ihm erhebliche Summen in bar oder Preziosen. Zwischen 1737 und 1740 verwandte der neue Herzog gut 860000 Rth. alb. auf kurländische Belange, die Schlossbauten in Ruhental und Mitau, laufende Kosten, insbesondere aber die Sanierung des Etats73 und Auslösung zahlreicher Güter sowie den Ankauf zusätzlicher.74 Einen erneuten Umschwung brachte der Tod der Zarin 1740. Einen Monat später stürzte Biron, kurz vor ihrem Tod noch von Anna Ivanovna als Regent eingesetzt, und ging mit seiner Familie in die Verbannung. Da er allerdings nicht gegen seinen Lehnsherrn gefehlt hatte, sondern gegen Russland, blieb ihm auch als Staatsgefangenem in Jaroslavl' die Herzogswürde erhalten.75 Nichtsdestoweniger setzte für Kurland die „herzoglose Zeit" ein, geprägt vom russischen Sequester, da alle Anspruchsabtretungen Anna Ivanovnas für nichtig erklärt wurden, von militärischen Exekutionen, Machtkämpfen und Projekten, einen neuen Landesherrn zu installieren oder den alten freizubekommen.76 Zugleich jedoch vergab die Sequesnannt. In

terverwaltung Dominialgüter zu günstigen Anschlägen, war auch

sonst

72 Wittram, Baltische Geschichte, S. 121;Strohm,KurländischeFrage,v.a.S. 133 ff, 140 ff, 154; Aschkewitz, Die Wirksamkeit Hermann Karl von Keyserlings; Oberländer, Kurland im 18. Jahrhundert, S. 34 f. 73 Wiedergabe der Rechte und Pflichten, die Biron bei seiner Belehnung dahingehend eingegangen war: Strohm, Kurländische Frage, S. 156, 159 f. 74 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 137f.; Strohm, Kurländische Frage, S. 167. Lancmanis, Etappen, S. 19, zufolge kam das rund einem Zehntel der monetären Staatseinkünfte Russlands gleich (8 Mio. Rbl.S.). Näher zu den Güterankäufen s.u., S. 123 f. 75 Lancmanis, Etappen, S. 19f; VilIte, Arrest und Verbannung. Die russische Position war zunächst eine andere, wurde aber unter Elisabeth 1741 revidiert: Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 140f. 76 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 140f., 151; zum Folgenden insgesamt Strohm, Kurländische Frage, Kap. 8, S. 177 ff.

Der

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sippschaftliche Herrschaftsverband

bemüht, eine Klientel im Land aufzubauen;77 das konjunkturelle Kli-

und der rechtliche Rahmen aus niedrigen Zöllen und nicht existierenden Stapelrechten waren dem Getreideexport günstig.78 Es war eine wirre, aber nicht notwendig eine dunkle Zeit für den Adel. So spürbar der Mittelabfluss war, musste die Abschöpfung durch Petersburg für den einzelnen keineswegs eine Wohlfahrtsschmälerung im Vergleich zu der durch den Herzog bedeuten unter Umständen war das Gegenteil der Fall.79 Vor allem aber konnte die Ritterschaft ihre politische Position (wieder)befestigen oder ausbauen, und Mitte der 1740er gelangte die Ausbildung der adelsrepublikanischen Verfassung zu ihrem vorläufigen Abschluss. Wie sie sich über den skizzierten Zeitraum entwickelt hatte, basierte diese Verfassung auf dem Indigenat.80 Im Innern gleich, nach außen schärfstens exklusiv, genoss der sippschaftliche Herrschaftsverband ausgedehnte politische, Eigentums- und Herrenrechten wobei der Begriff der Herrenrechte auch als Oberbegriff taugt. Die vorzüglichsten Privilegien umfassten ein Monopol am privaten Landbesitz, die landtägliche Mitsprache der Gutsbesitzer, ein Anrecht auf die Regierungsämter sowie die Richterstellen, also legislative, exekutive und judikative Partizipation respektive Macht, zunächst außerhalb der städtischen Selbstverwaltungen.81 Doch während der Anspruch der Städte, zumindest in ma

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Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 141; Cruse, Curland, Bd. 2, S. 32; Strohm, Kurländische Frage, S. 208, auch 243. 78 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 150.

77

zum

Erfolg

unten, S. 125. Nichtsdestoweniger, den Abfluss der Arrendesummen zu stoppen bei Wahrung der Pachtverhältnisse -, war ein vordringliches Ziel ritterschaftlicher Politik: Strohm, Kurländische Frage, S. 241. 80 Erst für eine spätere Zeit gilt die Feststellung Foelckersams, Das alte Kurland, S. 5: „Die politische Verfassung basierte auf dem Rittergut." Wenn Foelckersam es als widersinnig empfand, dass nach der Öffnung des Besitzrechts im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Nichtindigene ein aktives, aber kein passives Wahlrecht zu Landesämtern hatten (ebd., S. 6), beobachtete er ein Fortwirken der Sippschaftsverfassung: Es „klebte" eben nicht ein Recht am Gut, zur Ausübung durch einen (beliebigen) Besitzer, sondern aktivierte vielmehr Besitz ein der Person eignendes Vorrecht. Allenfalls ließe sich Kurland mit Neugebauer, Standschaft, S. 67, der Region zurechnen, „wo die Zone mitteleuropäischer Bodenbindung [der Partizipationsrechte, M. M.] und ostmitteleuropäischer Libertaskultur sich überschnitten" doch stellt sich bei näherer vergleichender Betrachtung die Frage, ob die an Hintze angelehnte Typologisierung mit ihren weitreichenden Folgerungen nicht in eine allzu schematische Komplexitätsreduktion führt. Zum .Ankleben' der Stimmen an die Güter im 19. Jahrhundert s. u., S. 279f. 81 Zu letzteren Ziegenhorn, Staats Recht, 11. Abschnitt („Von den Rechten der Städte in Curland"), §§671 ff., S. 299ff. 79

Vgl.

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50

Das

Herzogtum

ureigenen Belangen gehört zu werden, oft genug unberücksichtigt blieb,82 bestanden in den munizipalen Rechtsbezirken Enklaven des Landrechts und reichten die Kompetenzen der adligen Hauptleute und Oberhauptleute in wesentliche städtische Angelegenheiten hinein.83 Die Regierung bildeten sechs dem herzoglich-preußischen Muster nachempfundene Oberräte, wie dort „ältere Brüder" genannt.84 Sie führten die politischen Geschäfte des Herzogs und bildeten mit ihm als Hofgericht die Oberappellationsinstanz des Landes, die erste Instanz in Kriminalsachen des Adels, in Amtsführungsklagen und bestimmten Vormundschaftsangelegenheiten, unter Zuziehung geistlicher Beisitzer auch das Konsistorialgericht.85 Drei von ihnen, Landhofmeister, Oberburggraf und Landmarschall, wählte der Herzog aus den Oberhauptleuten (s.u.), den Kanzler aus den Indigenen insgesamt. Ergänzend traten zwei Doktoren der Rechte hinzu, nach Möglichkeit gleichfalls aus der Ritterschaft, bis Ernst Johann bei seiner Wiedereinsetzung 1763 dies als Muss-Bestimmung anerkannte. Die Folge war, dass die Stellen lange frei blieben, sei es, weil sich kein entsprechend qualifizierter Indigener fand,86 sei es, weil der Herzog eine (potentielle) Stärkung seiner Gegner vermeiden wollte.87 An einem zentralen Vorrecht der Regierung hatten ihren

82 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 34f. 83 Ziegenhorn, Staats Recht, §§538,682, S. 193f.,312ff.;RiCHTER,Geic/!;'c/!re,Bd. 3, S. 155: „Man sieht hieraus, daß in Folge der Uebermacht des Adels die Gerichtsbarkeit der Magistrate weit beschränkter war als in Liv- und selbst in Esthland." 84 Kurland und seine Ritterschaft, S. 148. Der Adel untereinander sprach sich als „(Wohlgeborene) Herren Mitbrüder" an. Starke Anlehnung bereits des PSA an das preußische Muster überhaupt: LVVA 640/4/85, pp. 331 f.; vgl. a. Bues, Kurland und der Norden. 85 Ziegenhorn, Staats Recht, §§535ff., S. 193ff.; vgl. a. Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 156ff. Rechtswesen und Prozess insgesamt: Rummel, Instrudorium; Überblick: Richter, a.a.O., S. 153ff. 86 So Ziegenhorn, Staats Recht, § 457, S. 167, der freilich selbst als nichtindigener Rat aus dem Land gedrängt worden war (Bosse, Einkünfte, S. 531, Anm.; auch DBBL, S. 896) und mithin Partei. Nichtsdestoweniger, die unten, S. 156ff, näher erörterten Bildungskarrieren wurden in der Tat kaum je bis zur Promotion verfolgt. 1780 bzw. 1787 bis 1796 bekleideten dann Adolph v. Hahn und Heinrich v. Offenberg die Stellen: Räder, Juristen Kurlands, S. 1. 87 Dass die Räte aus dem Adel kamen, musste noch nichts bedeuten; sowohl Ernst Johann als auch Peter Biron gelang es wiederholt, loyale Parteigänger zu finden und durchzusetzen: Schwartz, Staatsschriften, S. 215; vgl. a. unten, S. 55, 146. Auch wenn ein promovierter, loyaler Indigener zu finden gewesen wäre, hätte der Herzog ihn freilich besolden müssen.

Der

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die untitulierten Räte ohnehin keinen Anteil: der Vertretung des Fürsten bei Abwesenheit oder Minderjährigkeit.88 Darunter zerfiel das Land in vier Oberhauptmannschaften, Verwaltungsorgane und zugleich Gerichtssitze erster Instanz für den Adel, die Literati89, Beamte und fürstliche Arrendatoren sowie für Stadtbürger und einige Domänenbauern in Kriminalsachen.90 Neben ihnen übten acht Hauptleute die Kriminal- und schwere Ziviljustiz über die Mehrheit der herzoglichen Bauern und allgemein die Jurisdiktion über die nichtindigenen Freien auf dem Land und in den Hakelwerken, Flecken und Städten ohne eigene Obrigkeit; teils saßen sie auch den Stadträten in Kriminalverfahren vor.91 Im Verhältnis zur Oberhauptmannsgerichtsbarkeit handelte es sich mithin um keinen hierarchischen Instanzenzug, sondern eine Kompetenzengliederung. Die Appellation von beiden Gerichten geschah direkt an das Hofgericht.92 Sofern es sich um Streitigkeiten zwischen Fürst und Adligen handelte, Verfassungskonflikte, aber auch Zivilsachen mit einem Streitwert von 600 fl. polnisch aufwärts oder Ehrprozesse, bestand schließlich eine Appellationsmöglichkeit an die Warschauer Relationsgerichte unter Vorsitz des Königs.93 1768 wurde der Gang vor die Oberherrschaft als Standesprivileg des Indigenatsadels und persönliches Vorrecht der Hofgerichtsadvokaten festgeschrieben.94 Die Oberhauptleute berief der Herzog aus den Hauptleuten, diese wiederum aus den besitzlichen95 Indigenen.96 Beide waren auf Lebenszeit 88 89 90

91

Allerdings waren die Grenzen dieser Kompetenz nicht völlig geklärt; zu den folgenschweren Konflikten daraus s.u., S. 146. Zum Gelehrten-Stand s. u., S. 66f.; zum Begriff Bosse, Einkünfte, S. 519ff. Kurland und seine Ritterschaft, S. 153; Ziegenhorn, Staats Recht, §§544f., S. 197ff., vgl. a. ebd., §396, S. 142. Grundlegung zu den Justizorganen 1617: Schiemann, Regimentsformel, §§ 1, 2, 4-10, S. 2ff; Abrisse: Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 96ff.; Schmidt, Rechtsgeschichte, S. 229ff. Kurland und seine Ritterschaft, S. 156; Ziegenhorn, Staats Recht, §§546, 681, S. 200, 312; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 153 f. An den Oberhauptmannsgerichten fungierten seit 1759 noch je zwei adlige Assessoren: Bosse, Einkünfte, S. 573;

außerdem bestallte Sekretäre: ebd., S. 575. 92 Schmidt, Rechtsgeschichte, S. 231. Sie konkurrierten denn auch in bestimmten Läuflingsfragen: Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 154. 93 „[...], wo die Prozesse eben so gut als in Wetzlar verewigt werden": Schwarz, Kurlands Bewohner, S. 76. Ziegenhorn, Staats Recht, § 329, S. 114. 94 Schmidt, Rechtsgeschichte, S. 230. 95 96

Seit 1717: Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 101. Kurland und seine Ritterschaft, S. 153, 156, spricht von einem Wahlrecht des Adels, das aber erst in der Kompositionsakte 1793 für die Zeit nach dem Ableben Herzog Peters stipuliert und dann unter russischer Herrschaft praktiziert wurde: Kompositionsakte 13-4, S. 24; s.u., S. 232, 261. Vgl. a. Ziegenhorn, Staats Recht, §664,

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Das

Herzogtum

bestellt und ohne Spruch der vereinigten Oberräte und Oberhauptleute nicht zu entsetzen;97 ihre Kompensation bezogen die Amtsinhaber aus der fürstlichen Rentei beziehungsweise einer Amts-Widme, also dem Nutzen an Land und Leuten.98 Der Vollständigkeit halber seien noch die sechs Offiziersstellen bei der Landesfahne und zwei unbesoldete Kirchenvisitatoren erwähnt, vier Mannrichter bei den Oberhauptleuten, die für die Wegeaufsicht verantwortlich waren und daraus Sportein bezogen. Zu diesen Positionen genoss der Landtag ein Vorschlagsrecht.99 Der Landtag selbst, Zentrum der adelsgesellschaftlichen Mitsprache, wurde ebenfalls nach polnisch-preußischem Vorbild und in Abweichung vom livländischen Virillandtag als Deputiertenkonvent abgehalten.100 Der Herzog war verbunden, ihn alle zwei Jahre dem Reichstag vorangehend auszuschreiben, konnte aber auch in der Zwischenzeit außerordentliche Landtage berufen.101 In jedem Fall wurden die zu verhandelnden Materien schriftlich in die 27 Kirchspiele gegeben,102 wo die örtlichen „indigenae et bene possessionati" je einen oder zwei -

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S. 294, auch §§407,465,495, 544, 546, 551, S. 147f, 169,180,197, 200 f., der das Wahl- und Vorschlagsrecht systematisch einleuchtend auf die u. g. unbesoldeten Stellen beschränkt. Entsprechend Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 98, 103, und Wulffius, Betrachtungen, S. 6. 97 Schiemann, Regimentsformel, §7, S. 3. 98 Den Oberräten standen „anständige Wohnung", 1000, später 2000 Rth. alb. sowie ein Deputat Holz zu, die Haupt- und Oberhauptleute kamen auf ein Gehalt von 500 bis 1 000 Rth. alb. je nach Stelle: Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 95; Tiling, Bürgerliche Union, Bd. 3, S. 47. Zur Einordnung dieser und aller weiteren Geldbeträge s. Anh. 11. 99 Ziegenhorn, Staats Recht, §§495, 551, S. 180, 201 f.; vgl. a. Kurland und seine Ritterschaft, S. 417. 100 Schmidt, Rechtsgeschichte, S. 233f. Ziegenhorn, Staats Recht, §515, S. 187, erkennt die Option des Herzogs bzw. in seiner Abwesenheit der Oberräte an, in Ausnahmefällen auch Virillandtage, „Brüderliche Konferenzen", auszuschreiben, spricht aber einer von Oberräten und Adel allein betriebenen Versammlung jede gemeinverbindliche Autorität ab; vielmehr stellten die Konferentialschlüsse „nur Verabredungen [dar], die den Adel unter sich, nicht aber das Publicum verbinden [...] und also keine eigentliche^] Quellen des Staatsrechts": ebd., § 131, S. 55. Faktisch dienten sie als oppositioneller oder als legitimitätserhöhender Modus für außergewöhnliche Entscheidungen, v. a. bei Herzogswahlen, in den Verfassungskonflikten, dann bei der Unterwerfung 1795 und bei der Aufhebung der Leibeigenschaft. Auch hier ist das polnische Vorbild erkennbar. 101 Ziegenhorn, Staats Recht, §471, S. 172. 102 Ziegenhorn, Staats Recht, §§472f, S. 172. Die Kirchspiele waren primär politische Einheiten, etwa den Kreisen andernorts vergleichbar: Stavenhagen, Politische -

Kirchspiele.

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53

Der sippschaftliche Herrschaftsverband

wählten und auf der Basis dieser „Deliberatoria" instruierten.103 Über das aktive und passive Wahlrecht in einem Kirchspiel verfügte mithin jeder mündige, männliche indigene Besitzer eines dort

Eingesessene

belegenen „adligen Guts"104, der folglich auch kontribuierte, inklusive der Pfandhalter. Gleichfalls stimmberechtigt waren indigene „Rentenierer":105 Ritterschafts-Adlige, die ein bestimmtes zinsbares Mindestkapital ausstehen hatten und davon freiwillig steuerten wenn man so will, ein herrschaftsloses106 Moneyed interest. Ausgeschlossen waren Pächter, sofern sie nicht zugleich als Rentenierer gemeldet waren, aber auch ansonsten qualifizierte Hofbeamte und Offiziere des Fürsten (nicht jedoch die „Landeschargen" der Hauptleute und Oberhauptleute).107 Die Deputierten traten dann in Mitau zusammen, wählten mit relativer -

Mehrheit einen Landbotenmarschall und verhandelten und entschieden unter dessen Vorsitz und gemeinsam mit den Oberräten als Vertretern des Herzogs die ausgeschriebenen Angelegenheiten,108 und zwar, folgt man Ziegenhorn, unterschieden nach fünf Klassen: 1. Materien, in denen dem Herzog kein Mitspracherecht zukam (Bestellung und Instruktion von Ritterschaftsdelegierten an die Oberherrschaft, Wahl eines Lan-

103 Ziegenhorn, Staats Recht, §§475 ff, S. 173 ff. Die Deputierten hatten aber jedenfalls nur eine (ggf. gemeinsame) Kirchspiels-Stimme. Dünaburg und Überlautz teilten einen Deputierten, so dass die Stimmenzahl insgesamt 26 betrug. Doch war die Anzahl der tatsächlich Anwesenden oft geringer, da jeder Deputierte bis zu zwei Vollmachten übernehmen konnte (ebd.). Die Begrifflichkeit geht ungeordnet durcheinander, zumeist ist von „Landboten" oder „Deputierten" die Rede, doch kann im selben Absatz auch „Delegierter" als Synonym verwandt werden: Ziegenhorn, Staats Recht, §486, S. 177. 104 Später „Privatgüter"; vgl. a. Anm. 246. 105 Ziegenhorn, Staats Recht, §477, S. 174. Der Landtagsschluss vom Juli 1763 (Auszug ebd., Beilagen Nr. 359, S. 425f.) scheint in dieser Hinsicht allerdings eher restringierend als ausweitend gewirkt zu haben, da er eingerissenen „Irrungen" mit klaren Regeln begegnete, darunter einem definitiven Ausschluss der Arrendatoren, einer Wohnsitzbindung und einer Rechtsverwirkung bei einmaliger Nichtausübung der Stimme. Insofern lässt sich Neugebauer, Standschaft, S. 42, zustimmen, dass der auf Wunsch des Adels zustande gekommene Schluss einem aus wirtschaftstrukturellen Veränderungen erwachsenden Regulierungsbedarf entgegenkam; die Verknüpfung mit dem Problem der Individualberechtigung und späteren -

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106

-

nichtindigenen Teilhabebegehren überzeugt hingegen wenig: Die Außengrenze der Partizipation blieb von der Matrikel definiert, die Besitzqualifikation eine innerritterschaftliche Frage. „Landlos" trifft die Sache nicht, da das rententragende Vermögen im allgemeinen in

einem Gut stand. 107 Ziegenhorn, Staats Recht, §477, S. 174f. 108 Ziegenhorn, Staats Recht, §§480, 482, 497, 500, S. 175f., 180f.

54

Das

Herzogtum

desbevollmächtigten109, Willigung von Landschaftsgeldern für derartige Zwecke sowie deren Verwaltung, Klageerhebungen, „und was mehr dergleichen Sachen sind, die in die Regalien und Territorialsuperiorität des Herzogs nicht eingreifen");110 2. Sachen, bei denen die Ritterschaft eine

beratende Stimme hatte (Kirchenordnung und Schulaufsicht, Außenund Außenhandelspolitik, Prozessordnung);111 3. Sachen, bei denen die Landschaft als Bittsteller auftrat (Desideria, Gravamina),"2 in beiden Fällen war der Herzog letztlich frei in seiner Entscheidung, jedoch ein Appell an die Oberherrschaft möglich;"3 4. Sachen, bei denen der Herzog die Einwilligung der Landschaft brauchte (gemeinsame Delegierte, Eingriffe in adlige Rechte und Privilegien, Indigenat, Besteuerung über den „Rossdienst""4 hinaus);"5 5. solche, in denen die Landschaft über ein Vorschlags- und der Herzog über ein Bestätigungsrecht verfügte, also die oben genannten geringeren Landesämter. Ziegenhorns Erörterungen weisen freilich auch aus, dass keine dieser Klassen, respektive die jeweilige Zuordnung von einzelnen Gegenständen, unumstritten war. Darüber hinaus entstanden im 18. Jahrhundert Konflikte vor allem um drei Punkte: Erstens, ob Adel und Oberräte oder gar Mitglieder des Adels eigenständig Deliberatorien einbringen, sie dem Herzog oktroyieren könnten, also, modern gesprochen, die Tagesordnung bestimmen;"6 zweitens, ob die Landschaft das Recht habe, den Landtag zu „limitieren", das heißt zu vertagen und damit nach Belieben zu perpetuieren;"7 und endlich, ob die Landschaft den Herzog zur Ein-

109 Er vertrat seit 1712/18 die Interessen der Ritterschaft zwischen den Tagen gegenüber dem Herzog und der Krone: Kurland und seine Ritterschaft, S. 164. 110 Ziegenhorn, Staats Recht, §491, S. 178. 111 Ziegenhorn, Staats Recht, §492, S. 178 f. 112 Ziegenhorn, Staats Recht, §493, S. 179. 113 Allerdings kam so kein gemeinsamer Schluss zustande: Ziegenhorn, Staats Recht, §500, S. 181; daraus und aus dem Beschwerderecht beim König ergab sich ein starkes Verhinderungspotential. Den Schluss fertigte der Herzog in seinem Namen aus und autorisierte ihn so, er bedurfte aber der Unterschriften der Deputierten: Ziegenhorn, Staats Recht, §502, S. 181. 114 Der Rossdienst war das Lehnsaufgebot bzw. dessen seit 1727 monetarisiertes Äquivalent, das die Oberherrschaft von Herzog und Adel im Kriegsfall fordern konnte, jedoch nur innerhalb der Grenzen des Herzogtums; alle darüber hinausgehenden Kontributionen waren freiwillig: Ziegenhorn, Staats Recht, §§339, 355, 642, S. 116f., 125, 272f.; vgl. a. Keller, Lehnspflicht. 115 Ziegenhorn, Staats Recht, §494f., S. 179f. 116 Ziegenhorn, Staats Recht, §473, S. 172 f. In der Praxis kam das wiederholt vor; letztlich war es eine Frage der jeweiligen Machtlage. 117 Ziegenhorn, Staats Recht, § 509, S. 183.

Der

55

sippschaftliche Herrschaftsverband

berufung eines Landtags zwingen oder gar selbst einen Landtag einberufen könne letzteres wurde allerdings erst spät ernsthaft betrieben.118 Landtagsentscheidungen fielen per Abstimmung. Das Mehrheitsprinzip als scharfe Waffe der Versammlung, da es ihre Entschlussfähigkeit sicherte, war zwar bereits 1642 festgestellt,119 aber erst nach einem Verfassungsstreit zwischen einer oberrätlichen, Biron-treuen Minderheit und einer opponierenden Mehrheit 1746 für alle Fragen ohne Ausnahme durchgesetzt und verbindlich gemacht worden.120 Generell dehnte der Abschied von 1746 die Adels- und Landtagsrechte gegenüber Regierung, Herzog und Konkurrenzeliten noch einmal aus.121 So sollten den nichtindigenen Beamten die persönlichen Adelsvorrechte und der Titel -

„Edel" genommen werden,122 Städter und Literati wurden mit Luxusverboten distanziert,123 dem Indigenatsadel wurde die „freie Kaufmannschaft nebst der Zollfreiheit" für sich und seine Untertanen „nach den

uralten Verträgen, Privilegien u[nd] L[andes-]G[esetzen]" bestätigt,124 einer ritterschaftlichen Kommission die Revision der städtischen Policey-Ordnungen aufgetragen, um eingeschlichene Beschädigungen adliger Privilegien abzustellen,125 es wurde das Recht der Kirchenpatrone

118 Ziegenhorn, Staats Recht, §510, S. 183 ff. Fest stand, dass die Landschaft den König um Erzwingung eines Landtags angehen konnte: ebd., S. 184. Vgl. a. unten, S. 128, 204f., 209. 119 LTS 1642, §47: Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 83; vgl. a. Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 142. 120 LTS 1746, §89: Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 652f. Vgl. a. Gebhardi, Geschichte, S. 200; Cruse, Curland, Bd. 2, S. 30; Strohm, Kurländische Frage, S. 200. Ziegenhorn, Staats Recht, §489, S. 177f., zufolge kam es zwischenzeitlich zu in wenigen Fällen erfolgreichen Versuchen, den Landtag zu „zerreißen", doch blieb dieser am polnischen Beispiel (oder einem Klischee davon) orientierte Sabotagemodus die nicht akzeptierte Ausnahme. 121 Text: Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 626ff.; konzise Wiedergabe: Cruse, Curland, Bd. 2, S. 23 ff.; zum Vorgang Strohm, Kurländische Frage, S. 198ff.; vgl. a. Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 142ff; zuletzt Oberländer, Kurland im 18. Jahrhundert, S. 39 f. 122 LTS 1746, §37: Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 638f.; Infamie auf Adelsanmaßung: ebd., §56 (a.a.O., S. 646); bzgl. der Literati letztlich ohne Erfolg: Bosse, Einkünfte, S. 531 f. 123 LTS 1746, §§ 17, 72: Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 632f., 649. 124 LTS 1746, §§ 1-2, 59: Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 628, 646; dagegen Bestätigung aller Indigenatsmonopole an Arrenden, Ämtern und Pfandbesitz: ebd., § 11 (a.a.O., S. 631). 125 LTS 1746, § 16: Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 632; freilich hatte das auch einen ordnenden Sinn, so bei der Vereinheitlichung der Maße nach Rigischem Vorbild: ebd., §20 (a.a.O., S. 633f.). -

-

56

Das

Herzogtum

gegenüber der Hierarchie gestärkt126 usf. Vor allem jedoch legte eine Reihe Paragraphen die Oberräte an die Kette des Landtags.127 Alexander

Richter hat deshalb diesen Schluss bereits als eine Reduktion der Regierung zur Exekutive des Landtags „im Sinne neuerer Theorien" verstanden.128 Doch kommt wohl Cruse dem Gehalt näher, wenn er „das Streben" beobachtet, „dem einzelnen Mitgliede des Corps die möglichste Unabhängigkeit vom Gesetze zu sichern."129-Es ging weniger um eine systematische, etwa gewaltenteilige Umgestaltung der Ordnung als um deren Weitung, wenn nicht Suspension, wo sie einzelnen Adligen oder dem Adel insgesamt lästig war. Die Unterwerfung der Regierung unter das Belieben des Landtags gehorchte den Anliegen des Moments, nicht grundsätzlichen Ideen einer zu modifizierenden Verfassungsarchitektur. Sie war auf Verhinderung ausgerichtet, kaum auf Gestaltung, anders als das unten zu diskutierende Konstitutionsprojekt von 1791. Dessen explizite Gewaltentheorie findet sich 1746 ebensowenig wie eine Fundamentalkritik der herzoglichen Autorität und ihrer Quelle; als einziger Programmbegriff lässt sich der von Polen inspirierte eines „freien Adels" lesen,130 und er ist anhand der umrissenen Forderungen zu verstehen als Vehikel eines gleichsam archaischen Tun- und Lassen-Köneine nens vor allem in symbolischer und wirtschaftlicher Hinsicht,131 Art exklusive Ungebundenheit. „Ein freier Adel" Kurlands wäre demnach zunächst sich selbst frei gewesen, „frei von" Restriktion, weniger „frei zu" einer politisch-gesellschaftlichen Rolle. Die Rede zeigt sich ohne Auffassung einer historischen Situierung, wie sie spätere Erörterungen einer „freien Nazion" (des Adels) grundierte132; ungeschichtlich motiviert, gelangt sie zu keiner Gegenwartskritik auf der Annahme kontingenter Gewordenheit und offener Zukunft. Entsprechend gehört ihr sprachliches Protokoll einer Welt integrierter Abbildungsverhältnisse an, folgt nicht Mustern von Kausalität und Verlauf oder von Vergleich v.

-

126 LTS 1746, § 19: Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 633. 127 LTS 1746, Präliminarartikel sowie §§ 12, 44ff., 48ff., 90, 101: Rummel, Landtagsund Conferential-Schlüsse, S. 626ff., 631, 640, 643ff., 653 f., 658. 128 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 142. 129 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 28. 130 Charakteristische Verwendung: LTS 1746, § 30 (Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 637). Vgl. a. Cruse, Curland, Bd. 2, S. 32f.; kritisch: Ziegenhorn, Staats Recht, §§510, 668, S. 185, 298; auch Gebhardi, Geschichte, S. 200. 131 Zur „Praxis der Bereicherung", die sich hier niederschlägt, s. das folgende 132

Kapitel. Vgl. unten, S. 175ff, 228, 240.

Der

sippschaftliche Herrschaftsverband

57

und Entwicklung, sondern von Kongruenz und Geschehnis. Seine dominante Trope ist die Synekdoche.133 Verdeutlichen lässt sich das an dem angesprochenen § 89 zum Mehrheitsprinzip: „dass der Schluß der mehresten Stimmen von nicht geringerer Activität [Cruse: Autorität134] sei, als der einmüthige, u[nd] also die meisten Stimmen bereits die wahre Landsch[aft] ausmachen, hat seinen Grund in den Fundamental-Gesetzen u[nd] der Commiss[orialischen] Decision] von A. 1642".135 Hier wurde keine Stellvertreterlogik begründet, sondern ein „wahres" Abbildungsverhältnis näher bestimmt und rechtlich beteuert. Die Mehrheit machte die Landschaft aus, wie diese gemeinsam mit dem Herzog wiederum dem Land entsprach.136 Nur folgerichtig waren auch die Instruktionen unbedingt bindend und durfte gegen oder über sie hinaus ein Deputierter nicht votieren, bei Verlust des Indigenats:137 Er vertrat nicht seine Kirchspielversammlung, sondern stellte sie vor. Sich von der Instruktion zu lösen, hätte den Abbildungszusammenhang zugunsten eines mechanischen Delegationsverhältnisses und damit die Integrität des Ganzen gelöst.138-Die Verhältnisse mochten zerrissen sein, doch wurde das nicht als sozialer Reflex einer ontologischen Spaltung aufgefasst, deren Artikulation und Bewältigungsversuche in metonymischen oder metaphorischen Operationen den modernen kategorialen Apparat eben erst heraufzubringen

Anklänge an Whites Analyse der „historischen Einbildungskraft" (White, Metahistory, v. a. S. 573 ff. zur Entscheidung für das klassische viergliedrige Raster in Abgrenzung zum linguistischen Strukturalimus und der Tropologie Jakobsons und Lévi-Strauss') sind offenkundig. Der methodische Unterschied besteht darin, dass White unter „Wendung des ironischen Bewusstseins gegen die Ironie" (ebd., S. 13) ein systematisches Anliegen verfolgt, während die Begriffe hier in weniger postironischer Absicht zur Kenntlichmachung bestimmter Repräsentationsmuster

133 Die

verwandt werden. 134 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 30 ob verlesen, korrigiert oder interpretiert, sei dahingestellt. Dieselbe Verwendung aber auch in LTS 1746, Präliminarartikel 3: Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 621. 135 LTS 1746, §89: Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 652f. 136 Auch der umgebende Text, etwa dessen Körper-und-Glieder-Rhetorik, bildet das ab. Vgl. zum politisch-ideengeschichtlichen Horizont Stollberg-Rilinger, Vormünder, v.a. S. 81 ff.; Hofmann, Repräsentation, S. 191 ff.; systematisch immer noch instruktiv Habermas, Strukturwandel, S. 54ff., hier S. 61. 137 Ziegenhorn, Staats Recht, §488, S. 177. Zu einer Anwendung der Sanktion scheint es indes nie gekommen zu sein. 138 Zur Praxis unten, S. 212f. Der durchaus taktische Umgang mit den Instruktionen löst das Argument nicht auf: Nicht die Häufigkeit von Regelverstößen, sondern dass das sprachliche Protokoll ihre Systematisierung erlaubt, markiert eine neue -

Ordnung.

58

Das

Herzogtum

begannen,139 sondern als Störung einer grundsätzlich integren Ordnung. Zwar

gewöhnte

mend daran, die

Verbannung B irons zunehreduzieren, zu radikalisieren: „Sonst

sich der Adel während der

Kongruenzen

zu

bildete der eingesessene Adel eine Gemeinde, insofern die Glieder durch das Haupt, den Herzog verbunden waren; izt erschien er als eine Corporation ohne ein solches Haupt und als gesetzgebend".140 Ansatzweise spielte der Sippschaftsverband mit der Abstoßung der „monarchischen Spitze"141 und setzte sich selbst als Inbegriff des Landes. Doch handelte er dabei situationsbezogen, einer Not gehorchend nach-vollziehend. In Abwesenheit eines Fürsten dehnte er seine Autorität in die Lücke142 am Ende ohne tiefere Konsequenz: Sobald wieder ein Herzog im Land war, folgten die Rücküberantwortung der Regierung und Refokussierung der Einhegungsanliegen von dieser auf den Landesherrn.143 Auch das Oberratskollegium wurde eben nicht als selbständige oder delegierte Größe vorgestellt,144 nicht als Repräsentantin, sondern als Repräsentation eines Willens. Kurz, die herzoglose Zeit brachte wohl eine Einübung in erweiterte politische Unbotmäßigkeit; für deren Überführung in einen Systemwechsel jedoch stand den Akteuren vorläufig keine Sprache zur Verfügung. Die ostentative, im Grunde pathetische Respektlosigkeit, mit der die Landtagsdelegierten 1765 Ernst Johann Biron entgegentraten, die Kurialien in Reisekleidern, Stiefeln und „zottichten Handschuen" abstatteten,145 entsprach einem anderen Code als die sarkastische Aurazerstörung, mit der eine Generation später das aufgeklärte Publikum Herzog Peter als Bauern auf dem Thron lächerlich machte146. -

139

Vgl. JauB, v.a.

S. 166.

Literarischer

Prozeß,

S. 73f.; Habermas, Diskurs der Moderne,

140 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 32 f. 141 Vgl. oben, S. 35. 142 Dem entspricht die Implikation des Begriffs vom „freien Adel", beim Aussterben des Herrscherhauses bis zur Wahl eines neuen in die Hoheitsrechte einzutreten: Gebhardi, Geschichte, S. 200. 143 Wenn auch nicht ohne Reibungen: Schwartz, Staatsschriften, Nr. 145, S. 214ff. 144 Dass ei faktisch in die Nähe einer solchen zu rücken begann, indem die Räte sich auf den Herzog beriefen, ohne dass dieser greifbar war, löste den Konflikt aus. 145 Schwartz, Staatschriften, S. 217. 146 Heyking, Letzte Tage, S. 193ff.; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 237; vgl. unten, S. 142, Anm. 228.

59

Der sippschaftliche Herrschaftsverband

Adel und Freie

Um so vehementer übersetzte sich die gesteigerte Selbstherrlichkeit in die Alltagspraxis. Der „Edelmann", jeder die Ritter- und Landschaft in Person,147 „Mitregent" und auf seinem Gut „ein kleiner König",148 war Herr, mehr denn je. Freiheit, jene „möglichste Unabhängigkeit vom Gesetze", wurde zum Maß der Dinge bis zu dem Punkt, an dem man sich mit dem Schutz der Rechtspflege selbst schwertat: Nachdem der Landtag von 1754 die jederzeitige Festsetzung von Indigenen ermöglicht hatte, die in Gerichtsstuben eingedrungen waren und Prozessakten geraubt oder vernichtet hatten, formierte sich Widerstand gegen solche Bedrohung des Neminem captivabimus149 immerhin zur Sicherung des Gerichts selbst -, und 1763 wurde das Gesetz zurückgenommen.150 Gewalt als außerrechtlicher Modus der Konfliktlösung war gang und gäbe. Eine mehr oder weniger normierte Form gaben die zeitweilig grassierenden und offen ausgetragenen Duelle ab.151 Vergleichsweise effizient und kostengünstig gegenüber dem weitläufigen und teuren Gerichtsgang,152 als Ehrensache mehr oder weniger verbindlich, stellten sie nicht zuletzt eine wörtliche Waffengleichheit zwischen materiell Ungleichen her.153 Doch Rache perpetuierte einmal begonnene Händel, die Grenzen zu Übergriffen in gänzlich unregulierter Form waren fließend.154 Zumal -

147 Rechtstheoretisch war das in der Form zweifelhaft, hielt sich aber als Selbstauffassung hartnäckig: Ziegenhorn, Staats Recht, §666, S. 297 f. Vgl. a. unten, S. 212, Anm. 312. 148 So die Formulierungen in der verklärenden Schilderung Taubes, Baltischer Adel, S. 14f. Ausgang des 18. Jahrhunderts spottete Heinrich Christian v. Keyserling, „auf unsern Kirchspiels und Landtagen bringt ein jeder Edelmann seine portiunculam Maiestatis mit sich": Seraphim, Geschichte, S. 316. 149 Ziegenhorn, Staats Recht, §553, S. 202; vgl. a. Cruse, Curland, Bd. 1, S. 243. 150 Ziegenhorn, Staats Recht, §560, S. 205f; vgl. a. Gebhardi, Geschichte, S. 201. 151 Andrej Bolotov schilderte sie um 1750 als „überaus alltäglich" und ihrer Kriminalisierung 1717 (Richter, Geschichte, Bd. 2, S. 106) zum Trotz bar jeder Geheimhaltung: Weiss, Begegnungen, S. 101. Vgl. a. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S.lOf.; Cruse, Curland, Bd. 1, S. 312 f. 152 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 157. 153 Diederichs, Bruchstück, S. 81: „Die armen Edelleute führen nicht gerne Prozeß, sondern wollen ihre vorfallende^] Streitigkeiten lieber cavallierement mit einem Degen oder auf ein Paar Pistolen debattiret haben; denn obzwar das Duelliren verboten, so wird doch von demjenigen nichts gehalten, der auf Provocation nicht herauskommet." 154 Klopmann /Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 52: Kurz vor der Jahrhundertmitte wurde der älteste von drei Brüdern Korff von seinem Onkel, Herrn v. Elmendorff, im Duell erschossen, der zweite im Duell mit einem v. Schoeppingk-Bornsmünde erstochen; der dritte machte Schoeppingks Sekundanten Adam Friedrich -

-

60

Das

Herzogtum

Rechtstitel wurden bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts gegebenenfalls auf eigene Faust durchgesetzt oder abgeschlagen.155 Im Extremfall kam es zur Belagerung von Gütern, auf denen sich die Besitzer mit ihren Hofesleuten verschanzt hatten,156 unter Umständen zu regelrechten Raub- und Beutezügen wie denen des Hauptmanns Kosciuszko von Upit in Litauen;157 im dortigen Grenzgebiet traten noch konfessionell motivierte Übergriffe hinzu.158 Auch in der Landespolitik hatte Gewalt ihren Platz. So bildete 1751 die Ritterschaft in kruder Nachempfindung der polnischen Konföderationen eine „Union", die mit der Landesverfassung auf keine Weise in Einklang zu bringen war, und setzte den Oberräten derart zu, dass diese sich bewaffneten;159 auf den ordentlichen Landtagen dauerten ungeachtet aller Strafandrohung das „Brouillieren", Tumult und Einschüchterung, fort.160 Insbesondere Russland nutzte irreguläre Gewalt, Entführungen und Verschleppungen bis nach Sibirien161 von kriegsmäßigen Durchmärschen, Sequestrierungen und Einquartierungen abgesehen als Mittel seiner Einflusspolitik, während die Herzöge, auf sich allein gestellt, mit politischem Mord 1615/17 und 1715/17 schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Beide Male führten Anschläge auf die Führer einer Fronde zu Gegengewalt und am Ende erheblichen Rechtsverbesserungen für den Adel.162 -

-

155 156 157 158 159 160

161 162

v. Klopmann auf Würzau für diesen Ausgang verantwortlich, drang in das Mitauer Gasthaus ein, in dem Klopmann abgestiegen war, griff diesen an und wurde von ihm über den Haufen geschossen. Zu den noch einmal rüderen Sitten des späten 17. Jahrhunderts Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 85. LVVA 1100/5/20, p. 31; Hahn, Litauische Briefladen, 1903, S. 11 f., 14, 17, und 1904, S. 10, 13, 31 f., 35 f., 57, 61; vgl. a. Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 110. GenHB, Bd. 1, S. 378; Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 17. Gebhardi, Geschichte, S. 202; zur allgemeinen Unordnung und Schwäche der Exekutive vgl. a. Cruse, Curland, Bd. 1, S. 269ff. Kircheneinäscherungen, Pastorenmord und -misshandlung: Klopmann /Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 38. Gebhardi, Geschichte, S. 201. Ziegenhorn, Staats Recht, §485, S. 176: „Die stillern im Lande [...] geben entweder, um Friede zu haben, nach, oder entziehen sich gar künftig Deputirte zu seyn, dahero die Landes Wohlfahrt oft nicht solchen Personen, wie es zu wünschen wäre, anvertrauet werden kann. Wenigstens würde die Unverletzlichkeit des Burgfriedens manchen zu Schloß in mehrerem Respect erhalten." Vgl. a. Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 111. Strohm, Kurländische Frage, S. 123, 166; Liebeskind, Rükerinnerungen, S. 356f. Keller, Herzog Friedrich, S. 37 ff.; Wittram, Baltische Geschichte, S. 111 f., 122; zu den kleinkriegsähnlichen Auseinandersetzungen 1615/17 auch Schiemann, Regimentsformel, S. IV ff.

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Der sippschaftliche Herrschaftsverband

Als jedoch der Kanzler Lüdinghausen-Wolff während des Unterwerfungslandtags 1795 den Oberburggrafen v. d. Howen in eindeutiger Absicht aufforderte, ihn vor der Stadt zu treffen,163 konnte Howen nicht zuletzt dank russischer (militärischer) Rückendeckung der Forderung mit Öffentlichmachung und Klage begegnen und so Wolff zur Abreise zwingen:164 Um 1800, parallel zur Klärung der machtpolitischen Verhältnisse, unterlag der Zweikampf einer effizienter werdenden Ächtung, zumindest Domestizierung. Soweit er Teil der kulturellen Praxis blieb, zwangen ihn drastische Sanktionen mehr oder weniger ins Diskrete, vor allem aber wurde er strikt ritualisiert.165 Die offenen, oft von ordinärem Mord kaum zu unterscheidenden Totschlägereien endeten. Auf dem Land setzte sich allmählich ein stabiler Rechtsfrieden durch,166 wobei die effektive Monopolisierung der Gewalt durch den Staat und Selbstenthaltung, die Tabuinternalisierung im Rahmen einer neuen 163 LVVA 640/4/92, p. 83. Seiner für die herzoglich-kurländische Spätzeit charakteristischen, Ironie, antikisierendes Pathos und Grobianismus kombinierenden Rhetorik wegen sei Wolffs Zettel vom 16.3.1795 wiedergegeben: „Meine innigste Sehnsucht, Sie nach langem vergeblichen Harren endlich einmal ohne Zeugen unter vier Augen zu sprechen, muß Ihnen heute besonders hervorleuchtend gewesen seyn. Lassen Sie uns an diesem schönen Nachmittage unserem Vaterlande eine Minute widmen, vielleicht hängt das Schicksal desselben hievon ab das herrliche Wetter ladet mich ohnehin zu einer Spazierfahrt ein; wir treffen uns doch ganz zuverlässig hier vor der Stadt bey Rom [Ortslage außerhalb Mitaus, Wolffs Hervorhebung, M. M.]? Ich werde bis vier Uhr jenseits der langen Brükke auf Sie warten; O wie süß-wie herzlich soll unsere Umarmung seyn!-Auch der Gedanke an unser Vaterland! ! ! Nun Sie kommen doch gewiß? Das alte Rom war durch eine Menge patriotischer Thaten berühmt; möchte doch unser curländisches es nur durch eine einzige werden! Genug, wir sprechen uns; und sollten Sie, welches ich Ihnen aber durchaus nicht zutraue, hiezu in der Ihnen bestimmten Zeit keine Lust haben; so ruhe ich nicht, bis ich Sie ein anderes Mal gefunden habe, wozu ich nachdrückliche Mittel anzuwenden genöthigt seyn werde. Wolff." 164 LVVA 640/4/92, pp. 15,79ff. 165 Hahn, In Gutshäusern, S. 263 f., 283; Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 112. Vgl. a. Lotman, Rußlands Adel, S. 174ff. Bekanntlich forderte in Preußen noch 1865 Bismarck Virchow nach einer Landtagsdebatte aber eben als ritualisierte Ehrensache auf den Vorwurf der Unwahrhaftigkeit hin, nicht zur politischen -

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Grundsatzentscheidung. 166 Praktisch keine Kriminalität am Ausgang des 18. Jahrhunderts: Bosse, Einkünfte, S. 578, Anm.; dagegen Versteck von Wertsachen „im Kasten unter den Fliesen" zu seinem Beginn: Hahn, Litauische Briefladen, 1902, S. 182; Mitte des 19. Jahrhunderts dann bei weitgehender Ruhe (Kurland und seine Ritterschaft, S. 143) Zunahme von (Bagatell-) Diebstählen: Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 130, der das der drückenden allgemeinen Besteuerung zur Last legt durchaus ein anregender Gedanke, dass ab einem bestimmten Punkt der Sicherheitsstaat sich selbst erforderlich macht. -

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Das

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Zivilisationsideologie einander ergänzten. Darauf, auf den entsprechenden Wandel der Vorstellungen von Adligkeit, wird zurückzukommen sein. Ansonsten mögen die Andeutungen hinreichen: Ratio, Modi und Verhandlung gewaltförmiger Auseinandersetzungen in den verschiedenen Phasen der Herzogszeit und unter russischer Herrschaft sind so

gut wie nicht belichtet.

Allerdings ist in dem Zusammenhang noch einmal die Ordnungsgröße der Territorialitätanzusprechen. Der erwähnte Kosciuszko-dessen

Familie die Matrikel von 1833 zu den in Kurland notorischen zählt berief sich bei seinen Überfällen auf Grenzstreitigkeiten. Dass es darum nicht ging, beziehungsweise es sich um eine chiffrenhafte Verkürzung handelte, ist offensichtlich.167 Vielmehr gaben die von Servituten168, Gewohnheitsrechten und personenbezogenen Forderungen perforierten oder überwölbten Landes- und Besitztümergrenzen verfügbare Topoi ab, um Ansprüche zu artikulieren, auf Hölzungsrechte, Heuschläge, einen Mühlenbach, einen Untertan, Beiträge zum Kirchenunterhalt, zum Wegebau oder auf Kompensation. So wie adlige Güter mit anderen verschmolzen, heruntergebracht oder erheblich ausgedehnt wurden, ohne als rechtlicher Sachverhalt, also potentielle Basis einer Stimme im Kirchspiel, davon beeinflusst zu werden,169 stellte das Territorium weniger eine räumliche Einheit als ein Argument dar, mit dem die Akteure nach Maßgabe ihrer Interessen operierten. Kurländische Gutsbesitzer beriefen sich in Litauen auf ihre inländische Standesgerichtsbarkeit und leugneten zugleich in Pilten deren Kompetenz. Indigene begegneten sich in Deutschland oder Polen auf dem Fuß, den ihre Statuten definierten, und führten ihren eher ruppigen, hochfahrenden Freiheitsbegriff mit, der im Herrenrecht wurzelte, sofern nicht Karrierewünsche eine Anpassung an jeweilige Kontextvorgaben nahelegten.170 Der Privilegienbestand war mithin eine in Abhängigkeit von Machtverhältnissen mehr oder weniger mobile Ressource, der das physische Gebiet als Referenzgröße diente. Dessen Schutzfunktion hingegen war gering. Die Grenzen der Ansprüche bildeten nicht Marksteine, sondern ein Jägerpulk oder ein Schwager: Wenn Kosciuszko auf Kurland übergriff, Russland mit bewaffnetem Arm über die Grenze langte, halfen allenfalls Waffen oder persönliche -

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167 Wie Anm. 157; ähnliche Vorfalle: Cruse, Curland, Bd. 1, S. 270f. 168 Nutzungsrechte jenseits des eigenen Gebiets: LVVA 1100/9/18, p. 26; vgl. a. ebd./13/209, pp. 66f.; Ziegenhorn, Staats Recht, §632, S. 261. 169 Kurland und seine Ritterschaft, S. 66f. „Potentiell", da es vom Stand des Besitzers

abhing. 170 Heyking, Letzte

Tage, S. 208ff.; Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 18, 150; Cruse, Curland, Bd. 1, S. 317; Seraphim, Kulturbeziehungen, S. 264f.

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Beziehungen in der Residenzstadt, aber keine Territorialverwahrung.171 Kurz, Raumbegriffe chiffrierten Sets von Rechten und Freiheiten, die in personalen Netzen realisiert wurden.

Auf seiner Innenseite nun lässt sich dieses über das Land gezogene Beziehungsintegral als eine virtuelle Face-to-face community ungleicher Dichte beschreiben. Virtuell, insofern die Anlässe, zu denen man sich tatsächlich massenhaft begegnete, vergleichsweise rar waren ausser auf Brüderlichen Konferenzen172 etwa beim Zusammenströmen „des Landes" in Mitau an Johanni zur Erledigung seiner Finanzgeschäfte173. Bei solchen Gelegenheiten jedoch wurde das Treffen als Wiederaufnahme intimer Verbundenheit inszeniert:174 Von Kind auf vermittelte Kenntnisse der Matrikel und verwandtschaftlicher Verhältnisse, der Landesund Standeshistorie liehen dem Verband bereits Präsenz, bevor er erlebt wurde.175 Ihre alltagspraktische Einlösung erfuhr die Vorstellung dann in Gepflogenheiten bruderschaftlichen Umgangs und umfassender Hospitalität, etwa der zeitgenössischem Komment zuwiderlaufenden Freiheit, sich selbst einzuführen.176 Naturgemäß entstanden dabei gebietsweise Verdichtungen. Die physischen Bedingungen, Sümpfe, ausgedehnte Waldgürtel, schlechte Wege, der jahreszeitliche Zusammenbruch der Kommunikation, aber auch Herkommen und Interessenkonvergenzen, nicht zuletzt ökonomische Zusammenhänge schlugen sich während -

171

Entführungen, Sequestrierungen

usw. wie oben; vgl. auch das Hilfegesuch der verwitweten Kammerherrin v. d. Brüggen an den Landtag 1794, LVVA 640/4/4, pp. 173 ff. 172 Vgl. Anm. 100. 173 Ursprünglich markierte der Sonnenuntergang des Johannistags (24. Juni) das Zahlungsziel aller fällig gestellten Verbindlichkeiten, Mitau den üblichen Zahlungsort: Bosse, Einkünfte, S. 581. Bereits der LTS 1746, §75 (Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 650) dehnte den Termin auf den 24.-26.; nach der Wiedereinführung des Julianischen Kalenders und Hinzufügung eines vierten Tages galt in russischer Zeit der 12.-15. Juni: Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 28. Vgl. a. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 137; Hahn, In Gutshäusern, S. 211. 174 Heyking, Letzte Tage, S. 192 ff. 175 Kurland und seine Ritterschaft, S. 416; vgl. a. unten, S. 158f. -Im Unterschied zu der „Strukturform der .überschaubaren Gesellschaft'", in deren Ausgeprägtheit Heinz Ischreyt, Streiflichter, S. 226, 247, ein Merkmal des „nordosteuropäischen Kommunikationssystems" erblickt: Die von Ischreyt beschriebenen Interaktionskreise persönlich Bekannter waren ständisch offen und im Lebenslauf erworben, während der Sippschaftsverband eine starke imaginative Komponente aufwies, die u.a. seine vor-biographische Gegebenheit umfasste. Es handelte sich mithin um zueinander querliegende, wenn auch unter Umständen komplementäre

Vergesellschaftungsmodi.

176 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 45; Freytag Löringhoff, LVVA 1100/9/71, p. 163.

Erinnerungen

von

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der Frühzeit in Heiratsmustern nieder,177 politisch in einem Nexus zwischen Verwandtschaft, Nachbarschaft und Faktions- oder Klientelbildung noch die Bündnisse der Verteilungs- und Verfassungskonflikte zu Ende des Herzogtums waren von solchen Verhältnissen grundiert.178 Eine Auswertung des Konnubiums nach Kirchspielen und Oberhauptmannschaften für das 18. Jahrhundert ergibt zwar ein vergleichsweise schwaches Muster, am ehesten lassen sich noch lokale Heiratskreise im semgallischen Oberland und unter den im Litauischen Ansässigen ausmachen. Doch waren Ehen unter nahen Verwandten häufiger, als die selbstgewählte Restriktion der Endogamie es erzwang.179-Insgesamt stellt sich der Verband kaum sozial oder funktional differenziert, wohl aber klientelär strukturiert dar, wobei diese Durchbildung weniger örtlichen als Sippschaftslogiken folgte. Räumliche Verkapselungen von identitätsstiftendem Potential blieben aus. Dazu trugen Wirtschaftsverbindungen, Besitzmobilität und -Streuung das ihre bei, vor allem aber starke Symbole landschaftlicher Gemeinsamkeit, die auf den niederen oder höheren Ebenen keine nennenswerte Konkurrenz hatten. An erster Stelle sind hier die politischen Institutionen zu nennen, die zentralen ohnehin, aber auch Hauptleute, Oberhauptleute und gegebenenfalls ihre Assessoren wurden nicht gebietsweise, sondern aus dem Adel des ganzen Landes auf eine je vakante Stelle versetzt. Gleichermaßen unterlag die (lutherische) Kirche landesweit ein und derselben Ordnung,180 während insbesondere zur Oberherrschaft, weniger intensiv erlebt zur regionalen Vormacht Russland ein konfessio-

177 Kurland und seine Ritterschaft, S. 62 f., nennt fünf derartige Versippungsgebiete für die Zeit vor der verfassungsrechtlichen Korporationsbildung ab 1561, die einen integrierenden Effekt gehabt zu haben scheint, ohne aber die Verdichtungsmuster gänzlich auszulöschen. Vielmehr bildete sich später noch der litauische Heiratskreis aus: ebd., S. 74f. 178 Etwas aus der Lebensgeschichte des Herrn von der Howen, LVVA 640/2/254, pp. 3, 6, 8; Seraphim, Briefe Howens II, S. 17; entspr. Unterzeichner der Unterwerfungs-Deliberatorien 1795: LVVA 640/4/92, pp. 70f, 74 f.; Klopmann / Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 53, 59. Aufstieg der Brüder Birons und anderer Gefolgsleute mit Ernst Johann: Brincken, Notata, S. 87f. („Die Curländer haben jetzo große promotiones in Rußland"). Vgl. a. Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 305. 179 Basis: wie Anh. 1, Vorbemerkung; in den Tabellen wird der Befund nicht ausgewiesen, da die entsprechenden Verhältnisse oft nicht zu erkennen sind, konkrete Zahlen mithin irreführend wären. 180 Ziegenhorn, Staats Recht, §§ 378 ff., S. 136ff.; vgl. a. Werth, Handlungen und Gebete; Schaudinn, Deutsche Bildungsarbeit, S. 38; Zentralstellung von Gesangbuch, Katechismus und Bibel in den Lektüregewohnheiten: Rosenberg, Steffenhagen, S. 235.

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neiler Hiatus bestand, der wiederholt in heftige Konflikte führte.181 Das, im Duktus der Polis, „gemeinsame Heiligtum" stützte zugleich Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung; abgesehen von ihrer Dignität an sich besaßen Konfession und Kirche politischen Wert: als Zusammengehörigkeit suggerierende Kultpraxis, als rechtsverbürgtes Argument bei der Abwehr polnischer Penetrationsanliegen, als Herrschaftsinstrument,182 nicht zuletzt als befriedender Pfründenpool der nichtindigenen akademischen Elite. Ein zentrales Institut der Selbstbestätigung und Vergesellschaftung schließlich ist noch zu erwähnen, die Jagd. Die Indigenen waren frei, auf ihrem Gebiet so sie eines hatten oder dem jedes Standesgenossen zu jagen; ausgenommen war allein der herzogliche Besitz, doch dagegen wurde auf sprechende Weise regelmäßig verstoßen.183 Einzelne wie Jagdgesellschaften strichen über Wochen durch das Land, genossen außer den Revieren die Gastfreundschaft der „Herren Mitbrüder", über deren Gebiet sie kamen,184 und erhielten so auf ritualisierte Weise die Ideologie des „Landes" greifbar und die Kommunikation aufrecht. Indem sie sich rituell maßen, besuchten, reziprok vom (Wild-) Reichtum des anderen profitierten, inszenierten die Indigenen ihren Adel, ihre Exklusivität, Freiheit, Gleichheit und ihre Verbundenheit. Entsprechend scharf wurde das Vorrecht verteidigt.185 Im Laufe der Zeit gewann die Jagd nachgerade fetischisierte Bedeutung,186 die noch wuchs, je stärker das symbolisierte Selbstverständnis unter Druck geriet, und umgekehrt stützte diese Symbolik einen über das europäische Normalmaß hinausgehenden Zusammenhang von adliger Soziabilität und Jagd. Ähnlichen Stellenwert erlangte der korrespondierende Kult der Gastfreundschaft, -

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181 Wie Anm. 158; vgl. a. Cruse, Curland, Bd. 1, S. 123 f., 239, 278; Heyking, Letzte Tage, S. 88 f. (Ausschluss von Ämtern in Polen); Meyer-Brehm, Geschlecht v. Nutowz, S. 57 (Mischehenverbote). 182 Von den Betroffenen durchaus als solches wahrgenommen: Oberländer, Einstellung der Letten, S. 280ff. 183 Diederichs, Bruchstück, S. 81 ; Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 40, 50f. (Ausnahmen: Hegezeiten und Treibjagden); das Kronregal offensichtlich in der Praxis wenig geachtet: ebd., S. 47; anklagend dazu und zum Rechtsgrund: Ziegenhorn, Staats Recht, §632, S. 257 ff., dessen ausgiebige und offensive Behandlung des Gegenstands den erheblichen Symbol wert bestätigt. Vgl. a. Klopmann / Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 62, zu einer herzoglichen Kriminalklage wegen Jagdfrevel aus persönlicher Rachsucht. 184 Auch dies mit sippschaftlichen und lokalen Verdichtungen: Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 40f., 44f. 185 Diederichs, Diarium, S. 51 f.; LTS 1636, §42, LTS 1746, §67: Rummel, Landtagsund Conferential-Schlüsse, S. 37, 649. 186 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 39ff.

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aber auch der einer gewissen Impulsivität, die die Gewaltkultur in eine der scharfen Rede und des spitzen Pasquills übersetzte; beides wurde als Ingredienz der „alten Liberalität des Adels" kanonisiert und zur Selbstcharakterisierung zäh tradiert.187 Das Verhältnis zu den nichtindigenen Landeseinwohnern war kein eindeutiges. Kultur, Recht und Tätigkeitsfelder („Nahrung") als die ausschlaggebenden Parameter zeitigten ein komplexes Gewebe von Kooperationen, Anerkennung, Exklusion und Ignoranz zwischen Gruppierungen, die sich auf Interaktionsfeldern unterschiedlicher Gestalt und Ausdehnung begegneten. Die kurländische Gesellschaft ist nicht ohne Grund als kolonial beschrieben worden:188 Eine deutschsprachige Elite, ständisch gefächert in Indigenatsadel, die Gelehrtenschaft der Literati und die Stadtbürgerschaften herrschte über eine Bevölkerung von überwiegend lettischsprachigen und ackerbauenden Unfreien.189 Abgesehen von dem Unbehagen, das die seither entgrenzte Verwendung des Begriffs auslöst, lässt sich gegen die (post)koloniale Interpretation jedoch einwenden, dass sie die Zerklüftung der herrschenden Sprachgruppen wie die Differenziertheit der Beherrschten herabspielt, Polen, Russen und Juden weitgehend ausblendet, vor allem aber die Einteilung in Autochthone und Neuankömmlinge nach 500 Jahren Immigration halbwegs konstruiert wirkt.190 Hält man sich einstweilen an die ständische Gliederung, so kommen als Elitenformation und mögliche Konkurrenz des Indigenatsadels zu-

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187 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 14, 67, 82, Zt. S. 79; Foelckersam, Das alte Kurland, S. 1 ; Kurland und seine Ritterschaft, S. 93. Vgl. a. unten, S. 421 f., zum

„Original".

188 Strods, Agrarwirtschaftliche Struktur, S. 219: „feudale Gesellschaftsordnung" von „kolonialem Charakter". Im Grunde handelt es sich um die Umwertung einer zunächst positiv konnotierten Interpretation im Sinne eines „Kulturträgertums"; vgl. etwa Hehn, Deutsche Kultur, S. 1 ; Pirang, Herrenhaus, Bd. 1, S. 9, 14. Zur Genese s.u., S. 447ff. 189 1797 setzte sich die Bevölkerung nach Hoheisel, Bevölkerung 1797, wie folgt zusammen: „Deutsche" insgesamt 34500 (8,3%), davon knapp 2.400 Adlige, 1 649 Gelehrtenstand, 2250 Kaufmannsstand, 4400 (in den Stadträten vertretene) Handwerker, ansonsten „landischer Mittelstand" (s. u.), Landhandwerker und „freie deutsche Leute", d. h. überwiegend städtische oder ländliche Dienstboten. Als nach Nationalitäten erfasste Freie kamen rund 19000 Polen und Litauer, knapp 9000 Juden und 5 500 Russen hinzu (insges. 8%). Die Masse der Bevölkerung, 348500 „Seelen" (83,6 %), waren „Erbleute", also Leibeigene vorwiegend lettischer Sprache. 190 Als solche, eine moderne Konstruktionsleistung, wird die ethnisch-koloniale Interpretation unten noch zu betrachten sein; wie Anm. 188.

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nächst die Literati191 in den Blick. Auch bei ihnen erweist sich die Zugehörigkeit zur Privilegiengemeinschaft bis zu einem bestimmten Grad als Übereinkommenssache. Nicht unbedingt förmliche Zertifikate, sondern Empfehlungsschreiben, Aufführung, eventuell improvisierte Abfragen vor allem der Lateinkenntnisse durch den Pastor wiesen den zuwandernden Akademiker aus.192 Doch konnte auch ein vagabundierender Geigenspieler mit einigem quacksalberischen Talent zum herzoglichen Leibarzt und in sozusagen umgekehrter Schlussfolgerung Literatus aufsteigen,193 und etablierte sich eine Literatenfamilie, blieb in der dritten oder vierten Generation auch dem nicht studierten Nachfahren die Standeszuschreibung erhalten.194 Dennoch, die Masse der Theologen, Juristen und wenigen Mediziner, die den Stand ausmachten, hatte eine Universität besucht und sah darauf ab, von den erworbenen Fertigkeiten zu leben. Ging es gut, gelangten sie auf eine Pfarre oder eine Advokatenstelle, ging es schlecht, blieben sie Sekretär oder Hofmeister, also Hauslehrer, oder gar „terminierender Candidat": umherwandernder Gast der Bepfründeten und der Güter.195 Diejenigen, die als Literati anerkannt wurden, genossen zivilrechtlich quasi-adlige Privilegien, das heißt sie hatten denselben Gerichtsstand wie die Indigenen und waren wie diese frei von Einquartierungen, Steuern und Abgaben inklusive der Zölle auf Waren zum eigenen Bedarf. In der Stadt konnten sie sich zur Bürgerschaft zuschreiben lassen oder nicht. Doktoren und Magister hatten Anspruch auf den Titel „Edel".196 -

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191 Lenz, Literatenstand, S. 19, zufolge bürgerte der Begriffsich erst Ende der 1820er ein; eher war es aber wohl so, dass er den des „Gelehrten" (Ziegenhorn, Staats Recht, §686, S. 324) u.a. endgültig verdrängte: Bosse, Einkünfte, S. 519f. Hier wird er um der terminologischen Übersichtlichkeit willen durchgängig verwandt. 192 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 66; vgl. a. Taterka, „Für den Geist", S. 346; grundlegend zu den Literati Lenz, Literatenstand, v. a. aber die detailreiche und überaus instruktive Studie Bosses, Einkünfte; ältere Literatur: Seeberg-Elverfeldt, Baltische Genealogie, S. 157 ff. 193 Hagen, Biographie, S. 119f., vgl. a. ebd., S. 167 ff; zur Einwanderung fragwürdiger Gelehrter in das verheerte, menschenarme Land nach dem Nordischen Krieg auch Lenz, Literatenstand, S. 7f.; Handrack, Soziale Inzucht, S. 68. 194 Zu den Anerkennungsmustern von „Literatenfamilien" vgl. Handrack, Soziale Inzucht, S. 64f.; Lenz, Literatenstand, S. 2. 195 Cruse, Curland, Bd. 1, S. 321; Lenz, Literatenstand, S. 12, nennt sie in bezeichnender Analogie zu ihrem adligen Pendant „Krippenreiter"; vgl. a. RechenbergLinten, Zustände Kurlands, S. 78. Detailliert zum stark schwankenden materiellen Status der Akademiker Bosse, Einkünfte. 196 Ziegenhorn, Staats Recht, §§625, 686, S. 251 f., 323f.; vgl. a. Bosse, Einkünfte, S. 528 ff.

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Den Kern der Literatenschaft bildete der Klerus.197 Er lebte überwiegend vom Pfarrgut, der Widme, wirtschaftete also wie der Adel mit Land und herrschte wie dieser über Leute;198 nicht zuletzt wohnte er in Pastoraten, die sich vielfach von kleineren Gutshäusern kaum unterschieden.199 Pfarrer siegelten mit Wappen,200 machten vom universitätsständischen Recht Waffen zu führen Gebrauch,201 hingen gängigen Moden an202 und genossen auf den Gütern Kommensabilität.203 Das Konnubium mit dem Adel allerdings hatte sich weitgehend zugunsten eigener Heiratskreise und Dynastiebildungen abgeschliffen.204 Insgesamt war das Verhältnis ein komplementäres, in dem Kooperation und gegenseitige Anerkennung dominierten. Zwar erhöhten die mit dem geteilten Lebensbezirk einhergehende Interaktionsdichte, die Abhängigkeit vom Patron und die Potential- und Statusunterschiede, auch die Konkurrenz zwischen der klerikalen und säkularen Hierarchie die Wahrscheinlichkeit von Konflikten.205 Doch handelte es sich dabei im wesentlichen um konkrete Interessendivergenzen oder persönliche Auseinandersetzungen, weniger 197 In früheren Zeiten wohl auch der Zahl nach: Lenz, Literatenstand, S. 9; Handrack, Soziale Inzucht, S. 66. Ende des 18. Jahrhunderts waren die Pastoren infolge allgemeiner Zuwanderung und einer Minderung der Pfarren auf gut 100 zu einer minoritären Elite in der Elite geworden: Hoheisel, Bevölkerung 1797, S. 557; allerdings wird man Anwärter, Adjunkte usw. hinzurechnen müssen. Zu ihren materiellen Lebensumständen Bosse, Einkünfte, S. 556ff. 198 Wittram, Bedeutung der Kirche, S. 184ff; Lenz, Literatenstand, S. 11, 20, dort auch zur durchaus ähnlichen Lebensführung. 199 Pirang, Herrenhaus. Bd. 1, S. 26f., behandelt sie in seiner Geschichte der Gutsarchitektur denn auch gleichberechtigt mit; etwa hatte der Pfarrhof von NiederWürzau 13 Zimmer, darunter einen Saal, sowie zwei Küchen und etliche Wirtschaftsgebäude: Klopmann /Klopmann, WUrzau-Schorstädt, S. 21. Im Lettischen spiegelt sich das in der Benennung „Pastorengtir (mäcltäjmuiza)" wider. Architek-

turgeschichte: Zilgalvis, Mäcltajmuizas. 200 LVVA 1100/9/60, pp. 72f.; ebd./61, p. 44. 201 „Sowohl auf der Universität] als nach seiner Rückkehr zeigte er [Pastor, später Superintendent Christian Huhn, M. M.] sich als einen mutigen jungen Mann, dem der Degen nicht eben fest in der Scheide saß. Einen Beweis davon gab sein steifgehauener Finger": Oberhauptmann [Georg] v.d. Recke, zt. bei Kallmeyer, Prediger und Kirchen, S. 439; zum Degenrecht der „nobilitas literaria" vgl. Bosse, Einkünfte, S. 523. 202 Cruse, Curland, Bd. 1, S. 322f. 203 LVVA 1100/2/18, p. 20; Erinnerungen von Marie Baronin Freytag Löringhoff, ebd./9/71,p. 161. 204 Wachtsmuth, Adel und Literatentum, S. 103 f.; Lenz, Literatenstand, S. 3 f., Handrack, Soziale Inzucht, v. a. S. 66ff., 70. 205 Etwa Gehalts- und Deputatstreitigkeiten oder um Flurstücke: LVVA 1100/9/61, pp. 39f., 48; ebd./18, p. 28. Bereits grundsätzlicher waren die Debatten um den Ehekonsens: Schaudinn, Deutsche Bildungsarbeit, S. 37.

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grundsätzlichen Ständeantagonismus.206 Klerus und Landadel agierten selben Ende des Marktes und wiesen als agrarische Produzenten und Konsumenten gewerblicher Güter und Dienstleistungen cum grano salis analoge Interessenstrukturen auf. Zahlenmäßig stärker waren die Juristen. Dank Kompetenzen, Funktion und darüber erworbenem Reichtum zeigten sie sich den Pfarrherren gleichrangig oder überlegen, zumal in ihrer Spitze, den Gerichtsadvokaten.207 Außer Honoraren aus den fortwährenden Rechtsstreitigkeiten zwischen Adel und Fürst, Adligen untereinander, beiden und Nichtindigenen sowie aus dem daraus folgenden massenhaften Bedarf an notarieller Absicherung erzielten sie mit der Expansion der Kreditbeziehungen ein wachsendes Einkommen an Vermittlungsprovisionen, da um

einen

am

Berufs wegen mit den Finanzverhältnissen des Landes vertraut.208 Von den Inländern erreichten sie am ehesten die Aufnahme in das Indigenat während der Rezeptions„welle" um 1800.209 Unterhalb der gerichtsfähigen Advokatenschaft tat sich ein weites Spektrum freier Juristen, Beamter und Sekretäre bei den verschiedenen Institutionen auf, deren Auskommen von großer Wohlhabenheit zu äußerster Kargheit reichte, bis sich der Status irgendwo im Schreibertum verlor.210 Sofern ihr Vermögen es zuließ, übten auch die Juristen Herrenrechte an Land und Leuten das indigene Bodenmonopol wurde verschiedentlich im von

-

wenn der grundsätzliche Gegensatz zum sich abschließenden Adel bei der Bildung eines umfassenden Literatenstandes seine Rolle gespielt haben mag (Lenz, Literatenstand, S. 5, 9), trifft Zutis', Zemnieku brlvlaisana, S. 29, Einordnung „Bestandteil der örtlichen herrschenden Klasse (vietejäs valdosäs skiras sastävdaja)" den Kern des Verhältnisses, bei allem terminologischen Vorbehalt. Die Zahl der Hofgerichtsadvokaten war 1717 auf acht begrenzt worden, stieg aber

206 Auch

207

zwischenzeitlich auf zwölf, neben die im Laufe der Zeit noch durchschnittlich ebenso viele Untergerichtsadvokaten sowie einige piltensche Landgerichtsadvokaten traten: Räder, Juristen Kurlands, S. XIf., XIVff. 208 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 138; Bosse, Einkünfte, S. 577 ff. 209 Bienemann (v. Bienenstamm) 1797 (Pilten)/1799 (Kurland): GenHB, Bd. 1, S. 18; Witte (v. Wittenheim) 1799: DBBL, S. 873; Ovander 1801: Räder, Gerichtssekretäre, S. 44; außerdem die politischen Juristen Dörper 1784/1793 und Rüdiger 1799: DBBL, S. 172; GenHB, Bd. 1, S. 655. Für die aus der Kaufmannschaft stammenden Berner (1797: DBBL, S. 60) und Bach (1805: GenHB, Bd. 1, S. 627f.) führte der Weg über den Gouvernementsdienst bzw. Petersburg alle übrigen Rezipierten waren in der einen oder anderen Form russisch chargiert, so auch Gottlob Siegmund Brasch (1795), den Bosse, Einkünfte, S. 581, anführt. „Nobilitierungswelle" 1795: ebd., S. 593. 210 Bosse, Einkünfte, S. 575 ff. -

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Erbpfandmodus unterlaufen,211 und auch die Überlassung einzelner Leibeigener an Nichtindigene kam vor.212 Angesichts dieser Praxis und der Verschlossenheit des Indigenats bestanden für die Literati weniger als in Livland Anreize, ein Adelspatent zu erwerben,213 solange sie nicht auf ein Fortkommen in höfisch-staatlichen Zusammenhängen außerhalb Kurlands spekulierten. Erst am Vorabend des Herrschaftswechsels 1795 legte sich eine solche Investition zur Sicherung bestimmter Vorrechte im russischen Ständesystem nahe.214 Nichtsdestoweniger wäre ihre Kategorisierung als „bürgerliche" Nebenelite inadäquat. Vielmehr begründete die lateinsprachliche Ausbildung einen ständischen Rechtsanspruch und ein Selbstverständnis der „nobilitas literaria"215, in Anbetracht derer es „geradezu falsch [ist,] die Gelehrten (literati) unter der Bezeichnung ,gelehrtes Bürgertum' zu begreifen."216 Der Unterschied von Kapital- und Lebensformen, Erwerbsweisen, vor allem aber nach Rechtsstatus, Prestige und Identitätsbehauptung zwischen „Literati" und „Illiterati" desavouiert die Zusammenfassung der nichtindigenen Privilegienträger unter einem begrifflichen Dach, das allenfalls mit dem Aufkommen ständekritischer Konzepte wie dem des „gebildeten Bürgers" Plausibilität erlangen kann.217 Womit die dritte privilegienständische Elitenformation angesprochen ist, das Stadtbürgertum, das heißt vor allem die Kaufmannschaften Mitaus, Libaus und eingeschränkt Windaus. Deren Rechts- und Kulturkreise waren freilich recht abgeschlossen,218 zudem die Städte klein219 211 S.u., S. 119f.; vgl. a. Anh. 7, Tab. 5 und 8, für eine späteren Zeit (1826). 212 LVVA 554/3/1285, pp. 61, 67; ebd. 1100/1/84, pp. 38f., 59f.; ebd./13/767, pp. 3, 6f.; ebd./962, p. 64; vgl. a. Stepermanis, Atbläzma, S. 115f. Indirekt räumt das auch das Emanzipationsgesetz von 1817 ein: Gesetzbuch, S. 1. 213 Vgl. Bruiningk, Das Geschlecht von Bruiningk, v.a. S. 130f. 214 Bruiningk, Das Geschlecht von Bruiningk, S. 23, 133; Lenz, Literatenstand, S. 10. Attraktiv war die Standeserhöhung selbstredend nichtsdestoweniger, die Herzöge etwa verschafften ihren verdienten Kanzleibeamten preußische u. a. Nobilitierungen: Bosse, Einkünfte, S. 575. 215 Begriff und Herkommen: Bosse, Einkünfte, S. 519ff., v.a. S. 523; vgl. a. Ziegenhorn, Staats Recht, §686, S. 323 f., zu diesem „Buchadel". 216 Bosse, Einkünfte, S. 525. 217 Vgl. Bosse, Einkünfte, S. 527, 594. Ob die Kategorie nicht überhaupt unvereinbar Heterogenes zusammenzwingt, als elaborierte Fortschreibung einschlägiger Konstruktionen des 19. Jahrhunderts zu betrachten ist, sei dahingestellt. Für eine optimistische Antwort, deren Bemühtheit jedoch Zweifel aufkommen lässt, s. Kocka, Das europäische Muster. 218 Lenz, Literatenstand, S. 10. 219 Stadtrecht hatten Mitau mit 1797 10262 Einwohnern, Libau (4516), Jakobstadt (1436), Goldingen (1368), Windau (1169), Hasenpoth (1015), Bauske (937),

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und schäbig220. Zwar gliederten sich die Stadtbürgerschaften in je nach kommunaler Verfassung unterschiedlich berechtete Kaufmannsgilden und Zünfte der Gewerke, doch existierte kein eigentliches Patriziat, das eine dem Adel materiell und soziokulturell ebenbürtige Gruppe hätte bilden können oder den Literati eine statusübergreifende Allianz offerieren.221 Vielmehr nutzte der Adel seine Macht und Freiheit, um die ihm zustehenden wirtschaftlichen Privilegien, insbesondere das des Produktenverkaufs und Imports zum Eigenbedarf am Stapel der Städte vorbei,222 fortwährend zum Schaden der Kaufleute zu überdehnen. Ziegenhorn listet akribisch auf, „in welchen besondern Fällen der Adel in Curland in der Handlung zu weit gehe, oder was er hierinnen eigentlich nicht thun könne": Die Liste reicht von Viktualienhökerei in den Städten über Auf- und Vorkäuferei bis zum Kommissionsimport.223 Als sich

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Grobin (625), Friedrichstadt (380) und Pilten (335): Hoheisel, Bevölkerung 1797, Tab. II (o. Pag.); hinzu kamen zehn Flecken, Ansiedlungen ohne Stadtrecht, mit zwischen 65 und 740 Einwohnern: Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 128 (Tuckum fehlt, da schon unter die Städte gerechnet, obgleich es das Recht erst 1799 erhielt: ebd., S. 126). Immerhin Mitau war damit größer als Karlsruhe, Dessau, Weimar oder Darmstadt (Bosse, Einkünfte, S. 547), nahm jedoch ähnlich wie diese als Residenzstadt eine exzeptionelle Stellung ein und war stark vom Adel geprägt. Libaus Lage blieb trotz eines relativen Aufstiegs im 18. Jahrhundert prekär, da die Masse des kurländischen Exports über Riga ging: Lux, Der Hafen Libaus, v.a. S. 128 ff. Ausführliche Stadtgeschichte Windaus: Kvaskova, Protokolle. Balk, Auszüge, Bd. 1, S. 62; Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 115 ff.; Pantenius, Jugendjahre, S. 43; Hahn, in Gutshäusern, S. 172, 182f.; Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 30ff., dort auch die wesentlichen Reiseberichte u.a. Zu ihnen als vielfach exotisierender Quelle vgl. jedoch Plath, Nichts Neues. Wachtsmuth, Adel und Literatentum, S. 107. Indes berichtet Tiling, Bürgerliche Union, Bd. 1, S. 100, von einigen stattlichen Vermögen im Mitau des späteren 18. Jahrhunderts und spekuliert, es gebe „nach Verhältniß aber man verstehe mich wohl, nach Verhältniß, sage ich, mehr wohlhabende und reiche Kaufleute und Krämer [...] als in Hamburg oder Amsterdam sind." Angesichts von 10000 Einwohnern und Tilings polemischer Absicht dürfte es sich nichtsdestoweniger um eine sehr begrenzte Zahl, vor allem jedoch keine ständisch satisfaktionsfähige Gruppe gehandelt haben. Ziegenhorn, Staats Recht, §§598 ff., S. 226ff. Ziegenhorn, Staats Recht, §§ 608 f., S. 231 ff., Zt. S. 234. Wenn Strohm, Kurländische Frage, S. 12, unter Missverständnis der Kurländischen Statuten, §82 (Schiemann, Regimentsformel, S. 21; bei Strohm verdruckt als §2), meint, im Handelsrecht und der Abwesenheit eines Dérogeance-Prinzips habe ein grundsätzlicher Unterschied zu Polen wie Westeuropa bestanden, stimmt das mithin allenfalls auf einer kulturgeschichtlichen Ebene. Die kurländischen Indigenen zeigten offenkundig wenig Standesscheu, in der „bürgerlichen Nahrung" zu wildern; rechtlich war ihnen der kaufmännische Handel, also Erwerb und Veräußerung von Gütern mit Gewinn ohne deren (landwirtschaftliche) Veredelung, oder gar Kramerei, eben-

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Ende des Jahrhunderts eine Koalition führender Akteure aus der Literatenschaft224, dem Kaufbürgertum und kurzfristig dem Zunfthandwerk bildete, um die bestehenden oder angemaßten Freiheiten des Adels zurückzuschneiden, blieb sie erfolglos und ließ sich rasch auseinanderdividieren.225 Zu divers waren die Interessen, zu schwach die negative Gemeinsamkeit: nicht indigen zu sein. Den Literati ging es um politische Teilhabe und Landeigentum, den Kaufleuten die mit den Magistraten das historische Argument für die Partizipationsansprüche einbrachten vor allem um die Rekonsolidierung ihrer Handelsmonopole, den Gewerken um materielle Sicherheit, aber eben auch um ihre politischen Rechte innerhalb der Stadtgemeinden worin sie der Adel wohlweislich unterstützte, wiewohl Indigene ein unzünftiges Landhandwerk duldeten oder förderten, das näher am Bedarf war, meist günstiger, und den Zunftverfassten zumal bei den einfacheren täglichen Verfertigungen die Aufträge der Landbewohner fortnahm.226 Die Konfliktlinien zwischen den Privilegienbesitzern waren alles andere als eindeutig. Sofern sie nicht aus den Leibeigenen kamen, waren diese zuletzt genannten gutssässigen Bönhasen Teil einer buntscheckigen „deut-

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Landbevölkerung aus plebejischen Existenzen, Handwerkern, Bedienten, Küstern, Organisten, Aufsehern, Disponenten/Verwaltern, Förstern, Krügern, also überwiegend nicht korporierten Freien, teils schen"227

rubriziert als „landischer Mittelstand", über die kaum mehr bekannt ist als einige Größenangaben.228 Ähnliches gilt für die „Kurischen Könige", versagt, wie es ihren Standesgenossen anderswo freistand, ihre „Crescentien, Producten und Factitien" (Ziegenhorn, a.a.O., S. 227) zu verhandeln. So leitet Ziegenhorn denn auch ein hypothetisches Recht des kurländischen Adels zur „erhabenen oder politischen Handlung", d. h. interterritorialem Zwischenhandel in allergrößtem Stil, aus westeuropäischen Theoretikern ab: ebd., §602, S. 228f. Primär der säkularen, zu der nach der Gründung der „Academia Petrina" 1775 noch deren Professoren traten: Lenz, Literatenstand, S. 9. Unten, S. 216f, 228, 234ff. Vgl. a. Lenz, Literatenstand, S. 9, 13f., zu den nichtindigenen Juristen als traditionelle Stütze der Fürstenmacht in Antagonismus zum Ritterschaftsadel. Meder, Strukturwandel, S. 36f.; darunter zahlreiche Letten: Hoheisel, Bevölkerung 1797, S. 557 f. „Wer nicht Bauer ist, heißt ein Deutscher, wenn er auch kein deutsches Wort sprechen kann": Hupel, hier nach Meder, Strukturwandel, S. 40, deren Synopse einen guten Überblick über die Beobachtungen der zeitgenössischen Schriftsteller zu Livland (!) bietet. Entscheidendes Statuskennzeichen sei denn auch nicht die Sprache, sondern die Kleidung gewesen. Ähnlich in Kurland: Hahn, In Gutshäusern, S. 168. Hoheisel, Die kleinen deutschen Leute; ders., Deutsche Bevölkerung II, S. 260f.: rund 15000 Menschen um 1800; die Handwerker wohl überwiegend unzünftig: so

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Freibauern im Goldingenschen, für die litauischen und polnischen Freien oft szlachcizischer Abkunft sowie die russischen Kaufleute, Dörfler und Tagelöhner, die zumal im Oberland lebten, der langgestreckt im äußersten Südosten auslaufenden Oberhauptmannschaft Seiburg.229 Da weder allgemeine Steuern erhoben noch Rekruten eingezogen wurden, gab es bis zum Ende der Herzogszeit wenig Grund für die Obrigkeit, die Einwohner, die sich mehr oder weniger fest im Land aufhielten, zu erfassen und ihnen einen definierten sozialen Ort zuzuweisen:230 Die ständische Gesellschaft wies Räume zwischen den korporierten Formationen auf, in denen sie rechtlich schwächer profilierte Bevölkerungsgruppen, Heterodoxien und ungeregelten Austausch duldete, auf äußeren Druck oder aus Interesse, mit mehr Reibungen, wie im Fall der Katholiken,231 oder weniger, so bei den Orthodoxen und namentlich den Altgläubigen.232 Ein prägnantes Beispiel für diese Uneindeutigkeit, die die spezifischen Kosten ansonsten relativ starrer Strukturen ausgleichen konnte, bietet der Umgang mit den Juden. Während die christlichen Gruppen weitgehend rechtlich gesicherten Aufenthalt genossen,233 war die Lage der jüdischen Minderheit prekär. Anders als in der Rzeczpospolita verfügte sie über keine eigenen korporativen Organe und waren Juden von wiederholten Ausweisungsbestreders., Bevölkerung 1797, S. 558; statistisch-genealogische Erfassung: ders./Starck, Mittelstand; für das östliche Semgallen: Wilde v. Wildemann, Traubuch. Vgl. a. Seeberg-Elverfeldt, Baltische Genealogie, S. 155f.; Meder, Strukturwandel, S. 34 ff. 229 Derschau/Keyserling, Beschreibung, S. 182ff, 200f; Hoheisel, Bevölkerung 1797, S. 552. In Jakobstadt dominierten die Polen wohl auch politisch: ders., Deutsche Bevölkerung II, S. 257; vgl. a. Nosov, Kurljandskoe gercogstvo, S. 54. Schwerpunkt der russischen Ansiedlung im östlich angrenzenden Polnisch-Livland (Inflantija)/Lettgallen: Zavarina, Russkoe naselenie, S. 9f. 230 Ziegenhorn, Staats Recht, §580, S. 216: „Curland ist kein militairischer Staat, und allda wie in Polen, mag außer den erbunterthänigen Leuten, Niemanden der Abzug verwehret werden". 231 Klopmann /Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 38; vgl. a. Strods, Katolu baznlcas vesture, S. 13ff., 157ff.; Manteuffel, Z dziejów Koscioia; Litak, Akta Wizytacji. In milderer Form ähnlich verhielt es sich mit der kleinen reformierten Gemeinde in Mitau, die ihren auswärtigen Schirmherrn im preußischen Hof hatte, bis zu Ausgang des 18. Jahrhunderts die Aufklärung eine gewisse Indifferenz herbeiführte: Seraphim, Anfänge, S. 6, 12; Kurnatowski, Begründung, S. 34, 38. 232 Gavrilins, PareizticTbas izplattsana; Migration: Zavarina, Russkoe naselenie, S. 9 ff. Aufgrund der kleineren Zahl, der Missionsabstinenz und der bei aller Petersburger Protektion schwächeren politischen Aufladung scheint sich das Verhältnis entspannter gestaltet zu haben als zu den Katholiken. Liste der Kirchen verschiedener Konfessionen: Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 162ff. 233 Ziegenhorn, Staats Recht, §§382, 384, S. 137f.

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bungen bedroht, deren Ergebnis allerdings meist lediglich in der Erhebung von Schutzgeldern bestand.234 Je nach Fall schössen Gutsbesitzer diese vor oder entdeckten darin umgekehrt eine Quelle eigener Bereicherung.235 Eben wegen ihres ungesicherten Status gefügig, bei Preisen und Pachten konzessionsbereit, auf Bedarfslagen flexibel reagierend und großräumig vernetzt dienten die Juden dem Adel als Brenner, Krüger und Handwerker, später auch Milchpächter, vor allem aber als Kaufleute, von der gebietsweisen Kramerei bis zum Fernhandel.236 Den Städtern war ihre Konkurrenz ein Dorn im Auge. Die Missachtung der Duldungsverbote aus den Unterwerfungsverträgen und landtäglichen

Schlüssen wurde ein Stein fortwährenden Anstoßes, Auseinandersetzungen um die Juden, ihre Aufenthalts- und Erwerbsrechte durchzogen die Ständekonflikte.237 Doch ungeachtet aller Rechtsetzung und -sprechung behauptete der Adel, genauer: behaupteten einzelne Adlige ihr Interesse in eben jener „möglichsten Unabhängigkeit vom Gesetze".238 Insofern führt der Begriff der Toleranz239 hier in die Irre, ebenso wie bezüglich der in ihrer Haltung schwankenden Herzöge. Beide Parteien suchten ihren Vorteil und sprachen das offen aus;240 sie bedienten sich weder einer abstrakt normativen Rhetorik, noch bieten die Quellen 234 Ziegenhorn, Staats Recht, § 576, S. 214f. Die Gesetzeslage war zunächst eindeutig, und bis Mitte des 17. Jahrhunderts wurde das Aufenthaltsverbot wohl auch durchgesetzt, doch hoben die Oberräte es 1719 in Abwesenheit Herzog Ferdinands auf (ebd.) und es folgte eine Reihe sich widersprechender Landtagsschlüsse: Aleksejeva, Die Juden, S. 159; dies., Jüdisches Schicksal, S. 248f.; v.a. der zweitgenannte Aufsatz auch zum Folgenden; für die ältere Literatur s. Die Juden, S. 153ff. Vgl. a. Liebl, Jüdische Minderheit; Cruse, Curland, Bd. 1, S. 264 ff. 235 Rummel, Landtags- und Conferential-Schlüsse, S. 648; Aleksejeva, Jüdisches Schicksal, S. 249 f. 236 Aleksejeva, Die Juden, S. 161 ff.; dies., Jüdisches Schicksal, S. 257ff; Hoheisel, Bevölkerung 1797, S. 557f.; vgl. a. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 102ff. Die Zunahme der Brennerei im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts und der kleinen „Winkelkrüge", die zugleich Kramläden für den bäuerlichen Alltagsbedarf abgaben, intensivierte diese Funktionszusammenhänge noch einmal: ebd., S. 102, 106. 237 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 164, 197ff., S. 237, 304ff.; vgl. a. Aleksejeva, Jüdisches Schicksal, S. 251 ff.; auch unten, S. 201, 214f. 238 „Es ist wohl in keinem Stücke jemals den Gesetzen mehr entgegen gehandelt worden, als hierinnen", das Recht werde mit Füßen getreten etc.: Ziegenhorn, Staats Recht, §576, S. 215. 239 Aleksejeva, Die Juden, S. 159f., trotz sonst klarer Sicht der Interessenlagen; auch Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 106, der die „Tolleranz" leicht geniert mit den Umständen entschuldigt; die „guten" Krüge an den Fernstraßen habe der Adel aber stets deutschen Pächtern anvertraut. 240 Schwartz, wie Anm. 237; Aleksejeva, Jüdisches Schicksal, S. 250f.

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sonst Anhalt für eine handlungsleitende Orientierung jenseits konkreter materieller Nutzenkalküle.241 Erst mit der Aufklärung, im Horizont einer politischen Sprache, die Argumente geschichtlicher VerOrtung und Entwicklung einsetzte, wurde der Topos der Juden in die Debatten um Liberalität und Humanität, Zivilisation und Zivilisierung

integriert.242

Im weiteren bleibt die freie Einwohnerschaft außerhalb der korporierten Eliten weitgehend unberücksichtigt das reizvolle Unterfangen, die kurländische Ständegesellschaft von ihren Rändern und Zwischenräumen her zu beschreiben, einem andern überlassen.243 Hingegen ist das Verhältnis des Adels zur Masse der Bevölkerung, den bäuerlichen Leibeigenen, zentral. Dabei handelte es sich nicht mehr um eines abgestufter Standesrechte, sondern um einen öffentlich-privatrechtlichen Zwitter, in dessen Kern eine grundsätzlich andere Qualität von Ungleichheit stand: die Verfügungsgewalt von Herren über ihre Gutsuntertanen. Sie stellte die eigentliche Übersetzung von politischer in Sozialverfassung dar. -

1.2

Oikoi

Der Landbesitz war mehr als die materielle Basis adliger Lebenshaltung. Er stellte den Dreh- und Angelpunkt der Verfassung244 dar. Die Frage der Verteilung von Nutzen und Lasten war deckungsgleich mit der der politischen Macht, die Freiheit des Eigentums bildete den Rückhalt aller adligen Freiheiten, in den Gutsbezirken konstituierte sich der Sippschafts- als Herrschaftsverband: Basierte die Verfassung auf dem Indigenat, so realisierte sie sich im Landbesitz.

Landbesitz Politisch-rechtlich betrachtet setzte sich das Land Fürst zusammen, materiell aus Adelsgütern und

Landschaft und herzoglichen: dem

aus

241 Wo der Adel keinen Vorteil sah oder den seinen geschmälert, wie im Falle des Bironschen Finanzberaters Ichak Libman Ende der 1730er Jahre, kam die Duldungspolitik rasch an ihr Ende: Aleksejeva, Die Juden, S. 166. 242 Vgl. etwa Mylich, Meine Gedanken. 243 Ansätze: Liebl, Jüdische Minderheit. 244 Im weiten Sinn: „nicht nur das [die politische] Ordnung fixierende Recht, sondern auch ihre häufig gar nicht geregelte oder von der rechtlichen Regelung abweichende Realstruktur" (Boldt, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 10).

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„Land" und dem „Lehn".245 Mit der Unterwerfung 1561

waren die an Vasallen vergebenen Stücke als „adlige", später „Privatgüter"246 allodifiziert worden,247 während Gotthard Kettler zusätzlich die vom Orden unmittelbar verwalteten als Fonds des Herzogtums erhielt,248 um aus den Erträgen dieser „Ämter" sowie Zöllen, Post und einigen anderen Regalien die öffentlichen Chargen („Officianten"), den Kirchenstaat und Hofstaat zu unterhalten.249 Darüber hinaus konnten Fürst und Landtag gemeinschaftlich besondere Kontributionen „vom Haken" beschliessen250 und besaß die Vertretung der Landschaft das Recht, eine Umlage der Privatgüter zur Betreibung ritterschaftlicher Anliegen zu willigen.251 Ansonsten war den Indigenen Steuerfreiheit verbrieft,252 mit der einen Ausnahme des „Rossdienstes" im Kriegsfall.253 -

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245 Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 2. Hier zu vernachlässigen, jedoch analog zu unterscheiden sind die amtsgebundenen Widmen der höheren Landesbediensteten und der Pastoren einerseits, andererseits die wenigen und kleinen nicht dem Adel vorbehaltenen (teils aber durchaus in adligem Besitz befindlichen) Privatländereien, irreführend „Bürgerliche Lehen" genannt. 246 LVVA 7363/3/241. Mit dem Provinzialrecht von 1845 wurde dann der Begriff „Rittergut" etabliert: Whelan, Adapting to Modernity, S. 13, Anm. Dass mit „Privatgütern" im 19. Jahrhundert die vorgenannten „Bürgerlichen Lehen" gemeint gewesen seien (Kurland und seine Ritterschaft, S. 64), lässt sich auf diese spätere Zeit beziehen. 247 Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 1 f. 248 Übereinstimmend mit der Quellensprache wird im weiteren unter „Lehn" dieser Fonds begriffen. 249 Ziegenhorn, Staats Recht, §620, S. 245; vgl. a. Heyking, Finanzwirthschaft, S. 9 f. Eine wirksame Unterscheidung in Kammer- und Tafelgüter bestand nicht. 250 Ziegenhorn, Staats Recht, §§494, 642, S. 179f., 272f. Der „Haken" war ursprünglich ein Flächenmaß und von je 20 Haken ein Reiter zum Lehnsaufgebot zu stellen. 1717 wurde eine Revision beschlossen, die anhand von Lage, Leutebesatz, Bodengüte, Wirtschaftseinrichtungen und sonstigen Ressourcen die Leistungskraft der Güter ermitteln und ihnen danach eine Hakenzahl zuweisen sollte, wobei je 1 600 Rth. 14 800 fl. alb. gefaxter Ertrag (bzw. ein auf der Basis von 6% Revenüen veranschlagter Gutswert von 80000 fl. alb.) einen vollen „Haken" oder „Rossdienst" ergaben; abgeschlossen wurde die Revision erst zwischen 1763 und 1770: Hollmann, Agrarverhältnisse, S. 9f; Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 100; Revisionsmodus: LVVA 1100/9/58, pp. 28ff., 48; vgl. a. Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 109ff; dort, v.a. S. 111, 123, auch zu fortbestehenden Uneindeutigkeiten. Zu den Verhältnissen zwischen 1700 und 1717 Dunsdorfs, Gutsbesitzer, S. 218 ff. 251 Ziegenhorn, Staats Recht, §491, S. 178. 252 Ziegenhorn, Staats Recht, §658 [verdruckt unter §657], S. 286. Explizit ausgeschlossen war auch jeder Zugriff auf Dienste der privaten Gutsuntertanen: ebd., §659, S. 286. 253 Wie oben, Anm. 114.

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Indes verwandten die Kettler-Herzöge die Überschüsse des Lehns zu ihrem ohnehin stattlichen Allodialbesitz weitere Adelsgüter anzukaufen.254 Da die Verwaltung beider Fonds in derselben Hand lag, war die im Grunde widerrechtliche Praxis kaum greifbar, und ebenso ist der ursprüngliche Umfang des Lehns schwer zu bestimmen. Die verbreitete Angabe von zwei Fünfteln der Güter geht auf eine Schätzung Alfons v. Heykings für das späte 18. Jahrhundert255 zurück und entspricht in etwa der Landrolle von 1704, die jedoch uneindeutig und unvollständig ist.256 Dennoch scheint die Quote als Näherungswert plausibel, nimmt man den Verteilungsschlüssel gemeinsamer Kontributionen von eins zu zwei257 als ursprünglich mehr oder weniger ertragsgerecht ausgehandelt und ein stilles Wachstum des Lehns aus Verwischungen mit dem Kettlerschen Allod an. Das gesamte Allod hinzugerechnet,258 befanden sich wohl über 50 Prozent des Bodens, zudem des besten und am dichtesten besiedelten, in fürstlicher Hand.259 Ein Ritterschafts-Gravamen von 1717 klagte daher, dass der Kontributionsmodus nicht berücksichtige, „quod Illustrissimus Princeps et plura et pinguiora praedia, quam nobilitas possideat, et defuncti duces insuper magnam partem bonorum im-

darauf,

254 Dass dieser Ankauf stattfand, steht fest, sein Umfang jedoch ist kaum rekonstruierbar, nicht zuletzt, weil die Herkunft etlicher nach 1561 afterverlehnter oder verpfändeter Güter in Vergessenheit geriet, verdrängt oder geklittert wurde. 1738 galten 50 herzogliche Besitzungen als Adelsgüter dreißig Jahre später wurden unter veränderten politischen Bedingungen 32 davon als zu Unrecht dem Allod zugeschlagener Bestandteil des Lehns eingestuft: LVVA 640/4/88, pp. 47ff.; vgl.a. unten, S. 123 f. 255 Heyking, Finanzwirthschaft, S. 11; vgl. überblicksweise auch Juskevics, Hercoga Jêkaba laikmets, S. 146 f. 256 Dunsdorfs, Gutsbesitzer, S. 219, 222ff.; vgl. a. ders., Swedish Cadastral attempt; Strohm, Kurländische Frage, S. 20, Anm.: Bereinigt um Pilten ergeben sich 208 von 482 Gütern (43%) mit 2188,75 von 5 846 Haken (37%)-eine Angabe, die jedoch ebensowenig weiterführt wie die 1785 von Hupel, Nachrichten von Kurland, veröffentlichten Landrolle (45% bzw. 35%: Anh. 3), da die Zahl der Güter nichts über deren Größe und Stärke aussagt, die Hakenzahl lediglich die relative Kontributionspflicht innerhalb der Kategorien „fürstlich" und „adlig" liefern kann. Das Verhältnis 1:2 war ja eben gesetzt. In der Verteilung der Seelen auf Krons- vs. Privatgüter 1826 (27% bzw. 67% von allen: Anh. 7, Tab. 1) sind hingegen bereits die Umverteilungen der Ständekämpfe, russische Donationen usf. enthalten. 257 Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 259, S. 312; vgl. a. Keller, Lehnspflicht, S. 66. 258 Die Aufstellung von 1738/68 (wie Anm. 254) ergibt ein Verhältnis von Allod zu Lehn von etwas unter eins zu zwei wohlgemerkt: Es geht um ungefähre -

Größenordnungen.

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259 Dass es sich um „ein Mehrfaches" der Leute des Adels gehandelt habe (Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 7), entbehrt hingegen jeder Grundlage.

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mobiliorum allodialum emtionis titulo ad domum ducalem transtulerint, quod justitiae distributivae dilucidissime contrarium est, et nobilibus tarn grave existit, ut quam plurimum aere alieno gravati bonis cederé

nonnumquam etiam eadem déferre cogantur."260 Die Forderung, die angekauften Privatgüter sollten mit dem Adel kontribuieren, wurde seit 1692 mehrfach anerkannt, aber frühestens nach 1717 erfüllt.261 Um so interessanter wurde es für die Herzöge, die Grenzen zwischen Lehn und Allod verschwimmen zu lassen, so dass die zwei Landesdrittel auf einen schrumpfenden Bestand umgelegt wurden, während für das herzogliche Drittel bei wachsender Grundlage das Lehn aufkam.262 Erst im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts kehrte sich dieses Interesse an einer Unterdeklaration des fürstlichen Allods um.263 Zunächst bildete sich eine zur rechtlichen querliegende pragmatische Unterscheidung aus, die der „Domänen" als Summe der Güter in herzoglicher Verfügung von den Privatgütern des Adels,264 wobei zu letzteren allmählich auch die neueren Afterverlehnungen seit Herzog Gotthard gezählt wurden, deren Allodifizierung dann 1776 erfolgte.265 Gleichzeitig suchte sich der Adel seinen Anteil am Nutzen der Wirtschaften in herzoglichem Besitz zu sichern, indem diese meist zu günstigen Konditionen verpfändet oder verpachtet wurden und die Ritterschaft zunehmend Anspruch auf Ausschließlichkeit dieses Vorteils erhob.266 Damit ist aber auch eine konträre Lesweise des kurländischen Fiskalwesens möglich: Dass der Adel für den größeren Teil des Landes, das er bewirtschaftete, die Rechte bei seinem Fürsten erwerben musste, lässt sich durchaus als Äquivalent einer Abgabe auffassen. In dieser Perspektive behielt der Stand sich das Nutzungsrecht am ganzen Boden vor, verband jedoch seine allodial ärmeren oder an zusätzlichen Revenüen interessierten Mitglieder, für einen Teil davon Fürst und Gemeinwesen zu unterhalten. -

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260 Ziegenhorn, Staats Recht, 261 262 263

264

Beilagen Nr. 259, S. 312. Es blieb dennoch beim „Tertium". Ziegenhorn, Staats Recht, §§617f, S. 242ff; Streitpunkt noch in den 1760ern: Cruse, Curland, Bd. 2, S. 115. Strohm, Kurländische Frage, S. 160. Vgl. a. Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 102. Vgl. unten, S. 123ff, 142f, auch 213f, 230, Anm. 33; zur Übernahme auch der Kettlerschen Allodien durch die Birons Ziegenhorn, Staats Recht, §617, S. 242; Strohm, Kurländische Frage, S. 160. Vgl. Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 207; Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 5, Anm.; JuSkevics, Hercoga Jekaba laikmets, S. 142.

265 Wie Anm. 23. 266 Kritische Erörterung: Ziegenhorn, Staats Recht, §§620, 622, S. 245, 247ff.

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Nach dem Ende der militärischen Konflikte des frühen 18. Jahrhunderts kam es dann zu einer weiteren Verschiebung. Die Kontributionen, überwiegend Kriegs- und Besatzungslasten, verloren an Bedeutung ohne Not stimmte der Landtag kaum einmal gemeinsamen Aufwendungen zu.267 Um so vehementer drängten nun die Indigenen auf die Exklusivität der Nutzungsüberlassung am fürstlichen Lehn wie Allod. Da unter den Kettlers der Pfandmodus dominierte, in dem der Halter auch die politischen Rechte erwarb,268 richtete sich dies nicht zuletzt gegen einen Niedergang der Partizipation. In der Folge schlugen verstärkt die einseitigen Landschaftswilligungen zu Buche, deren häufigster Anlass ritterschaftliche Delegationen, Klageführungen u. ä. bei den oberherrschaftlichen Instanzen und den umliegenden Mächten waren, gerade auch in der Nießbrauchfrage.269 So griffen Konkurrenz und Interventionsbereitschaft der Mächte, Steuerfreiheit und partikulares Selbstbesteuerungsrecht ineinander und ergaben gleichsam über Bande ein Äquivalent des andernorts privilegienstiftenden, aufgrund der materiellen Unabhängigkeit des Fürsten in Kurland fehlenden Erpressungspotentials zur Verteidigung oder Erweiterung ständischer Rechte. Wie bereits angedeutet: Eine Verfassungsgeschichte des Herzogtums, überhaupt eine Geschichte (Kurlands) entlang eines Ideals von autogener Entwicklung versus äußere Eintragung ergibt keinen Sinn. Die transterritorialen Bezüge waren keine wie immer zu bewertenden Interferenzen, sondern konstitutiv für die Geschichte der Landschaft.270 Die Güter nun konnten aus einem einzigen Hof bestehen oder mehrere Beihöfe haben, Neugründungen oder nach einer Vereinigung reduzierte Einzelgüter, die wiederum als bloße Außenstellen fungieren konnten, als Witwensitze dienen oder zur Versorgung Nachgeborener neuerlich abgetrennt werden.271 Nach Ausdehnung und Bevölkerung variierten sie im für Kontributionen relevanten Maß der Zeit von Bruchteilen eines (neuen) Hakens bis zu dreien oder vieren;272 legt man die Landrolle von -

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267 Ziegenhorn, Staats Recht, §642, S. 272 f. 268 Ziegenhorn, Staats Recht, §477, S. 174. Ansonsten scheinen sie geruht zu haben. 269 Vgl. v. a. das Unterkapitel S. 123 ff. 270 „Konstitutiv", nicht „bedingend": In der analytischen Entgrenzung räumlicher Einheiten liegt die deessentialisierende Pointe des hier Pate stehenden Konzepts von Transnationalität gegenüber ¡«rernational argumentierenden Ansätzen, die eine „innere Verfassung [...] immer weitgehend bestimmt durch die äußeren Lebensbedingungen, die durch die großen Weltverhältnisse gegeben sind", verstehen (Otto Hintze, hier nach Kunisch, Staatsverfassung, S. 11). 271 Breit gestreute Zeugnisse bieten die Güter-Chroniken von Arbusow, Fircks und Klopmann; auch das BHO; Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 110. 272 Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 128ff.

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1704 zugrunde, ergeben sich geschätzte Gütergrößen von einer Handvoll bis einhundert, einhundertfünfzig Bauernstellen, in vier oder fünf Fällen auch mehr. Die Masse war jedoch klein, knapp die Hälfte hatte unter zehn, ein Fünftel zehn bis 20, ein weiteres Viertel 20 bis 50 solcher „Gesinde", wie sie im Baltikum hießen. Für die entsprechende Einwohnerzahl setzt Dunsdorfs den Multiplikator zehn an,273 eine konservative

Schätzung.

Gut oder Güterkomplex, der Besitzer, eigentümlicher oder anderweitiger, war in der Wirtschaftsorganisation praktisch nicht eingeschränkt. Er verfügte über die Forst-, Fischerei-, Jagd- und gegebenenfalls Strandgerechtigkeit, die Mühlengerechtsame, das Brau-, Brennereiund Schankprivileg sowie die Mastungsfreiheit, damit das Recht zur landwirtschaftlichen Veredelung. Er konnte zum eigenen Bedarf zollfrei importieren und mit den Gutsprodukten im Gutsbezirk sowie von seinem Strand aus Handel treiben, diese aber auch ohne Stapelzwang in den Hafenstädten verkaufen.274 War er Allodialeigentümer, konnte er den Besitz vererben, ihn veräußern, verpfänden oder verpachten oder eidie sich nen Fideikommiss stiften und damit die Nachfahren binden275 wiederum in der Praxis kaum minder eigenmächtig daraus zu befreien wussten.276 Allerdings schrieb das Erbrecht Pflichtteile für alle Kinder vor, für Töchter mindestens ein Drittel,277 höchstens die Hälfte dessen, was die Söhne jeweils vom Vater erbten, Parität bezüglich der mütterlichen Hinterlassenschaft. Grundsätzlich galt hinsichtlich des Immobiliarvermögens die männliche, war kein Sohn da die weibliche Primogenitur, während die Miterben auszuzahlen waren.278 Ansonsten herrschte Dispositionsfreiheit; lag kein Testament vor, kamen die Verwandten zum Zug, ließen sich keine Verwandten feststellen, der Fiskus.279 Damit war einer Zersplitterung der Güter vorgebeugt, während Konglomerate aus „einherrig" gewordenen Gütern wieder zwischen mehreren Nachkommen aufgeteilt werden mochten. Alles in allem zeugen die Kauf-, -

273 Dunsdorfs, Gutsbesitzer, v.a. S. 219f. 274 Zusammenfassend: Ziegenhorn, Staats Recht, §663, S. 293 f., auch §598, S. 226f. Das Bergrecht spielte faktisch keine Rolle, doch war auch hier das Regal als weitgehend entäußert zu betrachten: ebd., sowie §633, S. 262f. 275 Fideikommisse, im Regelfall Majorate, waren in Kurland anders als etwa in Livland und Estland durch einseitige Verfügung, ohne behördliche Genehmigung und mit einem absoluten Minimum formaler Standards zu begründen: Kurland und seine Ritterschaft, S. 68 f. 276 Vgl. unten, S. 309 ff. 277 In Pilten ein Siebtel: Kurland und seine Ritterschaft, S. 417. 278 Ziegenhorn, Staats Recht, §657, S. 286. 279 Ziegenhorn, Staats Recht, §636, S. 266. -

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Schenkungs- und Erbkontrakte zwischen Eltern und Kindern von erhebGestaltungsspielräumen:280 Solange er es bescheidenen formalen Ansprüchen gemäß anstellte, war der einzelne Indigene in der Verfügung über sein Eigentum weitgehend frei. Wie er über das Land verfügte, so konnte der Gutsbesitzer mit den Leuten walten. Der Freiheit der Erbherren entsprach die Rechtlosigkeit der Untertanen. Angesichts „ungemessener" Fronen disponierte das Gut nahezu beliebig über die Arbeitskraft der Leute, die einer strikten Schollenbindung unterlagen;281 zugleich hatten die Wirte weder ein Lebtagsnoch Erbrecht an ihren Gesinden, ebensowenig an ihrem mobilen Inventar. Das eine konnte ihnen jederzeit entzogen oder vertauscht werden, das andere galt als Gutseigentum.282 Der Beruf wurde vorgegeben, Eheschließungen bedurften des herrschaftlichen Konsenses. Endlich ging den Leibeigenen, indem sie frei handelbar, zu vertauschen oder zu verschenken waren, das Recht an der eigenen Person ab. Allein die Tötung eines Untertans war mit einem Bußgeld ahndbar.283 lichen

280 Klopmann, Güter-Chroniken; auch LVVA 1100/13/209, p. 15. 281 Auf den Domänen schränkten zwar die Arrendekontrakte die Fronen und Abgaben ein (Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 66, 78), doch verschob dies lediglich die uneingeschränkte Verfügung zum Herzog als Oberbesitzer, der wiederum über weite Strecken politisch schwach oder abwesend war und zudem durchaus nicht notwendig im Sinne der „Wacken", also niedergelegter Leistungskataloge, intervenierte: vgl. unten, S. 88 ff., 280; auch Ziegenhorn, Staats Recht, §620, S. 245. Andererseits gab es auch zwischen Privaten Pfandkontrakte, die eine gewohnheitsmäßige Wacke festschrieben: LVVA 1100/13/962, p. 62; unten, S. 181. 282 Das bedeutete allerdings auch, dass der Herr bei Neuansetzungen die Erstausstattung stellte (LVVA 1100/6/19, p. 30), zu Aussteuer und Hochzeit beitrug (Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 51; LVVA 1100/2/96, p. 76), bei unverschuldetem Schaden oder Mangel aushalf (ebd./5/20, pp. 75f.; ebd./6/19, pp. 22, 35; ebd. /13/677, pp. 11 ff; HI Baltikum 194; Streit zwischen zwei Herren-und ihren jeweiligen Untertanen um Unterhalts Vorschüsse beim Wechsel eines Wirts: LVVA 554/3/1285, pp. 40, 44). Insgesamt vgl. Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 37f.; auch Schwarz, Kurlands Bewohner, S. 69. Kritische Diskussion der schon zeitgenössisch konfligierenden Auffassungen zum bäuerlichen Eigentumsrecht an Mobilien und zur besseren Sicherheit der Domänenbauern: Hahn, a. a. O., S. 49 ff; letztere bestätigt eine Mitteilung des Kameralhofs im Zusammenhang der Aufhebung der Leibeigenschaft 1819: Zutis, Zemnieku brlvlaisana, S. 54. Analog zum „Eisernen Inventar" der Gesinde fielen etwa Möbel, die ein Pächter von den Leuten hatte anfertigen lassen, nach seinem Abzug zum Inventar des Guts: Germanis, Agrargesetzgebung, S. 221. 283 Überblick: Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, v.a. S. 27ff., 44ff., Zusammenfassung: ebd., S. 87ff.; vgl. a. Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 3ff.; Tobien, Agrargesetzgebung, Md. 1, S. 311 ff. -

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Auch Jurisdiktion und polizeiliche Gewalt lagen weitgehend bei den Gutsherren. In jedem Fall übten sie die Hauszucht und Zivilgerichtsbarkeit, auf den Privatgütern auch die in Kriminalsachen; schwere Leib- und Lebensstrafen bedurften allerdings der Niedersetzung eines Patrimonialgerichts aus drei bis sechs Herren, die unter Umständen noch bäuerliche Rechtsfinder heranzogen. Alternativ konnten die Fälle den Hauptmanns- oder Oberhauptmannsgerichten übergeben werden, bei denen auch die Kriminal- und in schweren Sachen Zivilkompetenz über die Domänenbauern lag.284 Ein Appellationsrecht bestand nicht. Allein die fürstlichen Untertanen besaßen immerhin das Recht, beim Herzog als ihrem Obereigentümer Beschwerde zu führen und auf eine indes abermals mit Indigenen besetzte Untersuchungskommission zu hoffen. Da „gänzlich ungerechtfertigtes" Klagen bestraft werden konnte, war das jedoch ein riskantes Unterfangen. Dennoch erreichten zahlreiche derartige Eingaben die herzogliche Kammer, mit unterschiedlichem Ausgang.285 Selbst im Erfolgsfall wurde freilich nicht ein Vergehen der Gutsherrschaft gegen die Untertanen, sondern allenfalls eine Kontraktverletzung gegenüber dem Herzog festgestellt.286 Die rechtliche Lage war mithin eindeutig, die einer „unbedingten Leibeigenschaft".287 Den Erbleuten gingen in dem Maße die fundamentalen Freiheitsrechte288 ab, -

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284 Ziegenhorn, Staats Recht, §§544ff., 660, S. 197ff., 286ff.; Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 41 ff; Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 9 ff. 285 Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 44; Ziegenhorn, Staats Recht §661, S. 290 [verdruckt 278] f.; Stepermanis, SüdzTbas; GrInbergs, KuldTgas zemnieku südzlbas. 286 Vgl. Anm. 281. 287 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 313. Aufgrund der vertraglichen Einschränkung der Abgabenlast und der Klagerechte differenziert dagegen Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 89,91, zwischen einer „uneigentlichen Leibeigenschaft in mildester Form" bzw. „wohlgeordneten, guten Erbuntertänigkeitsverhältnissen" für die Domänenbauern und der „vollen Leibeigenschaft" der Privatuntertanen. Freilich sind die Amtsordnungen, Arrendekontrakte und Wackenbücher, auf die er sich stützt, um den ,,vollständige[n] Mangel an [allgemeinen] Rechtssätzen über die bäuerliche Bevölkerung" (S. 90) zu relativieren, eben normative Texte, die einerseits noch keinen unmittelbaren Aufschluss über die Praxis geben, andererseits formal lediglich von Selbstbeschränkungen des fürstlichen Obereigentümers handeln. Stellvertretend für die historisch-materialistische Gegenposition zu Hahn DoroSenko, Proizvodstvo zerna, S. 66: „eine der härtesten [Leibeigenschaftsordnungen] Europas (odn[o] iz samych surovych v Evrope)". 288 Freie Heirat, Freizügigkeit, Eigentums- oder eigentumsähnliche Rechte an den genutzten Liegenschaften: Blickle, Leibeigenschaft/Menschenrechte, v.a. S. 202; vgl. auch Schmidt, Leibeigenschaft, S. 132ff.: Gemessen an dessen Parametern Klagerecht, Besitzrecht, Fronumfang, Handel mit Leibeigenen und Strafhoheit der Gutsherren wäre Kurland nach der Rechtslage wohl näher bei der „extremen" als der einfachen Leibeigenschaft oder gar der bloßen Erbuntertänigkeit zu verorten.

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„Machtverkapselung Gutsbezirk"289 von den Indigenen Wurzelgrund ihrer Freiheit aufgefasst und verteidigt wurde. in dem die

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Das führt noch einmal auf das Verhältnis von Gutsherrschaft und Landesherrschaft zurück. Wer nichts auskehrte und eifersüchtig seinen Obrigkeitsstatus verteidigte, konnte auch nichts fordern: Wege- und Brückenbau, Rechtspflege und -erzwingung, Kirchenunterhalt, Unterstützung der Bevölkerung in Notzeiten, gegebenenfalls Schulen, Gutsapotheken und ärztliche Versorgung mussten auf den Gütern erbracht werden.290 Der umfassenden Lokalgewalt entsprachen mithin Leistungsverpflichtungen, die in der vordergründigen Lastenlosigkeit den Reflex einer schwachen Distinktion von „Staat" und „Gesellschaft" als in ein Austauschverhältnis zu setzenden Größen überhaupt erkennen lassen. Die Gutsherrschaft bildete ein Integral öffentlicher und privater Verhältnisse, wie Kammer- und Tafelgüter, de facto auch Hausgut, in eins gingen, der Herrschaftsverband zivilrechtlicher Grundbesitzer „die Landschaft" ausmachte und als solche „das Land" mitkonstituierte: Ungeachtet aller ständischen Kompartementierung stellte sich die Welt nicht als Ensemble differenzierter vertikaler und horizontaler Strukturen dar, sondern als holistisch konzipiertes, nach außen schwach abgeschlossenes System umfassender (Herrschafts-) Beziehungen. Diese bereits angesprochene weltordnende Grundhaltung, der man in allen Sachverhalten und Deutungsmustern begegnet, gab dem kurländischen Ancien Régime den Rahmen, innerhalb dessen der Ritterschaft als Herrschaftsverband die Landschaft als Verband von Herrschaften korrespondierte. Der „Herr" lebte ein Rollenintegral, das wirtschaftliche, politische, geistlich-moralische, private und öffentliche Tätigkeit allenfalls schwach unterschied. Darin bestand seine und seines Standes Herrlichkeit, sinnfällig in dem Recht, auf den eigenen Gütern für den eigenen Untertanenverband Gesetze zu geben.291 Insofern hat Cruses gegenüber den 1830ern zeitkritische Verklärung der älteren Oikonomie einen -

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289 Schmidt, Leibeigenschaft, S. 130. 290 Wege: Ziegenhorn, Staats Recht, § 629, S. 254f.; LVVA 1100/9/18, p. 30; Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 107ff.; Kirchenunterhalt und -patronat: Ziegenhorn, a.a.O., §§391 ff., S. 141 f.; LVVA 1100/9/58, p. 33; ebd./60f; ebd./13/216; Fürsorge: Bosse, Einkünfte, S. 585ff.; Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 34ff, 37f, 41; Rechenberg-Linten, a.a.O., S. 33; Schulen: Schaudinn, Deutsche Bildungsarbeit, S. 83 f.; Scheitern allgemeiner Schulpflicht und niedriges Bildungsniveau: Hehn, Deutsche Kultur, S. 12f. 291 Kurländische Statuten, §63: Schiemann, Regimentsformel, S. 19; vgl. a. unten, S. 181 ff.

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wahren Kern: „Der Gutsbesitzer betrachtete sich meistens noch mehr als erblichen Regenten denn als zeitweiligen Nutznießer."292 Herren und Untertanen

Darum, inwieweit dieses ausgreifende Verständnis

von Libellât und eine Praxis unumschränkter in der durch Region Herrschaftsanspruch Willkür eingeholt wurde, ist seit den Kontroversen, die die aufklärerische Adels- und Leibeigenschaftskritik ausgelöst hat, viel gestritten worden. Dennoch fehlen tragfähige Untersuchungen zu den Alltagsbeziehungen zwischen Herren und Beherrschten weitgehend, und zumal für Kurland.293 Vielmehr hat die baltische Agrargeschichte über weite Strecken die Frontstellungen der Aufklärungszeit fortgeschrieben,294 standen sich, vereinfachend gesagt, eine moralisierend-kritische Tradition, als deren Stammvater Garlieb Merkel gelten kann,295 und eine idealisierende Apologetik gegenüber, die bezüglich Kurlands zuerst Friedrich

292 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 57. 293 Eine kompakte, zugleich differenzierende Summe der agrarhistorischen Forschung zum Baltikum insgesamt bietet Kahk, Bauer und Baron. Alles in allem dominieren makrointeressierte und quantifizierende Ansätze, liegen die Schwerpunkte auf dem 16./17. oder (späteren) 19. Jahrhundert und vor allem auf den beiden nördlichen Provinzen, von denen angesichts der unterschiedlichen klimatischen Bedingungen, Marktlagen und politischen Situation nicht auf Kurland geschlossen werden kann; vgl. Kahk /Tarvel, Economie History, S. 79; Strods, Klimat. Für Kurland sind v. a. die Arbeiten von DoroSenko und Strods zu erwähnen, unter denen des letzteren insbesondere Lauksaimnieclbas vesture (Überblick), Kurzemes lauksaimnieclba (17./18. Jh.), Klausu rente (sp. 18.- 1. Hälfte 19. Jh.), Lauksaimnieclba Latvijä (1780-1860), Kurzemes Krona zemes (ab 1795). Alltags- und mikrogeschichtliche Untersuchungen finden sich am ehesten noch für Estland (vgl. Kahk, Bauer und Baron, S. 38 ff., 76ff), auf deren Basis wiederum Kahk einige allgemeine Überlegungen angestellt hat, die sich an neueren methodischen Ansätzen orientieren (ders., Dreieck-System; ders., Der Bauer in der Literatur). Primär vom Interesse an der massiven Revolte geleitet, zudem bisweilen recht eindimensionalen Lesarten verpflichtet sind Zutis, Zemnieku brlvlaisana; Stepermanis, Atblüzma; ders., Zemnieku nemieri. Alltagsbezogen gegen das Bild von der Servilität und restlosen Unterworfenheit: Svaräne, Kad Latviesu zemnieki; Rückschlüsse aus der folkloristischen Tradition auf ein feindseliges Verhältnis: Oberländer, Einstellung der 294

Letten. Vgl. nach wie vor den Überblick von Pistohlkors, Geschichtsschreibung und Politik; zur Aufklärungszeit Wihksninsch, Aufklärung; Neuschäffer,

Geschichtsschreibung. 295 Merkel, Die Letten (1796). Zu ihm und seinen Vorläufern, v.a. Eisen, Jannau, Pétri u.a., in manchem auch Hupel, sowie der Literatur über sie Neuschäffer, Geschichtsschreibung; Donnert, Eisen; v.a. Taterka, Anhang, in dessen Neuedition der Letten von 1996; auch Heeg, Merkel als Kritiker.

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Fircks in polemischer Abwehr Merkels ausformuliert hat296 dem Bild einer Hölle aus Despotie und Depravation kontrastiert das einer Pastorale voll Fürsorge und Anhänglichkeit. Wohl sah auch die Kritik, dass es nicht im langfristigen Interesse der Gutsbesitzer liegen konnte, ihre Bauern herabzuwirtschaften,297 doch wies Merkel auf kurzfristigen Pacht- und Pfandverhältnisse, Verwaltergier, Konsumprioritäten, schlichte Borniertheit und eben jenes Empfinden der Selbstherrlichkeit hin, das im Adel so stark war.298 Fircks berief dagegen das Ehrgefühl der Herren, die humane Gesinnung der Adelsmehrheit und die Macht der öffentlichen Meinung gegenüber einzelnen „Bauernschindern".299 Vor allem aber brachte er bereits ein Argument vor, das die jüngere Agrargeschichtsschreibung betont: die Handlungsmacht der Betroffenen.300 Selbstwertgefühl und Widerstandschancen der Bauern hätten eine rückhaltlose Ausübung der Herrenrechte, Ruin und vor allem Herabwürdigung der Leibeigenen im Alltag nicht zugelassen.301 Die Möglichkeiten und Grenzen der Herrschaftspraxis sind allein anhand von Rechtstexten nicht adäquat einzuschätzen.302 v.

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296 Fircks, Die Letten in Kurland (1804); zu ähnlichen Reaktionen und der späteren Rezeption Heeg, Politische Publizistik, S. 4f; ders., Merkel als Kritiker, S. 123. Die ebd. erwähnten Zweifel an der Autorschaft Fircks', die sich auf einige Fehler im Lettischen gründeten, sind als Teil der zeitgenössischen Auseinandersetzung zu betrachten; da Fircks die Schrift immer reklamiert hat, sie auch zu Stil und Grundhaltung seiner späteren Texte passt, bietet Schludrigkeit des Leipziger Setzers, des Autors die einfachere Erklärung. 297 Jedoch Taterka, Anhang, S. 227: „das Hauptargument der [livländischen] Ritterschaft [...], das dann über zwei Jahrhunderte als kaum variierte Litanei in der apologetischen Literatur immer wieder auftritt." 298 Merkel, Die Letten, S. 77. 299 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 197ff, 237ff. So übernahm es im wesentlichen auch die deutschbaltische Historiographie: Hollmann, Agrarverhältnisse, S. 5; Tobien Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 318, 320; Kurland und seine Ritterschaft, S. 72f. 300 Paradigmatisch: Peters, Gutsherrschaft; vgl. a. die darauf folgenden Bände der Reihe „Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft"; für den Ostseeraum: Schmidt, Leibeigenschaft, v.a. S. 14f, 82ff.; für die engere Region: Kahk, Dreieck-System, v.a. S. 91 ff.; ders., Der Bauer in der Literatur. Das setzt explizit unterhalb von offenem und massenhaftem Aufruhr an; vgl. bereits Svaräne, Kad Latviesu zemnieki, S. 38. 301 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 10. 302 So schon Pistohlkors, Geschichtsschreibung und Politik, S. 332, bzgl. der Emanzipationsgesetze 1816/19. Eine systematische Analyse hätte zudem Schmidts, Leibeigenschaft, S. 104, Aufforderung zu beachten, Menschen nicht als „Marionetten der Strukturen" darzustellen, sondern die Spielräume auszuloten, die sichtbar -

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Als gesichert kann gelten, dass die Fronlasten über das 18. Jahrhundert deutlich stiegen und dies am Ende zu erheblichen Verwerfungen führte.303 Bauemiegen und Wirtsentsetzungen scheinen zugenommen zu haben.304 Prügel und gegebenenfalls Pranger wurden gewohnheitsmäßig zur Disziplinierung eingesetzt,305 es kam zu unverhältnismäßigen Grausamkeiten die freilich zumindest im letzten Jahrhundertdrittel in der Tat Skandal machten.306 Generell ist das Bild nicht frei von Brüchen. Die Bauerschaften waren weder homogen noch in sich konfliktfrei, und das Eingreifen der Herrschaft konnte unter Umständen das Ordnungs- oder Vergeltungsanliegen einer Mehrzahl befriedigen, oder das partikulare Interesse einer Minderheit, und legte entsprechend Widerstand oder Subversion nahe oder nicht.307 So bestand zunächst eine fühlbare Kluft zwischen Gesindewirten, also Inhabern unterschiedlich großer Hofstellen, und deren Gesindevolk aus Knechten, Mägden und Jungen, zu schweigen von den landlosen „Lostreibern" (valenieki, bandinieki) oder „Badstübern" (pirtenieki, nach den Badstuben, in denen sie unterkamen).308 Außerhalb dieser Gesindestrukturen stellten die Ho-

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werden, „wenn man nicht länger Fiktionen betrachtet wie ,die Bauern' oder ,die Gemeinde', sondern Individuen." 303 Vgl. unten, S. 105 ff, 277 ff. 304 Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 93; Hoheisel/Wörster, Seelenrevisionslisten, S. 15, unterscheiden für das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert anhand von Stichproben zwischen „konservativen" und „fortschrittlichen" Gutsbesitzern, je nachdem, ob eine Erbfolge an den Gesinden gewährleistet war oder die Wirte „fast wie Schachfiguren" ein- und abgesetzt wurden. Fircks, Die Letten in Kurland, S. 192f., der aber Partei ist, nahm eine faktische Vererbung in zwei von drei Fällen an; die Zahl ist dann in die Literatur eingegangen: Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 5; Hollmann, Agrarverhältnisse, S. 8. 305 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 5 ff., 16ff.; ders., Bauerverhältnisse I, Sp. 3ff.; Stepermanis, Atbläzma, S. 21 ff.; Svaräne, Kad Latviesu zemnieki, S. 39. Zur Einordnung vgl. aber auch die Strafpraxis des 18. Jahrhunderts etwa in Frankreich: Foucault, Überwachen und Strafen, v. a. Teil I „Marter". 306 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 82f., 87: „empörende Greuelthaten" eines Besitzerpaares gegen die Bauern bezeichnenderweise aber auch gegen die eigene Tochter. Ähnlich führten die von Merkel angeführten Beispiele pathologischer Gewaltexzesse in Livland letztendlich zu Prozess und Verurteilung: Taterka, Anhang, S. 230f; vgl. auch Kahk, Bauer und Baron, S. 74f.; Svaräne, Kad Latviesu zemnieki, S. 43, 48; Verstümmelungsstrafen, die Lautungen angedroht wurden, kamen wohl nie zur Ausführung: ebd., S. 39. 307 Vgl. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 10f., zur Autorität der Patrimonialgerichte auch unter Freien. 308 Auch zum Folgenden Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 54ff. (Bezeichnungen: ebd., S. 61); dort zwar anhand der Domänen geschildert, doch im wesentlichen auf die Privatgüter zu übertragen; vgl. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 85. -

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fesleute, die beim Gut beziehungsweise der Herrschaft direkt beschäftigten Bediensteten, eine teilweise abgesonderte Gruppe dar.309 Weiters gab es landarme „Einfüßlinge", die als Handwerker, auch Krüger, Post-

reiter oder Busch Wächter (Forstgehilfen)310 einem mehr oder weniger einträglichen Nebenerwerb nachgehen mochten, und eine Hierarchie leibeigener Gutsbeamter, die eidlich der Herrschaft verpflichtet waren, als Vertrauenspersonen, Kenner der Verhältnisse und Ratgeber dienten, in kleineren Konflikten zwischen Untertanen als delegierte Autorität: die aus den Wirten genommenen Rechtsfinder (tiesnësi), die Ältesten (auch „Elteste") oder „Wagger" als Aufseher und Transmitter zwischen Herrschaft und Gutsvolk, als Gehilfen und Exekutoren die Schildreuter oder Schildknechte. Alle diese Gruppen verfügten über je eigene materielle und symbolische Ressourcen, Vorrechte, Pflichten. Wenn in der Literatur von Beginn an immer wieder „die Bauern" auftreten, dürfte mithin ein erheblicher Teil der einander widersprechenden Beobachtungen bereits durch eine Unterscheidung nach dem jeweiligen Status, aber auch Gebiet und nicht zuletzt individuellem Glück und Vermögen auszugleichen sein.311 Allerdings waren die Zuweisungen labil: Wirte konnten abgesetzt und eingesetzt, Beamte ernannt oder entfernt, Hofesleute angenommen, ausgebildet oder verjagt werden, und insofern mag die potentiell diskretionäre Gewalt der Herren ein solidarisches, auch Gleichheitsempfinden gefördert haben.312 Doch liegt dazu, zur tatsäch-

309 So berichtet Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 16f, vom Extremfall eines Erbherrn, der seine Hofesleute durch gute Behandlung an sich band, während er gegen die Bauern äußerste Härte an den Tag legte. Als er darüber gerichtlich belangt werden sollte (!), stellten sich die Hofesleute vor ihn und verteidigten ihn schließlich mit Waffengewalt gegen das Landesmilitär. Sie unterlagen, und ihr Herr wurde nach Kamieniec verbannt. 310 Gerade sie bildeten bisweilen eine privilegierte „Beamtenschaft", teils mit langer Familientradition: Neuschäffer, Forstgeschichte, S. 64. 311 Umfassend zur Differenzierung Strods, Social'naja struktura; vgl. a. Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 179; auch Pistohlkors, Argumentationen, S. 242f, für eine spätere Zeit. 312 Nach allem, was wir wissen, nicht aber zwischen Freien und Unfreien. Wohl mochten sich Freie unterwerfen (LVVA 1100/2/95, pp. 55ff; ebd./6/19, p. 30; ebd./7/20, p. 14; ebd./13/279, p. 99; ebd./962, pp. 67 ff., 72f, 86) oder Eigene sich freikaufen (ebd./2/96, p. 1; ebd./13/962, p. 94) oder freigelassen werden (ebd. /2 /95, p. 27; ebd. /96, pp. 9,58), doch ungeachtet solcher Permeabilität blickten die „Deutschen" (Freien) auf den „Undeutschen" (Unfreien) mit Verachtung herab wie der Adel umgekehrt auf sie: W...K, Lebensgeschichte, S. 102f., 300f.; Schwarz, Kurlands Bewohner, S. 71; Fircks, Die Letten in Kurland, S. 72f.; vgl. a. Meder, Strukturwandel, S. 35. -

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Das

lichen Reichweite und

Alltagspraxis

der

Machtausübung,

Herzogtum

wie gesagt

wenig Systematisches vor. Nehmen wir zwei Bohrproben.

Einen ersten Einblick erlauben die Protokolle der im Konfliktfall auf die Domänen entsandten Untersuchungskommissionen.313 Sie legen im wesentlichen zwei Grenzen herrschaftlicher Macht offen: die Option kollektiver Verweigerung einerseits, die Schwäche der Exekutive andererseits. Denn während etwa eine Flucht trotz aller prozessualen Langwierigkeit das Risiko der Extradition barg und im Zweifel selbst ein hartes Los einem unsicheren Neuanfang als Fremdling vorzuziehen war314-, verhieß kollektive Obstination eine Milderung der Konditionen am Ort. Ein Fall sei herausgegriffen. 1760 klagte der Wirt Ans vom Anding-Gesinde im Allschwanger Gutsbezirk über ungerechtfertigte und übermäßige Bestrafung durch die Gutsverwaltung.315 Der herzogliche Amtmann berief sich dagegen auf Ungehorsam und „Grobheit" des Wirts „in pertinence" und wurde darin vom Ältesten bestätigt. Als die Kommission eintraf und die Untertanen zum Gericht versammelte, rief der Wirt aus, es sei schlechterdings „keida „ward die gantze Bauerschaft ne Gerechtigkeit mehr zu erhalten" nahm den dem Eltesten Ans ab, und verließen die Comaufrührerisch, mission bis auf 8 oder 10 [und] nahmen ihren Weg gerade nach dem [...] hiesigen Katholischen Priester".316 Die Kommission sandte ihnen den Ältesten und die Schildknechte nach, um die Ausständischen zurückzuholen, doch diese lenkten nicht ein. Erst nach längerem Hin und Her gelang es dem Rittmeister v. Rahden aus dem benachbarten Guddeneeken im Verein mit dem Canonicus, den Bauern die gravierenden Konsequenzen ihres Handelns vor Augen zu stellen und sie zu Rückkehr und Abbitte zu bewegen. Bei der weiteren Abtuung ihrer Angelegenheiten seien die Untertanen dann „bescheidener" aufgetreten, so der Bericht. Dennoch empfahl die Kommission dringend, von einer Ahndung abzu-

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313 Sammlung der Berichte: LVVA 554/3/1173. 314 Nach Hoheisel, Deutsche und Letten, S. 78, kann die geringe Quote von 5060 „Entlaufenen" 1787-1797 (0,15 %) „wohl nur so erklärt werden, dass die Zustände auf den Gütern so waren, dass das Gros der Bauernschaft wenig Grund hatte, ihre Höfe zu verlassen." Genausogut lässt sich annehmen, dass ortskollektives Handeln aussichtsreicher war, während Läuflinge wenig Grund zu der Hoffnung hatten, es auf anderen Gütern besser zu treffen nur waren sie dort obendrein fremd und auslieferungsbedroht. Bezeichnend für die eingekürzte Perspektive auch die Formulierung „ihre Höfe": Die Wirte waren eine bevorteilte Minderheit. Zur Flucht als -

Option s. unten. 315 LVVA 554/3/1173, pp. 28ff. 316 LVVA554/3/1173,p. 28.

Der

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sehen, weil erstens „das gantze Gebiethe bis auf 10 Menschen inculpiret" sei, zweitens man dafür mindesten 20 Soldaten brauche, die zudem still herangeführt werden müssten, da sonst „die Bauern sich [...] gewiß alle nach die Büsche retiriren, woselbst man sie nicht habhaft werden" könv. Simolin als Repräsentant des russischen Sequesters denn auch statt und verordnete „fürderhin alle nur mögliche Vorsicht" bei den Untersuchungen sowie, „wenn ein Bauer nothwendig zu bestraffen ist, solches entweder in continenti [vorzunehmen] oder zuletzt, wenn nur einige Bauern zugegen sind".318 Das aber entkernte den auf ein Publikum bezogenen und angewiesenen, zu einem wesentlichen Teil als Stigmatisierung, Legitimitäts- und Machtdemonstration wirksamen Strafakt319 nachgerade. Den Herrschaftsvollzug aus der Öffentlichkeit zu nehmen, kam seiner Aussetzung, eben der Anerkennung einer faktischen Machtgrenze gleich. Das Beispiel ist in mehrerlei Hinsicht instruktiv. Erstens weist es eine einschlägige Widerstandsstrategie Unterlegener aus: Kollektives Handeln, Verweigerung, Eskalation und Reue waren ungeeignet, zielten auch gar nicht darauf ab, grundsätzlich an den Machtverhältnissen zu rütteln wohl aber, die Machtausübung einzuhegen und insbesondere das Gerechtigkeitsgefühl der Untertanen zu verteidigen. Im Endeffekt vermochte die Macht, ihr Gesicht zu wahren, und gelang es der Ohnmacht, ostentativ devot, ein zurückgenommenes Herrschaftshandeln zu erzwingen. Zweitens wird die Bauerschaft in ihrer Komplexität ahnbar. Die Mehrheit stellt sich hinter den renitenten Wirt, doch acht oder zehn gehen nicht mit, der Älteste zeugt gegen den Wirt, bleibt obrigkeitsloyal, und mit ihm die Gutsexekution. Drittens ist das zu wenig: Sie erreichen nichts, und die Kommission sieht sich auf die Verhandlungsleistungen des katholischen Priesters und eines lokalen Indigenen verwiesen; eine gewaltförmige Durchsetzung scheint kaum möglich, selbst wenn der russische Repräsentant die nötige Handvoll Soldaten abstellen würde. Das Resultat war eine Mäßigung beziehungsweise Verschleierung von Bestrafungen, Limitierung der Herrschaftspraxis

ne.317 Dem gab Ministerresident Carl

-

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überhaupt. Komplementär lativ schwachen

illustriert ein

späterer Fall die Bedeutung eines

Erzwingungsapparates sowie konfligierender lungslogiken innerhalb einer polyarchischen Obrigkeit für die

317 LVVA554/3/1173,p. 29. 318 LVVA554/3/1173, p. 30. 319 Vgl. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 47, 63 ff.

re-

HandChan-

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Das

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bäuerlichen Widerstandes:320 Als der Verwalter von (Groß-) Pönau, Fircks, 1794 etliche Bauern zu Urbarmachungen umsetzen wollte, supplizierten diese an den Herzog, ohne Erfolg. Daraufhin ging die Bauerschaft zur offenen Verweigerung über. Herzog Peter wollte Gewalt anwenden, doch argumentierten die Oberräte, solches Vorgehen sei ebenso „violante que dangereuse et les suites qui en résulteraient trop Funestes". Statt mit 200 Mann (!) einen erheblichen Teil der Landestruppen zu binden und zugleich einen Flächenbrand zu riskieren, solle eine Kommission ausgeschickt werden, die gewiss „parviendra aisément à appaiser le mécontentement de ces Paysans." So geschah es, wobei das Ergebnis zur äußersten Unzufriedenheit Fircks' ausfiel.321 Die Ereignisse um Pönau bestätigen das Grundmuster des eine Generation zuvor in Allschwangen zu beobachtenden Aktionsverlaufs. Darüber hinaus erweisen sie die Gleichsetzung von Fürstenmacht mit Bauernfreundlichkeit und Adelsmacht mit Unterdrückungswillen als kurzschlüssig.322 Der Herzog bestätigte das Vorgehen seines indigenen Verwalters und zeigte sich im Konflikt bereit, es mit Gewalt abzusichern; seine ebenfalls indigenen Räte setzten dagegen eine Verhandlungsstrategie durch; die Kommission schließlich entschied gegen ihren Standesgenossen und den Landesherrn. Offensichtlich kam es von Fall zu Fall auf die Interessenkonstellation der beteiligten obrigkeitlichen Akteure an, auf taktisches Temperament und Lokalumstände (etwa die Präsenz einer heterodoxen Autorität) usw. Allemal scheint aber eine Reduktion der Untertanen auf eine passive Rolle von Wirtschafts- und Machtobjekten wenig adäquat. Sie würde auch nicht verständlich machen, wie bei Fortnahme einer Arrendé oder im Konkurs ein Ältester über das Gut gesetzt werden konnte,323 während der Besitzer ein Wohnrecht behielt, jedoch seiner Weisungsautorität entkleidet wurde.324 In solchen und ähnlichen Fällen wurden die Untertanen gehört, nicht nur mit ihren Forderungen, sondern auch als Zeugen über die Wirtschaftsführung und mit den Verhältnissen vertraute Ratgeber.325 cen

ein

v.

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320

321 322 323

324 325

des russischen Residenten Rückmann an Vizekanzler Ostermann 27.3./7.4.1794 (also noch vor dem Übergreifen des Kosciuszko-Aufstandes): LNB Rx 111 /1 /19, p. 22; dort auch die folg. Zte. Stepermanis, Atbläzma, S. 102f. Vgl. a. Svaräne, Kad Latviesu zemnieki, S. 40 f. LVVA 554/3/1179, p. 130; vgl. a. Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 56; auf etlichen kleineren oder Beigütern standen sie ohnehin der Wirtschaft vor: RechenbergLinten, Zustände Kurlands, S. 13. LVVA554/3/1179, p. 138. Svaräne, Kad Latviesu zemnieki, S. 38, 41 f. (auch Versuche, Falschaussagen zu erzwingen), 49; LVVA 554/3/1179, pp. 138ff.

Depesche

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Sie erfuhren sich als Handelnde und ihre konkreten Herren als relativ zu anderen. Der Gewaltanspruch der normativen Texte war das eine, die bei aller Asymmetrie des Machtverhältnisses faktisch restringierte Herrschaftspraxis etwas anderes. Als zweite Probe sei ein Problemkreis eruiert, der sich quantifizierend behandeln lässt und den sensiblen Kern der Leibeigenschaftsverfassung berührt, respektive die zentralen Komponenten frühneuzeitlicher Freiheitsanliegen Eigentumsrecht, Partnerwahl, Freizügigkeit326: die Untertanenverkäufe. Das Recht, mit Menschen Handel zu treiben, spielte und spielt eine prominente Rolle in der Anklage der Alten Ordnung,327 stellte es doch die eklatanteste Negation der Persönlichkeitsrechte der Untertanen dar, symbolisch wie praktisch.328 Während Gericht, Hauszucht und Ehekonsens als versteinerte Lehnsdelegate oder Policey-Funktionen interpretierbar waren, sich die Befugnisse der Gutsherren über den Gesindebesatz, in Fragen der Wirtschaftsorganisation und Lastenauferlegung als Ausfluss von Eigentumsrechten am Land verstehen ließen, scheint aus der privatrechtlichen Verfügungsgewalt über Menschen deren vollständige Objektivierung in Analogie zu antiken oder zeitgenössischen Sklavenhaltergesellschaften zu sprechen.329 Praktisch konnte die Veräus-

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326 Vgl. Blickle, LeibeigenschaftIMenschenrechte, S. 202 (wie Anm. 288). 327 Merkel, Die Letten, S. 11 ff.; Taterka, Anhang, S. 227 ff. 328 Im Zuge der Adaption römisch-rechtlicher Kategorien um 1600 waren die Hörigen als „servi" definiert worden (Malvess, Latviesu zemnieks, S. 46, 52f.), und noch im 18. Jahrhundert gab es Versuche, sie unter das Sachenrecht zu fassen (Sväbe, BrTvlaisanas Idejas, SA); gegen diese Analogisierung der Herrenrechte mit römischen Mustern dann Ziegenhorn, Staats Recht, §661, S. 290 [verdruckt als 278] f.

(1772). 329 Der Vergleich mit den „Negersklaven Amerikas" wurde bereits von Hupel gezogen (Wihksninsch, Aufklärung, S. 303), dann auch von Merkel, Die Letten, S. 74, 114, 129, mit der Pointe, dass es den Letten schlechter gehe; öffentliche Diskussion darüber: Pistohlkors, Argumentationen, S. 239. Beide Aufklärer hüteten sich freilich, anders als euphemistisch auf die innerrussischen Verhältnisse zu sprechen zu kommen; dazu nicht ohne Häme Neuschäffer, Unterschlagene Machtpolitik, S. 402,409 ff., 420 ff. Exemplarisch für Merkels rhetorisches Grundmuster, die ostseeprovinzialen Verhältnisse grundsätzlich für schlimmer als alles sonst Bekannte zu erklären: „Sklaverey ist freilich, wie Leibeigenheit, eine schreiende fürchterliche Grausamkeit, aber die erste verhält sich zur letzteren, wie die Erlegung des Feindes auf dem Schlachtfelde zum überlegten Brudermord." (Zt. nach Heeg, Merkel als Publizist, S. 116, Anm.) Zu diesem verbreiteten Muster und seinen Hintergründen vgl. Plath, Nichts Neues, S. 62ff.; Taterka, „Für den Geist", S. 353f. Zu den atlantischen Verhältnissen sowie für einen differenzierenden Überblick über die Geschichte der Sklaverei allgemein s. David Brion Davis, Inhuman Bondage. The Rise and Fall of Slavery in the New World, Oxford /New York 2006; instruk-

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serung eines Leibeigenen den schwersten Eingriff in seine Verhältnisse bedeuten, das Herausreißen aus sämtlichen Lebenszusammenhängen bis hin zur Trennung von Partner und Kindern. Doch liegt zur Realität des Leibeigenenverkaufs außer beschwichtigenden Aussagen von Zeitzeugen330 nur ein Aufsatz von Heinrihs Strods vor, der auf schmaler Quellenbasis zu einer Skandalisierung der Adelsherrschaft gelangt: In Kurland habe ein dem atlantischen ähnlicher Handel floriert, Untertanen seien wie Vieh verschachert worden.331 Die Auswertung einer größeren Zahl von Kaufverträgen, hier aus zwölf Familienarchiven,332 ergibt ein anderes Bild. Zwar lässt das Sample von 132 Abschlüssen für das 18. und frühe 19. Jahrhundert mit teilweise sehr unterschiedlichen Funddichten keine Rückschlüsse auf die Frequenz der Verkäufe relativ zur Bevölkerungszahl oder im Zeitverlauf zu, da der Quellenverlust nicht mehr zu bestimmen ist.333 Gleichwohl fällt die geringe Zahl der Verträge ins Auge. Denn die bisweilen ausufernden Prozesse und Nachforschungen in Streitfällen, die minutiösen Zusammenfassungen der Dokumente, die auch die erworbenen oder ererbten Rechte der Vorbesitzer an den veräußerten Personen nachweisen, bezeugen eine gewisse Sorgfalt im Umgang mit diesen Eigentumstiteln, und selbst eine Bereinigung der Gutsladen im 19. Jahrhundert und ihr oft abenteuerliches Schicksal in Rechnung gestellt, scheint die plausibelste Erklärung für die überschaubaren Spuren334, dass es einen schwunghaften Handel so nicht gegeben hat. Wohl weisen die weitgehende Uniformität im Aufbau der Kontrakte und die standardisierten juristischen Formeln darauf hin, dass Kauf und Verkauf von Menschen -

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Essay zur Spezifik: Jürgen Osterhammel, Sklaverei und die Zivilisation des Westens, München 2000. Fircks, Die Letten in Kurland, S. 45 f., spricht von wenigen, allgemein verachteten Einzelfällen; ähnlich Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 8; vgl. a. Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 29. Strods, Zemnieku pärdosana. Vgl. Anh. 2, Vorbemerkung. Eine Erwägung, die Strods, Zemnieku pärdosana, S. 18, nicht berücksichtigt, wenn er Verkaufsfrequenzen für die Familien Behr, Fircks und Altenbockum für tiver

330

331 332 333

das 17. und 18. Jahrhundert berechnet. In dem hier ausgewerteten Material zeichnet sich eine signifikante Entwicklung über die Zeit kaum ab, allenfalls lässt sich eine gewisse Parallelbewegung zu den wirtschaftlichen Konjunkturen überhaupt sowie ein Rückgang der Veräußerungen gegen Ende des 18. und v.a. im frühen 19. Jahrhundert erkennen: Anh. 2, Tabelle. 334 132 Verträge aus den Beständen von 12 teilweise weitverzweigten Familien über knapp 120 Jahre belegen weniger als einen Verkauf in zehn Jahren je Familie selbst ein Mehrdutzendfaches würde nicht hinreichen, einen alltäglichen Menschenhandel nachzuweisen. -

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ein regelmäßiger Vorgang waren. Zugleich rücken jedoch die häufig bis zu sechs zeichnenden Zeugen, die Möglichkeit der Korroboration und Ingrossation sowie der schiere Textumfang im Vergleich etwa zu Schuldzetteln über ähnliche Beträge diese Geschäfte eher in die Nähe von Immobiliartransaktionen als in die der Veräußerung von Vieh oder Gerät.335 Ähnlich lässt sich die einigen frühen Texten eingefügte Motivierung interpretieren, die dem zeitweiligen Usus bei Güterverkäufen entspricht.336 Die Gründe dafür im materiellen Wert des Vertragsgegenstandes zu suchen, überzeugt wenig, da sich Abschlüsse über zehn oder dreißig Taler oder die Donation eines fünfjährigen Jungen nicht von solchen über etliche hundert oder mehr Taler unterscheiden: Offenkundig veranlasste vielmehr die immaterielle Qualität des Abtritts von Herrenrechten den aufwendigen Rechtsakt. Als solcher war der Handel mit Leibeigenen ein übliches, regelhaftes Geschäft, und handelte es sich keineswegs um Einzelfälle, wie Fircks und Linten wollen337 um beiläufige Betriebsroutine jedoch ebensowenig. Analysiert man die Verträge eingehender, tritt zunächst zutage, dass der Verkauf eines Erbbauern mehr oder weniger selbstverständlich den seiner Familie einschloss, auch wenn dies nicht immer spezifiziert wurde. Das belegen diejenigen Kontrakte, aus denen die Anzahl der betroffenen Personen abzulesen ist, während der Titel nur über einen oder zwei „Erbbauern" beziehungsweise „Erbkerle" lautet.338 Bei etlichen der tradierten „Jungen" und „Mägde" mögen deren Eltern noch gelebt haben,339 doch waren sie in der Mehrzahl wohl volljährig oder „Aufzöglinge", zu Kost und Logis angenommene Arbeitskinder.340 Zudem nennen 19 Verträge einen engen Verwandtschaftsgrad der Kontrahierenden, etwa zwischen Eltern und Kindern, so dass das lebensweltliche Ausmaß der Veränderung für die Betroffenen uneindeutig bleibt, fallweise der -

335 Ausnahme, die die Regel bestätigt: LVVA 1100/1/84, p. 37 (1738). 336 LVVA 1100/5/20, p. 40: Verkäuferin sei „necessitirt", einen Erbjungen abzugeben, und habe den empfangenen Erlös „zu unserer erforderlichen Nothdurft employiret"; Geldnot als Motivierung in Güterkaufverträgen: Hahn, Litauische Briefladen, 1902, S. 167, Anm. 337 Wie Anm. 330. 338 Aus 80 höchstens in Frage kommenden 46 Fälle. 339 41 Jungen, 10 Mägde, ein Tausch Junge gegen Magd. Zeugnisse der Trennung von erwachsenen Geschwistern bzw. erwachsener Kinder von ihren Eltern finden sich allerdings bei Vergleichen über eine entflohene Familie: LVVA 1100/1/84, pp. 34f.; ebd. 12194, p. 26. 340 So LVVA 1100/1/84, pp. 38f; zum Aufzögling Hoheisel, Deutsche und Letten, S. 78; Klaustin, Aufzögling.

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Übernahme

zu den Hofesleuten entsprochen haben mag.341 Hingegen wurden praktisch keine Leibeigenen über die Grenze verkauft: 118 Fälle sind innerkurländisch, in acht Fällen wurden entlaufene Untertanen aus den nördlichen Nachbarprovinzen abgegolten, sechs Fälle sind unklar. Vor allem aber fand kein Handel en gros statt, wie etwa Merkel für Livland und implizit auch Kurland, vor allem aber Strods annimmt.342 Von den elf Verträgen, die über mehr als zwei Erbleute mit ihrem Anhang ausgestellt sind, lauten sechs zwar über die Menschen, werden aber deren Wohnsitze, Pflichten und Rechte an bestimmten Feldern und Heuschlägen u. ä. aufgelistet;343 das heißt, es fand offensichtlich keine Umsetzung statt, sondern wurden Rechte an Leuten auf Land abgetreten wenn auch im Sinne der Logik von Nutzungs- und Herrschaftsrechten die Wirte als Vertragsgegenstand eingesetzt. In zwei weiteren Fällen beträgt die angegebene Kopfzahl 14 beziehungsweise vier, doch handelte es sich dabei um (livländische) Läuflinge, deren rechtmäßiger Herr abgefunden wurde,344 so dass ein genuiner Verkauf ohne Land von -

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-

341 In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage nach dem Verhältnis langjähriger, oft spezialisierter Hofesleute zu ihren Herren einerseits, den Bauerschaften, aus denen sie stammten, andererseits. Wenn etwa die Witwe Manteuffel beim Konkurs über Eckengraf 1797 bat, da sie „sich ganz besonders an den Koch Jahne, den sie habe auslernen laßen, und das Hofes Mädchen Jule, die sie nach ihrer Hand gezogen und abgerichtet!,] gewöhnet hätte und nach ihnen sich sehnte", diese beiden behalten bzw. erwerben zu dürfen (LVVA 1100/9/65, pp. 49, 51; zur Häufigkeit solcher Behaltsklauseln bei Gutsübertragungen vgl. a. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 7), ist nicht ohne weiteres zu entscheiden, was den tieferen Einschnitt für die beiden Bedienten darstellte: das Herausreißen aus dem Gutszusammenhang oder das aus dem persönlichen Dienst- als einem besonderen Näheverhältnis und Status. Vgl.a. Meder, Strukturwandel, S. 43 f. 342 Strods, Zemnieku pärdosana, v.a. S. 21 („vairumtirdznieclba"), ohne allerdings die von ihm behaupteten zehn Fälle auszuweisen. Gleichfalls ohne Quellenangabe, zudem eine ähnliche rhetorischen Strategie wie schon Merkel verwendend, führt Stepermanis, Atbläzma, S. 27, zum Beleg massenhafter Verkäufe einen bereits zeitgenössisch skandalisierten und unterbundenen Fall an: 1790 versuchte Karl v. Sacken, eine größere Anzahl Leute unter die russischen Rekruten zu verkaufen, illegalerweise mehrheitlich Freie, und die Affäre flog noch in Riga auf. 343 LVVA 1100/1/84, p. 30; ebd./7/20, pp. 1 f.; ebd./13/962, pp. 61 f., 65; bzw. es handelte sich um Ergänzungsverträge zu Güterverkäufen über nicht erblich dort konsignierte Leute, die sich dem Verkäufer unterworfen hatten oder von ihm akquiriert und auf dem Gut angesetzt worden waren: ebd., p. 86; zwei weitere Fälle über einen bzw. zwei Wirte: ebd./4/44, pp. 81 f.; ebd./13/767, p. 8.; Tausch von Gesinden unter dem Titel der Wirte, um Streulagen zu bereinigen: ebd. 1554/311285, pp. 14ff, 40, 68; Verkauf von auf einer Pastorenwidme privat angesiedelten Bauern, um sie ansässig belassen zu können: ebd., pp. 55f. 344 LVVA 1100/1/84, pp. 49, 57f. Läuflingssachen waren vielfach umfangreich, da sie sich über Dekaden hinziehen konnten und dem rechtmäßigen Besitzer neben

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sieben Erbleuten sowie je ein Vertrag über vier und über drei Erbbauern

bleiben345. Schon unter dem quantitativen Aspekt wird man den kurländischen346 Menschenhandel kaum dem atlantischen oder innerrussischen Seite stellen können. Wo sich endlich Spuren einer Eigeninitiative der Erbleute finden, offenbart die nähere Lektüre der Kontrakte und ihrer Beilagen das Gegenteil dessen, was sie prima facie auszuweisen scheinen. Statt als Objekte leibherrschaftlicher Willkür treten die Untertanen als zweckmäßig agierende Subjekte auf. Etwa wurde bei Heiraten über die Gutsgrenzen hinweg die Bitte um Konsens mit-teils bereits vorverhandelten Kompensationen für den abgebenden Herrn durch den nutznießenden verbunden.347 Ein Wirt mochte ein Schema präsentieren, wie er mittels einer Verheiratung seines ältesten Sohnes mit einer Wirtswitwe im Nachbargut sowohl diesem eine Hofstelle sichern als auch seinen Zweitgeborenen „als seinen Nachfolger im [eigenen] Gesinde etablieren" könne; nach Überprüfung der gleichwertigen „Tüchtigkeit" eines in umgekehrter Richtung wechselnden Jungen erhielt die Sache dann zur

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dem

Flüchtling dessen gesamte Nachkommenschaft und erworbene Habe zustand:

ebd./13/1378, pp. 8, 34ff., 124ff. Bereinigung einer generationenalten Läuf-

lingssache durch gegenseitiges Aufrechnen und anschließende Formalisierung als Tausch: ebd./554/3/1285, pp. 69f; ähnlich: ebd. 1100/1/84, p. 23; ebd./4/44, pp. 37 f. 345 LVVA 1100/1/84, pp. 28, 75f.; ebd./13/279, pp. 77f. 346 Auch hier gilt gegen das Paradigma von den „drei Ostseeprovinzen", dass über die livländischen und estländischen Verhältnisse damit nichts gesagt ist. Als Indiz dafür, dass die aufklärerische Kritik weniger die Realitäten in den beiden nördlichen Territorien verzerrt wiedergab als mit der Projektion auf Kurland (Merkel, Die Letten, S. 14f., Anm.) fehlging, lässt sich der einzige mit Kurland unverbundene Fall in den durchgesehenen Beständen lesen, der zugleich den stärksten Ausreißer darstellt: Per Vertragsort Reval verkaufte J. H. v. Vietinghoff dem Leutnant Bengt Friedrich v. Rosen im März 1805 15 Familien „welche 30 männliche und 34 weibliche Seelen enthalten" zuzüglich deren Kinder für 3.650 Rbl. B.A. (LVVA 1100/14/614, pp. Iff.). In eine ähnliche Richtung deutet die negative Läuflingsbilanz Kurlands gegenüber Livland, die zu kontinuierlichen Spannungen zwischen den Landschaften führte: ebd./13/1269, pp. If; Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 236f.; vgl. a. Art. 1 der „Handlungs- und Grenzkonvention zwischen Ihro Kayserl. Majestät aller Reussen und Sr. Durchlaucht dem Herzoge und den Ständen derer Herzogthümer Kurland und Semgallen", gedr. Mitau 1783: HI 47 V 9-4; ediert: Keller /Oberländer, Kurland, S. 243 ff. Auch blieben in Kurland-von dem noch zu behandelnden Jahr 1794 abgesehen Unruhen von der Schwere aus, wie sie die Nachbargebiete erschütterten; dazu Stepermanis, Zemnieku nemieri; -

Zutis, Kauguru nemieri; Kahk, Bauer und Baron, S. 94ff., 108 ff. 14f., 23f., 43f., 76f; ebd./13/962, p. 64; ebd./13/1378,

347 LVVA 1100/2/96, pp. p. 72.

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die Form eines Untertanentauschs.348 Ausnahmsweise werden auch Ausbildungschancen oder Schutzsuche nach Fehlverhalten angeführt.349 Und gegebenenfalls schufen die Beherrschten vollendete Tatsachen. Die Konkurrenzsituation der Güter und das komplizierte Nachweis- und Extraditionsverfahren nutzend, erlangte mancher Läufling die Sanktionierung seiner Entscheidung: In rund einem Zehntel der Fälle stellt der Kaufvertrag explizit die Legalisierung einer Flucht unter Entschädigung des vormaligen Besitzers durch den neuen dar.350 Ähnlich ließen sich Ehe- und Abzugskonsense mittels einer Schwangerschaft erzwingen, wobei die Hilflosigkeit der Herrschaft gegenüber solchen Winkelzügen nicht ohne Komik ist.351 Schließlich bieten die Kontrakte einen Hinweis auf das Recht der Leibeigenen an ihrer fahrenden Habe: Wiederholt finden sich Erwähnungen oder Spezifizierungen des Besitzes der Erbleute, die tradiert wurden352 sie führten ihn offenkundig mit. Formaliter wechselte er aus dem Eigentum des einen in das des anderen Herrn, doch berührte das nicht die bäuerliche Verfügung. Die praxisnahe integrale Auffassung von der Arbeitskraft, ihren Arbeitsmitteln und häufig dem bearbeiteten Grund legte es auch nicht anders nahe. Über das Erbrecht an den Gesinden hingegen liefert der Quellentyp naturgemäß wenig Aufschluss, wie auch kompensationslos gewährte Konsense keine Folgerungen über abgeschlagene oder erzwungene Eheschließungen zulassen353. Stichpro-

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-

348 LVVA 1100/2/96, pp. 14f.; ebd. 554/3/1285, pp. 26ff.; ähnlich ebd., p. 67. 349 LVVA 1100/13/962, p. 95. Gegenbeispiel des heimlich vorbereiteten Transfers einer Magd „um alle Unruhe zu vermeiden": ebd./2/96, pp. 45f.; Vorkehrungen für den Fall eines „Rücklaufens": ebd./1 /84, pp. 55f. 350 Gewiss waren diese Fälle das eine, Hartnäckigkeit von Vorbesitzern oder Solidarität unter den Herren das andere: LVVA 1100/5/21, pp. 27f.; ebd./13/677, pp. 7f.; s. aber auch ebd./1378, pp. 41 ff., zur nicht minder hartnäckigen Weigerung, Läuflinge wieder herzugeben. Da die Untertanen als Zeugen gehört wurden, bot sich zudem Gelegenheit, die Aussage im Sinne der Betroffenen anzupassen: ebd., pp. 8, 41; ebd./2/94, pp. 27f.; ebd./95, p. 32. Wo einmal ganze .Läuflingskarrieren' rekapituliert werden, kommen mitunter recht mobile und erfolgreiche Biographien zutage: ebd., pp. 12f. 351 LVVA 1100/2/96, pp. 76f.; auch ebd. 2514/1/14, pp. If. 352 Beispiele: LVVA 1100/4/44, pp. 63f., 79f.; ebd./5/21, p. 8; ebd./20, pp. 58, 60; ebd./6/19, pp. 32, 36; ebd./13/1269, p. 8; ebd./1378, p. 12. Ähnliche Beobachtung schon bei Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 51 f. 353 LVVA 1100/2/96, pp. 23f., 43f.; Konsens zur Ehe mit einem Freien nur gegen dessen Unterwerfung: ebd., p. 13; vgl. a. Seraphim, Geschichte, S. 270; verbreitete Konsensverweigerung privater Gutsherren und entsprechende Abschließung seiner Güter durch den Herzog 1714: Diederichs, Diarium, S. 40; (erfolgloser) Kampf der Kirche gegen die „förmliche Schranke" zwischen adligem und herzoglichem Be-

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sippschaftliche Herrschaftsverband

ben für das frühe 19. Jahrhundert, die eine massive intergenerationelle Fluktuation zumindest auf einigen Gütern zeigen,354 stehen andere gegenüber, die eine relativ stabile Erbfolge belegen.355 Entsprechend verhält es sich mit der Interpretation privater Gutsrechte aus dem späten 18. Jahrhundert, die ein Erbrecht garantierten: Sie lassen sich so gut als Festschreibung von Gewohnheitsrecht lesen356 wie als bewusste Schutzmaßnahme angesichts einer verbreiteten Praxis arbiträrer Neuzuweisungen. Allerdings wird man auch hier, solange keine systematischen Forschungen vorliegen, der „Apologetik" einige Plausibilität zuerkennen müssen. Dem Sohn das Gesinde des Vaters zu verweigern, ergab schlicht keinen Sinn, solange jener sich nicht als untüchtig erwies, und passt auch kulturell allenfalls zu einer späteren Lockerung der statischzirkulären Weltauffassung.357 Generell scheint es zudem nicht abwegig, dass bereits vor den entsprechenden Festschreibungen bei einem fälligen Entzug die übrigen Wirte konsultiert und deren Rat sowie Moralgefühl in Rechnung gestellt wurden. Doch bleibt ohne langfristige, quantifizierende Untersuchungen auf breiter Basis jede Antwort Spekulation. Nichts von all dem ist geeignet, die Tatsachen eines radikalen Machtgefälles und der Unfreiheit aufzulösen. Wohl aber, dem Begriff der Herrschaft ein entviktimisierendes Verständnis der Beherrschten gegenüberzustellen. Die leibeigenen Untertanen waren in den zentralen Lebensfragen fremdem Willen oder Einverständnis unterworfen, dabei jedoch durchaus in der Lage, ihre Anliegen und ihr Rechtsempfinden zu vertreten und zumindest punktuell deren Anerkennung zu erreichen. Vor allem drei Faktoren bedingten die faktische Restriktion der Machtausübung: die Konkurrenz der Gutsbesitzer um die knappe Ressource Arbeitskraft sitz: Schaudinn, Deutsche Bildungsarbeit, S. 37. Die in den Amtsordnungen des späten 18. Jahrhunderts befohlenen Heiratserleichterungen innerhalb der Domänen als Hinweis auf eine „Zuchtwahl" zu lesen (Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 33), -

scheint, gelinde gesagt, fragwürdig. 354 Hoheisel/Wörster, Seelenrevisionslisten, S. 15: wie Anm. 304. 355 Seelenrevisionslisten Grendsen 1811 und 1815/16 (LVVA 630/1 /264, pp. 431 ff, 748ff.), Ziepelhof 1811, 1816, 1826, 1835 (ebd./801), Peterhof 1811 (ebd./510, pp. Iff), Apschuppen 1811, 1815/16, 1826, 1835 (ebd./37): Wo Söhne erkennbar sind, sonst auch Stief- oder Schwiegersöhne, übernehmen diese mit wenigen Ausnahmen die Gesinde. Vgl. a. Plakans/Vezerels, Patrilineärä genealogija, S. 30f., die zudem auf die Häufigkeit natürlicher Unterbrechungen des Erbgangs hinweisen. 356 So Sväbe, Kurzemes muizas tiestbas, S. 3 f.; Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 316. Näher zu den Gutsrechten unten, S. 181 ff. 357 Kahk, Bauer und Baron, S. 146, führt noch an, dass es in den relativ geschlossenen Gutsbezirken nicht immer leicht war, einen tüchtigen neuen Wirt zu finden.

98

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und ein grundsätzliches Interesse, die eigenen Leute zu (er)halten358; die mit der Schwäche der Staatsmacht als potentiellem Agenten einer Bauemschutzpolitik einhergehende Schwäche des Erzwingungsapparates; endlich die Bereitschaft und Fähigkeit der Untertanen, sich individuell oder kollektiv gegen Zumutungen zur Wehr zu setzen. Leibeigener Eigensinn mündete im konkreten Fall nicht notwendig im Erfolg, verursachte aber Kosten, die eine gewisse Berücksichtigung bäuerlicher Vorstellungen nahelegten. Dieser vorläufige Befund fügt sich in die angeführten jüngeren Forschungen zur Gutsherrschaft, die ein deutlich komplexeres Bild von den Beziehungen auf dem Land entwerfen, als die krude Eindeutigkeit der Rechtsquellen signalisiert.359 Nichtsdestoweniger, nach Recht und Selbstverständnis, in mancher Hinsicht auch realiter, waren die Gutsbesitzer nahezu allgewaltig: Herren. -

358

Gegen Übergriffe Dritter ohnehin: LVVA 1100/13/279, pp. 101 f. Grundsätzlich in Betracht zu ziehen wären noch Wohlwollen bzw. „humane Gesinnung", öffentliche Meinung und Ehrgefühl, doch ist das aus den herbeigenommenen Quellen weder zu erhärten noch zu widerlegen. Die hier gewählte strukturelle Argumentation ist mithin nicht als Präjudiz für die mentalitätengeschichtliche Frage zu verstehen wenn sie auch der Annahme folgt, dass der Historiker mit anthropologischem Pessimis-

mus gut beraten ist. 359 Wie Anm. 300.

"That clinking, clanking, clunking sound Is all that makes the world go round It makes the world go round"1

2

Die Praxis der Bereicherung

Am 1. März 1793 beendeten der Major und Ritter v. d. Ropp und sein Stiefbruder Sigismund Ferdinand einen alten Rechtsstreit. Der Major erkannte gegen Abfindung eine 1786 beim Seiburgischen Instanzgericht produzierte, vierzig Jahre zuvor ausgestellte Quittung über empfangene Erbteile als seinerseits gegeben an und verzichtete auf alle weiteren Forderungen. Da jedoch diese Quittung Ansprüche nicht nur des Majors, sondern auch seiner leiblichen Brüder wider den Stiefbruder erledigte, protestierte der Sohn eines dieser Brüder, Leutnant Johann Friedrich v. d. Ropp, gegen den Vergleich und bezweifelte die Echtheit der Quittung. Als der Notar, der den Vergleich beglaubigt hatte, daraufhin den Major v. d. Ropp ins Gebet nahm, gestand ihm dieser: dass die Quittung in der Tat eine Fälschung sei, er den darauf als Zeugen zeichnenden George Heinrich v. Plettenberg nie gekannt und noch weniger zum Zeugen bestellt habe, er das Papier aber auf „dringendes Anhalten" und „allerley Versprechungen" Sigismund Ferdinands sowie des Geheimen Rats v. d. Brincken hin dennoch anerkannt habe, „um sich aus seiner höchst dürftigen Lage zu retten". Nichtsdestoweniger, erklärte Ropp, wolle er den Vergleich deshalb nicht aufheben und nur seinen Brüdern alles Weitere überlassen; allerdings sei er bereit, an Eides statt zu erklären, dass die Erbteilsforderung nie befriedigt worden sei und er auch nichts dahingehend quittiert habe.2 Noch im nächsten Familienkreis hielten die Ropps einen Anspruch über ein halbes Jahrhundert aufrecht und griffen schließlich zu Fälschung, Erpressung, Meineid und sozialer Macht in Form „dringenden Anhaltens" des Geheimrats Brincken. Die Aufdeckung nötigte den Major und Ritter durchaus nicht zu reuigem Rücktritt von dem erschlichenen Geschäft, ebensowenig zeigte er Furcht vor strafrechtlicher Verfolgung, die hartnäckiges Leugnen nahegelegt hätte, und selbst, dass die Widerrufung seiner ersten -

1 2

Fred Ebb, Cabaret [Libretto, New York LVVA 1100/11/2, p. 15f.

1966], Nr. 7: „Money, Money, Money".

100

Das

Herzogtum

Aussage den Grund für die ausbezahlte Kompensation hinfällig machte,

scheint ihn nicht irritiert zu haben. Knapp zehn Jahre zuvor, während einer mehrjährigen Abwesenheit des Herzogs, hatte Otto Hermann v. d. Howen das eben erst zu seinen Gunsten allodifizierte3 Lehngut Neubergfried für den überhöhten Preis von 200000 Rth. alb. zurück an das Lehn verkauft.4 Weiterhin verschaffte er sich 1786 eine Oberratsstelle, indem er den Oberburggrafen v. Saß bewog, um seine Demission einzukommen, für eine jährliche Pension von 1000 Rth. alb., ein Lehngut auf Lebenszeit sowie die Überlassung des Gutes Masbutten, dessen Wert auf Grundlage des Arrendeanschlags 15 000 Rth. alb. ausmachte, zum Preis von 7 000.5 Dem widerstrebenden Kanzler v. Taube wurde die Zustimmung durch ein russischerseits beschafftes Urteil gegen ihn und zugunsten des livländischen Gutsbesitzers Schoultz-Ascheraden im Streitwert von 4000 Rth. alb. abgepresst, das anschließend wiederum aus dem Lehn erstattet wurde. Dafür erhielt der russische Gesandte Mestmacher arrendefrei die zum Witwensitz der Herzogin bestimmten Güter Bershof und Ziepelhof, die jährlich geschätzte 12000 Rth. alb. trugen. Etliche Gagen wurden erhöht, darunter die der Assessoren bei den Oberhauptmannsgerichten auf das Vierfache. Das weitere Publikum schließlich profitierte von der Umbildung, indem Forderungen in Höhe von insgesamt 380000 Talern zu Lasten des Herzogs gerichtlich anerkannt und ausbezahlt wurden, die Regierung zum Unterhalt vorgeblich hungernder Domänenbauern für knapp 55 000 Taler überteuertes Korn ankaufte und der Kanzleisekretär Jakob Wilhelm Rüdiger6 einen lebhaften Handel mit günstigen Arrendé kontrakten trieb. Als der Herzog 1787 zurückkam, war die Lehnsschuld von 73 300 Rth. alb. auf rund eine halbe Million getrieben und ein lau-

3 Vgl. unten, S. 135 f. 4 Auch zum Folgenden Crüse, Curland, Bd. 2, S. 192; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 203f.; Seraphim, Geschichte, S. 318f.; v.a. Etwas aus der Lebensgeschichte des Herrn von der Howen, Russ. Kaiserl. Geheimen Raths, ehemaligen Herz. Curländischen Über-Raths: LVVA 640 / 2 / 254, hier pp. 6 ff. Als Autor ist auf dem Deckblatt [Dietrich Ernst] v. Schoeppingk durch J[ohann] Ullrich] v. Grotthuß ersetzt, vermutlich fälschlich: s. Heinrich Diederichs' Einfügung bei Bilbassow, Vereinigung, S. 309, Anm.; vgl. aber auch Bilbassows Erörterung dort sowie Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 244f., Anm. 28. 5 Bei der Gelegenheit ließ Saß auch seine Söhne mit Arrenden ausstatten und eine mit 1 000 Rth. alb. dotierte Oberforstmeisterstelle für seinen Ältesten einrichten; zu Masbutten vgl. a. LVVA 640/4/92, pp. 150ff. 6 Zu ihm DBBL, S. 655: 1772 Aus Königsberg zugewandert, stand er über die Jahre im Dienst jeder nur denkbaren Partei, erwarb Vermögen, 1791 den Römischen Reichsadel und 1799 das Indigenat.

Die Praxis der

Bereicherung

101

fendes Defizit von jährlich 40000 verursacht. Peter Biron „atmete nur Rache"7 hätte es aber freilich besser wissen können. War ihm doch seinerzeit selbst die Gelegenheit willkommen gewesen, den abwesenden Wilhelm Ernst v. Grotthuß um dessen Besitz zu bringen,8 ganz wie Friedrich Frommhold v. d. Ropp die elterlichen Güter Baltensee, Sussey und Oknist in den Händen eines Stiefvaters und eines Onkels fand, als er 1779 aus russischen Diensten heimkehrte, und den erwähnten Kampf um sie begann.9 Von der Familie bis zur Polis, die letzten Dekaden des 18. Jahrhunderts beherrschte ein Geist der Gier, und wer unaufmerksam war oder sein Gut und Recht nicht anwesend verteidigen konnte, setzte es fremdem Zugriff aus. Die Zähigkeit und Unbedenklichkeit, mit der die Indigenen einander ihren Besitz streitig machten10 und den Herzog regelrecht ausplünderten, sind als „Chaos" und „Verwilderung" des Adels beschrieben worden." Aus analytischer Perspektive lässt sich eher von einer dynamisierten Konstellation sprechen, in der ältere und jüngere Ordnungsmuster einander überlappten: Der Ausbau der adelsrepublikanischen Verfassung während der herzoglosen Zeit und die russische Außensteuerungspolitik verbürgten einen dauerhaften Ständekonflikt, der wiederum Petersburg die fortwährende Option diskretionärer Einflussnahme sicherte; nach dem Übergang von wirtschaftlicher und militärischer Oppression zu einer Politik der Parteibildung und Schiedsintervention in den 1760er Jahren agierte das Imperium eher noch verstärkt als Macht-, nicht aber Ordnungsfaktor. Zugleich bestanden die integralen Strukturen fort und gab es insbesondere keine funktionale Differenzierung von Wirtschaft und Staat, öffentlichem und privatem Handeln. Vielmehr führte der von der Agrarkonjunktur ausgelöste Rush des letzten Jahrhundertdrittels erst -

7 Etwas aus der Lebensgeschichte..., LVVA640/2/254, p. 8. 8 Kurländische Güter-Chroniken N. F., S. 64f. 9 LVVA 1100/ll/2,p. 7. 10 Vgl. die reichlich überlieferten Rechtshändel in den Güter-Chroniken von Arbusow, Fircks und Klopmann, bspw. Klopmann, Güter-Chroniken, Bd. 2, S. 102ff; auch LVVA 1100/9/21, pp. 31 f. 11 Strohm, Kurländische Frage, S. 25, 208. Zur Erklärung diente der deutschbaltischen Historiographie bevorzugt der verderbliche Einfluss der polnischen Lehnsherrschaft, charakteristisch Brüggen, Beiträge, S. 417,433: Als „Herr und Vorbild" habe der polnische Adel „nicht Freiheit, sondern Anarchie" aufblühen lassen; ähnlich Eckardt, Ende, S. 376, 387: „Zügellos" und „stolz" und „selbstherrlich" sei der Adel im 18. Jahrhundert gewesen, erst ,,[d]ie nächsten Generationen des kurländischen Adels haben sich ungleich mannhafter und selbständiger gezeigt, als ihre angeblich selbständigen, aber durch Ränkesucht und durch das Beispiel Polens corrumpierten Väter."

102

Das

Herzogtum

einem Kampf um Abgrenzungen und Zugriffsrechte und gewann daraus noch weiter Dynamik. Währenddessen war das Ökonomische unmittelbar politisch, öffentliche Betätigung ein Wirtschaftszweig, das Eigentumsrecht voll ausgebildet, der Anstaltsstaat, es zu definieren und zu schützen, jedoch höchst rudimentär. Für die Landschaft bedeutete die Umstellung der russischen Politik das Ende einer jahrzehntelangen „fiskalischen und wirtschaftlichen Ausnahmesituation".12 Damit konnte der Preisaufschwung im Gefolge der anziehenden Getreidenachfrage auf den westeuropäischen Märkten voll durchschlagen,13 die Erträge der Güter stiegen und zogen die Bodenpreise nach.14 Binnen kurzem mündete die von dem exogenen Schock ausgelöste Belebung in hitzigem Gewinnstreben. Geld und Besitz zu erwerben, Reichtum zu akkumulieren, zu verteidigen, zu konsumieren, zu investieren oder zu verschwenden wurde ein Denken und Handeln der Akteure durchziehendes und zunehmend beherrschendes Motiv. Wie sehr auch ideelle Interessen15 sie Umtrieben, selten vergaßen sie deren materiellen Aspekt und finanzielle Nebenbedingungen. Kaum eine Beziehung, deren quellenmäßiger Niederschlag diese Dimension nicht aufweist, Konflikt, der nicht (auch) ein Verteilungskampf gewesen wäre, vom Nachbarschaftsstreit bis zur Staatsumwälzung. Denn Geld stellte gemünzte Lebenschancen dar. Es gab wenig, das Geld nicht kaufen konnte, und noch weniger umsonst: Güter und Dienstleistungen aller Art, Bildung, Ehren,16 Gehör und Fürsprache,17 Deputierten- oder Landzu

-

12 13

Strohm, Kurländische Frage, S. 362, 366. Strods, Klausu rente, S. 92f; ders., LauksaimniecTbas vêsture, S. 79f. Der für die

Entwicklung in Estland und Livland bedeutende russische Markt und Armeebedarf spielte in Kurland keine wesentliche Rolle. Bereits dieser Unterschied der Nachfragestruktur verbietet eine unbesehene Übertragung von Befunden zu den beiden russischen Provinzen auf Kurland. Weltmarkthintergrund, wenn auch mit stark dependenztheoretischer Interpretation: Kriedtke, Spätfeudalismus, S. 120ff, 141 (für Livland, d. h. hier aber offensichtlich Riga, über das der kurländische Export 14 15 16 17

wesentlich lief), v. a. die Tabelle auf S. 122. S.u., S. 118; Basis: Anh. 4. Begriff: Weber, Wirtschaftsethik, S. 252 f. Heyking, Letzte Tage, S. 226: Kammerherrenschlüssel und Geheimratstitel. Heyking, Letzte Tage, S. 216; Bericht des preußischen Residenten Karl Ludwig v. Hüttel 8.11.1792: Brüggen, Beiträge, S. 592.

103

Die Praxis der Bereicherung

botenstimmen,18 Gerichtsurteile,19 Regimenter,20 Frauen beziehungsweise (Ehe-) Männer,21 Adel,22 der wiederum ohne die materiellen Mittel, ihn

zu

leben, steril blieb, und

von

einer

Hemmung

oder

mangelnden

Auffassungsgabe diesem Sachverhalt gegenüber ist wenig oder nichts zu spüren. Dabei war das unbefangene Interesse am Materiellen kein Zug des Adels. Es trieb die Literati nicht weniger um,23 die Kaufleute sowieso. Nachrichten über den Preis neuer Hemden, Salärs, den Geldwert einer großen Dame durchziehen Hamanns Briefe von der Mitte des Jahrhunderts, und an dessen Ende machte Johann Philipp Hagen in seinen Memoiren seine Einkünfte, Außenstände und die Begräbniskosten eines Freundes öffentlich; Reiseberichte lieferten außer detaillierten Wirtshausrechnungen auch Informationen über die Ertragsstärke am Weg gelegener Pastorate oder das gemunkelte Bareinkommen von Privatpersonen.24 Genant in Bezug auf Geld wurden erst spätere Zeiten. Dmytro Pochylevyc' Einsicht: „The member of [the] szlachta from the 16th century was not a capitalist, but he brilliantly knew the power of money",25 trifft auch für die Mehrheit der Kurländer des 18. Jahrhunderts zu, nicht zuletzt die Indigenen. Als die Situation es hergab, blieben sie Gutsherren, behandelten Land und Leute aber zunehmend als Ressourcen, beschieden sich nicht mit der preisinduzierten Revenüenver18

19

20 21

22

23 24

Bericht Hütteis 19.4.1792: Brüggen, Beiträge, S. 524; ebd. passim; Heyking, Letzte Tage, S. 402; Schulz, Reise, S. 98. Etwas aus der Lebensgeschichte..., LVVA640/2/254, p. 7; Heyking, Lefzre Tage, S. 237; Schulz, Reise, S. 111, zur Oberherrschaft und Appellationsinstanz: ,,[I]n Polen ist kein Recht vorhanden, das nicht durch Geld untergraben werden könnte und nicht durch Geld aufrecht erhalten werden müßte." Heyking, Letzte Tage, S. 216. Außer Heiratskalkülen offizielle Mätressen: Hagen, Biographie, S. 116,122; Kvaskova, VestuleslBriefe, S. 27, 103f.; Frauen von Dritten: Recke, Journal, S. 117; 24 Freudenhäuser in Mitau um 1800: W...K, Lebensgeschichte, S. 124; alles auf mondänerem Niveau in Warschau: Schulz, Reise, v.a. S. 179ff. Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 202; Empörung über kostenlose Indigenatserteilungen an russische Würdenträger: Schwartz, Staatsschriften, Nr. 212, S. 329; gewerbsmäßiger Handel mit Wiener Patenten in Riga: Bruiningk, Das Geschlecht von Bruiningk,S. 18, 181. Vgl. die zahlreichen Beispiele bei Bosse, Einkünfte. Hamann, Briefwechsel, S. 10f., 14 („und beschrieb sie mir als eine Dame von 200000 Albertusthrl., von Verstand und Schönheit"), 61, 64, 73f, 76; Hagen, Biographie, S. 99f., 103, 176, 189; W...K, Lebensgeschichte, S. 97, 99, 123f, 133. Das einzige Thema, das mit des Geldes konkurrieren konnte und in ähnlicher Offenheit verhandelt wurde, war die fortwährende Beobachtung der eigenen

Körperfunktionen. 25 Zt. nach Kahk/Tarvel, Economic History, S. 49.

104

Das

Herzogtum

mehrung26,

sondern zeigten sich auf intensivierte Ausbeutung wie Extensivierung der Grundlagen bedacht. Allein je mehr zu gewinnen war, desto mehr war erforderlich, um relativ oben zu bleiben oder sich ein nacktes Auskommen, einen Alterssitz, Minimum an sozialer Achtung zu erhalten: Dürftigkeit, Knappheit und Armut blieben Realitäten auch während des Aufschwungs. Darüber entfaltete sich, begünstigt von der Erschütterung traditionaler Welthaltungen und Lockerung metaphysischer Bindungen im Zuge der Aufklärung, was dem Ancien Régime (nicht nur) in Kurland sein Gepräge gab: eine Praxis der undifferenzierten Bereicherang. Ihr folgten die Wirtschaft mit den Privatgütern wie die „politische Ökonomie" des Adels. -

2.1 Die Wirtschaft mit den

Privatgütern „Aus Edelleuten werden Handelsleute, aus Gutsbesitzern werden Güterpresser, aus Gutsregierern Güterhändler"}7

Als die Absatzmöglichkeiten nach den westlichen Märkten wuchsen,28 nahmen die kurländischen Gutsbesitzer die Chance zur Einkommensvermehrung ohne nennenswertes Zögern wahr, und der Marktimpuls setzte eine Dynamik in Gang, die bis in den Zusammenbruch der Märkte 1807/08 trug. Sich wechselseitig bedingend fielen dieser Prozess und die demographische Erholung von den Verheerungen des Nordischen Kriegs beziehungsweise der Pest zusammen,29 wenn auch die Expansi-

26 Der durchschnittliche Preis einer Last Roggen legte in Riga zwischen 1761 und 1805 um 135% zu: Strods, Lauksaimniecïbas vêsture, S. 80; vgl. a. Anh. 11. 27 Cruse, Curland, Bd. 1, S. 325. 28 Wie Anm. 13. Kahk/Tarvel, Economie History, S. 72, 78, betonen dagegen die Dominanz des Binnenmarktes und die Rolle der demographischen Erholung. Diese in der osteuropäischen Geschichte verbreitete Durchschnittswertbetrachtung übersieht mit dem Grenzprinzip das entscheidende Argument: Indem der Überseemarkt eine Nachfragesättigung unterband, ging dem Produktionsanreiz eine immanente Schranke ab. Es gab keine Menge, ab der der Erlös aus dem je letzten („marginalen") produzierten Lof Korn sank, während in Ermangelung eines Arbeitsmarktes die Faktorkosten (scheinbar) konstant blieben. Eben darin lag der Impuls, die Kräfte bis zum äußersten zu spannen, der letztlich dynamisierend wirkte. Näher unten, S. 107ff., v. a. S. 112. 29 Begünstigend wirkte das Ende der „kleinen Eiszeit", die Erwärmung des europäischen Klimas im 18. und 19. Jahrhundert: Strods, Klimat, S. 126. -

-

Die Praxis der

on

Bereicherung

im 18. Jahrhundert das Aussaatmaximum des

105

späten 17. nicht mehr

erreichte.30 Dabei standen dem einzelnen Gutsbesitzer grundsätzlich drei Wege offen, seine Einkünfte aus agrarischer Produktion zu steigern. Er konnte die Belastung der Gutsuntertanen erhöhen, bei weitgehender Beibehaltung der überkommenen Produktionsweisen; er konnte auf ertragreichere Produktionsweisen oder Produkte setzen; schließlich konnte er Land urbar machen oder besiedeltes Land zukaufen. Systematisch gesprochen: Intensivierung der extensiven Exploitation, Intensivierung der Produktion, Extensivierung.31 Alle drei Wege wurden beschritten, in stärkerem oder schwächerem Maße und mit unterschiedlichem Effekt.

Intensivierung der extensiven Exploitation Zunächst reagierten einige Gutsbesitzer mit Experimenten zur Anhebung der monetären Abgaben (bei gleichbleibenden Fronpflichten), die sie an den Marktchancen beteiligten, die Risiken aber weitgehend den Untertanen überließen. Da es sich jedoch als effizienter und gewinnträchtiger erwies, ging man bald zu einer Ausdehnung der Eigenwirtschaft über.32 Das fiel um so leichter, als infolge von Krieg und Pest etliche Gesinde wüst gefallen und dem Gutsland zugeschlagen worden waren. Bei dieser Verschiebung blieb es auch, nachdem die Bevölkerung wieder zu wachsen begonnen hatte,33 und zu Ende des Jahrhunderts betrug in der gut dokumentierten Oberhauptmannschaft Tuckum der durchschnittliche Anteil der Gutswirtschaften rund 40 % vom genutzten Land.34 Durch die damit einhergehende Ausweitung des „ordinären", vor allem aber des „extraordinären Gehorchs" („Leeziben/lieclbas") stieg die Belastung der Bauern das gesamte Jahrhundert hindurch.35 Gleichzeitig wurde der 30 BarzdeviCa, Gutswirtschaft, S. 136 f. 31 Die Begrifflichkeit scheint analytisch zweckdienlicher als die klassische Unterscheidung zwischen einer „extensiven" im Sinne einer v. a. auf bäuerlichen Abgaben beruhenden und einer „intensiven" auf Eigenwirtschaft und Veredelung basierten Gutswirtschaft, wie sie bspw. Strods, Saimnieclbu budzeti, S. 36f., verwendet. 32 Strods, Klausu rente, S. 93. 33 BarzdeviCa, Gutswirtschaft, S. 143. 34 Gemessen an der Aussaat: DoroSenko, Kto postavljal, S. 46; ders., Proizvodstvo zerna, S. 65. Auf größeren Gütern konnte das Hofesland das Bauernland auch übertreffen. In Livland lag die Quote hingegen bei rund 20%: ebd., S. 70. 35 Barzdevica, Gutswirtschaft, S. 143, 147 ff.; Strods, Klausu rente, S. 100; ders., Krona zemnieku klausas, S. 63ff, 77ff.; vgl. a. Kahk, Bauer und Baron, S. 41; Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 76 (auch zum Folgenden). Dass die Belastung ungewöhnlich hoch sogar im osteuropäischen/ostelbischen Rahmen war (DoroSenko,

106

Das

Herzogtum

Modus der Abschöpfung angepasst, mit gravierenden Konsequenzen für die Wirtschaftsorganisation namentlich infolge des Übergangs zum „Reeschensystem" und der Umwandlung verschiedener Natural- in Geldabgaben seit den 1770er Jahren. Das Reeschensystem stellte den ordinären Gehorch der Hand- und Spanndienste auf eigenverantwortete Bearbeitungspflichten an zugewiesenen Ackerstücken (Reeschen) um, analog verhielt es sich mit Heuschlägen, Holz- und Viehwirtschaft, der Flachsverspinnung. Die unter direkter Aufsicht des Gutes geleistete Arbeit geschah hingegen außer bei Ernte und Drusch weitgehend als extraordinärer Gehorch, in dem Gebäude errichtet, Gräben angelegt oder Rodungen geschlagen wurden.36 Mit der Zeit wurden dann zumal für Bautätigkeiten, aber auch das Drainagenziehen, gutsauswärtige, zumeist russische Lohnarbeiter angestellt. Der Grand dazu dürfte in der Ausweitung der Landwirtschaft und der relativen Knappheit der Hände zu suchen sein, auch in anspruchsvolleren Ausstattungen und neuen (Stein-) Bauweisen, die Spezialisierung oder zumindest Gewöhnung erforderten.37 Der relativen organisatorischen Selbständigkeit der Wirte entsprach die Monetarisierang von Naturalabgaben, später auch einiger zunächst als Reeschen eingeführter Verarbeitungspflichten:38 Die Bauern wurden verstärkt in das lokale Marktgeschehen eingebunden,39 die Herren konProizvodstvo zerna, S. 65), musste eine tragfähige Vergleichsberechnung erst noch zeigen. Synopse der einschlägigen Literatur zu Livland und Estland: Kahk, a. a. O., S. 38ff., 176 (Anm. 94). 36 Barzdevica, Gutswirtschaft, S. 149f; Strods, Klausu rente, S. 101; ders., Krona zemnieku klausas, S. 69 ff. Frühere Anwendung des Reeschensystems in Estland und Livland: Kahk, Bauer und Baron, S. 26. 37 Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 343; Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 19, 74f.; Brugis, Bornsmindes muiza, S. 34; vgl. a. LVVA 1100/9/96, p. 47; ebd. /13/279, p. 101 ; jährlich „viele Tausende" Russen, Polen und Litauer für praktisch alle grobe Tätigkeit außerhalb der gewöhnlichen Feldarbeit: Fircks, Die Letten in Kurland, S. 186 f. Vgl. abera. Kahk, Bauer und Baron, S. 47, zu wirtschaftli-

chen Vorteilen der Fron- gegenüber Lohnarbeit; Quelle zu „gemieteten Russen" als außerordentlichem Kostenposten: Kurland und seine Ritterschaft, S. 73. 38 Barzdevica, Gutswirtschaft, S. 147f., 150; Germanis, Agrargesetzgebung, S. 233; Strods, Klausu rente, S. 94. Eine Generation zuvor (1727) war bereits der adlige Rossdienst monetarisiert worden: Ziegenhorn, Staats Recht, § 355, S. 125. 39 DoroSenko, Proizvodstvo zerna, S. 70, 75, bzw. ders., Ktopostavljal, S. 50, berechnet für die Oberhauptmannschaft Tuckum um 1800, dass in besseren Jahren 5-10 % der bäuerlichen Eigenproduktion an Getreide auf den Markt gingen, es meist allerdings kaum zur Subsistenz reichte; ebd., S. 47 f., Kritik der deutlich höheren Zahlen bei Strods, Lauksaimnieclba Latvijâ, S. 206ff. Dazu kam freilich noch ein nicht unerheblicher Kleinhandel mit landwirtschaftlichen und landgewerblichen Produkten, v.a. aus Vieh- und Gartenwirtschaft, Fischerei, Wildfrevel, Bienenzucht,

Die Praxis der Bereicherung

107

zentrierten sich auf die Ausweitung der Gutsproduktion und Steigerung ihrer Barerlöse.40 Unter zunehmender Belastung der immer einseitiger als Arbeitskraft wahrgenommenen Untertanen begann der integrale Oikos sich auf das Prinzip vermittelter Tauschabhängigkeiten hin zu öffnen. In seinem Kern jedoch, dem Zugriffsmodus auf die Arbeitskraft, blieb das Prinzip Herrschaft unangetastet. Bei allem Vordringen geld-, finanz- und marktwirtschaftlicher Elemente hat deshalb Heinrihs Strods insistiert, von einem „Kapitalismus" könne keine Rede sein angesichts der strukturellen Abwesenheit von Lohnarbeit,41 oder besser: eines Arbeitsmarktes. Wie skeptisch immer man sich zu einer solchen Rigidität des Begriffs verhalten mag,42 will man die Dynamik auf einen Begriff bringen, wäre wohl in der Tat am ehesten von einer sich monetarisierenden Bereicherungswirtschaft zu sprechen.

Intensivierung und demographische Erholung waren die treibenden Kräfte hinter dieser Entwicklung. Während in Livland und Estland die Schnapsbrennerei für den russischen, insbesondere den nahegelegenen Petersburger Markt zur wesentlichen Erwerbsquelle der Güter wurde und im Zusammenhang damit die Ochsenmastung zunahm,43 verführten die Kurländer vor allem Getreide,44 aber auch Flachs und Leinsaat

Getreideexport

u.a.: Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 254, 344 ff; vgl. a. DoroSenko, Proizvodstvo zerna, S. 66: zunächst stärkere Diversifiziertheit der Bauernwirtschaften; auch Gërmanis, Agrargesetzgebung, S. 236; LVVA 1100/13/209, p. 30: Fischfang und Pökelung für den Markt (1771). Spuren von teils umfänglichen Geldbeziehungen unter den Leibeigenen finden sich reichlich, bspw. LVVA 1100/5/21, pp. 14ff.;ebd./13/1378,p. 108. 40 DoroSenko, Proizvodstvo zerna, S. 66, 68, passim; vgl. a. Hueck, Darstellung, S. 72, 110 (Livland). Die vermarktbaren Überschüsse schwankten um die Jahrhundertwende zwischen 20% und 60%: DoroSenko, a.a.O., S. 75. Wenn Dorosenko das Fazit zieht, damit sei die Wirtschaft noch wesentlich „feudal", nämlich „naturalwirtschaftlich" gewesen (ders., Kto postavljal, S. 50), stellt er das Kategorisie-

Hausgewerbe

rungsanliegen über die Prozessanalyse und kommt so zu einer den dynamisierenden Effekt des Marktanteils unterschätzenden Interpretation; vgl. a. Anm. 28. 41 Strods, SaimniecTbu budzeti, S. 40. 42 Vgl. Eley, Historicizing the Global, S. 164ff., für die jüngere Literatur zu Bedeutung unfreier Arbeit und insbesondere der atlantischen Sklaverei in kapitalistischen Produktionssystemen.

43 DoroSenko, Lifljandskij pomescik-predprinimatel'; Meder, Strukturwandel, S. 7 f. Die Brandrückstände gaben ein ideales Mastfutter ab. 44 Traditionell dominierte der Roggen, zumal als Wintergetreide; als wichtigstes Sommergetreide setzte sich gegen ihn und den Hafer in der zweiten Hälfte des 18. Jahr-

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ganz überwiegend unveredelt nach Westeuropa.45 In den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts stammten 20% der Gutserlöse aus dem Branntweinverkauf, 20 % aus Fleisch- und Milchprodukten, 45-65 % aus Getreide,46 wobei der Branntwein zu zwei Dritteln in den eigenen Krügen abgesetzt wurde, die Viehwirtschaft offensichtlich eher als wenig geliebte Nebenfolge der Düngeerfordernisse betrachtet.47 Diese Fixierung ergab sich im wesentlichen aus den natürlichen Bedingungen; die Nähe der Häfen und das Flusssystem, die Qualität des Bodens und das Klima legten die monokulturelle Konzentration nahe.48 Solange die Preise für Feldfrüchte stiegen, verhallten Aufrufe zur Diversifikation, speziell in Milchvieh und Schafzucht,49 ungehört bei erheblichen Einstiegskosten rentierten sie schlechter.50 Mit einer grundsätzlichen Investitionsscheu scheint das hingegen wenig zu tun gehabt zu haben. Zwar lässt sich eine systematische Budgetanalyse aufgrund der Quellenlage praktisch nicht anstellen,51 doch führt man die Indizien zusammen, ergibt sich das Bild einer durchaus vorhandenen Bereitschaft, Ressourcen in die Aussicht auf verbesserten Betrieb und zukünftige Erträge zu setzen. Etwa beklagte -

45

hunderts die Gerste durch: Dorosenko, Proizvodstvo zerna, S. 66; Barzdevica, Gutswirtschaft,?. 138. Dorosenko, Proizvodstvo zerna, S. 69f; ders., Kto postavljal, S. 44 f. Nennenswert waren noch Bälge, Butter, Fleisch und Speck sowie Wachs: ebd.; vollständige, jedoch nicht gewichtete Liste aller über Libau bzw. Windau aus- und eingeführten Produkte: Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 367 ff. Die von Ernst v. Derschau und Peter Ernst v. Keyserling nach Anleitung der Freien Ökonomischen Gesellschaft zu St. Petersburg verfasste Beschreibung der Provinz Kurland gibt einen minutiösen und in dieser (!) Hinsicht wohl realitätsnahen Überblick über den Stand der kurländischen Landwirtschaft um 1800 und deren jüngste Veränderungen: Bei aller adelsfreundlich-positiven Grundstimmung zeigen die Autoren sich durchaus kritikfreudig im Sinne möglicher Verbesserungen (anders als etwa Fircks); die nichtsdestoweniger ausgeprägte Ideologie des „Lokals", also Rechtfertigung von Traditionsverhaftungen unter Hinweis auf natürliche Besonderheiten, ist relativ leicht abzuscheiden. Kahk/Tarvel, Economie History, S. 83. In den Brand gingen 8-10 % der Getreideproduktion: Dorosenko, Proizvodstvo zerna, S. 70. Dorosenko, Proizvodstvo zerna, S. 70; Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 120; vgl. a. Hahn, In Gutshäusern, S. 168: „notwendiges Übel". Strods, Klimat, v. a. S. 127 f., 138 f. Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 314ff. Strod, Merinosovoe oveevodstvo, S. 380. Erst der Kornpreisverfall der 1820er Jahre führte dann zum Einstieg in die Merinowirtschaft: ebd. ff. Strods' These von einer Art agrarkapitalistischen Grundschule à l'anglaise (ebd., S. 378, 389), die sich allein dem trainierten Marxisten als solche offenbare, mutet allerdings ein wenig -

46 47 48 49 50

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kapriziös an. Vgl. a. Strods, Saimnieclbu budzeti, S. 36.

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Peter Birons Kanzleirat Raison521787 die zu Lasten des Herzogs durchgesetzten Minderungen der Arrendeanschläge für die fürstlichen Güter: „insonderheit, da die vorigen Arrendatoren der meisten dieser Ämter beträchtliche Meliorationen derselben erwiesen haben."53 Da es sich bei den Ämtern um relativ unsicheren Besitz handelte, lässt sich für die Privatgüter ein ähnliches Verhalten unterstellen. Verstreute Zeugnisse illustrieren, was das konkret meinte: das Ansetzen und die Erstausstattung neuer Gesinde, Landgewinnung und -Verbesserung, die Errichtung oder Modernisierung von Wirtschaftsgebäuden wobei allmählich Steinbauten die hölzernen ersetzten -, die Verbesserung der Öfen in den Riegen, um den Holzverbrauch und den Zeitaufwand beim Trocknen des Korns zu reduzieren. Brauerei und Brennerei wurden ausgeweitet, in dem Zusammenhang neue Krüge angelegt.54 So errichtete Carl v. Manteuffel55 zwischen 1795 und 1814 auf seinen Katzdangenschen Gütern „größtentheils gemauert" 29 Kleeten, Riegen, Ställe und Scheunen, drei Krüge, zwei Malz- und Brauhäuser, eine Brennerei mit Maststall, eine Getreideund eine Schmiedemühle, ein Tischler- und Böttcherhaus, ein Krankenhaus sowie vier herrschaftliche Wohnhäuser. Bezeichnend daran ist das Investitionsprofil: Manteuffel beschränkte sich nahezu ausschließlich auf das Kerngeschäft der Getreideproduktion und die dazugehörige Infrastruktur, außerdem wurde eine überschaubare Veredelungswirtschaft für den Gutsbedarf beziehungsweise lokalen Markt eingerichtet.56 In diesen Bereichen war man zur Ausweitung und Verbesserung des Kapitalstocks bereit, wie man auch neue Getreidesorten einführte.57 Ansonsten fand Diversifikation gegen Ende des Jahrhunderts experimentell, -

52 Er fungierte de facto als leitender Minister, vgl. DBBL, S. 605 f. 53 Raison an den herzoglichen Residenten in Warschau Carl v. Manteuffel 24.9.1787, LNB Rx 111 /1 /12, p. 9. Diese Anerkennung fast allgemein geleisteter Wertsteigerungen widersprach der taktisch motivierten Behauptung, die adligen Arrendatoren ließen die Ämter herunterkommen. Aber Raison meinte, freimütig schreiben zu können, da der Brief nicht mit offizieller Post ging, sondern den Räten Pantenius und Andreae anvertraut wurde: ebd. 54 LVVA 1100/6/19, p. 3; ebd./9/76, p. 51; LNB Rx 111 /1 /19, p. 22; Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 16; Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 290; Lejnasare, Razvitie, S. 352; BarzdeviCa, Gutswirtschaft, S. 140f. 55 Nicht zu verwechseln mit dem Warschauer Gesandten aus dem Haus Piaton, einem Cousin vierten Grades: GenHB, Bd. 1, S. 366, 369, 381 f. Außer der Namensvetternschaft verband beide Häuser, dass sie im Verfassungskonflikt der 1790er auf derselben Seite standen und einander mit Erbansprüchen belauerten: Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, pp. 44ff., 48. 56 Geschichte Katzdangens, LVVA 1100 / 9 / 76, pp. 50 f. Ein analoges Investitionsprofil weist ein Konkursinventar von Eckengraf 1797 aus, ebd. / 65, p. 46 f. 57 Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 285.

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teilweise aus Liebhaberei statt, auch für den eigenen Verbrauch kaum jedoch mit Blick auf den Markt. Selbst das chronische Unterangebot an frischem Obst und Gemüse rief keinen nennenswerten Verkaufsgartenbau hervor.58 Es blieb bei der exportorientierten Konzentration auf Getreide und in geringerem Maße Flachsprodukte. Am Verhältnis zu letzteren lässt sich die zugrundeliegende Logik beleuchten. Leinsaat wurde vollständig exportiert: „Da man hier keine Oel-Mühlen hat, so werden auch weiter keine Oel enthaltenden Sämereien gesäet. Oel wird hier von keinem Menschen gespeist, außer die ausländischen feinen Oelarten."59 Das klingt in der Tat nach „conspicuous consumption", kulturell bedingtem Prestigekonsum zulasten erwerbsgerichteter Investitionen. Man muss es allerdings im Zusammenhang lesen mit Derschaus und Keyserlings Plädoyer für einen Einstieg in die Schafzucht, die sich durchaus lohne, nicht zuletzt wertvollen Dünger liefere und nur aus tradiertem Vorurteil abgelehnt werde60 bei ihrer gleichzeitigen vehementen Ablehnung wollverarbeitender Fabriken: Diese würden der Landwirtschaft nur die allzu knappen Arbeitskräfte entziehen.61 In der agrarischen Einseitigkeit mag ein gewisses Maß starrer Herkommensverhaftung, möglicherweise auch schon frühe Adelsideologie enthalten sein. Der ökonomische Kern des Arguments ist aber, den Grenznutzen landwirtschaftlicher Massenproduktion für den Export höher zu veranschlagen als den aus einer importminimierenden Reallokation von Arbeitskraft beziehungsweise, dass die Alternativkosten einer solchen Reallokation in entgangenen Ausfuhrerlösen deren Nutzen überstiegen: Jedes weitere ausgeführte Lof Roggen und Leinsaat, gegebenenfalls Rohwolle, verhalf ceteris paribus zu mehr und besserem Öl (oder Tuch), als aus einer Verarbeitung zu gewinnen und zu vermarkten gewesen wäre. Unter den Bedingungen der Getreidekonjunktur erschienen arbeitsintensive Alternativen zur agrarischen Produktion im Vergleich unvorteilhaft, während ein arbeitsextensiver (Zu-) Erwerbszweig wie die Schafzucht eine sinnvolle Ergänzung darstellen mochte was, wie sich nach teuren Versuchen ergab, trog. Kein Widerspruch, eher eine Bestätigung dieser Annahme einer gewussten oder erfühlten Profitrationalität liegt in der Klage über teure -

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Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 310 ff. ; W...K, Lebensgeschichte, S. 124; Bernoulli, Reisen, S. 249f; Kahk/Tarvel, Economic History, S. 88. 59 Derschau/Keyserling, Beschreibung, S. 305. 60 Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 327. Eine präzise Musterkalkulation schließt sich an. 61 Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 326; ähnlich gegen „Fabriken und Manufakturen in einem zu weitem Umfange" überhaupt: ebd., S. 359. 58

Die Praxis der

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Importwaren und die unzulängliche Qualität inländischer Gebrauchsgüter, wie sie während des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts aufkam und vom Adel schließlich in den Vorwurf gemünzt wurde, die Stadtbürgerschaften kämen gleichsam ihrer ständischen Funktionspflicht nicht nach: dem Land eine florierende gewerbliche Produktion zu geben.62 Doch machte der land- und kapitalbesitzende Adel selbst zu keiner Zeit Anstalten, in diese städtische „Nahrung" einzubrechen während er durchaus Ambitionen im Handel entwickelte und zur kostengünstigen Deckung des eigenen Bedarfs eine unzünftige Landhandwerkerschaft förderte.63 Umgekehrt bemühten sich wohlhabende Literati und Kaufleute um Landbesitz und verteidigten letztere entschieden ihre Handelsmonopole. Verarbeitende Betriebe großen Stils hingegen legten auch die „Bürgerlichen" nicht an: Gegenüber Handel und Agrarproduktion lohnte -

der Aufwand nicht. Die Praxis der Akteure decouvriert die Rede vom Mangel an Fabriken als ständepolitische Rhetorik oder den zeitlosen Wunsch „to have the cake and eat it too": die lukrativen Branchen zu besetzen, die Vorteile einer kontinentalen Arbeitsteilung zu genießen, ohne deren Kosten zu akzeptieren die wachsende Arbeitskraft in der profitablen Landwirtschaft zu halten und durch ein gesamtwirtschaftliches Wunder günstige Konsumgüter entstehen zu sehen. Eine grundsätzliche Scheu des Adels vor gewerblichem Engagement lässt sich hingegen nicht nachweisen. Wo es sich doch lohnte, oder man das erwartete, ging er darauf ein: Um 1800 bestanden einige wenige protoindustrielle Unternehmungen,64 und ein Hermann v. Fircks musste sich keineswegs in stiller Teilhaberschaft verstecken, als er während der Agrarkrise 1811 sein Glück gemeinsam mit einem jüdischen Ratsherrn aus Hasenpoth in der Anlage einer Papiermühle v. Fircks & Euchel suchte (und damit scheiterte).65 Weniger kulturelle oder habituelle Bindungen als die Anreizstruktur der europäischen und globalen Arbeitsteilung im Zeitalter der „Industrious Revolution" bedingten die monokulturelle Intensivierung der extensiven Exploitation: Kurland war Agrarland und Rohstoffexporteur, weil die Eliten gut dabei fuhren. Das ist die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte besteht in der Wechsellogik von Herrschaft und Leibeigenschaft. Sie stellte das entscheidende Hemmnis für eine ausgreifende Intensivierung der Produktion dar, in-

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62 LVVA 640/4/85, p. 373. 63 Vgl. oben, S. 72. 64 Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 355 ff. 65 EvS,Bumaznye mel'nicy,S. 62. Zu Fircks BHO, S. 205, und GenHB, Bd. 1,S. 74;zu Euchel und den (politischen) Rechten der Juden in Piltens Hasenpoth Aleksejevna, Die Juden, S. 157.

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dem das System keine offensichtlich rationalisierbaren, das heißt Lohnkosten auswies. Die Leute unterhielten sich selbst, mussten höchstens in schlechten Jahren mit Vorschüssen versorgt werden.66 Doch diese Kosten waren als witterungsabhängige ,Kapitalpflege' nicht zu beeinflussen, also fix. Als Nebenbedingung kam hinzu, dass die Gutsbesitzer auf dem Exportmarkt Preisnehmer waren, während eine Nachfragesättigung auch in guten Jahren praktisch nicht eintrat: Sie konnten zum gegebenen Preis so viel oder so wenig absetzen, wie Boden, Leute und Wetter erlaubten. Die Konstellation gab einen Unterbietungswettbewerb so wenig her wie erkennbare Kostenspielräume beim Arbeitseinsatz. Dass, wie Derschau und Keyserling postulieren, eine vornehme Zurückhaltung gegenüber „weit ausgehenden mercantilischen Operationen, welche nur zu sehr auf die Kräfte des armen Landmannes berechnet sind,"67 das Wirtschaftsdenken restringiert hätte, überzeugt hingegen wenig. Unbefangen schildern sie den Effekt der neuen Riegenöfen: „Die Hitze ist in dem Grade stark, daß man nur wenige Minuten daselbst verweilen kann, ohne von dem Dampf erstickt zu werden, wenn man solchen Dunstkreis nicht gewohnt ist; doch der Bauer vermag es. Diese Hitze ist aber auch sehr nothwendig, um das Korn zu der erforderlichen Härte zu bringen."68 Mit Bedauern weisen die Autoren dagegen auf die erbärmlichen Lebensbedingungen der Leibeigenen hin; in den kaminlosen, niedrigen Hütten habe sich seit Beginn der Konjunktur kaum etwas getan,69 und, bezeichnender: Abhilfe von besonderen Beschwernissen wie dem Nachtdrusch könnten wohl Dreschmaschinen schaffen, wenn denn jemand die „wahre und große Menschenliebe" aufbrächte, Modelle zu entwickeln, „die allen Absichten entsprechen und nicht sehr kostbar sind."70 Kurz, nicht Skrupel, die genannten Strukturen wirkten: Eine Dreschmaschine etwa hätte eine Arbeitserleichterung bedeutet, jedoch weder eine Kostensenkung noch eine Produktionssteigerung, solange das Faktorbündel Land und Leute anderswo an seine Grenzen stieß. Im Nadelöhr der Trocknungszeiten hingegen verhieß mehr Hitze, das Korn mit größerer Sicherheit vor dem früh einsetzenden Regen in

66 Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 37; s. a. oben, S. 81, Anm. 282. 67 Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 264. 68 Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 290. 69 Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 254. Indirekt und eher widerwillig bestätigt dies als Regel auch Friedrich v. Fircks, Die Letten in Kurland, S. 144 f. Vgl. a. Balk, Auszüge, Bd. 1, S. 62 f. 70 Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 294 f.

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die Speicher beziehungsweise die Häfen zu bekommen,71 knapper werdendes Holz ließ sich sparen, die Brandgefahr mindern und größere, steinerne Riegen mit verbesserten Öfen wurden denn auch gebaut.72 Bodenmelioration durch mehrfaches Bearbeiten, Brand und vorübergehende Teichanlagen, aus denen sich zudem noch Fische gewinnen ließen, also nichtmonetäre Aufwendungen von leibeigener Mehrarbeit zur Ertragssteigerung wurden durchgesetzt.73 Ansonsten bewegte man sich nur allmählich und weniger aus wirtschaftlichem Interesse denn aus Forscherlust, Verbesserangssinn und gegebenenfalls auch Menschenfreundlichkeit, mithin langsam, tastend, bei allenfalls lockerem Anschluss an die Neuerungen der rationellen Landwirtschaft von dem über Generationen kaum modifizierten technischen Niveau fort und ließ die Bauern bis ins 19. Jahrhundert mit ihrem überkommenen, selbstgefertigten Gerät wirtschaften.74 In Abwesenheit eines Arbeitsmarktes ergaben weitergehende Rationalisierungsinvestitionen keinen Sinn. Die Allokationslogik der Leibeigenschaftordnung beungünstigte technische Innovation beziehungsweise den Import teurer ausländischer Technik, und es blieb bei der Extensivierang.75 Allein: Die innerökonomischen Gründe für technisches Verharren waren stark,76 aber nicht zwingend. Bessere Düngung, verbesserte Pflüge und Eggen, vor allem der Übergang von der Mehrfelderwirtschaft77 zu -

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Strods, Klimat, S. 131. Ein Nebeneffekt der Aushärtung war größere Haltbarkeit, die das baltische Korn begehrter, also teurer machte. Lejnasare, Razvitie, S. 352. Dreschmaschinen wurden erst interessant, als die ausgeweitete Produktion die Marktrealisierung des Getreides bis zum Ende der Schifffahrtssaison zum Problem werden ließ: ebd.; auch Strods, Nacalo, S. 296f. Lejnasare, Razvitie, S. 351; Barzdevica, Gutswirtschaft, S. 138f.; Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 18. Strods, Nacalo; Lejnasare, Razvitie, S. 350, passim. Bei Kahk/Tarvel, Economic History, S. 75, liest sich die partielle Verbesserung von Gerätschaften seit Mitte des 18. Jahrhunderts und vereinzelte Einführung von Dreschmaschinen zu dessen Ende dynamischer. Doch nehmen sie vielfach das Vereinzelte für strukturell und das Erörterte schon für halb ausgeführt. Ähnlich ist Germanis', Agrargesetzgebung, S. 245, Einwand gegen Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 20, zurückzuweisen: Dass man „doch auch schon" Scharpflüge gebrauchte, widerlegt nicht Hahns Annahme einer grundsätzlich technisch einfachen Wirtschaft mit Hakenpflug und hölzerner Egge. Vgl. a. Strods, Nacalo, S. 299. Auch fortschrittliche Landwirte andernorts hielten die Brache noch im zweiten Viertel des 19. Jahrhundert für die beste Vorbereitung von Roggenfeldern, während sie zu umgehen außerordentlich arbeitsintensiv war (Kahk, Some Aspects, S. 26) sich mithin eher nahelegte, wo der relativ knappe Faktor Land war, nicht Arbeitskraft. Allgemein üblich war bis ins 19. Jahrhundert ein Sechsfeldersystem, also eine elaboriertere Dreifelderwirtschaft: Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 300; vgl. -

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Fruchtfolgesystemen und Futterbau verhießen eine effizientere Nutzung der beiden wenn nicht als teuer, so doch als knapp erkannten Faktoren Arbeit und urbares Land, damit Ertragssteigerung respektive Ertragsstabilisierung. Angesichts der sonst so zupackenden Art des Adels, wo immer sich eine Chance zur Bereicherung bot,78 und einer durchaus gegebenen Bekanntschaft mit der landwirtschaftlichen Literatur der Zeit79 stellt sich die Frage nach Gründen außerhalb der Wirtschaftsratio im

engeren Sinn. Zunächst war da die anderweitige Verwendung der Mittel. Dorosenko hat festgestellt, der Löwenanteil der agrarischen Erlöse sei in „feudalen", also Prestigekonsum geflossen.80 Bis zu einem gewissen Grad stimmt das. Manteuffel baute außer den Wirtschaftsgebäuden eben vier Wohnhäuser, darunter das üppige Katzdangensche Schloss.81 Seit etwa 1770 entstanden anstelle der meist rustikalen, vielfach kaum verändert über Jahrhunderte erhaltenen Gutshöfe in vermehrter Zahl geräumige bis prächtige, auch großspurige Herrensitze, um sie herum Parks, Orangerien, in ihnen Salons und Bibliotheken.82 Der Lebensstandard stieg. Die Kleidung und Ausstattungen wurden üppiger, Moden in schnellerem Wechsel mitvollzogen, Auslandsreisen häufiger und ausgedehnter.83 Die Praxis der Bereicherung setzte nicht primär auf innerweltliche Askese, Anlage durch Konsumverzicht; diejenigen, die über das Kapital zu landwirtschaftlichen Investitionen verfügten, zogen vielfach seinen Verbrauch vor.84 Sie waren, bei allem Unterscheidungsvermögen zwischen guten und schlechten Renditen, keine Ökonomen und konnten es auch nicht sein, weil sich erst um die Jahrhundertwende ein gesellschaftliches -

Kahk, Krise, S. 43 ff., bzgl. Livlands und Estlands. Kurze Vegetationsperiode als Erschwernis, aber nicht grundsätzliches Hindernis: Kurland und seine Ritterschaft, a.

S. 89. 78 Die Erörterungen Derschaus und Keyserlings atmen ganz diesen Geist, bis hin zum Detail einer Aufstellung jagdbaren Wildes, die mit dem jeweiligen Marktwert v. a. der Bälge versehen ist: Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 349 ff. 79 Strods, Lauksaimnieclbas biedrlbu darblba; vgl. a. Kahk, Some Aspects, S. 19. 80 DoroSenko, Proizvodstvo zerna, S. 76; ähnlich Strods, Klausu rente, S. 95. 81 Zur alltagskulturellen Verfeinerung allgemein bspw. die Erinnerungen von Marie Baronin Freytag Löringhoff, LVVA 1100/9/71. 82 Überblick: Pirang, Herrenhaus, Bde. 1-2; Kurland und seine Ritterschaft, S. 78 ff. ; Beispiele: Brugis, Bornsmindes muiza, S. 33; Lancmanis, Kaucmindes muiza, S. 28. 83 W... k, Lebensgeschichte, S. 124: „Der Luxus ist hier unter allen Ständen sowohl in Kleidern als in Immobilien u. s. w. ausschweifend" (1786); Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 258ff; vgl. a. Meder, Strukturwandel, S. 16 ff., 40ff. 84 Was hier aus qualitativen Quellen geschlossen wird, bestätigt eines der wenigen erhaltenen, relativ späten Budgets (v. Hahn): Strods, Saimniectbu budzeti, S. 39f.

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Subsystem Ökonomie auszubilden begann. Lebenschancen wurden vielmehr im Ensemble ausgehandelt, und wesentlich an Orten, zu denen der Zutritt erheblichen Aufwand erforderte. Insofern greift die sektoral verengte Gegenüberstellung von Investition und Konsum zu kurz. Geld öffnete Türen, direkt, aber auch indirekt; für reich zu gelten war fast ebenso wichtig wie reich zu sein, und Prestigekonsum wies Reichtum aus.85 Weitläufigkeit, Sprach- und Länderkenntnis, in Muße erlesen oder auf Reisen erworben, Konnexionen und persönliche Bekanntschaften in der Mitauer, Warschauer, Berliner oder Petersburger Gesellschaft waren wertvolle Ressourcen.86 Die Hauslehrer und die vielfach stark in die Vermögensverhältnisse schlagenden Aufenthalte der Söhne an ausländischen Universitäten, die Grand Tour erweiterten außer deren Horizont ihre Zukunftschancen, aber auch der Eintritt in einen Armeedienst samt der aufstiegseröffnenden Teilnahme am gesellschaftlichen Leben setzte zunächst einmal Auslagen voraus.87 Da der Wettbewerb um Anerkennung und Bedürfnisbefriedigung sich über schwach differenzierte Lebens- und Tätigkeitskreise erstreckte, konnte ein verlustreicher Abend am Spieltisch eine renditestärkere (soziale) Investition darstellen88 als die Neuausstattung eines Bauerngesindes. Dessenungeachtet wird man vieles als reinen Lebensgenuss, habituelle Largesse, die adliges Selbstverständnis befriedigte, sich Hervortun oder Vergnügen um seiner selbst willen begreifen müssen, eben als Luxuskonsum, der zu Lasten der Investitionsquote in der Landbewirtschaftung ging.89 Vor allem jedoch lässt sich jenseits monetärer Kalküle und sozialer Strategien eine grundsätzliche Innovationsscheu im agrotechnischen Bereich beobachten, die aus den Machtverhältnissen auf den Gütern rührte. In landwirtschaftlichen Ratgebern vom Beginn des 19. Jahrhunderts -

85 Schulz, Reise, S. 115. 86 Karl v. Heyking etwa konnte, da er nach kostspieligen Aufenthalten in Warschau und Petersburg auf der oberen Ebene vernetzt war, nicht nur mehr erreichen als andere, sondern sparte auch Bestechungsgelder für die Subalternen: Heyking, Letzte Tage, S. 236f.; zum türöffnenden Effekt des in Ehrenzeichen und -stellen angelegten Kapitals in Warschau Schulz, Reise, S. 99. 87 Am estländischen Beispiel: Elias, Aufklärungsbedingte Wandlungen, S. 208; vgl. a. LVVA 1100/9/21, p. 10; ebd./18, pp. 16, 18f. 88 Recke, Journal, S. 100, 124 f. 89 Von einem ruinösen Statuskonsum, der die Einnahmen rücksichtslos den Ausgaben nachordnete, wird man dabei nicht sprechen können; derlei kam vor (bspw. Carl v. Korff: DBBL, S. 403), war aber von keiner „Figuration" erzwungenes Strukturelement, wie etwa Elias es in der (französischen) Höfischen Gesellschaft (S. 416ff.) auszumachen meinte. Eine Überlegung wert wäre es allerdings, die grösseren Häusern und hochgetriebene Kultur der Gastfreiheit als eine Investition in den zunehmend bedrohten Standeszusammenhalt aufzufassen.

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wurde mit Sorgfalt das Für und Wider ausländischer Scharpflüge abgewogen und letztlich beschieden, deren Einsatz „würde aber eine völlige Umänderung in den Arbeitsgeschäften veranlassen, welches aber nach der eingeführten Verfassung nicht leicht möglich ist."90 Denn die Gerätschaften waren zwar formal Eigentum der Herren, praktisch gleichwohl Anschaffung und Besitz der Wirte, bei denen zugleich die alltägliche Organisationshoheit lag, die das Reeschensystem noch akzentuierte. Indem die Durchsetzung von Scharpflügen und anderem schweren Gerät außer erheblichen Auslagen kräftigere als die unter den Bauern üblichen Pferde und eine entsprechende Viehwirtschaft erforderlich gemacht hätte, außerdem zusätzliche Schmieden, Anlernzeiten und Umstellungen in der Ackerpflege, implizierte sie eine massive Intervention in das organisatorische und soziale Gefüge der Gesindewirtschaften.91 Ähnlich wurde die Verbreitung des Kleebaus wesentlich dadurch aufgehalten, dass er, konsequent betrieben, eine vollständige Reorganisation der Mehrfelderwirtschaft zum regelrechten Fruchtwechsel und damit eine Anpassung der Fronmuster erforderte.92 Davor scheuten die Herren zurück. Sie kannten die Grenzen ihrer Macht, auch wenn sie sie bedauern mochten: Wiederholt finden sich Klagen, die Bauern seien notorisch neuerungsscheu und reagierten auf Umgestaltungen, die sich nicht aus ihrer Praxis entwickelten, abergläubisch und obstruktiv.93 Die Behauptung ist grundsätzlich plausibel; sie beschreibt einerseits eine Abwehrstrategie angesichts schlechter Erfahrungen, die die Leibeigenen mit herrschaftlichen Innovationen gemacht hatten,94 andererseits systemstatische Traditions- und Gerechtigkeitsvorstellungen frühneuzeitlicher bäuerlicher Gesellschaften, die Fundamentalveränderungen schwer tolerierten.95 Während das Reeschensystem eine Weiterentwicklung innerhalb der Fronverfassung darstellte, die die Eigenorganisation der Gesinde und die Autorität der Wirte eher noch stärkte, hätte eine forcierte technische 90 Friebe, Grundsätze, Bd. 4, S. 41; ähnlich Klapmeyer, Kleebau, Bd. 1, S. 206ff: Die Mecklenburgische Koppelwirtschaft sei gewiss vorteilhaft, aber nur durch Bauernlegen zu ermöglichen, also Menschenverlust die unausgesprochene, oder auch ungedachte, zugrundeliegende Unmöglichkeit war ein Übergang von der Leibeigenschaft zu freier Lohnarbeit. Allerdings ist er optimistischer, was den Kleebau -

anlangt.

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Friebe, Grundsätze, Bd. 4, S. 41; Lejnasare, Razvitie, S. 351; Lösungsvorschläge: Klapmeyer, Kleebau, Bd. 2, S. 187ff. Kahk, Bauer und Baron, S. 45. Meder, Strukturwandel, S. 11 ff, 21; vgl. a. Liebeskind, Rükerinnerungen, S. 20. Zur Instrumentalisierung des Aberglaubens bei der Abwehr neuer Lasten (Brennerei) in Livland vgl. Meder, Strukturwandel, S. 70. Kahk, Dreieck-System, S. 92. Vgl. a. ders., Der Bauer in der Literatur.

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Modernisierung von oben daran gerührt und ein ungleich größeres Konfliktpotential geborgen als das bloße Anziehen der Lasten bis zu einer je auszuhandelnden Grenze im Rahmen der tradierten Ordnung. Die Zeitgenossen gaben sich wenig Illusionen über den Nexus von Technologie und Sozialverfassung hin, und das Risiko solcher Eingriffe wirkte abschreckend.96 Die Option einer (technischen) Intensivierung der Landwirtschaft wurde durchaus erwogen, doch waren gegenüber ihrem Nutzen außer den materiellen Aufwendungen unkalkulierbare soziale Kosten zu berücksichtigen, trat neben die geschilderte Anreizstruktur die Limitierung der Penetrationsmacht nicht zuletzt war es die Schwäche der anstaltlichen Staatsgewalt und des hoheitlichen Erzwingungsapparats, die die Herren in ihren Gestaltungsmöglichkeiten auf das begrenzte, was sich mit elementaren Vorstellungen ihrer Untertanen vereinbaren ließ, diese grundsätzlich zu akzeptieren bereit waren. Eine Peitsche, ein Pranger und eine Handvoll Buschwächter machten eben -

noch keine Armee.97 So beschränkte man sich auf die intensivierte Abschöpfung einer extensivierten Wirtschaft in weitgehend traditionaler Form zumal die Erträge als nicht unbefriedigend wahrgenommen wurden. Derschau und Keyserling verteidigten den vergleichsweise primitiven Hakenpflug: „Indessen rechtfertigt denselben unsre reichliche Erndte."98 Seine eigentliche Form gewann der „Sturm und Drang des feudalen Unternehmertums"99 in Kurland vielmehr auf dem dritten der genannten Wege, die individuellen Bodeneinkünfte zu steigern: dem der Besitzausweitung, und im Gefolge dessen der Güterspekulation. Sie wurde das Feld erheblicher Auslagen in Erwartung zukünftigen Mehrwerts, der schnell zu realisieren und, wie es scheinen mochte, nicht mit den strukturellen Risiken technischer Experimente belastet war. -

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ZumZusammenhang von technischem WandelundAgrarverfassung vgl. a.LEiNASARE, Razvitie, S. 355. Im benachbarten Livland hatte Veränderungspolitik, auch wo sie zum Nutzen der Untertanen gedacht war, zu Unruhen geführt und jeglichem Beharren das Argument an die Hand gegeben, ,,[k]einer liebt Neuerungen weniger als unser Bauer...": Bienemann, Tobiens .Agrargesetzgebung', S. 232. Zur aus der Erfahrung der Nachbarn motivierten Vorsicht der Kurländer LVVA 7363/3/363, p. 2; verhalten optimistischer Fircks, Die Letten in Kurland, S. 83: Ähnlich „dem gemeinen Manne Deutschlands" könne hartnäckige Anleitung den Bauern überzeu-

gen, von den Gewohnheiten der Väter zu lassen. 97 Zu den resultierenden Grenzen herrschaftlicher S. 88 ff. 98 Derschau / Keyserling, Beschreibung, S. 274. 99 DoroSenko, Proizvodstvo zerna, S. 73.

Durchsetzungsmacht vgl. oben,

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Extensivierung An einem Sample von gut hundert Gütern100 lässt sich ein beschleunigter Besitzwechsel seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts beobachten, der nach 1785 noch einmal drastisch anzog und seinen Höhepunkt um 1800 erreichte: von 11 Veräußerungen in der Dekade 1746/55 auf ein erstes Maximum von 21 (1766/75) und schließlich 41 (1796/1805).101 Zugleich steigerte sich das aggregierte Volumen der Transaktionen von rund 140000 Rth. alb. (1746/55) über 530000 (1766/75) auf 1 525000 Rth. alb. (1796/1805); die sich ergebenden durchschnittlichen Kaufpreise wuchsen von knapp 13000 Rth. alb. über knapp 22000 auf gut 40000 Rth. alb., gar auf 45000, legt man die Dekade 1801 /10 zugrunde.102 Diese Preissteigerung reflektierte den mit der demographischen und konjunkturellen Expansion wachsenden Ertragswert der Güter sowie einen schwer zu quantifizierenden, dabei klaren inflationären Trend.103 Doch drückt sich in der Verdreifachung der Preise bei einer Verzehnfachung des Umschlagsvolumens und zuletzt je einem Besitzwechsel auf drei erfasste Güter104 auch ein spekulatives Moment aus. Güter wurden erworben in der Hoffnung nicht nur auf Produktionserträge, sondern auch auf eine von eben dieser Hoffnung gespeiste Wertsteigerung und einen profitablen Wiederverkauf. Es entstand eine Blase. Dass sie maßgeblich kreditgetrieben war, weist die der Transaktionsrate und ihrem Einbruch infolge von Kontinentalsperre und Agrarpreisverfall gegenzyklische Konkursrate105 aus. Dabei verteilen sich die insgesamt rund 175 vermerkten Besitzwechsel zwischen 1745 und 1810 höchst ungleichmäßig auf die einzelnen Güter. Einige wurden nur ein- oder zweimal, andere ein halbes Dutzend Mal und mehr verkauft;106 zwölf Güter wiederum verließen den Erbgang überhaupt nie: Manche Ländereien gerieten, einmal veräußert, 100 Anh. 4; dort auch zum Zustandekommen des Samples. 101 Differenziert man nach Verkäufen und Erbverpfändungen, so machten letztere seit ca. 1780 mehr oder weniger durchgängig ein Viertel der Abschlüsse aus. 102 Abweichungen gegenüber einer Division der vorgenannten Werte ergeben sich daraus, dass nicht für alle aufgenommenen Transaktionen brauchbare Preisangaben vorliegen, die Durchschnittspreisberechnung also auf leicht modifizierten Zahlen beruht. 103 Bosse, Einkünfte, S. 540; ohne eine auf das adlige Ausgabenverhalten zugeschnittene Warenkorbanalyse ist über die Entwicklung des Geldwertes und seine Bedeutung keine weiterreichende Aussage möglich. 104 Überschlagsweise, vgl. die Erläuterungen zu Anh. 4. 105 Anh. 4, v. a. Diagr. A und C. 106 Berghoff im Kirchspiel Baldohn etwa, Brotzen, Bundsenberg, Dannenthal, Doben, Eckengraf oder Klein-Drogen.

119

Die Praxis der Bereicherung

in den Marktkreislauf, während andere als Familien(be)sitz nach Möglichkeit gehalten wurden. In der Tendenz waren es was angesichts der erforderlichen Liquidität naheliegt eher kleinere Güter, die mobilisiert wurden, aber keineswegs ausschließlich. Der Dynamisierung korrespondierte denn auch ein verstärktes Sicherungsbestreben. Waren vor 1740 in ganz Kurland gerade einmal fünf Güter fideikommissarisch gebunden, kamen bis 1750 zwölf hinzu und von da an durchschnittlich vier in jeder Dekade, mit einem zweiten Höhepunkt von zehn Stiftungen in den 1790ern, so dass um 1830 immerhin 60 von 460 Privatgütern dem freien Verkehr rechtlich entzogen waren. Unterdes zogen die durchschnittlichen Antrittssummen im Gegensatz zu der der Transaktionskurve vorauseilenden Sicherungsfrequenz erst mit einiger Verspätung den Marktpreisen nach und erreichten nie deren Aufblähung.107 Das heißt, die Indigenen stiegen in das Geschäft mit dem Grund als Ware ein, wo sich die Möglichkeit bot, und handelten zugleich stabilisierend im Sinne des Familienbesitzes. Sie agierten auf ein- und demselben Markt differenzierend nach Maßgabe zweier Einstellungen zum Land, die durchaus harmonisch kombinierbar waren: Gutsbesitz war stets Revenüenträger, Herrschafts- und Wohnsitz, familialer Selbstvergewisserungsort zugleich oder nebeneinander gewesen, und er verlor keine dieser (potentiellen) Qualitäten in dem Moment, in dem eine weitere hinzutrat, die des -

-

Spekulationsobjekts.108

Bemerkenswert ist schließlich, dass die Mobilisierung des Bodens keiner signifikanten ständischen Öffnung der (Privat-) Gutsbesitzerschaft führte. Das Sample weist die ersten Erbverpfändungen aus indigener Hand an nichtindigene Kurländer seit den 1720ern erst für das Jahr 1790 aus. Dann kam es zwar zu 14 derartigen Geschäften bis 1810 und noch einmal 17 in den unruhigen Jahren 1810 bis 1840-auf den ersten Blick eine nicht unerhebliche Quote bei rund 80 beziehungsweise 70 Veräußerungen insgesamt. Doch handelte es sich mit wenigen Ausnahmen um kleinere Güter und gingen in etwa denselben Zeiträumen acht beziehungsweise sieben Güter den umgekehrten Weg zurück in adligen Besitz. Das heißt, einigen nichtindigenen Kurländern, Kaufleuten und Advokaten zumeist, in geringfügigeren Fällen auch Klerikern, gelang es, dem Exklusivrecht des Adels zum Trotz von der Entwicklung zu zu

107 Anh. 5. Vgl. a. oben, S. 80, Anm. 275. 108 Dem ersten Eindruck nach handelte es sich dabei um individuelle Entscheidungen und Kombinationen; eine Überprüfung auf mögliche Muster etwa im Sinne familialer Strategien oder spezifischer Akteursprofile wäre ein reizvoller Gegenstand für eine SpezialUntersuchung.

120

Das

Herzogtum

strukturelle Relevanz wie im preußischen Osten109 erlangte das Phänomen jedoch nicht.110 Indes belebte die Spekulation ein komplementäres Feld adliger Bereicherung: Finanzgeschäfte. Das rapide Anziehen des Güterhandels, des Geld- und Warenverkehrs überhaupt, sowie die allmählich einsetzende Überhitzung eröffneten den besitzlichen Indigenen zusätzliche Anlagemöglichkeiten für ihre aus den Gütern fließenden Einkünfte; die große Menge der in den Familienfonds enthaltenen Schuldverschreibungen zeugt davon.1" Sie sind allerdings schwer systematisch auszuwerten. Eine um so wertvollere Quelle für die Struktur und Folgen des Kreditgeschäfts stellt das „Taschenbuch" Adolph von Hahns dar, bei seinem Tod einer des reichsten Männer Kurlands, in dem er von 1778 bis 1818 seine Finanzverbindungen dokumentierte.1'2 Die Aufzeichnungen weisen einen Anstieg der Außenstände von einigen tausend Talern um 1780 auf ca. 400000 Rth. alb. in der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts aus, bei einer im Trend positiven, aber erheblich schwächeren Entwicklung des Schuldenstandes. Per Saldo wuchs Hahn aus einer Anfangsverschuldung von rund 7 500 Rth. alb. in eine Nettogläubigerposition von zuletzt knapp 350000 Rth. alb. Beide Konten stiegen um 1810 deutlich an, dann folgte ein massiver Schuldenabbau(von 144 350 Rth. alb. 1810 auf 48 903 Rth. alb. 1818), der auch den vorübergehenden Rückgang der Außenstände überkompensierte: Hahn konnte während des Marktverfalls sein Nettofinanz vermögen um über 100000 Rth. alb. (40%) steigern. Dabei waren seine Kreditoren zum überwiegenden Teil andere Indigene seine Debitoren praktisch ausschließlich. Das Hahnsche Budget belegt die These, dass der Indigenatsadel vor allem untereinander verschuldet war."3 Selbst wenn man nun

profitieren

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109 Neugebauer, Politischer Wandel, v.a. Teil 2; zusammengefasst in ders., Standschaft, S. 41 ff. 110 Vgl. a. unten, S. 313 ff. Ein gewisses Potential dazu war vorhanden, wie die politischen Abwehrbestrebungen des Adels gegen ein nichtindigenes Güterbesitzrecht und die Unterhöhlung des Monopols per Erbpfandverschreibung zeigen. Dennoch weist angesichts der Behauptungserfolge des Adels selbst Neugebauers, Standschaft, S. 42f., äußerst vorsichtige Annäherung des kurländischen an den ostpreussischen Fall in die falsche Richtung. 111 LVVA 1100/1-14, dort die Faszikel zu ökonomischen Zuständen und Korre-

spondenzen. 112 LNB Rx 100 K/5/50 Anh. 8.

113

(Abschrift Fred

v.

Hahns 1927);

zum

Folgenden vgl.

Vgl. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 135; auch Ausleihungen an (!) die Großkaufleute v. a. Rigas: Fircks, Ueber Hülfs-Leihbanken, S. 6; anders in Livland: Hueck, Darstellung, S. 111 f.

121

Die Praxis der Bereicherung

verwandtschaftliche und ähnliche Aushilfen in Rechnung stellt, musste das im Laufe der Zeit, und in der Krise zumal, durch Zinszahlungen oder den schließlichen Verkauf von Ländereien zur Befriedigung der Gläubiger, nicht zuletzt in von diesen angestrengten Konkursen, zu einer fühlbaren Binnenstratifizierang des Standes führen. Fügt man der Entwicklung des Hahnschen Finanzvermögens den Zukauf von Gütern im Wert der Einstiegspreise hinzu, erhöht sich der Zuwachs denn auch Barum knapp 200000 auf insgesamt annähernd 550000 Rth. alb."4 nicht Auf diesen und Konvermögen gerechnet. anderweitige Anlagen zentrationsprozess wird zurückzukommen sein. Die Finanzgeschäfte fügen sich in das Bild, das die Bewirtschaftung der Güter und der Handel mit ihnen bieten: Die notwendige Bedingung des Bevölkerungswachstums und die hinreichende des exogenen Marktimpulses boten den Adligen Chancen zu beachtlichen Einkommenssteigerangen, und indem sie diese offensiv nutzten, baute sich ein Potential struktureller Veränderung auf. Doch blieb die entstehende Dynamik während des 18. Jahrhunderts weitgehend innerhalb der alten Ordnung, füllte sie zwar spürbar mit Druck, sprengte sie aber nicht. Aus Kreditgebern wurden keine Bankiers, aus Gutsherren keine Landwirte; Verbesserungs- und Belastungsspielräume innerhalb der Leibeigenschaftsverfassung und ihrer Wirtschaftsmuster wurden ausgeschöpft, Lohnarbeiter ergänzend herangezogen, aber beides ließ den Kern unangetastet. Die Gründe dafür sind in dem bestehenden System von Anreizen und Restriktionen zu suchen, auch darin, dass zumindest in der Wirtschaftspraxis von der Idee historischen Wandels, von „Entwicklung" noch wenig zu spüren war, schließlich und damit zusammenhängend in einer Auffassung von Adligkeit, das Herrschaft unbedingt mitmeinte, Herrschaft über Land und Leute wie ständische Herrschaft(steilhabe) im Gemeinwesen. Das fortbestehende integrale Selbstverständnis und die schwache Differenzierung sozialer Rollen und Institutionen lässt retrospektive Unterscheidungen nach „privat" und „öffentlich", „Investition" und „Konsum", „politisch" und „ökonomisch" weitgehend fehllaufen. Dem korrespondierte, dass für die Praxis der Bereicherung auch die eingangs erwähnten Übergriffe auf fremden Besitz regelrecht konsumtiv waren. „Pretensionen" wurden auf alles und jedes erhoben, mit-

tels umstrittener Schuldforderangen oder diffiziler Erbverbindungen auf Land und Barvermögen, in Form von usurpierten Nutzungsrechten 114

Wertschwankungen, Meliorationen, Bauten etc. müssen hier außer acht bleiben, da die Quelle sie nicht hergibt; ebensowenig ist der erhebliche Grundbesitz, den Hahn erbte, zu Geldwert ansetzbar es geht allein um den Trend im Sinne des Arguments.

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122

Das

Herzogtum

nachbarlichen Grund, auf Leute, die als entlaufen reklamiert oder vorenthalten wurden. Auslieferungsprozesse, namentlich mit Gutsbesitzern aus den Nachbarterritorien, wurden verschleppt, Zinsen nicht oder nicht pünktlich gezahlt, Pachten und Pastorendeputate nicht angewiesen, Rechnungen nicht anerkannt, Kontrakte nicht eingehalten;"5 das meiste geschah formal rechtlich, doch kam es in den Prozessen auch zu Aktenraub, Urteilskauf oder Fälschung und Betrug; Richter und Amtsträger wirtschafteten in die eigene Tasche zu Lasten des Publikums, vor allem aber des Herzogs der selbst Quittungen zu erschleichen suchte und dessen jüngerer Bruder Karl zeitweilig wegen Wechselfälscherei und bandenmäßigen Taschendiebstahls in der Bastille einsaß."6 Gier, Unbedenklichkeit, schiere Not oder Sorge um den Statuserhalt ließen in einem aufgeheizten Klima des schnellen Zugreifens zahlreiche Akteure nicht sonderlich delikat in der Wahl ihrer Mittel sein. Das ist zunächst ein soziokultureller Befund. Auf dem genannten strukturellen Hintergrund jedoch wurde die Sache verfassungsrelevant. Neben die Dynamisierung der Wirtschaft mit den Privatgütern, mit ihr verwoben und sie dramatisch überblendend, trat, was sich in mäßiger Verballhornung des Begriffs die „politische Ökonomie" des Adels nennen lässt117 und worin die Praxis der Bereicherung ihre unmittelbare Sprengkraft entfaltete: der Kampf um die Ressourcen des Herzogs. am

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Vgl. die Faszikel zu wirtschaftlichen Zuständen bzw. Korrespondenzen der Familienbestände LVVA 1100/1-14; die hier aufgeführten Beispiele: ebd. 19118, pp. 22, 26,28,31;ebd./60, p. 48; ebd./76, pp. 35ff.;ebd./13/209, p. 30; außerdem die Bestände Güterverwaltung des Herzoglichen Archivs, LVVA 554/3, hier ebd./1179, p. 97: 1763 überstieg die Summe ausstehender die gezahlter Domänenpachten um 75 %; vgl. a. die Depesche Rückmanns 9./20.5.1794, LNB Rx 111 /1 /19, pp. 68ff. Läuflingssachen in denselben Fonds des LVVA, Beispiele: ebd./554/3/1285, pp. 40ff., 69; ebd. 1100/1 /84, p. 46; ebd./2/94, pp. 29ff., 36ff.; ebd./95, pp. 1 ff.; ebd./13/1269, pp. 1 f.; s. a. Hagen, Biographie, S. 171, 189f. (Zahlungsverfehlung des Herzogs); LNB Rx 111/1/13, pp. 2ff. (Erbstreit Brincken); ebd., pp. 24, 38 (Witten gegen den Herzog um Grünhof); Dauerthema Nachbarschaftsstreit und Prellerei: Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, pp. 35ff. 116 Strohm, Kurländische Frage, S. 208; LVVA 5759/2/1337, pp. 12f; Etwas aus der Lebensgeschichte..., ebd. 640/2/254, pp. 17ff.; Heyking, Letzte Tage, S. 197f.; Seraphim, Geschichte, S. 305. 117 In anderem Zusammenhang, aber mit vergleichbarer Stoßrichtung verwertet den Begriff Kahk, O „dvorjanskoj politékonomike". 115

123

Die Praxis der Bereicherung

2.2 „Politische

Ökonomie":

Der Kampf um die Domänen

Vorspiel Um zwei Fünftel des Landes, wie gesagt, machten das Lehn aus, gleichsam den ,Staats'-Fonds: das, worüber der Herzog qua seiner Würde gebot, um aus den Erträgen die öffentlichen Aufwendungen sowie seine Hofhaltung zu bestreiten. Hinzu kam ein stattlicher Allodialbesitz.118 Die Herzöge befanden sich mithin in einer Position ökonomischer Übermacht, die prima facie die Entwicklung auf einen fürstlichen Absolutismus hin begünstigen musste. Ernst Johann Biron hatte diesen Versuch unternommen."9 Wenn die Adelsopposition nach seiner Wiedereinsetzung 1763 ihre Verhinderungspolitik im Namen adliger Rechte und Freiheiten bis an die Grenze eines paranoiden Starrsinns trieb,120 geschah das nicht zuletzt aufgrund der Erfahrung, die man mit dem Herzog während seiner ersten Regierungsjahre 1737/40 gemacht hatte. Gestützt auf die Schenkungen und Begünstigungen Anna Ivanovnas hatte er binnen drei Jahren Pfandauslösungen, Titelreklamationen und Zukauf in einem Stil betrieben, der an die schwedische Güterreduktion in Livland Ende des 17. Jahrhunderts erinnerte:121 Insgesamt 114 vordem Kettlersche Besitzungen für über 600000 Rth. alb. gingen an Fürst und Kammer, wobei der Marktwert der Güter deutlich über den Pfandsummen gelegen haben dürfte und bisweilen erhebliche Abschläge für abgelebten Nutzen vorgenommen wurden.122 Nur zwei Allodial- und 52 Lehngüter, die mit 260000 Rth. alb. zu Buche standen, sowie acht Lehngüter über 46300 Rth. alb., die erst beim Erlöschen der Halter im Mannesstamm auslösbar waren, blieben in 118 Wie oben, S. 75 ff. 119 Vgl. a. den Abriss bei Oberländer, Kurland im 18. Jahrhundert, S. 37. 120 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 172. 121 Vgl. Strohm, Kurländische Frage, S. 163. Explizit in eins setzte die beiden Vorgänge 1762 Reinhold v. Lieven: Er habe viel Geld für ein in Litauen gelegenes Gut aufgewandt, ,,[a]ndernteils aber die Reduktion und Einlösung fürstlicher Ämter in Kurland, da nämlich ein großer Teil des Adels und anderer Landeseinwohner sich einen Verbleib außerhalb Landes anzuschaffen genötigt gesehen, die für mich glückliche Ursache gewesen, erwähntes Pommusch mit einigem Vorteile zu veräussern" (Seeberg-Elverfeldt, Genealogie Lambsdorff, S. 102). 122 Allerdings auch einige Aufschläge, wohl für nachweisbare Meliorationen. Eine 1768 angefertigte Aufstellung findet sich in LTA 1793, LVVA 640/4/88, pp. 44ff. Strohm, Kurländische Frage, S. 167, Anm., bietet als Vergleichsgröße den sächsischen Staatsschatz 1732 von 680000 Thl. Hintergrund und Taxationsmodus: ebd., S. 159ff; vgl. a. Richter, Geschichte, Bd. 3, v.a. S. 137f.; Schwartz, Staatsschriften, Nr. 163, S. 235 f.

124

Das

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Pfandbesitz das entsprach einer Reduktion des in adligem Nießbrauch befindlichen fürstlichen Bodens um rund zwei Drittel.123 Noch verschärfend wirkte, dass Biron das Ansinnen zurückwies, die ausgelösten Güter an Indigene zu verpachten, vorzugsweise die vorherigen Pfandhalter, vielmehr die Ämter zu größeren Komplexen zusammenfügte, sie nichtindigenen Verwaltern unterstellte und 1738 eine detaillierte „Amtsordnung" zur Führung dieser Wirtschaften erließ.124 Da der Gütermarkt zu der Zeit kaum Ausweichmöglichkeiten bot, sollen daraufhin an 150 Adlige nach Livland und vor allem Litauen gewechselt sein.125 Diejenigen, die blieben, erfuhren massive Eingriffe auch in ihre Privatwirtschaften: Fronen und Rodungen wurden reguliert, generell die Herrenrechte gegenüber den Untertanen eingeschränkt, ein fürstliches Branntweinmonopol wurde errichtet, der freie Außenhandel unterbunden und eine Veräußerungspflicht für Marktgetreide an schlecht zahlende herzogliche Depots geschaffen, der Binnenmarkt zugunsten der Domänenproduktion manipuliert und seine Verstaatlichung vorbereitet.126 Damit knüpfte Biron weniger an den merkantilistischen Landesausbau Jakob Kettlers an, als dass er das Land einer straffen Rationalisierung und Fiskalisierung in konsumptiver Absicht unterwarf. Er konzentrierte sich klarer auf Beherrschung und Revenüenvermehrung im Agrarsektor, war weniger hochfliegend in seinen ökonomischen Plänen als Herzog Jakob, aber rabiater in der Wahl der Mittel, schreckte auch vor Terror nicht zurück,127 agierte wuchtiger konfrontativ unter Rückgriff auf die ihm zu Gebote stehenden russischen Ressourcen. Während Kettler nach einem frühen Rückschlag seine Unternehmungen mehr oder weniger neben der Ritterschaft her verfolgt hatte, an einen großen Privatier gemahnend, in gewissem Sinne geradezu politikabstinent, handelte Biron gestützt auf die Macht eines Staates, im Hinblick auf seine Stellung in diesem Staat und offensiv gegen den Adel der freilich zunächst selbst nießbrauchend in den herzoglichen Fonds eingedrungen war. In Reaktion -

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123 Wie voherg. Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass sich unter den ausgezahlten Pfandhaltern eine Anzahl Nichtindigener befand, mehr noch unter den ursprünglichen Pfandnehmern, die im Laufe der Zeit aber vielfach an Indigene cediert hatten. Ganz überwiegend handelte es sich dabei jedoch um Kleinstbesitz. 124 „Da wir in Unserem Interesse beschlossen haben, Unsere Aemter und Güter künftig mit Hilfe von Beamten zu verwalten": Germanis, Agrargesetzgebung, S. 198, dort auch zu den Einzelheiten; zur rechtlichen Seite Ziegenhorn, Staats Recht, §§ 620f., S. 245 ff; vgl. a. Strohm, Kurländische Frage, S. 35. 125 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 138; vgl. a. Ziegenhorn, Staats Recht, §618, S. 243 f. 126 Strohm, Kurländische Frage, S. 163 f. 127 Dunsdorfs, Latvijas vesture 1710-1800, S. 145.

Die Praxis der

Bereicherung

125

Verdrängung aus dem Pfandbesitz betrieb er nun eine striktere Durchsetzung des indigenen Exklusivrechts an den Privatgütern: Nichtindigene wurden ihrerseits aus dem (Pfand-) Besitz von Adelsland verdrängt und die „Bürgerlichen Lehen"128 reduziert beziehungsweise von Indigenen übernommen.129 Kompensation bot beides nicht; um so gravierender wirkten sich die verschärfte Exklusion und ihre politischen Folgen während der Ständekonflikte in der letzten Dekade des Jahrhun-

auf die

derts aus. Als auf den Tod Anna Ivanovnas und Birons Sturz und Verbannung 1740 die herzoglose Zeit folgte, steckte der Ritterschaft mithin eine Erfahrung in den Gliedern, die gründlich nachwirkte. Gut 20 Jahre später traf der von Katharina II. reinstallierte Herzog auf eine misstrauische, in Teilen unversöhnlich ablehnende Ritterschaft, die zudem während seiner Abwesenheit ihre Position neubefestigt hatte.130 Vor allem waren die von Ernst Johann eingelösten Güter unter russischen Sequester genommen und großenteils an indigene Arrendatoren vergeben worden. Während der Adel so seine Partizipation an den Erträgen der Domänen zumindest teilweise zurückgewonnen hatte,131 verfügte Petersburg zeitweise über ein Instrument direkter Einflussnahme. Die Revision dieses Interventionsmodus im Zusammenhang des Siebenjährigen Krieges und seines Ausgangs leitete eine zweite Etappe im Verteilungskampf zwischen Adel und Fürst um die Domänenrenten ein. Mit der Wiedereinsetzung Ernst Johanns 1762/63132 renovierte Katharina die rassische Vorfeldpolitik in Kurland als vermittelte Aussensteuerang. In vorweggenommener Parallele zur Wahl Poniatowskis in Warschau setzte die neue Zarin auf eine Kreatur ihrer Macht, einen Fürst-Agenten in einem Territorium, das direkt zu beherrschen mächte128 Vgl. S. 76, Anm. 245. 129 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 140; Strohm, Kurländische Frage, S. 164. Dies betraf nicht nur kurländische Nichtindigene sondern auch einige wenige langansässige livländische Adlige, die nunmehr konsequent als Ausländer qualifiziert wurden; für den Anteil Nichtindigener am Landbesitz s. die bei Dunsdorfs, Gutsbesitzer, wiedergegebene Landrolle von 1704. 130 Oben, S. 55 ff. 131 Strohm, Kurländische Frage, S. 208. Freilich flössen die Pachten ab, so dass die Landschaft als solche in die bereits erwähnte permanente „fiskalische und wirtschaftliche Ausnahmesituation" geriet: ebd., S. 366, vgl. a. S. 243; zwischen 1740 und 1758 zog Russland gut 1,3 Mio. Rth. alb. aus dem Herzogtum: Vilite, Arrest und Verbannung, S. 34. 132 Er kehrte im Januar 1763 nach Mitau zurück, die Anerkennung durch die Oberherrschaft erfolgte im September 1764, die Investitur im Januar 1765: Cruse, Curland, Bd. 2, S. 171; Diplom bei Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 366, S. 434 ff.

126

Das

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schien beziehungsweise einen anderen Kriegsausgang Preußen hätte.133 War das Zwischenspiel Karls von vorausgesetzt gegen Sachsen 1758-1763 ein Zugeständnis Elisabeth Petrovnas an die Wettiner im Sinne der antifriderizianischen Kriegsallianz gewesen und die konditionierte Hebung des Sequesters 1758 eine Art Morgengabe für ihn,134 galt unter der veränderten Konstellation die mit erheblichen juristischen Mühen zu Karls Gunsten festgestellte Thronvakanz nichts mehr, der amnestierte Staatsverbrecher Biron wurde in Petersburg als rechtmäßiger Fürst anerkannt, der Wettiner zugunsten „unseres eigenen Herzogs"135 aus dem Land gedrängt136 und dieser im Wege eines Verzichts auf alle verbliebenen russischen Ansprüche an das Kettler-Bironsche Allod materiell ausgestattet.137 Damit war nach einer Generation die Finanzautonomie der Landschaft wiederhergestellt. Ein im Adel verbreitetes Ressentiment gegen den Katholiken Karl, dem zudem absolutistische Ambitionen unterstellt wurden, die rechtliche Fragwürdigkeit seiner Inthronisation zu Lebzeiten eines investierten, wenn auch im Ausland verbannten Herzogs, Unabhängigkeitsbestrebungen gegenüber Polen, schließlich mit Biron und dem Petersburger Hof beziehungsweise der russischen Partei in Polen verbundene wirtschaftliche Interessen eröffneten die Aussicht auf einen raschen Sieg des Bironschen

politisch unklug

Anhangs.138

133 Strohm, Kurländische Frage, S. 277ff., 339; zum Kalkül hinter der Wahl Poniatowskis Müller, Teilungen, S. 28; Parallele zu Biron: Brüggen, Beiträge, S. 386; zur Grundlegung der katharinäischen Außenpolitik in der Kurlandfrage 1762/63 Schulze Wessel, Restitution Birons; Nosov, Kurljandskoe gercogstvo, v.a. S. 65, allerdings mit einigen Unsauberkeiten und in der Interpretation recht deterministisch. Vgl. a. die kurlandpolitischen Erwägungen Katharinas noch vor ihrer Thronbesteigung, die Polen und Kurland zusammendenkend Außensteuerung als Königsweg benennen: SIRIO 7, S. 93f.; s. a. unten, S. 257f. 134 Strohm, Kurländische Frage, Kap. 9, v. a. S. 223, 237, 241 ff. 135 Katharina, zt. nach Oberländer, Kurland im 18. Jahrhundert, S. 43; auch Heyking, Letzte Tage, S. 33; Quelle: SIRIO 48, S. 148. 136 Mit militärischer Gewalt: Strohm, Kurländische Frage, S. 303; zum Vorgang insgesamt ebd. ff./Kap. 12. 137 Strohm, Kurländische Frage, S. 285; Bilbassow, Vereinigung, S. 215f; Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 128; Akt: LVVA 554/1/296, p. 1. Außer handelsund konfessionspolitischen Zugeständnissen sicherte Biron im Gegenzug eine besondere Berücksichtigung russischer „Empfehlungen" bei den Arrendevergaben zu; die Abhängigkeit, die bereits Elisabeth Karl gegenüber festgeschrieben hatte, blieb also erhalten; vgl. Keller /Oberländer, Kurland, S. 232ff. 138 Strohm, Kurländische Frage, S. 259, 308 ff.; Kreditoren Birons: VilIte, Arrest und Verbannung, S. 29. Die Herrschaft Karls von Sachsen kann hier weitgehend übergangen werden, als politische Geschichte ist sie erörtert bei Cruse, Curland, Bd. 2, S. 63ff.; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 165ff.; zuletzt Strohm, a. a. O, S. 219ff. -

127

Die Praxis der Bereicherung

Statt dessen kam es zu jahrelangem offenen Widerstand eines wachsenden Teils des Adels und zur fortdauernden Spaltung in „Karoliner" und „Ernestiner".139 Zunächst ließen eine gewisse Anhänglichkeit an das wettinische Polen und Unsicherheit, solange August III. noch lebte, Klientelbindungen, Treue zu geleisteten Eiden, verletztes Rechtsgefühl und nicht zum wenigsten ein eingewurzelter Widerwille gegen den despotischen Emporkömmling, als der Biron vielen nach wie vor galt, knapp die Hälfte der Indigenen den Eid verweigern.140 Ernst Johann seinerseits signalisierte Kooperationsbereitschaft gegenüber der eidleistenden Mehrheit,141 warf dann aber die Führer der Fronde ohne Gerichtsurteil aus ihren Ämtern,142 entzog ihnen ihre Pachtgüter, erkannte etliche im letzten Moment mit Herzog Karl abgeschlossenen Arrendekontrakte nicht an und stützte sich zur Exekution auf rassische Truppen.143 Vor allem weigerte er sich, auf administrative Rationalisierung zu verzichten, auf die Einsetzung bestallter Verwalter beziehungsweise die kurzfristige Verpachtung von Domänen an den Meistbietenden, statt sie wie bisher auf längere Frist zu niedrigen Anschlägen zu vergeben.144 Daraufhin brachte der in seiner Besetzung ambivalente Landtag vom November/Dezember 1764 eine Reihe Gravamina und Desideria vor, die von der Arrendevergabe an Nichtadlige über die NichtSteuerung fürstlicher Allodialgüter zur Adelsfahne bis zu Jagd- und Schankanmaßungen herzoglicher Förster und schließlich der Forderung reichten, Pachtgüter vorzugsweise an bedürftige Adlige zu vergeben.145 139 Die

Benennungen

etablierten sich für die

antiherzogliche

bzw. die

herzogliche

Adelsfaktion, obwohl beide Prätendenten für die rivalisierenden Gruppierungen kaum mehr als Taufpate gestanden hatten: Strohm, Kurländische Frage, S. 360. Faktographien des Folgenden: Cruse, Curland, Bd. 2, S. 95 ff; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 173ff.; Bilbassow, Vereinigung, S. 221 ff.; Strohm, a.a.O., Kap. 12 und 13 (S. 303ff.); vgl. a. ebd., Kap. 10 (S. 259ff.), u.a. zur ersten Ausbildung der Adelsfaktionen für und gegen Karl von Sachsen seit 1760, die ebenfalls von Eidverweigerungen begleitet war, sowie ebd., S. 288, zur Transformation der damaligen Opponenten in „Ernestiner" durch den russischen Gesandten Simolin. Aktueller Abriss: Oberländer, Kurland im 18. Jahrhundert, S. 43 ff. 140 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 101; Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 131. 141 Auf einer Brüderlichen Konferenz ließ sich der Herzog auf eine Quasi-Kapitulation ein, die Zugeständnisse v.a. in der Abwehr nichtindigener Forderungen enthielt: Cruse, Curland, Bd. 2, S. 97f.; Heyking, Letzte Tage, S. 61 f. 142 Widerrechtlicherweise; vgl. Schiemann, Regimentsformel, §7, S. 3.; auch oben, S. 51 f. 143 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 135, S. 198f; vgl. a. Cruse, Curland, Bd. 2, S. 106ff.; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 176ff. 144 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 143, S. 211; vgl. a. Cruse, Curland, Bd. 2, S. 122. 145 Hier nach Cruse, Curland, Bd. 2, S. 115 f.

128

Das

Herzogtum

Die Frondeure erklärten unterdes die Brüderliche Konferenz und den Huldigungslandtag von 1763 für illegal, ja die Félonie der Regierung

überhaupt.146

anheischig, entgegen seinem 1763 gegebenen Versprechen147 „a quibusdam ex Nobilitate" den noch verpfändeten Lehngüterkomplex Suhrs-Irmlau-Grendsen für 100000 Rth. alb. auszulösen, kurz darauf einige kleinere Besitzungen für rund 10 000 Rth. alb.I48 Hatte er anfangs Anhänger unter frustrierten Klienten Karls gefunden,149 so stärkte er nun im eigenen Streben nach materieller Konsolidierung seine Gegner. Neuerlich fielen die Fragen von Macht und Freiheit mit denen von Existenz und Bereicherung zusammen und veranlassten eine wachsende Opposition, sich hartnäckig dem Mahnen und Warnen der Zarin und ,ihres' mittlerweile inthronisierten Königs Stanislaw August zu widersetzen,150 der rechtmäßigen Oberherrschaft wie der eigentlichen Machthaberin der Region, und einen inneren Konflikt zu wagen, der die Ritterschaft auf absehbare Zeit spalten musste.151 Aus einer starken Minderheit, die dem Huldigungslandtag 1763 ferngeblieben war, wurde 1765 eine Landtagsmehrheit, die, sich mehrfach limitierend, auf direkten Konfrontationskurs ging.152 Biron erklärte mit Rückendeckung Poniatowskis und des russischen Gesandten den Landtag für aufgehoben, was der opponierende Adel wiederum als Anschlag auf seine Fähigkeit wertet, die eigene Sache auf dem Reichstag und vor den Relationsgerichten zu vertreten, wo beide Parteien mittlerweile gegeneinander Klage führten und mit immer zunehmender Schärfe agitierten.153 Der Kommandeur der russischen Truppen in Kurland, Fürst Daskov, musste melden, „daß der hiesige Inzwischen machte Biron sich

146 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 135, S. 198f. 147 Ziegenhorn, Staats Recht, §618, S. 244. 148 LVVA 640/4/88, p. 61. Die Zahl von 100 Gütern bei Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 138, ist offensichtlich ein Missverständnis, das die früheren Rückkäufe einschließt. 149 Strohm, Kurländische Frage, S. 255. 150 Schwartz, Staatsschriften, S. 200 ff., 210,223. Katharina stärkte Biron den Rücken, indem sie ihm anlässlich einer Reise durch Livland und Estland einen ehrenden Besuch abstattete; der russisch gelenkte Wahlreichstag nach dem Tod Augusts III. wirkte in dieselbe Richtung: Cruse, Curland, Bd. 2, S. 109. 151 Zur Heftigkeit der öffentlichen Auseinandersetzung zwischen den Faktionen vgl. die hier sukzessive angeführten Staatsschriften nach Schwartz; prägnantes Sammelzitat bei Strohm, Kurländische Frage, S. 319, Anm. 152 Schwartz, Staatsschriften, S. 207ff., 212ff.; Landtagsakten: LVVA 554/1/1554; vgl. a. Cruse, Curland, Bd. 2, S. 118ff; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 179ff. 153 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 157 ff, S. 228 ff; Cruse, Curland, Bd. 2, S. 125.

Die Praxis der Bereicherung

129

Soldaten hier nicht regieren kann, so sehr ist er von den kurländischen Edelleuten mißachtet."154 Erst massierter Druck brach die Blockade auf. Zwei Reichstagskonstitutionen von 1764, die weitgehend im Sinne des Herzogs gehalten waren und darüber hinaus das Wahlrecht des Adels beim Erlöschen einer Dynastie in Frage stellten, für den Fall vielmehr eine Inkorporation anvisierten, hatten den Widerstand eher noch bestärkt.155 Doch als Katharina begann, in der Rzeczpospolita die Dissidentenfrage zu instrumentalisieren,156 wuchs dem evangelischen Herzogtum eine neue Rolle im polenpolitischen Kalkül Russlands zu, für deren Erfüllung ein einvernehmlicher Landtagsschluss vonnöten war. Die Zarin drohte mit Gewalt, Einmarsch und umfassenden Truppenquartierungen auf den Gutem der „Widriggesinnten".157 Ende 1766 gab die Adelsopposition auf. Für das folgende Jahr wurde ein außerordentlicher Landtag ausgeschrieben, der Herzog bot die Wiederherstellung der Abgesetzten beziehungsweise ihre Kompensation an und erhielt im Gegenzug seine Anerkennung und die Kassation der vorangegangen, klagebegründenden Landtagsbeschlüsse.158 Konstitutionen von 1767/68 und ein ihr folgender Landtagsabschied 1769 zogen den formalen Schlussstrich unter den Huldigungsstreit, wobei dem Herzog ausdrücklich freie Disposition über „die Fürstlichen Domänen und andre Güter" zugestanden wurde.159 Bereits im Mai 1767 hatte eine Brüderliche Konferenz nach Verzögerungsversuchen den von Russland gewünschten Beitritt zur dissidentischen Konföderation von Sfuck beschlossen.160 Diese mit der Dissidentenfrage verknüpfte Stillstellung des Konflikts ist symptomatisch für die Bedingungen, unter denen die kurländischen Auseinandersetzungen im letzten Drittel des Jahrhunderts ausgetragen wurden. Denn trotz des evangelischen Bekenntnisses und wiederholter Klagen über Katholisierungsversuche161 beugte sich besonders der Adel

Herzog ohne rassische

154 Bilbassow, Vereinigung, S. 287; vgl. a. Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 135. 155 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 140f, S. 204 ff. 156 Vgl. Müller, „Dissidenten-Frage", v.a. S. 459. 157 Deklaration Katharinas: Keller /Oberländer, Kurland, S. 238ff; Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 370, S. 443; Schwartz, Staatsschriften, Nr. 160, S. 230ff. Ruinöse Einquartierungen als Druckmittel gehörten seit je zum Arsenal Petersburgs: Strohm, Kurländische Frage, S. 331. Zum Hintergrund Müller, Teilungen, S. 30ff.; Zernack, Polen und Rußland, S. 280ff. 158 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 137ff.; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 184f. 159 Schwartz, Staatsschriften, S. 232f.; Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 374, S. 446ff., Zt. S. 450. 160 Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 373, S. 445 f. 161 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 166, S. 242 ff.

130 nur

Das

Herzogtum

widerwillig und auf hartes Drängen des russischen Gesandten dem

Ansinnen der Kaiserin: Man betrachtete den Beitritt zur Konföderation als heikle Einmischung in die polnische Politik mit Ungewissen Konsequenzen -162 nichtsdestoweniger musste die Landschaft folgen und auch ihre inneren Angelegenheiten zurückstellen, Petersburg war die Vormacht in der Region. Zugleich war man von den polnischen Instanzen abhängig, Konstellationen, die wiederum von den Mächten durchwirkt, aber alles andere als reines Petersburger Fabrikat waren.163 Polen mochte schwach sein gegenüber seinen Nachbarn, aus kurländischer Warte war es eine Macht.164 Unmittelbar nach der ersten Teilung votierte die Ritterschaft dem König ein Don gratuit von 50000 Rth. alb.,165 1791 buhlten Adel und Städte mit je zwölf Kanonen um die Gunst der Republik,166 der Aufwand für derartige Zuwendungen, vor allem aber für langfristige Delegationen war erheblich.167 Deren Berichte prägt sorgenvolles, zuweilen hektisches Navigieren zwischen den Institutionen, Magnaten, Richtern und den durchaus als eigenständige Größe erfahrenen Landboten, nicht zuletzt der Eindruck von Pracht und Macht:168 ein Gefühl mühsam gemanagter Abhängigkeit. Zumal die Gefahr einer Inkorporation beim Erlöschen des Fürstenhauses und der Aufteilung der Landschaft in Wojewodschaften sowie Umwandlung der Ämter in Starosteien wurde als überaus real empfunden,169 die russische Garantie der Verfassung Bd. 2, S. 140. Offensiver verhielt sich der Kreis Pilten, der sich als säkularisiertes Stift fortwährenden Angriffen auf seine Selbständigkeit von Seiten der Bischöfe von (Polnisch-) Livland ausgesetzt sah: Schwartz, Staatschriften, Nr. 165, S. 238ff.; mit Erfolg: ebd., Nr. 168, S. 250f; preußische Unterstützung: Berichte Hütteis, v.a. 27.11.1791 (Brüggen, Beiträge, S. 512f). 163 Die Zähigkeit, mit der die Konföderierten von Bar sich der russischen Macht widersetzten (vgl. Müller, Teilungen, S. 33), musste die Zurückhaltung bestätigen. 164 Dass in Warschau die kurländischen Angelegenheiten interessierter betrieben wurden, als von der älteren Historiographie angenommen, hat eine intensivere Nutzung polnischer Quellen ans Licht gebracht: Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 1, S. 44; 162

Vgl. Cruse, Curland,

vgl. a. Kadziela, Spar szlachty kurlandzkiej.

165 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 178. 166 Widmungsreden auf dem Reichstag 17.2.1791, LVVA 640/4/207, pp. 5 ff. Hinzu kam, dass im Frühjahr 1791 Berlin Kriegsbereitschaft gegen Russland signalisierte: Reskript und Privatantwort Hertzbergs an Hüttel 4.4. bzw. 9.4.1791 (Brüggen, Beiträge, S. 4401). 167 Vgl. die Auflistung für 1776 bei Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 198; Heyking, Letzte Tage, S. 183, beziffert die Kosten der Delegation 1773/74 auf 90000 Rth. alb. 168 LVVA 1100/7/6 u. 7; Heyking, Letzte Tage, S. 354. Den besten Überblick bietet

Kadziela, Spar szlachty kurlandzkiej. 169 Berichte des Ritterschaftsdelegierten Karl v. Heyking aus Warschau vom Sept. 1790, LVVA 1100/7/6, pp. 87ff.; vgl. a. Strohm, Kurländische Frage, S. 67, 115,

131

Die Praxis der Bereicherung

keineswegs als unverbrüchlich; weder konnte man sicher sein, dass der Wind in Petersburg nicht drehte, noch musste die Vormacht Russlands respektive die gegebene Mächtekonstellation ewig dauern.170 In einer derart als kontingent begriffenen Umwelt sahen sich die Kurländer auf Taktiken des Schwächeren verwiesen, umsichtig, aber hartnäckig eigene Anliegen zu verfolgen. Geriet die Republik wie 1766/67 in Gegensatz zu Russland, tat man das Mögliche, eine definitive Parteinahme zu vermeiden, gewöhnlich durch Spiel auf Zeit, indem Landtage mangels hinreichender Instruktionen vertagt wurden, man die Neuzusammenrufung verzögerte, wobei der Kampf unterschiedlich eingebundener Faktionen ein übriges tat, und nachdem das Mittel ausgereizt war, ließ man in die Konfessionsbeschwerden gegen Polen die bekannten religionsneutralen Angelegenheiten einfließen, litauischerseits erhobene Zölle, vor allem erneut die Güterauslösungen durch Biron,171 und instruierte zugleich unter Berufung auf treuen Gehorsam einen Delegierten an die Kaiserin, der auch dort die Auslösungen und die angemaßte freie Disposition über die Lehngüter anbrachte ohne Erfolg, also versuchte man es weiter in Warschau.172

-

Dass „der" kurländische Adel „mental" seit den 1740ern, spätestens 1763 den „Anschluss an das Zarenreich" vollzogen und nurmehr einem dreißig- oder fünfzigjährigen Vorspiel zu seiner Annexion im Wartezustand eines Protektorats beigewohnt habe,173 vereinseitigt mithin die Machtlage und bringt eine Teleologie in die Abläufe, die die Handlungsoptionen und ihre Wahrnehmung durch die Beteiligten inadäquat redu-

s. aber auch Kadziela, Spar szlachty kurlandzkiej, S. 61, zu einem anonyInkorporationsplan kurländischer Provenienz. Entsprechend das inständige Mahnen Heykings 1789, „Kurlands geographische Lage rate zur strengsten Unparteilichkeit": Heyking, Letzte Tage, S. 330, Anm.; zu seinem Lavieren während dieser Rochaden Ka_dziela, Spar szlachty kurlandzkiej, S. 58. Dagegen drängte Heykings Gegenspieler in Warschau, Carl v. Manteuffel, zu einer rechtzeitigen Parteinahme gegen Russland, dessen Einfluss angesichts der bevorstehenden Kooperation eines renovierten Polen mit Preußen vor der sicheren Vernichtung stehe: Brief an den Vater 26.12.1789, LVVA 1100/9/17, p. 2. Schwartz, Staatsschriften, Nr. 163, 166, S. 235f., 242ff. Schwartz, Staatsschriften, Nr. 167, S. 247ff. Strohm, Kurländische Frage, S. 272, auch S. 363, 368 ff. Die These von einer ..kulturellen Umorientierung" auf Petersburg (ebd., S. 368) stellt ebenso wie die in diesem Zusammenhang regelmäßig postulierte Nähe zu den überdünischen „Standesgenossen" eine Rückprojektion von Anpassungsleistungen des 19. Jahrhunderts dar. Ähnlich forsch legt Nosov, Kurljandskoe gercogstvo, S. 64, die Annexion „fak-

372f.; men

170

171 172 173

tisch" in das Jahr 1763 vor, mit Biron im Status eines „russischen Gouverneurs".

132

Das Herzogtum

ziert.174 Vielmehr eröffnete die doppelte Außenabhängigkeit als Struktur-

moment der Geschichte des Herzogtums den konfligierenden Akteuren fortwährend Revisionschancen und generierte so erst jene permanente, zugleich fieberhafte und blockierte Aktivität, die, indem sie scheinbar kreisläufig wiederkehrend dieselben Probleme zur Verhandlung brachte, eskalierend wirkte. Durch Unscharfen und Grundsatzvorbehalte in den Versöhnungspakten jederzeit wiederbelebbar, schwelte der Antagonismus zwischen Herzogshaus und opponierendem Adel fort,175 als Ernst Johann Biron 1769 zugunsten des fünf Jahre zuvor bereits mitbelehnten Erbprinzen Peter resignierte, sich allein das Allod vorbehielt und krank nach Ruhental zurückzog.176 Prompt wurde die Übergabe aus dem Adel als eigenmächtig und widerrechtlich abgelehnt; da außerdem die Allodien ehedem aus Mitteln des Lehns erworben worden seien, gehe es nicht an, dass der abgedankte Herzog sich als Privatier auf sie zurückziehe.177 Auf kaiserlichen und königlichen Druck akzeptierte die Ritterschaft zwar schließlich die Investitur Peters unter Verwahrung aller Mitspracherechte,178 die inhaltliche Auseinandersetzung aber wurde erneut vor den Reichstag gebracht. 1774 erfolgte eine weitere Konstitution, die 174 Nicht zuletzt ist die hier im Sinne darstellerischer Raffung vorgenommene Verkürzung auf Chiffren wie „Russland" oder „Petersburger Hof)" zu relativieren: Es handelte sich um ein vielgestaltes Gelände widerstreitender Parteiungen, deren Friktionen versierte Akteure wie Heyking oder Howen für sich nutzen konnten. Grundlegend Ransel, Politics, v.a. S. 99ff.; hier bspw. Heyking, Letzte Tage, S. 209ff; Bericht Hütteis 1.9.1791: Brüggen, Beiträge, S. 460. 175 Vgl. Cruse, Curland, Bd. 2, S. 166ff. Exemplarisch die Rahmenfloskel im Landtagsabschied von 1769, es werde gemäß der Reichstagskonstitution vom Vorjahr alles kassiert, was „den Gesetzen und wohlhergebrachten Gebräuchen des Vaterlandes im Geringsten widersprechend" sei woraus der Herzog jedoch „niemals die geringsten Folgerungen machen, noch zulassen [werde], welche den Grundgesetzen zuwider wären"; zt. nach ebd., S. 166. Eben die Interpretation der „Leges fundamentales" machte freilich den Streit formal aus (vgl. aber a. unten, S. 198), und so spiegelten die Konstitutionen, Kompositionsakte etc. die politischen Verhältnisse ins Juridische: Sie stellten Rechtsauslegungen vorbehaltlich des auszulegenden Rechts dar. 176 Ziegenhorn, Staats Recht, Beilagen Nr. 377, S. 452 f. Biron war knapp 80 und starb 1772. Peters Leibchirurgus Hagen, der sich wegen der Behandlung mit seinem Herrn überwarf, insinuiert recht ungeschminkt ein Mordkomplott, das den alten Hofmann zur Abdankung bewegt habe: Hagen, Biographie, S. 149f., 160, 164. 177 Bereits zuvor war eine Schrift erschienen, die die Verpflichtung des Herzogs nachzuweisen suchte, sämtliche vordem Kettlerschen Allodien an den Adel zurückzuveräußern: Schwartz, Staatsschriften, Nr. 169f, S. 251 f.; Cruse, Curland, Bd. 2, S. 177 f. 178 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 171, S. 252ff. -

133

Die Praxis der Bereicherung

weitgehend zugunsten des Herzogs ausfiel.179 Da Peter Bijedoch die Machtmittel fehlten, sie ohne Anstand durchzusetzen, während der Adel neuerlich auf Verschleppung setzte, zugleich in der Konstitution eine polnische Kommission zur Behebung etwa fortdauernder Misshelligkeiten in Aussicht gestellt worden war, was beiden Seiten riskant erschien, bewegten die Teile sich endlich aufeinander zu und kamen 1776 zu einer Einigung, die als „Kompositionsakte" landesrechtlich fixiert wurde.180 Sie enthielt vereinfachte Regelungen der adligen Zollfreiheit, die Anerkennung gewährter oder ersessener Rech-

abermals ron

te und Servituten in fürstlichen Wäldern und Gutem sowie die Verein-

fürderhin Landesanliegen nur noch gemeinschaftlich bei der Oberherrschaft vorzutragen. Ansonsten bestätigte sie den Status quo von 1763/69 sowie die Vollgültigkeit des Testamentes und der Cession Ernst Johanns. Dafür wurden die führenden Köpfe der Opposition aus Landes- und herzoglichen Mitteln entschädigt;181 außerdem wollte man in Warschau gemeinsam um die Allodifizierang der nach 1561 verlehnten Güter analog zu den bereits zuvor vom Adel innegehabten einkommen.182 Beides ermöglichte erst den Abschluss vor allem die Allodifikationen schufen aber, nachdem die Fragen der Güterverwaltung und getätigten Auslösungen beziehungsweise des adligen Rückkaufrechts vorläufig im Sinne des Herzogs erledigt waren, einen Präzedenzfall für

barung,

-

Begehrlichkeiten. Schwierigkeiten Peter Birons bei der Durchsetzung der ihm günKonstitution von 1774 spiegeln einen Umschwung in den äußeren stigen neue

Die

Verhältnissen. Seit Mitte der 1770er Jahre entzog Katharina dem Sohn „unseres eigenen Herzogs" zunehmend die Unterstützung und begann zur Außen Steuerung des Herzogtums verstärkt auf eine prorussische Parteibildung im Adel zu setzen. Bisweilen ist dieser Politikwechsel stark personalisierend mit der Verstoßung seiner zweiten Frau durch Biron erklärt worden, des Petersburger Hoffräuleins Evdokija Jusupova, der die Aufhebung der nach orthodoxem Ritus geschlossenen Ehe durch das kurländische (lutherische) Konsistorium und 1779 die Neuvermäh179 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 175, S. 258ff; Ziegenhorn, Zusätze, Beilagen Nr. 385, S. 70ff. Zu den Verhältnissen in Warschau Heyking, Letzte Tage, S. 176 ff. 180 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 178f., S. 263 f. 181 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 198; Cruse, Curland, Bd. 2, S. 180. Bestätigung durch die Oberherrschaft: Schwartz, Staatsschriften, Nr. 180, S. 266f. 182 Implizit findet sich das bereits in der Konstitution: Ziegenhorn, Zusätze, §691, S. 6; ebd., Beilagen Nr. 385, S. 70ff; vgl. a. Schwartz, Staatsschriften, Nr. 175, S. 260

(Punkt 3).

134

Das

Herzogtum

lung des Herzogs mit Dorothea v. Medem folgten.183 Das mag eine Rolle gespielt haben, in welchem Zusammenhang mit Ambitionen Potemkins auf die Herzogs würde und entsprechenden Intrigen auch immer.184 Doch vor allem fügt sich die Neuausrichtung in die Restabilisierungsbemühungen Katharinas nach der ersten Teilung Polens 1772.185 Eine balanceorientierte, garantienbasierte Einflusspolitik gegenüber ständelibertär verfassten Gemeinwesen trat in den Vordergrund, die ein von Fall zu Fall justierbares strukturelles Patt in deren Innern voraussetzte.186 Wenn Strods Howen als den „Czartoryski Kurlands" bezeichnet, den Kopf einer russischerseits aufgewerteten, wesentlich obstruktiven Fronde, kommt er dem systematischen Kern der Sache näher als seine Argumentation, Katharina habe eine blinde Förderung aller Gegner Birons um der Ehre der Jusupova willen betrieben.187 Im Verhältnis zu den mächtepolitischen Entwicklungen dürften Charakter und Liebesleben Herzog

Peters von eher kulturhistorischem Interesse sein. Bedeutsam für den Fortgang der Konflikte wurde Birons dritte Eheschließung insofern, als er mit Dorothea v. Medem endlich Kinder bekam und die herzogliche Partei während jeder Schwangerschaft mit Blick auf die für die Landesautonomie heikle Erbfolgefrage eine Stärkung ihrer Position erhoffen konnte.m Andererseits, dass es am Ende bei vier Mädchen blieb, wirkte nachhaltig auf das Interessenprofil der Birons, das sich angesichts der sich abzeichnenden dynastischen Ruptur gleichsam depolitisierte.189 Nicht zuletzt deshalb, zur eigenen Sicherung und der ihrer Töchter, schaltete sich Dorothea wiederholt in die Verhandlungen ein,190 während gleichzeitig der fortbestehende Unsicherheitsfaktor der Nachfolgefrage zum Angriffspunkt für die interessierten Parteien im In183 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 180f; Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 150. 184 Vgl. Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 150; Bilbassow, Vereinigung, S. 293 f.; Seraphim, Geschichte, S. 308 f., 311, zufolge diente die Scheidung von der Jusupova Potemkin zum willkommenen Anlass, seine Ziele in Politik umzusetzen. 185 Vgl. Müller, Teilungen, S. 41 f. 186 Vgl. HBGR, Bd. II.2, S. 599, 605 f.; auch Zernack, Polen und Rußland, S. 283 ff; Aretin, Das Alte Reich, Bd. 3, S. 203 ff., 383 f. 187 Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 150. 188 Briefe Dorotheas bzw. Raisons an Manteuffel 26.8.1786, 29.1.1789, auch 31.10.1790: LNBRx 111/1/12, pp. 1 f., 56; ebd./13, p. 78. 189 Es überlebten vier 1781-1783 und 1793 geborene Töchter: DBBL, S. 67; ein 1787 geborener Erbprinz starb im März 1790: Recke, Journal, S. 24. 190 Sie wirkte 1791/92 zum Ärger des preußischen Residenten erfolgreich gegen einen Ausgleich mit dem Adel (Berichte Hütteis 27.11., 4.12., 11.12.1791, 1.1.1792, Reskript an dens. 18.12.1791: Brüggen, Beiträge, S. 512 ff. ; vgl. a. Recke, Journal, S. 112ff.) und trug dann maßgeblich zum Zustandekommen der für den Herzog vorteilhaften Konstitution vom 31.5.1792 bei: Heyking, Letzte Tage, S. 371 ff.

Die Praxis der

135

Bereicherung

wie im Äußeren wurde. Beides, insbesondere aber die baldige Eskalation folgte aus einem Ensemble kultureller und struktureller Bedingungen und deren epochenspezifischer Verschiebung gegeneinander. nem

Eskalationsbedingungen 1778 ging Otto Hermann v. d. Howen als Delegierter der Landschaft und des Herzogs nach Warschau, wo er im Auftrag Birons eine 1736 in Aussicht gestellte Allodifikation der Würzauschen Lehngüter zugunsten des fürstlichen Hauses betreiben sollte. Howen, Sohn eines der energischsten Karoliner und selbst wegen prowettinischer Umtriebe 1771 bis 1774 von den Russen in der Zitadelle zu Riga festgesetzt, hatte anschließend als Ritterschaftssekretär wesentlich bei der Aushandlung der Kompositionsakte mitgewirkt, dann vorläufig die Seiten gewechselt191 und wohl selbst den Herzog auf die Möglichkeit einer Allodifizierang Würzaus hingewiesen.192 Nicht ganz uneigennützig: Bei der Gelegenheit verhandelte er zugleich die Allodifikation größerer Güter aus dem Lehn für sich selbst, den Hauptmann v. Schoeppingk, den Legationsrat Dörper sowie für die Ritterschaft zur Bestreitung ihrer korporativen Ausgaben.193 Die Kombination war geschickt gewählt. Dörper war als politischer Jurist reich geworden und zumal unter den Freimaurern der karolinischen Faktion vernetzt,194 Schoeppingk der Schwiegersohn des russischen Gesandten in Warschau Stackeiberg,195 dessen Unterstützung von großem Wert sein konnte, der Gutsbesitzerschaft als Ganzem wurde eine Finanzquelle zur Minderung der Willigungen zugedacht und das Interesse des Herzogs diente dem Konvoi als Flaggschiff Howen -

-

-

191 DBBL, S. 341 f. 192 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 199. 193 Schwartz, Staatschriften, Nr. 185, 192, S. 276ff., 288ff. Howen strebte Neubergfried an, für Schoeppingk war Mesothen vorgesehen, für Dörper Neu Rahden. In der späteren Auseinandersetzung über den Rückverkauf Neubergfrieds an das Lehn (vgl. oben, S. 100) veranschlagte Howen den Jahresertrag auf 13000 Rth. alb. (Richter, Geschichte,Bd. 3,S. 199), der Herzog ihn auf 3 000 (Biron an Manteuffel 19.4.1792, LNB Rx 111 /1 /15, p. 5); die Wahrheit dürfte in der Mitte gelegen haben. Mesothen war eher größer, Neu Rahden etwas kleiner aber alles nichts gegen die 25 000 Dukaten, die Würzau abwarf (Bericht Hütteis 11.12.1791: Brüggen, Beiträge, S. 515) und damit die schlesischen Besitzungen des Herzogs übertraf, Sagan und Wartenberg (ders. 23.2.1792: ebd., S. 521). 194 Er wurde 1784 in Pilten rezipiert, 1793 in Kurland: DBBL, S. 172; vorbereitend hatten seine Protektoren ihm 1778 den Reichsadel bezahlt: Heyking, Letzte Tage, S. 183, 185. 195 Bericht Hütteis 23.6.1791: Brüggen, Beiträge, S. 451. -

136

Das

Herzogtum

sorgfältig eingebettet.196 So gelang es ihm zwar, die Bestätigungen zu erreichen, doch reagierte der Herzog auf die hinter seinem Rücken betriebene weitergehende Schmälerung des Lehns verbittert. Nun konnte Biron eine königlich sanktionierte Begünstigung von Einzelpersonen schwer anfechten; um so heftiger wehrte er sich gegen die Kreation von Ritterschaftsgütern. Und auch im Adel stieß das Danaergeschenk zunächst auf heftigen Widerstand.197 Mit Dörper war widerrechtlich ein Nichtindigener bedacht worden,198 das Kalkül Howens lag allzu offen zutage, und es wurde eingewendet, die Schwächung des Staats'-Fonds zugunsten einzelner oder auch der Korporation sei nicht hatte seine Sache

,

setzte der Klientelverbund sich durch und brachte die Landschaft schließlich dazu, selbst auf Ratifizierung und Vollzug zu drängen, welchem der Herzog allerdings bis zu seiner Abdankung nicht nachgab.200 Die Zerrissenheit der Ritterschaft war nicht neu, auch nicht der materielle Gehalt der Auseinandersetzungen, doch handelte es sich im Gegensatz zu den Konflikten der 1760er jetzt verstärkt um Ad-hoc-Kombinationen mit klar definierten partikularen Zielen, die vorläufig über keine oder eine nur mühsam zu konstruierende Argumentationsbasis im Sinne allgemeinen standespolitischen Interesses verfügten.201 Zwischen Vater und Sohn Howen lag auch ein Generationsunterschied, dem ein Wandel in der politischen Dimension der Praxis der Bereicherung

statthaft.199 Nur allmählich

entsprach.

Die in der „Halbanarchie" (Strohm) und den Verwerfungen seit der Jahrhundertmitte, zum Teil in der elaborierten Robustheit der umliegenden Höfe sozialisierte Generation von Adelspolitikern war früh mit einem Habitus „kritischen" Denkens bekannt geworden,202 der Emphase emanzipierter Urteilsfähigkeit und Individualität. Deren autoritätenlösende Implikationen, eher als das utopische Moment der aufklärerischen Revision traditionaler Setzungen, erwiesen sich der adligen Selbstherrlichkeit unmittelbar anschlussfähig und wurden für die Akteure hand196

Zugleich ließ er sich den Auftrag noch mit mehreren tausend Talern bezahlen: Etwas aus der Lebensgeschichte..., LVVA 640/2/254, p. 4; Richter, Geschichte,

Bd. 3, S. 200. 197 Heyking, Letzte Tage, S. 234. 198 Vgl. Etwas aus der Lebensgeschichte..., LVVA 640/2/254, p. 4. 199 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 185, 192, S. 276ff., 288ff. 200 Schwartz, Staatsschriften, S. 280. 201 Wenig später erfolgte eine zweite Tranche von Allodifikationen aus dem Lehn, diesmal bis dato als heimgefallen betrachteter Güter und mit dem Landesbevollmächtigten v. d. Brüggen in der Rolle Howens: DBBL, S. 110; GenHB, Bd. 1, S. 28. 202 Näher unten, S. 156ff., S. 171 ff.

137

Die Praxis der Bereicherung

lungsrelevant: Als sich selbst verstärkender Zusammenhang von „Kritik und Krise"203 generierten Entlastung gegenüber der Verbindlichkeit vorgefundener Wirklichkeit und systemische Blockade, Dysfunktion und das Streben nach Verwirklichung eines freigesetzten Selbst einander wechselseitig und tragen dazu bei, dass Rücksichten oder Befangenheiten fielen. Die Beteiligten bildeten durchaus heterogene Vorstellungen gelungener Ich-Realisation aus, ein entbundenes Persönlichkeitsbewusstsein, dem die jeweiligen Streitobjekte jenseits allen Eigenwertes zu Ressourcen seines Ausagierens wurden: Für Biron waren es sinnlicher Genuss und Fürstentum, für Howen der Aventurismus auf großem Fuß, für Karl v. Heyking politische Geltung und intellektuelle Eitelkeit,204 für Elisa v. d. Recke literarischer und Gesellschaftsehrgeiz,205 für Dorothea das feingeistige Wohlleben,206 für Adolph v. Hahn die Besitzakkumulation,207 für Karl v. Holtey idealischer Enthusiasmus,208 für den Landesbevollmächtigten Ernst v. d. Brüggen immer neue Machinationen,209 für Rüdiger und Dörper die soziale Zertifizierung, für Ulrich v. Schlippenbach erst heftige Aufsässigkeit, später dichterischer Ausdruck und Sozialreform210 alte, neue und ewige Ambitionen, dyna-

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203 Kosellecks unter dieses Begriffspaar gestellte Überlegungen zum Beginn der Moderne und insbesondere zu dem, was hier „Vergeschichtlichung" genannt wird, sind nach wie vor inspirierend; im einzelnen scheint seine auf Westeuropa konzentrierte Dialektik gesellschaftlicher Vorbedingungen und neuen Denkens von empirischen Einwänden abgesehen-jedoch überdeterminiert angesichts in Ähnlichkeit divergenter Prozesse unter anderen politisch-sozialen Vorzeichen. Mit Händen greifbar wird die Perspektivenverengung im Untertitel „Pathogenese der bürgerlichen Welt" und der Variation „Pathogenese unserer Moderne" im Vorwort: Koselleck, Kritik und Krise, S. XI (beide Hervorhebungen von mir, M. M.). 204 Mehr oder weniger offen einbekannt: Heyking, Letzte Tage, S. 320. 205 DBBL, S. 612ff.; als Stiefschwester Dorotheas zeitweilig deren rechte Hand (vgl. ihre Briefe in LNB Rx 111 /1 /14 und 15), nicht immer zu ihrer Zufriedenheit gewürdigt: Recke, Journal, S. 187f., 196, 215. 206 Zugleich nahm sie sich als erste seiner Frauen die gleiche amouröse Freiheit wie ihr Mann: Berichte Hütteis 30.9., 18.10.1792 (Brüggen, Beiträge, S. 589 f., 591 ); Etwas aus der Lebensgeschichte..., LVVA 640/2/254, p. 9.; Kvaskova, VestuleslBriefe, S. 28 ff. 207 Oben, S. 120 f. 208 Parteigänger Birons; Raison über ihn an Manteuffel 21.12.1787, LNB Rx 111 /1 /12, p. 18f.: „Warum soll der Mann sich keine großen Entwürfe machen? sie sind Folgen des eignen Gefühls seiner Kräffte." 209 Über ihn Dietrich v. Keyserling in LVVA 5759/2/1337, v. a. pp. 4ff. 210 DBBL, S. 683; Mord am Herzog in Effigie: Dannenberg, Gymnasium, S. XXVII; Seraphim, Geschichte, S. 326; Dichter: Napiersky/Recke, Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon, Bd. 4, S. 82 ff; Schlippenbach, Malerische Wanderungen; Bauernschutz: Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 260 ff. Vgl. a. unten, S. 289. -

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Das

Herzogtum

misiert durch gesteigertes Individualitätsempfinden und das Verlangen nach intensiver Selbst-Erfahrung und -Bestätigung.211 Es war die erste Generation, die eine größere Zahl mehr oder weniger ausführlicher Memoiren hinterließ. Tagebücher, Briefe, in denen die Autoren sich und ihr Verhältnis zu Dritten, Gott und der Welt, den eigenen Ort in der Gesellschaft und im Universum reflektieren.212 Gemein war ihnen allen, dass es zur Realisierung der Selbstentwürfe Mittel brauchte. Das Geldinteresse wurde vom modernen Subjektivismus forciert, als Gift in die Lanzu Lasten der sozialen und politischen Kohäsion wurde Es umfasste und nicht.213 es desangelegenheiten hineingetragen sie vornherein. Vorwurf der konstituierte Der von Selbstbereicherung und Vörteilnahme mochte erhoben werden, doch angesichts der strukturellen Verwobenheit von Ökonomischem und Politischem lässt sich von „Korruption" nicht sinnvoll sprechen. Das würde eine klare Unterscheidbarkeit beider, von privatem/wirtschaftlichem und öffent-

lichem/politischem beziehungsweise Verwaltungshandeln

zen, deren Demarkation erst gezogen 211

vorausset-

wurde.214

Vgl. Lotman, Rußlands Adel, S. 277: „Die Menschen des zu Ende gehende 18. Jahr-

hunderts setzen vor allem durch ihre ausgeprägte Individualität in Erstaunen. Liest man ihre Biographien, meint man Romane zu lesen." 212 „Briefe schreibend entfaltet sich das Individuum in seiner Subjektivität": Habermas, Strukturwandel, S. 113. In wörtlicher Entsprechung der dort zitierten Wendung, die die Gesinnung ausdrückt, mehr als bloße „Zeitung" darbieten zu wollen, Howen an den Ritterschaftskonsulenten Nerger 10./21.12.1792 (Seraphim, Briefe Howens I, S. 452): „Verzeihen Sie [...] diese Ergießung meines Herzens". Wobei es sich um Hinweise für die antiherzogliche Agitation handelte wie zu Demonstrationszwecken bedient sich der vielleicht radikalste Vertreter eines pragmatischen Subjektivismus in der politischen Konspiration des Duktus der Empfindsamkeit. Zur Briefkultur in Kurland überhaupt vgl. Rosenberg, Steffenhagen, S. 238; Zunahme der Tagebücher für Estland: Jaago, Tagebücher, S. 31 f. 213 So der Tenor der Dekadenzthese etwa bei Brüggen, Beiträge, S. 416: „Sahen die meisten Fürsten in dieser Zeit des niedergehenden Absolutismus die Staatsgeschäfte zu erheblichem Teil als persönliche Geldgeschäfte an, so war der Private um so eher bereit, aus der Politik eine Anstalt des Gelderwerbs zu machen." Ähnlich, wenn auch mit größerem, historistischem Verständnis Seraphim, Briefe Howens I, S. 438. Das Problem war freilich keines der alten Ordnung an sich, sondern der Verteilungskonflikte bei der Durchsetzung einer neuen. 214 Soziologisch gesprochen: die Existenz differenter Feldlogiken, bevor deren gegenseitige Penetration als „strukturelle Korruptheit" beschrieben werden könnte; vgl. Bourdieu, Fernsehen, S. 21; auch Neuschäffer, Forstgeschichte, S. 55. Dass diejenigen, die unterliegen, immer einen schärferen Sensus dafür haben, dass es eigentlich anders sein sollte, versteht sich; vgl. etwa die Klage Friedrich Schulz', Reise, S. 205, über das Warschauer Justizwesen: „Da überdies in Polen derjenige, der bloß Recht hat und nichts weiter, gewöhnlich Unrecht behält, so ist es unum-

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Die Praxis der Bereicherung

der Anstaltsstaat kaum ausgeprägt war, basierte der Vollöffentlicher zug Angelegenheiten wesentlich auf Klientelismus;215 die mit fürstlicher Spitze" funktionierte als umfassender „Adelsrepublik Kompensationsverband. Wer ein Amt übernahm oder einen Dienst leistete, brachte eigene Mittel ein und rechnete über kurz oder lang mit einer adäquaten Entschädigung seiner Bemühungen, einem Titel, einer Arrendé oder Pension. Willigungen zu Delegationen stellten inoffizielle Auslagen in Rechnung, Delegierte an einen Hof die lukrativen Seiten ihrer Mission, den Orden, den Kammerherrn, die goldene Tabatière,216 ein Geldgeschenk. Dabei waren Ehren und dingliche Gratifikationen miteinander verrechenbar, oder besser: Aspekte ein und desselben. Der Kammerherrenschlüssel war buchstäblich einer, öffnete Türen zu späteren Vorteilen, die materielle Darreichung stellte eine Auszeichnung dar, bei den Orden ging eins mit dem anderen einher, an Status hingen Rechte und Erwerbschancen, unter Umständen forderte die Ehrung eine neuerliche Investition, die Anfertigung der Insignien beispielsweise.217 Letzten Endes fungierte Geld als Universaltauschmittel des prinzipiellen Do ut des. Allein im Unterschied zur Spezifik diskretionärer Tauschakte auf differenzierten Märkten charakterisierten das vormoderne System vielschichtige Austauschbeziehungen und rückgekoppelte Interaktionsräume. Folgerichtig durchziehen die zeitgenössischen Kampfschriften Vorwürfe einer wie auch immer gearteten konkreten Treulosigkeit und des Eid- und Paktbruchs, der beschädigten Ligatur gegenüber dem modernen eines Vergehens gegen eine abstrakte Bereichsnorm. Zwar begann der Gedanke des Dienstes an einem Allgemeinen sich aus dem Begriff der Landschaft zu bilden und in die Debatte zu fließen.218 Doch die hohe Zeit des Idealismus im doppelten Wortsinn kam später, als die Saturierten über mehr Muße als Legitimität verfügten, für die schlecht Weggekommenen ein Trost erforderlich wurde, vor allem: die Sphären

Solange

-

215

216 217 218

gänglich nötig, daß man es durch Geschenke an die Anwälte, Berichtsteller und Richter befestige. [...] So entsteht ein doppelter Rechtskampf: einer mit Urkunden und Gesetzen, ein anderer mit Dosen, Ringen und Dukaten. Im letzteren die Oberhand haben, heißt im ersteren gewinnen". Vgl. dazu grundsätzlich Nolte, Patronage, v.a. S. 13 (Spannungsverhältnis zum Ständesystem); hier mit Blick auf die Nähe zu Polen wichtig: Topolski, Patronage, v.a. S. 22ff. (Klientelwesen unter den Voraussetzungen politischer Gleichheit bei ökonomischer Ungleichheit). „Tabakdosen mit dem Abbild des Herrschers galten als Zeichen höchster Gunst und wurden höher als Orden gewertet": VilIte, Konfiskation, S. 38. Vgl. allgemein Pecar, Ökonomie der Ehre. Dietrich v. Keyserling gegen den Landesbevollmächtigten Ernst v. d. Brüggen, LVVA5759/2/1337, p. 12.

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Das

Herzogtum

institutionell auseinandertraten, Differenzierung als gesellschaftlicher Reflex der modernen Subjektphilosophie interpretierbar und problematisch wurde.219 Andererseits, es gab einen „Patriotismus"220, die Idee und Praxis einer Verwendung zum Besten des Ganzen über das Maß hinaus, für das man auf Kompensation rechnen konnte. Etwa die unentgeltliche Ämterführung und schriftstellerische Tätigkeit auf politisch-historischem Gebiet eines Hermann Ulrich v. Blomberg scheint von dieser Art gewesen zu sein. Freilich ging auch er nicht leer aus, erhielt schließlich den Rang eines russischen Staatsrats, ließ es sich aber an der Ehre genug sein und verzichtete auf eine Belohnung von mehreren hundert (ihm allerdings entbehrlichen) Talern, die die piltensche Ritterschaft für eine Kompilation ihrer landtäglichen Schlüsse ausgelobt hatte.221 Man kann das als Tausch eines überschaubaren materiellen Vorteils gegen Anerkennung interpretieren, die wiederum eng mit zukünftigen Wohlfahrtschancen verkoppelt war; im Kern dürfte es sich gleichwohl um eine Mischung aus Liebhaberei und eben Dienstsinn gehandelt haben. Beides wurde zugleich trotz und wegen der wachsenden ökonomischen Potentiale verstärkt möglich strukturbildende Kraft gewann solches Verhalten vorläufig nicht. Das anreizdefinierende Integral von „politischen" und „privaten" Bereicherungschancen blieb bis zum Ende der Herzogszeit und in Teilen darüber hinaus weitgehend intakt. Ehre und öffentlicher Einfluss blieben Derivate pekuniärer Potenz, wie andererseits Lebenschancen aller Art vor dem Hintergrund erweiterter, zugleich kostspieliger gewordener Möglichkeiten in der politischen Arena verteilt wurden. Das lud die Konflikte jenseits allen Berechtigungsempfindens und Freiheitsstolzes existentiell auf und stimulierte jene Dynamik, die sich im letzten Jahrzehnt der Regierung Peter Birons voll entfaltete und schließlich den Rahmen aufsprengte. Den materiellen Aspekt aus einem Machtkampf ,an sich' zu eskamotieren,222 führt derweil am Ver-

-

219

Allgemein

-

Politischwerden der modernen Fundamentaldichotomie: HaberModerne, v. a. S. 166, 195, 355. 220 Vgl. unten, S. 17Iff. 221 Schwartz, Staatsschriften, S. 272ff. Eine ähnliche Sichtungs- und Zusammenführungsarbeit, für das Corps von höchster Bedeutung, für den einzelnen eine mühevolle, zeit- und geldaufwendige Sache, leisteten in Kurland Georg v. d. Recke und Eberhard Johann v. Medem: Recke, Auszug; Medem, Fortsetzung der Auszüge. 222 So Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 12: „Der ununterbrochene Kampf zwischen Herzog und Adel ließ die wirtschaftlichen Interessen einigermaßen in den Hintergrund treten." Ähnlich Strohm, Kurländische Frage, S. 361: In den 1760er Jahren habe es sich „um einen geradezu typischen Ständekonflikt [gehandelt], bei dem allein die Machtfülle Ernst Johann Birons den Kernpunkt der Auseinanderzum

mas, Diskurs der

141

Die Praxis der Bereicherung

ständnis der Zusammenhänge ebenso vorbei wie von der Moral und den Strukturbedingungen des 19. Jahrhunderts inspirierte, entrüstete oder enttäuschte Verfehlungsgeschichten223 oder spätere klassentheoretische

Grobverortungen.224

Als Pendant zu einer Clique geschickter wie skrupelloser Frondeure, die eine zu selbstischer Anarchie neigende Ritterschaft immer neu aufzuwiegeln verstanden, um in den fortdauernden Wirren auf ihre Kosten zu kommen,225 ist von Herzog Peter das Abziehbild eines Fürsten in die Historiographie eingegangen, der zu schwach, zu aufbrausend und zu kurzsichtig war für sein Amt, überforderter Repräsentant eines borniert genussfrohen Ancien Régime, großer Mäzen, dabei kompromissunfähig und am falschen Ort geizig: im Grunde untüchtig.226 Tatsächlich frustrierte Biron an ihn gestellte Kompensationserwartungen für geleistete Dienste mit einer Notorietät, die selbst entschiedene Parteigänger gegen ihn aufzubringen geeignet war.227 Hatten seisetzungen bildete." nicht.

Typisch mag der Streit gewesen sein, um Macht allein ging es

223 Richter, Geschichte; Bilbassow, Vereinigung, v. a. S. 301; Seraphim, Geschichte; ders., Briefe Howens (Einleitung); Cruse, Curland; mit halbherziger Historisierung auch Kurland und seine Ritterschaft. Vgl. a. oben, Anm. 11. 224 So noch Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 7, 209f. 225 Das ist der Tenor von Richter, Geschichte, über Bilbassow, Vereinigung, bis Strods, Kurljandskij vopros. Paradigmatisch für die ältere deutschbaltische Geschichtsschreibung Seraphim, Geschichte, S. 322, der Kurland den „kleinen Territorien" des Alten Reichs an die Seite stellt, „wo verrottete Duodezhöfe und allmächtige Landstände einer normalen Entwicklung unzerreißbare Hemmnisse in den Weg legten". Die Kontrastfolie des geordneten Normalfalls ist selbstredend Preußen. 226 Grundlegend und historiographieprägend die entsprechenden Kapitel bei Cruse, Curland, Bd. 2, S. 177ff.; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 193ff.; vgl. a. Diederichs, Nachwort, S. 324; Seraphim, Geschichte, S. 304ff. Zuletzt hat eine Ausstellung in Ruhental 2001 den Kunst- und Familiensinn des in politicis offensichtlich als unrehabilitierbar abgeschriebenen letzten Herzogs hervorgehoben. Das nahezu einhellige Urteil der Zeitgenossen über die persönlichen Defizite des Fürsten pointiert mit einiger Verzweiflung der preußische Resident Hüttel, Bericht vom 10.4.1791: Brüggen, Beiträge, S 442 f. 227 Bittere Beschwerde Ernst Philipp v. Drachenfels': LNB Rx 100 K/116, p. 103; Klagen des Gesandten Manteuffel : ebd. 111/1/12,p. 15; ebd. /15, p. 25 ; zum in dieser Hinsicht fatalen Geiz des Herzogs auch der Bericht Hütteis 1.4.1792: Brüggen, Beiträge, S. 523; Elisa v. d. Recke an Manteuffel 12.2.1791, LNB Rx 111/1/14, pp. 14ff. Vgl. a. Hagen, Biographie, S. 189f.; Recke, Journal, S. 97; Heyking, Letzte Tage, S. 290; Nachteile aus eingesparten Bestechungssummen: Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 173. „Ein Mächtiger, der für die Seinen nicht/Zu sorgen weiß, wird von dem Volke selbst/Getadelt" (Goethe, „Tasso", 656ff). -

142

Das

Herzogtum

früheren Souveränitätsambitionen schon Anstoß genug erregt,228 so durchsetzten sich diese zumal nach der Geburt der Töchter mit einer nahezu obsessiven „Passion zu thesaurieren", die den Adel erst recht verprellte.229 Peters wie Dorotheas Briefe prägt ein inniges Interesse an der Vermögenssicherung für ihre Kinder, das je länger desto mehr auf sicheres Auskommen und eine Zukunft außer Landes abstellte,230 und insbesondere die während ihrer Europareise 1784/87 noch einmal kräftig gesteigerten Ankäufe von Herrschaften im Ausland mit Mitteln, deren Herkunft aus Lehn oder Allod faktisch nicht entscheidbar war,231 gab der Opposition das Argument an die Hand, Biron betrachte ,,[s]ich und das Vaterland [...] als zwei ,ganz separirte Gegenstände'".232 Indes stimmt auch das Gegenteil: Biron unterschied überhaupt nicht zwischen Allodial- und Lehnseinkünften er scheute lediglich politische Ausgaben. Allenfalls investierte das Herzogspaar in den Rechtsstreit um das Land, das die Oberräte mit minimalem Aufwand gewinnbringend verwalten sollten. Als der Kampf dann trotz erheblichen Engagements verloren zu gehen drohte, äußerten sich beide zeitweilig willens, auf die Würde zu verzichten, sofern der Restbehalt stimmte,233 und nur konsequent wurde zu der Zeit die Errichtung einer Grenzkommission, die Allod und Lehn entflechten sollte, sowie deren günstige Besetzung ein vordringliches Anliegen der Birons.234 Jenseits aller Zufälligkeiten im Charakter liegt auch darauf die Signatur der angesprochenen Zeittenne

-

-

228 Zumal

man

ihn als Fürst nicht für voll nahm: Seine Floskel „wir Potentaten" lief

zeitweilig in Mitau als Kalauer um (Heyking, Letzte Tage, S. 193; ebd. ff. überhaupt zur Verächtlichmachung Peters), und ein Indigener soll dem zu einem Maskenball als Bauer erschienenen Fürsten einen Zettel auf den Rücken geheftet haben, „Heute bist du was du bist/Bau'r im vollen Staate;/Morgen bist du wieder Fürst,/Dann

(Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 237) ist der Pennälerscherz erfunden, dann wohl treffend. 229 Bericht Hütteis 1.4.1792: Brüggen, Beiträge, S. 523. 230 An Manteuffel 1790/92, LNB Rx 111/1/13, p. 78; ebd./14, pp. 13, 18, 50, 65; ebd. /15, pp. 2, 33 f., 36. Auch wenn die Angabe von jährlich 50 000 Dukaten Rücklagen für die Töchter (Reskript an Hüttel 18.3.1792: Brüggen, Beiträge, S. 521) angesichts von Birons Bareinkünften insgesamt (vgl. Anh. 11) zweifelhaft scheint, erst ist Mask'rade"

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fehlte das Geld für die Bildung und Aufrechterhaltung von Loyalitäten. 231 Cruse, Curland, Bd. 2, S.185L; Brüggen, Beiträge, S. 425, 590. 232 Heyking, Finanzwirthschaft, S. 13; ähnlicher Vorwurf zt. bei Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 209. 233 Biron an Manteuffel 27.10.1791, LNB Rx 111/1/14, p. 60; Dorothea an dens. 18.8.1792, ebd./15, p. 34; bei ihr kam Überdruss an der zerrütteten Ehe hinzu. 234 Raison an Manteuffel 31.10.1790, LNB Rx 111 /1 /13, p. 78. Zugleich ging es um die Feststellung möglicher Schmälerungen des Lehns durch die Arrendatoren: Biron an dens. 1.2.1792, LNBRx 111/1/15, p. 3.

143

Die Praxis der Bereicherung

denz, des Selbstinteresses und Interpretationsbedürfnisses gegenüber

sozialen Rollenvorgaben, eines Individualisierangsstrebens, das Öffentlich und Privat am Beginn der Moderne auseinandertrieb und die Frage aufwarf, wie das Erbe der integralen Ordnung aufzuteilen war. Es entbrannte gleichsam ein vorweggenommener Nachlassstreit um den frühneuzeitlichen Staat, der das Ineinander von privaten und öffentlichen Bereicherungschancen zunächst noch einmal intensivierte.235 Dass Birons Rolleninterpretation und damit die kurländische Variante des (Traums vom) „aufgeklärten Absolutismus" eher eine Art Landes-Gutsherrn als einen machtsinnigen Ersten Staatsdiener, einen nach Gutdünken zum Besten seiner Kleinfamilie disponierenden Großgrundbesitzer vorstellte, reflektiert das Dilemma eines zum Königreich zu kleinen, für ein windgeschütztes Duodezfürstentum zu reichen und zu exponierten Territoriums, mit dem angesichts der äußeren und inneren Machtverhältnisse im Wortsinne kein (modemer) Staat zu machen war. Hierher gehört auch, dass im Rahmen des mächtepolitischen Ringens um Kurland und Polen von verschiedener Seite, vor allem Russlands, eine Nachfolge des erbenlosen Peter Biron aus der Nachkommenschaft seines Bruders Karl erwogen und mit privatrechtlichen Ansprüchen an das Allod der Druck erhöht wurde.236 Während einerseits Differenzierung und Individualisierung die Erbauseinandersetzung im metaphorischen Sinn antrieben, unterlag Birons Sache andererseits den Funktionsgesetzen des frühneuzeitlichen Fürstenstaates, für den die tatsächliche Thronfolge stets ein Politikum, wenn nicht das Politikum schlechthin war.237 Beides ging ineinander über und es lag im Interesse zentraler Akteure, die mit den Spannungszuständen einhergehende finanzielle Dauerbela-

-

-

stung aufrechtzuerhalten.238

Was dem Herzog bei der Allodifikation Würzaus recht war, schien folglich den beteiligten Adligen mit Bezug auf andere Lehngüter billig beide Seiten machten sich daran, von dem stetig wertvoller werdenden Boden239 an sich zu bringen, was zu erlangen war, und warfen eben dies der anderen Seite vor. Materielle Interessen gingen mit konfligierenden Selbst- und Rechtsvorstellungen eine Verbindung zu Dispo-

235 Zur verfassungsprogrammatischen Reaktion s. unten, S. 204ff., 226ff. 236 Raison an Manteuffel 21.3.1790, LNB Rx 111 /1 /13, pp. 59f; Dorothea an dens. 11.2.1791, ebd./14, p. 12. 237 Vgl. Kunisch, Staatsverfassung, v.a. S. 14. 238 Elisa v.d. Recke an Manteuffel 12.2.1791, LNB Rx 111/1/14, p. 15. 239 Zum nochmaligen Anziehen der Güterpreise und -umschlage in der zweiten Hälfte der 1780er Jahre s. Anh. 4.

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Das

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sitionen240 ein, die zugleich hochbrisant und blockadeanfällig waren und

So wie sich in Peseiner Frau herrschaftliche Ansprüche mit den Begriffen und Sehnsüchten des Zeitalters der Empfindsamkeit und des absoluten Privateigentums verbanden, verschmolzen bei den Indigenen Adelsstolz und Freiheitsbewusstsein, eingewöhntes ständisches Selbstwertgefühl und zeitgenössischer kritischer Habitus mit kräftigem, chronisch mittelbedürftigem Ichempfinden und nüchternem Machtverständnis. Als Karl v. Heyking 1777 eine Schuldforderung gegen den Herzog geltend gemacht und eine ihm „ebenso flach wie unhöflich" erscheinende abschlägige Antwort erhalten hatte, beschied er seinem Landesherrn: „Est ce à Vous, Monseigneur, qui n'avez ni conquis ni acheté ma patrie et qui ne tenez la Courlande que de la magnanimité de l'immortelle Catherine, à prendre ce ton despotique, qu'un Souverain absolu ou un conquérant pourrait tout au plus se permettre? mais qu'un Duc Vassal de la Pologne et primus inter pares en Courlande ne devait jamais employer envers un membre de cette même noblesse, à laquelle S. A. le Duc Votre père a demandé l'indigénat avec tant d'instances et qu'il n'a obtenu qu'avec tant de peines. Vous avez donc oublié, Monseigneur, qu j'ai le droit de Vous citer aut jugements de relation? Pour rappeler à V A. cette prérogative je ne tarderais pas de porter à ce tribunal suprême d'un Roi juste et éclairé et à un Senat digne de ses fonctions augustes la validité de mes titres et de mes réclamations."241 Der Herzog, empört über den Tonfall des Schreibens, wandte sich nach Petersburg um Maßregelung seines zu der Zeit in russischen Diensten stehenden, wie er dafürhielt: Untertans. Der jedoch erklärte dem Fürsten Repnin auf die Frage, mit welchem Recht er „seinem Souverän" einen „impertinenten Brief geschrieben habe: „Ach! dem Herzog! Er ist nicht mein Souverän. Ich erkenne als meinen Souverän nur die Kaiserin von Rußland an und zwar aus freier Wahl [...], und den König von Polen durch meine Geburt."242 Die Rivalitäten am russischen Hof ausnutzend, den damaligen Intrigen Potemkins zuspielend, ging Heyking aus der Affäre noch gestärkt hervor.243 Mit solchem Adel war schlecht um Geld und Rechte streiten. Peter Biron ließ sich dennoch darauf ein und nahm die Politik seines Vaters

Außensteuerung und bipolare Verfassung ergänzten.

ter Birons Person und der

...

240 Der Begriff scheint mir treffender als der der „Mentalität", insofern er weniger umfassend angelegt ist und auf etwas weniger fest Eingewurzeltes verweist. 241 Heyking, Letzte Tage, S. 208; zum Diskurs, den die Stichwörter „Vaterland", „Despotismus", „Absolutismus", „aufgeklärt" markieren, s. das folgende Kapitel. 242 Heyking, Letzte Tage, S. 209. 243 Heyking, Letzte Tage, S. 210ff, 215.

Die Praxis der

Bereicherung

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wieder auf, eine obrigkeitliche Durchformung der Domänenökonomie mit dem Ziel effizienterer Abschöpfung. Eskalation

1780 erließ Biron eine neue Amtsordnung, die neben Policey-Vorschriften vor allem Dispositionen zu einer intensiveren und integriert diversifizierten, zugleich nachhaltigeren Landwirtschaft enthielt; 1781 folgten die „Fürstlichen Amts-Observationes in Ansehung der zu führenden Amts-Rechnung".244 Zur selben Zeit begann der Herzog, die Äm-

umfangreichen Wirtschaftseinheiten, „Oeconomien", zusammenzulegen, so dass, wie die Adelsopposition klagte, „der größte Theil der Feudalgüter, welche zur Zeit des Vertrages [der Kompositionsakte 1776, M. M.] von Edelleuten einzeln in Arrendé besessen wurden, in große, mithin wenige Oekonomien dergestalt vereinigt und zusammengezoter zu

gen worden, daß auf denselben Gütern, auf welchen so wie sie vorher getrennt waren, hundert und mehrere arme adliche Familien, Wohnung und einige ökonomische Vortheile gefunden hätten, 4 bis 6 Oekonomien mit einer mäßigen Besoldung angesetzt sind."245 Der verbleibende Teil sollte zum Meistbot und auf kurze Frist ausgegeben werden. Dieser Versuch einer fiskaladministrativen Rationalisierung wurde zum Treibsatz einer Eskalation, die das Vorhergegangene in den Schatten stellte, indem massierter als zuvor zwei „materielle Lebensinteressen" aufeinanderstießen.246 Führt man sich vor Augen, dass der Indigenatsadel über etliche hundert erwachsene männliche Mitglieder verfügte,247 die Privatgüter aber kaum mehr als 450 ausmachten, davon die Mehrzahl klein oder zu mehreren in einer Hand,248 gewinnt die fortwährende Klage der Ritterschaft, es gehe bei den Domänen um ihre Existenz, harten Ernst.249

Agrargesetzgebung, S. 210ff. Bezeichnenderweise lösten sie die Amtsordnung von 1738 ab, also aus der Reduktionszeit unter Herzog Ernst Johann. LVVA 640/4/85, pp. 352f. Vgl. a. Bericht Hütteis 8.12.1791: Brüggen, Beiträge, S. 514; Heyking, Finanzwirthschaft, S. 13f; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 201; auslösendes Moment für den endgültigen Umschwung zugunsten der Fronde um Howen: Kurland und seine Ritterschaft, S. 15; Seraphim, Geschichte, S. 310. Zt.: Seraphim, Briefe Howens I, S. 438; vgl. a. Brüggen, Beiträge, S. 424. Die Seelenrevision von 1797 wies 2.367 adlige Personen insgesamt aus, darunter aber wohl einige Nichtindigene: Hoheisel, Bevölkerung 1797, S. 555. Anh. 6 und Anh. 7, Tab. 3, 4, 9a)-c). Im Spätjahr 1786 kamen denn auch 347 Supplikanten auf 30 freiwerdende Arrenden: [Karl?] v. Medem an Manteuffel, LNB Rx

244 Germanis, 245

246 247 248

111 /1/12, p. 2. 249 Klar gesehen auch in der Partei des Herzogs: Bericht Hütteis 8.12.1791 (Brüggen, Beiträge, S. 514f). Dabei ist zu bedenken, dass die Naturalwirtschaft der Güter,

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Erst das eröffnete den rivalisierenden politischen Köpfen die Chance, den Konflikt zu bewirtschaften, sei es zu Statuserhalt und Bereicherung auf mehr oder weniger hohem Niveau, sei es zur Bewahrung des Corps als solchen. Gleichwohl verließ sich Biron auf die ihm wiederholt bestätigte Organisationshoheit bezüglich der Lehngüter und begab sich 1784 mit seiner Familie auf die erwähnte Reise nach Italien und Deutschland, die am Ende knapp drei Jahre dauerte.250 Zu solchem Leichtsinn mochte ihn der Ausgang des dreizehnjährigen Konflikts mit der Ritterschaft bestimmen, in dem diese faktisch nichts hinzugewonnen hatte,251 das Gefühl des Sieges und einer guten Einrichtung seines Besitzes, persönliche, auch gesundheitliche Gründe, schließlich dynastische und diplomatische Interessen -252 es blieb eine eklatante Fehlentscheidung. Denn wohl stand fest, dass in Abwesenheit des Fürsten die Oberräte die Regierung zu führen hatten, doch ob in voller Stellvertretung mit umfassender Entscheidungsbefugnis oder lediglich die Alltagsgeschäfte weiterverwaltend, war umstritten und hatte bereits zu Beginn des Jahrhunderts zu heftigen Auseinandersetzungen geführt.253 Auf die Dauer von drei Jahren vermochten nun auch die grundsätzlich loyalen Räte dem Druck der Fronde nicht standzuhalten, die weitergehende Auslegung zu akzeptieren und wesentliche Veränderungen vorzunehmen. Mit dem Januarlandtag 1786 brach der Damm. Die Oeconomienbildungen wurden sukzessive rückgängig gemacht und die Güter wieder einzeln verpachtet, zudem zum völlig realitätsfernen Anschlag von 1737 und auf sechs Jahre; die Salärs der Amtsträger wurden teils beträchtlich heraufgesetzt, neue Stellen geschaffen der eingangs skizzierte Beutezug des Adels gegen das herzogliche Vermögen nahm seinen Lauf.254 Als Peter Biron im Frühjahr 1787 zurückkehrte, zog sich allein die erste Schadensaufnahme bis zur Jahreswende hin.255 Anschließend war das Vertrauen derart zerrüttet, dass die herzogliche Seite jedes Verhandeln der Gefahr wegen scheute, Landschaft und Oberratskollegium könnten darin nur Anlass zu weiteren „Anmaßungen" sehen, neu-

250 251 252 253 254 255

bevor sie bare Gewinne trugen, den Besitzern die Subsistenz sicherte; vgl. Ziegenhorn, Staats Recht, § 621, S. 247. Von August 1784 bis Frühjahr 1787: Arbusow, Grundriß, S. 253 f. Vgl. Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 198 f. Ka.dziela, Spar szlachty kurlandzkiej, S. 22f. Cruse, Curland, Bd. 2, S. 186f.; vgl. a. Strohm, Kurländische Frage, S. 31 ff. Wie oben, S. lOOf.; v.a. Etwas aus der Lebensgeschichte... (wie Anm. 4); Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 202ff.; Cruse, Curland, Bd. 2, S. 188ff. Raison an Manteuffel 20.12.1787, LNBRx 111 /1 /12, p. 17.

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Die Praxis der Bereicherung

erlich „ihre Hand in die Angelegenheiten des Fürstlichen Hauses zu mengen".256 Vielmehr wurde der herzogliche Gesandte in Warschau, Carl v. Manteuffel-Platon, mit den Mitteln ausgestattet, eine vollständige Revision des Regentschaftshandels zu betreiben,257 und damit der Auftakt zu einem mit äußerster Bitterkeit vor dem Großen Sejm ausgetragenen Rechtsstreit258 gemacht, der im Lauf von sechs Jahren beiden Seiten die Kosten eines kleineren Bürgerkriegs verursachte bis Oktober 1792 wandte allein der Herzog eine Million Rth. alb. auf.259 Dem hatte die Landschaft auch bei fortdauernden erheblichen Willigungen keine gleichwertigen Beträge entgegenzusetzen,260 so dass Biron lange davon ausging, sich mit den besseren Prämien bei den polnischen Instanzen durchzusetzen.261 Was der in Warschau exzellent vernetzte Ritterschaftsdelegierte Heyking an Beziehungskapital in die Waagschale warf,262 wog der Herzog auf, indem er seine Frau an den königlichen -

256 Raison an Manteuffel 17.5.1789, LNB Rx 111 /1 /13, p. 1. 257 Biron an Manteuffel 1.8.1787, LNB Rx 111/1/12, p. 6; bis August 1791 90000 Dukaten: Bericht Hütteis 4.8.1791 (Brüggen, Beiträge, S. 454). 258 Material: Schwartz, Staatsschriften, Nr. 202ff., S. 315ff. 259 Bericht Hütteis 7.10.1790: Brüggen, Beiträge, S. 590. Die jährlichen Bareinkünfte des Herzogs beliefen sich demgegenüber auf knapp 400000 Rth. alb.; vgl. Anh. 11. 260 Die Abrechnung des Landesbevollmächtigten Eberhard v. Mirbach über die ihm für die 1790-1793 in Petersburg und Warschau geführten „Negocen" assignierten Mittel beläuft sich auf insgesamt 84793 Rth. alb.: LNB Rx 100 K/l 16, p. 135; dazu kamen mehrere zehntausend, die Mirbach, Heyking und Howen direkt bewilligt (Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 230f.; Bericht Hütteis 6.12.1792: Brüggen, Beiträge, S. 594) oder von den Beteiligten privat investiert wurden (Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 171; Bericht Hütteis 20.11.1791: Brüggen: Beiträge, S. 510) -jedoch nichts in der vom Herzog verauslagten Größenordnung. Zwar gelang es insbesondere Howen, durch doppeltes Spiel auch auf die Ressourcen des Herzogs zuzugreifen (Bericht Hütteis 13.11.1791: Brüggen, Beiträge, S. 508; gescheiterter Versuch: ders. 6.12.1792, ebd., S. 594), doch dürfte sich das mit den von ihm und anderen Akteuren der Adelsopposition unterschlagenen Mitteln in etwa die Waage gehalten haben; vgl. Jakob v. Sievers' Mitteilung an Katharina, zt. bei Heyking, Letzte Tage, im Nachwort des Hg., S. 495; Etwas aus der Lebensgeschichte..., LVVA 640/2/254, p. 13. 261 Bericht Hütteis 1.3.1792: Brüggen, Beiträge, S. 521. Komplementär Howens Warnung an Nerger 28.12.1792/8.1.1793 (Seraphim, Briefe Howens II, S. 10) vor Polen, „wo man bey allen Gelegenheiten wieder die mit uns gemachten Verträge handelt [...] gegen das Geld des Herzogs, welches wir aufzuwiegen nicht im Stande sind". 262 Er gehörte zur Klientel Felix Potockis: Raison an Manteuffel 26.11.1789, LNB Rx 111/1/13, p. 46; Heyking, Letzte Tage, v.a. S. 383ff. Verbindung der Potocki mit den Wettinern, zu deren altem Anhang wiederum der Karoliner Heyking zählte: Schulz, Reise, S. 209.

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Das

Herzogtum

Hof schickte;263 während die Ritterschaft russischen Granden Indigenate votierte, teilweise unter Erfassung der sonst üblichen Gebühren,264 zahlte er ihnen Jahrgelder.265 Ökonomisch und damit politisch, ergo rechtlich saß der Herzog am längeren Hebel.

Das wog um so schwerer, als die Front seiner Gegner alles andere als geschlossen war. In der Sache reichte sie von rein defensiven bis zu überaus aggressiven Positionen, es gab etliche furchtsam Unentschiedene, und immer noch verfügte Biron über eine Reihe loyaler beziehungsweise ihm klientelär und/oder verwandtschaftlich verbundener Parteigänger.266 Vor allem jedoch nützte der Konflikt nur vordergründig dem unbegüterten und von der herzoglichen Politik in seiner Existenz bedrohten Teil. Unmittelbare Nutznießer waren zunächst die ohnehin abgesicherten direkt Beteiligten, bei denen sich Besitz und Einfluss bündelten. So enthält eine Liste von 30 Personen, die auf Druck Petersburgs und der Opposition mit Arrendegütern ausgestattet werden mussten, weniger Unbesitzliche als vor allem begüterte Indigene sowie nichtindigene russische Untertanen.267 Angesichts der Praxis des Eingreifens kann das nicht wundernehmen: Die Listen kamen wesentlich auf Hinweise des russischen Residenten in Mitau, Rückmann, hin zustande, der sich dafür wiederum entschädigen ließ.268 In Dorotheas zweifellos -

263 Heyking, Letzte Tage, S. 226ff., 345, 370f.; Heyking an Mirbach 25.9.1790, LVVA 1100/7/6, pp. 99f; vgl. a. oben, Anm. 190. 264 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 202. Beides stieß auf öffentliche Kritik, nicht immer in klarer Sicht der Zusammenhänge: 1789 brachte Ernst v. Tiedewitz ein Deliberatorium ein, das sich gleichzeitig gegen diese Praxis und gegen die Wiederherstellung des aufgehobenen Oeconomiensystems wandte (Schwartz, Staatsschriften, Nr. 212, S. 329). 265 Bericht Hütteis 12.8.1792: Brüggen, Beiträge, S. 585f; ders. 8.11.1792, ebd., S. 592. 266 Dorothea an Manteuffel 16.6.1792, LNB Rx 111/1/15, pp. 11 f.; dies, an dens. 9.9.1792, ebd., p. 35; Elisa v. d. Recke an dens. 20.6.1792, ebd., p. 16; dies, an dens. 9.8.1792, ebd., p. 30; Bericht Hütteis 10.7.1791: Brüggen, Beiträge, S. 452. Darunter freilich etliche, deren Loyalität sich primär auf Polen bezog. 267 LNBRx 111/1/15, pp. 50ff. 268 U.a. wurden zu Johanni 1792 seine Schulden durch „unsere Tollkühnen" beglichen: Dorothea an Manteuffel 18.8.1792, LNB Rx 111 /1 /15, p. 32; Biron schätzte Rückmanns Erlöse aus dessen Interventionen auf 50000 Taler: an Manteuffel 31.3.1793, ebd., p. 64. Große Mühe gab sich Rückmann mit der Vertuschung nicht: Eine weitere „Consignation du personnes attachés à Sa Majesté Imperiale et à leur Patrie, qui ne possèdent aucune ferme", beugt Verwechslungen vor, indem sie bei etlichen Kandidaten das Gut mitnennt, auf dem sie sitzen (Depesche Rückmanns 20.1./19.2.1794, LNBRx 111/1/19, p. 10). Bisweilen war der Weg auch der umgekehrte und sorgten Petersburger Akteure für ihren Anhang: Markov an Rückmann 14.2.1794, ebd., p. 42; Howen wiederum nahm an Rückmann vorbei direkt

Die Praxis der

Bereicherung

149

parteiischem Urteil: „Der arme Theil des Adels wird also die Vortheile der Arenden nie genüßen[,] die Reichen werden Rückmann bezahlen^] der bey der Gelegenheit gut erndtet. Der Schwedische Baron ist sein Unterhändler[,] der die Preise bestimmt u. dabey auch profitirt[;] dieser soll zur schuldigen Danksagung nebst die beyden Doerpers das Indige-

nat

erhalten."269

Vor diesem Hintergrund sei die Frage nach dem Armutsrisiko im Adel und seinen Ursachen noch einmal aufgegriffen. Zunächst relativiert sich die Knappheit der Privatgüter, stellt man die Möglichkeit des Grunderwerbs im benachbarten Litauen in Rechnung. Die Grenze war eher ein fließender Saum, auch in politisch-rechtlicher Hinsicht,270 und etliche Familien hatten sich seit langem dort ansässig gemacht, primär in den Gebieten Schoden, Zeymel und Birsen, verstärkt seit Herzog Ernsts Ämterauslösungen. Ein Sample von 476 männlichen Individuen ergibt,271 dass zwischen einem Fünftel und einem Viertel derjenigen, die bis zum Ende der Herzogszeit in das Alter kamen, eine Existenz zu gründen, in Litauen besitzlich waren, ein erheblicher Anteil davon ausschließlich. Ein gewisses Kompensationsreservoir war also vorhanden. Zugleich steigt jedoch von Kohorte zu Kohorte der Anteil sowohl der in Kurland und Pilten als auch der überhaupt Unbesitzlichen signifikant an (von einem Zehntel auf über ein Viertel) und wächst unter den übrigen derjenige des Kleinbesitzes (mit einem Gut) sowie der in Petersburg Einfluss auf die Vergabe: Howen an Nerger 17./28.12.1792, ders. an Mirbach 21.12./1.1.1792/93 (Seraphim, ßne/e//owns I,S. 456;ebd.II,S. 2).Der Herzog versuchte, sich zu wehren, indem er teils „Leute ohne Verdienst, u. welche bloß müßig auf Coffee-Häusern sich herumtreiben" von den Listen nahm (Biron an Manteuffel 24.2.1793, LNB Rx 111/1/15, pp. 58ff), teils „seine Kreaturen" mit rückdatierten Vorkontrakten ausstattete, sich dann auf vertragliche Gebundenheit berief (Howen an Nerger 4./13.1.1793, 19./30.1.1793, ders. an Mirbach 7./18.2.1793, 22.2./5.3.1793: Seraphim, Briefe Howens II, S. 13f, 18, 22f, 30) und dies seinerseits mit Zuwendungen an Rückmann abzusichern suchte: Etwas aus der Lebensgeschichte..., LVVA 640/2/254, p. 11. Am Ende verfügte Katharina nichtsdestoweniger einen Ausgleich auf Birons Kosten: ebd., pp. 12f. 269 Dorothea an Manteuffel 10.1.1793, LNB Rx 111 /1 /15, p. 55. Die Mitauer Brüder Luther Dörper (Reichsadel 1778, piltensches Indigenat 1784; zu ihm vgl. a. oben, S. 69, Anm. 209, S. 135) und Alexander Dörper (russischer Offizier und Dienstadel, piltensches Indigenat 1784) wurden noch im selben Jahr rezipiert; bei dem „schwedischen Baron" mag es sich um den in Mitau „privatisierenden" Baron Engeströhm (vgl. Schwartz, Staatsschriften, Nr. 264, S. 432f.) gehandelt haben oder um den Livländer G. C. Casimir Meyendorff v. Uexküll (schwedischer Freiherr 1679, in Kurland rezipiert 1793): Kurland und seine Ritterschaft, S. 435, 446 (Matrikel). 270 Wie oben, S. 41; vgl. a. S. 39. 271 Zum Folgenden s. Anh. 6; zum Sample Anh. 1, Vorbemerkung. -

150

Das

Herzogtum

großen (drei und mehr Güter), beides zu Lasten des mittleren (zwei Güter). Die Erhebung ist nicht präzise genug, um kleinteilige Aussagen des

zuzulassen,272 doch sieht man sie zusammen mit der Besitzstrukturanalyse für 1826273, zeichnet sich deutlich der Trend einer sich verschärfenden Binnenstratifizierung des Indigenatsadels ab.274 Die Vermögenderen kauften ihre schwächeren Standesgenossen allmählich aus, im Herzogtum wie südlich der Grenze. Vermittelt über den Kreditzusam-

auch über die skizzierten Konsum- und Investitionsmuster, vermochte ein Teil der Indigenen den Boom zur Besitzakkumulation zu nutzen und drängte diejenigen, die über weniger anfängliche Gravitationskraft oder Geschick verfügten, vom Land. Der Kampf um die Nutzung der Domänen resultierte in nicht zu unterschätzendem Maße aus einer Differenzierungskrise innerhalb des Adels. Handelte es sich dabei jedoch um einen schleichenden, jedenfalls von den Zeitgenossen kaum thematisierten Prozess, war die Oeconomienpolitik Birons, die die Bedrängten endgültig mit dem Abstieg aus der Gutsherrenschaft konfrontierte, ein einschneidender und skandalisierbarer Akt. Es lag für die Besitzelite und das hieß nach Maßgabe des vorher Gesagten zugleich: die Prestige- und Machtelite in der Ritterschaft nahe, ob bewusst oder, wahrscheinlicher, unbewusst, Begehrlichkeit, Verarmungs- und Statusnot politisch zu kanalisieren und zu mobilisieren. Damit ist auch das Dilemma des Herzogs angesprochen: Angesichts der in Fahrt gekommenen Dynamik konnte er unmöglich hoffen, die Bereicherungswünsche der bestechungsfähigeren, tonangebenden und nicht zuletzt stimmberechtigten Besitzlichen ebenso zu befriedigen wie diejenigen, die sie für ihre unbesitzlichen Mitbrüder (oft im Wortsinne) erhoben und nach Begleichung der gebundenen öffentlichen Ausgaben, Apanagen etc. selbst noch über ein adäquates Budget zu verfügen. Insofern waren die Auswege, die seine Ratgeber ihm wiesen, überoptimistisch oder illusionär, wenn nicht von Eigeninteresse diktiert. Kanzleirat Raison hielt es für hinlänglich, einige führende Köpfe abzufinden, „so hat die Landschaft nichts mehr von Wichtigkeit zu fordern, womit der Vortheil einzelner Personen verknüpft wäre. Und Ew. Hochwohlgeb. [Carl v. Manteuffel, M. M.] wissen, daß dieses immer die stärksten Triebfedern sind, durch welche unsere Unruhen im

menhang,

-

-

-

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-

272 Vgl. Anh. 6, Vorbemerkung. 273 Anh. 7, Tab. 9a-c). Die mit den Güterpreisen und dem Umschlagsvolumen seit Mitte der 1780er zunächst ansteigende Konkursrate weist in dieselbe Richtung: Anh. 4, Diagr. A und C; vgl. a. oben, S. 118 ff.; unten, S. 308 ff. 274 Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 149, spricht das Problem immerhin flüch-

tig an.

Die Praxis der Bereicherung

151

Können wir die unthätig machen, so erhalten wir die ganze Maschine in Ruh."275 Das unterschätzte jedoch die emotionale und einsetzende ideologische Aufladung der Sache gerade auch im ärmeren Adel, dessen Widerwille und Begehrlichkeit ganz auf den Herzog gerichtet und von seinen reicheren Standesgenossen abgelenkt waren (zumal sich gegen diese keine rechtliche Handhabe bot),276 sowie das Geschick der Fronde im Ausfindigmachen neuer Angriffspunkte und Möglichkeiten, sie zu politisieren. Der preußische Resident Karl Ludwig v. Hüttel riet deshalb, durch ein Entgegenkommen in der Oeconomienfrage und ein gezieltes Verarrendieren der Ämter an die Zukurzgekommenen eine Partei aufzubauen und der Fronde die Mehrheit zu entwinden -277 was sowohl am Einfluss der Großbesitzlichen in den Kirchspielen beziehungsweise per Stimmenkumulation vorbeiging als auch an dem in Arrende„empfehlungen" ausgedrückten Interesse Russlands. Hütteis Vorschlag, Biron solle die Mittel, der preußische König „die Richtung" geben,278 war alles andere als

Gange erhalten werden.

unschuldig. Jenseits persönlicher Defizite und politischer Fehler des Herzogspaares hatten die Bereicherungsdynamik und die mit ihr einhergehende Binnenstratifizierung des sippschaftlichen Herrschaftsverbandes unter den Strukturbedingungen schwacher Anstaltsstaatlichkeit und außensteuernder Durchdringung den ständischen Konflikt an eine Situation herangeführt, in der entweder der Fürst als Fürst oder der Adel als Adel, jedenfalls als korporierter Adel, nicht mehr ihren Selbstverständnissen gemäß überleben zu können meinten und bereit waren, den Streit mit hohem Risiko und zu großen Kosten auszufechten.

Ähnliche,

auch in ihrem Kern anders gelagerte Spannungsfreilich bereits früher gegeben. Doch diesmal fiel die Auseinandersetzung in eine Zeit größter äußerer Unruhe, der Französischen Revolution und der Maiverfassung, und die Bewegung, die in die wirtschaftlichen Verhältnisse gekommen war, lief ineinander mit der momente

wenn

hatte

es

275 Raison an Manteuffel 6.3.1788, LNB Rx 111/1/12, pp. 29f. 276 Bericht Hütteis 8.12.1791: Brüggen, Beiträge, S. 514. 277 Bericht Hütteis 11.8.1791: Brüggen, Beiträge, S. 455; ders. 8.12.1791, ebd.. S. 514 f. 278 Bericht Hütteis 3.11.1791: Brüggen, Beiträge, S. 505. Hüttel war 1791 nach Mitau entsandt worden (Akkreditiv prod. Hochfstl. Kanzlei 21.2.1791, LNB R B 768/135, p. 1), um die russischen Bewegungen zu beobachten und nach Möglichkeit den Herzog zu stützen, auf dem Wege Möglichkeiten einer preußischen Einflussnahme auszuloten und ggf. wahrzunehmen.

152

Das

Herzogtum

zweiten Fundamentaldynamisierung, die die Landschaft während des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts erfasst hatte und die in der Form eines sich entbindenden Individualismus bereits angeklungen ist: dem Diskurs der Aufklärung.

Der Diskurs der Aufklärung

3

In kurländischen

„Staatsschriften", aber auch weniger offiziellen TexSpätzeit des Herzogtums Berufungen auf die „Auf-

ten häufen sich zur

der Epoche. Eine Verwendung des Begriffs mit negativer Konnotation findet sich dabei kaum je.2 „Aufgeklärtheit" unterstellte man Höherrangigen, denen man schmeichelte,3 „aufgeklärt" waren Repräsentationen der Zeit, die in Einklang mit den eigenen Forderungen standen,4 „aufgeklärt" der Teil einer Gesellschaft, dessen Gunst man genoss oder dem man sich nahe fühlte,5 „aufgeklärt" das eigene Handeln, Reden, Dafürhalten:6 „Aufgeklärt" zu sein war Mode modem.7 Ignorieren konnte das nur, wer die Mode insgesamt ignorierte und damit am Rand stand. Es gab eine Sprache des Zeitalters, die sich allmählich durchsetzte, ohne dass sie notwendig einen bestimmten konzeptuellen Bestand meinen musste, und in deren Zentrum der Begriff der Aufklärung stand, umlagert von „Vernunft", „Patriotismus", „Mensch(heit)" und anderen. Monarchen reklamierten ihn ebenso für sich wie Revolutionäre, Adlige wie Bürgerliche, Christen wie Atheisten, und 1787 spottete Christian Gotthilf Salzmann, manche setzten „die Aufklärung in der Frisur und in französische Kleidertracht; andere glauben, sie bestehe in

geklärtheit"1

-

„Erleuchtet", „éclairé" etc. sind grundsätzlich als Synonyme aufzufassen, ebenso „Zeitalter der Vernunft" oder „Philosophisches Jahrhundert", etwa im Untertitel von Merkel, Die Letten. Vgl. Stuke, Aufklärung, S. 248. 2 Höchstens dahingehend, dass der Begriff m/sibraucht werde: LVVA 640/4/85, p. 361; charakteristisch auch die Verteidigung der „Aufklärung" über Parteigrenzen hinweg gegen die eskalierende Französische Revolution, die vielmehr aus dem „Despotismus" geboren sei: Recke, Journal, S. 73; Heyking, Letzte Tage, S. 167. 1

suggestiven Zwang, der im 18. Jahrhundert wohl die Okkupation, nicht aber Preisgabe des Begriffsfeldes erlaubte: Stuke, Aufklärung, S. 285; Kraus, Gegenaufklärung, v.a. S. 383ff; Maria Theresia als prominentes Gegenbeispiel: Hartmann, Kulturgeschichte, S. 412 ff. LVVA 640/4/85, pp. 374f.; ebd./88,p. 113; ebd./207, pp. 12, 28; ebd. 1100/7/7, p. 15; auch für die folgenden Verwendungen: Werth, Handlungen und Gebete, S. VI, passim. Alle Beispiele stammen aus den 1790er Jahren. Zum eine

3

640/4/85, pp. 286, 320, 356; Ziegenhorn, Staats Recht, S. 246; in diesem Sinne konnte auch „objektiv" gemeint sein, „kompetent", „nicht korrupt": Schreiben des Landschaftsdelegierten Karl v. Heyking an den Ritterschaftskonsulenten Johann Gottfried Nerger über mögliche Mitglieder einer Kommission 22.9.1790, LVVA 1100/7/6, p. 97. 5 So etwa Carl v. Manteuffel über den Warschauer „public éclairé", den „roi le plus éclairé" Poniatowski: LVVA 7363/3/230, p. 1. 6 LVVA 1100/7/7, p. 98. 7 Stuke, Aufklärung, S. 279 ff. 4

LVVA

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Das

Herzogtum

der Lästerung Gottes und Jesu Christi... ja ich habe einen jungen Laffen gekannt, der hielt sich deswegen für aufgeklärt, weil er Französisch plaudern konnte."8 Die Aufklärung war nicht zum wenigsten ein kommunikativer Gestus, der habituell wurde, sich über Distinktionsstreben und Imitation in den europäischen Eliten durchsetzte. Aufgeklärte Diskurskompetenz war harte Währung in der gehobenen Gesellschaft, unaufgeklärt zu sein inadäquat auch für Personen von Stand; die Höfe, der Friedrichs, Katharinas oder Poniatowskis etwa, gaben den Ton vor.9 Nichtsdestoweniger handelte es sich um mehr als leeres Gebaren. Indem „Aufklärung" ganz allgemein mit „Vernunft" verkoppelt erschien, implizierte die Rede wenn auch keine fixierten Vorstellungen, so doch eine Berufungsinstanz und einen Modus der Auseinandersetzung. Wichtiger noch: Sie transportierte die Denkmöglichkeit geschichtlicher Entwicklung, im allgemeinen mit fortschrittsoptimistischem Unterton.10 Ihre Adaption seitens reisender, lesender, immer öfter auch schreibender, nicht selten studierter Akteure, die zumeist auf höherem oder niederem Niveau in der (Landes-) Politik eine Rolle spielten, wurde zum Movens „der Umwandlung des symbolischen Fundaments der [...] Gemeinschaft"," durch die substantielle Neuerung erst verhandelbar wurde, wie es Keith Baker für den französischen Fall postuliert hat: „Die Revolution von 1789 hing [...] wesentlich von der Schaffung und Anwendung einer politischen Sprache ab, die die verschiedensten Verhaltensmodi, vom aristokratischen Widerstand bis hin zu volkstümlichen Ängsten, in dieselbe symbolische Ordnung füllte."12 Bakers auf den ersten Blick reduktionistische Definition von Revolution als „Transformation der diskursiven Praxis einer Gemeinschaft"13 vermag die Scheidung von „geistigen" und „politischen" Ursprüngen aufzuheben zugunsten ,,eine[s] Begriff[s] von Politik als konstituiert im Feld eines Diskurses, und von politischer Sprache als etwas, das sich erst im Verlauf von politischem Handeln herausbildet."14 Seine für die kurländische Geschichte instruktive Pointe liegt in der Revision von Historiographien, die in der Nach-

8 Im „Carl von Carlsberg", hier zt. nach Stuke, Aufklärung, S. 245; für Kurland: Im Wege der Nachahmung sei die „Freigeisterei" allgemein geworden, „denn aufgeklärt wollte jeder scheinen" (Cruse, Curland, Bd. 1, S. 323). 9 Aus kritischer Warte zum politischen Impuls Neuschäffer, Unterschlagene 10 11 12

13 14

Machtpolitik. Vgl. Stuke, Aufklärung, v.a. S. 252f., 280f. Baker, Ideologische Ursprünge, S. 262. Baker, Ideologische Ursprünge, S. 265. Ähnlich Révolution française, Paris 1978. Baker, Ideologische Ursprünge, S. 259. Baker, Ideologische Ursprünge, S. 272.

schon

François Furet, Penser la

155

Der Diskurs der Aufklärung

folge Tocquevilles „die politische Ausdracksweise der Parlamente als bloße Maskerade für die Verteidigung ihrer sozialen Partikularinteressen

abtaten"15 und damit zu kurz sprangen.

In diesem Sinne meint „Diskurs der Aufklärung" hier ein öffentliches Reden, gesellschaftliches Gespräch, das, wie interessendurchsetzt auch immer, sich selbst als aufgeklärt verstand oder sich als aufklärerisch gehandelten Codes verdankte, dadurch von früheren Diskursmustern un-

terschied und seinem performativen Charakter nach von (politischem) „Handeln" nicht kategorial zu trennen ist. So gefasst kommt der Begriff ohne inhaltliche Fixierung aus,16 ja entzieht sich ihr. Er wird als Instrument zur Aufdeckung eines grundlegenden Wandels brauchbar, den fixe Raster aus ideologischen Beständen eher verstellen. Unter diesen methodischen Prämissen werden im Folgenden Wege aufklärerischen Diskursguts ins kurländische Publikum erörtert, seine Anverwandlungen und schließlich seine Aktualisierung in sozialen und

politischen Projekten. 3.1 Transferlinien

Kurland war europäische Peripherie, auch in intellektueller Hinsicht, als Peripherie jedoch Teil des Ganzen: eingebunden in ein Netz der Ideenströme und Kulturbeziehungen, aneignender und modifizierender Rezeptionen und Transfers.17 Peripher war es insofern, als es praktisch keine kulturelle Produktion gab, die nach außen abgestrahlt hätte.18 Eine höhere Lehranstalt, wissenschaftliche Gesellschaft oder vergleichbare Institution fehlte bis zur Gründung des Akademischen Gymnasiums in Mitau 1775,19 und auch danach blieb das geistige Leben dominiert von Rezeption und Vermittlung in dieser Hinsicht jedoch intensiv und vor allem nicht auf wenige Zentren beschränkt. Dazu trugen wesentlich die politische Freiheit und das Partizipationsrecht des Adels bei, die das Entstehen eines diskutierenden Publikums begünstigten und die Auseinandersetzung mit öffentlichen Angelegenheiten beziehungsweise die -

15 Baker, Ideologische Ursprünge, S. 270. 16 Zum Problem, den „Epochenbegriff' überhaupt auf einen solchen Nenner zu bringen, schon Stuke, Aufklärung, S. 244ff. 17 Zum Konzept von Kulturtransfer als „Anverwandlung des Rezipierten im neuen Kontext nach dessen Entwicklungsbedürfnissen" vgl. Middell, Kulturtransfer, v. a. These 5, S. 17 ff, Zt. S. 7. 18 Donnert, Wissenschaftslehre, S. 180. 19 Dannenberg, Gymnasium; zur Gründung ebd., S. Vff.

156

Das

Herzogtum

pädagogische Vorbereitung darauf stimulierten; nicht zuletzt zählte der Adel ungehindertes Reisen, Studium oder Dienst im Ausland zu seinen selbstverständlichen Vorrechten. Die klischeehafte Feststellung, klagend oder kokett getroffen, „der kurische Edelmann" bescheide sich in seinem Wissensdrang aufs Praktische, Anwendbare,20 trifft nur teilweise zu, hat aber einen wahren Kern: Chancen und Zwänge verwiesen den Adel im 18. Jahrhundert auf eine Vita activa.

Bildungskarrieren Die wirtschaftliche

Erholung erlaubte es dem Adel, den Aufschwung des im Erziehungswesens „pädagogischen Jahrhundert" und insbesondere das Allgemeinwerden häuslichen Unterrichts21 mitzuvollziehen. Wer es sich eben leisten konnte, eröffnete seinen Kindern die Chance, Landesämter zu versehen, die Zeit bis zum Antritt eines Erbes in auswärtigen Diensten zu verbringen oder dort eine lebenslange Karriere zu machen, auch einfach gesellschaftlich zu bestehen und den Landesgeschäften zu folgen, und die Grundlagen dazu ließ man einen „Hofmeister", also Privatlehrer legen.22 Da Ausländer, primär Deutsche, als die vorgeblich kompetenteren Kräfte bevorzugt wurden,23 während der Akademikerbedarf in den meisten Territorien des Reichs mehr als gedeckt und ein Auskommen nicht leicht zu finden war,24 nutzten wanderungswillige Studierte die Gelegenheit, am schwierigen Laufbahnbeginn ihre wissenschaftliche Qualifikation fortzu20 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 65; Kurland und seine Ritterschaft, S. 91; vgl. a. Meder, Strukturwandel, S. 30 (Jannau über Livland); ähnlich zur frühen Einübung politisch-öffentlichen Mit-Redens im aktiv partizipierenden polnischen Adel bei weitgehendem Verzicht auf „gründliche Wissenschaft" Schulz, Reise, S. 254. 21 Neugebauer, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit, S. 607 ff., auch zur „verfassungsrechtlichen Dimension" (ebd., S. 607) der in Preußen weit über den Adel hinausgreifenden privaten, den Schulzwang ignorierenden Erziehung. Zum Bildungsverhalten „des Adels" angesichts der „Herausforderung" Aufklärung vgl. a. Cerman/ Velek, Adelige Ausbildung. 22 Balk, Auszüge, Bd. 2, S. 60; Otto, Stammbuch Pernitz, S. 24; W...K, Lebensgeschichte, S. 111. Andrej Bolotov vergleicht in seinen Lebenserinnerungen die Situation vorteilhaft mit der in Russland: „Die Kurländer haben aber nicht die törichte Angewohnheit, ihre Söhne halbgebildet zu lassen und sie schon als Kinder in den Militärdienst zu schicken", auch stellten sie „keinen windigen Franzosen an, wie es in Rußland üblich war", sondern studierte Deutsche (zt. nach Weiss, Begegnungen, S. 100). 23 Otto, Stammbuch Pernitz, S. 24; W.. .k, Lebensgeschichte, S. 111. 24 Bosse, Einkünfte, S. 516. Vgl. a. Grasshoff, Mentalität, S. 218f.; Plath, Nichts Neues, S. 45 f. -

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157

Der Diskurs der Aufklärung

treiben, auf eine spätere Existenzgründung im Herkunftsland hinzusparen

oder sich als Literaten im Land selbst zu etablieren.25 Das Hofmeistertum stellte ein Portal für akademisch geschulte Einwanderer dar, vorwiegend Absolventen der niederdeutschen evangelischen Hochschulen, die neue Ideen ins Land tragen, vielfach als Mitglieder des Hauses und Tisches nicht nur für ihre eigentlichen Schüler da waren, sondern allgemeiner Gesprächspartner.26 Diejenigen, die sich niederließen, füllten das Reservoir einer nichtindigenen Konkurrenzelite auf und tragen später in nicht zu unterschätzendem Maße zur Rezeption „französischer Ideen" und der Eskalation der Ständekämpfe in den 1790er Jahren bei.27 Wieviel sie als Lehrer zu erreichen vermochten, hing außer von den Anlagen eines Schülers von persönlichem Talent und Einsatz ab, andererseits vom Rahmen, den die Dienstgeber setzten.28 Es gab engagierte und begabte Nachwuchsgelehrte mit pädagogischem Interesse, Johann Georg Hamann beispielsweise, der sich mit redlicher Verzweiflung um seine Zöglinge mühte,29 oder den späteren Superintendenten Ernst Friedrich Ockel.30 Andere, wie Jean François Thoury, interessierten sich in der Rückschau vor allem für die Tafel des Hauses und fanden das Weitere hoffnungslos unerquicklich, barbarisch,31 oder verlegten -

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25 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 65f.; Lenz, Literatenstand, v.a. S. 8, 12; Tering, Baltische Studenten, S. 125; instruktive Skizze auch mit Bezug auf Kurland: Bosse, Hofmeister. 26 Hamann, Briefwechsel, S. 17f, 59ff., 69f. (auch Sekretärsdienste; ebenso W...K, Lebensgeschichte, S. 99); Integration in die (gute) „Gesellschaft": Lenz, Literatenstand, S. 8; eigene Bediente aus den Gutsuntertanen: Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 33; doch blieb der Standesunterschied gewahrt: Hamann, Briefwechsel, S. 119; auch Cruse, Curland, Bd. 1, S. 313. 27 Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 75ff; Stepermanis, Atbläzma, S. 43ff.; ders., Vlijanie; Karlsons, Brïvïbas propaganda; Rauch, Französische Revolution. 28 Als Gegenstück zur folgend geschilderten Ausbildung Heykings s. Hamann, Briefwechsel, S. 14: „Unser Wirth schien mir zu verstehen zu geben, daß der Frau Baronin eben nicht damit gedient seyn möchte, wenn ich mir die Erziehung ihres Sohnes gar zu sehr wolte angelegen seyn laßen." Zur frustrierenden Stumpfheit des jungen Baron Budberg ebd., S. 47, 56f. 29 Hamann, Briefwechsel, S. 16, 90, 121, 131 (mittlerweile bei v. Wittens auf

Grünhoff).

30 Beide reflektierten ihr Tun publizistisch, Hamann um 1755 in einem von Königsberger Pietismus und Frühaufklärung inspirierten Traktat über Erziehung „Briefe eines Vaters", Ockel 1770 in einer Schrift „Der Mentor, oder die Bildung des Verstandes, Herzens und Geschmacks [...] vornehmlich zur Privaterziehung der Jugend von Stande": Bosse, Hofmeister, S. 198. 31 Vor allem die Leibeigenschaftsverhältnisse: Stepermanis, Atbläzma, S. 21 f.; für den Französischunterricht waren Franzosen durchaus verbreitet, vgl. a. Hamann, Briefwechsel, S. 64; W...K, Lebensgeschichte, S. 99f.

158

Das

Herzogtum

grobes, uninspiriertes Eintrichtern.32 Rechenberg-Linveranschlagt in seinen Memoiren den Bildungseffekt denn auch bescheiden, eben aufs Pragmatische, Landeskundliche konzentriert, angereichert um die lateinischen Klassiker und historische Chronistik, doch immerhin mit einer Tendenz zum Umfassenderen, zum gängigen Kulturgut der Zeit.33 Der häusliche Unterricht fungierte wohl als ein Sickerweg frischer Diskurse vor allem aber als Vorbereitung zu späterer Auseinandersetzung damit. In der überwiegenden Zahl der Fälle konnten die Hofmeister nicht mehr als eine Grundlage schaffen. Sorgfältig betrieben und zu Ende geführt vermittelte der Privatunterricht jedoch eine Ausstattung mit Lebenschancen, die ihresgleichen suchte. Als prägnantes Beispiel mag Karl v. Heyking dienen, der in den Ständekämpfen der 1790er eine zentrale Rolle spielte und an dessen außergewöhnlich gut dokumentierter Person der Zusammenhang zwischen Ausbildung, Anverwandlung des Diskurses und politischer Aktualisierung greifbar wird. Heyking, 1751 geboren,34 stammte aus einer ursprünglich wohlhabenden, in Landesämtern etablierten Familie.35 Der Vater verfügte über sich auf ein eher

ten

-

eine stattliche Bibliothek, „eine Anzahl mathematischer und astronomischer Instrumente" sowie „eine schöne Sammlung wertvollen Porzellans"36 Embleme des weiten, unsystematischen Weltinteresses des Barock. Ähnlich breit wurde die Grundausstattung der Kinder mit Kenntnissen angelegt: Landesannalen und -recht von früh an, Lesen, Schreiben, Rechnen und Religion beim Sekretär des Vaters mit fünf, mit sieben Jahren ein Hauslehrer für Bibelkunde, dazu Griechisch, Latein, Geschichte und Geographie als methodisch-stures Gedächtnistraining, Französisch mit der Gouvernante der Schwestern, in der Folge einer Übersiedlung nach Mitau ein vom Schüler als nicht minder pedantisch empfundener Unterricht in der Amendaschen „öffentlichen" Schule.37 -

32 Pantenius, Jugendjahre, S. 9, 22. 33 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 63 ff., 71 ; Annahme erheblicher Prägekraft: Meder, Strukturwandel, S. 32; pessimistischer der Mitauer Professor Hartmann: Seraphim, Geschichte, S. 252. 34 DBBL, S. 17: 22.7.1751; er selbst nennt den 22.6.1752: Heyking, Letzte Tage, S. 9. 35 Heyking, Letzte Tage, S. 10; DBBL, S. 317, 319. Ein Brand, vor allem aber der Umschwung der politischen Verhältnisse 1763 zerrütteten das Vermögen; viel mehr als die Ausbildung konnte Wilhelm Alexander v. Heyking seinen Söhnen nicht

mitgeben.

36

Heyking, Letzte Tage, S. 12; vgl. S. 66.

37

Heyking, Letzte Tage, S. 11 ff.

a.

Klopmann /Klopmann, Würzau-Schorstädt,

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Der Diskurs der Aufklärung

Vertreibung Herzog Karls aus Mitau holte Heykings Vater, loyaler Parteigänger des Wettiners beziehungsweise Polens, den Zwölfjährigen und seine Geschwister nach Warschau. „Wir bekamen Lehrer für die französische, lateinische, italienische, polnische und deutsche Sprache. Der Lehrer der Geometrie, ein Genie-Offizier, brachte uns zugleich das Zeichnen und die Kunst, Pläne zu skizzieren, bei. Der deutsche Lehrer gab uns zugleich Religions-Unterricht und nahm mit uns einen Kursus der Logik und der Geschichte durch. Ein Tanzlehrer Nach der

wechselte mit einem Fechtmeister und einem Musiklehrer ab. Unsere Zeit war so in Anspruch genommen, daß wir von 7 Uhr morgens bis 6 Uhr abends nur eine Pause von 2 Stunden zum Essen hatten. Von 6 bis 7 Uhr mußten wir auswendig lernen und mein Vater kam dann, um unsere Arbeit zu beprüfen".38 Bald kam ein Abbé vom Theatinerkolleg hinzu, den der Vater „uns privatim juristische und philosophische Vorlesungen halten" ließ, und der im Geist der (katholischen) Aufklärung zu Texterfassung, Gedankenstrenge, selbständiger Durchdringung des Stoffes anhielt.39 Gesellschaftliches und gesellschaftskulturelles Training trat daneben, schließlich fand eine Prüfung auf Latein40 durch einen Piaristen-Pater, einige Abbés und die Väter Theatiner sowie den gerade in Warschau anwesenden kurländischen Kanzler Klopmann statt.41 Der Sprachunterricht wurde beendet und durch den der Rechte ersetzt. Nebenher wurde Heyking, mittlerweile 16, mit Übersetzungs- und ähnlichen Arbeiten für den Ritterschaftsdelegierten v. d. Howen betraut, gleichsam zur Lehre, nach Howens Abreise nach Dresden mit dessen geheimer Korrespondenz.421768 wurde der eigentliche Unterricht abgeschlossen, und Heyking ging nun selbst nach Dresden in den Dienst des abgesetzten Herzogs Karl, von wo Wechsel in kurtrierische, polnische, russische, endlich Landesdienste folgten.43 Heykings Ausbildung war weder in einem engeren Sinne fachlich noch akademisch, aber auf der Höhe der Zeit und in ihrer Betonung von Soft skills und Methodenkompetenz, auch der Gewöhnung an eine strikte Arbeitsdisziplin, überaus funktional. Ein Sendschreiben, das 1786 den Antrag begleitete, ihn zum ständigen Landschaftsdelegierten in Warschau zu machen, listete -

38 Heyking, Letzte Tage, S. 69. 39 Heyking, Letzte Tage, S. 77 f., 82ff. Der Eintritt ins Kollegium der Theatiner selbst, den Heykings Vater erwogen hatte, scheiterte am konfessionellen Unterschied. 40 Latein war lebende, nämlich politische Verkehrssprache v. a. mit bzw. in Polen. 41 Heyking, Letzte Tage, S. 84. 42 Uevwng, Letzte Tage, S. 91 f., 95. 43 Abriss: DBBL, S. 317. 1796 und neuerlich 1806 wurde Heyking dann in den russischen Senat berufen.

160

Das

Herzogtum

Eigenschaften auf, die von einem „Geschäftsträger in öffentlichen Angelegenheiten" zu fordern seien: Rechtschaffenheit, Loyalität und Eifer vorausgesetzt, wurden „ausgebreitete Kenntnisse (wiewohl nicht eben systematische, schulgerechte Gelehrsamkeit,) insonderheit Weltund Menschenkenntnis, Uebung und Erfahrung in Betreibung öffent-

die

licher Geschäfte, eine vertraute Bekanntschaft mit den vaterländischen so wohl, als pohlnischen Staatsgesetzen, Rechten, Gerichtsgebräuchen, Sitten und Gewohnheiten, Fertigkeit in der pohlnischen, französischen und lateinischen Sprache", soziale Gewandtheit und Beziehungen verlangt.44 Gemäß diesem gewiss nicht absichtslos erstellten, aber doch realitätsnahen Anforderungsprofil empfahl sich Heyking in der Tat und bewährte sich denn auch. Im Zusammenhang schwacher Anstaltsstaatlichkeit und Fürstenmacht gaben weder der Sache nach noch als Mittel, einen abhängigen Apparat aus („bürgerlichen") Karrierejuristen zu schaffen, professionelle Spezialisierung respektive Zertifizierung den Ausschlag, wohl aber qualifizierte Fertigkeiten.45 Deren Erwerb verkoppelte horizontale und vertikale Mobilität: Heykings frühe Ausbildung in Kurland war solide, aber spröde; die Kenntnisse und Fähigkeiten, die ihn Karriere über alle Wendungen hinweg machen ließen, erwarb er in der Außenwelt, mit der Kurland verwoben war. Alternative Bildungswege liefen über das Königsberger Collegium FridericianumAb oder das Collegium Carolinum in Braunschweig47, bis 1775 die Academia Petrina in Mitau entstand. Ursprünglich als Universität geplant, dann nach einem Entwurf Johann Georg Sulzers als Akademisches Gymnasium realisiert,48 stellte sie eine einschneidende -

-

44 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 196, S. 300ff., Zt. S. 301 f. 45 Die Häme, mit der akademisch zertifizierte Nichtindigene wie Balk, Auszüge, Bd. 2, S. 60, dem Adel Inkompetenz nachsagten und auf der allein zu fruchtbarem Wirken befähigenden „systematischen Gelehrsamkeit" beharrten, war nicht unwesentlich sozial bzw. von der Konkurrenz symbolischer Ressourcen motiviert. Realistischer der Kommentar eines polnischen Juristen nach Lektüre einer Klageschrift aus der Feder eines livländischen Kollegen: ,,[H]abent mentem profundam patroni Livoniae et scribunt excellenter, quod tarnen non satis apud nos." (Schulz, Reise, S. 242). 46 Ischreyt, Streiflichter, S. 227. 47 Etzold, Baltische Studenten, S. 160: 34 Kurländer 1748-1803, praktisch ausschließlich Indigene. „Offensichtlich vereinte das Collegium in glücklicher Symbiose das moderne Curriculum mit der bewährten und von den Eltern geforderten gesellschaftlichen Erziehung": ebd., S. 164; Abgrenzung zu älteren Ritterakademien: ebd., S. 155 f. 48 Fundationsurkunde bei Cruse, Curland, Bd. 2, S. 222ff.; grundlegend Meyer,

Gründungsgeschichte; Dannenberg, Gymnasium; StradinS/Strods, Jelgavas akadëmija.

Petera

161

Der Diskurs der Aufklärung

der lokalen Bildungsverhältnisse dar. Das Lehrangebot erinnert an das Profil des Heykingschen Privatunterrichts, war aber umfassender insbesondere in den Naturwissenschaften, dezidiert „modern" und kritischen Methoden verpflichtet. Als Personal gewann der Herzog teils namhafte Wissenschaftler, mit denen sich die Einbindung der Landschaft in den europäischen Kommunikationszusammenhang merklich intensivierte.49 Von den Schülern kam ein knappes Drittel aus indigenen Familien, nämlich 72 bis 1795, abermals 50 bis 1806, die sich meist für Jura (37 bzw. 26), Schöne Wissenschaften („Litt. Eleg.") und/oder Philosophie (24/19)50 einschreiben ließen.51 Der juristische Schwerpunkt, überhaupt die wachsende Neigung zu einer institutionellen Ausbildung, reflektierte die allmählich spürbar werdenden formalen Anforderungen außerkurländischer Dienste, aber auch eine gewisse, wenn man so will, Professionalisierung des Herrschaftsstandes. Das Ziel bleibt erkennbar, durch die Vermittlung mehr oder weniger breit angelegter Fertigkeiten und Kenntnisse zunächst eine allgemeine gesellschaftliche und Dienstbefähigung in einer noch schwach segmentierten Tätigkeitswelt zu gewährleisten.52 Doch nahm die höhere Schulbildung im Laufe der Zeit eher propädeutischen Charakter an. Eine darauf beschränkte, erst recht eine rein private Erziehung, wie sie Heyking genossen hatte, begann als Qualifikation für eine analoge Karriere unzulänglich zu werden, während er selbst noch deren Höhepunkten zustrebte bereits in der zitierten Empfehlung von 1786 („wiewohl nicht eben systematische, schulgerechte Gelehrsamkeit") schwingt ein defensiver Unterton mit. Dass Kenntnisse und intellektuelle Fähigkeiten über kollektive und individuelle Machtchancen vermittelte Vorteile eröffneten, Herrschaft Herrschaftskompetenz voraussetzte oder von ihr zumindest erleichtert wurde das zu erkennen bedurfte es freilich keiner Aufklärung, in einem strukturell stark verrechtlichten Milieu erst recht nicht. Der Adel schickte bereits seit dem 15. Jahrhundert Söhne an ausländische Universitäten.53 Ebensowenig war es ein vollständiges Novum, dass der Verband solche Kompetenzen bis zu einem gewissen Maße mit Aner-

Verbesserung

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-

a. Donnert, Wissenschaftslehre, hier S. 180f, 185 ff., 191 ff.; ders., Kurland im Ideenbereich, S. 48f.: „aufgeklärte Gelehrte neuen Typs". 50 Außerdem Mathematik (1 /-), Medizin (-/1), propäd. Stud. (-/3); keine Angaben

49 V.

für 10/1. 51 Nach der Liste bei Dannenberg, Gymnasium, S. 68 ff. 52 Vgl. a. Etzold, Baltische Studenten, S. 163. 53 Ylander, Die Rolle des römischen Rechts, S. 432ff.;BöTHFüHR,L/v/a>ii/er;CHRiSTiANi, Liv-, Est- und Kurländer; Räder, Kurländer; ders./Welding, Balten; Ischreyt, Kulturelles Einzugsgebiet.

162

Das

Herzogtum

kennung gratifizierte, an und für sich schätzte. Zwar wirkte die Ausbrei-

tung des aufklärerischen Diskurses noch einmal verstärkend zugunsten

einer apriorischen Wertschätzung von Bildungsgut und mochten geistreiche Causerie, beschlagene Soziabilität im landsässigen Adel vordringen, aber sie waren so wenig Entdeckungen des 18. Jahrhunderts wie die Einsicht, dass Reisen, Kenntnisvermittlung und die Einübung gesellschaftlichen Wissens zusammenhingen. Mithin lässt sich das steigende Interesse an Horizonterweiterung und Gelehrsamkeit, das sich in einem zunehmenden Besuch auswärtiger Universitäten niederschlug, weniger aus einer Verschiebung der Anreize oder entstehendem Qualifizierungsdruck erklären als mit wachsenden Möglichkeiten, steigenden Einkünften und erleichterten, sichereren Reisegelegenheiten.54 Denn die Anzahl derjenigen, die tatsächlich einer Konkurrenzsituation mit den vielberufenen „bürgerlichen Räten" ausgesetzt waren, beziehungsweise sich ihr aussetzten, indem sie Zivilkarrieren in entsprechend reorganisierten Diensten anstrebten, blieb während des 18. Jahrhunderts verschwindend. Die Heyking, Buttlar,55 Keyserlingk,56 Osten-Sacken57 oder Lambsdorff58 stiegen nicht die mühselige Leiter des bürokratischen Avancements hinauf; allenfalls wählten sie den Weg über das Militär. Es war eine Kombination ständischer, intellektueller und gesellschaftlicher Qualifikation, nicht zertifiziertes Fachwissen, auf die sie bauten. Dennoch, als Ausbildungskomponente wurde ein Universitätsbesuch im Laufe des Jahrhunderts häufiger. Die Zahl der bisher nachgewiesenen Kurländer, die jährlich an europäischen Universitäten neu immatrikuliert wurden, stieg von durchschnittlich 7,7 im 17. Jahrhundert auf 12,6 im 18., der Anteil Adliger daran von 27,8% auf 36%.59 Die erhöhte Quote resultierte zum einen aus dem während der Agrar-

-

54 55

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Vgl. Taube, Baltischer Adel, S. 17 ff., 23 ff, 30, 33 ff. Ernst Johann v. Buttlar, 1690-1771, russ. Resident in Kurland: DBBL, S. 135 f. Dietrich v. Keyserlingk, 1698-1745, als „Cäsarion" Vertrauter Friedrichs II.: Taube, Baltischer Adel, v. a. S. 18ff.; DBBL, S. 374 f. Carl v. Sacken, 1721-1794, sächsisch-polnischer und preußischer Minister: Wätjen, Geschichte Osten-Sacken, S. 72; DBBL, S. 563 f. Matthias v. Lambsdorff, 1745-1828, kurländischer Gouverneur, russischer Prinzenerzieher: Seeberg-Elverfeldt, Genealogie Lambsdorff, S. 294ff.; DBBL, S. 439. Tering, Baltische Studenten, S. 127; vgl. a. die Tabelle ebd., S. 154: 1508 Kurländer insgesamt zwischen 1711 und 1800 an 21 überwiegend deutschen Universitäten, davon 589 in Königsberg, 282 in Jena, 144 in Göttingen und 141 in Leipzig. Älterer Überblick über die Einzeluntersuchungen: Seeberg-Elverfeldt, Baltische Genealogie, S. 164ff. Vgl. a. die Kurzbiographien landespolitischer Akteure bei Schwartz, Staatsschriften, in Napiersky/ Recke, Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon, sowie im DBBL.

Der Diskurs der Aufklärung

163

wachsenden Wohlstandsvorsprung der Gutsbesitzer, aneiner Sättigung des Arbeitsmarktes für Akademiker im deutschsprachigen Raum, die die Immatrikulationen in der zweiten Jahrhunderthälfte allgemein zurückgehen ließ und insbesondere jene die erheblichen Auslagen scheuen, die auf einen Brotberuf abzielten.60 Favorit unter den Indigenen war Königsberg, aufgrund seiner Lage die Quasi-Landesuniversität für die Herzogtümer, gefolgt von Jena, Göttingen und Leipzig; die beiden letztgenannten waren beim begüterten Adel populär, Jena als notorische „universitas pauporum" hingegen eher die Ausbildungsstätte Nichtindigenen61 Leipzig kam zumal gegen Ende des Jahrhunderts in Mode, da es für „cultiviert" galt, weniger studentisch eng als die klassischen Nur-Universitätsstädte: Fast zwei Drittel der eingeschriebenen Kurländer waren Adlige.62 Ebenfalls beliebt war das kaum weniger teure Göttingen, wo allerdings eher die Kolleggelder als die Lebenshaltungskosten ins Geld gingen. Studierten die Nichtindigenen, vielfach selbst Pastorensöhne, vorwiegend Theologie, so war die Mehrheit der Adligen unter den Juristen zu finden, die knapp die Hälfte von allen ausmachten.63 Was genau der einzelne dann während seines Aufenthaltes trieb, hing von der Begabung, dem elterlichen Vermögen, seinen Interessen ab; der eine studierte ernsthaft bis zur Verbissenheit,64 andere brachten von der Universität nichts als „kranke Seelen, kranke Körper, leere Köpfe, leere Beutel" mit.65 Auch hier: Dem Strukturumfeld und Selbstverständnis des Standes gemäß ging es um Welterfahrung und Menschenkenntnis mindestens ebenso wie um Fachinhalte.66 Zumal für die Reicheren war ein solches Studium kaum strikt von einer Bildungsreise oder Kavalierstour zu trennen, ging oft in sie über oder

konjunktur dererseits

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aus

Bosse, Einkünfte, S. 516; Minimum für ein Jahr an einer Universität 150-200 Rth. alb.: ebd., S. 538 f.; 600 Rbl. S. für insgesamt fünf äußerst karge Jahre Königsberg 1776-1781: Brincken, Engelhardt, S. 33. Tering, Baltische Studenten, S. 131; ders., Die Beziehungen, S. 18; vgl. a. ders., Gelehrte Kontakte, S. 17 ff, 58, zur Dominanz in Königsberg ausgebildeter Juristen im kurländischen Rechtswesen. Tering, Baltische Studenten, S. 144f. Tering, Baltische Studenten, S. 150; ders., Die Beziehungen, S. 19; zum Muster der Fächerwahl auch Etzold, Baltische Studenten, S. 163; vgl. a. Tering, Gelehrte Kontakte, S. 25, 57f; ders., Die Beziehungen, S. 13. Brincken, Engelhardt, S. 33. Zt. nach Seraphim, Geschichte, S. 290; ähnlich Heyking, Letzte Tage, S. 197. über seinen Bruder, den in Jena „die Zerrüttung seiner Geld-Angelegenheiten mehr als der Justinianeische Kodex" zurückgehalten habe. Züge zum Studium Generale, ergänzt um gesellschaftliche Fähigkeiten (Sprachen, Tanzen, Fechten, Kunstreiten) unter den in Göttingen studierenden Adligen: Termo, Die Beziehungen,?. 19.

164

Das

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wurde davon unterbrochen.67 Häuser wie das Keyserlingsche in Königsberg stellten Anlaufpunkte für die Mitglieder des sippschaftlichen Herrschaftsverbandes dar, an denen sie mit Vertretern des zeitgenössischen Geisteslebens zusammentrafen;68 unter den Souvenirkarten Alexander v. Medems finden sich Studenten, Dienst- und Lustreisende mit den verschiedensten Absichten bunt gemischt.69 Eben weil die professionelle Differenzierung kaum entwickelt war, zwischen akademischem, außerakademischem, wissenschaftlichem und künstlerischem, politischem, gesellschaftlichem und geschäftlichem Gespräch noch kein eklatanter Verständigungsgraben klaffte, konnte ein umfassender Transferraum entstehen, in dem Erkenntnisse, Ideen und Ansichten relativ frei flottierten: jene frühe Öffentlichkeit des diskursiv eingebundenen Publikums, die für die Moderne nach wie vor als konstitutiv gelten kann.70

Öffentlichkeit Öffentlichkeit war zunehmend auch eine mittelbare. In den Herzogtümern ging die „Geburt der modernen Welt" so gut wie anderswo Diese

einher mit dem Eintritt in ein Zeitalter extensivierter medialer Kommunikation.71 Eine Zensur gab es de facto nicht. Wer meinte, etwas zu sagen zu haben, und den Aufwand nicht scheute, konnte es drucken und zirkulieren lassen;72 in Mitau und Riga erschienen Schriften, die in Deutsch-

67 Taube, Baltischer Adel, S. 18 f.; sie schlug sich selbst in einem Vermögen wie dem Hahnschen fühlbar nieder: Hahn, In Gutshäusern, S. 153; ausführlich wiedergegeben für einen jungen livländischen Adligen (1760er) bei Campenhausen, Studium in Deutschland. 68 Tering, Baltische Studenten, S. 147; Taube, Baltischer Adel, S. 35 ff., 40; vgl. a. Bernoulli, Reisen, S. 28, 45 f., 75 f. 69 DSHI 190 (ehem. HStAMarburg 701)/VI/3, „von Medem", Nr. 4a. 70 Habermas, Strukturwandel. 11 Vgl. Bayly, Birth of the Modern World, S. 19 f. ; Ablösung der „intensiven", wiederholenden Lektüre weniger Texte (v.a. Gesangbuch, Katechismus und Bibel) durch die „extensive", einmalige Lektüre zahlreicher Publikationen: Rosenberg, Steffenhagen, S. 235. 72 Formaliter bestand volle Zensurfreiheit zwar allein für amtliche Schriftstücke der Ritterschaft, und dies erst seit der (zweiten) Kompositionsakte von 1793 (Cruse, Curland, Bd. 2, S. 208), doch wurde das lax gehandhabt: „Gänzliche Freiheit zu denken, reden, schreiben, drucken lassen, haben Sie hier wie an keinem Ort der Welt": Johann August Starck 1779 an Karl Friedrich Bahrdt, zt. nach Donnert, Wissenschaftslehre, S. 179; s.a. Ischreyt, Die Königsberger Freimaurerloge, S. 118. Bsp. einer Ausnahme in einem radikal-revolutionären und nichtindigenen Fall 1790 (Wilhelm Ludwig Koenemann): Stepermanis, Vlijanie, S. 324. Dass eine er-

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Der Diskurs der Aufklärung

165

land nicht oder schwierig zu publizieren waren.73 Vor allem aber war man frei, ausländische Druckerzeugnisse zu importieren. Unter Mithilfe seines kurländischen Logenbruders Christoph Heinrich v. Schröders gründete der Königsberger Buchhändler Johann Jacob Kanter 1763 eine Filiale in Mitau,74 die dann Jakob Friedrich Hinz weiterführte, 1785 eröffnete Lagarde & Friedrich in Libau. Beide versorgten als Händler und Verleger den kurländischen Markt mit auswärtiger Literatur, während für den medialen Austausch innerhalb Kurlands vor allem die 1769 von Johann Friedrich Steffenhagen übernommene Herzogliche Hofdruckerei wichtig wurde. Dort erschienen neben Amtsschriften, Kirchentexten, Kalendern und seit 1765 den Mitauschen Nachrichten von Gelehrten-, Staats- und einheimischen Sachen diverse Predigten, Festreden, Traktate, Fachbücher und Ratgeber, auch Belletristisches einheimischer Autoren.75 Hinzu kam Riga als Distributionszentram,76 und diese Infrastruktur ermöglichte den landschaftlichen Eliten, an der europäischen „Leserevolution" des 18. Jahrhunderts teilzuhaben.77 Gegen dessen Ende war die säkulare Lektüre weitgehend etabliert, einige der wohlhabenderen Gutsbesitzer hatten umfangreiche, aktuelle Bibliotheken angelegt, es entstanden erste Lesezirkel und Leihbüchereien.78 Das Stadtbürgertum, die Kleriker und weltlichen Literati tragen diese Entwicklung wesentlich mit. Indes wird man ihre Bedeutung für die Dynamik zu-

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hebliche Anzahl kurländischer politischer Schriften in Warschau gedruckt wurde, war eher eine Sache der Zweckmäßigkeit. Etwa Karl Friedrich Bahrdts: Tering, Gelehrte Kontakte, S. 52. Aus ihr ging die Hartknochsche Verlagsbuchhandlung in Riga hervor, in der u. a. die wichtigsten Schriften Kants erschienen. Auch zum Folgenden: Ischreyt, Königsberger Freimaurerloge, S. 109, 118; Rosenberg, Steffenhagen, S. 235; vorherige Schwierigkeiten, Literatur zu beschaffen: Hamann, Briefwechsel, S. 140, passim. Rosenberg, Steffenhagen, S. 236, 238 f. Die literarische Produktion blieb von landschaftlicher Bedeutung, mit Ausnahme vielleicht Elisa v. d. Reckes und Ulrich v. Schlippenbachs, gewann allerdings regionale und aus der Rücksicht eine für Lettland nationale Bedeutung durch die bei Steffenhagen seit den 1780er Jahren erscheinenden ersten Werke weltlicher lettischer Literatur: Rosenberg, a.a.O., S. 239ff. Vgl. a. Rietz, Vertrieb und Werbung, S. 260. Rietz, Vertrieb und Werbung, S. 255, 257 f. Die Nachfrage, auf die das Angebot stieß, illustriert Klopstocks „Gelehrtenrepublik", die 1773 in Mitau ihren zweitgrößten Subskriptionserfolg überhaupt erzielte: Rosenberg, Steffenhagen, S. 236. Zeitungslektüre: Rietz, Rozpowszechnienie. Seeberg-Elverfeldt, Baltische Gesellschaftskultur, S. 472f. Dass die Buchhandlungen in Mitau eingegangen seien (ebd., S. 472), beruht offensichtlich auf einer Fehlinformation oder meint eine kurzfristige Unterbrechung ihrer Geschäftstätigkeit. In Mitau war die Bibliothek des Akademischen Gymnasiums von zunächst 15000 Bänden zugleich eine öffentliche: Donnert, Wissenschaftslehre, S. 201.

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Das

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mal auf dem Land nicht überbewerten dürfen: Es war der Schlossherr von Dondangen, der dem Pastor von Irben zweimal wöchentlich die Rigasche Zeitung schickte,79 es war ein Ernst Friedrich v. d. BrüggenStenden, bei dem sich der piltensche Superintendent Maczewski Villers' Schrift über die Kantische Philosophie borgte,80 die teuren Bibliotheken fanden sich eher auf einzelnen Gütern als in den Pastoraten,81 und der Landklerus klagte, wo ihm ohne benachbarten Adel der Umgang fehlte nicht umgekehrt.82 Bücher und Zeitungen zu beziehen war nicht zuletzt eine Frage des Geldes, und gemäß ihrer wirtschaftlichen und sozialen Position stellten deshalb die vermögenderen unter den Gutsherren eine entscheidende Größe im kulturellen Wandel dar: „Wir haben hier den eigenartigen Fall, daß das flache Land der Entwicklung in den Städten [...] kulturell voraus ist."83 Zentrale Bedeutung für Transfer und Etablierung aufklärerischer Diskurse erlangten gleichwohl die Landeshauptstadt Mitau und der herzogliche Hof.84 Die Stadt war klein und schlecht ausgebaut, stärker vom Adel als der Bürgerschaft dominiert, einer deutschen Duodez-Residenz vergleichbar.85 Doch ließ politische Notwendigkeit die Herzöge gelehrtes Personal in die Stadt ziehen,86 erforderte höfische Repräsentation Künstler und Kunstkenner und lockte Reisende, wobei zur Anbindung der Landschaft an das „Wegenetz europäischen Geistes"87 beitrug, dass Mitau und in seiner Nachbarschaft die Bironschen Lustschlösser Würzau und Ruhental auf dem Weg nach Petersburg lagen.88 Die Kultiviertheit eines Hofes war konstitutiv für seinen Ruf, den die Gäste verbrei-

79 Um 1800: Pantenius, Jugendjahre, S. 19. 80 Brief Maczewskis Feb. 1810, LVVA 1100/2/18, p. 7; zu ihm DBBL, S. 482; zu Brüggen GenHB, Bd. 1, S. 34; gemeint ist offensichtlich Charles Villers, Philosophie de Kant, ou Principes Fondamentaux de la Philosophie Transcendentale, Metz 1801. 81 Seeberg-Elverfeldt, Baltische Gesellschaftskultur, S. 473; vgl. a. Kurländische Güter-Chroniken N. F., S. 199; auch oben, wie Anm. 36. 82 Bosse, Einkünfte, S. 564. 83 Meder, Strukturwandel, S. 27. 84 Vgl. Rauch, Französische Revolution, S. 356; auch zum Folgenden Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 44 ff. 85 Noch im 19. Jahrhundert: Pantenius, Jugendjahre, S. 43; Hahn, In Gutshäusern, S. 191; vgl. a. oben, S. 70f., Anm. 219. 86 DBBL, S. 605 f., 896; Pantenius, Jugendjahre, S. 3. 87 Mack/Plaschka, Wegenetz. 88 Vgl. Ischreyt, Streiflichter, S. 226, der Kurland generell eine seine wirtschaftliche und politische Bedeutung weit übersteigende „funktionelle Rolle" im „nordosteuropäischen Kommunikationssystem" zumisst. Zu Durchreisen im späten 18. Jahrhundert vgl. a. die Briefe Dorotheas an Manteuffel, etwa LNB Rx 111 /1 /15, pp. 42 ff.

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Der Diskurs der Aufklärung

Reiseschriftsteller in das entstehende europäische Publikum trugen,89 und auf der einem Fürsten gemäßen Höhe der aufgeklärten Zeit zu sein, bedeutete etwa auch, für die Herzogstöchter eine Erzieherin wie teten und

Antonie Forster anzustellen, Sozialutopistin und Schwester des Präsidenten des Mainzer Jakobinerclubs von 1792/93.90 Teil der Repräsentation und Landesentwicklung zugleich war schließlich die Rolle des Herzogs als Mäzen der Wissenschaften, die Peter Biron zur Gründung der Academia Petrina bewog.91 Darüber hinaus war Mitau Aufenthaltsort der Oberratsregierung, Versammlungsort der Landtage und zum Johannistermin das Börsenlokal des ganzen Landes, in der Saison Schauplatz gesellschaftlicher Großereignisse; etliche Adlige unterhielten ein Stadthaus, viele kamen zu Besuch oder reisten in Geschäften vor der Fürstlichen Kammer oder dem Oberhofgericht an. Um Mitau und die herzoglichen Schlösser verdichtete sich das extensive Kommunikationsgefüge und bildete gleichzeitig eine Schnittstelle zum Ausland. Eine zeitweilig überragende Rolle beim Ineinandergreifen von territorialer Elitenvergesellschaftung und europäischer Vernetzung, Kulturtransfer, Geselligkeit und Klientelismus spielte endlich die Freimaurerei.92 Die erste Gründung einer Mitauer Loge Zu den drei gekrönten Schwertern erfolgte 1754 durch acht Indigenatsadlige sowie den Hofgerichtsadvokaten Schwander als Zusammenschluss im Ausland rezipierter Brüder, die bezeichnenderweise allesamt Landesbeamte und teilweise verwandt oder verschwägert waren.93 Als Ziel setzte man sich die Beförderung „besserer Einsicht", sittlicher Vernunft. So sollte mit Hilfe der öffentlichen Meinung und notfalls der Gerichte „Gewaltmissbrauch" gegenüber den Leibeigenen unterbunden werden, wollte man auf die Besetzung der Schul- und Kirchenlehrerstellen mit „einsichtsvollen und rechtschaffenen" Männern hinwirken, wurden Almosen für Hilfsbedürftige und Studienstipendien ausgekehrt, eine umfangreiche Bibliothek gestiftet.94 Der Mitwirkung an Vorbereitung und Gründung des Akademischen Gymnasiums entsprach der spätere enge Zusammenhang mit

89

(Okt. 1792); „Straße der Aufklärung" von Berlin über Mitau und Riga nach Petersburg: Bosse, Einkünfte, S. 516 was allerdings Warschau bzw. Polen unterschlägt. Überblick über die Attraktionen Mitaus: Bernoulli, Reisen, S. 230ff; BironSchlösser: ebd., S. 246ff. -

90 Rauch, Französische Revolution, S. 357. 91 Vgl. Seraphim, Geschichte, S. 290. 92 Detailreicher Abriss: Ischreyt, Streiflichter; außerdem Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 44ff.; mit Betonung des Einflusses auf die Lesekultur: Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 305. 93 Ischreyt, Streiflichter, S. 227 ff. 94 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 82f.; Bernoulli, Reisen, S. 242ff.

168

Das

deren Personal.95

Herzogtum

Überhaupt führte die Loge Adel und Literaten, auch

Buchhändler96 zusammen, wuchs im Laufe der Zeit auf eine erhebliche Mitgliederzahl und wurde Vehikel einer aufklärerisch-exklusiven Integration von Teilen der Landeseliten.97 Zugleich erlangte sie überregionale

Bedeutung

für das Maurertum im

polnisch-preußisch-russischen

Ostseeraum, das wiederum ein „Strukturelement der Kulturbeziehungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts"98 darstellte, eine prägende Größe im Austausch sich verändernder Codes und Praktiken. Insofern wies die diskrete Gemeinschaft Aspekte einer elitären Quasi-Öffentlichkeit auf; in ihrem Außenwirken bildete sie die allgemeinen Foren mit. In den 1760er und 1770er Jahren kam es dann zu Rückschlägen und Querelen um die Observanz, einem vorübergehenden Zersetzungsprozess, dessen Höhepunkt die europaweit nachhallende Affäre um den Hochstapler Cagliostro markierte.99 So sehr der Aufschwung der emotioneilen Komponente der Aufklärung und mystische Schwärmerei, die ihrerseits Bestandteil einer spezifisch chiffrierten Verständigung war,100 in der Affäre ihre Rolle gespielt haben mögen101 kennzeichnend ist hier doch das Banal-Oberflächliche: Cagliostro versprach, Gold zu machen, Perlen zu fabrizieren, Diamanten zu vergrößern, und da mochten selbst Skeptiker wie Otto Herrmann v. d. Howen, der alte Kanzler Keyserling und die vorzüglichen Protagonisten der Vernunftausbreitung nicht vorschnell Humbug wittern.102 Die Praxis der Bereicherung als ubiquitärer Faktor durchspielte die Maurerei so gut wie andere soziale Arenen. Auch auf weniger schillernde Weise. Etwa machte der Logensekretär Luther Dörper aus den Rezeptionsgeldern einen regelrechten -

95 Donnert, Wissenschaftslehre, S. 203; Neander, Neander, S. 41, dort auch generell zur Vordenkerrolle in sozialen und Bildungsbelangen; Zusammenwirken der Freimaurer (Pastor) Gotthard Friedrich Stender und Johann Albrecht v. Korff bei der Gründung einer lettischen Schule auf Gritzgaln: Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 64. 96 Eminente Bedeutung der Loge für den Buchhandel: Ischreyt, Die Königsberger

Freimaurerloge. 97 Ischreyt, Streiflichter, v. a. S. 227, 234f. 98 Ischreyt, Streiflichter, S. 243. 99 Ischreyt, Streiflichter, S. 244ff.; Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 49ff., dort auch die einschlägige Literatur. Vgl. a. Johannes Werners Vorwort zu Recke, Journal, hierS. 17, 21 f. 100 Neugebauer-Wölk, Aufklärung und Esoterik. 101 „Es gab damals sonst geistvolle Menschen, die an den Stein der Weisen, an Universalheilmittel, an den Verkehr der Geister etc. glaubten": Heyking, Letzte Tage, S. 172, Anm. 102 Ischreyt, Streiflichter, S. 246 ff. Vgl. a. Heyking, Letzte Tage, S. 226, der zur Erklärung den „Wahn der Zeit" anführt.

Der Diskurs der Aufklärung

169

Lebensunterhalt,103 vor allem aber:

Je stärkere Resonanz das Logenweavancierte auch desto mehr zum Aushandlungsort von Lees fand, benschancen und politischem Einfluss, und je merklicher seine Rolle im Klientelbildungsprozess, desto attraktiver wurde es. Zwei zugegeben voreingenommene Quellen nennen die Mitauer Loge in den 1780ern die „Centralversammlung des ganzen Landes", wo „alle politischen Angelegenheiten ihre Richtung bekamen,"104 beziehungsweise schildern sie als den Ort, an dem sich die Partner im öffentlichen Gewinnstreben fanden.105 Nicht zuletzt sammelte und organisierte sich hier die bironfeindliche „karolinische" Faktion.106 Indem freilich politische, soziale und ökonomische Ambitionen sich in eben diesen kulturellen Modus fügten, die Verbindungsmuster des sippschaftlichen Herrschaftsverbandes ins Logenwesen übersetzt wurden, gewannen die der Freimaurerei eingeschriebenen aufklärungsnahen Codes Verbreitungschancen und ihr Vordringen ins gesellschaftliche Leben Dynamik. Dass allerdings damit ein Ort entstanden wäre, an dem sich in der ständischen die „bürgerliche" Gesellschaft, ein (potentiell) politisches Egalitätsideal hätte einüben lassen,107 daraufgibt es keine Hinweise. Die Indigenatsverfassung blieb für den Adel unverhandelbar, bei aller Offenheit der Soziabilität.108 Bis zu einem gewissen Grad hing beides sogar zusammen, Libertät und Ausschließung. Die Logen109 waren Bestandteil einer Geselligkeitskultur, die ganz allgemein vom freiheitlichen Ansprach des seiner Rechte bewussten Adels geprägt war: „Vielleicht gibt es keine polizierte Stadt der Welt, wo die bürgerliche Freiheit [...] in dem Grade zu finden ist, wie in Mitau. Wer nur keine groben Verbrechen begeht, kann hier thun, was er will", schrieb ein Reisender.110 Bisweilen jedoch schienen die Grenzen auf. Ein Christoph Georg (v.) Ziegenhorn, als nichtindigener Rat des Herzogs Karl dem Adel ein Ärgernis, wurde sen

103 Heyking, Letzte Tage, S. 245. Zu Dörper auch oben, S. 69, Anm. 209; S. 135, 149. 104 LVVA 640/2/254, p. 4. 105 LVVA 640/2/254, p. 4; Heyking, Letzte Tage, S. 183, 185. Heyking war selbst engagierter Freimaurer: ebd., S. 227f., passim. 106 Cruse, Curland, Bd. 2, S. 82ff. 107 Differenzierte Diskussion dieser allgemeinen These struktureller Kontinuität: Neugebauer-Wölk, Esoterische Bünde; skeptisch am Beispiel der kleineren deutschen Residenzstädte: Berger, Festarbeit. Ritus, Geschäftsführung u.a. der Mitauer Logen: LVVA 5759/2/529. 108 Eingehender unten, S. 202f, 214ff. 109 In den 1770ern entstanden kleinere Nebengründungen zu den „Drei gekrönten Schwertern" und eine Adoptionsloge: Ischreyt, Streiflichter, S. 241, 249. 110 Liebeskind, Rükerinnerungen, S. 359; ähnliches Zt. bei Ischreyt, Streiflichter, S. 245; vgl. a. oben, Anm. 72.

170

Das

Herzogtum

1764 ebenso aus dem Land gedrängt111 wie der zeitweilige Professor des Gymnasiums und politisierende Gegner der Leibeigenschaft Johann Georg Eisen Ende der 1770er"2 Freiheit war zunächst immer die Freiheit des Herrschaftsverbandes. Doch als solche, als weitgehende Zensur- und Meinungsfreiheit, Unabhängigkeitshabitus, Freizügigkeit und Liberalität des Umgangs umfasste sie grundsätzlich die anderen frei berechteten „Mitbürger des Staates""3. Auch das mag zur Attraktivität Kurlands für Träger aufklärerischen Gedankenguts beigetragen haben wie zur Rezeptionsbereitschaft des Adels für auf Autonomie und Emanzipation zielende Rede. Die Transfervorgänge und Relaisstellen nun im einzelnen zu rekonstruieren, scheint verzichtbar. Festzuhalten bleibt: Die periphere Landschaft war vielfältig in den europäischen Kommunikationszusammenhang eingebunden, wobei Hauptpartner der Vermittlung aus sprachlichen und konfessionellen Gründen die protestantischen Territorien des Alten Reichs waren.114 Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts profitierte das Geistesleben zudem vom Aufstieg der beiden Kurland flankierenden Ostseemetropolen Königsberg und Riga zu „Zentren der Aufklärung"115, wurde gefördert durch intensiviertes (Bildungs-) Reisen und die verstärkte Zuwanderung akademisch Gebildeter als Hofmeister und Pastoren, belebte sich der Buch- und Zeitungsmarkt. 1794 konnte der Hauslehrer auf Paplacken, Ernst Henning, feststellen, es sei nurmehr ein Vorurteil, dass in Kurland „der Gutsbesitzer nur seinen Hafer sät, seine Branntweinfässer nach der Stadt und in seine Krüge schickt, dem Nachbarn seine Hasen, Elende und anderes Wild totschlägt, sich mit Wölfen und Bären herumbalgt, und dann zum Zeitvertreib auf seine lebenkranken Bauern losprügelt"; vielmehr verhalte es sich längst so, dass „auch hier der gute Geschmack nicht fremd sei und Künste und Wissenschaften unter den Händen des Dilettanten nicht unbelohnt veralten.""6 -

-

111 112 113 114

Bosse, Einkünfte, S. 531, Anm.; DBBL, S. 896. Donnert, Eisen, S. 22. Ziegenhorn, Staats Recht, § 686, S. 323. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 71: „Wenn Ende des vorigen und An-

dieses Jahrhunderts ein neues Trauerspiel von Schiller oder Göthe erschien: machte es Epoche in der ganzen damals gebildeten Gesellschaft. Man las, man sprach darüber mit dem größten Interesse, und sogar die Jagdgeschichten traten für einen solchen Fall bescheiden zurück." Das alternative Gesprächsthema Jagd impliziert, dass es sich bei Lintens „gebildeter Gesellschaft" primär um Adlige handelt. 115 Reihentitel, unter dem Ischreyt, Königsberg und Riga erschien; zum Einfluss Königs-

fang so

bergs s. a. Seraphim, Kulturbeziehungen.

116 Zt. nach

Seeberg-Elverfeldt, Baltische Gesellschaftskultur, S. 466.

Der Diskurs der Aufklärung

171

Da schlug noch mancher lieber dem Nachbarn das Wild tot als ein Buch auf und war mit der Rute firmer als mit dem Kategorischen Imperativ. Selbst Mitte der 1820er zählte Kurland Gutshäuser „in Mengen", „deren Leere den Vermutungen über Bildungsgrad, Liebhabereien, Beschäftigung der Familie nicht den geringsten Anhaltspunkt bot", in denen der populäre Kalender offenkundig das einzige Buch vorstellte, die Lebens- und Ideenwelt rustikal, der Horizont eng war.117 Doch lässt auch die hier zitierte skeptische Sophie v. Hahn durchblicken, dass die von ihr verachteten „betitelten Bauern" bei allem ostentativen Antiintellektualismus eine Führungsrolle ihrer weltläufigeren Standesgenossen akzeptierten. Deren nachahmende Teilhabe an kulturellen Moden, „dilettierende" Weiterentwicklung „guten Geschmacks" trag den Transfer und die Anverwandlung zeitgenössischer Kategorien:118 Sie übten die klassifikatorische Dominanz. Und definierten die politische Agenda.

Hennings Werben ist einseitig, gewiss.

3.2 Die Anverwandlung des Diskurses „Patriotism" Ein

Begriff, der zum Kristallisationskern neuen Redens über Politik und

Gesellschaft wurde, war der des „Patriotismus". Er fasste das Allgemeine im Besonderen; als sein Horizont erschien keineswegs ein jeweiliges Gemeinwesen, sondern die „Menschheit", und als seine allgemeinste Norm die „Menschlichkeit" oder „Humanität"- "9 im Hintergrund stand die

Entdeckung des (endlichen) Menschen und die ihr korrelierte Säkularisierung des Transzendentalen,120 die in der Praxis zu einer allmählichen Transponierung von Frömmigkeit in Welthandeln führte.121 Inflationär gebraucht, avancierte „Patriotismus" zur Bezeichnung nachgerade jeder 117 Hahn, In Gutshäusern, S. 146f; vgl. a. unten, S. 322 f., 327 f. 118 Meder, Strukturwandel, S. 20ff, passim. 119 Allgemein: Vierhaus, Deutsche patriotische Gesellschaften; ders., Patriotisches Bewußtsein; mit Betonung der gesellschaftlichen Stabilisierungsleistung Krieger, Patriotismus in Hamburg; das Verhältnis der Komponenten problematisierend Brunner, Patriotische Gesellschaft; pointiert bei Bosse, Patriotismus, S. 81: „Der Patriotismus des 18. Jahrhunderts ist eigentümlich unbegrenzt. Als Erscheinungsform der Menschenliebe (l'humanité concentrée entre les concitoyens [Rousseau, M. M.]) schwankt er zwischen Himmel und Erde, zwischen der Heimat und der ganzen Welt." Für Livland: Grasshoff, Mentalität. 120 Foucault, Ordnung der Dinge, Kap. 9 und 10, v.a. S. 373, 383 f., 410 (Kant). 121 Kupffer, Gadebusch, S. 65; vgl. a. Bosse, Patriotismus, S. 68.

172

Das

Herzogtum

Tätigkeit nicht nur in streng öffentlichen Dingen, sondern aller das (materielle) Eigeninteresse übersteigenden Gesinnung überhaupt.122 Otto Brunner hat am Beispiel Hamburgs die These entwickelt, da es sich wesentlich um ziviles Engagement außerhalb der politischen Strukturen gehandelt habe, werde im „patriotischen" Agieren ein Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft merklich.123 Dagegen hat für den livländischen Fall Christina Kupffer die starke Beteiligung obrigkeitlicher Funktionsträger eingewendet.124 Dem wiederum ist zunächst die Mehrebenen-Staatlichkeit Livlands entgegenzuhalten, bei der der „Landesstaat" durchaus als gesellschaftliche Veranstaltung neben den oder in Antagonismus zum Imperialstaat treten konnte,125 vor allem aber, dass die Akteure auch in offizieller Funktion sich vielfach als Agenten eines der Obrigkeit nichtidentischen „gesellschaftlichen" Interesses verstanden. Insofern ist Heinrich Bosses Unterscheidung nach dem Kontext, ob einer je als „politicus" oder als „privatus" sprach, hilfreich.126 Gleichwohl spielt seine Betonung der Kooperation zwischen patriotischer „Gesellschaft" und „Staat" im Sinne einer allgemeinen Policey, also Wohlfahrtszucht, ihrerseits das genuin kritische, seiner Nationalisierung vorgelagerte Potential des Patriotismusbegriffs herunter.127 Er trug in der Tat eine Distanz, wenn nicht latente Opposition zu anstaltlichen Institutionen in sich, die zum Kern der Sache gehörte. Weist schon die enge Verkopplung mit Freiheitsbegriffen in diese Richtung,128 so wird der Impuls augenfällig an einem Standardtopos patriotischer Literatur, den auch die beiden im folgenden erörterten Texte teilen: der kontroversen Selbstverständigung am Exempel des Tyrannenmörders Marcus -

-

Brutus. Dabei

war

ein

Vorzug,

der die Rede

vom

eingängig machte, seine Anschlussfähigkeit

Patriotismus unmittelbar an ältere Amor-patriae-

122 Vierhaus, „Patriotismus", S. 11;

123 124

125 126 127 128

vgl. Bosse, Patriotismus, S. 67, passim, zum Gegenbegriffspaar „Patriotismus"/„Egoismus". Bereits ein flüchtiger Durchgang etwa durch Schwartz' Staatsschriften bestätigt das; vgl. a. Schulz, Reise, S. 189 f. Dass der Terminus auch zur rhetorischen Bemäntelung krasser Vorteilsnahme verwandt wurde, versteht sich; beides zusammengebracht ebd., S. 341: „Patriotismus" nenne man (in Polen) „die Anhänglichkeit an irgend eine Partei". Brunner, Patriotische Gesellschaft, S. 336. Kupffer, Gadebusch, S. 63; auch Neüschäffer, Forstgeschichte, S. 42, spricht von häufigen „Doppelrollen" als Verwaltungs- und Ritterschaftsvertreter. Allgemein: Sheldon, Patriotismus, S. 32. Mesenhöller, Zivilgesellschaft und Ständegesellschaft, S. 145 ff. Bosse, Patriotismus, S. 75. Bosse, Patriotismus, S. 70ff. Vierhaus, „Patriotismus", S. 23ff.; vgl. a. unten.

Der Diskurs der Aufklärung

173

in verschiedenen Konjunkturen und Konnotationen tradiert waren, so dass der Begriff eine gewisse etablierte Anciennität ausstrahlen konnte. Weil er zudem relativ früh im 18. Jahrhundert Glanz gewann, lässt sich der diskursive Wandel anhand seiner Auslegungen vergleichsweise prägnant zeigen. Zu dem Zweck, um die Spezifik des kurländischen Patriotismusdiskurses und seiner Entwicklung zu fassen, seien zwei Texte herangezogen, deren Entstehung 30 Jahre auseinanderliegt und die jeweils eine explizite Klärung dessen versuchen, was einen Patrioten ausmache genauer: einen „echten" Patrioten, denn ähnlich wie im Fall der Aufklärung geschah Zurückweisung selten in der Form einer Ablehnung des grundsätzlich positiv Besetzten, sondern in der Bekämpfung eines vorgeblich falschen Verständnisses davon.129 1754 wandte sich George Johann v. Bolschwing an die Ritter- und Landschaft mit einer in Königsberg druckgelegten Schrift Der ächte Patriot in seiner Freyheit, Macht und Ansehen.130 Zu der Zeit war Kurland ohne Herzog und mit Not einem Bürgerkrieg um die Frage der Machtverteilung zwischen Oberratskollegium und Landtag entgangen. Die Ritterschaft, im Ergebnis des Konflikts deutlich gestärkt, betrieb zwar zur Stabilisierung der Verhältnisse und Beendigung der Sequesterabflüsse die Freigabe und Wiedereinsetzung des in Russland festsitzenden Ernst Johann Biron, doch mit wenig Aussicht auf Erfolg.131 In dieser Situation lässt sich die Schrift des 22jährigen Juristen Bolschwing als Versuch zur ideologischen Standortbestimmung in der ausgebauten Adelsrepublik mit nurmehr fiktiver fürstlicher Spitze lesen. Im Kern steht zunächst die wohlgemute Feststellung: „Ich finde nun in Ihnen, Hochwohlgebome Ritter- und Landschaft! den Patrioten, der sich, zum Wohl des Staats würksam zu bezeigen, in solcher Freyheit befinden muß; als in der uns unsre alten Vorrechte setzen", nämlich: „in denen Umständen, in welchen ihn kein zu strenger Gehorsam verbindet, die herrisch vorgeschriebenen Befehle knechtlich zu erfüllen, und zu seinem ersteren Interesse, das Interesse seines eigenmächtigen Oberherrn zu machen", und zudem im Besitz „der erforderlichen Mittel, dem Staat dienen zu können". Zweitens folgt ein Appell in rhetorischer

Konzepte, die

-

129 J. G. Zimmermann als Bsp. einer Ausnahme: Bosse, Patriotismus, S. 84, Anm. 130 Abschrift in LVVA5759/2/104, pp. 1 ff. Bolschwing hatte in Jena studiert, die Abhandlung war ursprünglich anlässlich seines Eintritts in die dortige „Deutsche Gesellschaft" 1753 verfasst: Napiersky/ Recke, Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon, Bd. 1, S. 217f. Nicht zuletzt illustriert der Vorgang mithin ein transfergeschichtliches Muster. 131 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 140ff.; Strohm, Kurländische Frage, S. 206ff. Vgl. übrigens a. unten, S. 207.

174

Das

Herzogtum

Frageform: „Von wem hangen nun die glücklichen oder unglücklichen Folgen der freyen Staaten ab? Ist es nicht von dem tugendhaften oder wilden Verhalten der Landstände? von ihrer Eintracht, oder Uneinigkeit? von den weisen Anschlägen und der klugen Ausführung, oder von

den aus Lastern entsprungnen Absichten, sich selbst zu bereichern, sich allein mächtig zu machen?"132 Der weitere Text besteht wesentlich aus erörternder Explikation dieser Bedingungen des Patriotismus: Freiheit, vor allem der Rede, und über die beratende Rede vermittelte gestaltende Teilhabe, die materiellen Grundlagen dazu und Tugendhaftigkeit, wobei besondere Aufmerksamkeit dem Tugendkanon gewidmet wird: Einigkeit, Uneigennützigkeit und Klugheit, Festigkeit ohne Härte oder gar Gewalt, Bescheidenheit, Engagement und Hilfsbereitschaft. So ausgestattet vermöge der Patriot die „Maschine, die ihm überliefert worden", zu bewegen und mehr zum Wohl der Bürger zu erreichen als die „gekauften Hände" der Monarchen, auch wo jene ehrlich und die Potentaten selbst Patrioten seien: „Viele Landesväter [können] mehr thun als einer".133 Konkret „spürt" der kollektive Landesvater „den Geist seines Vaterlandes oder der Nation aus [...], damit er den Wünschen der Bürger zuvorkommen kann"; er „regiert die Bürger durch ihre eigenen Triebe, und setzt sie durch diesen Kunstgriff in die lebhafte, einwilligende Bewegung, die eben erforderlich ist, [...] wenn er Anstalten einführen, Schulen gründen, Manufakturen anlegen, den Handel befördern und Verbindungen mit anderen Mächten stiften" will.134 Der Text stellt im wesentlichen die affirmative Anfeuerung eines Adels dar, der seinen Landesherrn vertrat, womöglich auf Dauer; er erinnert an die zeitgenössischen Fürstenspiegel135. Bolschwing konnte das eigennützige Agieren seiner Standesgenossen nicht übersehen; dennoch brachte er seine Freude zum Ausdruck, dem von ihm „im Reiche der Möglichkeiten" entworfenen Patrioten in der Ritter- und Landschaft realiter zu begegnen.136 Das war mehr als eine Captatio benevolentiae. Da die Bedingungen des „echten" Patriotismus hergestellt waren, vielmehr: wiederhergestellt ("unsere alten Vorrechte", „die überlieferte Maschine"), bedurfte es einzig des Appells an Tugend und Klugheit, damit die Ritter- und Landschaft als Patriotenkollektiv, kollektiver Patriot nicht fehlging ein guter Fürst wurde. Der Text zielt ganz im Sinne Bosses137 -

132 133 134 135 136 137

LVVA 5759/2/104, LVVA 5759/2/104, LVVA 5759/2/104, Für Kurland: LVVA LVVA 5759/2/104,

p. 3. pp. 4, 6f. p. 13.

1100/2/18, pp. 23ff. p. 4.

Bosse, Patriotismus, S. 67 f., 70.

Der Diskurs der Aufklärung

175

Policey" für das Gemeinwesen, allein nicht aus der Kooperation „gesellschaftlicher" Akteure und „staatlicher" Instanzen, sondern als Ergebnis des Regierangshandelns eines Herrschaftsstandes, dem die ganze Potestas zugefallen war. Zugleich erscheint der Appell an die Sittlichkeit des Standes aber auch als die einzige Option: Eine Verfassungsalternative zur „Wiederherstellung" der alten Rechte kommt nicht in den Blick. Bolschwings Patriotismuskonzept von 1754 ist primär eine herrschaftliche beziehungsweise herrschaftsinterne Angelegenheit, die mit der monarchieskeptischen Tendenz ein gewisses kritisches Potential aufweist, jedoch über keinen aktiven Gesellschaftsbegriff verfügt. Die nichtindigenen „Bürger" sind Objekte, nicht Subjekte des Patriotismus. Diese Ambivalenz zwischen Statik und ständepolitischem Selbstbewusstsein drückt sich nicht zuletzt im dezidierten Gewaltverzicht aus, auf dessen Grundlage die Tat des Marcus Brutus verworfen wird. Da Mord nur neuerlich Mord und Unruhe gebäre, wird sie abgelehnt wenn auch dem Anliegen des Mörders an sich das Verständnis nicht verweigert.138 Darin lag durchaus ein möglicher Keim zu einer gesellschaftlichen Wendung des Patriotismusbegriffs. 1788 widmete Bolschwings Sohn, gleichfalls ein Georg Johann, Stuauf eine „gute

-

dent, 20 Jahre, seinem Freund und Landsmann Johann v. Foelckersahm

bei dessen Abschied aus Leipzig einen Aufsatz über Patriotismus.139 Die akademische Erziehung hatte gefruchtet: Um „mit dem Worte Patriotism nicht sowohl eine verworrene Menge dunkler Gefühle, als wahre, bestimmte Begriffe zu verbinden", stellte Bolschwing an den Anfang einen Definitionsversuch. Gegenstand des Patriotismus sei „diejenige bürgerliche Gesellschaft, zu deren Mitgliede das Loos meiner Geburt mich bestimmt hat, und der gesammte Inbegriff aller nothwendigen physischen und moralischen Mittel, wodurch dieselbe, ihren eigenthümlichen Verhältnissen gemäß, den Endzweck der Sicherheit und Glückseligkeit aller und einzelner erreichen kann."140 Gut kantisch wird zwischen notwendiger und hinreichender Bedingung unterschieden, Pflicht gegen Neigung gesetzt, das Verhältnis von Geschick und Entscheidung problematisiert, mit Betonung der Wahl. Es sei zwar recht selten, dass dieses Gemeinwesen und seine Bürger sich tatsächlich als vortrefflicher erwiesen als die meisten anderen „Nazionen", doch führe der Zufall der 138 LVVA5759/2/104, pp. lOff. 139 „Ueber Patriotism. An Johann von Völkersaam bei seinem Abgange von Leipzig. Im Namen seiner Landsleute und Freunde, gedruckt in einem Exemplar Leipzig 1788", Abschrift LVVA 5759/2/104, pp. 17ff. Zu Bolschwing jr. Napiersky /Recke, Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon, Bd. 1, S. 218. 140 LVVA 5759/2/104, p. 18.

176

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Herzogtum

Geburt zu einer Anhänglichkeit gegen die Heimat, bevor man kritisch ihre Unzulänglichkeiten feststelle. Dieser „Patriotism des Gefühls" beziehe sich freilich streng genommen nur auf einzelne Distrikte und Personen; aus ihm sei ein Engagement für das Ganze zwar möglich, aber nicht zwingend. Deshalb fordere der „wahre Patriotism" Grundsätze, nämlich die prinzipielle Einsicht, dass der Genuss der Vorteile eines freien Staates zur Verteidigung seiner Verfassung als Voraussetzung dieser Vorteile verpflichte, weiterhin, dass aus dem Entschluss, Mitglied der bürgerlichen Vereinigung zu bleiben, in die man geboren wurde, einem jeden die Schuldigkeit entstehe, „nicht nur zur Erhaltung ihres jetzigen Zustandes alles mögliche beyzutragen, sondern ihn auch nach Kräften zu vervollkommnen zu suchen."141 Der Vorteil eines freien Staates gegenüber einer Monarchie liege darin, diesen ethischen Zusammenhang sinnfälliger zu machen, den Patriotismus leichter zu stimulieren und ihm einen weiteren Wirkungskreis zu eröffnen während er vernichtet werde, wo die Monarchie zur Tyrannei oder Despotie verkomme. Dort regiere allein der Zwang: „Warum sind die Monarchien gemeiniglich nur Schauplätze der Sklaverey und Unterdrükkung, warum dürfen Fürsten, ohne zu zittern, ihre Unterthanen plündern, ihrer Freyheit berauben, warum wohl gar mit ihren Kräften und Leben jüdischen Wucher treiben? [...] Man belebe ihn [den Patriotismus, M. M.] wieder und der Tyrann wird in der Mitte seiner Leibgarde zittern".142 Die Ablehnung der Monarchie fällt mithin deutlich polemischer aus als in dem Text von 1754, grundsätzlicher, martialischer, und gegen den Vater postuliert der jüngere Bolschwing denn auch, Brutus habe weder unklug noch verwerflich gehandelt, vielmehr in Verteidigung seiner Rechte eine vaterländische Pflicht erfüllt.143 Es war wieder ein Herzog im Land, und der Konflikt zwischen Fürst und Ritterschaft bitterer denn je der Gymnasialstudent Ulrich v. Schlippenbach erstach zwar nicht Peter Biron, wohl aber dessen Porträt im Auditorium Maximum des Akademischen -

-

Gymnasiums.144 Dem jüngeren Bolschwing sind zentrale Gedanken aufklärerischer politischer Philosophie selbstverständlich. Der Gesellschaftsvertrag wird vorausgesetzt und angenommen, das Szepter sei den Monarchen „von der Nazion zu ihrer Sicherheit und Beglückung verlieh[en]" worden.145 Der postulatorische Tugendkanon ist weitgehend ersetzt durch 141 142 143 144 145

LVVA 5759/2/104, p. 20. LVVA 5759/2/104, p. 23. LVVA 5759/2/104, pp. 19f. Dannenberg, Gymnasium, S. LVVA 5759/2/104, p. 21.

XXVII; Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 88.

177

Der Diskurs der Aufklärung

ethische Deduktion und Anreizkonstraktionen: Der echte Patriot sei bei aller Bescheidenheit öffentlich auszuzeichnen, „um den so sehr am Aeußerlichen hängenden großen Haufen [...] zur Nacheiferung anzufeuern"; gezielte Erziehung (man könnte auch sagen: Indoktrination) solle den Patrioten heranbilden und über das Verhältnis zwischen Oberherr, Staat und Bürger aufklären, ihn „nicht bey den Vorartheilen [lassen], denen der Pöbel unterworfen ist." So ersetzt „richtige Einsicht" die apriorischen Sittlichkeitsforderungen, den Patrioten den man sich weiterhin getrost als Adligen denken kann zeichnen weniger Standesattribute als Bildung aus. Von Gleichheit ist nicht die Rede, selbst Solidarität wird nicht hervorgehoben: Zentral und alles überschattend steht der Freiheitsbegriff, radikalisiert noch gegenüber dem älteren Text, argumentativ wie rhetorisch. Auch sein Gegensatzpaar ist nun komplett, „Tyrannei" respektive „Despotie" haben ihr Komplement in der „Sklaverei" erhalten. Die Allgegenwart des Wortes reflektiert die Intensität der Freiheitsemphase. Während es in der agrarsozialen Aufklärungsliteratur weitgehend auf die handelbaren Leibeigenen bezogen wurde,146 bezeichnete es in der privilegienpolitischen Sprache den (realen oder vermeintlichen) Verlust von Freiheitsrechten überhaupt: „Nun sind wir nur noch Sklaven", kommentierte ein Indigenatsadliger die Unterwerfung unter Russland 1795.147 Als „Sklaverei" bezeichneten die nichtindigenen Eliten ihren Zustand eingebüßter Vorrechte, wobei neben den Topos der Freiheit schüchtern der der Gleichheit tritt, nämlich der kreatürlichen, über die sich „die Mächtigen" erhaben dünkten.148 „Sklaven" schließlich nannten sich die Handwerker in ihrer Beschwerde, dass eben diese klageführenden städtischen Eliten sie von den Ratsstellen ausschlössen.149 Die Verwendung der Antonyme Freiheit Despotie / Sklaverei stellt -

-

-

146 V.

a. Jannau, Geschichte der Sklaverey (1786); Merkel, Die Letten, S. 42, 95, 102, 122, passim (1797); vgl. a. Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 79; ebenso

Wilhelm Christian Pantenius in einem Brief 1836 und dessen Sohn 1907 in seinen Memoiren: Pantenius, Jugendjahre, S. 48, 57; schon Ziegenhorn, Staats Recht, § 661, S. 290 [verdruckt als 278] f., der, obgleich er den Rechtstatus der Untertanen dezidiert als „nicht solche Mancipien, wie die Römer ihre Leibeigene waren" be-

stimmt, von „Sclaverey" spricht.

147 Heyking, Letzte Tage, S. 477; ähnlich Elisa v. d. Recke, Journal, S. 222 f. Auch in Hinsicht auf Polen 1793/95: ebd., S. 134; Howen an Nerger 8.1.1792 (Seraphim, Briefe Howens II, S. 10). 148 „Gravamina" (s. u., Anm. 231), LVVA 640/4/85, p. 320. Die lateinische Variante lautet dagegen „populus inferior gemebat sub jugo potentiorum" meidet also die rechtsnotorischen Termini „servus"/„servitudo" oder „khmetones": ebd., p. 286. 149 Fortgesetzte Sammlung aller bisherigen Schriften, S. 7. -

178

Das

Herzogtum

ein Spezifikum europäischer politischer Rhetorik dar,150 scheint aber in der scharf einseitigen Ausprägung charakteristisch für den kurländischen, adlig dominierten Diskurs. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Nation. Bolschwing verwendet ihn zwar für eine politische Entität alteuropäisch-ständelandschaftlichen Formats, lädt ihn aber mit modernem Gehalt auf.151 Seine kurländische Nation ist zunächst geschichtlich. Ihr freier Status wird als tradiert vorgestellt, aber nicht als in einer gegenwärtigen Wiederherstellung perfekt, vielmehr für ausstehende Vervollkommnung, auf die Zukunft hin geöffnet. Spielt schon für den „Patriotism des Gefühls" außer der persönlichen Erinnerung die ererbte der Monumente und Erzählungen der Vorfahren und der von ihnen übernommenen Besitztümer eine wesentliche Rolle,152 so gilt vom „grundsätzlichen": Er „allein feuert uns zu der edelsten aller Pflichten, zu der Vorsorge für die Nachwelt an, und knüpfte ein freundschaftliches Band zwischen den Todten und Lebendigen."153 Die „Nazion" wird repräsentiert als ein über die Zeit kontinuierliches, dabei sich entwickelndes und in seiner je aktuellen Erscheinungsform auf einer individuellen154 Evolutionslinie zu verortendes Kollektiv, das sich diskontinuierlich gegen die Außenwelt verhält. Derweil bleibt es kosmopolitisch eingebettet in die Nationenfamilie: „Eifer für die Ehre seiner Nazion ist eine bürgerliche Tugend", doch ,,[d]er wahre Patriotism ist den Gesetzen und Rechten der Völker untergeordnet". Zu behaupten, „ein zu hoher Grad von Patriotism thue der allgemeinen Sicherheit und Glückseligkeit aller Staaten Eintrag", beruhe folglich auf „Misverständnis, und Vermengung der Begriffe" Unterdrückung und Befeindung der Nachbarn entspringe verderbter Vaterlandsliebe, ihrer Kontaminierung mit Eroberungssucht und religiösem Wahn.155 Komplementär zur zeitlichen tritt die soziale Kontinuität. Auch der „große Haufe", der „Pöbel" kommt, verächtlich zwar, aber in den Blick. Er ist ein Ärgernis, aber ein zum Gesamt gehöriges, und folgerichtig voll-

grundsätzlich

-

150 151

Vgl. Bernard Lewis, Der Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor, Bergisch Gladbach 2002, S. 80. In anderer Nuancierung und Stoßrichtung häufen sich bei Karl v. Heyking im Zusammenhang seiner Plädoyers für eine stärkere Gewaltenteilung die Begriffe „Nazion", „freye Nazion", „Freystaat": Schwartz, Staatschriften, Nr. 215, 228,

S. 333 ff., 364ff. 152 LVVA 5759/2/104, p. 19. 153 LVVA 5759/2/104, p. 23. 154 Vgl. seine Eingangsdefinition oben: „ihren

gemäß".

155 LVVA 5759 / 2 /104, pp. 22 f.

eigenthümlichen

Verhältnissen

179

Der Diskurs der Aufklärung

Bolschwing die Wendung vom ständelandschaftlichen zum nationalgesellschaftlichen Patriotismusbegriff bis ins für die Mehrheit seiner Zeitgenossen Inakzeptable: Als eines von fünf Mitteln, den Patriotismus zu befördern, rät er, „daß da, wo die Einwohner nicht alle Freygeborzieht

zum Theil noch Sklaven im strengsten Sinne des Wortes die sind, Sklaverey aufgehoben werde, weil der Patriotism, sobald er nur auf einen Theil der Nazion eingeschränkt ist welcher insgemein der Schwächere ist lange nicht das ausrichten kann, was er könnte, wenn alle seine Bürger gleiche Rechte der Freyheit hätten. Wieviel würden nicht diese Staaten durch die Aufhebung der Sklaverey gewinnen, die die Menschheit ohnedies so sehr entehrt."156 Fluchtpunkt des Ideals, von dem hier die Rede ist, ist nicht mehr der Adel als Landesherr, sondern als Agent einer Entwicklungsutopie. Die synekdochischen Abbildungsverhältnisse zwischen dem Vaterland und der Ritter- und Landschaft als Kollektivpatriot, zwischen dieser und dem jeweiligen Standesvertreter sind zurückgetreten zugunsten einer Repräsentativverbindung einzelner zu den vielen, der „Nazion" als Metonymie der Gesellschaft. Auf diese politisch definierte, aber vom tatsächlichen Obrigkeitsgefüge abgesetzte Nation157 bezogen, aktiviert der Patriotismusbegriff des jüngeren Bolschwing das kritische Potential, das in dem seines Vaters ruhte, und entwickelt folgerichtig ein deutlich profilierteres Verhältnis zur Universalie Menschheit in Korrelation zu einem prinzipiell integralen (Staats-) B ürgerverständn i s. Das musste keineswegs gegen die ständische Verfassung gerichtet sein, war es vermutlich auch nicht. Aus der allgemeinen Mitgliedschaft im „nationalen" Bürgerverband folgte längst keine Gleichheit politischer Rechte. Karl v. Heyking betitelte wenig später seine scharfe Zurückweisung eines solchen Anspruchs gegen Christoph Friedrich Schulz Antwort auf den Briefeines kurischen Bürgers an seinen Landsmann, beziehungsweise Réponse à la lettre d'un Bourgeois Courlandois de la pari de son Concitoyen -158 der Professor war als „Landsmann" Heykings „Concitoyen", konnte aber als Literatus und Stadtbürger („Bourgeois") keinen Anspruch auf die politischen Rechte seiner adligen „Mitbür-

ne, sondern

-

-

-

156 LVVA 5759/2/104, p. 24. 157 Nämlich die Einwohner des Herzogtums Kurland eine ethnische oder turelle Fokussierung tritt noch nicht aus dem Horizont. 158 1792: Schwartz, Staatsschriften, Nr. 256, S. 413. -

sprachkul-

180

Das

ger"

159

erheben. Zwischen

trennen.160

Herzogtum

Zivilgleichheit und politischer war scharf zu

Die Anverwandlung moderner Diskurse, ihrer Begriffe, Kategorien und Begründungsmuster, bedeutete nicht die Adaption geschlossener Gedankengefüge. Im Transfer wurde die Rede lokalen Umständen, Erfahrungen und Interessen angepasst, nicht zuletzt entsprechend dem intellektuellen Vermögen eines Reproduzenten modifiziert. Das beeinflusste ihre Dynamik, hob sie aber nicht auf:161 Der Grundgehalt aus Individualitätsemphase, Geschichtsoptimismus und anthropologischem Universalismus entwickelte seine Sprengkraft weniger in der logischen Opposition zu altständischen Vorstellungen und Rhetoriken als aus der pragmatischen Zusammenführung mit ihnen. Bevor dem nachgegangen wird, ist ein Aspekt diskursiven Wandels näher zu erörtern, der unter dem Gesichtspunkt des Patriotismus bei dem jüngeren Bolschwing perspektivisch angeklungen ist und das Hauptaugenmerk der sich entschieden als solche verstehenden Aufklärungsschriftsteller in der Region auf sich zog:162 das Verhältnis der indigenen Elite zu den Gutsuntertanen. Bolschwing, wie gesagt, argumentierte einen Schritt, der für die Mehrzahl seiner Standesgenossen (noch) indiskutabel war die Gegner der Leibeigenschaft befanden sich bis zu deren tatsächlicher Abschaffung in der Minderheit.163 Bereits zuvor jedoch nahmen sich Gutsbesitzer im Rahmen ihrer halb öffentlichen, halb privat-herrschaftlichen Macht der Agrarfrage an und produzierten eine Gattung von in dieser Form für Kurland spezifischen Texten, die „pekuliaren" Gutsgesetze oder „Hofrechte". Sie lassen sich als konkrete Akte eben jenes gesellschaftlichen Patriotismus begreifen, den die abstrakter veranlagten Naturen unter den Indigenen so eloquent konzeptualisierten. -

159 160 161

162

Vgl. a. oben, S. 170, und im Unterschied dazu die sippschaftsverbandliche Ansprache „(Wohlgeborene) Herren Mitbrüder" der Indigenen untereinander. Heyking an Nerger 6.10.1790, LVVA 1100/7/6, p. 104. Das folgt der grundsätzlichen Annahme eines größeren Erklärungspotentials prozessorientierter Betrachtungsweisen als typologisierender, wie sie etwa Vierhaus, „Patriotismus", S. 21, vorschlägt, der eine „aufgeklärt-gesetzesstaatliche" von einer „historisch-ständischen" Konzeption des Patriotismus unterscheidet. Wihksninsch, Aufklärung; Neuschäffer, Unterschlagene Machtpolitik, S. 402, 407. Dominanz sozialer über politische Fragen im aufklärerischen Diskurs als in Livland und Estland früher

zu

beobachtendes Resultat autokratischer Strukturen:

Neuschäffer, Unterschlagene Machtpolitik, S. 402. 163 Vgl. unten, S. 289ff, 340f.

Der Diskurs der Aufklärung

181

Gutsgesetze Während der letzten Dekaden des 18. und in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts erschienen auf einer Reihe von Gütern „Gesetzbücher" für die Untertanen.164 Die Herren nutzten die „potestas privata", die ihnen in den Kurländischen Statuten 1617 zugestanden worden war und es erlaubte, für ihre Herrschaften nach Gutdünken Eigengesetze („leges peculiares") zu erlassen, sofern diese nicht bestehendem Landesrecht widersprachen.165 Da dessen Regelungsdichte bezüglich der Leibeigenen äußerst dünn war, genossen die Gutsbesitzer erheblichen Spielraum.166 Doch machten sie offensichtlich lange keinen formalen Gebrauch dadas Ugahlen 'sehe Gesetzbuch Georg Dietrich v. Behrs 1770 ist von das erste seiner Art.167 Frühere Regelungen, zumeist auf Lastenfixierungen konzentriert, ergänzen lediglich Pachtverträge und zielen auf den Erhalt der jeweils in fremde Hände gegebenen Bauernschaft, darin den detaillierten Arrendekontrakten verwandt, mittels derer der Einfluss der fürstlichen Kammer auf die Wirtschaftsführung der Domänen gewahrt werden sollte. Auch die herzoglichen Amtsordnungen, die seit dem 17. Jahrhundert erlassen wurden, gehören systematisch hierher:168 -

164 Voller Wortlaut der Texte v. Pfeilitzer-Francks für Strutteln 1793, Gräfin Mengdens für Linden und Birsgallen 1796/1805,v. Grotthuß'für Schmucken 1798,v. Roennes für Puhren 1802, v. d. Brinckens für Wormen und Allaschen 1806, v. Sackens für Dondangen 1816, zweier Anonymi o. J.: Sväbe, Kurzemes muizas tiestbas. Wiedergabe der Gesetzbücher v. Behrs für Ugahlen 1770 sowie v. d. Brüggens für Stenden und Rönnen 1780: Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 313 ff.; Äbers, Kurzemes muizu likumi, S. 32ff. Tobien, a.a.O., erwähnt noch Verordnungen v. Fircks' für Samiten 1791, v. Schoeppingks für Bornsmünde um 1800, v. d. Pahlens für die Eckauschen Güter o. J.; äbers, a.a.O., S. 49, ergänzt v. Württemberg für Grünhof 1807. Auch weil die Texte auf Deutsch nicht ediert sind, werden sie hier relativ ausführlich wiedergegeben. 165 „Potest quilibet dominorum hominibus suis propijs sub se constitutis peculiares leges statuere jure tarnen publico salvo": Kurländische Statuten, §63 (Schiemann, Regimentsformel, S. 19); vgl. a. Ziegenhorn, Staats Recht, §659, S. 286. 166 Im Grunde beschränkte sich die allgemeine Gesetzgebung auf Bestimmungen zum Läuflingsprozess und zur Standesveränderung durch Eheschließung sowie auf das Verbot von Todesstrafen ohne Gerichtsurteil: Kurländische Statuten, §§52-55, 59, 61 f. (Schiemann, Regimentsformel, S. 18 f.); vgl. a. Ziegenhorn, Staats Recht, §687, S. 325; Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 88, 91. 167 Zumindest lässt sich kein früheres nachweisen: Napiersky, Chronologischer Conspect,Nr. 101, S. 95. 168 Äbers, Kurzemes muizu likumi, S. 32, 46. Sväbes, Kurzemes muizas tiestbas, S. 3, These vom Vorbildcharakter der Amtsordnungen greift zu kurz; ähnlich Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 95. Zum Zusammenhang zwischen Arrendekontrakten und Amtsordnungen vgl. ebd., S. 14. Umstandslos als frühe Privatgesetze interpretiert hingegen Gërmanis, Agrargesetzgebung, S. 203, die herzoglichen Ordnungen.

182

Das

Herzogtum

Es handelte sich um Konditionierungen eines Nießbrauchs, vereinbart über die Köpfe der betroffenen Leute hinweg. Im Gegensatz dazu stellten die auf Lettisch an die Untertanen adressierten Normen eine Novität dar, indem sie die Leibeigenen selbst ansprachen, zunächst als Objekte guter Herrschaft, später als Wirtschaftssubjekte. Sie als Manifeste „patriarchalischer Fürsorge" zu verstehen,169 vereinseitigt stark; eher schon lassen sie sich im Zusammenhang der zunehmend spürbaren, zu Ende krisenhaften Anspannung der Leibeigenschaftsverfassung begreifen.170 Jedenfalls sind sie als Zeugnisse sich wandelnder Verhältnisse und deren diskursiver Reflexionen zu lesen und als solche besonders instruktiv, weil weder theoretisierender Bekenntnisnatur, noch Teil politischen (Prinzipien-) Kampfes vielmehr wirkungsbewusster Selbstausdruck im engsten Macht- und Betätigungsgebiet des Herrschaftsstandes. Es lassen sich eine frühere und eine spätere Gruppe unterscheiden, wenn nicht als verschiedene Corpora ansprechen. Noch ganz Vorstellungen einer umfassenden „guten Policey" verpflichtet waren die beiden ältesten, das Gesetzbuch Behrs für Ugahlen (1770) und Ernst Wilhelm v. d. Brüggens Gesetzbuch für Stenden und Rönnen (1780).171 Beide schrieben das Erbrecht der Untertanen an Mobilien sowie mit leichten Einschränkungen an der Gesindenutzung fest und übertrugen justizielle und polizeiliche Befugnisse einem Gemeindegericht, das auf Ugahlen aus Verwalter, zwei Aufsehern und zwei Wirten, auf Stenden und Rönnen ausschließlich aus (sieben) Wirten zusammengesetzt war. Nahezu gleichlautend wird den Gerichten zur Hauptaufgabe und damit den Bestimmungen zur Maxime gesetzt: dass „die Ehre Gottes in meinem Gebiete nicht missachtet" beziehungsweise „die Ehre Gottes nicht angetastet werde". Im Kern der näheren Bestimmungen stehen Stabilisierung der sozialen Hierarchien, Fürsorge und Zucht. Die Gerichte sollten dafür sorgen, „dass jeder Bauer sein Auskommen an Feldern, Wiesen und Dienstboten hat", und die Beziehungen zwischen Wirt und Gesindevolk überwachen. Ihnen kam auch die Untersuchung und Entscheidung zu, ob ein in Not geratener Wirt Unglück erlitten und Anspruch auf Hilfe vom Gut hatte oder aber infolge von Liederlichkeit verarmt und aus seinem Gesinde zu setzen war. „Eingehend und ohne Überstürzung" sollten sie Erb- und Grenzstreitigkeiten schlichten, Bagatellsachen und Alimentationsforderungen -

169 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 313. 170 Äbers, Kurzemes muizu likumi, v.a. S. 43, 49. 171 Charakteristischerweise wertet sie Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 317, als „die werthvollsten"; ähnlich Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 95: „die interessantesten". Das Weitere nach Tobien, a.a.O., S. 313f.

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Der Diskurs der Aufklärung

abmachen, die Versorgung der Waisen organisieren und streng vorgehen gegen Streitsucht, unsittlichen Lebenswandel, unmäßiges Trinken, Vernachlässigung der Kinder inklusive des Unterrichts im Lesen, gegen Zauberei, Luxusaufwand bei Feierlichkeiten, vor allem aber gegen Ungehorsam, unerlaubtes Verlassen des Wohnorts, Wald- und Wildfrevel,

Gerätediebstahl. Alle diese Punkte hatten wirtschaftliche Implikationen, doch das war nicht ihr Eigentliches.172 Dem Anliegen nach handelt es sich um holistisch-sittliche Ordnungsversuche. Sie kodifizieren die integre Welt der kongruent ineinandergespiegelten Autoritäten: Der gerechte Gott ist von jedermann zu ehren, indem der Knecht seinem Gesindewirt und der Wirt dem Gutsherrn in Treue unterliegt, der wiederum die Gotteszucht in Gesetz und Institutionen fasst, die er seinen Untertanen zu guter Verwaltung übergibt. Diese formalisierte Selbstbindung war neu, aber zunächst entsprach auch sie einem Abbildungsverhältnis, dem zum gesetzlich regulierten Staat, dem verfassungs- und investiturmäßig gebundenen Fürsten. Beide Akte sind dem Geist des Barock und Gedanken der prästabilierten Harmonie verpflichtet, bilden diese einmal mehr ab, nun im normativ gehaltenen Text dass Brüggen seinen 40 Paragraphen eine fünfeinhalbseitige biblische Einleitung voranstellte,173 war mehr als eine frömmlerische Laune. Religiös motiviert gibt sich auch Franz Alexander Ernst v. PfeilitzerFrancks zwanzig beziehungsweise zehn Jahre jüngere Struttelnsche Gemeindeordnung114, doch schlägt bereits das Motto einen anderen Ton an: „Das vornehmste Gebot ist: Du sollst lieben Gott Deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüth; das andere ist dem gleich: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst."175 Dem Doppelgebot der Liebe und der Anrede „Ihr alle meine Freunde und Kinder!" folgt die Motivierung: „Mein größtes Sorgen bestand bisher darin, dass unter euch Gottesfurcht, gute Sitten und Ehrsinn zu finden und sichtbar seien, wodurch euch Glück und Wohlergehen, und was noch mehr ist, Gottes Segen entstehe. Wenn ein jeder nach Gottes und der menschlichen Obrigkeit Gesetzen lebt und rechttut, [...] wird -

172 Darauf reduziert sie freilich Äbers' Interpretation, wie Anm. 170. 173 Äbers, Kurzemes muizu likumi, S. 34. Zieht man die herzoglichen Amtsordnungen heran, stellt sich diese Sorge um Sitten und Seelenheil der Untertanen als ein Phänomen des 18. Jahrhunderts dar; in den Texten des 17. wird der Gegenstand äußerst knapp verhandelt: Gërmanis, Agrargesetzgebung, S. 206 (allerdings mit undifferenzierter Zusammenfassung der eigentlichen Privatgesetze), 236 ff. 174 „Strutteles walstas likkumi", 1793; Text: Sväbe, Kurzemes muizas tiestbas, S. 5 ff. 175 Sväbe, Kurzemes muizas tiestbas, S. 5; Übersetzung nach Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 315. Vgl. Matthäus 22: 37-39.

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auch friedlich, annehmlich und in Ruhe seine Tage verleben. [...] Damit es nun allen meinen Leuten wohlergehe, habe ich dieses Gesetzbuch geschrieben und in eure Hände gelegt."176 Daran schließen sich 49 Paragraphen an, deren erste drei Feiertagsruhe, tägliches Gebet und pünktlichen Gottesdienstbesuch anordnen. Sittengesetzlichkeit macht einen großen Teil auch des Weiteren aus: §§ 16-17 verfügen, Säufer und Tagtrinker zu strafen; sind sie Wirte und bessern sich nicht, verlieren sie ihr Gesinde und kommen unter die Knechte; wer vom Alkohol krank wird und stirbt, bleibt wie ein Selbstmörder ohne kirchliches Begräbnis. §§35-40 enthalten vor allem Bestimmungen zur allgemeinen Mäßigung; insbesondere sind Hochzeiten auf je einen Tag beim Haus der Braut und des Bräutigams zu beschränken und dürfen beide Male nicht mehr als ein Fass Bier und sechs Stof Branntwein ausgeschenkt werden „wer noch weniger verbraucht, den will ich für einen ehrbaren und vernünftigen Mann achten."177 Da die Verwendung der Bußgelder von ein bis drei Rth. alb. auf Übertretungen genauestens geregelt ist der Pfarrer sollte davon Gesangbücher u. ä. für bedürftige Kinder und Waisen kaufen (§ 40) -, changiert das Verbot freilich in eine Luxussteuer. Ähnlich wie in Ugahlen, Stenden und Rönnen verfügen §§4-15 und 26 ein Gemeindegericht aus drei Bauern und zwei Waggern beziehungsweise dem Meier und legen dessen Autorität und Kompetenzen fest178; §§24-25 fixieren das männliche Erbrecht am Gesinde. Ebenfalls in Parallele zu den Vorläufern regelt §41, einem in Not geratenen Wirt, der vor dem Gemeindegericht darzulegen vermöge, dass Gott ihn mit Unglück geschlagen habe, wolle der Erbherr aushelfen; sei ein Wirt aber durch Faulheit, Trunksucht oder schlechte Wirtschaft herabgekommen, gehe er seines Gesindes verlustig und werde ein neuer eingesetzt. Einen Wirt, der seinen Unterhalts- und Entlohnungspflichten gegen Familie und Leute nicht nachkam, sollte das Gericht zur Rechenschaft ziehen, besonders streng, wenn Kinder betroffen waren. Ande-

er

-

-

176 Sväbe, Kurzemes muizas tiesTbas, S. 5: „Juhs wissi manni draugi un behrni! Manna leelaka ruhpa us to stahw, ka juhsu starpâ deewabihjaschana, labbi tikkumi in gohda prahts atrasts in redsams taptu; zaur ko pee jums laime in labbaklahschana, un kas wehl wairak, Deewa swehtiba rassees. Kad ikkatrs pehz Deewa un tahs zilwezigas wirsibas likkumeemdsihwo un pareisi darra, [...] tad arri meerigi, glihschi in rahmi sawasdeenas nodsihwos. [...] Kanu wisseem manneem laudim labbi klahtos,esmu es scho teesas grahmatu sarakstijis in juhsu rohkahm eedewis." 177 Sväbe, Kurzemes muizas tiesTbas, S. 8: „Kas wehl masak patehre, tahdu es par gohdigu in prahtigu zilweku turru." 178 Alle Sachen zwischen den Untertanen bis zu 20 Peitschenhieben oder sechs Paar Ruten (§11), darüber hinaus waren sie vor den Erbherrn zu bringen (§ 12); die Exekution

lag beim Wagger (§ 13).

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Der Diskurs der Aufklärung

rerseits waren Knechte und Hofesleute wie schon bei Behr verpflichtet, drei Jahre auf einer angenommenen Stelle zu verweilen, und unterlagen der Hauszucht des Wirts (§§42^44). Das Gericht hatte Streitigkeiten und Mündelsachen zu erledigen (§§45, 46), Zänkerei, Schädigung, Diebstahl, Hehlerei und Waldfrevel zu strafen (§§ 18-23), wobei §23 einen Nebensatz enthält, der den Krugpächtern die Entgegennahme jeglichen Guts als Bezahlung erlaubt, sofern es nicht gestohlen ist also zugunsten der Krüger, damit des Guts, auf die wirksamste Maßnahme gegen ausufernde Zechereien verzichtet: das Gebot sofortiger Zahlung in bar.179 §§ 27-32 befassen sich mit Prügel-, vor allem aber Geldstrafen für Ungehorsam und Schadstiftung, begrenzen den Arbeitstag auf die Zeit zwischen Sonnenaufgang und -Untergang,180 legen den Ersatz für bei der Gutsarbeit zuschanden gegangenes Gesindevieh fest und befehlen unter Strafe, jeden Erkrankten zur Behandlung dem Gut zu melden; §§33-34 wenden sich gegen Wilderei und ordnen an, von Ostern bis Alt-Jacobi (25. Juli) den Hunden Blöcke um den Hals zu binden und die Gewehrschlösser aufs Gut zu geben; § § 47^8 drohen drakonische Strafen für den nachlässigen Umgang mit Feuer an. Abschließend wird in einem neuerlichen Ideologiepassus Eltern und Vorfahren zu ehren gemahnt, die Autorität von Herr und Gericht bekräftigt und bei guter Befolgung alles Angeordneten der Segen Gottes über den Verfasser und seine Untertanen beschworen. Francks Gemeindeverordnung lehnte sich mithin in den zentralen Bestimmungen eng an diejenigen Behrs und Brüggens an, sie dürfte von diesen inspiriert sein. Doch fallen Verschiebungen auf, zunächst materieller Art. Fürsorge wie Disziplinierang sind elaborierter behandelt181 und wirken dadurch schroffer kontrastiert. Bezeichnende Beispiele sind die Unterbindungsgesetze gegen Wilderei, die nicht mehr bei der Tat, sondern ihrer Möglichkeit ansetzen, und die Substituierung des Zaubereiverbots durch Maßregeln gegen Quacksalberei, verbunden mit einer medizinischen Versorgung durch das Gut.182 Auffällig sind die Verschiebungen -

179 Vgl. a. unten, S. 282. 180 Gerichtet gegen die zunehmend verbreitete Nachtarbeit v. a. in der Erntezeit. 181 Zugviehersatz, Zuwendung der Bußgelder, Erbsicherung. Das Nachtarbeitsverbot sowie die Feiertagsruhe sind zweischneidig: Einerseits bot die Belastung insbesondere des Nachtdruschs wiederholt Grund zur Klage; andererseits ermöglichte ein Ausweichen in die Ruhezeiten den Untertanen, bei übermäßiger Beanspruchung durch das Gut überhaupt ihre eigene Wirtschaft zu bestellen. 182 Ob die tradierten Rezepte der gelehrten Heilkunst durchgängig unterlegen waren, sei dahingestellt; zur Entwicklung der medizinischen Praktiken Meder, Strukturwandel, S. 60ff; plastische Schilderungen bei Hagen, Biographie, S. 123ff., passim; vgl. a. Hamann, Briefwechsel, S. 148.

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im Referentiellen: Zwar ist das religiöse Ansinnen noch vorhanden, aber dem Gericht nicht mehr zur ersten Aufgabe gesetzt; wo es im ideologischen Rahmen des Textes um so stärker hervortritt, gibt Franck sich nicht mehr mit der zu achtenden Ehre Gottes als Motivation zufrieden, sondern betont den Zusammenhang zwischen Gottes- und Nächstenliebe, Sittenzucht und Segen, Gnade und Einsicht. Den Abstinenzler will er weniger als gottesfürchtig denn als „ehrbar und vernünftig" achten, und durch alle Strenge der Konsumbeschränkung zwinkert ablassend: Wer tüchtig genug ist, zahlen zu können, mag zum Besten der Waisen wohl einmal über die Stränge schlagen; er wird daran nicht zugrunde gehen. Der verludernde Wirt hingegen wird nicht nur entsetzt, sondern explizit aus dem „Stand (kahrta)"183 der Wirte in den der Knechte degradiert, dem toten Alkoholiker gar das Seelenheil verweigert das Ganze trägt einen Grundzug dynamischer Zwangsläufigkeit. Aus sittlichem Lebenswandel folgen Wohlfahrt und Segen, Untüchtigkeit hat die schärfsten Konsequenzen ohne Rücksicht auf die bestehende Ordnung. Zwar mag das Gemeindegericht einen sonst tüchtigen Reuigen begnadigen (§ 15), nicht aber die Kirche den Säufer. War früher der Untertan den diskretionären Entscheidungen seines Herrn unterworfen, später dem Sittenkodex, wie beide dem unerforschlichen, aber gerechten Ratschluss Gottes unterlagen, ist er nun in eine Welt mechanischer Kausalität gestellt. „Gott" verblasst zur Chiffre dieser Konsequenzhaftigkeit, der Erbherr beginnt hinter dem Gesetz zu verschwinden. Der Lebensverlauf erscheint zugleich offener, insofern verschiedene Handlungsfolgen drastischer vorgestellt werden, und geschlossener aufgrund deren Unausweichlichkeit. Nicht zufällig fehlt dem Reglement die frühere Aufgabe der Gerichte, die angemessene Ausstattung der Gesinde sicherzustellen sie musste aus -

-

Tüchtigkeit folgen; wo nicht, war es selbstverschuldet, Untüchtigkeit. Die stabilen Spiegelungsverhältnisse sind aufgebrochen und werden abgelöst von einem folgerichtigen Gang der Dinge in einer faktisch von der Transzendenz disjunkten Sphäre menschlichen Handelns. Bei aller Religiosität der Rede wirkt die Figur „Gottes Zuchtrute" für unverschuldetes und deshalb vom Gut zu kompensierendes Unglück wie ein versteinertes Relikt, pietätvolles Andenken an die Sitte der zu ehrenden -

-

Vorfahren, erscheint „Gott" im ganzen Text bildlich. Materiell hat sich noch wenig geändert, doch das Verständnis des Fortbestehenden, die

Anordnung der Dinge ist in grundlegenden Wandel geraten.

183 Sväbe, Kurzemes muizas tiesibas, S. 6 (§ 16).

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Der Diskurs der Aufklärung

Typologisch stellt Francks Gesetzbuch eine Zwischenstufe dar. Äusserlich der vorhergehenden Generation angehörig, leitete es über zu den folgenden, gänzlich anders verfassten Ordnungen.

Nicht mehr von den Vorfahren, sondern von den Nachfahren handelt Adolph Ernst v. Grotthuß' kurze Motivierung seines Hofrechts für Schmucken von 1798: „Ein jeder Herr hat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass seine Wälder nicht töricht zugrunde gerichtet werden, auf dass auch unsere Nachfahren kein Holzmangel treffe. Auch ist bekannt, dass uns Kurländern, die wir im kalten Winkel der Welt leben, das Holz eine so notwendige Sache ist wie das liebe Brot selbst. Wie sollte es da keine große Sünde sein, die Wälder unsinnig zu verderben und unvernünftig abzuholzen?"184 Von Gott keine Rede, die „Sünde" ist nicht sittliche Übertretung, sondern ein „unsinniges (aplam)" Vergehen an zukünftigen Generationen. Der Begründungsrahmen kommt ohne Metaphysik aus, mit dem Hinweis auf die Naturgegebenheiten. Die folgenden 15 Paragraphen stellen statt einer umfassenden Policey-Ordnung einen knapp und harsch gehaltenen Vergehens- und Strafenkatalog auf, der im wesentlichen die strikte Unterwerfung jeglicher Waldnutzung unter die gutsherrliche Forstaufsicht verfolgt185 und gleichsam als Anhängsel Fronzucht und Diebstahl anspricht. Auch wo sie weiter gefasst waren, konzentrierten sich die Hofrechte der jüngeren Gruppe auf Wirtschaftsangelegenheiten. Sophie v. Mengdens Regulativ von 1796 war primär ein Wackenbuch, eine detaillierte Festschreibung der Frondienste und Abgaben, die die Untertanen von Linden und Birsgallen nach ihrem ökonomischen und sozialen Status zu leisten hatten.186 1805 folgte die Errichtung eines Lindener und Birsgallener Bauern- oder Gemeindegerichts[S1 aus einem gewählten 184 „Muischas-likkumi preeksch manneem dsimtlaudim [Hofes-Gesetze für meine Erbleute]", Text: Sväbe, Kurzemes muizas tiestbas, S. lOff; Zt. S. 10: „Ikweenam Kungam peenahkahs, gahdaht, ka winna meschi ne tohp aplam ispohstiti, ka jelle ir muhsu Pehznahkameem malkas truhkums ne useetu. Arn sinnams irr, ka pee mums Kursemneekeem, kas mehs aukstâ pasauls stuhri dsihwojam, ta malka tahda waijadsiga leeta irr, kà patti ta mihla maisite. Kà tad ne buhtu leels grehks, meschus aplam pohstiht, un besprahtigi iszirst?" 185 §§1-9; systematisch gehören auch die §§10-12 (Gutswiesen und Rodungen) hierher. 186 „Lindes un Birsgalles pagasta peenahkami darbi un klauschischana [Die von der Gemeinde Linden und Birsgallen zu leistenden Arbeiten und Fronen]", Text: Sväbe, Kurzemes muizas tiestbas, S. 12ff.; die Lasten vergleichsweise milde: Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 315. 187 „Lindes un Birsgalles Semneeka jeb Pagasta-Teesa", Text: Sväbe, Kurzemes muizas tiestbas, S. 15 ff. -

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Wirt, einem Zehntner188 und einem Gutsaufseher, dem die Regelung sämtlicher Auseinandersetzungen der Leute untereinander, aber auch von Vorbringungen des Gutes gegen sie zukam; außerdem hatte es auf die ordentliche Hofführung der Wirte zu sehen, ihre Abgabentreue zu überwachen sowie zu verhindern, dass sie sich im Krug oder in unvorteilhaften Geschäften mit Fremden ruinierten (§§ 3f.). Den größten Teil des Textes machen Verfahrens- und vermögensrechtliche Vorkehrungen für die Absetzung eines untüchtigen Wirts und die Nachfolge eines erbenlosen aus. Eine ähnliche Kombination von Lastenfixierung und Gerichtsbildung bringt Karl Eberhard v. d. Brinckens knapp gehaltenes Hofrecht für Wormen von 1806, dessen durch ihn installierte Richter vor allem über jede vom Erbherrn oder Arrendator gewünschte Abgaben- oder Fronerhöhung zu befinden hatten.189 Auch die etwa zur selben Zeit abgefasste, deutlich umfangreichere Verordnung eines Anonymus bestand im wesentlichen aus Gerichtsordnung, Gesindeentzugsverfahren und Fronregulierung mit Schutzcharakter.190 Sie wertete zudem das Gericht als Selbstverwaltungsorgan auf, indem ihm die Verteilung von Samtlasten, die Verwaltung des Kornmagazins und Rekrutengeldes sowie die Sorge für den Unterricht der Kinder übertragen wurden.191 Ihre Zuspitzung erfuhr diese Ökonomisierung der Ordnungsgebungen in den Anweisungen für ihre Wagger beziehungsweise Zehntner, die Gustav Christian v. Roenne 1802 für Puhren und Christoph Ferdinand v. Sacken 1816 für Dondangen erließen.192 In beiden Fällen wurden die 188 Ein aus je zehn Wirten gewählter Vorsteher. 189 „Likkumi preeksch Wohrmes Laudim [Gesetze für die Wormener Leute]", Text: Sväbe, Kurzemes muizas tiesTbas, S. 20 f. 190 „Teesaslikkumi. Teesa un likkumi, ko es saweem Laudim eezelfu [Gerichtsgesetze. Gericht und Gesetze, die ich für meine Leute errichte]", bzw. deutsch „Verordnung, die ich für meine Bauerschaft hiemit festsetze"; Texte: Sväbe, Kurzemes muizas tiesTbas, S. 22 ff, 25 ff. Sväbe legt sie ins späte 18. Jahrhundert (ebd., S. 22), da Napiersky, Chronologischer Conspect, S. 243, bereits 1828 Autor und Jahr nicht mehr ermitteln konnte, was aber kaum zwingend erscheint. Das erwähnte Rekrutengeld weist jedenfalls einen Zeitpunkt nach 1797/1802 aus, vgl. unten, S. 273 ff. 191 Sväbe, Kurzemes muizas tiesTbas, S. 26, 28. 192 „Preekschraksts teem Waggareem us mannahm muischahm [Vorschrift für die Wagger zu meinen Gütern]", Text: Sväbe, Kurzemes muizas tiesTbas, S. 29ff.; „Likkumi pehz kurreem Dundangas walstes desmitneekeem buhs turretees [Gesetze, nach denen sich die Zehntner der Herrschaft Dondangen verhalten werden]", Text: ebd., S. 34ff. In einer Mittelstellung zwischen diesen beiden und den vorherigen stehen die „Vorschriften für die Aufseher und Gebietsleute aller Güter, die dem Hochgeborenen Herrn Grafen von der Pahlen gehören", o. J. (Skizze bei Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 316), und das anonyme „Teesas likkums un Preekschraksts, kà teesnessam un zitteem usraugeem Muhsu Saftamuischâ jaturrahs [Gerichtsgesetz

Der Diskurs der Aufklärung

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bäuerlichen (Unter-) Aufseher mit kontrollierender und teilweise anordnender Autorität versehen und erhielten sie einen ausführlichen Katalog an die Hand, zu welchen Vorkehrungen die Gesindebesitzer in ihrer Landwirtschaft anzuhalten waren, um „durch rechtes und geschicktes Tun nach meinen Gesetzen [die] Wirte zu vernünftiger Feld- und Hofbestellung aufzumuntern und anzutreiben".193 Zugleich hatte „verdiente Züchtigung" zu gewärtigen, wer „seine Hofstelle und damit sein eigenes Wohlergehen mutwillig zugrunde gehen lässt."194 Dieses Motiv, auf ein wohlverstandenes Eigeninteresse der Wirte abzuheben, findet sich bereits in einer früheren Zehntner-Verordnung: „damit sie [die Wirte, M. M.] weder das tun, was ihnen zum Schaden würde, noch solche Arbeit liegenlassen oder vernachlässigen, die ihnen zur wahrhaftigen Wohlfahrt dient."195 Von den angeführten Bemerkungen abgesehen, verzichteten die zwischen den 1790er Jahren und 1816 entstandenen Gutsgesetze weitgehend auf eine religiöse Motivierung, überhaupt ideologische Einbettung. Sie wurden nicht in den Rahmen einer höheren Ordnung gestellt, sondern ordneten an, was ihre Autoren für vernünftig und nützlich erachteten im Sinne eines funktionierenden Agrarbetriebs, von rechtsförmig organisierten Selbstverwaltungseinrichtungen bis zu Wirtschaftsanweisungen für die unterste Aufsichtsebene. Die Sittlichkeitsnormen und Schwelgereiverbote schrumpften auf den funktionalen Kern, dass ein schlechter Wirt ersetzt werden konnte beziehungsweise bei Mangel infolge fehlender Sparsamkeit der Herr nicht half. Solange er sich jedoch nicht wirtschaftlich auswirkte, kam Lebenswandel nicht ins Blickfeld des Gesetzes, und auch die häuslichen Beziehungen wurden allein unter diesem Aspekt behandelt. Die Anrufung Gottes ist rar und formelhaft geworden, kaum einmal so eindringlich wie bei Sacken-Dondangen, der und Vorschrift, wie die Richter und anderen Aufseher Unseres Gutes Grünhof sich verhalten haben]" von 1807 (äbers, Kurzemes muizu likumi, S. 49); letztgenanntes betont den Bauernschutzaspekt. 193 Roenne, „Preekschraksts": Sväbe, Kurzemes muizas tiestbas, S. 29 („zaur taisnu un aschu darrischanu pehz manneem likkumeem mannus saimneekus us prahtigu semmes un mahju kohpschanu buhs skubbinaht un peespeest"). 194 Roenne, „Preekschrakts": Sväbe, Kurzemes muizas tiestbas, S. 32 („mannu dusmu un pelnitu pahrmahzischanu [...] warr sagaidiht [...], kas sawu sehtas weetu un ar to sawu paschu labklahschanu tihschi leek pohsta eet"). 195 „No Desmitneeku Peeklahjumeem [Von dem, was den Zehntnern ansteht]", anonym, Ende des 18. Jahrhunderts; Text: Sväbe, Kurzemes muizas tiestbas, S. 32f.; Zt. S. 32: „ka tee neds to darrihtu, kas winneem par skahdi buhtu, neds tahdu darbu atstahtu jeb pamestu, kas pee winnu ihstenas labklahschanas derr." Vgl. a. ebd., S. 33, §5. zu

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seine Zehntner mahnt, beim Richten Gott zu fürchten, „der einmal auch zu Gericht kommen und nach der Gerechtigkeit richten wird."196 Das Religiöse lebte als selbstverständlicher Ort der letzten Antworten und Gründe fort, doch wurden die irdischen Dinge nach den Maßgaben der Vernunft und Zweckmäßigkeit eingerichtet, durchaus nicht in Missachtung oder gar Opposition gegen das Göttliche: Es blieb Gottes Segen, der auf dem Feld wuchs und die Menschen ernährte sofern das Feld gedüngt war und niemand das Gatter aufließ und das Vieh den Segen zertrat. Mithin war letzteres einzuschärfen. Kirchgang, Sonntagsruhe, Gottesfurcht hingegen mochten wünschenswert sein, aber nicht Sache des Gesetzes.197 Darin liegt der Hauptunterschied zwischen den jüngeren und den älteren Hofrechten. Diejenigen Gutsbesitzer, die um 1800 eine Ordnung ihrer Herrschaft niederlegten, handelten nicht mehr oder kaum noch als kleine Kosmogonen, die ihrer Welt eine moralische Ordnung gemäß der umfassenden göttlichen zu geben unternahmen, sondern als Organisatoren einer vernunftgemäß betriebenen Wirtschaft. Ihr Verordnungshandeln war physiokratisch-liberal in dem Sinne, dass es die Bodennutzung rational zu optimieren und zu dem Zweck berechenbare Rahmenbedingungen zu schaffen suchte alles Weitere aber der Guts„gesellschaft" überließ, auf metaphysische Referenzen weitgehend verzichtete, dezidiert mit dem Zusammenhang von Gemeinwohl und Eigeninteresse der Betroffenen argumentierte. Dabei blieben die von Anfang an zentralen materiellen Bestandteile im wesentlichen konstant: bäuerliches Gericht, Erbrecht am Gesinde, Schutz gegen Willkür der Abgabenlast, der überkommene Beistand in unverschuldeter Not,198 wenn auch der Tüchtigkeitsvorbehält schärfer gefasst sein mochte. Bezogen auf diesen Kern, der die drängendsten Nöte der Untertanen umreißt, trifft Äbers' Antwort auf die Frage wohl zu, warum die Texte erst 150 bis 200 Jahre nach der Formula Regiminis entstanden, die sie explizit zugelassen hatte: dass es sich um Reaktionen auf die Probleme einer immer angespannteren Gutswirtschaft handelte. Ebensosehr, wenn nicht primär, waren die Normsetzungen jedoch Hervorbringungen eines Diskurses, der um Wachstum, Neueinrichtung und Verbesserung kreiste, zunächst in Imitation der älteren Policey-Ordnungen und noch dem holistischen Stabilitätsideal verbunden, später im Entwurf sektoral zweck-

-

196 Sväbe, Kurzemes muizas tiesTbas, S. 34: „Spreeschoht buhs tarn Deewu bihtees, kas weenreis arri nahks us teesu un pehz taisnibas teesahs." 197 Hinzu kam, dass vielfach die angespannten Kräfte der Leute ohne Verletzung der Ruhegebote nicht hinreichten. 198 Hierher gehören auch zwei Unterstützungszusagen zum Rekrutenloskauf: Sväbe, Kurzemes muizas tiesTbas, S. 14f., 28 (Mengden, Anonymus).

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Der Diskurs der Aufklärung

dienlicher Praktiken. Der Wandel entspricht einer Disjunktion der Sphären und Hinwendung zu den mechanischen Kausalitätsvorstellungen des Entwicklungsgedankens, von synekdochischen zu metaphorischen beziehungsweise metonymischen Operationen. Er weist den Übergang zu einer Disposition aus, die geschichtliche Weltdeutung, differenzierte soziale Rollen und eine zu domestizierende Natur reflektiert, nicht zuletzt den Selbstbe(s)tätigungswillen eines Ich, das sich gestaltend zu verwirklichen strebt. Korrespondierend sticht ins Auge, dass sowohl Behr als auch Brüggen verdiente Landespolitiker waren, der eine piltenscher Kastenherr, Hauptmann von Grobin, dann Oberhauptmann von Tuckum und später Goldingen,199 der andere polnisch-sächsischer Kammerherr, wiederholt Landbotenmarschall und kurländischer Landesbevollmächtigter200 während von den Autoren der jüngeren Hofrechte, soweit sie bekannt sind, sich Christoph Ferdinand v. Sacken lediglich kurzfristig als Hauptmann von Doblen in der Landesämterliste findet;201 zuvor hatte er als hessischer Offizier in Amerika gekämpft.202 Sophie v. Mengdens verstorbener Mann, ein Livländer, war russischer General,203 Roenne als Generalmajor verabschiedeter russischer Oberst,204 Brincken ebenfalls russischer Oberst, Franck sächsischer Rittmeister;205 Grotthuß ist weiter nicht in Erscheinung getreten, Peter v. d. Pahlen war nach einer glänzenden Karriere in rassischen Diensten 1801 verabschiedet worden.206 R. Ferdinand v. Fircks auf Samiten, dessen Ordnung nicht überliefert ist, war laut Tobien Obereinnehmer, taucht aber in den Ämterlisten nicht auf.207 Diesem Muster des landespolitisch weitgehend inaktiven, aus zwischenzeitlichem Dienst geschiedenen Gutsbesitzers entspricht einzig Geheimrat Dietrich Ernst v. Schoeppingk nicht, der als Protagonist der gemäßigten Adelspartei seine Rolle in den Ständekonflikten der Herzogszeit gespielt hatte, Provinzialkarriere bis zum Oberburggrafen -

199 200 201 202

DBBL, S. 38. DBBL, S. 110. Kurland und seine

Ritterschaft,?.

157.

Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 317; Wätjen, Geschichte Osten-Sacken,

S. 72. 203 DBBL, S. 507. 204 URL: www.v-roenn.de / Chronic 1 / Chronic2d / Chronik_D_VR 171 196.pdf, VR 184a, 187 (letzter Zugr. 31.5.2008). 205 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 315 f. 206 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 316; DBBL, S. 574f; GenHB, Bd. 1, S. 601. U. a. war er 1797 Generalgouverneur von Kurland. 207 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 315; Kurland und seine Ritterschaft, S. 149 ff. _

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Das

Herzogtum

(1797-1803) machte und ab 1814 Mitglied der Agrarreformkommis-

sion war, wo er für das Prinzip des freien Vertrags eintrat.208 Aber er bildete die Ausnahme unter Besitzern mittlerer bis sehr großer Güter beziehungsweise Güterkomplexe, die herumgekommen waren, eher zur Adelsoberschicht oder Aristokratie gehörten und es offensichtlich vorzogen, ihre Vorstellungen von Aufklärung auf dem Wege einer zweckmäßigen Organisation ihrer Herrschaften in die Praxis umzusetzen statt als Amtsträger des Landes oder des Corps.209 Der integrale Lebensentwurf war auf dem Rückzug. Die Rollen des Herrn über Land und Leute und eines an der politischen Macht aktiv partizipierenden Mitglieds des Herrschaftsverbandes wurden differenzierter wahrgenommen als eine Generation zuvor. Mochten für Georg Dietrich v. Behr und Ernst Wilhelm v. d. Brüggen Landesamt, Kirchenpatronat und Gutsherrschaft, Politik, Sittenzucht und Ökonomie Aspekte desselben Herrschaftshandelns gewesen sein, so beschränkten sich ein Gustav Christian v. Roenne oder Christoph Ferdinand v. Sacken auf einen Ausschnitt davon. Einen anderen akzentuierten die Führer der Adelspartei, die wenige Jahre zuvor den Diskurs der Aufklärung in der politischen Arena aktualisiert hatten.

3.3 Der Griff des Adels nach der Landesherrschaft In dem Maße, in dem sich der Ständekonflikt verschärfte, erlangte die aufklärerische Rede Sprengkraft. Die modischen Codes flössen in politische Argumentationen, verfertigt, um den eigenen Anspruch auf der Höhe der Zeit zu legitimieren, und führten schließlich den Verteilungskampf an ein genuin modernes Ringen um die geschichtliche Zukunft heran. Ein augenfälliger Anknüpfungspunkt war die seit dem Kampf der „Karoliner" mit dem Herzog in den 1760er Jahren radikalisierte politische Rhetorik, in der „Tyrannei" und „Freiheit", „Patriotismus" und „Knechtschaft", „Souveränität" (im Sinne absolutistischen Anspruchs) und „(freie) Nation" zentrale, ad nauseam berufene Größen darstellten, die Gegner einander in grellen Tönen Félonie, Verfassungskriminalität, Rechtsusurpation, Meineid, Wortbruch, Verrat, Untreue, Egoismus, II-

208 DBBL, S. 695; Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 317, 329, 332. Der von Abers erwähnte Herzog von Württemberg (wie Anm. 164) ist als auswärtiger Fürst ein Sonderfall. 209 Auch der baufreudige Carl v. Manteuffel-Katzdangen passt in dieses Bild, vgl. Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, pp. 34, 47ff.; oben, S. 109.

193

Der Diskurs der Aufklärung

und Herrschsucht vorgeworfen hatten210 das semiotische Feld war bestellt, die manichäische Redeweise etabliert. Was ausstand, war die semantische Verschiebung hin zu geschichts- und vernunftideologischen Inhalten.

legitimität

-

Challenge Als Peter Biron 1787 in sein Herzogtum zurückkehrte, das Lehn zerrüttet fand und daraufhin mit Erbitterung die Kassation der zugrundeliegenden Entscheidungen von Regierung und Landtag betrieb,211 beging er den Fehler, zunächst nicht den Weg vor ein Warschauer Relationsgericht zu wählen, sondern ein königliches Reskript in seinem Sinne zu erwirken und auf dessen Qualität eines abschließenden Urteils zu beharren. Der Adel war zwar weder materiell noch kulturell oder ideologisch geschlossen; rivalisierende Interessen, altständisches Libertätsdenken und aufklärerisches Gedankengut, krasser Eigennutz, abenteuerliche Machinationen und redlicher Landespatriotismus wirkten dynamisch, ohne von vornherein eine politische Richtung zu determinieren. Doch mit dem Argument, der einseitig ausgewirkte Akt eines „monarchischen Despotismus" widerspreche der Kompositionsakte von 1776 und könne jedem zukünftigen Rechtsgang gefährlich werden, gelang es der Fronde, die Ritter- und Landschaft hinter sich vereinen.212 Daraufhin klagte der Herzog gegen die Limitierung der Landtage. Beschwerden und Gegenbeschwerden gewannen an Schärfe und Grundsätzlichkeit. Der Streit zog sich bei fortwährend limitierten Landtagen hin213 und wurde abermals unversöhnlicher nach dem Tod des Erbprinzen im März 1790214: Das Kind hatte mit der Dynastie den Lehnsstaat garantiert; 210

Vgl. Schwartz, Staatsschriften; komprimiert bei Cruse, Curland, Bd. 2, S. 118 f., 127f.; s.a. Strohm, Kurländische Frage, S. 274, 319, jew. Anm. Verächtlich wiedergegeben bei Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 182f.; ähnlich Strods, Kurljandskij

vopros, Bd. 2, S. 131. 211 Briefe Birons und Raisons an den Gesandten Manteuffel Juli 1787, LNB Rx 111/1/12, pp. 4 ff; auch zum Folgenden insgesamt Cruse, Curland, Bd. 2, S. 191 ff; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 204ff.; Seraphim, Geschichte, S. 319ff.; Kadziela, Spar szlachty kurlandzkiej, S. 25 ff; Nawrot, Sprawa kurlandzka, S. 186 ff. 212 Etwas aus der Lebensgeschichte... (wie S. 100, Anm. 4), LVVA 640/2/254, p. 8; das Reskript war lt. Heyking, Letzte Tage, ?. 326, für 2000 Dukaten erkauft; vgl. a. die Briefe Birons an Manteuffel 1.8.1787, 22.10.1787: LNB Rx 111 /1 /12, pp. 6, 12; Recke, Journal, ?. 125. 213 Detailliert zu den Auseinandersetzungen in Warschau Kadziela, Spar szlachty kurlandzkiej, S. 25 ff; auch Nawrot, Sprawa kurlandzka. 214 Recke, Journal, S. 24.

194 von

Das

polnischer Seite

war

Herzogtum

vorgebracht worden, die Herzogregierenden Hauses als heimgefal-

wiederholt

tümer müssten beim Erlöschen des

inkorporiert werden, und prompt wurden solche Stimmen neuerlich laut.215 Ein alter Herzog ohne männliche Nachkommen war in einem wesentlichen Aspekt funktionslos. Derweil schwächte seit 1788 ein Zweifrontenkrieg mit Schweden und dem Osmanischen Reich Russlands Außensteuerungspolitik. Die Gunst der Stunde nutzend hatte Stanislaw August in Warschau einen Konföderationsreichstag mit einem Reformwerk beaufgabt, das 1791 in der Ustawa Rzqdowa, der Konstitution vom 3. Mai gipfelte. Preußen, das die Entwicklung in Polen zu decken schien, zeigte lebhaftes Interesse an Kurland und stärkte dort einen sonst schwachen Herzog,216 dessen Person und familiäre Situation den strukturell angelegten Antagonismus mit dem Indigenatsadel zusätzlich nährten. In dieser Situation und inspiriert von den Ereignissen in Frankreich konstituierten sich im April 1790 die Sämmtlichen Städte und vereinigten Glieder des kurländischen Bürgerstandes, später „Bürgerliche len

-

Union". Eine Elite aus den Kaufmannschaften und Literaten forderte die Restituierung wirtschaftlicher Privilegien, das Recht, Landgüter zu erwerben, politische Teilhabe. Damit erhielt der Konflikt eine neue Dimension die Adelspartei einen weiteren Vereinigungspunkt und radikalisierenden Impuls.217 Koinzidenz und Strukturlogik, endogene und exogene Faktoren führten zwischen 1789/90 und 1792/93 eine Konstellation herauf, die in unerhörtem Maße offen erschien. Als elektrisierende Demonstration des Möglichen stand am Horizont die Französische Revolution. Deren Rezeption durch den Adel war heterogen, dabei äußerst selektiv und wandelte sich zunächst unmittelbar in Projektion. 1789 pries Johann Ulrich v. Grotthuß den Sturm als einen Sieg der Vernunft über den Aberglauben nach jahrhundertelangem Kampf, der Freiheit über die -

215 Strohm, Kurländische Frage, S. 12, 67, 93ff., 119ff., 373f.; Heyking an den Landesbevollmächtigten Eberhard v. Mirbach 11.9.1790, LVVA 1100/7/6, p. 90. Vgl. a. Schwartz, Staatsschriften, S. 362f; vgl. oben, S. 47 f., 129f; a. unten, S. 229. 216 Berichte Hütteis 1791-1793: Brüggen, Beiträge; vgl. a. die Korrespondenz Man-

teuffels, LNB Rx 111 /1/14-15. 217 Schwartz, Staatsschriften, S. 370f.; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 212; Schlau, Gründungs- und Verfassungsgeschichte, S. 540ff.; Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 76ff. Die Unterstützung der Handwerkerschaft oder „Professionalisten" verlor die Union bald wieder, da sie an ihrem wirtschaftlichen und politischen Vorrang innerhalb der Stadtbürgerschaften so wenig rütteln lassen wollte wie die Ritterschaft an ihrer Position im Land.

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Despotie, deren „Spukschloss" der „fröhliche Pariser" in Trümmer geschlagen und die Blutsauger an Latemenpfähle gehängt habe; dem König habe er goldene, aber straffe Zügel angelegt und sei bestrebt, dem ausgeraubten und ausgehungerten Volk ein Auskommen zu verschaffen.

Man möge ihn, Grotthuß, nicht missverstehen, er halte „die Wildheiten des französischen Pöbels" keineswegs für ein „kulturelles Meisterwerk", allein er betrachte die Staatsumwälzung als das bedeutendste Ereignis des Jahrhunderts.218 Die folgende Aufzählung des Versagens und der Verschwendung Herzog Peters ließ an der Stoßrichtung keinen Zweifel. Doch einen Mirabeau oder Lafayette, wie Donnert und Stepermanis meinen,219 gab Grotthuß eben nicht: Von Konzessionen gegenüber den Nichtindigenen ist hier keine Rede, die Abschaffung des Adels, sich gar an die Spitze eines Dritten Standes zu stellen undenkbar.220 Vielmehr wies Grotthuß solche Ansprüche, als sie sich wenig später artikulierten, ausführlich zurück221 und trat einer Schrift Carl v. Manteuffels222, in der dieser für einen Ausgleich mit dem Herzog unter Zuziehung der Bürger plädierte, scharf entgegen.223 Grotthuß' Französische Revolution war ein stark vereinseitigtes, verengtes Referenzspektakel des adelsfreiheitlichen Patriotismus, gerade in seiner rhetorisch beklagten „Wildheit" erregend, dem Fürsten zur Warnung. Die Zahl der Adligen, die demgegenüber überhaupt ein politisches Mitspracherecht der Nichtindigenen in Betracht zogen, war gering, und eine Konstituierung des Dritten Standes zur Nation kam auch ihnen kaum in den Sinn. Wenn sie sich nichtsdestoweniger von den Führern der Mehrheit den Vorwurf gefallen lassen

218 Johann Ulrich v. Grotthuß, „Briefe an meine Mitbürger", hier nach Donnert, Kurland im Ideenbereich, ?. 77f.; Stepermanis, Atbläzma, S. 46, 49. Ähnlich Karl v. Heykings Schrift „Über den gegenwärtigen kurischen Landtag" von 1789, die die Deputierten in eine Reihe mit den Vertretern der Nationalversammlung stellt: Donnert, a.a.O., S. 78. 219 Wie vorherg.; vgl. a. Schlau, Gründungs- und Verfassungsgeschichte, S. 542f. 220 Seine spätere Parteinahme in den Müllerunruhen fand an der Seite der Gewerke, eben nicht der „Bürger" statt und zielte primär gegen den Herzog: unten, S. 237. 221 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 231, S. 369. 222 „Etwas über Curland in Rücksicht auf die gegenwärtigen Mißhelligkeiten zwischen dem Herzoge und dem Adel", Frankfurt/Libau 1791: Schwartz, Staatsschriften, Nr. 240, S. 383 ff. 223 „Etwas für Kurland, ein Gegenstück des Etwas über Kurland", [Warschau] 1791: Schwartz, Staatschriften, Nr. 241, S. 387 ff.

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mussten, da wolle wohl mancher „den Mirabeau spielen",224 so in spöttischer Polemik.225 Nicht viel anders sah es im „bürgerlichen" Lager aus. Radikale Positionen wurden nur von einer Minderheit vertreten,226 die sich keine Chancen ausrechnen durfte, daraus Politik werden zu sehen. Donnerts Interpretation, dass die Bürgerunion „die Revolution in Frankreich, die sich am 14. Juli 1789 durch das unmittelbare Eingreifen der Volkskräfte vollzogen hatte, auch für Kurland als erstrebenswert" erachtete,227 ist so nicht zu halten: Die Repräsentation der Ereignisse in Paris durch die Nichtindigenen war nicht minder selektiv als im Adel, der von der Union vorgetragenen Forderungskatalog nicht weniger einseitig und ihr Verhältnis zu den „Volkskräften" alles andere als egalitär-brüderlich.228 Der diskursive Rekurs beziehungsweise Transfer bedeutete weder im einen noch anderen Fall die Verpflanzung kompletter ideologischer Systeme. Vielmehr wurden zentrale Begründungsmuster, Kategorien und Begriffe adaptiert, aber gemäß dem lokalen Kontext teils rearrangiert, teils umkonnotiert, jedenfalls nach den Gegebenheiten sowie Vorprägung und Interessenlage der Sprecher modifiziert. Die Aktualisierung einer längst mitgetragenen Rhetorik in politischen Projekten folgte den spezifischen Bedürfnissen der Akteure. Gleichwohl wich damit auf einer fundamentalen Ebene die überkommene Ordnung der Dinge einer neuen und kam das unter den genannten Bedingungen des Ständekonflikts zum Tragen. Nach einem lebhaften Wechsel von Schriftsätzen und Traktaten229 verdichtete sich der Konflikt in einem Schlagabtausch programmatischer Anträge vor einer für die kurländischen Händel verordneten Deputation des Großen Sejm. Abgesandte der kurländischen Städte hatten im Juni 224

Heyking

über einen Vetter Manteuffels: Brief

1100/7/6, p. 100.

an

Nerger 25.11.1790,

LVVA

225 Dass eine derartige Sprache lediglich populär-terminologische Einkleidung gewesen sei, wie Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 178, annimmt, greift hingegen zu kurz. 226 Schlau, Gründungs- und Verfassungsgeschichte, S. 542; zur Stimmenvielfalt Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 76, passim. Stellvertretend für eine die Radikalen, v.a. Wilhelm Ludwig Koenemann, überbetonende Literatur: Steiner, Kampf um Bürgerrechte; Stepermanis, Atbläzma, S. 53 ff; grundlegend gegen die damit verbundenen Thesen zum Revolutionstransfer: Bosse, Zunftgeist. 227 Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 77. Ähnlich, wenn auch in relativierender Abgrenzung zu Donnert, spricht Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 157, von „Demokratisierung" als Ziel. 228 Vgl. Seraphim, Geschichte, S. 324. 229 Chronologische Regesten bei Schwartz, Staatsschriften; Abdruck der wichtigsten Texte: Sammlung aller bisherigen Schriften mit 5 Fortsetzungen; Darstellung und Analyse in Auswahl: Donnert, Kurland im Ideenbereich, v.a. Abschnitt 2, S. 75ff.

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1791 gegen den heftigen Widerstand der Ritterschaftsdelegierten öffentliches Gehör vor den versammelten Ständen gefunden und im Anschluss die Erlaubnis erhalten, ihre Beschwerden der Deputation einzureichen.230 Die Ritterschaftsdelegierten reagierten auf diese „Gravamina"231 mit einer Protestnote,232 schließlich mit einem ausführlichen „Mémoire"233. Vor allem aber produzierten sie ein „Projectum"234 zu einer Reichstagskonstitution, das die Beschwerden der Ritter- und Landschaft wider den Herzog235 in einer positiven Beschlussvorlage systematisierte. Auf diese 230 Schwartz, Staatsschriften, S. 372. 231 „Gravamina civitatum Ducatuum Curlandiae et Semigalliae Excelsae Deputationi per Status Serenissimae Reipublicae constitutae expósita", 16.6.1791 [im weiteren: „Gravamina"]: LTA 1793, LVVA 640/4/85, pp. 285 ff; deutsch: ebd., pp. 320 ff.; auch in Sammlung aller bisherigen Schriften, 4. Forts., S. lOff; Regest: Schwartz, Staatsschriften, Nr. 232, S. 369ff. 232 Schwartz, Staatsschriften, S. 373. 233 „Mémoire über die bürgerlichen Angelegenheiten und Unruhen in den Herzogthümern Kurland und Semgallen, unterlegt von Seiten einer Hochwohlgeborenen Ritter- und Landschaft dieser Herzogthümer Einer zu den kurländischen Angelegenheiten ernannten Erlauchten Deputazion", Warschau 19.11.1791 [im weiteren: „Mémoire"]: LTA 1793, LVVA 640/4/85, pp. 359ff; auch in Sammlung aller bisherigen Schriften, 5. Forts., S. 6ff; Regest: Schwartz, Staatsschriften, Nr. 233, S. 374f. 234 „Projectum Iuxta quod ad futuram Constitutionem circa Ducatus Curlandiae & Semigalliae praesentibus in Comitiis condendam, Opinionem suam ferre, Illustrissimam Deputationem Ordo Equestris Curlandiae observantissime rogat/Projekt in welcher Art die Kurländische Ritterschaft die Erlauchte Deputation für die in Betreff der Herzogthümer Kurland und Semgallen auf dem jetzigen Reichstage einzurichtende Konstitution ihr Gutachten abzugeben, ergebenst bittet" [im weiteren: „Projectum"]: LTA 1793, LVVA 640/4/85, pp. 347ff.; Regest: Schwartz, Staatsschriften, Nr. 250/12, S. 404. Das „Projectum" ist mittlerweile gut zugänglich ediert: Keller /Oberländer, Kurland, S. 252 ff; da zum Zeitpunkt der Publikation jedoch die Druckvorbereitung dieses Kapitels bereits vorangeschritten war, wird hier aus dem Archiv zitiert. 235 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 237, 242, S. 377 ff, 389ff.Zusammengefasst: 1. Der Herzog verfahre willkürlich mit den Landtagen; 2. er schließe die Oberräte von Landesgeschäften aus; 3. er enthalte die Lehnseinkünfte den notwendigen öffentlichen Ausgaben vor; 4. er lasse die öffentlichen Gebäude verfallen; 5. er entziehe seine Hofbediensteten und die Soldaten der öffentlichen Gerichtsbarkeit; 6. er berichtige eigenmächtig die Grenzen mit Privatgütern und 7. bestreite deren Hölzungs- u. a. Rechte auf Domänenland; 8. er missachte das Indigenat bei den Offiziersstellen des Lehnskontingents; 9. er wähle wider das Herkommen die Hauptleute und Gerichtsbeisitzer aus; 10. er ziehe die Lehngüter zu Oeconomien zusammen bzw. erhöhe die Arrenden über Gebühr; 11. er habe alles, was in seiner Abwesenheit rechtskonform angeordnet worden sei, eigenmächtig umgestoßen; 12. er habe wider die Kompositionsakte von 1776 einseitig ein königliches Reskript zur Grenzführung zwischen seinem Allod und dem Lehn bewirkt.

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wiederum ließ die herzogliche Seite eine an der Systematik des Projectum orientierte Entgegnung folgen (adnotationes"236). Damit lag im November 1791 ein Satz konzentrierter Schlüsseltexte vor, die als Pragmatiken politischer Philosophie also nicht: philosophisch-theoretisch die Maximalpositionen der Beteiligten wiedergeben. Allen vier Positionierungen gemein war ihre Einkleidung in das Begehren, einen korrumpierten Rechtszustand wiederhergestellt zu sehen, beziehungsweise die Gegenbehauptung, er bestehe unverletzt, sowie das logisch entsprechende Postulat, über die „richtige" Interpretationen der historischen Rechtsgrundlagen zu verfügen. Dieser äußere Modus der Argumentation gehorchte weniger einer tatsächlichen Orientierung an idealisierten Vergangenheiten als dem institutionellen Kontext, dem Ort der Auseinandersetzung, eben jener Reichstagsdeputation: Die Abhängigkeit der Landschaft von äußeren Gewalten zwang die Kurländer, ihre Ideen- und Machtkämpfe in den vorderhand weiterbestehenden Systemstrukturen formal rechtsförmig auszutragen. So entstand die verquere Sprechsituation, dass zunächst vorpolitisch adaptierte Versatzstücke moderner Diskurse ihre politische Aktualisierung in einer Form erfuhren, die die Explikation ihres geschichtlich-universalistischen Grundes weitgehend zugunsten juridisch-historischer Argumentation verbat. Doch wie sehr auch als Bezugspunkt altes, verbrieftes Recht ausgegeben wurde und etwa die internen Korrespondenzen der ritterschaftlichen Delegierten das ausgeprägte Bewusstsein eines legitimen Anspruchs auf der Grundlage hergebrachter Würden atmen,237 blieb den Akteuren nicht verborgen, dass zumal der im Projectum angestrebte Zustand ein qualitativ neuer war sie, in den Worten der herzoglichen Adnotationes, darauf ausgingen, ein „novum Status Systema sibi fingere"238. Karl v. Heyking spricht die längst gewusste Distanz zum formalen Rahmen in seinen Memoiren aus: „Wir hatten auf unserer Seite die Vernunft, die Gerechtigkeit und besonders die historischen Präzedenzfälle, die für die Menge immer das stärkste Beweismittel sind."239 Im Zentrum der Gravamina der Städte standen verfassungspolitische Forderungen, die sich auf den Begriff Partizipationsausweitung bringen lassen (1. Gravamen): „daß Städte und Einwohner des Herzogthums -

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236 „Adnotationes super Projectum Ordinis Equestris Curlandiae ad futuram Constitutionem condendam porrectum, Nomine Illustrissimi Ducis Curlandiae et Semigalliae exhibitae" [im weiteren: „Adnotationes"]: LTA 1793, LVVA 640/4/85, pp. 385-391. Vgl. dazu a. Keller /Oberländer, Kurland, S. 252f., Anm. 237 LVVA 1100/7/6, p. 101; ebd./7, pp. 12ff., 20. 238 „Adnotationes", LVVA640/4/85, p. 385. 239 Heyking, Letzte Tage, S. 350.

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Kurland und Semgallen, als ein dem Ritterstande in Absicht auf gesezliche Anordnungen [...] gleicher Stand, zu allen Angelegenheiten Kurlands, zu öffentlichen Angelegenheiten und also zur Gesezgebung [...] ebenso wie der Ritterstand beruffen und zugelassen werde".240 Konkret sollte „der Bürgerstand" „Bevollmächtigte" entsenden und sollten diese sich „an einem anderen besonderen Orte" als der Landbotenstube versammeln und beratschlagen; ein verbindlicher Abschied sollte dann der Zustimmung beider Kurien und des Herzogs bedürfen.241 Als Vorbilder werden „Deutschland und England, wo mehrere Stände befindlich sind," genannt.242 Damit lässt sich von einer „Wiederherstellung"243 der eifrig belegten früheren Teilhabe der Städte (!) an Landessachen244 eigentlich nicht sprechen. Denn erstens wird auf eine derartige Kurialverfassung keinerlei Hinweis erbracht, zweitens entspricht höchstens die in der deutschen Übersetzung gebotene Bestimmung des amorphen Begriffs „Bürgerstand" der Restitutionsrhetorik: „das ist, alle Städte"245. Der maßgebliche lateinische Text wird deutlicher: Die Universale und Materialien zu den Landtagen seien „ad octo civitates horum ducatuum sub titulo litteratos, mercatores, artifices, opificesque denotante" zuzustellen.246 Das jedoch transzendierte die Präzedenzfälle, auf die sich die einleitende Rechtfertigung berief. Die frühere Berücksichtigung der Städte sah deren Beiziehung als Corpora vor, repräsentiert in ihren aus den jeweiligen Zunft- und Gildenverfassungen hervorgegangenen Obrigkeiten -247 nicht aber die Partizipation eines wie auch immer gefächerten Samtbürgerverbandes. Genau dies implizierte der Einschluss der Literati als einer außerhalb der Bürgerschaften berechteten, teils auf dem Land lebenden Gruppe von Nichtindigenen.248 Ähnlich verdeutlicht das im selben Punkt geforderte individuelle Antragsrecht bezüglich der

240 „Gravamina", LVVA640/4/85, pp. 287, 323. 241 „Gravamina", LVVA 640/4/85, pp. 287, 323. Bei NichtZustimmung eines Standes sollte die Proposition ruhen oder vor die Oberherrschaft gebracht werden. 242 „Gravamina", LVVA 640/4/85, pp. 287, 323. Es folgen Detailbestimmungen, die die tatsächliche Gleichberechtigung der neuzuschaffenden Kurie und das reibungslose Funktionieren des erweiterten Landtages sicherzustellen suchten. 243 „Gravamina", LVVA640/4/85, pp. 286 („restauratio"), 320, passim. 244 „Gravamina", LVVA 640/4/85, pp. 286ff, 321 ff. 245 „Gravamina", LVVA 640/4/85, p. 324. 246 „Gravamina", LVVA 640/4/85, p. 288. 247 Ziegenhorn, Staats Recht, § 675, S. 306f. 248 Schlau, Gründungs- und Verfassungsgeschichte, S. 537; Bosse, Einkünfte, S. 527ff.; Hoheisel, Bevölkerung 1797, S. 555f. An der Bürgerunion selbst waren zudem etliche Mitglieder des „landischen Mittelstandes" beteiligt.

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Verhandlungsgegenstände,249 dass am Vorbild der Ritterschaft orientiert ein Stand entworfen wurde, der die Adelsnation gleichsam duplizierte,

ihr nicht „die Städte" an die Seite stellte, sondern eine zweiten Gruppe natürlicher Privilegienträger der projektierte „status civicus uti tertius status"250 ließ seinen Legitimationsgrund hinter sich. Was als Wiedereinsetzung in alte Rechte verlangt wurde, war eine neue Ordnung. Eine Ordnung freilich, die kein systematisches Fundament aufwies: Während die Ritter- und Landschaft qua Matrikel theoretisch scharf umrissen konstituiert war und damit zum synekdochischen Inbegriff des „ganzen Landes" taugte, boten die Gravamina keine tragfähige Imagination des „status civicus" an. Sie konzipierten eine Art binnenegalitäres Me-

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aus Mitgliedern rechtsungleicher Korporationen, ergänzt um qualifizierte Individuen, das im Verein mit der Ritterschaft in ein seiner Rechts- und Repräsentationsauffassung nach unklares Regierungsverhältnis zum Territorium treten sollte eine ständisch eingefangene Rezeption postständisch-universalistischer Gesellschaftsentwürfe. Diesem Hybrid entspricht die Durchflechtung des historisch-juridisch Begründeten mit Anrufungen der „natürlichen Billigkeit" beziehungsweise des „Naturrechts" und der „Menschlichkeit",251 gipfelnd im egalitären Hymnus auf den geschichtlichen Moment durchbrechender Aufklärung,

tacorps

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zu erkennen anfängt".252 In puncto der Landesämter wird denn auch offen die kontingente Gewordenheit der bestehenden „Regierungsanstalten" und eine zeitgemäßen Revision angespielt,253 und an anderer Stelle heißt es deutlicher, die kurländischen Verhältnisse liefen „der izt allgemeinen angenommenen Regierungsordnung zuwider".254 Derweil sollte die politische Inklusion des „mittleren Standes"255 einhergehen mit einer straffen Wiederherstellung seiner Nahrungs"privilegien, der Zurückdrängung unfreier wie freier Landbewohner sowie Landfremder aus Gewerbe und Zwischenhandel, insbesondere mit einem Verbot der Aufkäuferei und einem Handels-, das hieß faktisch

„da der Mensch den Menschen

249 „Gravamina", LVVA 640/4/85, p. 288: „ut etiam quodvis Status Civici individuum deliberatoria de rebus in Conventu publico tractandis Cancellariae Ducali exhibendi jus habeat"; bzw. ebd., p. 324: dass „einem jeden Bürger erlaubt seyn möge, deliberatoria wegen der auf dem Landtage abzuhandelnden Materien in die Herzogliche Kanzlei einzureichen." 250 „Gravamina", LVVA 640/4/85, p. 287. 251 „Gravamina", LVVA 640/4/85, pp. 328, 330, 333. 252 „Gravamina", LVVA 640/4/85, p. 320. 253 „Gravamina", LVVA640/4/85, p. 327. 254 „Gravamina", LVVA640/4/85, p. 330. 255 „Gravamina", LVVA 640/4/85, p. 333; ebd., p. 296: „status intermedius".

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einem Aufenthaltsverbot für Juden,256 schließlich mit einer Ausstattung des Bürgerstandes mit Gewaltmitteln, dies durchzusetzen (2. Gravamen).257 Die Landesämter waren ein für allemal zwischen den nunmehr zwei politischen Ständen aufzuteilen, wobei man sich mit den geringeren zufriedengab;258 die bisher rein adligen Gerichte sollten paritätisch besetzt, die herzoglichen Güter bürgerständischen Pfandhaltern, Pächtern und Verwaltern geöffnet werden (3. Gravamen).259 Diesem Gedanken paritätischer Aufteilung widersprach streng genommen der Anspruch, Privatgüter („praedia nobilia [!]"260) erwerben zu können, der wie das vorherige sowohl historisch belegt als auch mit der „natürlichen Billigkeit" sowie der volkswirtschaftlichen Vorteilhaftigkeit begründet wurde (4. Gravamen).261 Kurz, es handelte sich um den Ansatz zu einer transformierenden Fortentwicklung des altständischen Systems in eine mögliche Richtung: Partizipationsausweitung bei Bewahrung einer relativ starken Fürstenmacht und gleichzeitiger Verschärfung sozialer und ökonomischer Ex256 Zur Nähe von Adelsfeindschaft und Antijudaismus vgl. Schulz, Reise, S. 303, mit Bezug auf Polen: ,,[S]ie [der katholische Adel, M. M.] hassen und verfolgen endlich die Andersdenkenden, nicht aus Abscheu vor ihren Lehren, sondern als politische Nebenbuhler, nicht aus religiösem, sondern aus politischem Fanatismus. Der Umstand macht dies klar, daß sie das jüdische Bekenntnis, unstreitig das feindseligste gegen andere und das schädlichste für den Staat, nie einschränkten, nie verfolgten"; auch Raisons Bitte an Manteuffel (29.1.1789, LNB Rx 111 /1/12, p. 56), einer von Howen betriebenen Etablierung des jüdischen Kaufmanns Borkum in Mitau „in Zeiten vorzubauen, damit nicht, trutz dem art. pactor. Subjection. Judaeis nulla commercia concedantur, durch die Bemühungen dieses aufmerksamen Wächters unserer Gesetze [Howen; Raisons Umgang mit der Gegenpartei war durchgängig ätzend, M. M.], noch mehr Nachtheil über die Städte und das Land gezogen werden möge, als bereits durch die Überschwemmung mit dem Auswurf alles lüderlichen Gesindels der Jüdischen Nation denselben zuwachset." 257 „Gravamina", LVVA 640/4/85, pp. 288ff., 325ff. Das betraf auch den Adel, dem besonders die Einfuhr von Bier, auch zum eigenen Konsum, in die Städte untersagt werden sollte (ebd., p. 326) sowie das Bauen mit anderen als den städtischen Handwerkern, deren Material und Gerätschaft (ebd., p. 327). 258 „Gravamina", LVVA 640/4/85, pp. 294, 330: Superintendent, Protosekretär, acht Justizratsstellen, Kanzlei, Kämmerei, Archiv-Officianten, Hafeninspektoren, Oberhofpostamt; andere von Nichtindigenen besetzte Positionen sollten freier Konkurrenz geöffnet werden, im Gegenzug auch wieder die beiden untitulierten Stellen im Oberratskollegium (vgl. oben. S. 50). 259 „Gravamina", LVVA640/4/85, pp. 294, 328, 330. 260 „Gravamina", LVVA 640/4/85, p. 294. 261 „Gravamina", LVVA 640/4/85, pp. 294f., 331 f. Dem Einwand, damit werde der Adel vom Land verdrängt, begegneten die „Gravamina", das würde weder die Politik zulassen, noch sei so viel freies Kapital vorhanden, das Immobilien als Sicherheit suche: ebd., pp. 296, 332f.

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klusionslinien zwischen den beiden politischen Ständen, vor allem aber gegen Dritte. Dabei konnte auch den vom eigenen Standpunkt überzeugten Anhängern der Gravamina bei ihrer Berufung auf die Maiver-

nicht entgehen, dass die Rede von einer „Wiedereinsetzung" der Einwohner Polens und Litauens in ihre Rechte262 entweder ein Formalismus sein oder sich auf natürliche, vorhistorische Rechte beziehen musste. Bezeichnend für die Umgestaltungsabsichten ist nun aber, dass weder eine Kopie der Warschauer Lösung noch gar französisch-revolutionäre Vorstellungen ins Spiel gebracht wurden.263 Nach Maßgabe der Umstände und Interessen diente als Vorbild für die Ambitionen der Bürgerunion weniger ein abstrakt-ferner Tiers état als der konkrete indigene Adel, neben den ein zweiter, ihm nachempfundener Stand treten sollte, dem jedoch das corpsinterne Egalitätskonstrukt, der historische Grund sowie eine rhetorisch handhabbare Repräsentationsvorstellung abgegangen wären.264 Man transferierte Begriffe, institutionelle Anregungen und die Vorstellung, dass Gesellschaft fundamental veränderbar sei, und passte die darauf gestützte Partizipationsausweitung dann in einen entschieden ständischen Gesellschaftsentwurf ein.

fassung

Response Zielten die Gravamina auf eine soziale Erweiterung der politischen Teilhabe, konterte der Indigenatsadel mit einem Projekt, das streckenweise konstitutionelle Züge im modernen Sinne aufwies, zugleich aber eine den Gravamina komplementäre ständische Befangenheit. Das Projectum spielte gleichsam die entgegengesetzte Variante ständischer Modernisierung durch: Partizipationsintensivierung statt -ausweitung. Zunächst wurde im Mémoire die Existenz eines kurländischen „Bürgerstandes" von Seiten der Ritterschaft schlicht negiert und die politische Betätigung der Nichtindigenen außerhalb des ihnen zukommenden städtischen Rechtskreises als Verfassungsbruch bekämpft.265 Um deren Deputation und Gravamina nicht implizit Legitimität zuzuerkennen, legten die Ritterschaftsdelegierten ihre direkte Antwort nicht in der Form ei262 „Gravamina", LVVA 640/4/85, p. 320. 263 Beides mochten radikalere Vertreter in Kampfschriften und Gespräch herbeizitieren (wie Anm. 226), das tatsächliche politische Programm gestalteten andere, und gestalteten es anders. 264 Vgl. Anm. 217. In Livland, wo die Reichen und Gelehrten eine andere Strategie der Statusannäherung an den Adel verfolgten, lehnte August Wilhelm Hupel die Rede von einem „Bürgerstand" denn auch vehement ab: Bosse, Einkünfte, S. 525. 265 „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 360, passim; vgl. a. unten.

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Protestation vor, sondern eben als Memorandum.266 Darin wird zwar eingeräumt, die Städte seien zur Beschwerdeführung vor der Oberherrschaft berechtigt, doch erst, nachdem ihre unmittelbare Obrigkeit, also Fürst und, sofern betroffen, Landschaft, die Sache behandelt hätten: was nicht der Fall sei.267 Vor allem aber, und das ging an den Kern der Sache, agierten hier nicht die Städte, sondern „eine Koalizion einzier Personen und Klassen bürgerlicher Kondizion",268 die einen von der Verfassung nicht vorgesehenen, noch weniger politisch berechteten „Ordinem Civicum" oder „Stamm Civicum in Sensu politico" konstruierten.269 Ein solches „Projekt zur Formierung eines Tiers-Etat in Kurland" sei „unter aller Kritik, weil in Kurland die Ursachen, aus denen in andern Ländern, in welchen die Lasten des Staates auf dem Volk liegen und von demselben bewilligt werden müssen, wie in England, oder wie in einigen deutschen Staaten, und in denen dahero ein Tiers-Etat entweder von altern Zeiten schon existirt, oder sich in neuern Zeiten gebildet hat, gänzlich cessiren; maaßen in Kurland weder die Städte qua Städte, noch irgend eine Person bürgerlicher Kondizion zur Erhaltung des Staates auch nicht einen Groschen an Abgaben, weder an den Fürsten [...] noch an den Adel abtragen; wo die etwannigen bloßen Onera Civitatensia [...] bloß nur von den Magisträten der Städte selbst und der Bürgerschaft regulirt werden, und mit denen also weder der Fürst noch Adel etwas zu thun haben."270 Und dies gelte um so mehr für die nicht zu den Bürgerschaften gehörigen Advokaten, Ärzte und Landesbediensteten, die „ganze Klasse von so genannten Literatis", die Immunität auch von städtischen Abgaben, Zollfreiheit, Freiheit von Einquartierungen und denselben Gerichtsstand wie der Adel genossen, erst recht für die Freien auf dem Land, etwa Oeconomienverwalter und -Sekretäre.271 No representation without taxation, das war der politische Kern des Arguments.272 Sein rechtlicher: Der ner

Niederlage, die die Gewährung einer öffentlichen Audienz für die Bürgerabordnung beim König für die Delegation darstellte, suchten sie abzuschwächen, indem sie darin keine Anerkennung eines wie auch immer gearteten Vertreterstatus, sondern lediglich eine Anhörung einzelner sehen wollten, die jeder polnische Staatsbürger beim Kanzler erbitten konnte: Heyking an Mirbach 30.4.1791, LVVA 1100/7/7, p. 14. In den „Gravamina" wird hingegen die Rezeption gleich einem Faustpfand vorgewiesen: LVVA 640/4/85, pp. 294, 330.

266 Die

267 268 269 270 271 272

„Mémoire", LVVA/640/4/85, p. 366. „Mémoire", LVVA640/4/85, p. 361. „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 362. „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 368. „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 363. Das ging um so leichter von den Lippen, als die Landes-Kontributionen keine große Last darstellten; vgl. oben, S. 76, 79; auch „Adnotationes", LVVA/640/4/85,

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Zusammenschluss der Unbesteuerten zu einem „Corps" sei nichts als „die verwegenste und strafbarste Zusammenrottung".273 Bei der Zurückweisung blieb es nicht. Mit dem Projectum formulierten die Ritterschaftsdelegierten ihrerseits ein offensives Programm, das in doppelter Stoßrichtung gegen Herzog und Bürgeranion auf eine Art radikale Parlamentarisierung der kurländischen Verfassung hinauslief.274 Wie die Gravamina argumentierte das Projectum mit der Wiederherstellung eines korrumpierten Rechtszustandes und dehnte dies zur Forderung einer Rechtserweiterang, bekannte sich aber deutlicher dazu, indem neben den Topos der Restituierung der einer „authentischen Auslegung und Erklärung" der „Kardinalgesetze" durch die Oberherrschaft nach „dem Sinn der Regimentsformel und nach der Analogie" trat, die nicht zuletzt eine „unsern Zeiten und dem Wohl der Herzogthümer [...] angemessenere und genauere Erklärung" darstellen sollte.275 Hauptanliegen waren eine klare Gewaltenteilung, die Trennung des öffentlichen vom fürstlichen Privatfundus und dessen Verwendung. Mit einer gewissen Nonchalance wird zu Eingang des ersten Teils festgestellt, ,,[d]aß, wie bisher, so auch künftig die Gesetzgebende Gewalt bey dem Landtage seyn soll" wird also Kontrolle und Mitsprache unter einem fadenscheinigen „wie bisher" zum vollen Legislativrecht ausgebaut: „Was durch die Mehrheit der Stimmen auf dem Landtage zu guter Ordnung gesetzt und verordnet [wird], [...] muß [!] von dem Durchlauchtigen Herzoge [...] vollzogen werden", sofern es nicht dem Subjektionsnexus oder den Fundamentalgesetzen widerspricht. Ein aufschiebendes Veto genießt der Fürst nur, wo eine Anordnung oder neue Einrichtung von seiner Seite zu finanzieren ist; in dem Fall entscheidet die Oberherrschaft (Art. 2 und ll).276 Der Streit um das Einberufungsrecht außerordentlicher Landtage und die Limitierungen wird durch die Errichtung eines immerwährend prorogierten Landtags beendet und -

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pp. 88 f. Zur etablierten Logik des (steuernden) Grundbesitzes als Requisitum von Landstandschaft vgl. Neugebauer, Standschaft, S. 17. „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 363. Knappe Wiedergabe, ohne aber den programmatischen Gehalt zu erfassen: Kadziela, Spar szlachty kurlandzkiej, ?. 62f. Die durchgängige Einschätzung der deutschbaltischen Historiographie wo sie nicht schamvoll schweigt: vgl. unten, S. 233, Anm. 47 hat zuletzt Oberländer, Kurland im 18. Jahrhundert, S. 48, aufgenommen: ein „ausgesprochen unverfrorener Versuch, [...] die ganze bisherige kurländische Verfassungsentwicklung auf den Kopf zu stellen." Auch nicht unverfrorener, möchte man freilich einwenden, als der Ballhausschwur, die Maiverfassung oder die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. „Projectum", LVVA640/4/85, pp. 347f. „Projectum", LVVA640/4/85, pp. 348f. -

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der Zweijahresturnus von einer Tagungs- zur Wahlperiode umdefiniert, während derer ein „Gevollmächtigter der Ritterschaft" oder der Landtagsmarschall277 jederzeit die Zusammenrufung der Kirchspielsdeputierten zur Session veranlassen können (Art. 3-6).278 Folgerichtig wird die Freiheit der Tagesordnung reklamiert: „Da die vollziehende Gewalt kein Recht hat, über die Beschaffenheit der Gegenstände öffentlicher Berathschlagung zu erkennen, und über derselben Zuläßigkeit und Unzuläßigkeit zu entscheiden: so müßen alle Gegenstände, welche von einzelnen Kreisen oder Stimmenfähigen Personen, zu diesem Ende in der Herzoglichen Kanzeley eingereicht werden, ohne alle Ausnahme und Unterschied [...] aus der Kanzeley zur gemeinen Berathschlagung an die Kirchspiele ausgefertigt werden" (Art. 7).279 Die als „vollziehende Gewalt" apostrophierten Oberräte und fürstlichen Institutionen werden strikt von der Legislative geschieden, zu reinen Exekutivorganen des Landtags reduziert und dessen Kontrolle unterworfen. Eine mögliche Weigerung des Herzogs, die Landtagsbeschlüsse mitauszufertigen, wird nicht erwähnt (Art. 12); „gemeine Beschwerden", die der Landtag Oberräten und Herzog vorlegt, sind umgehend „abzustellen" (Art. 9); die Oberräte sind über sämtliche Verfassungs- und Verwaltungsangelegenheiten des Landes dem Landtag auskunftspflichtig (Art. 8),280 ihre Beratungen und ihr Abstimmungsverhalten sind zu protokollieren (Art. 23), Beschlüsse von zwei Oberräten gegenzuzeichnen (Art. 24), und diese beiden, nicht der Herzog, sollten die Verantwortung dafür gegen Oberherrschaft und Ritterschaft tragen

(Art. 25).281

Dem entsprach schließlich, dass der Herzog bei der Bestellung der Oberräte auf den Kreis der Oberhauptleute verwiesen blieb, bei diesen wiederum auf die -jetzt vom Adel zu wählenden Hauptleute; war er bisher in der Wahl des Kanzlers frei, so wurde er nunmehr auf eine Liste von drei Kandidaten des Landtags beschränkt (Art. 20, 40).282 Getreu dem Grundsatz, dass den Verwaltungsmandaten jegliche normsetzende -

277 Also der Landbotenmarschall, dessen Amt mit der Perpetuierung neu bezeichnet wurde; vgl. a. Ziegenhorn, Staats Recht, §482, S. 175. 278 „Projectum", LVVA640/4/85, p. 348. 279 „Projectum", LVVA 640/4/85, p. 348. 280 „Projectum", LVVA 640/4/85, pp. 348f. Bei Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Beschwerden sollten diese je nach Dafürhalten des Landtags vor die Relationsgerichte oder den Reichstag zu bringen sein: Art. 9, ebd., p. 349. 281 „Projectum", LVVA 640/4/85, p. 351. Auch Policey-Verordnungen oder Privilegienverleihungen jeglicher Art sollten der Zustimmung des Landtages bedürfen: Art. 28, ebd. 282 „Projectum", LVVA 640/4/85, pp. 350, 354.

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oder -schöpfende Kraft in Konkurrenz zu den ordentlichen Gerichten und der Legislative verwehrt sei (Art. 27),283 sollten die judikativen Kompetenzen einem neu zu gründenden Hof- und Appellationsgericht übertragen und dieses mit dem Konsistorialgericht vereinigt werden. Als Personal waren ein Präsident, zwei Beisitzer sowie die damit dem Oberratskollegium entbehrlichen zwei Doktoren beider Rechte vorgesehen, allesamt auf dem Landtag zu wählen, Präsident und Beisitzer aus dem wohlangesessenen Adel (Art. 14-18).284 Mit dem Gewaltenteilungsprogramm des Projectum korrespondierte eine deutliche Scheidung des Lehns als Staatsfonds, einer öffentlichen Hand, von den Privatangelegenheiten der herzoglichen Familie. So wurde der Fiskal, also Kammeranwalt,285 zum Staatsanwalt: Er sollte allein mit öffentlichen Geschäften betraut sein und nur auf Kontrasignatur der Oberräte hin agieren; wurde er bislang auf das fürstliche Haus vereidigt und damit weder „Unsrer [der Oberherrschaft, M. M.286] höchsten Rechte in den Herzogthümern, noch der Rechte der Ritterschaft gedacht, [...] so soll der Eid, wodurch forthin der Fiskal zu seinem öffentlichen Amt zu verpflichten ist, [...] verbessert, und von dem jetzigen Fiskal, so wie von seinen Nachfolgern im Dienst, welche die Ritterschaft zu präsentiren hat, in der Versammlung der Oberräthe abgeleistet werden" (Art. 29).287 Ähnliches galt für die übrigen Officianten (Art. 31).288 Das Militär sollte dem Oberhauptmann zu Mitau unterstellt werden und ausschließlich durch ihn herzogliche Befehle entgegennehmen dürfen (Art. 43), seinen Gerichtsstand, von militärischen Bagatellvergehen abgesehen, vor den ordentlichen Haupt- und Oberhauptleuten haben, und so auch die Hofbediensteten (Art. 44).289 Mit derselben Tendenz wurde endlich die Öffnung der Archive gefordert, sie seien durch eine Landschaftsdeputation gemeinschaftlich mit dem Kanzler zu revidieren und fürderhin je283 284

285 286 287 288 289

„Projectum", LVVA 640/4/85, p.

351. LVVA 350. Ihre Besoldung von jährlich 2000 Rth. alb. 640/4/85, „Projectum", p. für den Präsidenten und je 1 500 für die vier Assessoren sollte der Herzog aus den Lehnserträgen decken, ebenso die alles weiteren, vom Gericht selbst auszuwählenden Personals. Bei der Gelegenheit wurde auch die Gage der vier in der Regierung verbleibenden Oberräte auf 4000 Rth. alb. hochgesetzt; die beiden gegenwärtigen untitulierten Räte sollten ausscheiden, allerdings unter Beibehaltung ihrer Bezüge: Art. 19, ebd. Zum Amt Ziegenhorn, Staats Recht, §561, S. 206. Da der Text als Entwurf für einen Reichstagsabschied geschrieben war, tritt die Oberherrschaft als Sprecher auf. „Projectum", LVVA 640/4/85, pp. 351 f. „Projectum", LVVA 640/4/85, p. 352. „Projectum", LVVA 640/4/85, p. 355.

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dermanns Einsicht verfügbar zu machen, da „es aus der Natur der Sache hervorgeht, daß in den Archiven der Herzogthümer nur Landessachen, welche keinesweges Geheimnisse sind, noch seyn sollen, aufbehalten werden" (Art. 32).290 Dass dem nicht so war, die Trennung von Amt und Person des Herzogs zumal in dieser Angelegenheit kaum praktikabel, liegt zutage. Mit dem Zugriff auf das im frühneuzeitlichen Fürstenstaat so nicht zu scheidende Archivmaterial hätte der Adel zugleich die nach wie vor mächtige privatrechtliche Person Peter Biron in seine Abhängigkeit gebracht. Das Auseinanderdividieren der beiden Körper des Herzogs bedeutete letztlich dessen politische Entleibung. Der Adel griff offen nach der Landesherrschaft. Bereits der ältere Bolschwing hatte um 1750 die Ritterschaft als einen kollektiven Landesvater dargestellt, und Friedrich v. Mirbach hatte zu Beginn der herzoglosen Zeit, als Direktor der Brüderlichen Konferenz von 1744, vorgeschlagen, den Stuhl für erledigt zu erklären.291 Aber das waren Reaktionen auf die Vakanz und die sich daraus ergebenden Querelen. Notlösungen. Im ganzen wurde die Fürstenlosigkeit als Unglück, eine Art Verwaisung des Landes aufgefasst und in Petersburg und Warschau interveniert, um den Zustand zu beenden.292 Dass es dabei fortwährend zu Streit und Blockaden kam, war etwas anderes, als für eine konstitutionsförmige Ausschaltung der vorhandenen (landes)monarchischen Spitze einzutreten. Eben das geschah jedoch in der Eskalation der Verteilungskonflikte um 1790 unter den Bedingungen eines veränderten Diskurses. Zwar ging zum wiederholten Mal die Rede, die Landschaft sei der dauernden Händel mit dem Herzog dermaßen überdrüssig, dass einige auf Übernahme der piltenschen Verfassung antragen wollten.293 Doch ihre Konkretion zum politischen Vorhaben erfuhr die Parole von der „väterlichen Vorsorge [der Ritter- und Landschaft] für den Staat" und ihrer „gesetzgebenden Macht"294 nicht als Adaption der altständischen Ordnung Piltens, sondern in der Umgestaltungsvorlage des Projectum. Die piltensche und die kurländische Verfassung wurzelten im selben Grund der historischen Pakten, sie ließen sich nicht hin- und hertauschen, ohne ihre Legitimität zu beschädigen. Erst die Verbreitung einer neuen politischen Sprache in der zweiten Jahrhunderthälfte erlaubte es, aus dem Keim der frühen Notbehelfe und der ständischen Renitenz eine evident -

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290 291 292 293 294

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„Projectum", LVVA 640/4/85, p.

352.

Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 141. Strohm, Kurländische Frage, S. 202, 206, 209f, 212f., 216. Schwartz, Staatsschriften, Nr. 227, S. 363. Johann Ulrich v. Grotthuß, „Etwas für Kurland": Schwartz, Staatschriften, Nr. 241, S. 387.

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legitime Verfassungsalternative zu entwickeln und systematisch auszuführen; es bedurfte des kategorialen Apparats der Aufklärung, um den Fluchtpunkt des Projectum sicher einzubetten, wie er sich aus dem Passus über das herzogliche Regiment im Epilog lesen lässt: „als welches ursprünglich bloß, um den ehemaligen Ordensmeister zu versorgen, mit Bewilligung der Ritterschaft eingerichtet ist".295 Im Horizont des emanzipierten Ständestaats wurde dem Fürsten keine verfassungsnotwendige Funktion mehr konzediert, vielmehr die Einrichtung des Herzogsstuhls als Anerkennung der persönlichen Verdienste Gotthard Kettlers und von Gnaden der Ritterschaft vorgestellt.296 Daraus und aus den späteren, historisch bedingten Huldigungen mochte sich ein gerichtsfest legitimierter Ansprach auch des regierenden Peter Biron ergeben. Mehr jedoch nicht: War der Herzog zu den Beratungen des Oberratskollegiums verhindert, trat eine dritte Oberratsunterschrift an seine Stelle (Art. 26) ;297 war er länger abwesend, minderjährig oder krank, ging sein Anteil an der kollektiven „potestas executiva et repraesentativa" in dem des Kollegiums auf, „als ob das Kollegium der Oberräthe mit der vollziehenden und repräsentativen Gewalt des Durchlauchtigen Herzogs, und sub authoritate et fide publica verfahre" (Art. 30).298 Die herzogliche Autorität war der Potestas der Adelsnation entsprangen und konnte jederzeit von ihr reabsorbiert werden.299 Es handelte sich weder um einen Anspruch aus souveränem Recht noch um ein überhistorisch legitimiertes Institut. In der Versicherung, sich an die einmal eingegangenen Pakten zu halten, klang mit: solange die andere Seite sich ebenfalls an sie hielt und die Interpretationshoheit des Adels akzeptierte.300 Die ideengeschichtliche Frage, wo in diesen Vorstellungen die feudale Reziprozität endet und der Gesellschaftsvertrag beginnt, scheint angesichts des ideologischen Pragmatismus der Akteure müßig. -

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„Projectum", LVVA 640/4/85, p.

356. konnten die verbreitete Vorstellung einer Wahl Gotthard Kettlers durch die Ordensritter zu ihrem Meister und die Auseinandersetzungen um ein Wahlrecht beim Erlöschen der Dynastie bieten; vgl. zuletzt Oberländer, Kurland im 18. Jahrhundert, ?. 34 f. „Projectum", LVVA 640/4/85, p. 351. „Projectum", LVVA 640/4/85, p. 352. Der Topos selbst war nicht neu, in Polen und in Kurland anhand Polens längst verhandelt (vgl. etwa Ziegenhorn, Staats Recht, §510, S. 185), doch findet er sich hier kritisch, nämlich geschichtlich-antijuridisch rekontextualisiert. Wie schnell daraus eine Aufsage werden konnte, zeigt Howens Erledigungsschrift gegen die hier noch unhinterfragte polnische Oberherrschaft: LTA 1795, LVVA 640/4/92, pp. 68ff.

Anknüpfungspunkte

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Mit dem Projectum konfrontiert, vermittelte die fürstliche Seite den Eindruck, dass sie auf den Zug zum Systemwechsel keine rechte Antwort fand. In dem den Adnotationes eigenen, bieder den legitimen Status quo ante ausführenden Duktus replizierte sie: Bezüglich der Landtage sei die von der Ritterschaft eingebrachte „Constitutio nova"301 der Formula Regiminis „in totum contraria",302 denn wohl sei der Fürst frei, in gravierenden Fällen und nach Abstimmung mit seinen Räten außerordentliche Landtage einzuberufen; irrig sei hingegen die aus der Anmaßung, „Conventus públicos extraordinarios unice in commodum Nobilitatis esse", behauptete Meinung, dass der Adel diese selbst einberufen oder einen ordinären Landtag limitieren „vel, quod idem est, Conventum perpetuum introducere posse" und damit ein „Nobilitati Co-regimen super omnibus et cunctis procurare."303 In der Sache war das Ritterschaftsprojekt längst weitergegangen und gestand gerade noch umgekehrt dem Herzog ein Mitregiment zu. Darüber konnten allenfalls die altrechtliche Einkleidung, das Stromgut der überkommenen Ordnung hinwegtäuschen. Dessenungeachtet dozierten die Adnotationes, dass es sich bei den Pacta Subjectionis und den in ihnen fundierten Investituren wie bekannt um „Leges fundamentales" handele, die Formula Regiminis von 1617 näher festsetze, auf welche Weise der Fürst seine Untertanen zu regieren habe und Recht zu sprechen sei, während „omnes ordinationes posteriores et Conclusa eatenus tantum valere possunt, quatenus suprafatis legibus fundamentalibus non derogant"; dass weiterhin die Declarado Regia von 1649, der zufolge eine „Revisio Statutorum aut legum Provincialium non nisi cum scitu et consensu Status civici fieri débet", sich „[ajbsoluta et illiminata" auch auf die Pacta Subjectionis, die Investituren, das Privilegium Nobilitatis (Gotthardinum) und die Formula Regiminis erstrecke, etc.304 So wurde zwar der vom Adel bestrittene „Status civicus" in die Rede geschmuggelt, doch blieb er für die ideologische Qualität der Argumentation folgenlos. Ein Vorschlagsrecht des Adels für das Amt des Kanzlers und des Fiskals wurde schlicht unter Hinweis auf die bestehende Prärogative des Herzogs, das Herkommen und die genannten Rechtsbestände zurückgewiesen, bezüglich der übrigen Officianten stellte Biron etwas verschmitzt fest, dass er bisher stets geeignetes Personal gefunden habe, es ihm aber gewiss auf keine Weise lästig falle, wenn seine -

301 Bei allen Beteiligten schwingt in dem reichstagstechnischen Terminus der „Konstitution" der der „Verfassung" im weiteren Sinne mit. 302 „Adnotationes", LVVA 640/4/85, p. 386. 303 „Adnotationes", LVVA640/4/85, p. 388. 304 „Adnotationes", LVVA640/4/85, p. 385.

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Räte ihm noch weitere Hinweise geben wollten.305 Die Forderung, mit Hilfe eines vom Oberratskollegium gesonderten Appellations- und Hofgerichts vollziehende und richtende Gewalt zu trennen, wird schon flapsig abgetan, das möge wohl dem Fortkommen einzelner von Adel dienen, sei jedoch gänzlich unnötig, da die Oberräte über hinreichend Zeit und Muße zur Erledigung sämtlicher Geschäfte verfügten, neue Onera für Überflüssiges aber müsse der Herzog zurückweisen.306 Gegen die Art. 22-27 des Projectum (Kontrasignatur, Abwesenheit des Herzogs) wird abermals allein der gewohnheitsmäßige, aus der Regimentsformel abzuleitende Ist-Zustand eingewandt.307 Insgesamt atmet der Text eine herablassende Phantasielosigkeit, juristisches Selbstgenügen. Intern wurde Biron deutlicher: Das Konstitutions-Projekt sei „von einer bisher noch unbekannten Enormität, Uebertriebenheit u. Widerspruch mit unserer Grund- und Staats-Verfassung; comprommittirt besonders die Autorität Sr. Majestät des Königs, indem es alle bißherigen Verordnungen und Berechtigungen dazu aufhebt; schmeichelt der Habsucht durch Vorspiegelung neuer Aemter u. erhöhter Gagen welches hier bereits vielen Appetit erregt hat; vernichtet alle Fürstenrechte und drohet Anarchie, Verwirrung u. allgemeines Verderben."308 Der Herzog sah klar, dass der Gegner an der Wurzel ansetzte. Dass die Adnotationes nachgerade provozierend Status-quo-konservativ reagierten, nicht nur jegliche Konzession im Konkreten, sondern vor dem diskursiven Modus des Projectum überhaupt verweigerten, entsprach jedoch dem Bironschen Interessenansatz. Ganz wie der indigene Adel und die beschwerdeführenden Nichtindigenen suchte das Herzogspaar im Prozess der Differenzierung Lasten zu sozialisieren und Nutzen zu privatisieren; war das Teilhabeverlangen der Bürgerunion in ständischen Erwerbsmonopolen befangen und der Republikanismus der Ritterschaft in harscher Exklusivität und Aneignungswillen, so das Souveränitätsideal der herzoglichen Partei im (Klein-) Familiensinn. Der aber konnte nach einer Reihe pro-allodialer Entscheidungen vom alten Zustand und stiller Mehrung viel, von manifestem Wandel wenig hoffen. Die ideologische Hilflosigkeit, politische Blutlosigkeit der Adnotationes erklärt sich vor allem aus einem strukturellen Dilemma. Dennoch: Noch verbürgte der Herzog über den Lehnsnexus die Integrität der Landschaft, diente als symbolische Klammer des sozialen Gefüges und zentrale Chiffre im Loyalitätengeflecht, nicht zuletzt als -

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„Adnotationes", LVVA 640/4/85, p. 388. „Adnotationes", LVVA 640/4/85, p. 386. „Adnotationes", LVVA640/4/85, p. 384. Biron an Manteuffel 12.11.1791, LNB Rx 111/1 /14, p. 66.

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Quelle höfischer Würden und Glanz abstrahlendes Dekor. Die altständische Vorstellung von der sich steigernden und gegenseitig erhöhenden Spiegelung der Autoritäten besaß weiter Kurswert und hatte angesichts

der überaus schmalen Basis eines ritterschaftlichen Parlamentsstaats einiges für sich. Und vor allem war Kurland zu klein und abhängig von den umgebenden, durchweg monarchischen und zudem am Interventionshebel des Duopols interessierten Mächten, um mit der Abstoßung seiner fürstlichen Spitze eine offenkundige Staatsumwälzung unternehmen zu können. Zwar mochte der Adel in seiner Aufgebrachtheit eine Zerstörung der fürstlichen Prärogativen unterstützen, bereit sein, den Herzog auf einen Abklatsch von Autorität mit kaum wirklicher Macht zu stutzen, weder verfassungsrechtlicher noch materieller, und wo er sich dabei den Diskurs der Aufklärung zunutze machen konnte, legitimatorisch oder institutionentheoretisch, wandte er ihn an und wob ihm seine Ambitionen ein. Die Dynamik des modernen politischen Denkens nahm er lebhaft auf den philosophisch radikalen Gehalt ignorierte oder brach er.309 Von der Not gedrungen, aus praktischer Gewohnheit und aus Überzeugung: Der faktischen Landesherrschaft war man nicht abgeneigt, der Revolution zutiefst. Es ist bezeichnend, dass die öffentliche Rede kein Äquivalent zum Enthusiasmus über die Ereignisse im fernen Frankreich kannte bezüglich der bürgerfreundlichen Maiverfassung im nahen Polen. So nah an der Höhe der Zeit sich der institutionenrechtliche Teil des Projectum liest, so sehr entpuppt der Text sich bei näherem Hinsehen als Bricolage altständischer und modern-konstitutioneller Versatzstücke. Die angestrebte Parlamentsherrschaft stellte eben keinen Parlamentarismus dar, mechanisch delegierte Entscheidungsmacht. Vielmehr erhielt sie die Abbild-Repräsentative intakt. Artikel 10 gestand „jedermann" (aus den Indigenen) das Recht zu, Privatbeschwerden auf dem Landtag anzubringen, worunter zu verstehen sei: „wenn jemand in Ansehung seiner Rechte, sie kommen aus dem Besitz, Privilegio oder irgend einen andern Titul, [sich] vom Fürstlichen Hause gekränkt oder verletzt glaubt, besonders in Sachen, wel-

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Heyking antwortete auf die These, „die Natur hätte dem Bürger gleiche Rechte mit uns gegeben", trocken, „daß diese Idee weder neu noch unbekannt wäre, daß niemand diese Wahrheit philosophisch betrachtet, läugne, daß selbige aber nach der Politik modifiziert werden müsse und daß dieser algemeine Grundsatz der kurländischen Staats-Verfassung gar nicht angemessen wäre": Brief an Nerger 25.1.1790, LVVA 1100/7/6, pp. lOOf.

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und Hölzungsrecht betreffen."310 Dann auf Formula die Berufung Regiminis zur Erledigung der Beschwerden eine Deputation aus zwei Personen von Seiten des Herzogs und ebenfalls zweien von Seiten der Ritterschaft vorgesehen; bei Stimmengleichheit sollte der Oberhauptmann des Ortes oder Kreises entscheiden.311 Das privat-verwaltungs-staatsrechtliche Hybrid von einer Norm reflektierte den nicht minder facettenreichen Rechtscharakter des Herzogs. Doch während für den Fürsten auf eine klarere Scheidung zwischen dem privaten Grundherrn, dem Amtsträger und dem Lehnsbesitzer gedrängt wurde, sollte das Rollenintegral der Gutsherren erhalten bleiben, die jeder für sich Landstand, insgesamt oder kirchspielweise Ritter- und Landschaft,312 im einzelnen als Landeigentümer, Gutsherren und Nationsbürger ununterscheidbar waren. Entsprechend konnten sie sich an ihren Landtag wenden, dem sie nicht qua Beauftragungsverhältnis, sondern essentiell verbunden waren, auf dem sie nicht vertreten wurden, sondern waren. Der Text schweigt zu Verfahrensdetails und insbesondere der bindenden Kraft der Deputierteninstraktionen, doch impliziert die erwähnte Vbrberatung in den Kirchspielen (Art. 7),313 dass auch das imperative Mandat erhalten bleiben sollte, die Beschränkung der Landtagsteilnehmer auf eine Abbildungsfunktion ihrer lokal die Landschaft darstellenden Kirchspielkonvokation. Sie entsprach dem traditionalen Repräsentationsparadigma der Kongruenz und der Auffassung von der Ritter- und Landschaft als Synekdoche der Landesnation. Es blieb dabei, die Ritterschaft (mit dem Herzog) war das Land, und ihre Deputierten wurden nicht als entsandte Abgeordnete, sondern als nochmals konzentrierter Inbegriff des Allgemein behandelt. Allerdings hätte alles andere wohl auch die Zustimmungsfähigkeit der Umgestaltung für den Adel massiv gemindert, wie Klagen über eine „Willkür" che die Gränzen, das -

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Hütungs-

unter

war

-

„Projectum", LVVA 640/4/85, p. 349; die Begründung lautete, dass die Kostspieligkeit der regulären Prozesse insbesondere ärmere Adlige daran hindere, ihr Recht

zu suchen. 311 „Projectum", LVVA 640/4/85, p. 349. 312 Diese Selbstauffassung schlug sich in der Floskel von „Einer Ritter- und Landschaft des Kirchspiels X" nieder (bspw. LVVA 640/4/4, p. 130) und war so allgemein verbreitet, dass Ziegenhorn, Staats Recht, §666, S. 297f., ihr energisch widersprechen zu müssen meinte: „Der Adel in Curland heißet daher mit Recht ein Landesstand, wenn aber einige jedes Kirchspiel oder jeden von Adel einen Landesstand nennen wollen, irren sie sich. [...] Augen, Ohren, Hände und Füße sind Mitglieder des menschlichen Cörpers, aber darum kann nicht das Auge, nicht das Ohr ein Mensch genannt werden." Vgl. a. oben, S. 59, Anm. 147. 313 „Projectum", LVVA640/4/85, p. 348.

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Deputierten andeuten.314-Andererseits: Eben diese teils akuten Notwendigkeiten folgende, teils aus Selbstherrlichkeit und (Partei-) Interesse, nicht zuletzt aus der Verfahrenstechnik315 geborene Willkür legte eine Entwicklung in Richtung eines genuinen Adelsparlamentader

rismus nahe.316 Eine der strukturellen Differenzen zu Livland und Gemeinsamkeiten mit Polen war gerade das parlamentarische Potential des Deputiertenkonvents im Gegensatz zum Virillandtag. So wenig die Beteiligten sich über diese Anlage theoretische Rechenschaft ablegten, hatten doch Machtmissbrauch und Funktionspragmatik sie fortgebildet und hätte das freie Mandat der Logik der gewandelten argumentativen Ordnung entsprochen, die, einmal umgestellt, das Verständnis, an das sie anschloss, wohl überwältigen mochte. Doch solange die Kongruenzbildung Landschaft-Ritterschaft-Landtag zur Okkupation und Instrumentalisierung des Patriotismus-Begriffs gegen den Fürsten und die Nichtindigenen taugte, und solange sie einem verbreiteten, gewohnten Selbstverständnis entgegenkam, bestand kein Grund, dies derselben differenzierenden Betrachtung auszusetzen wie die Person des Herzogs. Im Gegenteil erwies sich die Rhetorik des integren Corpus als äußerst erfolgreich. Dorotheas Stiefschwester, Elisa v. d. Recke, sprach unwillkürlich aus, wie nachhaltig es der antiherzoglichen Partei gelungen war, die Ambitionen des Gegners als Privatinteresse auszuweisen und den eigenen Griff nach dem Lehn (und per Grenzrevision zwischen Lehn und 314 LVVA 5759/2/1337, pp. 11 f. (Keyserling gegen Brüggen); Etwas aus der Lebensgeschichte..., LVVA 640/2/254, pp. 13, 15 (wider Howen, S. 100, Anm. 4); ähnlich für Polen Schulz, Reise, S. 98: „Die Landboten sollen zwar im Namen ihrer Vollmachtsgeber raten; aber sie handeln doch oft nach eigenem Willen"; vgl. a. ebd., S. 214. Aus der Landtagsreformdebatte des frühen 19. Jahrhunderts: Es müsse „dem Fehler der zeitherigen Landtage, daß so Vieles der Willkühr der Deputirten überlassen war vorgebeugt werdefn]" (Entwurf zur Landtagsordnung [1806], §6 c): Materialien LTO; auch bei Medem, Fortsetzung der Auszüge, S. 71). Vgl. a. unten, S. 263, 382. 315 Die Instruktionen erfolgten meist in unzulänglicher Kenntnis der zu entscheidenden Probleme, ließen Interpretations- und Handlungsspielräume und „übergaben" entgegen der Repraesentatio-Imagination de facto „der ungebundenen und durch Lokkungen aller Art mißleiteten Willkühr einiger Personen alles": Landtagsordnungskommission an die Ritterschafts-Committée 5.11.1806, S. 8 (Materialien LTO). 316 Howen an Mirbach 21.12.1792/1.1.1793 (Seraphim, Briefe Howens II, S. 4): „Unsere alten Deputierte^]" dürfe man keinesfalls „wegschmeißen" lassen, durch Neuwahlen und neue Instruktionen nämlich; notfalls seien auch zwei konkurrierende Landtage, der limitierte mit den Instruktionenbrüchigen und ein neu gewählter, in Kauf zu nehmen. Insofern ist der dramatisierende Vorwurf „sansculottischer" Rechtsbeugung (Etwas aus der Lebensgeschichte..., LVVA 640/2/254, p. 13) nicht ganz aus der Luft gegriffen. -

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Allod auch nach Teilen des Allods) als Sache des Gemeinwesens darzustellen: Der Landesbevollmächtigte Eberhard v. Mirbach meine es „mit dem fürstlichen Hause gewiß gut /: so sehr man ihn auch verkennt: /denn er ist der Herzogin und ihren Kindern äußerst attaschiert, nur gilt ihm das Glück seines Vaterlandes mehr als alles andre. Sein eisenfester Charakter, seine Uneigennützigkeit würden dem fürstlichen Hause trefliche Dienste thun, wenn man den Herzog dahin vermögen könnte, in der Stille mit Mirbach zum besten des ganzen zu traktieren."317 Das „Glück des Vaterlandes" war klar vom „fürstlichen Haus" unterscheidbar geworden, „das Ganze" längst erkennbar als heterogenes Ensemble widerstreitender Interessen, die sich allesamt auf „das Vaterland", den „Patriotismus", „Freiheit", „Vernunft", die höchsten Güter der „Menschheit" beriefen. In dieser Universalisierung des Partikularen machten die Ritterschaftsdelegierten den geschickteren Gebrauch von der Scheidung privat versus öffentlich, von zeitgemäßer Rede und faktischer Macht. Mit zunehmender Schärfe des Konflikts wurde deutlich, wer wen trieb. Denn auch gegenüber der Bürgerunion vermochte die Adelspartei -

den Spieß umzudrehen und aus Jägern Gejagte zu machen. Beide Seiten zielten darauf ab, ihre jeweiligen Vorrechte zu sichern, zu restaurieren oder auszubauen und die der anderen Seite zu schleifen. Unverhohlen akzentuieren die Teile des Projectum, vor allem aber der Gravamina und des Mémoire, die den im engeren Sinne politischen, auf den Landtag und die Regierung bezogenen Forderungen folgen, die motivierenden (Verteilungs-) Anliegen, zu deren Durchsetzung beziehungsweise Absicherung die Verfassungsprojekte beitragen sollten. Namentlich die Autoren des Adels verstanden es dabei, den normativen Anspruch ihrer Texte jenseits positiven Rechts stark zu machen, indem sie altständische Argumentationsmodi mit modernen Kategorien versetzten und gegen die Bürgeranion wendeten. Wie erwähnt, legten die Nichtindigenen in den Gravamina einmal mehr dar, dass Landfremde und gerade Juden in den Herzogtümern kein Handlungs- und Aufenthaltsrecht genössen, und forderten die Durchsetzung dieser Verbote. Den Zusammenhang bildete die Unterdrückung ungerechtfertigter Konkurrenz überhaupt, also etwa auch durch christliche Bönhasen oder bäuerliche Händler.318 Doch das Projecium widmete dem Punkt wider die Juden besondere Aufmerksamkeit (Art. 46):319 317 Elisa v. d. Recke an Manteuffel 12.2.1791, LNB Rx 111/1/14, pp. 16f. 318 „Gravamina", LVVA 640/4/85, pp. 289ff, 324 f. Die herzoglichen „Adnotationes" halten sich in diesem Punkt taktisch bedeckt: ebd., p. 390. 319 Der Streit war alt; dem Adel ging es um Pächter, günstige Handwerker, teilweise auch Kreditgeber und alternative Abnehmer seiner Produkte, den Nichtindigenen

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eingeräumt, dass ihnen das Privilegium Sigismundi Augusti Handel, Wege- und Zollpacht untersage und dies auch von den Kettler-Herzögen selbst in zahlreichen Gesetzen bestätigt worden sei. Aber angesichts der Handelsfreiheit, die sie in sämtlichen angrenzenden Gebieten und der Enklave Pilten genössen, sei ihre Austreibung schlechterdings unmöglich und zudem, wäre sie möglich, der Ritterschaft schädlich. Es solle daher dem Landtag anheimgestellt werden, „festzusetzen, was in diesem Stücke die Reichstäglichen Konstitutionen für das Reich und das Großherzogthum Litthauen festsetzen werden, und was die gesundere Politik unseres Jahrhunderts überhaupt insbesondere aber das Wohl der Herzogthümer zu jederzeit der Ritterschaft an die Hand geben Zwar wurde

-

werden."320 Die Position wiederholte das Muster, dass, wenn es dem Adel zum Vorteil gereichte, auch fundiertes Landesrecht der Revision unterworfen wurde. In welcher Richtung, das sollte der Ritterschaft freistehen; zur Orientierung setzte sie sich die Macht des Faktischen und ein transferierbares auswärtiges Vorbild, als überpositive Normen „die gesundere Politik unseres Jahrhunderts" (Aufklärung) und das „Wohl der Herzogthümer" (Patriotismus). Unter Rekurs auf diese Größen zeigte sich der Adel, während er im Politischen kompromisslos intransigent blieb, zur Erledigung tradierter Ausschließungen auf gewerblichem Gebiet bereit wie umgekehrt die Städte in eben diesen Fragen zu voller ständischer Exklusion neigten, die sie umgekehrt im Politischen aufbrechen wollten. Auch hier erwiesen sich die Wortführer des Adels eloquenter im Ausnutzen solcher Diskrepanzen. In dem unmittelbar gegen die Gravamina gerichteten, wesentlich konfrontativer gehaltenen Mémoire münzten sie den Begriff des „Fremdlings"321 ebenso auf die Bürgeranion zurück wie den eines anmaßenden ständischen Exklusivismus und entwickelten darüber erhebliche polemische Wucht: „Bürgerliche Fremdlinge und Ausländer" unternähmen einen Anschlag auf die Staatsverfassung, die „adelicher Natur" sei,322 und zielten auf die „Einführung einer aristokratischen Regierung einiger bürgerlicher Klassen von Einwohnern, als Krämer und Advokaten sind", gegen die „eine jede souveräne [lies: -

„Nahrung": oben, S. 74; vgl. a. die bei Schwartz, Staatsschriften, 164, 197ff., S. 237, 304ff., aufgeführten Landtagsschlüsse und Flugschriften. 320 „Projectum", LVVA640/4/85, p. 356. 321 Der „Landfremde" als Unberechteter findet sich schon in den Zurückweisungen durch die Ritterbanken (Kurland und seine Ritterschaft, S. 412) und später als rechtlicher Terminus technicus (Ziegenhorn, Staats Recht, § 686, S. 323), doch weniger zugespitzt auf den im wörtlichen Sinn (zu) spät Zugewanderten. 322 „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 375. um

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absolute, M. M.] Regierung, in Vergleichung einer solchen thörichten und abgeschmackten Regierungsform, als die es seyn würde, die durch diese bürgerliche Anzettelung und Aufwiegelung in Kurland, von einigen unruhigen Köpfen intentiret worden, eine Wohlthat seyn würde". Diese wenigen wagten es, „einen Adel, der sie nicht beleidiget hat, zu kalumniiren [und] die Ruhe eines Staates zu stöhren, in welchem sie als Fremdlinge Glük und Ehre gefunden haben, und eine Staatsverfassung zu untergraben, die weder sie noch ihre Vorältern begründet haben".323 Die Argumentation stützt sich durchaus auf bestehende Rechtsverhältnisse. Aber stärker noch führt sie konsequent Gesichtspunkte an,

die das positive Recht übersteigen, darunter der zukunftsträchtige, hier noch nicht ausgereizte Topos einer geschichtlichen Dignität der „seit dem 12ten Jahrhunderte in Kurland ansässigen" und wirkenden Adelsfamilien.324 Vor allem jedoch sei, was die Gravamina als „Aufklärung" bezeichneten, nichts als der „Aufwiegelungsgeist unserer Zeiten",325 zudem in einer „für die Ruhe der Staaten und der bürgerlichen Gesellschaft [...] kritischen Periode"326 also „falsche" Aufklärung. Es blieb dabei: Der Begriff wurde positiv konnotiert auf die Zustimmungsfähigkeit des -

eigenen Anliegens bezogen.327 Dieses wird durchgängig als universalisierbar gegen die Partikularinteressen eines plutokratisehen Putschversuchs in Stellung gebracht, die „der allgemeinen Wohlfahrt und Glükseligkeit aller Einwohner der Herzogthümer und allen gesunden Polizey- und Handlungs-Grundsätzen [...] entgegenstehen [und] bloß nur auf Monopolisterey und auf Beförderung eines kleinen niedrigen Krämer-Interesses, welches von dem allgemeinen grossen Interesse eines Landes sehr verschieden ist, abzwecken."328 Eben nicht allein gegen den Adel richte sich diese Politik eines „despotischen Handlungsgeistes",329 sondern gehe mit Monopolansprüchen und Importvergünstigungen vor allem zu Lasten der von

Magistratsstellen und Stadtämtern ausgeschlossenen „Gewerke und

323 „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 360; zumal die beteiligten Professoren der Akademie seien vielfach erst seit wenigen Jahren im Land (ebd., p. 365); dass selbst ein „souveränes" Regime, also der Horror des Adels schlechthin, vorzuziehen wäre, wird noch wiederholt: ebd., p. 368. 324 „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 375. Die große Mehrheit der Adelsfamilien war freilich deutlich später eingewandert. 325 „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 361. 326 „Mémoire", LVVA 640/4/85, pp. 363f. 327 „Mémoire", LVVA 640/4/85, pp. 374f. 328 „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 361. 329 „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 373.

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Künstler", die sich folgerichtig davon losgesagt hätten.330 Auch bei der

Zurückweisung eines nichtindigenen Besitzrechts an Landgütern wird dem Zitat des entsprechenden Passus aus den Siatuta33'1 hinzugefügt,

selbst ohne rechtliche Gründe musste sich die Ritterschaft gegen dieses auf ihren Untergang zielende Anliegen „allein schon nach der Localen aus politischen Gründen" zur Wehr setzen:332 Die Güterpreise seien bereits kaum mehr zu steigern, es würde also zu einer Verdrängung indigenen durch nichtindigenes Kapital und im Gefolge zu Kapitalexporten ins Ausland kommen; anstatt derart der ganzen Landeswirtschaft abträglich zu agieren, möge der Bürger sein Kapital lieber in die so bitter fehlenden Manufakturen und Fabriken investieren und „befördere auf diese Art sein weiteres Glük und die Wohlfahrt des Ganzen."333 Damit war der immunisierende Zirkel geschlossen: Die Besitzexklusion wurde zur Begründung der politischen Exklusion herangezogen, aus der ständischen Verfassung die Besitzexklusion begründet. Zusammenfassend kulminiert die Polemik in dem Vorwurf, „daß in dieser ganzen Beschwerde, und in der Menge der darauf gegründeten Petitorum, auch nicht ein einziger grosser patriotischer Gedanken gefunden werde," sondern sie „durchaus auf Monopolisterey so genannter Krämergesellschaften bey dem freyen Kauf und Verkauf der natürlichen Produkte des Landes, und nicht blos allein zum Schaden des Adels, sondern auch selbst der andern Klassen und Einwohner in Städten, so wie der Unterthanen des Adels und des ganzen Landes" abziele, mithin „wenigstens in einem freyen Lande, wie Kurland, weder mit den Rechten anderer Einwohner und des Adels, noch mit dem Localen des Landes zu conciliren stehe."334 Dergestalt wurde der Freiheitsbegriff, der dem des Patriotismus konstitutiv war, mitsamt seinem Gegenstück, der „despotischen" Ambition, nach dem Angriff auf die fürstlichen Prärogativen auch zur Abwehr des nichtindigenen Teilhabebegehrens aufgeboten. Man mag das durchsichtig finden, aber die Bemühungen um überrechtliche Legitimierung gingen deutlich über das hinaus, was die Gravamina in dieser Hinsicht leisteten. Konsequent und dicht werden zeitgenössisch progressive Codes adaptiert und politisch aktualisiert: Die Kampfbegriffe „Freiheit" / „freies -

Land", „adlige Verfassung", „bürgerliche Gesellschaft", „Aufklärung" haben

nur

noch

werden ohne 330 331 332 333 334

wenig mit ihren altständischen Vorgängern gemein, sie kosmologischen Bezug gleichwohl verabsolutiert und ge-

„Mémoire", LVVA640/4/85, pp. 364, 374. „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 372. „Mémoire", LVVA640/4/85, p. 372. „Mémoire", LVVA640/4/85, pp. 372f. „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 374.

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Übel eines vorgeblichen bornierten Partikularismus gesetzt: „Monopolisterei", „aristokratische Regierung", „despotischer Handlungsgeist", „Aufwiegelei" als „falsche" Aufklärung. gen das säkulare

Der unbestrittene Kopf der ritterschaftlichen Delegation in Warschau, ihr erster politischer Schriftsteller und Spiritus rector war Karl v. Heyking. Inwieweit er für mehr stand als seine rhetorisch brillante, vielfach suspekte Person, konnte allein ein Votum des Standes über seine Politik erweisen. Als das Projectum in Mitau bekannt wurde, schrieb der preußische Ministerresident Hüttel nach Berlin, die Delegation habe den Entwurf zu einer Reichstagskonstitution vorgelegt, „die Alles über den Haufen werfen und den Einfluß des Herzogs gänzlich vernichten würde."335 Es folgte eine Abschrift mit einem kommentierenden Brandbrief, die Grundsätze seien „der französischen Konstitution entlehnt, die Autorität des Herzogs vernichtet, derselbe unter Vormundschaft des Raths und des ständigen Landtags gestellt" doch sei das Unterfangen wohl unbeabsichtigt vor der Zeit publik geworden und habe die Opposition „in Verlegenheit" gebracht.336 Aufgrund dieser Einschätzung und bestärkt durch Aussagen einzelner Adliger nahm Peter Biron an, die Warschauer hätten eigenmächtig gehandelt und sich zu einer Extremposition hinreissen lassen, die sie bei der Mehrheit ihrer Standesgenossen diskreditieren musste.337 Um seinen Vorteil zu nutzen, ließ er den Text mit einem Zirkularschreiben durch das Land schicken und drang auf Erklärungen der Kirchspiele gegen diesen „einseitigen willkührlichen Versuch einer Staatsveränderung".338 Umgehend wandte sich der Landesbevollmächtigte Mirbach gleichfalls an die Kirchspiele und verteidigte das Vorgehen der Delegierten als völlig rechtlich und „patriotisch". Die Reaktion des Adels war für den Herzog desaströs: Von 27 Kirchspielen gaben 24 eine Stellungnahme ab, davon zwei ablehnend, vier zeigten sich geteilt oder wollten die Entscheidung der Oberherrschaft abwarten, aus Mitau, Kandau, Hasenpoth und Bauske kamen ablehnende Minderheitenvoten die große Mehrheit zollte dem Projectum Beifall.339 Die Autoren der ritterschaftlichen Texte, Heyking vor allen anderen, schrieben eine Sprache, operierten mit einer aggressiven symbolischen Ordnung, die im Adel verfing. Der mochte seinem selbstverliebten, allzu gescheiten -

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335 336 337 338 339

Bericht Hütteis 17.11.1791: Brüggen, Beiträge, S. 509. Bericht Hütteis 20.11.1791: Brüggen, Beiträge, S. 510. Auch zum Folgenden Schwartz, Staatsschriften, Nr. 245, S. 393 ff. Schwartz, Staatsschriften, Nr. 245, S. 394. Schwartz, Staatsschriften, Nr. 245, S. 394 f.; Keller /Oberländer, Kurland, S. 54; vgl. a. Kadziela, Spar szlachty kurlandzkiej, S. 63 f.

219

Der Diskurs der Aufklärung

Vertreter bisweilen misstrauen als es zum Schwur kam, bestätigten die Indigenen Heyking als ihren Sprecher. August Seraphim hat gemeint, mancher Streit wäre zu vermeiden gewesen, hätte man die Ausgaben des Fürsten ein für allemal in einer Art Zivilliste festgesetzt, ,,[i]ndessen lag eine derartige Betrachtungsweise der alten, wie man sie ganz treffend genannt hat, privatrechtlichen Auffassung vom Staate noch ganz fern."340 Gerade mit dieser „alten Auffassung" zu brechen, die postfeudale Exdivision von öffentlichem Fonds und privatem Besitz konsequent einzufordern, stand im Kern des adligen Projekts. Daraus gewann der Gegensatz „materieller Lebensinteressen" staatsrechtliche Dynamik. Der Verteilungskampf wurde zum politischen Grandsatzkonflikt, als der Adel seine Interessen am ehesten durchsetzen zu können meinte, indem er die Differenzierung staatlicher und privater Sphären sowie eine strikte parlamentarische Kontrolle vorantrieb. Von ideologischer Geschlossenheit kann dabei keine Rede sein, von utopischer Intention noch kaum. Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft und einem „langen Weg" nach wohin auch immer waren allenfalls in Rudimenten vorhanden. Deutlich ausgeprägt ist hingegen die Vorstellung von einer vernunftgemäßen (Um-) Gestaltbarkeit der Verhältnisse, die mit dem historisch Gewordenen bricht. In einem Deliberatorium für den Frühjahrslandtag 1795 formulierte Benedikt Gotthard v. d. Brincken: „Ich glaube nicht, daß diese meine Vorschläge den Grundgesetzen entgegen stehen; und angenommen, es wären solche denselben entgegen: so habe ich solche vor den Richterstuhl Einer Wohlgebomen Ritter- und Landschaft gebracht, die sich durch Einsicht längst den Beyfall der Nachwelt erwarb, Deren nie irrender Blick den Nebel der Vorwelt durchdringt, zu deren Füßen tausend zertrümmerte Vorurtheile liegen, und die mehr als einmal, durch mannichfaltige heilsame Abänderung es bewies, daß Gesetze nie für die Ewigkeit geschaffen seyn können, sondern stets den geltend gemachten Meynungen, Sitten und Gebräuchen der Zeit angepaßt werden müssen, wenn anders sie Glück und Heil über einen Staat verbreiten sollen."341 Die Historizität des Bestehenden, inklusive der „Leges fundamentales", erforderte kritische Revisionen vor dem Hintergrund eines Aufstiegs aus einer Welt der Vorurteile, und auf dem Richterstuhl darüber saßen nicht mehr Gott, Lehnsherr oder das Beispiel der Vorfah-

-

340 Seraphim, Briefe Howens I, S. 438. Allerdings weist Seraphim, ebd., S. 439, darauf hin, dass die Verstaatlichung der Schatullgüter in Preußen bereits unter Friedrich Wilhelm I. stattgefunden hatte. 341 LTA 1795, LVVA 640/4/4, p. 178; Gegenstand war die Beseitigung von Ineffizienzen in der Gerichtsverfassung.

220

Das

Herzogtum

ren, sondern die Ritterschaft der Adelsrepublik und die Nachwelt. Kurz:

Verbesserungsvorschläge zum Wohl des Landes finden sich in einem säkularen Entwicklungsnarrativ verortet und einer sektoralen Effizienzlogik unterworfen.342 Mit einer vergleichbar modernen ideologischen Rückversicherung seiner Vorstellungen konnte der Herzog an keiner Stelle aufwarten, auch nicht zur Motivierung seiner insofern noch ganz einem früheren Rationalismus verhafteten Wirtschaftspolitik, die eigentlich mehr eine enorme Betriebswirtschaft darstellte. Eher aus taktischen Erwägungen, aber durchaus nicht nur, hielten sich auch die politisch relevanten Akteure der Bürgerunion mit derartigen Erklärungen zurück. Das entsprechende Gedankengut mochte zumal unter den Literati verbreitet sein, doch wurde es nicht politisch wirksam. Dass Diskursmuster und Ideologeme des „Zeitalters der Vernunft" sich im adligen Konstitutionsprojekt und benachbarten Texten am deutlichsten niederschlugen, entsprach den Interessenlagen und Machtverhältnissen in den Herzogtümern. Der Adel fühlte sich von den herzoglichen Ambitionen existentiell bedroht und vom nichtindigenen Teilhabebegehren herausgefordert, sah sich aber in einer Position, stark genug, um zum Gegenangriff überzugehen und eine Umgestaltung in seinem Sinne zu versuchen. Er verfügte über die Macht, die Freiheit und die diskursiven Ressourcen, sich als „ächter Patriot" zu gerieren, auf seinen Gütern wie im Staat. Vor allem verfügte er über einen hochwirksamen Exklusionsmodus, in dessen Sicherheit er mit Umwälzungsgedanken spielen und auf das Machtmonopol spekulieren konnte, und den er denn auch mit aller Aggressivität verteidigte. So kam es zur selektiven Aktualisierung des Diskurses der Aufklärung, einem Modernisierungsvorstoß, der nach Maßgabe seines materiellen Gehalts die äußerste Zuspitzung des altständischen Landschaftsrepublikanismus bedeutete, nach seiner kategorialen Struktur aber darüber hinauswies. Dass die Herzogin sich offenkundig nicht entscheiden konnte, ob sie die vorgeschlagene Konstitution nun als „aristokratisch" oder „demokratisch" oder beides zugleich brandmarken sollte,343 kann man als gesunde Intuition gelten lassen. -

-

342 Hier wie anderswo

„Zweckmäßigkeit"

ausgedrückt zu

treffender

gesteigerten Emphase der fallweisen Einrichtungen: LTA 1795, LVVA 640/4/4,

in einer

p. 178. 343 Dorothea an Manteuffel 8.7.1792, LNB Rx 111 /1 /15, p. 23; mentalen Lagerbegriffe der Zeit vgl. unten, S. 238, Anm. 74.

zu

den beiden funda-

Die Agonie des Ancien Régime

Zwischen 1790 und 1830 mündeten die Dynamisierungen des 18. Jahrhunderts in einer umfassenden Krise. „Krise" freilich ist zunächst „a lay term in search of a scholarly meaning"1: ein überpopulärer Begriff, der an seiner Beliebigkeit laboriert. Gleichwohl, oder eben darum, hat Reinhart Koselleck im Krisenbegriff und -bewusstsein die „strukturelle Signatur der Neuzeit", des geschichtlichen Denkens ausgemacht2 und beidem einen systematischen Ort im Prozess der europäischen Modernisierung zugewiesen.3 Kosellecks grundsätzliche Überlegungen stehen auch hier im Hintergrund allerdings mit der Pointe, seine Pointe zu bezweifeln, den sozial-ideengeschichtlichen Nexus zwischen (westeuropäischem) Absolutismus, „bürgerlichem" Zeitalter und Neuer Zeit als solcher.4 In diesem Sinne ist die Entscheidung für die Leitperspektive der „Krise" argumentativ motiviert und wird eine beschreibungspragmatische, asystematische Definition gewählt: Krise als „eine Epoche der Unsicherheit und der Ratlosigkeit [...], in der sich, zumindest für die Hellsichtigen, das Alte nicht mehr als brauchbar erweist und das Neue noch nicht hervortritt" als Zugleich von „Dysfunktion" und „Disperspektivität" einerseits, tastender institutioneller Anpassung und Experimenten mit einer neuen Ordnung der Dinge andererseits.5 Den Begriff so gefasst -

-

James A. Robinson, [Art.] Crisis, in: David L. Sills (Hg.), International Encyclopedia of the Social Sciences, Bd. 3, New York 1968, S. 510-514, Zt. S. 510. 2 Koselleck, Krise, S. 627. 3 Koselleck, Kritik und Krise. 4 Vgl. oben, S. 137, Anm. 203. Die programmatische Gegenposition eines Zusammenhangs von Staatskrise und ständischer Renaissance vertritt v.a. Wolfgang Neugebauer, mit Hinweisen auf frühere Arbeiten: Neugebauer, Staatskrise und 1

Ständefunktion.

5

Hier nach den Überlegungen Ferdinand Seibts, Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas, München 41998 ['1993], S. 135 ff., Zt. S. 136; bei Seibt allerdings „Disfunktionalität". Mit den Worten des

222

Die Agonie des Ancien

Régime

stellt sich die Frage, wann eigentlich nicht Krise war. Vermutlich nie. Die gewählte Definition trifft in gewissem Maße immer. „Krise" wird hier als historiographisches Konzept, Interpretationsstrategie ohne Ansprach auf starke Abgrenzungsfähigkeit verwandt, wenn auch eine Korrespondenz der Wahrnehmungen von innerhalb und außerhalb des historischen Prozesses unterstellt: Die Akteure fassten ihre Situation als mehrdeutig entsichert auf, und sie hatten nachvollziehbaren Anlass dazu. Beides, Dysfuntion und Disperspektivität, Neuordnung und Zukunftsgewinn äußerte sich in gestreckten Prozessen, einem komplexen Ensemble von Eruptionen und Entschleunigung, Resultaten langer Frist und spontaner Kontingenz, mehrschichtig verschränkter Kontinuität und Diskontinuität, unter den verschiedenen Aspekten zeitverschoben aufeinander bezogen. Im 18. Jahrhundert angesammelte Veränderungspotentiale und eröffnete Handlungsoptionen wurden stillgelegt oder forciert, vielfach allmählich, bisweilen ruckartig, teilweise gar nicht realisiert, und erst das sukzessive Aufeinandertreffen mehrerer Zäsurerfahrungen provozierte jene sukzessive Neufundierung adliger Herrschaft, die dann alle weitere Modernisierung in Kurland bis ins 20. Jahrhundert formatierte. Eine lineare Argumentation scheint dem inadäquat. Ungeachtet der Chronologie werden zunächst die beiden Hauptelemente des Ordnungsverlusts, politischer Umbruch und soziale Destabilisierung, als Agonie des kurländischen Ancien Régime erörtert, die sich darüber ausbildenden Logiken der (kontinuierlichen) Krisenbewältigung im folgenden Teil skizziert. -

-

Landtagsdeputierten v. Gantzkauw 1813: Man befinde sich in einem „Augenblicke, wo eine neue Ordnung der Dinge im Anrücken die bisherige fast aufgelöst das ganze in gewisser Rücksicht, so zu sagen Ruderloos da steht" (LTA 1813, LVVA -

640/4/257, p. 103).

-



4

Gewalttat und Krieg kennzeichnen den Aufstieg des modernen Staates. "6

Staat

Die Ausbildung moderner Staaten7 und Gesellschaften in Europa lässt sich als Funktion der bewaffneten Auseinandersetzung rivalisierender Machtzentren beschreiben.8 Blieb der „coercion-extraction-cycle"9 im Vergleich zur Konkurrenz schwach, schied das betroffene Gemeinwesen über kurz oder lang als eigenständige politische Entität aus -10 oder es kam angesichts eklatanten fiskalisch-militärischen Versagens zu radikalen Anpassungsversuchen, Revolutionen. Auf diesem Weg trat in Frankreich aus der Agonie des Ancien Régime „der moderne Staat endgültig ins Leben, mit Einheitlichkeit von Territorium, Staatsvolk und Staatsgewalt, mit Souveränität nach innen und außen",11 und demonstrierte zumal Napoleon sein Machtpotential. Unter weniger günstigen inneren und äußeren Bedingungen scheiterte ein ähnlicher Aufrüstungsversuch in Polen. Minder spektakulär dienten etwa in England, Preußen, der Habsburgermonarchie oder Russland wiederholte Reformschübe Reinhard, Staatsgewalt, S. 16. Lässt sich unter „Staat" grundsätzlich jeder transpersonal organisierte Herrschaftsverbund verstehen, so wird der Begriff im folgenden, sofern nicht näher spezifiziert, als Kürzel des „modernen Anstaltsstaats" verwandt. Vgl. Anter, Webers Theorie, v.a. S 47ff.; auch Reinhard, Staatsgewalt, S. 124ff. 8 „Die Geschichte Europas kann durchaus als ein einziger Rüstungswettlauf verstanden werden": Reinhard, Staatsgewalt, ?. 24. Für die Revitalisierung der Staatsbildung als zentraler Topos europäischer Geschichte s. a. Schilling, Die neue Zeit, v. a. S 14; skeptischer historiographiegeschichtlicher Abriss mit Konzentration auf die angelsächsische Tradition: Bayly, Birth of the Modern World, S. 247ff; östliches Europa: Subtelny, Domination, allerdings aus klassisch-modernisierungstheoretischer Perspektive; Russland: Dixon, Modernisation, S. 61 ff. 9 Konzept: Samuel E. Finer, The History of Government from the Earliest Times, 3 Bde.,Oxford \991. Zugespitzt Reinhard, Staatsgewalt,?. 305: „Soldat und Steuer6 7

10

11

einnehmer gründeten den Staat". Mit systematischer Pointe für die libertär verfassten Adelsgesellschaften Ostmitteleuropas: Zernack, Staatsmacht, v. a. S. 4; vgl. a. Subtelny, Domination, v. a. S. 51 ff, 164 ff; allgemein: Aretin, Tausch, Teilung und Länderschacher. Reinhard, Staatsgewalt, S. 406; ebd., S. 16: „Dieser moderne Staat existierte [...] vom ausgehenden 18. bis zum zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts." Also recht genau über die hier als europäische Moderne aufgefasste Epoche.

224

Die

Agonie des Ancien Régime

demselben Zweck. So oder so: Zwischen 1790 und 1820 beschleunigte der Krieg die Arrondierung der Machtzentren sowie die Ausbildung anstaltsstaatlicher Ressourcenmobilisierung. Für die große Mehrheit der europäischen Landschaften stellte dieser Vorgang einen Prozess dar, der sie eher erfasste, als dass er aus ihnen betrieben wurde, und je weiter er voranschritt, desto weniger Zentralen dominierten eine anwachsende Peripherie der Macht.12 Je nach (sprach-)assimilatorischer Wucht kam es zu aus der Rücksicht nationaler oder imperialer Territorialisierung in großem Maßstab. Die aus dem Putzger vertraute, übersichtliche Europakarte des 19. Jahrhunderts entstand. Einer der zahlreichen Flecken, die neu eingetüncht wurden, war Kurland. Das Herzogtum verfügte in der späten Bironzeit über eine stehende Truppe von rund fünfhundert Mann mit einer Handvoll Kanonen,13 konnte auf eine Tradition entschieden neutralistischer Fürsten zurückblicken, und der Adel perhorreszierte militärische Auseinandersetzungen als ultimative Katastrophe, zumal in finanzieller Hinsicht.14 Die anstaltliche Infrastruktur war rudimentär. Da das Territorium kein Machtakteur war, hingen die Ausformung lokaler Modernisierungslogiken und ihre Chanwurden ihre cen in gesteigertem Maß von ortsfremden Interessen ab Potentiale und Friktionen primär in Reaktionen oder Adaptionsleistun-

-

-

12

Untersuchungen zum Umgang von Adelsgruppen mit dem Prozess seiherausgegriffen: Reif, Westfälischer Adel; Bömelburg, Ständegesellschaft und Obrigkeitsstaat; Jedlicki, Kleijnot; Müller, „Landbürger"; auch Banac/Bushkovitch, The Nobility; Godsey, Nobles and Nation; Gestrich/Schnabel-Schüle, Aus den

en

Fremde Herrscher. 13 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 82, spricht von 600 Mann; Heyking, Letzte Tage, S. 420: 400-500; Daniel Georg Balk: 500 (hier nach Bosse, Einkünfte, S. 574; dort auch, dass selbst Sachsen-Weimar ein größeres Heer hatte); Rückmann nennt ein Bataillon: LNB Rx 111/1/19, p. 22; Kanonen: ebd.; vgl. a. unten, S. 235 f., zur Niederschlagung der Müllerunruhen. Die Kavallerie war 1717 aus Kostengründen und als potentielles Instrument fürstlicher Willkür auf 16, „in bessern Zeiten" 60 Reiter beschränkt worden: Cruse, Curland, Bd. 2, S. 245. Bewaffnete Jäger und Buschwächter dienten als Leibschutz, als Ordnungskräfte auf den Gütern und Privatmilizen: Heyking, Letzte Tage, S. 420; Stepermanis, Atbläzma, S. 118; LNB Rx 111/1/15, p. 33. 14 Heyking an Mirbach 16.4.1791, LVVA 1100/7/7, pp. 11 f. Damit machten die Kurländer keine Ausnahme von der allgemeinen Tendenz zur Kriegsaversion unter Besitzenden: „Like the great landowners in other European countries, Russian magnates preferred to exploit their lands and peasants without the distractions and disruptions of war unless their own immediate interests were at stake" (Jones, The nobility, S. 165). Doch fiel für Kurland selbst die einschränkende Bedingung fort: Krieg war auch bei unmittelbarer Bedrohung der eigenen Interessen keine Option.

225

Staat

gen sichtbar. Insofern weist die Geschichte Kurlands ein typisches, jedenfalls verbreitetes Moment europäischer Regionalgeschichten auf.15

4.1

„Revolutionen" „Ich nehme nur Eine Revolution wahr, Die keines Pfuschers Exekution war. Die nahm vorweg allen spätem die Glorie. Ich meine natürlich die Sintfluthistorie. Doch damals sogar ward der Teufel betrogen: Denn Noah, Sie wissen, blieb Herr der Wogen."'6

Staat als zivile

Veranstaltung

Peter Biron bezeichnete am Ende das Verhalten Howens und seiner Anhänger als „revolutionär".17 Ähnlich fiel das Urteil der älteren deutschbaltischen Historiographie aus: „Die Aristokratie, sonst die festeste und stärkste Erhalterin und Schützerin des Bestehenden, erscheint hier ganz revolutionär und daher sich selbst aufhebend und vernichtend."18 Indes geißelte bereits 1793 der Verfasser des ritterschaftlichen Konstitutionsprojekts die Bürgerunion als Träger eines vom „Warschauer Revoluzionsgeiste" ermutigten und durch den „Revoluzionsreichstag" begünstigten „zügellosen Jakobinismus",19 während gleichzeitig die Stimmen, die Freiheitskampf und Tyrannensturz der Franzosen bejubelt hatten, verstummten. Je kenntlicher das historische Profil der sich radikalisierenden Revolution im Westen hervortrat und je höher die Spannungen in der Region selbst stiegen, desto größer wurden die Verlustängste des Adels und seine Neigung zur Defensive.20 Binnen weniger 15 Vgl. S. 79. 16 Ibsen, „An meinen Freund, den revolutionären Redner". 17 Bilbassow, Vereinigung, ?. 312; Heyking, Letzte Tage, S. 458; Stanislaw August wies das ritterschaftliche „Projectum" als von „französischen Maximen" inspiriert zurück: Kadziela, Spar szlachty kurlandzkiej, ?. 63. 18 Diederichs, Nachwort, ?. 324. 19 LVVA 640/4/207, pp. 46f.; die Sprache wurde allgemein konfrontativ, vgl. etwa das Deliberatorium v. Sackens/v. Roennes 1793/94: LVVA 2344/1/3, p. 1; dagegen schwankt J. C. F. Schulz seiner stärker ambivalenten Haltung entsprechend zwischen „Revolutions-" und „Konstitutions-Reichstag": Schulz, Reise, S. 145, 226, 275. 20 Auch Anpassung an den Standpunkt der Vormacht Russland spielte eine Rolle. -

-

226

Die Agonie des Ancien

Régime

Jahre etablierte sich „Revolution" als Bannwort eines politischen Diskurses, der später auch die historiographische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit in der Weise des angeführten Zitats prägte. Verzerrungen blieben dabei nicht aus. Denn „revolutionär" im modern-emphatischen Sinn war die politische Programmatik des Adels nie, insofern sie der Vision einer anderen Gesellschaft(sordnung) und ihr korrespondierenden Staatlichkeit entbehrte. Der Herzog hatte nicht unrecht, in dem Projectum eine Art Umsturzplan zu erblicken, und in diesem Sinne war die Fronde auf eine „Revolution" aus, auf eine Verfassungsrevolution, wenn man so will, die in ihrem systematischen Gehalt und Legitimationsmodus durchaus modernen, das heißt strukturell differenzierenden und vergeschichtlichten Mustern folgte, im Kern nicht „zurück zu" wollte, sondern „vernunftgemäß vorwärts". Nach ihrer gesellschaftsideologischen Abstinenz entsprach sie hingegen eher einer altständischen Widerstandsbewegung. Zeigen lässt sich das an der Zweckbestimmung des als öffentlicher Fonds gesicherten Lehns. Seine doppelte Funktion sollte sein, den Adel zu ernähren und die Obrigkeit zu finanzieren was zwei Seiten derselben Medaille, wenn nicht ein und dieselbe Seite darstellte. Denn vom Einkommen indigener Amtsträger und dem direkten Nießbrauch der Arrendatoren abgesehen bedeutete die Bestreitung sämtlicher Landesausgaben aus den Lehnserträgen die fortgesetzte Lastenfreiheit der Privatgüter.21 Bezüglich der Verwendung der fließenden Mittel, also primär der Arrendesummen, war vorgesehen, dass zunächst „alles, was zur Erhaltung des politischen Regierungs- und Gerichtsetats nöthig ist" aufgebracht werden müsse, lediglich verbleibende Überschüsse zum Unterhalt des fürstlichen Hauses beitragen und nicht außer Landes verwandt werden dürften (Art. 37).22 Neben dem Bestand aus Kammer, Regierung, Gerichten und Landesmilitär waren eine verbesserte Bezahlung der hohen Beamten vorgesehen, besoldete Assessoren und Aktuare an den Hauptmannsgerichten sowie ein Forstaufseher (Art. 35,38),23 die Ausstattung der Oberhauptleute und -

Höchstens wäre zu argumentieren, dass der Stand ein kollektives Opfer brachte, indem er auf den unmittelbaren Besitz dieses Landes verzichtete. Präziser wäre dann allerdings zu formulieren, dass die (vorwiegend) privatbesitzlichen ihren (allein) auf Arrendeämter angewiesenen Standesgenossen die Finanzierung des Gemeinwesens überließen. 22 „Projectum", LVVA 640/4/85, p. 353. Den Hintergrund bildete der Grunderwerb Birons außerhalb der Herzogtümer, den dieser nicht zuletzt als Absicherung seiner Töchter für den Fall des Thronverlusts betrieb; vgl. oben, S. 142. 23 „Projectum", LVVA 640/4/85, pp. 353f. 21

227

Staat

Hauptleute mit Wohnungen, Archiven und Gefängnissen, ein zweites Instanzgericht für die überdehnte Oberhauptmannschaft Seiburg; die Festsetzung des bisher auf acht beschränkten Numerus clausus der Advokaten vor den für den Adel relevanten Instanzgerichten sowie ihre Auswahl sollten dem Landtag überlassen werden (Art. 38-^-2).24 Kurz, als Aufgaben der öffentlichen Hand wurden ihre Selbstverwaltung begriffen, einige Dienstleistungen für die Legislative, die Vorhaltung einer minimalen Gewaltreserve für die innere Sicherheit,25 äußere Diplomatie, vor allem aber eine beschleunigte und verstetigte Rechtspflege oberhalb der Unfreienschaft. Eine aktive Infrastruktur- oder Gewerbepolitik, wie sie etwa die merkantilistischen Kettlers und später die Birons angestrebt hatten, auch Anstalten der Fürsorge oder Bildung (bis auf die Akademie zu Mitau) sah der Adel als Landesherr nicht vor. Darin lag das Komplement zur Einhegung des Fürsten, staatlichen Handelns: in einer Belassung obrigkeitlicher Aufgaben bei lokalen Akteuren. Für die Polizei sowieso, aber auch für den Wege- und Brückenbau waren die Güter unter Beaufsichtigung der Ritter- und Landschaft zuständig, für Elementarunterricht die unter ihrem Patronat stehenden Kirchen, Sozialfürsorge blieb privater Mildtätigkeit, de facto dem Interesse der Herren an der Erhaltung ihrer Leute anheimgestellt. Man könnte vom Projekt eines Nachtwächterstaats sprechen, wenn nicht Nachtwächter Sache der kommunalen Korporationen gewesen wären. Was dem Adel vorschwebte, war ein rationalisiertes Obrigkeitsskelett zur Regulierung der Beziehungen der Eliten untereinander, mit dem die Masse der Bevölkerung kaum je in Berührung gekommen wäre, weder als Objekt von Besteuerung und Rekrutierung, Bildung, Fürsorge und Polizierung noch als rechtssuchendes oder partizipierendes Subjekt. Das unbedingt Notwendige in dieser Hinsicht leisteten die Güter, Pastorate und landgemeinschaftlichen Strukturen, ansonsten blieb die wechselseitige Steigerung von Extraktion und Erzwingung weitgehend aus beziehungsweise ein privatherrschaftliches Phänomen, das lokal ausgehandelt wurde. Die Veränderungsentwürfe auch während der aufgeregten Verfassungskämpfe lassen sich mithin charakterisieren als zivil, aber nicht gesellschaftlich, konstitutionell, aber nichtstaatlich. Die Rationalitäts- und Verbesserungsideolo-

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p. 354. Ergänzend wurde eine Revision aller Kirchen- und Säkularwidmen und Wiederherstellung ihrer Inventaríen gefordert. Zu den Prokuratoren oder Hofgerichtsadvokaten vgl. a. Räder, Juristen Kurlands, S. XIV f. 25 Zur stehenden Truppe wie oben: Das kurländische Militär hatte außer symbolischem höchstens inneren Wert bei punktuellen Unruhen. 24

„Projectum", LVVA 640/4/85,

228

Die Agonie des Ancien

Régime

gerne wurden nicht zu einem umfassenden „Rationalismus in Aktion"26 entgrenzt. Auf bezeichnende Weise blieb die Rede von der „(freien) Nazion" in der Masse der Texte adelsständisch eingefangen und hatte das Projectum von beiden Polen, auf die sich die Modernisierung der Idee bezog, keinen Begriff: Mit dem Impuls zur Machtorganisation ging ihm im Unterschied zur Maiverfassung ein gesellschaftsbildendes Potential ebenso ab wie ein anstaltliches Staatskonzept. So wie die Landeseinwohnerschaft ein segregierter Ständeverband bleiben sollte, war an einen Ausbau des institutionellen Apparats nicht gedacht. Dem entsprachen im wesentlichen die Vorstellungen eines ritterschaftlichen Komitees, das im Februar 1794, nach erfolgtem Ausgleich mit dem Herzog und Auflösung der Bürgerunion, die Beschwerden der Städte, Gewerke und Juden begutachten sollte.27 Was die internen Angelegenheiten der Städte betraf, empfahlen die fünf Mitglieder Rechtsverbesserungen für die Handwerker; zur Regulierung von Handel, Marktund Schankwesen sollte eine neue Policey-Ordnung ausgearbeitet und in jeder Stadt ein Policey-Amt errichtet werden, dem Wucher mit einem „öffentlichen Leihhaus oder Lombard", der Bettelei mit einer Armenanstalt begegnet. Den Juden wollte das Komitee Niederlassung und freie Religionsausübung gewähren, vor allem das Recht, Handel zu treiben, nicht jedoch fliegenden Kleinhandel und geschützte Gewerbe während es auf dem Land jedem Gutsbesitzer freistehen sollte, Juden zu dulden oder nicht und ihnen „die Betreibung eines jeden ehrlichen Gewerbes" zu gestatten. Als Steuerleistung war an ein jährliches Kopfgeld zugunsten der Ritterschaftskasse gedacht. In anderen Worten, für die zunftständischen Enklaven fasste man eine polizierende Weiterentwicklung der alten Ordnung ins Auge, bezogen auf das Land sowie die für den Adel relevanten Schnittstellen zwischen Land und Stadt setzte man entsprechend der durch Bodenmonopol und Machtchancen abgesicherten starken eigenen Position auf schwache Obrigkeit und Deregulierung der Marktzugänge.28 Das Ergebnis war neuerlich ein Hybrid ständegesellschaftlicher und kontraktliberaler Normen und Argumente, das nicht einer universalen Ordnungsvorstellung folgte, sondern aus ad hoc gewählten Präferenzen gebildet war. Die (adligen) Akteure betrieben keine programmatisch festgelegte Modernisierungs- oder gar Revolutions-

26 „Revolution is rationalism in action": Jurij Samarin, nach Thaden, Conservative Nationalism, S. 144. 27 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 275, S. 445ff.; frühere Verbindungen zwischen Gewerken und Adel gegen die Magistratseliten: Stepermanis, Atbläzma, S. 73ff. 28 Hierher gehört auch die oben genannte Freigabe, also Erhöhung der Advokatenstellen.

229

Staat

wohl aber eine konfliktbereite Politik des eigenen Vorteils, die auf ein Aufbrechen oder Unterlaufen des rechtlich verfügten Sets sozioökonomischer Rollen hinstrebte, wo es ihnen im Weg stand. Wie oben: Was darin an modernisierendem Potential enthalten war, lässt sich als „zivil" charakterisieren, während eine einheits- und anstaltssfaaf/zc/ze Durchformung weitgehend unterblieb. Das macht die fundamentale Differenz zu den gleichzeitigen Entwicklungen in Warschau aus. Von allen sonstigen erheblichen Strukturunterschieden abgesehen, grundierte dort das Motiv, als Machtakteur aufzuschließen und den Bewegungsspielraum der Republik wiederherzustellen, die Reformanstrengungen. Hingegen nahmen die Kurländer nicht erst die Aussicht, dass es darüber zum Krieg kommen würde, sondern bereits die 1790 einsetzende Rüstung selbst als massive Bedrohung wahr: „Da der izzige Reichstag [...] nichts verschont um die nöthigen Mittel zu erlangen eine armée von 100000 Mann zu halten, so war ein gewißer Theil der Landboten entschlossen durchaus auf die Inkorporazion von Kurland und Pilten zu dringen",29 schrieb Heyking im September 1790 an den Landesbevollmächtigten Eberhard v. Mirbach. Heyking hatte erfolgreich interveniert, sah sich aber nicht länger in der Lage, die Entwicklung allein unter Kontrolle zu behalten und bat dringend um einen Mitdelegierten. Letztlich setzte er seine Hoffnung allerdings darauf, dass die Mächte eine Einverleibung nicht zulassen würden:30 Die Staatsarmut der Herzogtümer, an der dem Adel so gelegen war, hing ab von der gegenseitigen Blockade der Machtstaaten. Zu dem Zeitpunkt jedoch war Russland gegen die Pforte gebunden und die „vage Aussicht auf eine vollständige Umkehrang der Mächtesituation" nicht vom Tisch.31 1791 erreichte der polnische Reform- und Mobilisierungswille seinen Kulminationspunkt mit der Konstitution vom 3. Mai. Die Ritterschaftsdelegierten machten gute Miene, die Bürgerunion spürte Aufwind, die Positionen erfuhren ihre im Vorigen beschriebene ideologische Zuspitzung. In einem seiner letzten Akte, die äußeren Umstände waren bereits in rapider Veränderung begriffen, errichtete der Vierjährige Reichstag unter dem 31. Mai 1792 eine Konstitution für Kurland, die zwar über die Anliegen der Bürgeranion hinwegging, die Interessen des Herzogs aber in fast allen Punkten gegen die Ambitionen des Adels wahrte.32 Zur

politik,

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29 Heyking an Mirbach 11.9.1790, LVVA 1100/7/6, p. 90. 30 Heyking an Mirbach 11.9.1790, LVVA 1100/7/6, pp. 90f. 31 Müller, Teilungen, ?. 44. 32 LVVA640/4/207,pp. 21 ff;vgl.a.Schwartz,Staatschriften,Nr. 250/15,S. 405ff.; Druck: Keller /Oberländer, Kurland, S. 288 ff. Zum Vorgang vgl. Heyking, Letz-

230

Die Agonie des Ancien

Régime

fortbestehender Uneinigkeiten wurde ein Kommissar nach Mitau entsandt, dessen Auswahl Stanislaw August mit der Herzogin abgestimmt hatte, so dass die Tendenz der Urteile vorhersehbar war.33 Doch sah sich Biron mit demselben Problem konfrontiert wie 1774: Ihm fehlte die Macht, seinen Titel durchzusetzen. Nahezu zeitgleich mit dem Spruch hatte Russland seine Handlungsfähigkeit zurückgewonnen und sie zum Einmarsch in Polen genutzt.34 Am Ausgang der Auseinandersetzung konnte so wenig Zweifel bestehen wie an Katharinas Haltung zu „französischer Pest" und „Jakobinismus" an der Weichsel.35 Die Revisionsabsicht gegenüber der Maiverfassung verhieß auch den Umsturz der bironfreundlichen Konstitution, zugleich drohte eine Eskalation und das Übergreifen der Gewalt auf Kurland. Im Zusammenspiel mit dem russischen Residenten Rückmann wandte sich die Ritterschaft an Katharina um Schutz, und Ende Juni überschritten 3000 Mann russische Truppen die Grenze.36 Im August wurde der polnische Kommissar gezwungen, sein Amt niederzulegen,37

Erledigung

Tage, S. 37Iff.; Schulz, Reise, S. 235; v.a. aber die minutiöse Rekonstruktion Kadziela, Spar szlachty kurlandzkiej, zur Deputationsentscheidung dort S. 77ff. Die Ausschreibung von Landtagen wurde allein dem Herzog vorbehalten, ihre einseitige Limitierung für illegal erklärt, klare Schlussfristen wurden geschaffen und te

Rechtssachen

von Privatpersonen gegen den Herzog aus den Verhandlungen ausgeschlossen; öffentliche und die wesentlichen Landesämter besetzte der Herzog allein, neue Stellen bedurften der oberherrschaftlichen Bestätigung; die Oberräte wurden gehalten, bei Abwesenheit des Herzogs seine ökonomischen Verordnungen buchstäblich zu erfüllen, in welchen dieser wiederum vollständig frei und nicht etwa an den Status von 1737 gebunden war; die Landtagsschlüsse von 1789 wurden kassiert. Außerdem wurden im Sinne der Krone die Schieds- und Genehmigungsrechte der Oberherrschaft ausgeweitet.

33

34

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36 37

Graf Alexander Batowski: Dorothea an Carl v. Manteuffel 16.6.1792, LNB Rx 111/1/15, pp. 9ff.; Affäre der Herzogin mit ihm: Recke, Journal, S. 187. Einflussnahme bereits auf die Besetzung der Kommission, die zur Berichtigung der Grenzen zwischen Lehn und Allod bestellt worden war: Raison an Manteuffel 21.3.1790, LNBRx 111/1/13, p. 59. Dorotheas Verhältnis zu/mit Poniatowski: Schulz, Reise, S. 231 f. Müller, Teilungen, S. 49. Russland hatte im Januar 1792 Frieden mit dem Osmanischen Reich geschlossen, die französische Kriegserklärung vom April band Österreich und Preußen im Westen. Zte.: Müller, Teilungen, S. 48; Hoensch, Geschichte Polens, S. 167. Manteuffel nahm noch vor Stanislaw Augusts Übergang zur Konföderation von Targowice sicher an, dass Polen diesmal „gänzlich écrasirt" werde: Dorothea an Manteuffel 28.6.1792, LNB Rx 111/1/15, p. 18. Elisa v. d. Recke an Manteuffel 17.6.1792, LNB Rx 111/1/15, p. 15. Elisa v. d. Recke an Manteuffel 9.8.1792, LNB Rx 111 /1 /15, pp. 28 f. Ende Februar 1793 wurde auch der preußische Resident Hüttel abberufen, durfte aber ebenso

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Staat

im November ging Heyking nach Grodno ab, bei der Generalkonföderation eine Revision der Konstitution vom 31. Mai zu betreiben.38 Unter massivem Druck suchte Biron die Verständigung mit dem Adel. Dass er Entgegenkommen fand, lag nicht nur daran, dass die Ritterschaft den kostspieligen Streit leid war und der Herzog sich schließlich zu weitgehenden Kompromissen in den Essentialien herbeiließ.39 Die Radikalisierung der Revolution und die Schlappe der Alliierten bei Valmy einerseits, der Triumph Russlands in Polen andererseits bestimmten den Horizont, vor dem die Angriffslust der Fronde allmählich erlahmte. Als am 27. Dezember ein Universal der Generalkonföderation sämtliche auf Kurland bezogenen Verordnungen des Warschauer Reichstags für nichtig erklärte,40 waren die Verhandlungen zwischen dem Landesbevollmächtigten Mirbach und dem Herzog bereits fortgeschritten und ein Landtag für den Januar 1793 ausgeschrieben. In der Kompositionsakte, die unter dem 18./21. Februar 1793 den jahrelangen Streit beendete,41 schlug sich einerseits die Position der Stärke nieder, aus der die Ritterschaft verhandelte, andererseits ihr Wille zum Abschluss. Den materiellen Kern betreffend wurden die Verordnungen des Oberratskollegiums aus den Jahren 1784/87 aufrechterhalten, vor allem die Verarrendierung der Ämter einzeln, auf sechs Jahre und zum alten Anschlag bestätigt42 ausgenommen die Grünhofsche Oeconomie, -

wie Batowski als Privatmann im Land bleiben: Bericht Hütteis 24.2.1793 (BrügBeiträge, ?. 660). Heyking, Letzte Tage, S. 379 f.; Biron an Manteuffel 16.12.1792, LNB Rx 111/1 /15, p. 49. Auch von einer Wiedereinbringung des „Projectum" war zeitweilig die Rede: Bericht Hütteis 13.1.1793 (Brüggen, Beiträge, ?. 655). Neuerlich war im selben Zug „auch noch das Privat-Interesse all derjenigen [zu] befriedigen, die daran teilhaben": Dorothea an Manteuffel 26.1.1793, LNB Rx 111/1/15, p. 57. Schwartz, Staatsschriften, ?. 415 f.; Wortlaut: Heyking, Letzte Tage, S. 381 f. Eine entsprechende Zusage Marschall Felix Potockis war bereits früher ergangen: ebd., S. 380. LVVA 640 / 4 / 207, pp. 49 ff. ; gedruckt: Kompositionsakte; vgl. a. Schwartz, Staatsschriften, Nr. 267, S. 413ff.; Cruse, Curland, Bd. 2, S. 207ff.; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 224ff. Mirbach war zu einem Entgegenkommen mit Rücksicht auf die gestiegenen Kornpreise bereit gewesen und hatte dafür auch eine Mehrheit, doch legte Georg Christoph v. Lüdinghausen-Wolff als Deputierter für Sessau und Seiburg förmlichen Protest ein und drohte mit einer Beschwerde beim russischen Hof, so dass im letzten Moment wieder die realitätsfernen Anschläge des 17. bzw. frühen 18. Jahrhunderts festgeschrieben wurden: Schwartz, Staatsschriften, S. 416f; vgl. aber auch ebd., S. 432, zur Einflussnahme Howens via Petersburg. Die finanziellen Implikationen lassen sich aus den Steigerungen der Arrendesummen für einzelne Güter seit den Kontrakten der 1760er, die noch den alten Anschlägen folgten, bis zur Rücksetgen,

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die Ämter Mesothen, Hofzumberge, Fockenhof, Grenzhof und Pönau sowie das Wittum der Herzogin, über die eine freie Disposition zugestanden wurde (Pkte. 3 und 12). Dabei handelte es sich freilich um die Filetstücke des herzoglichen Besitzes, und insofern ist gegenüber der Auffassung von einer vollständigen Niederlage des Fürsten zu Recht der Kompromisscharakter der Komposition betont worden.43 Ähnlich die Lösungen der politischen und Verwaltungsfragen: Biron blieb auf Lebzeit frei in der Disposition der Lehnseinkünfte, erst ein Nachfolger sollte der Kontrasignatur verantwortlicher Oberräte unterworfen werden. Auch sein vorgebliches Wahlrecht der Assessoren, Hauptleute und Oberhauptleute wollte der Adel während der Regentschaft Herzog Peters ruhen lassen (Punkt 13-4). Im Gegenzug verband sich Biron, das Lehn nicht mit Apanagen zu beschweren, die öffentlichen Lasten pünktlich zu tragen, bei den Hauptmannsgerichten Assessoren- und Aktuarsstellen einzurichten, den Bau von Wohnungen für die Hauptleute sowie von Gefängnissen in zwölf Jahren abzuschließen, und willigte in eine künftige Reorganisation der Gerichtsbezirke im Oberland (Pkt. 13). Das herzogliche Militär und Hofpersonal wurde der Jurisdiktion der ordentlichen Gerichte unterworfen, die Entlassung aus einem Amt oder Dienst allgemein an eine Untersuchung durch das Oberhofgericht gebunden, Verhaftungen bedurften eines schriftlichen Befehls der Regierung, wie der Herzog überhaupt in politischen und Justizangelegenheiten ohne Beratschlagung mit den Oberräten und die Mitunterschrift der Zustimmenden nicht aktiv werden konnte (Pkte. 6, 10, 11). Biron gestand zu, auf Antragen der Landtage diese jederzeit zu limitieren, ihnen bei Indigenatserteilungen freie Hand zu lassen, nichts allein, ohne Zuziehung der Ritterschaft in Landessachen bei der Oberherrschaft zu betreiben, und erkannte die uneingeschränkte Regierungsgewalt des Oberratskollegiums „in Politicis, Ecclesiasticis, Oeconomicis und Jurisdictionalibus" bei Abwesenheit, Minderjährigkeit oder „Infirmität" des Fürsten an (Pkte. 1^1). Dilatorisch ausgeklammert wurden die Frage der Privatbeschwerden auf Landtagen sowie die der endgültigen Grenzziehung zwischen Allod und Lehn (Pkte. 5 und 14).

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zung während der Abwesenheit des Herzogs ablesen: Groß- und Klein-Barbern von 1 237 auf 2550 Rth. alb., Sessau von 1 600 auf 3 200, Ober- und Niederbartau von 4 740 auf 7 500 (LVVA 640 / 4 / 207, p. 41 ). Heyking, Finanzwirthschaft, S. 14f. Auch die Allodifikationen von Würzau, Alt- und Neu-Platon und Jakobshof zugunsten Birons wurden anerkannt; die von Grendsen und Irmlau zugunsten der Ritterschaft sollten bis zur Lehnseröffnung suspendiert bleiben: Kompositionsakte, Pkt. 15. Sie erfolgten 1802 als Donation Alexanders I.: BHO, S. 196, 234.

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Trotz dieser Aufschübe, der materiellen Kompromisse und insbesondere der Aussetzung einer förmlichen fiskalischen Kontrolle bis zu seinem Ableben urteilte Peter Biron, es sei eine „äußerst lästige, einschränkende u. drückende Composition herausgekommen, welche in der That beynahe eine Schande ist [...] Inzwischen war aller Widerstand hierbey umsonst."44 Nach genauerem Durchrechnen ergab sich zudem, dass der Herzog aus den Lehnseinkünften nicht einmal die Salärs der Landesbediensteten mehr würde zahlen können. Dass die Landschaft, wie für den Fall zugesagt, eine Kontribution willigen würde, hielt er für unwahrscheinlich.45 Damit war eine Art landtäglicher Budgethoheit durch die Hintertür eingeführt, und die berechtigte Sorge des Fürsten ließ eine plausible Annahme über künftige Konfliktlinien zu. Vor allem aber wurde die Verortung obrigkeitlicher Befugnisse bei adelsständischen Akteuren zementiert, beziehungsweise hing jegliche Wahrnehmung solcher Aufgaben überhaupt stärker denn je von der Landschaft ab. Der Adel war seinem Ideal von Obrigkeit, einem schwachen Staat als ziviler Veranstaltung bei institutionell bewehrten Freiheitsrechten (für die Eliten), erheblich näher gekommen. Davon, dass „die Feudalität [...] auf der ganzen Linie gesiegt" habe,46 lässt sich indes nur sprechen, wenn man die (adels-)republikanische Radikalität des Projectum nicht ernst nimmt.47 Es war ein bedeutender materieller und rechtlicher Erfolg, jedoch unter Preisgabe beziehungsweise Aufschub des konstitutionellen Systemwechsels. Der Stuhl war glimpflicher davongekommen, als Biron wahrhaben wollte.

Diskursumwälzung Wie bereits angesprochen, reflektierte die Komposition einen einsetzenden ideologischen Klimawandel, in dessen Hintergrund der Krieg der Mächte gegen die beiden revolutionären Gemeinwesen Polen und Frankreich stand, wobei gegensätzliche Verläufe auf Kurland gleichgerichtet wirkten: Das Vordringen der nunmehr unübersehbar gesell44 45 46 47

Biron Biron

Manteuffel 24.2.1793, LNB Rx 111/1/15, p. 59. Manteuffel 18.4.1793, LNB Rx 111/1/15, p. 64. Donnert, Kurland im Ideenbereich,?. 183. Cruse, Curland, Bd. 2, S. 208, der das „Projectum" gar nicht zur Kenntnis nimmt, spricht von einem „großen Sieg" der Ritterschaft; ähnlich Kurland und seine Ritterschaft, S. 17; auch Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 226, der das der Komposition vorhergehende „ausschweifende Projekt" immerhin nennt: ebd., S. 218; Seraphim, Geschichte, S. 330, erwähnt es als eine Art Kuriosum, das „liberalsten Doktrinären genügen mußte", spricht dann aber von einer „fast vollständigen Niederlage" des Herzogs: ebd., S. 339. an an

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schafts-revolutionären Revolution in die Reichsterritorien legte nicht weniger als der Sieg Russlands und damit des dezidiert restaurativen Prinzips in Polen eine Abkehr von allzu hochfliegenden Projekten nahe. In gleichem Maße verunsichert von den Geistern, die mancher euphorisch gegen den fürstlichen „Despotismus" angerufen hatte, wie von der Aussicht auf Sanktionen solcher Koketterie mit dem Aufruhr, drängte die Mehrheit auf eine Pazifizierung des Landes, auch unter Abstrichen von den Maximalforderungen. Wenn es noch eines Anstoßes bedurfte, gaben ihn die Mitauer Müllerunruhen im Dezember 1792.48 Verschiedene Rechtskränkungen und materielle Schlechterstellungen auf den Oeconomien, schließlich eine inszenierte Handwerksschelte durch den herzoglichen Oberamtmann Daniel Grünhoff hatten zu einem Ausstand der Müllergesellen und einer Klage gegen Grünhoff geführt. Anlässlich der Verhandlung rief das Mülleramt zur klageunterstützenden Vollversammlung nach Mitau. Am 4. Dezember 1792 wies das Gericht unter dem Doblenschen Hauptmann v. Fircks die Klage ab.49 Die „Strategie der massiven körperlichen Anwesenheit"50 war gescheitert, hatte aber erhebliche Zehrkosten und Verdienstausfälle verursacht.51 Von den aufgelaufenen Schulden bedrängt und unterstützt von den „Künstlern und Professionisten" Mitaus, einem Bund der Handwerker, der sich in nachahmender Gegnerschaft zur „Bürgerlichen Union" gebildet hatte, legten die Müller Appellation beim Oberhofgericht ein. Herzog Peter gestattete einen außerordentlichen Termin, knüpfte daran jedoch die Bedingung, die Klagenden müssten zuvor in ihre Mühlen zurückkehren. Die Müller, erbost, dass man sie mit „processualischen Formen" hinhalte, forderten schließlich keinen Urteils-, sondern einen herzoglichen

Folgenden Bosse, Zunftgeist; ausführliche Darstellung nach den Akten: Reinfeld, Mülleraufstand. Vgl. a. Stepermanis, Atbläzma, S. 73ff.; Donnert, Volksaufstand; ders., Kurland im Ideenbereich, S. 166ff., allerdings mit bemühter

48 Zum

Interpretation. 49 Die Herzogin nennt als weitere Richter „mein Bruder, der kleine Carl Sacken, Canzler Rutenberg sein jüngster Sohn u. der dicke Eiert": Dorothea an Manteuffel 29.11.1792, LNBRx 111 /1 /15, p. 47. 50 Formulierung nach Bosse, in Entlehnung aus dem Urteil des Frankfurter OLG gegen den Sprecher der Bürgerinitiative Startbahn West vom 19.1.1983: Zunftgeist, S. 554. Plausible Zahlenannahme von rund 80 Meistern und 160 Gesellen gegenüber den fast doppelt so hohen Schätzungen von Zeugen des Geschehens: ebd., S. 556, Anm. Auch der Ausstand selbst war als Druckmittel nicht zu unterschätzen: ,,[A]lle Mühlen stehen u. bald wird man kein Mehl haben" (Dorothea an Manteuffel 29.11.1792, LNBRx 111 /1 /15, p. 47). 51 Eine Kostenaufstellung vom 3.12. lautete über knapp 13000 Rth. alb., was Bosse, Zunftgeist, S. 553 f., etwas halsbrecherisch, aber illustrativ in ca. 1,3 Mio. DM (1976) übersetzt.

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Machtspruch und die Übernahme ihrer Kosten, „das heißt sie forderten ihr Geld-als-Recht oder ein Schuldeingeständnis in bar".52 Dabei traten die Gesellen als treibende Kraft auf; bei einer juristisch-symbolischen Niederlage unter Schuldigbleiben der Zechen hatten sie am meisten zu verlieren: die Handwerksehre, damit die Wandermöglichkeit und den Zugang zur Meisterschaft.53 Irrlaufende Gerüchte von Schragenaufhebungen gegen alle Gewerke ließen die Unruhe steigen, am 13. zog eine Menschenmenge vor das Schloss und die Müller drohten, die Rentei zu stürmen und sich selbst schadlos zu halten, materiell, damit verbunden ehrenrechtlich. Zugleich versetzten sie tradierte Protestformen mit Zitaten der Französischen Revolution, radikale Parolen wurden laut, ein Freiheitsbaum gepflanzt.54 Als die Drohungen ultimative Form annahmen und der Sturm bevorzustehen schien, ließ der Herzog schießen. Die Salve tötete zehn Müllergesellen, zwei Meister und zwei Schuhmachergesellen, es gab neun Verwundete die Menge lief auseinander.55 Doch auch auf die Landeselite wirkte das Blutvergießen schockierend. Herzog, Oberräte, Magistrat und Zünfte veranstalteten eine Sammlung, um die Schulden der Müller zu begleichen, eine Amnestie wurde ausgesprochen, die Sache möglichst aus der Welt geschafft.56 Die Frage, ob es sich bei den Müllerunruhen um einen modernen Proletarieraufstand oder einen traditionalen Ständekonflikt gehandelt habe, um „Zunftgeist oder Revolution", ist Gegenstand historiographischer Thesenbildung geworden.57 Mittlerweile scheinen solche Kategorisierangsversuche überholt, die neuzeitlichen Revolutionen einschließlich der überseeischen als Amalgame tradierter Codes und neuer symbolischer Formen erwiesen, nach Rhetorik, Wertbindung wie Aufführangspraxis.58 Gleichwohl lässt sich der Aufruhr als Modernisierangskonflikt -

52 Bosse, Zunftgeist, S. 556ff, Zte. S. 556 f. 53 Bosse, Zunftgeist, ?. 558, Anm. 54 Zur europaweiten Verwendung eben dieser Symbole und Sprache vgl. Forrest, Revolution, ?. 185. 55 Bosse, Zunftgeist, ?. 557f.; Donnert, Kurland Im Ideenbereich, S. 170ff. Dorothea Biron sprach von über 30 Toten und Verwundeten: an Manteuffel 15.12.1792, LNB Rx 111/1/15, p. 47. 56 Bosse, Zunftgeist, S. 558. 57 Bosse, Zunftgeist; Gegenpositionen zu dessen Interpretation einer zwar revolutionär informierten, aber in der Tradition der Gesellenaufstände verhafteten Aktion: Stepermanis, Atbläzma, ?. 53ff.; Donnert, Volksaufstand; ders., Kurland im Ideenbereich, ?. 161 ff. Letztgenannter Text ist zwar nach Bosses Beitrag entstanden, zitiert diesen auch, verzichtet aber auf eine inhaltliche Auseinandersetzung. 58 Summarisch Bayly, Birth of the Modern World, S. 157 f. Bosses, Zunftgeist, S. 549, apodiktische Formulierung, ,,[j]ener Rechts- und Ehrenschutz für ihresgleichen, den die Gesellenschaften [... ] beanspruchen und ausüben, kann zwar revolutionäre Mo-

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Die Agonie des Ancien

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noch einmal Grundzüge der kurländischen Konstellation am Vorabend der Unterwerfung zu beleuchten. Erstens: Versteht man die fürstlichen Oeconomien als rationalisierte Extraktion und die Basierung der Rechtspflege auf abstrakte Normen, auf Vertragsfreiheit, Satzungsvorrang gegenüber Gewohnheitsrechten und auf Prozessregulierung als deren Komplement, so kollidierten in den Müllerunruhen neuere Ordnungsvorstellungen mit dem Herkommen zunftständischen Ehr- und Gerechtigkeitsdenkens.59 Das abschlägige Urteil gründete in den verschiedenen Punkten auf Mangel an Beweisen, auf Unzuständigkeit, vor allem aber darauf, dass „ein Handwerksbrauch nicht den Gesetzen zuwider entstehen könne":60 Zu den nachweisbaren Sparmaßnahmen und Reorganisationen im Mühlenbetrieb sei der Amtmann respektive der Herzog als Oberbesitzer durchaus befugt gewesen. Zweitens erwies sich die intensivierte quasistaatliche Ressourcenabschöpfung zwar als hinreichend rechtsbewehrt, die Herrschaftsausübung angesichts der überwiegend (semi-)privaten Verwendung jedoch als krisenanfällig. Ähnlich wie auf den Gütern die Spannungen wuchsen und ab einem bestimmten Punkt den Verzicht auf öffentliche Erzwingungsinstrumente kostspielig werden ließen, vermochte der Herzog mangels eines ausgebauten Machtapparats nicht, die Räumung der Stadt durchzusetzen, und musste im Moment der Eskalation seiner hoffnungslos unterlegenen Wache zwei oder drei Dutzend Mann mit drei Kanonen scharfes Feuer befehlen. Diesen Zusammenhang von Repression und Schwäche, von schwachem Staat und Adelsmacht konnte dann Howen zu der Klage verdrehen, der Einsatz von Kanonen und Musketen gegen „unbewaffnete unschuldige Menschen", die „Mordscene", wo es auch Wasserspritzen getan hätten, werde von „der menschenfreundlichen großen Catharina die alle Tyrannei verabscheuet, gewiß nicht gebilliget werden".61 Drittens waren die Frontstellungen alles andere als eindeutig. Müller, Professionistenbund und ein radikaler Intellektuellenzirkel um Ludwig Koenemann verfolgten ideologisch wie materiell verschiedene Ziele gegen unterschiedliche Gegner:62 ge-

durchdeklinieren,

um

-

-

-

-

mente

59 60 61

-

62

aufnehmen, nicht aber revolutionäre Ziele", wirkt denn auch kaum minder

ein-eindeutig verengt als Donnerts sozialistisch-revolutionäre Ahnenforschung. Vgl. Bosse, Zunftgeist, S. 554f. Bosse, Zunftgeist, S. 553. Howen an Nerger 10./21.12.1792: Seraphim, Briefe Howens I, S. 450. Ob Howen wirklich Krokodilstränen vergoss und die Zusammenrottung mitangezettelt hatte, wie naheliegend Biron behauptete (an Manteuffel 3.1.1793, LNB Rx 111 /1 /15, p. 53), muss dahingestellt bleiben; der von Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 177, dahingehend angeführte o. g. Brief an Nerger gibt das nicht her. Bosse, Zunftgeist, S. 560 ff. -

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gen die Magistratselite, das obrigkeitliche Ensemble aus Herzog, Amtdie ihrermann und adligen Richtern, den Indigenatsadel überhaupt seits keine homogene Größe darstellten. Den adligen Richtern, die die Klage abwiesen, stand mit Johann Ulrich v. Grotthuß ein indigener Anwalt der Müller gegenüber,63 Indigene sollen unter den Meuternden gewesen sein, ein Landesbeamter besuchte die Verwundeten, um „mit den Leidtragenden seine Thränen zu mischen."64 Die Fronde spielte die Gewerke gegen die Bürgeranion aus, fand aber wenig Gegenliebe65 und lehnte mehrheitlich den Aufruhr ab, nutzte ihn jedoch zur Desavouierung des Herzogs, der es wiederum halbherzig mit den Bürgern hielt, ohne aber deren entschiedene Instrumentalisierung zu wagen.66 Kurz, wenn oben gesagt wurde: „Die Revolution von 1789 hing [...] wesentlich von der Schaffung und Anwendung einer politischen Sprache ab, die die verschiedensten Verhaltensmodi, vom aristokratischen Widerstand bis hin zu volkstümlichen Ängsten, in dieselbe symbolische Ordnung füllte"67 so geschah eben dies nicht. Dennoch lud, viertens, auch die in diesem Sinne unschuldige Verwendung von Emblemen und Zitaten der Französischen Revolution, ja allein das Wissen um die Pariser Ereignisse die ständischen Konflikte derart auf, dass strukturunabhängig Aushandlungslösungen drastisch erschwert wurden. Biron motivierte sein Handeln nachträglich mit dem Hinweis, der Aufruhr „schien übrigens darauf angelegt zu seyn, ähnliche Auftritte, wie die in Paris zu bewürken", und wähnte bezeichnenderweise die Adelsopposition dahinter, mithin „revolutionär".68 Demgegenüber erblickte sein Gegenspieler Howen die Wurzeln der „Müller-Rebellion" in der „Frechheit unserer Jacobinischen Bürger" sowie eben herzoglicher Tyrannei.69 Insgesamt trieb der Vorfall den Herzog weiter in die Defensive und gab gleichzeitig dem Adel verstärkt Anlass, in einen Ausgleich zu willigen: Die uneindeutige Dynamik der Situation, diskrepant verschmolzene Diskurse, disfunktionale Strukturen, Abhängigkeiten von einer in augenscheinlich katastrophische Bewegung geratenen Außenwelt verunsicherten die Akteure in zunehmendem Maße und bahnten eine Wende nicht nur im Verfassungsstreit an. -

-

63 64 65 66 67 68 69

Zu ihm vgl. S. 194f., 241. Biron an Manteuffel 3.1.1793, LNB Rx 111/1/15, LVVA 554/ l/74,p. 352. Recke, Journal, S. 99, 145. Baker, Ideologische Ursprünge, ?. 265: wie oben, Biron an Manteuffel 3.1.1793, LNB Rx 111 /1 /15, Howen an Nerger 7. /18.12.1792: Seraphim, Briefe

p. 53.

S. 154. pp. 52 f. Howens I, S. 448.

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Die Agonie des Ancien

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Am 21. Januar 1793 wurde in Paris der Bürger Capet enthauptet. Spätestens nach dem Regizid und Einsetzen des Terrors verlor sich jegliche Ambivalenz aus der politischen Rede und steigerte sich die soziale Furcht zu Hysterie. Den Fürsten marginalisieren, gut und schön, aber einen König guillotinieren, die Kirche enteignen, den Adel vertreiben, im Rheinland einfallen, Aufruhr und Krieg in halb Europa war etwas anderes. Wer auch immer bis zu welchem Grad die Schuld an den Müllerunruhen tragen mochte, sie hatten die Insignien der Revolution genutzt; worauf auch immer die Bürgerunion abzielte (den „Untergang" des Adels, lautete der Vorwurf des Mémoire10) und in welcher (Nicht-) Verbindung sie zu radikalen Pamphletisten wie Ludwig Koenemann stehen mochte, sie geriet in einen brandigen Ruch. Der Adel beschwor den „jakobinischen" Charakter der Union, ihre „revolutionären" Motive und „französischen" Prinzipien.71 Überhaupt wurden „jakobinische" Umtriebe allerorten vermutet, wo die Vorrechte des Indigenatsadels auch nur milde in die Kritik gerieten,72 und als die materielle Gefahr dann real wurde, im Übergreifen des polnischen Aufstands 1794, belegte man umgehend Kosciuszko-Truppen wie unruhige Bauern mit dem Begriff.73 Die politische Rede verschob sich. Von „Despotie" war weiterhin die Rede, aber sie meinte die „Demokraten"74 mehr als den Fürsten. Ihr verabsolutierbarer Inbegriff war die Pariser Nationalversammlung, die „für 70 „Mémoire", LVVA 640/4/85, p. 372; drastischer Howen an Nerger 28.12. / 8.1.1792 /93 (Seraphim, Briefe Howens II, S. 8): Hüttel und die nichtindigenen Räte des Herzogs wollten „als wahre Jacobiner den ganzen Adel ausrotten und die unirte Bürger über denselben erheben". 71 Howen an Nerger 7./18.12.1792: Seraphim, Briefe Howens I, S. 448, mit Warnung vor einem Überspringen auf die Bauern; vgl. a. die anonymen Glossen zur „jakobinischen Frechheit" an einer Eingabe des Mitauer Magistrats, LNB Rx 111/2/9, pp. 2 ff. 72 So musste Elisa v. d. Recke zeitungsöffentlich dementieren, einem Jakobinerclub anzugehören: Dorothea an Manteuffel 11.10.1792, LNB Rx 111/1/15, p. 39; vgl. a. Recke, Journal, S. 127; privatim derweil Sympathien für die Hinrichtung Kosciuszko-feindlicher Magnaten in Polen: ebd., S. 184. Allgemein zu umlaufenden „Jakobiner"-Gerüchten auch Stepermanis, Vlijanie, S. 326. 73 v. Saß-Tadaicken an Rückmann 18.7.1794, LNB Rx 111 /1 /19, p. 144. 74 Der Begriff bürgerte sich als Lagerbezeichnung im Gegensatz zu „Aristokraten" ein, beides pejorativ geladen und Ausdruck der diskursiven Polarisierung: Recke, Journal, S. 137; dort auch zur europaweiten Verhärtung der sozial-ideologischen Fronten: „Gespräche über die französische Revolution verschlingen alle andre gesellschaftliche Unterhaltung und bringen gewissermaßen Einseitigkeit des Geistes hervor." Vgl. a. ebd., S. 167f., 215f., 259; auch Batowskis Demissionsschreiben an Rückmann, in dem er betont, „que je dénonce davance tous les propos et les projets démocratiques dont la calomnie pourroit m'accuser, que je donne un démenti formel à celui qui voudrait me les prêter, que je ne suis ni democrat, ni aristocrat,

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niemand als nur für sich selbst, für die allein freyen Zwölfhundert Könige und ihre bestochenen und mitverschworenen Meuchelmörder [...] diese Rechte des Menschen und des Bürgers entworfen hatte [...], und durch welche die wahren Rechte des Menschen, als Bürgers, geschändet und in Vergeßenheit gebracht wurden."75 Die Revolutionäre hätten „jedem Staatsbürger sein Eigenthum garantiert und raubten doch mehreren tausend das ihrige", mithin sei der alliierte Feldzug im Westen „in dem Rechte der Natur gegründet" und „der Vernunft gemäs", werde „zu Beschützung des Eigenthums und der bürgerlichen Freyheit, zur Ehre der Menschheit geführt", ja sei „der nothwendigste, der gerechteste Krieg, der seit Attila's Zeiten geführt worden". Er sei fortzusetzen bis zu einem vollständigen Sieg, der freilich angesichts des französischen Amoks keine Sicherheit für die Zukunft bieten könne, wenn er der Nation ihre Ressourcen ließ: „Frankreich muß also geteilt werden." Der Abtrennungs- und Vertauschungsplan, den der indigene Autor daraufhin entwarf, steht dem Teilungshandeln an Polen nicht wesentlich nach, von Frankreich sollte kaum mehr bleiben als die île de France. Auf die bereits beschriebene Manier werden auch hier Schlüsselbegriffe des aufklärerischen Diskurses nicht zurückgewiesen, sondern okkupiert, doch zeichnet sich der Text durch eine Aggressivität aus, die in der Form neu war, in eine neue Epoche vorauswies. Die Revolution wurde nicht mehr nur als Rechtsbruch, sondern als Zivilisationsbruch aufgefasst („hunnische Wuth"76) und daraus eine offen konterrevolutionäre Rechts- und Staatsvernichtung gerechtfertigt, die sich bis zur Ausrottungsphantasie steigern konnte: „Ah! Esclaves! en tous terms, vils et faibles, vains et cruels, vous avez encensez les Louis, qui ont régnez, et qui vous écrasoient comme des misérables insectes, vous les avez adorez, et divinisez. [...] Les nations de l'Europe s'élèvent contre vous, l'humanité offencée s'irrite, aucun Défenseur ne vous défend [...] Péris! nouvelle Babilone, la volupteuse, la séductrice, la meurtrière, péris! soit détruite sans pitié, sans miséricorde, péris! [...] Qu'ainsi Dieu de même ne t'exauce pas, qu'il te repousse dans ta misère! Et comme tu en disperse les débris aux quatre coins du monde, puisse t'il te détruire pareillement, et que ce qui -

je me borne à respecter les autorités établis partout où je me trouve comme particulier": Dorothea an Manteuffel 11.10.1792, LNB Rx 111/1/15, p. 39. v. d. Brüggensche Privataufzeichnung, LVVA 1100/2/17, pp. 60ff; dort auch das Folgende. v. d. Brüggensche Privataufzeichnung, LVVA 1100/2/17, p. 60; ähnlich Howen an Nerger 15./26.2.1793 (Seraphim, Briefe Howens II, S. 25): "verabscheuungswürdique

75

76

ge Abscheulichkeiten",

„diese Caniballen".

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échappe au glaive soit errant et fugitif, que l'apprôbre soit ton Lot, et ton nom un injure!"77 Mächtekrieg und die Unterdrückung eines nachgerade absoluten historischen Bösen wurden in eins gedacht, damit der ausgreifende (monarchische) Machtstaat zum Instrument kultureller Bewahrung und sozialen Überlebens erhoben. Insofern wird man in dem allgemein werdenden Gebrauch, Katharina II. als „unsere Schutzgöttin", „la Divinité tutélaire",78 anzurufen, mehr als Huldigungsfloskeln erblicken müssen. Er stellte gleichsam die positive Seite der unbedingten Ablehnung des Revolutionsgeschehens dar. Analog verschwand aus Heykings Schriften die emphatische Rede von der „freyen Nazion" und durch-

-

ziehen seine

später verfassten Memoiren vernichtende Urteile über die

republikanische Staatsform als solche, meist auf Polen bezogen und mit

Hinweis auf den verderblichen französischen Einfluss, unter dem die Maiverfassung zustande gekommen sei:79 „Die höllischen Maximen des Jakobinismus verbreiteten sich [...] im Norden in erschreckender Weise."80 Ob es sich ,bloß' um eine Zunftunruhe handelte, er aus der Indigenenschaft gefördert war oder nicht, in den modischen Emblemen des Mülleraufruhrs wie dem Teilhabeverlangen der Bürgerunion machte mancher das Blecken eines Monsters aus, dem gegenüber der Waffenvorteil der drei Dutzend Mann Schlosswache fragil erscheinen musste. Innere und äußere Entwicklung, Fern- und Nahwahrnehmungen der europäischen Fundamentalverwerfungen wirkten ineinander und ließen die Mehrheit der Indigenen zu einem Konsolidierungsstreben, eben der Politik der Kompositionsakte übergehen. Um die Jahreswende 1792/93 begann sich das Fenster der (Denk-) Möglichkeiten zu schließen. Die Spitzen der Fronde stellten sich nach und nach dem Herzog zur Verfügung, mit der Begründung, da dessen „Angriff auf die Privilegien des Adels" abgewehrt sei, stehe einem befriedeten Zusammenwirken nichts mehr im Weg.81 Howens Einwände aus dem fernen Petersburg, nun nicht lockerzulassen und auf einen völ-

77 v. d. Brüggensche Privataufzeichnung, LVVA 1100/2/17, pp. 55ff. 78 Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 228. Bspe.: Howen an Nerger 17./28.12.1792 (Seraphim, Briefe Howens I, S. 454); Heyking, Letzte Tage, S. 423. 79 Heyking, Letzte Tage, v.a. S. 76, 321, 345, 359, 431. Eine Reminiszenz seiner vormaligen Position unterläuft ihm, wenn er die kurländische Verfassung „dieses unförmliche Gemisch feudaler und republikanischer Grundsätze" nennt (ebd., S. 358) der Pol, auf den die ritterschaftlichen Ideen wiesen, liegt zutage. 80 Heyking, Letzte Tage, S. 469. Im Anschluss folgt ein Hinweis auf die Ermordung Gustavs III. 81 V a. Schoeppingk, Heyking und Lüdinghausen-Wolff, wobei außer politischen Motiven abermals Würden und Geld ihre Rolle spielten: Cruse, Curland, Bd. 2, S. 214; -

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ligen Triumph über den kompromittierten Fürsten zu setzen, stießen auf taube Ohren.82 Grotthuß verfasste statt Oden an die „fröhlichen Pariser" eine Hymne auf den Fürsten und die Versöhnung.83 Ein Ende des Ringens um Macht, Würden und Besitz bedeutete das zwar nicht, wohl aber, dass dessen politisch-systematisches Potential stillgelegt wurde. Ein Landtagsabschied vom 11. September 1793 hob die Bürgerunion, ,,diese[n] scheußliche[n] Koloß, dieses demokratische Ungeheuer"84, als illegale, verfassungswidrige Vereinigung auf. Er wurde vom Herzog mitgetragen und zur Gegenbestätigung nach Grodno weitergeleitet,85 wo die Entscheidung faktisch beim russischen Gesandten v. Sievers lag. Heyking kombinierte geschickt die beiden Krisentopoi, äußeren Machtkampf und Revolution, indem er die Städter als „den entschiedensten Grundsätzen des Jakobinismus" verpflichtet vorstellte und darauf hinwies, dass „die Bürger-Union in dem Augenblicke, da Rußland mit Schweden im Kriege begriffen gewesen und auf den Ufem und Gränzen Kurlands das Getöse der Kanonen empfunden worden, ihren Anfang genommen" habe, mithin nur folgerichtig später vor dem „Warschauer Revoluzions-Reichstage" aufgetreten sei.86 Am 19. November bestätigte eine Reichstagskonstitution zugleich mit der Kompositionsakte den Abschied vom 11. September.87 Damit war der offene Ständekonflikt zu einem Abschluss gekommen. Von Stabilität konnte indes keine Rede sein. Politisch-rechtlich frustriert, war der nichtindigene Teilhabeanspruch keineswegs erloschen. Polen war zum zweiten Mal geteilt, die Verfassung gewaltsam auf den Status quo ante zurückgesetzt,88 doch die das Mächteverdikt nicht hinnehmen wollten, begannen im März 1794 eine Erhebung, die nicht mehr dem Muster der Konföderationen folgte, sondern als revolutionärer NaRichter, Geschichte, Bd. 3, S. 226; Heyking, Letzte Tage, S. 392, 395 f., 419; Etwas aus der Lebensgeschichte... (wie S. 100, Anm. 4), LVVA 640/2/254, p. 11. 82 Howen an Nerger 7./18.1.1793, ders. an Mirbach 22.2./5.3.1793: Seraphim, Briefe Howens II, S. 15,28. 83 „Gesang der Freiheit": Seraphim, Geschichte, S. 341. 84 Lüdinghausen-Wolff, nach Seraphim, Geschichte, ?. 341; noch 1805 nannte Wolff die Union rückerinnernd eine „vielköpfige Hyder": LVVA 7363/3/363, p. 4. Schwartz, Staatsschriften, Nr. 265f., S. 433 ff. Exposé Heykings: Schwartz, Staatschriften, Nr. 265, S. 433 ff, Zt. S. 434; dies richte sich ausdrücklich nicht gegen die Privilegien der Städte, sondern allein gegen die Verbindung einzelner. Als Kronzeugen werden die beschwerdeführenden Gewerke zitiert. 87 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 266, S. 435 ff. 88 Müller, Teilungen, ?. 51 ff; dort auch zum Nexus zwischen erster und zweiter Teilung, Kriegsverlauf im Westen und Partagepolitik. 85 86

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Régime

konzipiert war. Tadeusz Kosciuszko wurde zum Diktator ausgerufen, unter der Losung „Freiheit, Einheit, Unabhängigkeit" die (Wieder-) Herstellung von Verfassung, Territorialbestand und Souverä-

tionalaufstand

nität als Ziel gesetzt, in Absicht auf eine Levée en masse den Bauern persönliche Freiheit und Lastenminderung in Aussicht gestellt, Neutralität ausgeschlossen: „Wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns!"89 Nach dem Sieg der Insurgenten bei Rastawice am 4. April weitete sich der Aufstand zum Flächenbrand, die Russen wurden blutig aus Warschau vertrieben. Heyking, der auf dem Rückweg von Petersburg fliehenden russischen Offizieren begegnet war, brachte Nachrichten aus erster Hand über „diese entsetzliche Schlächterei, die der Sizilianischen Vesper in Allem ähnlich war" und der in Wilna „eine ähnliche Metzelei" gefolgt

sei.90

Mitte Mai liefen Berichte in Mitau ein, dass Polangen in der Hand der Aufständischen sei.91 Von dort bis Memel wimmele es von bewaffneten Bauern, die einen Angriff auf Libau planten; die Gutsbesitzer von Telsch hätten beschlossen, von je 50 Rauch einen Bewaffneten gegen die Russen zu stellen; die litauischen Schmieden stünden nicht mehr still, selbst Frauen und Mägde würden mit Piken und Halbmonden ausgerüstet, die Leibeigenen im Schießen unterrichtet, die Juden armierten sich. Im Schodener Gebiet, hieß es, erwarte man täglich Ordre, auf Mitau zu marschieren. Und „daß sie in Kurland die Freyheit die in Frankreich existirt einführen wollen, und den Anfang durch Umbringung des Adels machen" käme es zur Aufwiegelung durch das „Freyheits Sistem", dann „würde das Feuer dieser Bauern größer seyn als in Litauen";92 dort stehe bereits „auf jede Mine, auf jedes Wort der Strick in Bereitschaft", weshalb die Kurländer an der Grenze sämtlich „emigriert" seien.93 Noch vor Beginn der Kämpfe in Kurland war keine Tatarenmeldung zu wüst, als dass sie nicht zur Panik hätte beitragen können. Tatsächlich erfolgte um den 24. ein Vorstoß der Konföderierten auf -

-

89 Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 193. Zur Bredouille, in die das Parteinahmegebot zunächst die in Litauen besitzlichen Kurländer brachte, s. Heyking, Letzte Tage, S. 420; vgl. a. unten zu Heinrich v. Mirbach; deutsche Übersetzung des Universals von Potaniec für Kurland: LVVA 640/4/207, pp. 97f. Wohlgemerkt, es geht hier nicht um eine ideologische Verortung des Kosciuszko-Aufstands, sondern um dessen Rezeption und deren Wirkung. 90 Heyking, Letzte Tage, S. 418f. Die Russen waren aus Warschau am 17./18.5., aus Wilna am 23.5. vertrieben worden: Stepermanis, Atbläzma, S. 105. 91 Auch zum Folgenden Stepermanis, Atbläzma, S. 106ff.; Liebeskind, Rükerinnerungen, S. 381 ff.; Depesche Rückmanns 4./15.5.1794, LNB Rx 111 /1 /19, p. 66. 92 Meldung an Rückmann 5./16.5.1794, LVVA640/4/207, pp. 65f. 93 Bericht an Rückmann 19.5.1794, LNB Rx 111 /1/19, pp. 73 f. -

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Libau und lief um, Mitau sei unsicher, „wo sich dann die blutigen Szenen von Warschau wiederholen und die Feinde der Freiheit und Gleichheit' bestraft werden würden. In dieser furchtbaren Unruhe flüchteten viele Familien nach Riga oder an die Grenze Livlands."94 Allerdings zogen sich die Polen wieder zurück, nachdem sie 1500 Büchsen und mehrere Zentner Pulver erworben (!) hatten.95 Erst Ende Juni besetzten sie die Stadt. Sofort flammten abermals Gerüchte auf, die Aufständischen massakrierten jeden Russen, dessen sie habhaft würden was sich nicht bestätigte.96 Doch das Bild henkender „Jakobiner" und einer entfesselt mordenden Plebs beherrschte die Phantasie großer Teile der Elite, gesteigert durch ein Gefühl äußerster Schutzlosigkeit. Der Herzog hatte sich nach Grünhof, dann Ruhental zurückgezogen und wissen lassen, das halbe Tausend Landestruppen genüge ohnehin zur Sicherung der Grenzen nicht, zumal der Aufstand im Land Anhänger habe. Und wiewohl ihm die Stationierung eines rassischen Korps bei Bauske recht war, das Mitau gegen einen Handstreich von Süden decken sollte,97 zauderte er, das Herzogtum unter Katharinas Schutz zu stellen, weil das die Insurgenten erst recht provozieren könne. Erst gegen die Zusicherung strenger Geheimhaltung bis zum Eintreffen hinreichender Verbände willigte er in ein entsprechendes Schreiben an die Zarin ein.98 Was folgte, war Unübersichtlichkeit. Die Aufständischen drangen vor, unter Befehl eines Heinrich v. Mirbach, in Litauen ansässigen Bruders des Landesbevollmächtigten, der später vielfach bezeugen ließ, dass er gezwungen gehandelt und alles nur Mögliche getan habe, die Auswirkungen der Besetzung zu mildern.99 In Libau selbst wurden die herzoglichen Lizenten- und Zollkassen beschlagnahmt (gegen Quittung),100 vereinzelt rassische oder den Russen verbundene Kaufleute geplündert, einige Arreste verhängt,101 doch blieb die Ordnung im wesentlichen gewahrt, zumal sich die Bürgerschaft in der Tat relativ kooperationsbereit zeigte Libau war Hauptort der unzufriedenen Nichtindigenen.I02 Allein ,

-

-

94 Heyking, Letzte Tage, ?. 420 f. 95 Stepermanis, Atbläzma, ?. 110; Liebeskind, Rükerinnerungen, S. 377. 96 Meldungen an Rückmann 22.6./3.7., 8./19.7.1794: LVVA640/4/207, pp. 70, 73. 97 Stepermanis, Atbläzma, ?. 107. 98 Heyking, Letzte Tage, S. 420, 422. 99 Stepermanis, Atbläzma, S. 111, 195 (Anm.); dass Mirbach gezwungen worden sei, bekundete bereits ein Agentenbericht an Rückmann vom 16.8.1794: LNB Rx 111 /1 /19, p. 192. Zum militärischen Verlauf Majewski, Poczqtki. 100 Bericht an den Herzog 5.9.1794, LVVA 640/4/207, pp. 76f. 101 Korrespondenz Rückmanns 20.-26.9.1794, LVVA 640/4/207, pp. 78ff. 102 Stepermanis, Atbläzma, S. 111; angebliche Unterstützungsleistungen der Stadt Libau: ebd., S. 118f.; russische Strafkontribution von 20000 Dukaten und Verwah-

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auf dem Land brauchten 20000 bis 30000 Invasoren, in der Masse mehr oder weniger notdürftig ausgerüstete, vorwiegend bäuerliche litauische Rekruten, Fourage und behalfen sich mit Übergriffen, Drohungen, Festnahmen, vor allem Requirierungen.103 Da das reguläre russische Militär den Insurgenten überlegen war, mit knapp 10000 Mann jedoch überdehnt,104 bildete sich keine klare Front, sondern ein breiter Gürtel uneindeutiger Vorherrschaftsverhältnisse in den Oberhauptmannschaften Goldingen und Tuckum sowie im Piltenschen Kreis, praktisch dem gesamten Kurland im engeren Sinne. Darüber wurden die Bauern unruhig. Wenn Friedrich v. Fircks zehn Jahre später gegen Merkel schrieb, nur ein herzogliches und vier private Güter seien „gefolgt", ansonsten die Leibeigenen still geblieben oder hätten sich gemeinsam mit ihren Herren gegen die Requirierungen verteidigt,105 mag letzteres bisweilen der Fall gewesen sein,106 ersteres jedenfalls trifft nicht zu. Die Herren „lachten" keineswegs über die Gefahr. Mindestens drei Dutzend Güter meldeten akuten Aufruhr, vereinzelt bis aus Semgallen, also weit über den Machtbereich Mirbachs hinaus.107 Grundsätzlich wuchs die Rebellionsbereitschaft, sobald polnisch-litauische Einheiten in der Nähe waren, beim Auftauchen der Russen ebbte sie ab.108 Jedoch brach keine Jacquerie aus. Weder vereinigten sich die Bauerschaften über die jeweiligen Nachbarschaftskreise hinweg, noch gingen sie en masse eine Allianz mit der Insurrektion ein, noch übten sie ernstzunehmende Gewalt gegen Personen, auch lokal nicht. Vielmehr prägten Leistungsverweigerung, Arbeitsniederlegungen und Zusammenrottungen, Drohgebärden und nebulöse Freiheitsvorstellungen, Plünderungen von Speichern und Krügen, Verwüstungen von

103

rung der Stadt dagegen, man möge sich an die (wenigen) „Verräter" halten: LVVA 640/4/207,pp. lllff.; LNBRx 111/1/19, p. 140. Berichte an Rückmann Juni /August 1794,LNBRx 111/1 /19, pp. 109f, 140, 144,

168ff„ 176, 178, 192. 104 Außer die

Mitaus zu gewährleisten, mussten sie mit fouragierenden bis ins semgallische Oberland fertigwerden: Oberstleutnant Hieronimus v. d. Osten-Sacken an die Dünaburgischen Gutsbesitzer 18.8.1794, LVVA 640/4/207, pp. 90ff. Fircks, Die Letten in Kurland, S. 76 ff. Auch zahlreiche Gesinde wurden geplündert und Erbleute gegen ihren Willen gepresst: Bericht an den Herzog, LVVA 640/4/207, p. 83; LTA 1795, ebd./92, pp. 160ff.; vgl.a. die Berichte an Rückmann wie Anm. 103; Isolierung der Aufrührer auf Katzdangen: Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, pp. 39f. Aufruhrmeldungen Juni/Juli 1794 an den Herzog bzw. Rückmann, LNB Rx 111/1/19, pp. 109f., 114, 138, 152, 169ff.; s.a. Stepermanis. Atbläzma, v.a. S. 120 f. Berichte (an Rückmann?) 21.7., 27.7.1794: LNBRx 111/1/19, pp. 170, 176 ff.

Insurgenten 105 106

107

108

Deckung

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Feldern das Bild.109 Drastische, nicht wiedergutzumachende Schritte unternahmen die Gutsuntertanen in den seltensten Fällen. Gewiss, etliche Besitzer waren geflohen. Doch ausschlaggebend scheint neben Furcht vor drakonischen Strafen nach einer stets denkbaren, wenn nicht wahrscheinlichen Wiederherstellung der Ordnung eine programmatische Überforderung durch die Situation gewesen zu sein. In einem Hilfegesuch an den Herzog schildert Otto Heinrich v. Stromberg die Revolte auf Groß-Wirben:110 „Bey meinem gütigsten und nachsichtsvollsten Benehmen gegen meine Erbunterthanen, wovon mir der beste Wohlstand derselben und diese ganze Gegend das lauteste und sicherste Zeugnis geben wird und kann, hat sich dennoch wieder mein Vermuthen meine aus gegen fünfzig Gesindern bestehende Bauerschaft mit Ausnahme einiger weniger hievon, durch den Schwindel jezziger Zeit hingerissen, beikommen lassen," morgens um vier, mithin während er gewöhnlich noch schlief, „mit Schießgewehr und Knüppeln bewaffnet" vor dem Gutshaus zu erscheinen und in groben Worten „mit Mord und Totschlag" zu drohen, sollte man sie von der Haustüre entfernen oder auch nur anrühren. Seine Erbleute verkündeten Stromberg „die Gleichheit und Gemeinschaft meiner Güter und Vermögens mit ihnen, und daß ich und meine Familie ihnen bald werde Frondienste leisten müssen". Sie forderten ihm die Hofesleute ab, kündigten für sich und diese Gehorsam und Untertänigkeit auf und zertraten einen Teil der Gutsfelder, begannen, dem Hof „weiteren Schaden zuzufügen" und endlich zu „deliberiren", ob sie Stromberg und seine Familie „aufhenken oder zerreißen" sollten. Das dauerte bis acht Uhr abends, anschließend zogen die Aufständischen ab, lagerten jedoch in der Nähe und kehrten zwei aufeinanderfolgende Tage lang zurück, um zu erklären, sie würden keinerlei Fron mehr leisten, und zu beraten, wie man die Strombergs ums Leben bringen könne, sich mit den umliegenden Bauerschaften verbinden, des Herrenbesitzes bemächtigen und überhaupt alle Herrschaft „vertilgen". Dann lösten sie sich auf und gingen zurück auf ihre Gesinde. Strombergs Bauern hatten offensichtlich einen Aktionsplan sie kamen, während er mit Sicherheit im Haus war und ein grundsätzliches Anliegen: Freiheit, vor allem von der Fron. Konkret holten sie die auf das Gut verpflichteten Erbleute ab, nicht zuletzt Arbeitskräfte, die man -

-

auf den Gesinden vermisste. Darüber hinaus hatten sie eine vage Vorstellung, dass sich gemeinschaftlich mit den Untertanen der Nachbargebiete jede Herrschaft abwerfen und das Land verteilen ließe, versetzt 109 Wie Anm. 107. 110 LNBRx

111/1/19, pp. 149ff. Der Bericht beginnt mit dem 15.7.1794.

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mit Phantasien umgestülpter Hierarchie. Doch wiewohl Nachrichten von Meutereien auch aus der weiteren Umgebung kamen, materialisierte sich nichts davon. Der Aufruhr blieb in einer destruktiven Aggressivität gefangen,111 die die Herrschaft materiell schädigte und sich einer ausgiebigen, gespenstischen Erörterung hingab, wie man sie als Chiffre aller Herr(en)schaft töten könnte. Von einem Vergleichsangebot, etwa erleichterten Fronen, zurückgenommener Strafpraxis, modifizierten Boden- oder Hölzungsrechten, überhaupt von einem konkreten Anlass der Unzufriedenheit und damit im (notfalls symbolischen) Kompromiss realisierbaren Forderungen wird nichts berichtet."2 Derweil klingt Strombergs Hinweis auf die vergleichsweise akzeptable Lage seiner Leute nicht unplausibel, da er weder geflohen war noch wenigstens seine Familie in Sicherheit gebracht hatte. So ergibt sich ein Bild, das von den im ersten Kapitel geschilderten Widerstandsformen absticht. Eben weil kein punktueller, konkreter Auslöser vorlag, setzte der flächendeckende Zusammenbruch der Ordnung ein drastisches Spiel frei, ohne eine handhabbare Aushandlungssituation herzugeben, wie sie sonst der utopischen Rhetorik den Kontext verlieh. 'l3 Ein Agieren auf den utopischen Zustand selbst hin blieb jedoch gleichfalls aus. Die „revolutionäre Situation" war virtuell, ein Sich-Erzählen der ungeahnten Möglichkeiten, ohne diese zu erfassen die Situation war nicht fasslich. Es klang an, was die Indigenen befürchtet hatten, doch in einer inhibierten, im Sprung erstarrten Form: Den Bauern fehlte im Gegensatz zu ihren Herren ein Begriff von Revolution. Sie waren vertraut mit der Ausnahmetechnik des Ausstandes oder der Meuterei, um die zu ihren Lasten verletzte Ordnung wiederherzustellen, sie konnten sich deren völlige Negation oder symbolische Umkehrung als eschatologische Visionen ausmalen, aber sie vermochten die Suspension der bestehenden Ordnung nicht als Fenster zu einem historischen Strukturwandel zu begreifen und die verletzlich gewordenen Repräsentanten „des Systems" aufzuknüpfen. Ohne einen Geschichtsbegriff bedeutete die Vertilgung der Symbole der unzeitlich bestehenden Ordnung den Schritt aus aller weltlichen Ordnung. Das war -

111

Vgl. gen

112

a. u.

Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 205: Waldbrandstiftung in Dondan-

ä.

Zerstörungen.

Stepermanis, Atbläzma, S. 122, liest das „Abtreten" der Felder als Umverteilung,

was im Textzusammenhang der Quelle aber keinen Sinn ergibt. 113 Dazu exemplarisch Kahk, Dreieck-System, S. 92ff.; zur Vermeidung gewalttätiger Konfrontation ders., Der Bauer in der Literatur, S. 363; blutrünstige Rhetorik als uneigentliche Rede: ders., Bauer und Baron, S. 154.

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eine Überforderung. '14 Dass nicht allein vorsichtige Klugheit oder letzte Gewaltscheu den irreversiblen Umsturzakt verboten, zeigte sich dort, wo eine der hergebrachten ungleiche, aber kongruente Ordnungsmacht gegen einen Stellvertreter der Herrschaft antrat, der selbst als der Ordnung äußerlich aufgefasst werden konnte: Teils einzeln, teils in größeren Gruppen gingen Gutsuntertanen zu den Insurgenten über, versteckten sie, ließen ihnen Hilfe und vor allem Informationen zukommen oder baten sie ihrerseits um Hilfe und ermöglichten damit einen Guerillakrieg gegen die Russen, an dem sie gegebenenfalls teilnahmen, als diese im Verein mit dem Landesbataillon gegen die Konföderierten vorgingen beziehungsweise die rebellierenden Güter zu befrieden versuchten.115 Angesichts einer „fremden" Macht waren sich die Gutsuntertanen offensichtlich ihrer Optionen sicherer als gegen die „eigenen" Gewalthaber die Ordnung an sich. Die militärische Lage blieb verworren bis zum Rückzug der Insurrektionstrappen in der zweiten Augusthälfte. Anschließend zerbrach die Herrschaft noch von Gebiet zu Gebiet, wurde wieder hergestellt, schwankte labil, stabilisierte sich aber innerhalb einiger Wochen.116 Wesentlich zu der Entwicklung beigetragen hatte Mirbachs in der Tat mehrdeutiges Agieren. Zwar versuchte er, die „Edelleute, Insaßen und Einwohner" Kurlands zum Treueid auf das revoltierende Polen-Litauen und Kosciuszko zu zwingen, wobei die Erbherren zudem eine vage „Freiheit der Bauern" beschwören mussten.117 Doch gestand Mirbach zu, dass das Emanzipations-Universal von Polaniec nicht auf Kurland übertragbar sei, zu Wirrnis und Ruin führen würde. Er ließ es vorderhand nur in der Libauer deutschen Kirche verkünden, wo die Anwesenheit von Bauern praktisch ausgeschlossen war, und bedeutete den monströs

-

-

114 Grundsätzlich zu diesem Phänomen der rhetorisch brutalen Revolte ohne Systemalternative Kahk, Dreieck-System, v.a. S. 92, 94. Einzelne Gewaltakte aus Wut, Rache oder Notwehr stellen eine anders gelagerte Erscheinung dar. 115 Berichte an Rückmann 27.7., 30.7.1794: LNB Rx 111/1/19, pp. 175ff; Stepermanis, Atbläzma, S. 119ff.; vgl. unten zur Propaganda. Bezeichnenderweise konnte die Militarisierung der litauischen Bauern unter Führung „ihrer" Herren zumindest teilweise gelingen. 116 Stepermanis, Atbläzma, S. 127ff. 117 Stepermanis, Atbläzma, S. 111 f.; Text des Eides: LVVA 640/4/207, pp. 96f., wo auch nochmals der Eidverweigerer zum Vaterlandsverräter erklärt wird. Stepermanis, a.a.O., S. 113, und mit ihm Donnert, Kurland im Ideenbereich, S. 202, interpretieren die Kurzformel, die mit „Vaterland", „Nation" und „Volk" operiert, ohne explizit Polen zu erwähnen, als erleichterndes Zugeständnis; angesichts der von Donnert selbst zwei Seiten vorher zitierten Schriftform scheint das aber kaum

zwingend.

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übrigen Pastoren, auf eine modifizierte Version zu warten."8 Den Guts-

besitzern erklärte er in einem äußerst moderaten Rundschreiben, dass es selbstverständlich um eine „vernünftige Freiheit" gehe, nicht etwa jeder die Fron verweigern oder von den Feldern fortlaufen könne, wie es ihm gerade einfalle; auch sei es nicht sinnvoll, im Krieg eine neue Ordnung einzuführen."9 In einem Universal unter dem 5. Juli schlug er zunächst einen anderen Ton an:120 „Bauern! Es ist der polnischen Nation bekannt, daß Ihr bis jetzt ein trauriges Schicksal gehabt habt, daß ein großer Theil Eurer Herren [Euch] tyrannisirt, das Niemand von Euch wußte, ob der Acker, den er mit blutigen Händen urbar gemacht [...], noch nach wenigen Stunden sein seyn würde" lenkte dann aber um, keine Nation könne solches Unglück besser verstehen als die um ihr Land beraubte und geteilte polnische und markierte als Feind die russischen Truppen, die „bey ihrem Einmarsch unsere Väter und Brüder mordeten, unsere[n] Weiber[n] [...] die Frucht aus dem Leibe peitschten, ihnen die Brüste abschnitten und den Kindern, die jetzt keine Nahrung mehr hatten, die Barmhertzigkeit erwiesen, sie auf Spießen zu spicken und so lange herum zu tragen, bis ihre Mordbrüder, unsere Häuser geplündert, und unser Land verwüstet hatten." Mochten also einige Herren Tyrannen sein die Russen waren Bestien. Gegen sie als „allgemeinen Feind und Gewaltthäter" forderte Mirbach am selben Tag alle Stände zum Kampf auf,121 bot seinen Mitbrüdern „die Hand zur Abschüttelung des Despotischen und sklavischen Joches" und versicherte sie abermals ihrer Person, ihres Eigentums wie ihrer Privilegien, versprach dem „verehrungswürdigen geistlichen Stand" jeglicher Konfession, für die „Achtung der Religion Sorge zu tragen", und wandte sich neuerlich an „Ackerleute und Unterthanen": „Euren Herren den schuldigen Gehorsam leistet, und die Abgaben Eurer Gemeinde entrichtet. Die polnische Nation verspricht Euch dafür Sorge zu tragen, daß das Recht über Leben und Todt den Gutsbesizzern, da solches einem Particulier nicht competiret, genommen werden solle, ingleichen daß Ihr die nehmliche Rechte, Privilegien und Sicherheit erhalten sollet, die die Leute unsrer Nation haben." Allen zusammen wurde ein ordentliches Betragen der Aufstandssoldaten bei Verlust deren Ehre und Leben zugesagt. Die Fouragierung dekla-

-

118 Stepermanis, Atbläzma, S. 114 f. 119 Stepermanis, Atbläzma, S. 115. Der dilatorische Hinweis, dass jedenfalls „die Früchte des Krieges" nicht während des Krieges zu genießen seien, stand in direktem Widerspruch zum 3. Punkt des Kosciuszkoschen Universals; vgl. LVVA 640/4/207, p. 98. 120 LVVA 640/4/207, p. 95. 121 LVVA 640/4/207, pp. 95f.

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rierte Mirbach als eine Art patriotischer Spende nach eigenem Ermesstellte aber zugleich jedem „Verräter" und Eidverweigerer Konfissen kation oder Schlimmeres in Aussicht. Nun geboten die kurländischen Gutsbesitzer gar nicht über das Leben ihrer Erbleute. Die verheißenen Rechte der polnischen Bauern dürften höchsten der Landeselite ungefähr bekannt gewesen sein. Nichtsdestoweniger, Mirbachs Erklärung, auch Gerüchte über das eigentliche Universal, die von den Hilfstruppen verbreitet wurden oder von Agitatoren ausgestreut, nicht zuletzt kontraproduktive Gegenpropaganda trugen dazu bei, das Landvolk in unbestimmte Hoffnungen auf „Freiheit und Gleichheit" zu versetzen.122 Proviantierang, Eideseinforderung und Rekrutierung123 arteten naturgemäß immer wieder in Plünderung und Repression aus, zumal die niederen Ränge dem indigenen Adel deutlich weniger zugetan waren als ihr Oberbefehlshaber.124 „Was sich nicht anschließt, wird geplündert, gebrandschatzt und verwüstet", schrieb Rückmann, alarmistisch übertreibend.125 Insgesamt waren Mirbachs Befehle und ihre Exekution eher dazu angetan, allgemein Verwirrung zu stiften, als die eine oder andere Gruppe für die Aufständischen zu gewinnen. Trotz Eigentums- und Rechtsgarantien hielten sich Adel und Klerus, aber auch die Mehrheit der Stadtbürgerschaften nach Möglichkeit von der Sache Kosciuszkos fern. Man lavierte, versuchte die Eidesleistung zu umgehen, kooperierte nicht oder widerwillig, meldete sich krank oder setzte sich ab.126 Vor allem die Unruhe der Bauerschaften wurde als Menetekel der Revolution gelesen. Die betroffenen Gutsbesitzer erlebten sie als eine Erschütterung wie seit Generationen nicht. Die Todesangst eines Heinrich v. Stromberg war alles andere als virtuell,127 nicht minder die eines Korff-Aiswicken, nach dessen schwangerer Frau polnische Offiziere -

122 Karlsons, Brivibas propaganda, S. 511 ff.; Stepermanis, Atbläzma, ?. 99ff., 116f. 123 Von je fünf Gesinden bzw. drei Stadtbürgern war ein Fußsoldat zu stellen, von 25 Gesinden bzw. fünf Bürgern ein Reiter: Stepermanis, Atbläzma, ?. 117, 119; herzoglicher Versuch zur Gegenmobilisierung der Domänenjäger, Wildnisbereiter etc. : ebd.,S. 118. 124 Stepermanis, Atbläzma, S. 120f. 125 Zt. nach Stepermanis, Atbläzma, S. 118. 126 Berichte an den Herzog bzw. Rückmann Juni/Sept. 1794, LNB Rx 111/1/19, p. 109; LVVA 640/4/207, pp. 62f, 72ff., 85 ff., 90. Geschichte Katzdangens, ebd. 1100/9/76, pp. 40f. 127 Er forderte auch im Namen seiner Nachbarn dringend militärischen Schutz und erbot sich zudem, die Truppen zu unterhalten, um eine Wiederholung des Spuks zu verhindern: LNB Rx 111 /1 /19, p. 151.

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„4 Mahl geschoßen, aber gefehlt" hatten,128 die der zahlreichen Flüchtlinge und Geschädigten, die wähnten, ,,[w]enn die Sache in Pohlen nicht balde beendigt wird, so geht es wie in Frankreich, wo die sansculottes Herren sind, und alles übrige umgebracht wird."129-Mochten bis da-

Handlungsweise der kurländischen Indigenen jeweiligen Machtlagen entsprochen haben, der diskursive Umschwung auf die Greuelnachrichten hin übertrieben und labil sein, mit dem Kosciuszko-Aufstand verfestigte sich die neue Rede. hin rhetorisches Auftreten und

Staatsabwälzung Bereits am 18. Mai hatte der Rigaer Zivilgouverneur Peter v.d. Pahlen Mitau besucht, um mit Rückmann, Mirbach und Heyking über die Lage zu konferieren. Im Anschluss an die Besprechung äußerte er, gleichsam privatim: „Sie sehen gewiß ein, daß, da jede gesetzliche Ordnung in Polen zerstört und die Verfassung gänzlich über den Haufen geworfen ist, Kurland sich nicht mehr dieser aufgelösten Regierung als unterworfen betrachten kann. Ich spreche zu Ihnen nicht als russischer General, sondern als Kurländer, der in unserem gemeinschaftlichen Vaterlande besitzlich und daher an der Erhaltung desselben um so mehr interessiert ist. Es bleibt uns nur übrig, den Schutz der Kaiserin anzurufen, ohne den unsere Provinz unfehlbar die Beute barbarischer, Alles verwüstender und plündernder Horden sein wird."130 Indem Pahlen auf die objektive Schutzbedürftigkeit der Landschaft hinwies, den subjektiven Revolutionshorror des Adels ansprach und den Lehnsnexus als bereits gelöst darstellte, eröffnete er das zähe Ringen um den Übergang Kurlands an Russland, bei dem es kaum mehr um das Ob, de facto wohl auch nicht um das Wie ging, sondern um Formen, zeitliche Abstimmung und damit zusammenhängend persönliche Vorteile. Pahlen, zu der Aufforderung instruiert oder nicht,131 handelte zunächst im Sinne seines Hofes, dem daran gelegen war, militärisch frei operieren zu können und sich gleichzeitig in eine günstige Position gegenüber den Partnern, oder eher Konkurrenten, bei einer absehbaren dritten Teilung Polens zu manövrieren.132 Heyking fasste die Sache umgehend auf, Briefaus Libau 21.7.1794, LNBRx 111/1/19, p. 170. Brief aus Libau 21.7.1794, LNB Rx 111 /1 /19, p. 170. Heyking, Letzte Tage, S. 421. Pahlen war 1778 rezipiert worden: DBBL, S. 574f. Ostermann jedenfalls war offenkundig nicht eingeweiht; die genauen Absichten Katharinas kannten wohl nur Zubov, Markov, Repnin und eben Pahlen: Heyking, Letzte Tage, S. 425, 428, 455. 132 Hintergrund: Müller, Teilungen, S. 52 ff.

128 129 130 131

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brachte Biron zu dem erwähnten Hilfegesuch an Katharina und empfahl dem Herzog, nachdem dieses „mit Befriedigung" aufgenommen worden war, nun „nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben", einen Landtag auszuschreiben und den Schritt im Verein mit der Ritterschaft offiziell zu

machen.133

Der Landtag wurde ausgeschrieben und beschloss unter dem 12. Juli, „Ihro Kaiserliche Majestät aller Reußen anzuflehen, Uns in Allerhöchst dero spezielle Protektion und Obhut bis zur wiederhergestellten Ordnung der Dinge in Polen zu nehmen und Uns bei Unserer zeitherigen Staatsverfassung zu erhalten."134 Das war zunächst nicht mehr als ein Garantie- und Schutzersuchen in bekannter Form, ohne Hinweis auf staatsrechtliche Veränderung. Der Landesbevollmächtigte Mirbach hatte weitergehen wollen, doch waren dem die Oberräte unter Führung Wolffs entgegengetreten, „weil wir sonst unsere gute Absicht, alles ohne Widerspruch ins Werk zu richten, verfehlen würden".135 Es war klar, wohin die Reise gehen sollte, aber noch bestand Polen und hatte Parteigänger in Kurland; eine einmütige, reibungslose Schutzsuche musste allen Beteiligten wünschenswerter erscheinen als eine verfrühte, rechtlich fragwürdige und faktisch nur von einer Minderheit getragene Aufsage an den Suzerän. Fürst Repnin als Generalgouverneur von Livland zeigte sich zufrieden und sicherte im Namen der Kaiserin Garantie und Schutz

zu.136 Nach der Niederlage Kosciuszkos und der Einnahme von Warschau 4./5. November begann der Wettlauf um das Verdienst, der Zarin die Oberherrschaft dargebracht zu haben. Am 18. November bat Biron Vizekanzler Ostermann um einen Wink, „si le moment propice et tant désiré et déjà arrivé, et si nous pouvons nous occuper finalement de l'heureuse soumission féodale [!] de la Courlande au sceptre glorieux de l'immortelle Catherine."137 Das war noch eben rechtzeitig, bevor unter dem 19. in der herzoglichen Kanzlei ein Deliberatorium Howens produziert wurde, das aufs bitterste das fortdauernde Unrecht, die Verfassungsbrüche und endlich das paktenlösende Schutzversagen Polens geam

133 134 135 136

Heyking, Letzte Tage, S. 426, 428. Heyking, Letzte Tage, S. 443 (Beil. d. Hg.). Wolff an Pahlen 13.6.1794, LVVA2344/1/3, p. 3; vgl. a. ebd., p. 5. Heyking, Letzte Tage, S. 444ff. (Beil. d. Hg.). Die Formel „bis zur wiederherge-

stellten Ordnung" etc. war rasch konsensfähig; das Misstrauensvotum einer starken Minderheit gegen Mirbach scheiterte zwar, bestätigte aber die Vorsicht der Gruppe um Wolff: ebd. Vgl. a. Recke, Journal, S. 192. 137 Heyking, Letzte Tage, ?. 441 f. (Beil. d. Hg.); vgl. a. ebd., S. 428, zur Konkurrenz zwischen Pahlen und Howen.

252

Die Agonie des Ancien

Régime

genüber Kurland anklagte, die bevorstehende Auflösung der Republik konstatierte und auf eine gemeinsame Absage an diese Oberherrschaft durch Herzog und Landschaft zugunsten Russlands antrug.138 Biron und seine Räte protestierten gegen Howens Eigenmächtigkeit, erhielten aber erst unter dem 20. Dezember als Antwort Ostermanns eine Einladung an den Herzog nach Petersburg, „afin que l'on puisse discuter et arranger" die Angelegenheit.139 Russland hatte den Teilungsverhandlungen mit Österreich nicht vorgreifen wollen, die am 23. Dezember/ 3. Januar abgeschlossen wurden.140 Heyking ging sofort ab, Herzog und Oberräte folgten und trafen am 7. Februar in Petersburg ein. Doch bereits unter dem 19. Januar hatte Howen von dort aus einen Anhang zu seinem November-Deliberatorium eingebracht, in dem nun von einer „ganz unbedingten" Unterwerfung die Rede war, da jedes Recht Polens erledigt sei, die Zarin als Besitzerin Litauens ohnehin einen Oberherrschaftsanspruch erworben habe und es endlich so unbillig wie lächerlich sei, „mit der größten Souveräne und Schiedsrichterin Europens über die Bedingungen traktiren zu wollen, unter denen wir von Allerhöchstderselben den für uns unentbehrlichen Schutz erflehen wollen".141 Als Biron schon aus Kurland abgereist war, gab Mirbach der Sache die Spitze: „Nachdem die suzeräne Macht Polen zu existieren aufgehört hat, ist die Ritterschaft in den Besitz ihrer ursprünglichen Rechte getreten und kann sich daher direkt Rußland unterwerfen, ohne daß nötig wäre, zusammen

138 LVVA 640/4/92, pp. 68ff. Das Deliberatorium war von 13 Indigenen unterzeichnet, für weitere 22 in Vollmacht; als verfassungsrechtliche Modifikation griff es im wesentlichen nur die Anregung zu einem vom Oberratskollegium getrennten Obertribunal wieder auf. Howen, obgleich Oberburggraf, operierte dabei gegen den ausdrücklichen Willen des Herzogs in Petersburg und Riga: Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 228; LVVA 640/2/254, pp. 10, 13f. 139 Heyking, Letzte Tage, S. 453 (Beil. d. Hg.). 140 Heyking, Letzte Tage, S. 492f. (Beil. d. Hg.). Dort auch zur abschlägigen Antwort der russischen Seite an den preußischen Gesandten Tauentzien vom Oktober 1794, der für seinen Hof einen Teil der kurländischen Küste, v. a. den Hafen Libau beanspruchte: Kurland als Teilungserwerb war für Russland zumal nach dem militärischen Erfolg nicht verhandelbar, insofern auch die kurzfristige Erörterung einer preußischen Option auf den Piltenschen Kreis (ebd.) von vornherein hinfällig. Vgl. a. Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 195 ff; HBGR, Bd. II.2, S. 622. 141 LVVA 640/4/4, p. 183. Unter dem 28. Januar traten 14 Indigene dem Anhang bei, die für weitere 14 Vollmachten ausübten (ebd./92, pp. 74f.) oder auszuüben prätendierten. Der Vorwurf des Herzogs, es seien „Falsarii" unter den Unterzeichnern (Biron an Howen 20.1.1795, LNB Rx 111/2/9, p. 23), trifft zumindest auf die erste Unterschriftensammlung zu: Deklaration Alexander v. Drachenfels', LVVA 640/4/4, p. 180. -

253

Staat

mit dem Herzoge zu handeln."142 Der Versuch der in Petersburg versammelten kurländischen Regierung, unter Hinnahme der unkonditionierten doch wenigstens die direkte Unterwerfung zu verhindern, war aussichtslos. Zubov, Markov und Pahlen, die die Sache handhabten,143 hatten offensichtlich einen anderslautenden Befehl der Zarin. Pahlen begleitete Howen, halb ihn unterstützend, halb ihn überwachend, zum außerordentlichen Landtag nach Mitau, der am 17. März das Unterwerfungsmanifest im Sinne des rassischen Hofs annahm und Howen an die Spitze einer Delegation nach Petersburg wählte, die Subjektion zu vollziehen. Davon unterrichtet, erklärte Biron der Kaiserin am 17./28. März seine Abdankung. Am 15./26. April übergab die Delegation das Manifest der Kaiserin, fünf Tage darauf erfolgte die Eidesleistung im Senat.144 Die Staatsaktion ging einher mit einer erheblichen privaten Abschöpfung der umgeschlagenen Posten, in bar, Sachwerten, Landgütern.145 Ein letztes, heftiges Auflodern der Praxis der Bereicherung unter den alten Vorzeichen definierte die materiellen Ausgangspositionen für die und verteilte Russland gegen eine unneue Ära. Am Ende erlangte schmale Kompensation den Bironschen allodialen und verhältnismäßig Lehnsbesitz, während der Herzog es wiederholt versäumte, seine Chancen zur Befriedigung seiner Parteigänger zu nutzen.146 Wenn indes die Amtsträger und zumal die Medem-Bironsche Partei das Ende der stän-

-

142 Zt. nach Heyking, Letzte Tage, ?. 457. 143 Heyking, Letzte Tage, ?. 456. 144 Heyking, Letzte Tage, ?. 460ff. Vgl. a. Cruse,

Curland, Bd. 2, S. 217ff; Richter, Geschichte,Bd. 3,S. 233ff;Bilbassow, Vereinigung,?. 306ff;Strods,Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 201 ff. Akten: LTA 1795, LVVA 640/4/92; ebd./4, pp. 177ff.; Regesten: Schwartz, Staatsschriften, S. 452 ff; Abdruck des Unterwerfungsmanifests und des Thronverzichts Peter Birons: Keller /Oberländer, Kurland, S. 312ff., 315 f. Pilten, vertreten durch Heyking und den Landesbevollmächtigten Carl v. Korff, vollzog die Akte parallel. 145 Vgl. v.a. das vierte Kapitel bei Heyking, Letzte Tage, S. 451 ff.; ebd., S. 435ff. (Beil. d. Hg.); auch Etwas aus der Lebensgeschichte... (wie S. 100, Anm. 4), LVVA 640/2/254, pp. 12ff; Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, pp. 44ff. Bilbassow, Vereinigung, S. 320, zufolge wurden insgesamt 2000 Bauernhöfe umverteilt; Parteigewinnung durch Verheißungen für den kleineren Adel: Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 233f; Liste der von 1795 bis 1802 donierten Kronsgüter: Klopmann, Güter-Chroniken, Bd. 1, S. 219; vgl. a. ebd., S. 53; ebd., Bd. 2, S. 103. 146 Heyking, Letzte Tage, ?. 469ff, 480. Heyking selbst ist eine gewisse Enttäuschung anzumerken, unangemessen kurz gekommen zu sein: ebd., S. 455f., 484. Vgl. a. Recke, Journal, ?. 188. Angeblich versorgte Biron zumindest die engere Verwandtschaft noch mit fiktiven Obligationen, die nun den: Strods, Kurzemes krona zemes, S. 25.

zu

russischen Staatsschulden

wur-

254

Die Agonie des Ancien

delandschaftlichen Autonomie

Régime

beklagten,147 blieben sie materiell doch

selbst eine so entschiedene Anklägerin wie Elisa v. d. Recke ging noch im Jahr der „Sklaverei" Unterwerfung Katharina um eine Arrendé an, und die Bitte wurde gewährt.148 Elisa weinte, aber sie nahm. So massiv die Verwerfungen innerhalb des Adels waren, eine klare Rollenverteilung hat erst die Rückschau gebracht. Zunächst war da allenfalls die wachsende Verbitterung des minderbesitzlichen Adels über die Bereicherung der führenden Köpfe,149 die freilich eine prorussische so gut wie eine herzoglich-polnische (oder, wie Hüttel ergebnislos anstrebte, preußische) Parteinahme nahelegen konnte. Später wurden diese Risse dann mit Erzählungen von Verrat, Verführung und Verlust verblendet, die sich gegen die Kreaturen Katharinas richteten, Howen gleichsam als Chiffre vorweg,150 und die bis in die jüngere Historiographie nachhallen: „Der Adel [...] ließ sich von einem ehrgeizigen und skrupellosen Streber aus seiner Mitte zum Verrat am Landesherrn verleiten".151 -Zweifellos, Howen trieben Ehrgeiz und Geldgier, auch eine intrigante Abneigung gegen den Herzog die als „patriotischen" Tyrannenhass zu lesen152 nicht völlig abwegig ist -, vor allem jedoch eine klare Sicht der Verhältnisse. Die Landschaft brauchte Schutz, nach Lage der Dinge konnte allein Russland ihn gewähren, und selbst wenn dem anders gewesen wäre, hätte es kaum mehr als Naivität oder eitles Pathos, eben: eine Lächerlichkeit bedeutet, mit Katharina verhandeln zu wollen. Dass die machtbewusst-„aufgeklärte" Autokratin für Kurland

weitgehend unbeeinträchtigt;

der russischen

-

147

Boykottversuch gegen den Unterwerfungslandtag durch den KirchspielkonvokanSessau, Manteuffel-Platon: LVVA 640/4/92, pp. 50f; Klage über Verrat, Freiheitsverlust und Vaterlandsvernichtung durch den Chronisten von Katzdangen: LVVA 1100 / 9/76, pp. 44ff.; Wut, Zögern vieler und Schickung in die Ereignisse: Recke, Journal, S. 222, 244. Vgl. a. Heyking, Letzte Tage, S. 477 f., 483.

ten von

148 Recke, Journal, S. 228 f., 253. 149 Bericht Hütteis 24.2.1793: Brüggen, Beiträge, S. 660. 150 Lüdinghausen-Wolff, inzwischen Kanzler, ging auf dem Landtag 1795 bis zur Forderung: LVVA 640/4/92, p. 83; vgl. oben, S. 61. 151 zur Mühlen, Ostbaltikum, S. 264. Ähnlich Wittram, Baltische Geschichte, S. 124: „skrupelloser Karrieremacher"; Johannes Werner in Recke, Journal, S. 126: „vaterländischer Selbstmord" aus „Haß gegen den Biron"; Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 54f.: „der ränkevollste, ehr- und geldsüchtigste" einer langen Reihe von „Volksoder vielmehr Adelstribunen" habe am Ende die Herzogsmacht gestürzt. Vgl. a. Bilbassow, Vereinigung, v.a. S. 308; Eckardt, Ende, v.a. S. 387; Meyer, Baltische Studenten, S. 96 (zu Howen); Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 171. 152 Howen an Nerger 7./18.12.1792,7./18.1.1793, an Mirbach 7./18.2.1793: Seraphim, Briefe Howens I, S. 447, ebd. II, S. 16, 21 ; Landtagsrede Howens 17.3.1795, LVVA 640/4/92, pp. 79f.

255

Staat

eine Ausnahme von der als rational konzipierten Herrschaftsverfassung des Reichs machen und eine Lehnsoberherrschaft anstreben sollte,153 ist kaum überzeugender als die Annahme, es habe eines Howen bedurft, den Petersburger Granden die freiwillige und unbedingte Un-

terwerfung nahezulegen, um preußische Kompensationsforderangen zu schwächen.154 Davon abgesehen, dass Katharina in politischer Propaganda versiert genug war, um den Wert eines solchen Aktes an sich zu

erkennen. Howen diente einer Macht zum Instrument, auf die er selbst wenig Einfluss besaß, wenn er auch deren Ambitionen für die seinen zu nutzen verstand. Seine Markierung als Verräter lässt sich bei den Zeitzeugen als Ausdruck einer mehr oder weniger tief empfundenen Ohnmacht angesichts der entgleitenden Selbstherrlichkeit verstehen, grundsätzlich als konspirationalistische Reduktion eines Strukturprozesses: der ausgreifenden Imperialstaatsbildung; endlich und wohl nicht zum wenigsten spiegelt sie die Wut der relativen Verlierer auf denjenigen, der den vielleicht größten Bargewinn aus den Ereignissen zog.155 Indem sie ihn mit politischen Kraftausdrücken belegten („Sansculotte", „Revolutionär", „Krimineller", „Judas"156), initiierten Howens Neider freilich eine historiographische Einschätzung, die später dem indigenen Adel der Herzogszeit insgesamt zuteil wurde. Eine Geschichtsschreibung, die der Elitenverständigung unter den normativen Vorzeichen des 19. und 20. Jahrhunderts verpflichtet war, „baltischem Deutschtum", Revolutionsaversion, der neuprotestantisch aufgeladenen Ideologie des „Ausharrens", „männlicher" Opferbegeisterang, Selbstverleugnung, kurz: der Domestizierung des Subjekts und Verabsolutierang des geschlossenen Kollektivs, vermochte dem Ancien Régime kaum anders zu begegnen als verurteilend (Howen) oder züchtig klitternd (Dorothea). Hinzu kam, dass „der Staat" zwar dem objektiven Idealismus zur Selbstrealisation 153

Offenkundig war diese Hoffnung gleichwohl

verbreitet: wie Anm. 135; vgl. a. die Annotation Heinrich Diederichs' bei Bilbassow, Vereinigung, S. 311. Dem entspricht, dass sich von einer Orientierung an den Verhältnissen im benachbarten Livland, gar der Vorstellung einer „Wiedervereinigung" der Provinzen in den Quellen kaum eine Spur findet, sieht man einmal von der floskelhaften Anführung des überdünischen Vorbildes einer unmittelbaren Unterwerfung (Schwartz, Staatsschriften, Nr. 277, S. 458) ab. 154 Bei aller Abneigung lassen das schon Heyking, Letzte Tage, S. 456, und Bilbassow, Vereinigung, S. 311, durchscheinen. 155 Vgl. Anm. 145, 146. Entsprechend mühsam bändigte Elisa v. d. Recke später ihre Befriedigung über Howens Ende 1806 „in bitterer Armut und Verachtung": Recke, Journal, S. 222. 156 Heyking, Letzte Tage, S. 453, 458; Etwas aus der Lebensgeschichte..., LVVA 640/2/254, p. 13; Bilbassow, Vereinigung, S. 312; Recke, Journal, S. 222.

256

Die Agonie des Ancien

Régime

der historischen Vernunft schlechthin geworden war, mit dem Raumgreifen des Russifizierungssyndroms seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dieser Staat jedoch immer suspekter wurde. So konnte die unbedingte Unterwerfung fatal erscheinen und ihr Agent zum paradigmatischen Antihelden der historischen Erzählung werden. Im Grunde handelte es sich wie schon bei den Howen feindlichen Zeitgenossen um eine konjunktivische Entlastungsrhetorik, denn der Subjektionsmodus machte später keinen Unterschied. Zu keinem Zeitpunkt verfuhr die Petersburger Politik gegenüber Kurland signifikant anders als gegenüber den mit rechtsüberlegenen Konditionen ausgestatteten Provinzen Livland und Estland.157 Die Bedeutung Otto Hermann v. d. Howens liegt weniger im Historischen als im Historiographischen, in der emblematischen Rolle, die er für die Denunziation des Ancien Régime durch die Moderne spielte, der „Adelsanarchie"158 durch die Rhetorik eines Elitenkompromisses auf ethnisierender Grundlage, dessen Träger angststarr intransigent auf den homogenisierenden Staat und herrisch abweichungsavers auf „Abfall" in den eigenen Reihen reagierten.159 Das „Prinzip der Autonomie" wurde vom historischen Subjekt ins historisch gewachsene Kollektiv der Provinzen „germanisch-evangelischer Cultur"160 verlagert und dessen „zerrissene", lasterhaft-selbstgierige Vergangenheit zur Kontrastfolie und zum warnenden Exemplum stilisiert. Darüber geriet bisweilen der übergreifende Vorgang aus dem Blick: die Konzentration der Macht in wenigen Zentralen und die staatliche Durchformung -

Europas.

Einerseits. Andererseits sind die Notwendigkeit der Ereignisse und ihre Determiniertheit im Konkreten verabsolutiert worden. So bringt es eine überspitzte Teleologie in die Dinge, die 1783 von Russland oktroyierte Handlungs- und Grenzkonvention als unmittelbares Vorspiel

157

Vgl. Haltzel, Abbau. Im Grunde handelte es sich um ein Missverständnis; die Autokratie begriff Provinzialprivilegien grundsätzlich als auf Zeit konzediert, nicht als ,ewige Rechte': Dixon, Modernisation, S. 50; vgl. a. Schweitzer, Neuere Literatur,

S. 330f.,339. 158 Diederichs, Nachwort, S. 325; auch Brüggen,

Beiträge, S. 433; im Kontext einer späteren Radikalisierung Mattiesen, „Livland", S. 125f.: „Zersetzungsgewalten" der „im unseligen Libertätsbegriffe befangenen Adelsstände"; sonst wie

Anm. 151. 159 Pistohlkors, „Russifizierung", v.a. S. 629f.; ders.: Geschichtsschreibung und Politik, S. 312ff; vgl. a. unten, S. 468ff. 160 Nach dem überragenden Programmtext jener Zeit: Schirren, Livländische Antwort, v.a. S. 95f., 107, 179ff.

257

Staat

der Unterwerfung von 1795 zu interpretieren.161 1783 zielte die katharinäische Vorfeldpolitik eben nicht auf Annexion, sondern primär auf Absicherung und hegemoniale Kontrolle bei gleichzeitiger imperialer Expansion im Süden, während eine Fortsetzung der Teilungspolitik die Interessen des ungeliebten Juniorpartners Preußen bedient hätte.162 Eine verstärkte Abschirmung Kurlands gegen Berliner Ambitionen über Thorn und Danzig hinaus ergab Sinn, dessen Einverleibung jedoch hätte allfällige Kompensationen zulasten des russischen Glacis provoziert. Dass es infolge der Krise der russischen Außenpolitik 1788, der Französischen Revolution und der vom österreichisch-preußischen Restitutions- und Eroberungskrieg ausgelösten Territorienschacherei, „in der die Ländermasse des Reiches und die Reste Polens nurmehr die Rolle von Immobilien einnahmen",163 so kam, stellte eher eine Revision dieser Politik unter eskalierten Bedingungen dar als den Abschluss langfristiger Pläne.164 Allenfalls lässt sich von einer Bereithaltung der betroffenen Gebiete als Kompensationsreservoir für Machtverschiebungen auf dem Balkan sowie von einem wachsenden Interesse an einer intensivierten Abschöpfung sprechen Linien, über die das „set of world crises"165 nach 1780 sich in Kurland fühlbar machte. Die Konvention von 1783 diente hingegen zuerst dem Zweck, den sie auswies: Steigerung der Steuerungspotentiale und Gewinnung wirtschaftlicher Vorteile für Russland, seine Provinz Livland und seine Hafenstadt Riga.166 Dabei über-

161 Oberländer, Transit zur Unterwerfung, S. 422f; Keller /Oberländer, Kurland, S. 243. In der Einschätzung wird nicht zuletzt die Problematik des „Ostseeprovinzen"-Ansatzes greifbar, der vom Ende her Kurland als noch-nicht-russischen „Rest" verhandelt und so den Verlauf dekontextualisiert. 162 HBGR, Bd. II.2, S. 599ff; Niederschlag der Ambivalenz Katharinas gegenüber Preußen in ihrer Deutschlandpolitik: Aretin, Das Alte Reich, Bd. 3, S. 205, 208, 307ff., 318f, 332. Dagegen jedoch Strods, Kurljandskij vopros, Bd. 2, S. 187, der das Umschwenken von Außensteuerungs- zu Annexionspolitik in den 1780ern verortet in Zurückweisung Bilbassows, Vereinigung, ?. 299, 305, der die Bemühungen Katharinas noch 1792 und 1794, in Mitau eine Bironsche Nachfolge zu sichern, als ernst zu nehmen einschätzt. Vgl. a. oben, S. 126, Anm. 133. 163 Aretin, Das Alte Reich, Bd. 3, S. 390. 164 Müller, Teilungen, S. 43; HBGR, Bd. II.2, S. 615ff. 165 Bayly, Birth of the Modern World, ?. 205. 166 Die „Handlungs- und Grenzkonvention zwischen Ihre Kayserl. Majestät aller Reussen und Sr. Durchlaucht dem Herzoge und den Ständen derer Herzogthümer Kurland und Semgallen", gedr. Mitau 1783 (HI 47 V 9-4; ediert: Keller/Oberländer, Kurland, S. 243 ff), regelte im wesentlichen: 1. die effizientere Auslieferung von livländischen Lautungen; 2. Erleichterungen für den Transithandel nach Riga, namentlich Wegeverbesserung und Verbot der Vorkäuferei; 3. Abschaffung des Strandrechts an Havaristen auf der Fahrt von oder nach russischen Häfen sowie -

258

Die Agonie des Ancien

Régime

wog Druck, weil sich Russland angesichts einer stabilen Klientel und seiner allgemeinen Vormachtposition den ökonomischen Schaden, der den kurländischen Getreideproduzenten und Kaufleuten entstand, leisten konnte auch Katharina war auf Geld aus, auf Mehrung ihrer Einkünfte, der Ressourcen ihrer Macht, der Macht Russlands und des russischen Staats. Als dann das Ineinander von Revolution und Teilungsdynamik nach 1788/89 die Annexion brachte, schloss sich eine eher entstandene als herbeigeführte Ereigniskette. Die Notwendigkeit, die Howen sah und akzeptierte, war eine des Moments. Seine Verschwörermacht zu relativieren sollte nicht dazu verführen, sie auf der nächsthöheren Ebene als unbeschränkte Gestaltungshoheit der Zarin zu rekonstruieren. -

4.2 Autokratie Institutionen

„Nun sind wir nur noch Sklaven", beklagte Karl v. Heyking zufolge „der alte Fircks" die Unterwerfung.167 „Als politischer Körper", will Heyking

eingewandt haben, „hingen wir bisher von Polen ab, das seinerseits in vollständiger Abhängigkeit von Rußland war. So waren wir in politischer Hinsicht Sklaven von Sklaven, während wir heute dem großen Reiche angehören, das den ganzen Norden beherrscht."168 Damit spielte Heyking ein Motiv an, das später für das Arrangement in den Machtverhältnissen zentral wurde, die Identifikation mit dem imperialen Staat.

auf der Düna; 4. Grenzberichtigungen zugunsten Livlands v. a. im Mündungsgebiet der Kurländischen Aa (Lielupe); 5. freies Einfuhr- und Handelsrecht für russische Kaufleute und Gerichtsstand unter Aufsicht des russischen Residenten über sie wie über russische Löhner; 6. die semgallischen Kirchspiele bis auf Neuenburg wurden zur Verführung von Sommerkorn und Viktualien via Riga verpflichtet. Der erste und der letzte Punkt waren die für den Adel (materiell) gravierendsten; nicht zuletzt stellten sie wohl eine Kompensation der livländischen und estländischen Eliten für die Einführung der Statthalterschaftsverfassung im selben Jahr dar: Oberländer, Transit zur Unterwerfung, S. 423. Der Piltensche Kreis trat der Konvention 1784 bei: Richter, Geschichte, Bd. 3, S. 201. 167 Heyking, Letzte Tage, S. 477; vgl. a. oben, S. 177 f. Um welchen Fircks es sich handelt, ist unklar; der Landrat Lebrecht Carl auf Scheden, der sich im offiziellen Gefolge des Herzogs befand (Heyking, a. a. O., S. 455), ist offenkundig nicht gemeint, zumal er nur vier Jahre älter war als Heyking, 1795 noch keine fünfzig: GenHB, Bd. 1,S. 66. 168 Heyking, Letzte Tage, S. 477.

259

Staat

Zunächst jedoch

überwog Zerknirschung,

insbesondere bei den bishe-

rigen Amtsträgem.169 Die direkten Folgen schienen die Skeptiker zu bestätigen. Der als Generalgouverneur eingesetzte Peter v. d. Pahlen begegnete dem Adel persönlich gewinnend, setzte jedoch die Machtansprüche Russlands wie die Verteilungsanliegen dessen Klienten konsequent durch170 und schreckte angeblich auch vor Deportationen nicht zurück, um die verbliebene Opposition zu brechen.171 Vor allem aber oktroyierte Katharina zu Jahresbeginn 1796 die in den übrigen Provinzen des Reichs geltende Statthalterschaftsverfassung.172 Ähnlich wie 1783/85 in Livland und Estland173 wurden die Implementierung einer zentral bestellten Gouvernementsadministration, die Reorganisation des nun von der Verwaltung getrennten Gerichtswesens und nicht zuletzt die Befristung bislang auf Lebenszeit vergebener Wahlämter als Anschlag auf die ständischen Freiheiten und Privilegien überhaupt verstanden. In Riga, schalt der Sekretär des Gouvemementsmagistrats, später des Waisengerichts -

-

Johann Heinrich Neuendahl, seien „Schwärme von Kerls aller Art, leibhaftige Sansculottes" zur Bürgerschaft gelangt, die Sitten verwildert, habe eine bloße Zerstörung bewährter Ordnungen stattgefunden.174 Das Lob aus entgegengesetzter ideologischer Warte dürfte in Kurland eher noch beunruhigender geklungen haben: „All diesem aristokratischen Unfug, diesem abgeschmackten Herrenstolz, dieser tyrannischen Eifersucht, diesem Oligarchenton, diesem Familien-Anhang, diesen Bedrückungen, diesen Bestechungen, diesen illegitimen Staats-Geheimnissen allen diesen Misbräuchen, und Treibereyen, und Schindereyen, und Hoheitskrämereyen, und was je nach dem rühmlichen Vorbilde der Nobili di Venetia, zur Erhebung der aristokratischen Gewalt erfunden und gemacht worden ist, allem allem hat die große Katharina ein Ende gemacht durch die Einführung der Statthalterschaft."175 -

-

-

Heyking, Letzte Tage, S. 477, 483. Heyking, Letzte Tage, ?. 483 f. Dunsdorfs, Latvijas vesture 1710-1800, S. 167, allerdings ohne Beleg. Amburger, Behördenorganisation, S. 370, 374, 387 f. Zur Statthalterschaft („namestnicestvo") allgemein: ebd., S. 370; HBGR, Bd. II.2, S. 788 ff.; im Baltikum: Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 287 ff.; Elias, Reval in der Reformpolitik; Graubner, Ständisches und aufgeklärtes Denken; Dunsdorfs, Latvijas vesture 1710-1800, S. 244 ff. 173 Bartlett, Nobility, S. 241 f. 174 Nach Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, ?. 290; vgl. a. Graubner, Ständisches und aufgeklärtes Denken, S. 190 ff. 175 Snell, Beschreibung, ?. 41; zu Snell vgl. Graubner, Ständisches und aufgeklärtes Denken, S. 185 ff. 169 170 171 172

260

Die Agonie des Ancien

Régime

Bei näherer Betrachtung traf die Umstellung allerdings in erster Linie die Stadtverfassungen in ihrem Kern, aus deren Kontext die beiden Zitate auch stammen. Wurden in Livland und Estland die Vorrechte des Ritterschaftsadels gegenüber nichtindigenen Gutsbesitzern eingeschränkt,176 so gab es zu dieser Gruppe in Kurland keine Entsprechung, und weder die Errichtung der Gouvernementsobrigkeit noch der Umbau der Justiz führten unmittelbar zu einer Abdrängung des Adels. Indigene (Wahl-) Beamte besetzten die Stellen der Tribunalräte und Assessoren am Gerichtshof der peinlichen wie dem der bürgerlichen Sachen177 sowie beim Gewissens- und Oberlandgericht, die Richter- und je zwei Assessorenstellen der neun Kreisgerichte,178 die der Kreishauptleute, die mit ebenfalls zwei Assessoren die Niederlandgerichte bildeten, das adlige Vormundschaftsgericht aus Kreismarschall, Kreisrichter und dessen Assessoren ohnehin.179 Auch in der Verwaltung blieb der Ritterschaftsadel in Schlüsselpositionen vertreten: Pahlen hatte 1778 das Indigenat erhalten, einer seiner beiden Adjutanten war indigen, ebenso der Zivilgouverneur Matthias von Lambsdorff und einer seiner zwei Regierungsräte, der Gouvernementsprokureur, beide Assessoren des Kameralhofs, '80 die Stadtvögte der Kreise Hasenpoth und Tuckum, die Etatslieutenants von Tuckum, Goldigen und Libau. Nichtindigen waren hingegen gut die Hälfte der Räte, die Mehrheit der nachgeordneten Fachbeamten und das subalterne Kanzlei- und Sekretärspersonal.181 Heyking, der Präsident des Zivilgerichtshofs wurde, zeigte sich denn auch alles in allem zufrieden mit den neuen Behörden.182 Nichtsdestoweniger: Der einseitig durchgesetzte herrschaftliche Gestaltungsanspruch stellte eine nachhaltige Reduktion der Privilegienposition dar, im Grunde genommen die Negation ihres Fundaments. Mehr noch, indem die Patrimonialgerichts-

176 Wie Anm. 172. 177 Insgesamt zehn Stellen, einzige Ausnahme war der Ziviltribunalrat v. Schwartz aus Livland: Watson, Adreß-Buch, S. 6f; zu ihm vgl. a. Heyking, Letzte Tage, S. 486. 178 Mitau, Bauske, Friedrichstadt, Jakobstadt, Tuckum, Goldingen, Hasenpoth, Windau und Libau. 179 Watson, Adreß-Buch. Aus Watson auch das Folgende. 180 Dessen Ökonomiedirektor Gottlob Sigismund v. Brasch wiederum, der als rechte Hand Pahlens galt, wurde noch 1795 rezipiert: DBBL, S. 97; Kurland und seine Ritterschaft, S. 41; Heyking, Letzte Tage, S. 485. 181 Diesbezüglich brachte die Restitution 1797 keine Veränderung: Namentliches Verzeichnis der zur Besetzung der Richterstellen in denen herzustellenden vorigen Gerichtsbehörden in Kurland bestimmten Personen, LVVA 640/4/96, pp. 291 ff. 182 Heyking, Letzte Tage, S. 486.

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barkeit zugunsten der öffentlichen fiel,183 rührte die neue Macht an den innersten Sitz der Adelsherrschaft, den Gutsbezirk. Doch noch im selben Jahr starb Katharina II. Paul L, dessen politisches Handeln wesentlich vom Gegensatz zu seiner Mutter bestimmt war, aber auch von der Notwendigkeit, den zerrütteten Staatshaushalt zu sanieren, befahl die Aufhebung der Statthalterschaft und die „Einführung derer Gerichtsbehörden, die vor Eröfnung der Statthalterschaft, nach ehemaligen [!] Rechten und Privilegien der Kurländischen Ritterschaft, statt gefunden haben".184 Mit dieser Restitution, dem folgenden Regierungshandeln Pauls beziehungsweise ab 1801 Alexanders I. und den Reaktionen der Ritterschaft darauf setzte die Organisation Kurlands als eines russischen Gouvernements ein, wie sie für das weitere 19. Jahrhundert bestimmend wurde. Auf den Restitutionsbefehl hin schrieb Gouvernementsadelsmarschall185 Carl v. Korff eine Brüderliche Konferenz, also einen Virillandtag, auf den 16. Februar 1797 aus.186 Denn die Verfügung, die „ehemalige" Gerichtsordnung wiederherzustellen, warf die Frage auf: welche? Bis zum Ende des Herzogtums hatte gegolten, dass der Fürst die Richter bestellte. Dagegen hatte die Kompositionsakte ein lediglich ausgesetztes Wahlrecht des Adels postuliert.187 Nun wandte sich die Ritterschaft an den Kaiser mit einer Unterlegung wegen expliziter Bestätigung dieses Wahlrechts und allgemein der bis zum Ende der Regierungszeit Peter Birons suspendierten Bestimmungen mithin um Maßgeblichkeit der Komposition für das, was als vorig gelten sollte.188 Die Bitte wurde gewährt.189 Damit war der Weg frei für eine Neuerrichtung der Landesinstitutionen in weitgehender Interpretationshoheit bezüglich des „ehemalig", und es begann eine kontinuierliche Verfassungsarbeit an -

183 184

185 186 187 188 189

Vgl. LVVA 640/4/96, p. 360. Ausschreibung des Landtags 1797, LVVA 640/4/96, p. 237; der Befehl stammte vom 24.12.1797: ebd.. p. 275; allgemein: Amburger, Behördenorganisation, ?. 209, 374. „Predvoditef dvorjanstva", zum Amt s. u. LVVA 640/4/96, p. 237. Kompositionsakte, Punkt 13-4; vgl. a. oben, S. 51, Anm. 96; S. 232. Korff an Lambsdorff 24.1.1797, LVVA 640/4/96, pp. 275 f. Kaiserlicher Befehl St. Petersburg 4.2.1797, LVVA 640/4/96, pp. 273, 353; Ausführungsbestimmung St. Petersburg 21.2.1797, ebd., pp. 358ff Die Assessoren

wurden aus den Indigenen, die Hauptleute aus den Assessoren, aus den Hauptleuten die Oberhauptleute und aus diesen die Glieder des Oberhofgerichts gewählt; Appellationsinstanz war der Dirigierende Senat in Petersburg. Die Patrimonialgerichte wurden wiederhergestellt, doch bedurften ihre Kriminalurteile „zur Verhütung jeder Ungerechtigkeit" (ebd., p. 360) fürderhin der Begutachtung durch das Oberhofgericht und Bestätigung durch den Gouverneur.

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den adelsgesellschaftlichen Komplementärstrukturen zum verwaltungsstaatlichen Apparat. Ein erstes Ergebnis, das Elemente der Statthalterschaftszeit190 mit Vorstellungen und Forderungen der Kompositionsakte legierte, war der Konferenzialschluss vom 6. März 1797.191 Der Schluss konstituierte eine „Repräsentation" der Ritter- und Landschaft „von einer ordinairen Versammlung zu andern": die „RitterschaftsCommitée".192 Sie setzte sich zusammen aus einem Landesbevollmächtigten und je zwei Bevollmächtigten der Oberhauptmannschaften,193 in Adaption der russischen Terminologie: dem Gouvernementsadelsmarschall, vier „örtlichen Kreismarschällen", die die Geschäfte in den Oberhauptmannschaften führten, und vier „residierenden" in Mitau.194 Außerdem gehörte der Committee ein Ritterschaftssekretär mit beratender Stimme an und war in allen ökonomischen Angelegenheiten der Obereinnehmer zu hören.195 Dem Gremium oblag einerseits, Befehle und Mitteilungen der Obrigkeiten in die Kirchspiele weiterzuleiten und gegebenenfalls im Namen der Ritter- und Landschaft Stellung dazu zu nehmen, andererseits, Entwicklungen, die die Ritterschaft und ihre Privilegien berühren mochten, dieser zur Kenntnis zu bringen, solange sie sich noch beeinflussen ließen.196 Erforderlichenfalls konnte die Committee sich zu Delegationen und zur Führung von Rechtssachen des Adels „als Corps betrachtet" ermächtigen lassen, über die sie dem Landtag rechenschaftspflichtig war.197 Der Landtag selbst wurde angelehnt an die vormaligen Brüderlichen Konferenzen als Viril-Landesversammlung von zwei zu zwei Jahren neugefasst, die die Relation der Committee hörte, sie quittierte und eine neue wählte und instruierte. Zwar wur190 Also der Kombination

von Gouvernementsordnung ( 1775) und Adelsstatut (1785), vgl. Amburger, Behördenorganisation, S. 277; HBGR, Bd. II.2, S. 788 ff; aber

191 192

193

194

195 196 197

auch Hildermeier, Russischer Adel, S. 180 ff, und nach wie vor Geyer, „Gesellschaft", zur ständisch sterilen Verfassungsrealität in Innerrussland. LVVA 640/4/96, pp. 319ff. Das quellengemäße Femininum und die Schreibweise werden auch im weiteren beibehalten, um Konfusionen angesichts zahlreicher anderer im Laufe der Zeit eingesetzter Komitees vorzubeugen. LTS 6.3.1797, §IX: LVVA 640/4/96, p. 323; vgl. a. LTA 1797, ebd., p. 298. Nicht zu verwechseln mit den Oberhauptleuten; auch eine Ämterbündelung fand nicht statt: ebd., pp. 291 f., 298. Die Anwesenheit der letztgenannten reichte zur Beschlussfähigkeit hin: LTS 6.3.1797, §XI (LVVA 640/4/96, p. 324). Russische Ämter und alternative Übersetzung der „residierenden Kreismarschälle" mit „Kreisdeputierte": Amburger, Behördenorganisation, S. 277; LTA 1797, LVVA 640/4/96, p. 239. LTS 6.3.1797, §§XI,XII: LVVA640/4/96, pp. 324f. LTS 6.3.1797, §XIII: LVVA 640/4/96, pp. 325f. LTS 6.3.1797, §§XIII, XXI: LVVA640/4/96, pp. 325f., 331.

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den die Verhandlungen weiter durch Kirchspielsdeputierte geführt, doch stand nun das Gesamt zur Diskussion davor.198 Traten zwischen den Landtagen Fragen auf, die über die Committéeinstruktion hinausgingen, waren die Kirchspiele durch deren Bevollmächtigte zu konvozieren und so Entscheidungen der besitzlichen Ritterschaft insgesamt herbeizuführen.199 Insbesondere galt das für Landschaftswilligungen, die die von der allgemeinen Versammlung verabschiedeten Summen zuzüglich eines pauschalen Ausschreibungsrechts der Committee über bis zu fünf Taler vom Haken per Wahlperiode überstiegen;200 wurde eine mündliche Erläuterung für nötig befunden, konnten auch Oberhauptmannschaftsversammlungen einberufen werden.201 Analog sollte bei zwischen den Landtagen eintretenden Vakanzen von Wahlämtern verfahren werden: Die Committee öffnete von den Kirchspielen beim Landesbevollmächtigten vorab hinterlegte Kandidatenlisten, fasste sie zusammen und sandte sie in die Kirchspiele, wo die Mehrzahl der affirmativen Voten aller Stimmfähigen entschied.202 Mit den Deputierten entfiel auch die Kontrollnotwendigkeit des „lauten" Stimmens, und man ging auf allen Ebenen zum geheimen Ballotement über.203 Insgesamt zielte das System auf eine intensive Partizipation der indigenen Gutsbesitzer und eingetragenen Rentenierer ab, bei enger Kontrolle ihrer Repräsentanten wenn man so will, auf eine Basisdemokratisierung unter Inkaufnahme erheblichen prozeduralen Aufwands. Das sollte den Missbräuchen ein Ende machen, die im Laufe der Zeit aus der Eigenmächtigkeit der Deputierten erwachsen waren. Wobei es hingegen blieb, war die Abstimmung nach Kirchspielen,204 deren Güterzahlen erheblich divergierten. Infolgedessen hatten regelmäßig Minderheiten von Stimmberechtigten auf dem Landtag Mehrheiten erlangt, mit der erwartbaren Folge privater Vorteilnahme aus öffentlichen Angelegenheiten.205 Andererseits trug die Neuordnung nicht nur den Erfahrungen -

198

199 200 201 202 203 204 205

Landtagsordnungskommission an die Ritterschafts-Committée 5.11.1806, S. 5 : Materialien LTO; Erster Bericht einer zur Abfassung der Landtags-Ordnung ernannten Kommission 12.3.1806, S. 16: ebd. LTS 6.3.1797, § V: LVVA 640/4/96, pp. 320f. LTS 6.3.1797, §XV: LVVA640/4/96, p. 327; zum Haken vgl. S. 76, Anm. 250. LTS 6.3.1797, §V: LVVA640/4/96, pp. 320f. LTS 6.3.1797, §XX: LVVA640/4/96, pp. 328ff. LTS 6.3.1797, §§I, II, IV, XX: LVVA 640/4/96, pp. 319f, 331. Entwurf zur Landtags-Ordnung [1806], §1: Materialien LTO. Stavenhagen, Politische Kirchspiele, ?. 16: Vordem „hätten oft 2 Stimmen gleiches Recht mit 30 Stimmen gehabt, die Möglichkeit, daß die Meinung einer Minderzahl obsiege, sei fast zur Regel geworden, Privatzwecke hätten sich leicht die allgemeine Wohlfahrt dienstbar machen können, u. s. w." Offensichtlich nach Erster Bericht

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der Herzogszeit Rechnung, sondern auch den neuen Rahmenbedingungen, unter denen die ritterschaftlichen Geschäftsträger und insbesondere der Landesbevollmächtigte206 zu Schlüsselfiguren avancierten. Sie dienten als Ansprechpartner und Beobachter gegenüber einer prinzipiell souverän agierenden Obrigkeit, der die Landschaft, auch wo man sich im Besitz wohlgegründeter Rechte meinte, nur noch supplizierend begegnen konnte. Jegliche Entscheidung fiel formaliter als unbegrenzt freier „Allerhöchster Befehl" des Zaren auf Unterlegungen aus dem bürokratisch-juridisch institutionalisierten Apparat hin. Erfolgreiche Einflussnahme setzte intime Kenntnisse des imperialen Gefüges voraus, Verhandlungsgeschick und Kredit bei den Akteuren der verschiedenen Ebenen, vor allem erst einmal Zugang zu ihnen.207 In diesem vielfach undurchsichtigen, langwierigen Geschäft, an dessen Ende nur schwer zu revidierende Verfügungen standen, genoss der Landesbevollmächtigte den potentiell missbrauchsanfälligen Vorzug, als Gouvernementsadelsmarschall die nächste, explizit geschützte Position nach dem Gouverab 1802 dem neur zu bekleiden und immédiat mit der Staatsregierung Innenministerium zu verkehren.208 Die Virilheranziehung der Kommittenten stellte auch einen Reflex auf die relative Ohnmacht der Provinz dar, auf die intransparent und unberechenbar gewordenen Wege der Interessenwahrung sowohl des Corps als auch einzelner. Insgesamt löste die Konstruktion weniger herzogszeitliche Vorstellungen von einer parlamentarisch kontrollierten Landesregierung ein, als dass sie Rudimente solcher Bestrebungen mit der russischen Adelsverfassung verquickte, die den Regierungs- und Verwaltungsinstanzen in den Gouvernements und Kreisen des Reichs dekretiert-ständische Provinzialorgane zur Seite beziehungsweise gegenübergestellt hatte.209 Insofern dabei die Landschaften an der Ostsee durchaus inspirierend gewirkt hatten,210 handelte es sich um eine der adelsrepublikanischen alternative Entwicklungsmöglichkeit der frühneuzeitlichen Standschaft, die sich mit der Inkorporierung in Kurland durchsetzte. Doch trug sie ungeachtet aller Rechtsverbürgung und Privilegientradition von vornherein den Charakter nicht einer erstrittenen, sondern einer gewährten, nicht mitregierenden, son-

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206 207 208 209 210

einer zur Abfassung der Landtags-Ordnung ernannten Kommission 12.3.1806, S. 8, 15: Materialien LTO. Zu dessen Aktionsradius und teilweise recht selbständiger Geschäftsführung nach 1797 vgl. die Erörterungen Medems, LTA 1822: LVVA 640/4/114, pp. 230f. Vgl. unten, S. 387 ff., v. a. 393 f., 399ff.; auch S. 408f. Amburger, Behördenorganisation, S. 277. Wie Anm. 190. Bartlett, Nobility, S. 239 f.

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dem regierungskomplementären Teilhabe im Falle der „Ostseeprovinzen" unter Rückgriff auf bestehende Organisationsformen.211 Die Agenturen des unabhängigen Anstaltsstaats blieben auch nach der paulinischen Restauration bestehen: die Gouvernementsregierung (Gubernskoe Pravlenie) mit dem Zivilgouverneur (Grazdanskij Gubernator) als Vertreter der Zentralgewalt,212 eine Medizinal- und später eine Schulverwaltung, Postmeisterei, Bauaufsicht und Landmesserei,213 der Kameralhof, der die Domänen und Finanzen des Gouvernements administrierte,214 ein Kollegium der öffentlichen Fürsorge.215 Über sie drang nicht nur eine zunehmende Zahl nichtindigener Beamter in das landschaftliche Machtkartell. Vor allem genossen auch die angestellten Indigenen ihren Rang nicht qua Indigenat oder gar infolge landschaftlicher Mitsprache, sondern aufgrund eines letztinstanzlich landesfernen souveränen Willens.216 Dem entsprach schließlich, dass gegen Leistungsforderungen zum Besten des Machtstaats kein Einsprach möglich war;217 die allgemeinen Abgaben, Kopfsteuer, Rekrutengeld, Gebühren und Zölle waren auf kaiserlichen Befehl an den Kameralhof zu entrichten, der aus ihnen sowie den Arrendeerlösen der ehemals herzoglichen, jetzt Kronsgüter die Verwaltungskosten der Provinz deckte und den Überschuss an die Zentrale abführte.218 -

Vgl. Graubner,

211

Ständisches und aufgeklärtes Denken, S. 173 f., zum Interpretationskonflikt um die livländischen Kapitulationen von 1710 anlässlich der Einführung der Statthalterschaftsverfassung dort. Graubners titelgebende Dichotomie ist charakteristisch für die historiographische Kategorienbildung und Parteinahme klassischer Modernisierungstheorie.

212

AMBVRGER,Behördenorganisation,?. 387ff.;DuNSDORFS,Latvijasve~sture1710-1800, ?. 244,265 f. ; Schema der 1824 in drei Abteilungen reorganisierten Gouvernementsregierung: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau o.D.2.1824 (Kurl. Gvts. Reg./Patente 1824). Zum General- und Zivilgouverneur nach 1801 s. u., S. 291, Anm. 77. Vgl. a. Hoheisel/Wörster, Seelenrevisionslisten, S. 2f. Amburger, Behördenorganisation,?. 154, 193,270,274. „Kazennaja Palata", nach der Schaffung des Finanzministeriums 1802 dessen örtliches Organ: Amburger, Behördenorganisation, ?. 203f, 209f, 221. Funktional schloss die Einrichtung also an die Herzogliche Kammerverwaltung an. „Prikaz obscestvennago prizrenija": Amburger, Behördenorganisation, ?. 159f. Folgerichtig qualifizierten Russland geleistete (Militär-) Dienste zu bevorzugter Berücksichtigung: LVVA 640/4/4, p. 267. Allenfalls ließen sich per Supplik, also als Bittsteller, Nachlässe, Stundungen oder günstigere Modalitäten erwirken; dazu wie zu den materiellen Folgen generell s. u.

213 214

215 216 217

218 Der erste Gouvernementsetat wies vom Johannistermin 1795 bis Februar 1796 einen positiven Saldo von knapp 73 500 Rth. alb. aus, ermöglicht durch Steigerungen der Abgaben und Arrenden sowie den Wegfall der fürstlichen Hofhaltung als Kostenfaktor: LVVA412/2/86, p. 18.

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Zugleich verschob sich der Rahmen individueller Karriere- und Einkommenschancen, Lebenszuschnitte. Grosso modo verfestigte sich, was bereits die späte Herzogszeit gekennzeichnet hatte: Das Quasi-Monopol Petersburgs in der Chancenverwaltung wurde endgültig während die Optionen der jetzt russischen Untertanen sich tendenziell vermehrten. Wobei „Petersburg" abermals als Abbreviatur eines komplexen Beziehungs- und Instanzengeflechts zu verstehen ist, in dem äußerst heterogene Ressourcen verhandelt wurden. De facto bahnten oder verlegten den Weg zum kaiserlichen „Es sey also (Byt' po semu)" außer institutionalisierter Macht Empfehlungen, Überredung, Bestechung, Verwandtschafts- und Klientelverhältnisse, persönliche und ideologische Idiosynkrasien,219 deren Ineinanderwirken die Residenz auch den gut Eingeführten bisweilen als Black box erscheifür den Senat als letzte Appellationsinstanz in provinzianen ließ -

-

len Streitsachen fand man das Bild des blinden Mannes, der mit einer Keule hantiert.220 „Petersburg" beeinflusste nicht nur mittels allgemeiner Gesetzgebung Studien- und Reisemöglichkeiten, Importe, Exporte, Zölle und Margen, Qualifications- und Karrieremuster, sondern entschied auch in zahllosen Einzelfällen über Einstellungen, Avancements und Gratifikationen, „es" (der Senat, das Ministerkomitee, der Zar) hatte das letzte Wort in schwerwiegenden Rechtsstreitigkeiten, Wahlämter bedurften der Allerhöchsten Bestätigung.221 Die Möglichkeit, alternativ auf die herzogliche oder polnische Karte zu setzen, war weggefallen, und auch ein Ausweichen in ausländische, vor allem preußische Dienste wurde nicht mehr ohne weiteres gelitten.222 Folglich entfaltete sich eine intensive semi- und außerinstitutionelle Betriebsamkeit, sowohl in der Residenz als auch im Lande selbst, auf der Suche nach Protektion, um „Höhern Ortes" zum Zug zu

219 Einen Einblick gewährt die Korrespondenz zwischen dem Landesbevollmächtigten v. Korff, dem Agenten der Ritterschaft in Petersburg Spalding und den Grafen Medem 1809/11: LVVA 640/2/158. Außerdem unterhielt die Ritterschaft mit Staatsrat Ritter von Wangersheim einen Geschäftsträger in Petersburg, dessen Gehalt von 2000 Rbl. S. etwa dem des Landesbevollmächtigten entsprach: Relation der Committee 1808, §40 (LVVA640/4/105, p. 5). 220 Hahn, In Gutshäusern, S. 242ff., Zt. S. 244. 221 Die drei stimmenstärksten Kandidaten wurden der Gouvernementsregierung vorgestellt, die zwei davon auswählte, von denen der Kaiser einen bestätigte: LVVA 640/4/96, p. 358; ebd./4, p. 225. 222 Vgl. S. 413.

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kommen,223 sei es im Interesse des Corps oder größerer Teile davon224 oder in Erbauseinandersetzungen einzelner225, um Stellenbestätigungen auch mit Mehrheit Gewählter,226 um Arrendezuweisungen und -cessionen,227 Ordensverleihungen228 die, nachdem man sie mit einigem finanziellen Aufwand in der Vorlagenmappe des Ministers untergebracht hatte, über Monate unentschieden bleiben konnten, weil die Audienzzeit (angeblich?) kaum hinreichte, die eigentlichen Staatsangelegenheiten vorzutragen.229 Enttäuschungen und Ohnmachtserfahrung, ein gewisser Zynismus waren das eine Ergebnis. Eine Form der Domestizierung das andere. „Unangemessene" Sprache wurde nachteilig, Regelverstoß oder -Unkenntnis fatal: der überschwengliche Herrengestus unmöglich.230 Es gab Normen und Standards des Auftretens, die akzeptieren und internalisieren musste, wer etwas erreichen wollte, bis hin zur stringenten, schnörkellosen Formulierung von Suppliken, die ohne Rücksicht auf Stan-

223 LTA 1797, LVVA 640/4/4, pp. 244f., 308 (Dienstanstellung), 298 f. (Rechtsstreit), 314ff. (Oberhofgerichtssteile), 317f. (Auszahlung einer zurückgehaltenen

Pension). 224 225 226

SpaldinganKorff 17.u. 19.12.1809,LVVA640/2/158,pp. 7,9f.;Kanzlerv. Medem andens. 13.11.1809, LVVA 640/2/158, p. 12, passim. SpaldinganKorff 17.12.1809, LVVA 640/2/158, p. 10. N.N. v. Keyserling an Korff 17.2.1809, LVVA 640/4/4, p. 293: "Vielleicht ist in diesem Augenblick schon meine Angelegenheit im Senat zu St. Petersburg zu meinem Nachtheil entschieden! Dennoch wage ich es Ewr. Excellenz Gewogenheit mit nachstehender Bitte anzutreten. Die unbesiegbare Qualität meines Nebenbuhlers hat in den Personen der Geheimen Räthin Vietinghoff und der Gräfin Lieven ihre Stützen. Seine Vorzüge sind ins Auge fallend nehmlich eine Buchstabe mehr im Namen und 50 Stimmen weniger als ich. Haben Ew. Excellenz doch die Güte und treten hier durch dero Vermittlung dazwischen! Vielleicht läßt es sich noch verhindern daß diese beiden Dames nicht dem Land ein Geschenk machen wogegen es sich in der ertheilten Stimmenzahl schon deutlich genug erklärt hat. Weit davon entfernt durch eine dreimalige Hintansetzung abgestumpft zu seyn, würde ich die gegenwärtige um so lebhafter fühlen müssen da sie mir die unumstösliche Ueberzeugung gäbe daß Pflicht Erfüllung im öffentlichen Wirkungskreise nie belohnt wird. Mit unveränderlichen Gesinnungen der tiefsten Verehrung und Ergebenheit habe ich auf immer die Ehre zu seyn Ew. Excellenz ganz gehorsamster Diener vKeyserling." Der „Buchstabe mehr" mag sich auf die auseinandertretenden Schreibweisen Keyserlingk und Keyserling beziehen; vgl. GenHB, Bd. 1, S. 125. Ähnliche gelagerte Fälle: LVVA 640/4/4, pp. 294, 310ff. Briefe Spaldings 10.8. und o.D.1809, LVVA 640/2/158, pp. 25f. Medem an Korff 20.3.1809, LVVA 640/2/158, p. 26. Brief Spaldings o.D.1809, LVVA 640/2/158, p. 26. Hahn, In Gutshäusern, ?. 245ff.; LVVA 640/3/4. Vgl.a. Lotman, Rußlands Adel, S. 386, zum Bestehen Alexanders I. auf Servilität seines Umfelds. -

-

227 228 229 230

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desempfindlichkeiten, Gewohnheit oder Traditionsbewusstsein harsch eingefordert wurde.231 Deutlicher als im provinzialen Institutionenwandel, wo personelle, Begriffs- und Gepflogenheitskontinuitäten manches verschleierten,

machte sich die neue Herrschaft überall dort fühlbar, wo sie zumal unter Paul I. strikt und unbefangen durchregierte. (Vor-) Zensur,232 das zeitweilige Verbot von Studien im Ausland233 und die spätere Bindung des Ämterzugangs an russländische Abschlüsse234, reichsweite Aus- und Einfuhrbestimmungen,235 ein Forstreglement,236 zahllose, nicht immer -

-

231 232

Angesichts notwendig gewordener Wiederholung unter Geldstrafe: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 2.3.1800 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1800). Amburger, Behördenorganisation, S. 146ff.; Einfuhrzensur, dann -verbot auf ausländische Zeitungen, Bücher, Drucke und Noten: Befehle Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 11.6.1798, 12.5.1800 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1798, 1800); Rückkehr zur Import- und bloßen Vorzensur: Befehle usw., publ. Mitau 25.4.,

14.8.1801, 11.3., 17.5.1802 (ebd. 1801, 1802). Auch das Verbot der Mitnahme von Privatbriefen bei Reisen ins Ausland dürfte nicht, wie reklamiert, bloß zum Schutz der Postrevenüen gedacht gewesen sein: Befehl usw., publ. Mitau 7.2.1799 (ebd.

1799). 233 Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 23.6.1798: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1798; generelle Reiserestriktionen und abermals Lockerung unter Alexander I.: Befehl usw., publ. Mitau 8.5.1801 (ebd. 1801). 234 Befehle Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 20.4., 23.10.1803: Kurl. Gvts. Reg./Patente 1803; Ausdehnung 1818 und 1824: Befehl usw. publ. Mitau o.D. 9.1824 (ebd. 1824). 235 Getreideausfuhrverbot: Befehle Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 4.5.1799, 9.2.1800 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1799, 1800); aufgehoben für kurländischen Überschussweizen und Gerste: Befehle usw., publ. Mitau 7.3., 24.10.1800 (ebd. 1800); Holzausfuhrverbot zum Besten der Flottenrüstung: Befehl usw., publ. Mitau 11.8.1799 (ebd. 1799); bzgl. Rohleder, Gerste, Kornbranntwein, Hopfen: Befehle usw., publ. Mitau 30.3., 12.4., 4.5., 16.11.1800 (ebd. 1800); Einfuhrverbot auf Porzellan und glasiertes Tongeschirr: Befehl usw., publ. Mitau 17.12.1800 (ebd. 1800); auf Stahl, Seide und Tuche, Pferde, Salz: Befehle usw., publ. Mitau 22.1., 25.1.1801 (ebd. 1801). Alexander I. betrieb dann eine freihändlerischere Außenwirtschaftspolitik und führte zunächst die alten Zolltarife wieder ein: Befehle usw., publ. Mitau 30.3., 19.4., 25.4., 4.10.1801, 25.10.1802, 21.1.1803 (ebd. 1801, 1802, 1803), verfügte im Laufe der Zeit jedoch gleichfalls Verbote etwa auf die Einfuhr von „Tisch- und Wanduhren in Futteralen mit Bronze belegt", die Ausfuhr von Pferden, die Einfuhr baumwollener Zeuge und von Salpeter: Befehle usw., publ. Mitau 3.3.1803, 31.3.1804, 25.1.1805, 27.6.1806 (ebd. 1803, 1804, 1805, 1806). Immerhin wurde 1805 der Seehandel von der Zollheraufsetzung auf 33 Kop. B.A. je Bouteille Champagner bzw. 18 Rbl. B.A. 75 Kop. je 240 Bouteillen „aller anderen ordinairen französischen Weine wie auch Burgunders" ausgenommen: Befehl usw., publ. Mitau 28.3.1805 (ebd. 1805). Santé. 236 Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 31.8.1805: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1805; Neuschäffer, Forstgeschichte, S. 63; vgl. a. unten, S. 277f.

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realitätsnahe Verfügungen von Bauernschul-237 und Medizinalordnungen238 über Arbeitszeitregelungen und Anwesenheits- inklusive Dokumentationspflichten für Beamte und Kanzleiangestellte239 bis zu symbolpolitischen Kleidererlassen240, einem Rauchverbot unter freiem Himmel, in Wäldern und der Nähe von Holzbauten,241 endlich eine allgemeine Bejagungsfreigabe auf Murmeltiere242 übersetzten den Indigenen das Ende ihrer Selbstherrlichkeit, den modernen Verwaltungsstaat in Alltag. Nachdem der Topos der Freiheit in den politischen Auseinandersetzungen der Herzogszeit schillernde Prominenz gewonnen hatte, musste der Autonomieverlust, die Erfahrung einer detailliert befehlenden Metropole und des schwankenden Privilegienbesitzes ernüchternd auf den Adel wirken: 1795 wandelte sich seine Libertät und Machtposition von einer verfassungsrechtlich gegründeten in eine nurmehr faktische, prekäre. Angesichts der institutionellen Restitutionen, perpetuierter Alltagspraxen und weitgehender Fortschreibungen sozialer Statusdifferentiale243 ließ sich nichtsdestoweniger vieles mit Fassung tragen (oder unterlaufen244). Empfindlich bemerkbar machte sich die Veränderung hingegen in den direkten Kosten, die die Inkorporation brachte.

Majestät usw., publ. Mitau 31.8.1803, 8.7.1804: Kurl. Gvts. Reg./Patente 1803, 1804. Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 18.5.1804: Kurl. Gvts.Reg./Patente

237 Befehle Sr. Kaiserl. 238

1804. 239 Order des Kurländischen Gouvernements-Prokureurs, publ. Mitau 22.1.1824: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1824; wider die Unsitte des Urlaubnehmens: LVVA 412/2/34, p. 1. 240 Befehle Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 30.7.1798, 26.4.1799, 21.3.1800 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1798, 1799, 1800): „daß keine Mannsperson, bey Uniform oder deutscher Kleidung, das Haar auf die Stirn herabgekämmt tragen soll" (1799); wer in Dienst stehe oder je gestanden habe, habe in Uniform oder „deutschen Röcken" zu gehen, keinesfalls „Gilets, Kurtken, Pantalons, dicke Halsbinden, Fracks noch andere Kleider" zu tragen (1800). 241 Befehle Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 24. /26.5.1798,9.6.1802: Kurl. Gvts. Reg./Patente 1798, 1802. 242 Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 4.5.1829: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1829. 243 Nicht zuletzt blieb das russische Recht ohne nennenswerten Einfluss auf die Entwicklung des provinzialen Privatrechts: Ylander, Rolle des römischen Rechts, ?. 440. 244 Etwa wichen Heimreisende angesichts der lästigen Passbestimmungen an der Grenze auf Schleichwege aus, worauf die Regierung die absurde Forderung erhob, auch kurzfristiger Verwandtenbesuch solle sich gegenüber dem Gastgeber stets erst legitimieren, bei dessen Haftung: Zivilgouverneur v. Driesen an Korff 9.7.1799, LVVA 640/4/212, p. 60.

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Die Agonie des Ancien

Régime

Kosten

Das Russische Reich war ein kriegführender Staat. Es eroberte, bot Ordnungskompromisse gegen Rekruten und Ressourcen und investierte diese in Expansion. Darüber entwickelte es eine Tradition der Bevorzugung militärischer Macht245 bei Zuweisung einer dienenden Funktion an die ökonomische und Präferenz politischer Macht über ideologische.246 An kultureller Mission vergleichsweise desinteressiert, suchte die Zentrale unterworfene Eliten nach Möglichkeit einzubinden, lokal wie auf Reichsebene; ihr Ordnungsanliegen folgte primär einer Logik der Steigerung (militärisch) nutzbarer Ressourcen und der Effizienz ihrer Extraktion.247 Für die Untertanen bedeutete das erhebliche Belastungen aber auch die Aussicht auf Karrieren, Beuten, Lieferkontrakte, nicht zuletzt örtliche Herrschafts- beziehungsweise Statuswahrung. Moskau-Petersburg mochte die berüchtigte Knute schwingen,248 aber es lieh sie auch her, wo dies im Sinne stabiler Verhältnisse schien. Letztendlich erwies sich Russland in Verteilungsfragen kompromissbereit und über lange Strecken erfolgreich darin, Abschöpfung und Chancenzuweisung, Mobilisierung und Loyalitätssicherung in der Balance zu halten. Doch das greift vor. Hier ist zunächst anzusprechen, was die Betroffenen als erstes wahrnahmen, die impériale Extraktion. Finanzfragen als Gegenstand ständiger Sorge und schwerer, dynamisierender Konflikte ziehen sich durch die politischen Debatten des herzoglichen wie des russischen Kurland. Ihre Konstante war eine ausgeprägte Aversion der Akteure gegen öffentliche Lasten bei einem kaum minder entwickelten Interesse an privaten Vorteilen.249 Unter den Bedingungen des Ancien Régime hatte beides zusammen zu den geschilderten Auseinandersetzungen geführt und hatte die Ritter- und Landschaft in der Hoffnung auf ein profitables Ende des juristisch geführten Bürgerkriegs Schulden von immerhin 37 859 Rth. alb. kontrahiert.250 Nun fiel -

245 Im 18. Jahrhundert die effektivste Armee Europas: Hosking, Russia, S. 183 ff. 246 In Anlehnung an Michael Manns Modell der „vier Quellen und Organisationsformen von Macht": Mann, Geschichte der Macht, Bd. 1, S. 15f., 46ff. Eine Verabsolutierung wird damit nicht behauptet; etwa wiesen der katharinäische Aufklärungsgestus wie die Reform- und Verfassungspolitiken Alexanders I. erhebliche Elemente ideologischer Machtbildung auf. Vgl. a. Neuschäffer, Unterschlagene Machtpolitik; Wortman, Scenarios. 247 Kappeler, Vielvölkerreich, S. 75 ff., 93 ff. 248 Trotz eigener Ruten und Stöcke war sie auch den Kurländern unheimlich-sprichwörtlich: Heyking, Letzte Tage, S. 483. 249 Geschichte überrascht durch ihre Überraschungsarmut. 250 LTS 6.3.1797, § 16: LVVA 640/4/96, p. 327.

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deren Abtragung mit sprunghaft ansteigenden Staatslasten und im Lande verminderten politischen Einkommenschancen zusammen. Nur folgerichtig griff man auf die Restitution durch Paul I. hin die Forderungen an Biron wieder auf: Bei den Gerichten sollten Wohnungen für die Hauptleute und Gefängnisse für die Delinquenten eingerichtet werden, die Stellen vermehrt, Salärs erhöht, usf.251 Die Ritterschaft unterstellte eine Einsicht in den Anspruch der Kompositionsakte und sah die Krone in der Pflicht. Deren Interessen und Sorgen waren indes andere. Katharina hatte ihrem Sohn ein immens vergrößertes, wenn nicht überdehntes Reich und eine Staatsschuld von 200 Millionen Rubel hinterlassen.252 Teil der unter Paul einsetzenden Konsolidierungspolitik war ein Umbau des Staatsapparats, eben die Aufhebung der Statthalterschaftsverfassung unter anderem in Kurland und Reduzierung von Behörden andernorts, der zusätzliche Investitionen in die Gouvernementsinfrastraktur kaum vorsah. Vielmehr konfrontierte die Regierung den Adel bereits im Januar 1798 mit einer neu aufgemachten Rechnung für seine Privilegien:253 Da Gerichte und Verwaltung in den Provinzen wesentlich vom Adel besetzt würden, sollte dieser zu den Vorzügen, die er genoss, auch beitragen und die Behörden aus den Etats der Gouvernements unterhalten in Kurland betraf das die Justiz,254 die Landmesserei, Bau- und Medizinalbehörden.255 Darüber hinaus wurden vom Adel jedes Gouvernements eine Kontribution zur Kronskasse gefordert, aus Kurland 20000 Rubel,256 und die Stempelgebühren und die Kopfsteuer heraufgesetzt.257 Zwar gelang es der ritterschaftlichen Lobby, eine Befreiung der Provinz insbesondere von der Besitzwechselsteuer auf Im-

251 LTA 1797, LVVA 640/4/96, pp. 301, 303. 252 Das Dreifache eines Jahreshaushalts: Safonov, Imperatorskaja vlast', ?. 150. 253 Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 15.1.1798: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1798, auch zum Folgenden. 254 Also das Oberhofgericht bzw. Piltensche Landratskollegium, die Oberhauptmannsund Hauptmannsgerichte sowie das Konsistorium. Die Städte sollten analog für ihre Behörden aufkommen. 255 Die allgemeine Wiederherstellung der Adelsrechte durch Alexander I. hob diese Belastung zumindest teilweise: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 14.8.1801 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1801). 256 In der Summe aller Provinzen 1 640000 Rubel: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ.Mitau 15.1.1798 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1798)-ein Tropfen auf den heißen Stein. 257 Gebührenordnung: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 22.10.1798 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1798). Hinzu kam noch eine Getränke- und Branntweinsteuer: Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 321.

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Die Agonie des Ancien

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mobiliartransaktionen zu erlangen,258 zeitweilig auch von der Kopfsteuer.259 Doch empfand man die übrigen Abgaben, Handelshemmnisse und Teuerung, nicht zuletzt den Verlust des Arrendemonopols an Kronsgütern260 und Abfluss der Pachtsummen261 als drückend vor allem aber die Einquartierungen und Rekrutenforderungen. Menschlich wie materiell stellten die Aushebungen den stärksten, für die Betroffenen einen dramatischen Einschnitt infolge der Unterwerfung dar; für die Gutsbesitzer bedeuteten sie einen unmittelbaren Verlust an Arbeitskräften, also der traditionell knappen landwirtschaftlichen Ressource.262 Berechnete Friedrich v. Fircks schon aus den zwischen 1797 und 1802 ausgehobenen 2530 Mann263 einen Einkommensverlust von gut 120000 Rth. alb. im Jahr,264 so wurden 1803-1806 abermals zwölf,265 zwischen 1809 und 1814 gar 30 Rekruten je 500 Seelen ausgeschrieben,266 ein Mehrfaches.267 Die tatsächlichen Verluste lagen noch um einiges höher, da die Bauern die Einziehung auf 25 Jahre268 fürchteten wie kaum etwas und sich ihr durch Widerstand, Flucht, Selbst-

258 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 321 ; zur Verteidigung des Privilegs gegen den Finanzminister vgl. a. den Auszug aus den Sitzungen des Ministerkomitees vom 11.3. u. 19.8.1824 im Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 27.11.1824: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1824. 259 So Fircks, Die Letten in Kurland, S. 43. Allerdings kann es sich allenfalls um eine kurzfristige oder Übergangsregelung gehandelt haben, vgl. Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 321. 260 Wiederholte Vorstöße zur Wiederherstellung dieses Vorrechts des indigenen Adels scheiterten am Klientelbewusstsein des Hofs: LTS 21.4.1817, §9; LTA 1819, Relation der Committee, §2; Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 338; Whelan, Adapting to Modernity, S. 97. Zu den Folgen s. u., S. 315 f. 261 Nach Deckung der Verwaltungsausgaben: Gouvernementsetat 1795/96, LVVA 412/2/86 (wie Anm. 218). 262 Hinzu kam, dass die Militärflüchtigen aus Preußen ausblieben: Fircks, Die Letten in Kurland, S. 59; ein undatierter Verschlag für das Kirchspiel Grobin weist vielmehr rund 330 vor der Rekrutierung nach Preußen Entlaufene aus: LVVA 640/4/216, p. 202. 263 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 56. 264 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 57. 265 Befehle Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 29.10.1803,13.10.1804,21.10.1805, 12.10., 19.11.1806: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1803, 1804, 1805, 1806. 266 Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 15; allerdings mögen zumal Aushebungen wie die von 13 Mann auf 500 Seelen 1813 (ebd.) nicht restlos vollzogen worden sein. 267 Außerdem wurde 1807 eine Landmiliz von 12000 Mann aufgestellt, die aber bei allen Kosten ihr Personal nur temporär band: Befehle Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 14.12., 21.12.1806 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1806). 268 Bei anschließender Freiheit: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 21.10.1805 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1805); die 1793 vorgenommene Limitierung der bis dahin lebenslänglichen Frist machte für die Ausgehobenen einen geringfü-

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Staat

im Extremfall Selbstmord entzogen -269 sie erfuhren, was ihre Besitzer finanziell traf, als existentielle Bedrohung.270 Zudem achtete die Regierung auf die soziale und physische Qualität der Gestellten: Die Abgabe von Herumtreibern, Landfremden usf. war ebenso verboten,271 wie körperlich untüchtige, etwa kleinwüchsige Rekruten zurückgewiesen wurden.272 Mithin war es nicht nur Menschenfreundlichkeit273, wenn zahlreiche Gutsbesitzer nach 1802 von einem Gesetz Gebrauch machten,274 das ihnen die Ablösung eines Rekruten „in natura" durch eine Geldabgabe von 360 Rbl.S. erlaubte,275 wiewohl diese

Verstümmelung,

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270

271

gigen Unterschied (vgl. Hosking, Russia, S. 186), für die Besitzer waren selbst die Überlebenden verloren. Vgl. a. Dixon, Modernisation, S. 91 f. Fircks, Die Letten in Kurland, S. 57f.; Hahn, In Gutshäusern, S. 182; vgl. a. Anm. 262. Beunruhigung der Regierung über das Ausbluten des Grenzsaums: Generalgouverneur Buxhöwden an Korff 18.2.1805, LVVA 640/4/216, p. 18; kurzfristige und möglichst abgestimmte Aushebung als Gegenmaßnahme: Umschreiben des Landesbevollmächtigten 15.10.1806, Kurl. Gvts.Reg./Patente 1806; scharfe Sanktionierung von Selbstverstümmelungen: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 13.10.1804 (ebd. 1804); Vörtäuschung epileptischer Anfalle durch die Rekruten: Befehl usw., publ. Mitau 30.1.1829 (ebd. 1829); Aufruhr infolge von Aushebungen zur Miliz (!) 1806: Relation der Committee 1808, §56 (LVVA 640/4/105, p.7). Ergänzend sei bemerkt, dass die Frauen der Rekrutierten eine Belastung der Bauerschaften darstellten, der sich diese verschiedentlich durch (illegale) Vertreibung zu entledigen suchten: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 12.2.1825 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1825). Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 1.7.1798: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1798. Die Rekrutierung aus stabilen sozialen Verhältnissen trug wesentlich zur Schlagkraft der Armee bei: Hosking, Russia, S. 186. Darauf, dass sich gleichwohl die Möglichkeit bot, missliebige oder untüchtige Leute abzuschieben, weist der Widerstand des Adels gegen das 1829 eingeführte Losverfahren hin: LTA 1832,

Relation der Committee, § 58. 272 Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau o.D.4.1798: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1798; Konzessionen: Befehle usw., publ. Mitau 21.10.1805,12.10.1806 (ebd. 1805,

1806). 273 So Fircks, Die Letten in Kurland, ?. 54; doch spielte wohl auch das, Humanität, eine Rolle, wenn etwa Sophie v. Mengden 1805 eine Hilfskasse für den Freikauf stiftete: Sväbe, Kurzemes muizas tiestbas, S. 14f; Kurland und seine Ritterschaft, S. 41. Nicht als einzige: Sväbe, a.a.O., S. 28. 274 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 53, zufolge drei Viertel, was aber kritisch zu lesen ist; vgl. a. LVVA 640/4/216, p. 47. Auch der Adel als Korporation votierte 1803 mehr oder weniger einmütig für eine Ablösung der von den Ritterschaftsgütern geforderten Rekruten aus den Revenüen: ebd./4, pp. 231 ff., 241, 252, 274; nur in Dünaburg-Überlautz, also dem notorisch klammen Oberland, fiel der Antrag durch: ebd., p. 245. 275 Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 15.1.1802: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1802; 360 Rbl.S. oder 500 Rbl. B.A. für die Grenzgouvernements: Befehl usw.,

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Die Agonie des Ancien

Régime

rund 100 bis 150 Rbl.S. über dem gängigen Marktpreis lag.276 Die Barablöse bewahrte dem Besitzer die besten Arbeitskräfte und wendete einen deutlich über den unmittelbaren Schaden hinausgehenden ab.277 So verlor ein grenznaher Erbherr, Peter Georg von Offenberg auf Illien und Sarraiken, in kürzester Zeit 96 Leute, von denen er nur 31 unter großen Kosten und Mühen und nicht zuletzt der Zusicherung, keinen von ihnen als Rekruten zu geben, zur Rückkehr bewegen konnte -278 während sein Nachbar Lewin Leopold v. Nolde auf Klein-Gramsden festhielt, dass ihm „wärend der Zeit der Rekruten-Aushebungen" niemand entlaufen sei: Er hatte „seit der Allerhöchsten Kayserlichen Bewilligung die Rekrutensteuer bezahlt".279 Viele freilich sahen sich dazu außerstande und drängten auf eine Absenkung des Satzes zumindest für die Grenzprovinzen.280 Gleichzeitig standen 10000 russische Soldaten dauernd im Land.281 Da deren Verteilung wie die Repartition der Infrastrukturausgaben unter Mitsprache der Landschaftsorgane geschahen, drückten die materiellen Belastungen zugleich auf die Solidarität der Gutsbesitzerschaft.282 Die schwächer betroffenen Kreise forderten eine Deckung der von den Regimentern verursachten Kosten in den Oberhauptmannschaften, die stärker belasteten eine landesweite Umlage;283 einzelne Kirchspiele saum

276

277

publ. Mitau 3.6.1803 (ebd. 1803); allgemein für das Reich: Befehl usw., publ. Mitau 13.10.1804 (ebd. 1804); frühere Regelungen in dieser Richtung (1797) und spätere Einschränkungen: Buxhöwden an Korff 18.2.1805, LVVA 640/4/216, p. 17. Bauernkaufkontrakte aus der Zeit nach 1790, vgl. Anh. 2, Vorbemerkung. Legt man Fircks', Die Letten in Kurland, S. 57, Berechnungen zugrunde, amortisierte sich die Zahlung dennoch innerhalb weniger Jahre. Außerdem ersparte sie den Transport der Gepressten, bis 1805 in die Gouvernementsstadt Mitau, dann immerhin noch in die Kreisstädte: Alexander v. Lysander als Kirchspielsbevollmächtigter von Dünaburg und Überlautz an Korff 9.10.1805, LVVA 640/4/216, p. 71; vgl. a. Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 26.4.1828: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1828.

278 LVVA 640/4/216, pp. 40f. (1805). 279 LVVA 640/4/216, p. 29. 280 LVVA 640/4/216, p. 47: vgl.a. LTS 21.4.1817, § 11: Bitte um Herabsetzung auf 1 000 Rbl. B.A. zu % Rbl. S. 281 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 48; vorübergehend war das die Zahl der allein zur Deckung der Küste um Goldingen dislozierten Einheiten: Diedrich v. Behr-Planetzen an Korff 10.5.1803, LVVA 640/4/216, p. 3. 282 Summarischer Auszug aus den Versammlungen der Oberhauptmannschaften 1797, LVVA 640/4/211, pp. 9f. Die Alternative, Kasernen zu errichten, wurde einmütig abgelehnt, da das noch teurer sei und niemand hoffen konnte davonzukommen. 283 LVVA640/4/21 l,p. 10. -

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hen sich willkürlich überfordert.284 Diedrich v. Behr, auf dessen Gütern Pianetzen, Virginahlen und Kurmahlen bis zu 450 Mann und 13 Offiziere Krüge, Herbergen, Ställe, Kleeten, Mälzhäuser besetzten, klagte über Ungerechtigkeit, „und daß eine gemeinschaftlich zu tragende Last nicht stets ein und dem nemlichen aufgebürdet werden muß, sondern gemeinschaftlich, und wenn dieses nicht ausführbar wechselweise zu tragen" sei.285 Der Landesbevollmächtigte leitete die Eingabe zusammen mit ähnlich gelagerten von Sacken-Abgulden, Brincken-Pedwahlen und Manteuffel-Katzdangen an die Gouvernementsregierung weiter,286 die antwortete, man wolle sich im Einzelfall mit der Militärobrigkeit in Verbindung setzen und nach Lösungen suchen, jedoch warnte, wenn man die einherrigen Komplexe nicht mehrfach heranziehe, würden „auf solche Weise die kleinbesitzlichen Gutsbesitzer alle Last tragen".287 Gerade das motivierte freilich die Beschwerde Pedwahlens, wo über drei Jahre ein Kompaniehaus eingerichtet war, in einigen der 26 Gesinde bis zu einem Dutzend Mann lagen während im selben Kirchspiel (Zabeln) Güter von der doppelten Größe gänzlich unbehelligt blieben. Mehr noch, da Pedwahlen keinen Wald hatte, musste es den Holzkonsum des Militärs auf private Rechnung aus Kabillen (Keyserling) decken, das so noch profitierte.288 Und ähnlich wie bei den Rekrutierungen übersetzten sich die materiellen Einbußen der Herren für ihre Untertanen in existentielle Not: Selbst wenn die auf den Gesinden Einquartierten nichts mit Gewalt forderten was durchaus auch vorkam289 -, „so ist doch der Bauer um seiner Ruhe wegen genöthigt, das Letzte herzugeben, um die Soldaten satt zu machen, welches den Bauern in der Fortsetzung schlechterdings zugrunde richten muß."290 Indem sie anders als die nach einem festen Schlüssel erhobenen Barabgaben über die unmittelbare Vermögensschmälerang hinaus Streit, Unordnung und erhebliche soziale Kosten verursachten, erwiesen sich die direkten Militärlasten als die drückendsten für die Provinz. -

-

-

284

Kirchspielsbevollmächtigter Carl v. Roenne an den Tuckumschen Oberhauptmannschaftsbevollmächtigten v. Medem 8.1.1799 wegen Holzfuhren für den Lazarettbau

in Tuckum, LVVA 640/4/212, p. 12. 285 Behr an Korff 10.5.1803, LVVA 640/4/216, pp. 3f. 286 25.8.1803, LVVA 640/4/216, p. 5. 287 Aus der Gouvernementsregierung an Korff 8.9.1803, LVVA 640/4/216, p. 11. Ein ähnliches Problem ergab sich bei der Verteilung der Rekrutenforderungen unter den Gütern mit weniger als 500 Seelen, der üblichen Bemessungsbasis: LVVA 640/4/212, pp. 8ff. 288 Wie Anm. 286; undatierte Abschrift der Beschwerde: LVVA 640/4/216, pp. 169f. 289 Fircks, Die Letten in Kurland, ?. 10. 290 Klage Pedwahlens, LVVA 640/4/216, p. 169.

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Die

Agonie des Ancien Régime

Immerhin kam 1805 eine gewisse Ordnung in die Umlegung der Landes-Prästanden, das heißt der am Ort zu erbringenden Leistungen eben Truppenquartierungen, aber auch Durchmarschgeleite, Posthäuser, Kasernen- und Lazarettbau, Fuhrdienste -, wobei sich die Zentrale auf charakteristische Weise des lokalen Kompetenz- und Legitimitätsreservoirs bediente:291 Zunächst hatten der Gouverneur und der Vizegouverneur als Chef des Kameralhofs den Gouvernementsadelsmarschall/Landesbevollmächtigten zur Aufstellung des notwendigen Haushalts heranzuziehen. Dann entsandten die Adelsversammlung und, sofern sie mitbetroffen waren, die Städte Deputierte, die die Repartition der Lasten vornahmen; dabei stand es dem Adel ausdrücklich frei, denselben Modus anzuwenden, nach dem er sich Landschafts-Willigungen auferlegte. Auch im Fall, dass die Beteiligten anboten, eine Leistung nicht zu finanzieren, sondern „in eigener ökonomischer Disposition" direkt zu erbringen, war dies „vorzüglich zu berücksichtigen". Einen Einfluss auf den ihnen vorgelegten Anschlag hatten die Deputierten jedoch nicht mehr.292 Nach Bestätigung der Repartition durch den Generalgouverneur wurden die Barmittel dann gemeinsam mit den Kronsabgaben zum Kameralhof eingezahlt und von diesem verwaltet, abermals unter Aufsicht des Gouverneurs und Zuziehung des Adelsmarschalls. Die lokale Aufsicht führten die örtlichen Kreismarschälle; ausserdem wurde auf die exekutive Infrastruktur der Hauptmannsgerichte -

zurückgegriffen.293 Teil eines Imperiums

zu sein erwies sich als teuer. Der korrespondierende Sicherheits- und Ordnungsgewinn hingegen stellte sich nur allmählich ein. Dass er angesichts der europaweiten Verwerfungen, die bereits das Ende des Herzogtums herbeigeführt hatten, auch ganz ausbleiben oder annulliert werden konnte, erfuhren die Kurländer, als 1808/12 der letzte Ausläufer des großen Bebens das Land erreichte: Die Kosten, die Kontinentalsperre und Napoleonische Besetzung verursachten, übertrafen den vorherigen und den folgenden Kriegsaufwand noch einmal dramatisch. Nunmehr unübersehbar trat neben dem Selbständigkeitsverlust und der institutionellen Anpassungskrise der krisenhafte Verlust der ökologischen und sozialen Balancen hervor, wurde die Erosion des ständischen Zusammenhalts akut und wuchs die -

-

Orientierungsnot Dysfunktion und Disperspektivität gingen weit über

das Politische

hinaus, oder hinter es zurück. -

291 Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 6.7.1805: Kurl. 1805. 292 Eventuelle Überschüsse flössen in den nächsten Haushalt. 293 LVVA 640/3/538, pp. If.

Gvts.Reg./Patente

5

Gesellschaft

1794 wandte sich Ernst v. Grotthuß in einer Flugschrift gegen die willkürliche Behandlung der Leibeigenen, „wodurch dem Bauer nicht allein eine übermäßige Last aufgeleget, sondern er auch verhindert wird, sein eigenes Feld gehörig zu bearbeiten".1 Im selben Atemzug verurteilte Grotthuß die ausgedehnte Brennerei, das Überhandnehmen der Krüge und Schenken sowie „die Ausrottung der Wälder" und plädierte schließlich für die Errichtung einer Bank, „wegen des Geldmangels". Die Anliegen waren nur vordergründig unsystematisch zusammengestellt. Grotthuß sprach die zentralen Elemente einer Gesellschaftskrise an: die Zerrüttung des sozialen Gefüges auf den Gütern, den Verlust ökologischer Gleichgewichte und einen instabil angespannten Finanzmarkt. Als Ergebnisse der Praxis der Bereicherung sowie des Mächtekonflikts hingen sie zusammen und wurden um 1800 akut. In der Folgezeit resultierten daraus Differenzierungs- und Anpassungsprozesse, begleitet von heftigen politischen Auseinandersetzungen, die schließlich die Kohäsion der Ritterschaft unterminierten und die verbliebene ständische Autonomie gefährdeten.

5.1 Land und Leute Erosion der

Grundlagen

Die Bereitschaft zur Meuterei, die die Gutsuntertanen während der polnischen Invasion an den Tag gelegt hatten, entsprang wesentlich der jahrzehntelangen Steigerung ihrer Belastung. Im neuen Jahrhundert stieß die extensive Exploitation auf dem Land an ihre Grenzen, in sozialer Hinsicht wie ökologischer. Ihr treibendes Prinzip war der Raubbau, an der Natur wie den Herrschaftsbeziehungen: Die exportorientierte Feldkultur verbrauchte Legitimität ähnlich ersatzlos wie Holz und Böden. Zugang zu Holz war längst Gegenstand nachbarschaftlicher und politischer oder semipolitischer Auseinandersetzungen zwischen Herzog und Adel geworden.21805 dann erörterten Derschau und Keyserling das 1 Schwartz, Staatsschriften, Nr. 271, S. 442f. 2 Klage des Herzogs über die „Verwüstung der Forsten und Waldungen" im Arrendesystem: Biron an Manteuffel 24.7.1787, LNB Rx 111 /1 /12, p. 5; sein Recht zur Regulierung offensichtlich nicht durchsetzbar (1772): Ziegenhorn, Staats Recht, § 593, S. 224. Die großen Wäldereien längs der Düna waren schon im 17. Jahrhundert für den Rigaer Export abgeschlagen worden: Pävuläne, Rigas tirdzniecTba,

278

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Problem in ihrer Landesstatistik:3 Zwar gebe es noch ansehnliche Bestände auf einigen Privatgütern und in den Kronsforsteien, doch lägen diese großteils abseits der hauptsächlichen Verbrauchsorte, der Gouvernementsstadt Mitau und den dichter besiedelten, landwirtschaftlich intensiver genutzten Kirchspielen. Dort habe der Feldbau die Wälder dramatisch zurückgedrängt. Die Ackerausweitung wiederum forderte mehr Dünger, man verwandelte Buschland in Wiesen und Weiden, anstatt es aufzuforsten, und zugleich wuchsen der Bau- und vor allem Brennholzbedarf. Denn über den gewöhnlichen Verbrauch verlangte das Klima starke Heizung und befeuerte Riegen zur Trocknung und Härtung des frisch gedroschenen Getreides.4 Trotzdem wurde selbst eine rudimentäre Holzbewirtschaftung nur auf wenigen Besitzungen betrieben, alles Auso dass Bodenerosion stellenweise sogar die Äcker bedrohte für auf der den Hervorbringung von Feldfrüchten, Eigenbegenmerk lag darf und Export, und je weiter diese Einseitigkeit die Grenzerträge minderte, desto angestrengter konzentrierte man Flächen und Kräfte eben darauf.5 Gegenläufige Appelle und Ermahnungen blieben im Allgemeinen, schwach angesichts handfester Marktinteressen des Herzog wie der Privatherren. Nach der Unterwerfung erging zwar ein Forstgesetz, das an die entsprechenden Verordnungen für Livland angelehnt war, eine geordnete Vorsorge anstrebte und zu diesem Zweck die Forstaufsicht neu strukturierte.6 Doch konterkarierte der Bedarf des einquartierten Militärs die Maßnahme, standen ihr die Interessen der Arrendatoren entgegen und unterlief zudem der kaiserlichen Ökonomie-Direktion ein klassischer Fehler zentralisierter Verbesserungswirtschaft, indem sie die großflächige Anpflanzung der Scheinakazie (Robinia Pseudoacacia) befahl, eines in mancher Hinsicht vorteilhaften Nutzholzes bloß, dass es in der Provinz nicht gedieh.7 Im Einzelfall wirkte der Befehl stimulierend auf experimentierfreudige Gutsbesitzer, den natürlichen Bedin-

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3 4 5

6

7

S. 65. Allgemeine Devastierung der europäischen Wälder in der Frühen Neuzeit und Holznot im Ostseeraum im 18. Jahrhundert: Neuschäffer, Forstgeschichte, S. 7,46. Derschau/Keyserling, Beschreibung, S. 67 ff., 253 f. Ein Nebenaspekt von durchaus ökonomischer Bedeutung war der Rückgang des Wildbestandes: ebd., S. 120. Vgl. oben, S. 109, 112f. Strods, LauksaimniecXbas vesture, S. 95ff.; ders., Klausu rente, S. 94ff; auch ders., Krona zemnieku klausas; vgl. oben, S. 107f., HOf., 117. Einem Oberforstmeister und seinem Stellvertreter wurden 29 Förster unterstellt, die dem Adel entstammen, über eine entsprechende Ausbildung und Lettischkenntnisse verfügen sollten, mit Widmen ausgestattet sowie mit einem Teil der Strafgelder entschädigt werden: Neuschäffer, Forstgeschichte, S. 63 f. Derschau /Keyserling,

Beschreibung, ?.

70.

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gungen und jeweiligen Nutzungsformen angepasstere Lösungen zu suchen der Einstieg in eine nachhaltige Wirtschaft jedoch, ein Ausstieg aus der Monokultur fand zunächst nicht statt. Ähnlich verhielt es sich mit der Verschlechterung der Böden. Im Zuge der Expansion hatte man nicht nur inferiores Land unter den Pflug genommen, sondern auch die Pflege der Altäcker vernachlässigt. Die angesprochene Zurückhaltung gegenüber der Viehwirtschaft führte zu einer chronischen Unterdüngung, die Durchschnittserträge fielen.8 Neben der Produktstrategie wirkten die Produktionsbedingungen, indem Diversifikation entmutigt wurde von einer Agrarverfassung, die nicht nur fundamentale Eingriffe in die Wirtschaftsweise riskant erscheinen ließ, sondern auch Innovation innerhalb des Systems blockierte: Den Leibeigenen anvertrautes Vieh stellte für diese einen zusätzlichen Gehorch dar,9 dem sie mehr schlecht als recht nachkamen, aus Unwillen, Überlastung oder Desinteresse, und so auch neuerungsoffene Herren frustrierten. Man versuchte es mit Härte und schärferen Anweisungen einerseits, gesteigerter Eigenverantwortung andererseits.10 Doch da sich bereits die fallenden Erträge für die Bauern als zusätzliche Erschwernis auswirkten, stabilisierte sich ein Trend abwärts. Ungeachtet besserer Einsichten11 und punktueller Abhilfen geriet die kurländische Agrargesellschaft in einen Teufelskreis von Leistungsabfall, Neuerungsscheu und Blockade, von schlechterer Ernte zu schlechterer Ernte.12 Der ökologische Effekt fand seinen demographischen Reflex. Ab etwa 1780 kam das Bevölkerungswachstum zum Erliegen, in der folgenden Generation, zwischen 1798 und 1820, schrumpfte die Zahl der männlichen Gutsuntertanen sogar von knapp 171000 auf gut 161000.13 Interpretiert man den Rückgang als Reaktion auf erschwerte Lebensumstände, scheint eine Aufschlüsselung der Zahlen den Vorwurf indigener Zeitgenossen zu bestätigen, die zum einen unter den Kronspächtern die härtesten Herren ausmachten, zum anderen in staatlichen Leistungsfor-

8 DoroSenko, Proizvodstvo zerna, S. 66f., 71 ff. 9 Strods, Krona zemnieku klausas, S. 73f. 10 Vgl. oben, S. 105 ff., 187 ff. 11 Etwa Dullo, Kurländische Landwirthschaft, auf dessen Vorarbeiten dann Derschau /Keyserling, Beschreibung, zurückgriffen: ebd., S. 268f, Anm. Vgl. a. Strods, LauksaimniecTbas biednbu darbtba. 12 Dullo nennt (1804) als schlechte Jahre, in denen die Bauern sich nicht mehr selbst ernähren konnten, 1784, 1785, 1794, 1795, 1799, 1800; hier nach Äbers, Kurzemes muizu likumi, S. 38. 13 Strods, Krona zemnieku klausas, S. 59. Anders Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 311, allerdings mit Belegen für Estland und unter Glättung des mittelfristigen Trends.

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den Faktor sahen, der den Bogen überspannte: Die Zahl der Privatbauern wuchs leicht von rund 107000 auf 110000, während die der Männer auf Kronsgütern deutlich von ca. 64000 auf 51400 zurückging.14 Eins, so das Argument, griff ins andere: Da die vielfach landfremden, oft für wenige Jahre oder höchstens auf Lebzeit eingesetzten Nutznießer beziehungsweise ihre Verwalter an nachhaltiger Wirtschaft weniger interessiert gewesen seien als an kurzfristiger Ertragsmaximierung, erhöhten sie den Druck;15 da sie das Ethos der Fürsorge nicht teilten und seinem primären Durchsetzungsmechanismus, der korporationsöffentlichen Meinung, nicht unterlagen, kompensierten sie auch die zusätzlichen Lasten nicht, die Steuern, Gebühren und Rekruten, die die neue Macht abschöpfte, sondern ließen die Untertanen damit allein, so dass es zu Missverständnissen, Überzahlungen, anschließend zu langwierigen Prozessen kam.16 Diese Tendenz zur Schlechterstellung der vormals besonders geschützten Domänenbauem hatte freilich schon mit Peter Birons Rationalisierangsbemühungen eingesetzt, dem teilweisen Übergang zu kurzfristigen Arrendekontrakten auf Meistbot und zum Disponentensystem.17 Spätestens im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts verstärkten sich dann Wirkung und Ursache, da bei rückläufigem Untertanenbesatz die Fronen mindestens dieselben blieben, die Belastung für den einzelnen also noch weiter stieg.18 Zudem forcierten das ökologische Problem und die Versuche, ihm beizukommen, das soziale. Die Holzfuhren dehnten sich aus; wo die Feidreeschen leicht zurückgingen, stiegen die Heureeschen um so mehr; wo mit Obstbau, Kartoffeln und Viehhaltung experimentiert wurde, traten die Arbeiten nicht an die Stelle der bereits eingeführten, sondern neben sie.19 Mancherorts wurde darüber hinaus die Selbstorganisation in schlichte Akkordfron umgewandelt, indem Feidreeschen der Wirte und der Knechte unterschieden und getrennt zur Bearbeitung zugewiesen wurden.20 Hinzu kamen endlich die ausgeweiteten Staatsfronen, öffentliche und halböffentliche Dienste und

derungen

14 15

16 17

18 19 20

Strods, Krona zemnieku klausas, S. 59. Strods, Krona zemnieku klausas, v.a. S. 89ff,

zu willkürlichen, d. h. nicht in den Arrende-Inventaren vermerkten Belastungen. 1814/21: LVVA2514/1/7, pp. Iff. In dem Punkt stimmten Parteigänger und Gegner des Fürsten überein: Bericht Hütteis 11.8.1791 (Brüggen, Beiträge, S. 456); Howen an Nerger 15./26.2.1793 (Seraphim, Briefe Howens II, S. 24). Gleichsam zur Chiffre dieser Politik wurde der Amtmann Grünhoff, der bereits die Müllerunruhen provoziert hatte: Klopmann, Güter-Chroniken, Bd. 1, S. 4; Heyking, Letzte Tage, S. 420. Strods, Krona zemnieku klausas, S. 67 f., 71 ff. Strods, Krona zemnieku klausas, S. 73 f. Strods, Krona zemnieku klausas, S. 75.

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Arbeiten, die den Kronsbauern als außerordentlicher Gehorch abverlangt wurden: Die Behörden bürdeten etliches von dem, wozu Pächter wie Privatherren bereits auf Lohnarbeiter zurückgegriffen hatten, wie-

der direkt den Untertanen auf.21 Angesichts des notorischen Geldmangels war das naheliegend, aber kurzfristig gedacht, stellte eine Überbeanspruchung dar, und die Heranziehungen wirkten sich um so spürbarer aus, als mit dem in Kurland regulär stationierten Militär nun ein Erzwingungsapparat zur Verfügung stand, der die Evasions- und Widerstandschancen der Untertanen empfindlich beschnitt. Aus dieser Perspektive zeichnete sich ein staatsinduzierter Systemkollaps ab. Betrachtet man jedoch die Bevölkerungszahlen als am einfachsten zu handhabende quantitative Sonde näher, relativiert sich die Bedeutung von Staatsanspruch und Arrendatorenwesen. Allein bis 1805 waren 14000 Staatsbauern in Privatbesitz übergegangen, zumeist durch Güterdonation.22 Das eingerechnet verschiebt sich die demographische Kontraktion von den Kronsgütern zu den Privatgütern. Diese sind quellenmäßig unzulänglich dokumentiert und dürftiger erforscht, doch scheint eine im großen und ganzen analoge Entwicklung beide Gutstypen erfasst die Zeitgenossen, die die Ansprüche und Politik der Krone zu haben zur Wurzel des Übels erklärten, blieben an der Oberfläche. Der Kostenfaktor Staat aktualisierte lediglich eine Krise, die strukturell angelegt war, in der marktorientierten Extraktion auf dem Weg extensiver Exploitation, einer Zwangsarbeit, deren komparativer Produktivitätsnachteil allenfalls vordergründig durch Lohnkostenvermeidung kompensiert wurde.23 Die Krise selbst war wenigstens im selben Maße endogen wie exogen. Praxis der Bereicherung und Diskurs der Aufklärung unterspülten die Restriktionen der hergebrachten moral economy: Diese „Periode der von vielen Gutsbesitzern geschehenen überspannten Anstrengung der Kräfte der Leibeigenen [fiel] gerade in die Epoche, wo sich Cultur und Industrie zu heben anfingen";24 auf den konservativen Vorwurf der „Bauernschinderei" beschieden die, die ihre Leute rücksichtslos roden und neue Hofesfelder anlegen ließen, wo man nicht säe, könne man nicht ernten.25 Eine um den Gedanken der Expansion zentrierte, -

21

22 23 24 25

Das weisen die verlangten Tätigkeiten aus: Strods, Krona zemnieku klausas, S. 77ff., 82ff. Vgl. a. LVVA 7424/1 /24, pp. 26f.: Die Einsätze bedeuteten v.a. lange und kostspielige Abwesenheit zur günstigsten Feldarbeitszeit, den Verlust von Pferden u. ä. LVVA 7424/1/24, p. 26. Vgl. Strods, Krona Zemnieku klausas, S. 95. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 14. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 15; vgl. a. Äbers, Muizu likumi, S. 38.

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entschlossen ertragsrationale Wirtschaftshaltung unterminierte die Leibeigenschaftsordnung, ohne sich von ihr freizumachen, und brachte sie an ihre Auslastungsgrenze. Die lag dort, wo die Subsistenz der Ressource Arbeit nicht mehr gewährleistet war, und sie wurde etwa zur Zeit des Übergangs an Russland erreicht nicht aber primär auf diesen hin. Die unmittelbaren Auswirkungen der Krise bestanden weniger in akuter Rebellionsgefahr, als in den laufenden Kosten, die das überlastete System verursachte. Nicht so sehr Protest, vor allem abgewirtschaftete Bauernschaften forderten die Auseinandersetzung der Zeitgenossen heraus, oft in hilflos anmutender Selektivität, etwa wenn Moritz v. Sacken schon 1784 einen Mindestpreis und ein Naturaltauschverbot26 für Branntwein forderte.27 Überhaupt, der Schnaps: Die Sache ist einen Exkurs wert. Während Grotthuß die Brennerei kritisch betonte,28 erwähnten Derschau und Keyserling sie unter den Ursachen des Holzmangels und der bäuerlichen Armut nur nebensächlich.29 Als Form der agrarischen Veredelung erlangte der Brand in Kurland aufgrund anders gelagerter Marktbedingungen nie das Gewicht wie etwa in Livland,30 und entsprechend war sein Beitrag zur Entwaldung zweitrangig. Eine um so bedeutendere Rolle begann er als Topos der Rede über Moral und Gesellschaft zu spielen: Der kritischen Literatur diente der Alkohol zur zentralen Chiffre für die Korruption der Leibeigenen durch die Herren,31 und durchaus ähnlich argumentierend brachte der reformgesinnte Adel seit etwa -

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26 Die

Naturalzahlung begünstigte spontane Konsumentscheidungen, die die Subunter Umständen das formal dem Gut gehörende Inventar schädigen

sistenz,

konnten: LVVA 2514/119, p. 6 (1823). Schwartz, Staatsschriften, Nr. 190-1, S. 284. Ähnliche Forderungen auch später: LTA 1813/14, LVVA640/4/157, p. 35; LTD 9.9.1827, S. 17; LTD24.3.1833, S. 22; aufgrund älterer Gesetze und im Sinne der Wirtschaftsfreiheit verworfen: LTD 1827 a.a.O. Kreditverbot in Krügen 1801, 1803: Alph. Register der Landtagsverhandlungen, LVVA 640/4/260, p. 8. Fast alle dieser Restriktionen enthielten besondere Schärfen gegen Nichtindigene und den Import, wenn auch selten mit so durchsichtiger Instrumentalisierung des Arguments wie LTS 18.3.1808, §83 (LVVA640/4/103, p. 270): „Um den Nachtheil zu verhüten, den die häufige Einfuhr schlechten Brandweins sowohl dem Brandweinabsatz in der Provinz, als auch der Gesundheit und Moralität der Bauern bringen könnte", sei der Import aus Livland einzuschränken. Wie oben, S. 277. Derschau/Keyserling, Beschreibung, ?. 68; außerdem wurde dabei Torf bevorzugt: ebd., S. 70. Vgl. oben, S. 102, Anm. 13; S. 107. Merkel, Die Letten, S. 27, 31, 37, 128; Liebeskind, Rükerinnerungen, S. 369; auch zur Denunzierung der lokalen Eliten als unkultiviert, vgl. Taterka, „Für den Geist", S. 346f.: Branntwein (und Stullen) im Theaterparterre. -

27

28 29 30 31

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1800 kontinuierlich Deliberatorien zur Bekämpfung der „Trunksucht" gleich einem sittlichen Schwächeanfall ein, die freilich keine Mehrheit fanden.32 Gleichwohl verhandelte man allgemein den Branntwein als Stein des Anstoßes, Ausweis eines Unterschichtenproblems und Krisensymptom schlechthin.33 Beziehungsweise: Ähnlich wie in den jüngeren Hofrechten34 wurde der Schnaps Gegenstand multipler Diskurse mit zugleich emanzipatorischer wie domestizierender Tendenz, deren Fluchtpunkt eine Eigenverantwortung bildete, die auf Handlungsermächtigung einerseits, straffere Ausrichtung an Effizienzvorstellungen und konsequente Haftung für Versagen andererseits abstellte.35 Bezeichnenderweise war es dann mit Friedrich v. Fircks der führende Propagandist eines konservativen Entwicklungsmodells, der eine alternative Interpretation zu der der Gesellschaftskritik anbot und den Branntwein als Ingredienz landschaftlicher Eigenart beschrieb: „Wer in Deutschland und andern südlichen Gegenden drey Weingläser distillierten Branndtwein trinken würde, dürfte sich bald den Ruhm eines Säufers erwerben, indess dieses das gewöhnliche Maass ist, das Jeder in den vornehmsten Ständen täglich trinkt, ohne nur aufzufallen."36 Von einem allgemein fatalen Suff hingegen wollte er nichts wissen.37

32 Wie Anm. 27. In entgegengesetzter Stoßrichtung sollte nach LTS 28.3.1823, § 14, die Committee um eine Aufhebung der regierungsseitig verfügten Restriktion des Branntweinverkaufs in den Krügen einkommen; die Committee sah davon jedoch ab und bat statt dessen um ein Abstellen des „missbräuchlichen" Brennens auf den Kronsgütern: LTA 1827, Relation der Committee, §9. 33 Aus der Rückschau einer sich als zivilisatorisch fortgeschritten verstehenden Zeit benannte 1858 Ernst v. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 106, als Überwinder der archaischen (Un-) Sitten „Bier und Bauernfreiheit"; etwa gleichzeitig und ähnlich kulturgewiss N. N., Broschüren-Literatur, S. 554, zum Niedergang „des in der Natur des Nordens wurzelnden Hauptlasters aller nordischen Völker, der Trunksucht". 34 Vgl. oben, S. 184ff. 35 Zur sozialen Konstruktion des Alkoholismus in europäisch-atlantischen Modernisierungsprozessen allgemein: Jan Dietrich Reinhardt, Alkohol und soziale Kontrolle. Gedanken zu einer Soziologie des Alkoholismus, Würzburg 2005, S. 29 ff. 36 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 87. 37 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 84 ff. Für eine Mittelstellung s. Derschau / Keyserling, Beschreibung, S. 265: „Die Trunkenheit kann man wohl vorzüglich unter die moralischen Gebrechen der Letten zählen. Erwägt man aber das rauhe Klima [...] [...] wo ist der Sterbliche, der nicht in dieser sublunarischen Welt, sich aus dem abgespannten Zustand in einen erhöheten, und wäre es auch durch künstliche Mittel, zu versetzen sucht [...] -und der Lette sollte dieses Vorrechts nicht genießen?" Das Klima, harsch und dem Weinbau feindlich, diente auch Fircks zur Begründung: wie vorherg. -

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Schnaps während der Formierungsphase modemer Selbstverständigungen über Gesellschaft und Geschichte seinen Platz in Identitätsbehauptungen um „Local" und „Eigenart", die sich als „(deutsch-)baltische" tradiert haben,38 während auf der anderen Seite der aufklärerische Tugenddiskurs auch unter diesem Aspekt bis in die sowjetlettische Historiographie nachwirkte und Studien über Die deutschen Gutsherren Einfuhrer und Verbreiter der Trunksucht in Lettland3^ nahelegte. De facto Wirtschaftsfaktor und Wirtschaftshemmnis zugleich, diente der Branntwein als Argument in sozialen Deutungskämpfen und Mittel von Identitätspolitiken, deren gemeinsamer Nenner ein vergeschichtlichtes Zivilisierungskonzept war. Dabei handelt es sich freilich um ein Phänomen, das die Moderne mit ihrem intensiv-gespaltenen Verhältnis zu Rauschmitteln insgesamt durchzieht.40 Systematischer in der Anlage als Sacken, wenn auch ebenfalls an einem Einzelphänomen aufgehängt, publizierte 1787 ein indigener Anonymus eine Schrift Wie wohl der Landplage des jährlichen Bauernvorschusses am sichersten abzuhelfen wäre?4' Auch darin klingt zwar So gewann der

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verschiedentlich ein moralisches Lamento an, doch wird der Kern des Problems in der Anreizstruktur der Agrarverfassung und den übermäßigen Fronlasten gesucht. Ausgangspunkt sind die Unterhaltsleistungen, mit denen etliche Herren ihre Leute durch den Winter bringen mussten. Sie werde „insonderheit derjenige am lebhaftesten fühlen, der in gegenwärtiger theueren Zeit Getreyde zu solchem Vorschuß [hat] kaufen müssen, oder wenn er auch soweit noch nicht gebracht worden, doch sich genöthiget gesehen, den vorhandenen Vorrath seiner Crescentien, aus welchem er sonst ein ansehnliches Capital hätte machen können, ohne weitern Nutzen ausgeschüttet liegen zu lassen, um damit das Jahr hindurch seine Bauern füttern und kümmerlich erhalten zu können."42 Die Vorschüsse, die doch nie zurückgezahlt und irgendwann erlassen würden,43 führten in eine Abwärtsspirale, indem sie den Leibeigenen die

38 Für ihre charmanten Hinweise danke ich Jutta v. Campenhausen. Übrigens grenzt sich von dieser Selbstverständigung und zugleich von „russischen" Trinkgepflogenheiten eine nationallettische Erzählung bewusst ab, die den schluckweisen Genuss von „Rigas Balzams" kultiviert: gesprächsweise Darlegung Arvils Salmes. 39 Strods, Väcu muiznieki. 40 Paradigmatisch für das gesellschaftsgeschichtliche Potential des Gegenstandes: Andrew Barr, Drink. A Social History of America, New York 2000. 41 Anonym, Wiederum ein Wort. 42 Anonym, Wiederum ein Wort, ?. 3. 43 Vgl. a. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, ?. 15; dass die Versorgungspraxis verbreitet war, bestätigt auch die kritische Forschung: Dorosenko, Kto postavljal, S. 49.

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Anreize zu einer sorgsamen Wirtschaftsführung entzögen und nichts bewirkten, „als daß sie den liederlichen Bauern noch liederlicher, und den der es noch nicht ist, zum wenigsten leichtsinnig machen." Denn wenn der gute Wirt sehe, „daß sein sorgloser, verschwenderischer, immer besoffene[r] Nachbar noch dazu von seinem Herrn beschenket wird, so denket er nach seiner Bauernphilosophie", warum er arbeiten und leer ausgehen sollte. „Und so kommt und nimmt jedermann, der Bedürftige Keiner als der so wohl, als der Unbedürftige, und wer leidet am Ende? Gutsherr."44 Dem Szenario nachlässiger, auf keine Zukunft rechnender, wirtschaftlich und moralisch herabkommender Untertanen, in dem bis auf einige betrügerische Höker und Krüger alle Beteiligten als Opfer der Verhältnisse dastehen, folgt Ursachenforschung: „Das allerwichtigste aber, was dem Bauern eine gute Wirthschaft unmöglich macht, sind die bis aufs Äußerste getriebenen sogenannten Leeziben", also „extraordinären" Leistungsforderungen. Kaum fange er an, seine Felder zu bestellen, müsse „dieser bedaurungswürdige Sclave" auf den Hof, oft wegen ganz unnötiger Dinge und über weite Strecken.45 Das unwirtschaftlichverschwenderische Wirtschaften des Untertans wurde demnach herbeigeführt von dem nicht minder sorglosen Umgang der Herren mit ihren Ressourcen, die sowohl eine effizientere Einrichtung scheuten als auch eine Anreizschärfung durch Verweigerung der Vorschüsse, vor allem aus Furcht vor der öffentlichen Meinung.46 Als Lösung schlägt der Autor eine Entlastung der Leibeigenen vor, ihre bessere Ausstattung mit Land, Knechten und Gerät und im Gegenzug die Einstellung aller weiteren -

Unterstützung.

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Der Vorstoß mochte angesichts seiner praktischen Radikalität in der Zeit um 1790 diskutabel sein; nach den Kosciuszko-Unruhen verfestigte sich eine ausgesprochene Timidität in Fragen der Agrarverfassung, und in Grundsatzfragen zumal. Derweil verweist der Text des Anonymus auf das fundamentale Dilemma, das die dynamische Konkurrenz marktlicher, zwangs- und moralwirtschaftlicher Logiken generierte. Miteinander wechselwirkend stellten kaum restringierte Gütermärkte, unfreier Arbeitsmarkt und etablierte Verantwortlichkeitsannahmen die Akteure vor die Wahl zwischen Anreizvernichtung und Versorgungskatastrophe, damit Legitimitätsverlust.47 Eine schlüssige Antwort jenseits der, wenn man so will, betriebswirtschaftlichen Ansätze, die Arbeitsorganisation 44 45 46 47

Anonym, Wiederum ein Wort, S. 4 f. Anonym, Wiederum ein Wort, S. 8. Anonym, Wiederum ein Wort, S. 6. Letztlich auch dies ein allgemeines Dilemma in Polanyi, Great Transformation, S. 113 ff.

spezifischer Ausprägung, vgl. etwa

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verbessern und/oder die Selbstverwaltung und Besitzsicherang der Wirte zu stärken, war innerhalb der Leibeigenschaftsverfassung nicht zu geben. Dessenungeachtet folgte gut fünfzehn Jahre später abermals ein dahingehender Versuch, der mit dem Zeitverlauf zugleich eine Traversale durch das ideologische Spektrum markiert. 1804 skizzierte Friedrich v. Fircks in dezidiertem Gegensatz zu protooder frühliberalen Anreizargumentationen eine neuständische Lösung. Während der Anonymus vom Nutzenkalkül zu moralischen Implikationen fortgeschritten war, nahm Fircks das Legitimitätsproblem unmittelbar zum Ausgangspunkt und folgte damit der veränderten Debattenlage seiner Tage. In der Zwischenzeit war Merkels Polemik gegen die adelsherrschaftliche Leibeigenschaftsverfassung erschienen und lebhaft aufgenommen worden,48 und Merkels Schrift war es denn auch, gegen die Fircks sich zunächst wandte. Seine ansonsten vehement apologetische Antwort räumt ein, dass den Bauern von einzelnen Besitzern Unrecht geschehe und Abhilfe not tue.49 Dazu reiche im allgemeinen die Ächtung harter Herren durch das Publikum hin, ihr Ehrverlust und die Minderung ihres Kredits, in krassen Fällen schritten die Gerichte ein;50 von einem flächendeckenden wirtschaftlichen Niedergang der Bauernschaft und moralischer Korruption könne deshalb keine Rede sein.51 Auch die Lasten halte man schon aus Bedacht des eigenen Vorteils im erträglichen Rahmen.52 Nichtsdestoweniger plädierte Fircks für Reformen, um die „Wunde zu heilen, die uns vo[n] Fremdlingen geschlagen wurde"53 womit er für tatsächliche Missstände zu Gutsbesitz gelangte Nichtindigene und Ausländer verantwortlich macht,54 ein Auslagerangsversuch, den zwar die Reichweite der von ihm vorgestellten Eingriffe konterkariert, der aber rasch Gemeingut wurde. Fircks' Programm war durchaus radikal: Da sie die eigentlichen Ausbeuter, Betrüger und Vergewaltiger der Gutsuntertanen, Verderber ihrer Moral darstellten, seien die freien Nichtindigenen, auch einquartiertes Militär vom Land nach den Städten zu entfernen. Zugleich sollten vor allem willkürliche Gesindeentsetzungen, übermäßige Fronsteigerangen und Hauszuchtexzesse zu

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48 49 50 51 52 53 54

Merkel, Die Letten; instruktive Einschätzung: Plath, Nichts Neues, ?. 62ff. Fircks, Die Letten in Kurland, S. ix, 65 f. Fircks, Die Letten in Kurland, ?. 33 ff., 197 ff. Fircks, Die Letten in Kurland, ?. 67ff, 142ff. Fircks, Die Letten in Kurland, S. 163 ff. Fircks, Die Letten in Kurland, S. 245. Folgerichtig reklamiert Fircks, Die Letten in Kurland, S. 260ff, jeder Bauernschutz müsse scheitern, solange das Bodenmonopol des indigenen Adels nicht effizient geschützt werde. Zum Vordringen Nichtindigener unten, S. 315f, bzw. Anh. 7, Tab. 10-14.

vgl.

v. a.

auf den

Kronsgütern

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Anzeigepflicht und vereinfachter, vor allem verbilligter Klageerhebung unterbunden, dazu gegebenenfalls bäuerliche Schiedsrichter beigezogen werden.55 Wer sich um Kronsgüter bewarb, sollte ein Zeugnis seiner bisherigen Untertanen beibringen, und auch bei mehr als dreijähriger Abwesenheit eines Gutsbesitzers forderte Fircks die Einwilligung der Erbleute sowie deren Bestätigung, es seien Maßregeln getroffen, dass sie zufrieden und ohne Unterdrückung blieben: Der Erbherr habe nun einmal sein Vergnügen hinter seine Herrenpflicht zurückzumittels einer

stellen. Darüber hinaus regte Fircks an, als Ausweis guter oder schlechter Wirtschaft und Behandlung der Leute die Läuflingssalden aller Güter beim Landtag zu veröffentlichen und zur näheren Überwachung eine Art Schutzausschuss aus von den Bauerschaften vorgeschlagenen und vom Landtag gewählten Gutsbesitzern einzurichten, der in sämtliche Angelegenheiten zwischen Herren und Untertanen revidierend eingreifen und unter Umständen drastische Sanktionen verhängen konnte, vom Ausschluss von bestimmten Ämtern und Ehrenstellen über den Zwangsverkauf des Guts bis zum Verlust des Indigenats. Auf keinen Fall hingegen wollte Fircks die Unterstützungspflicht aufgehoben sehen, sie vielmehr als persönliche Verantwortung jedes Gutsbesitzers unter besonders scharfe Kontrolle stellen. Ergänzend seien Schulen zu gründen, um die Bauern außer im Lesen im Schreiben, Rechnen und in Buchführung zu unterrichten und dem Gesindevolk praktische Kenntnisse zu vermitteln, den Mädchen hauswirtschaftlicher, den Jungen handwerklicher Art. Den Wirten sollten alle Meliorationen und Neuanschaffungen erstattet werden, „um ihren Fleiß anzuregen"; ungerechtfertigter Gesindeentzug war zu unterbinden. Endlich wollte Fircks die Herren zur Teilnahme an sämtlichen bäuerlichen Festen verpflichten, „denn geteilte Freuden knüpfen das festeste Band", wie denn überhaupt diese Vorschläge „nur auf Erhaltung der Liebe, des Vertrauens, und jeder sanften beglückenden Tugend des Menschen gerichtet" seien.56 Fircks' Skizze trägt Züge einer totalitären Utopie, die die bestehenden Verhältnisse zu konsolidieren strebt, indem sie eine Art ständepolizeilich überwachte, radikalisierte Moralwirtschaft anvisiert.57 Das Dilemma von Schollenbindung der Leute und Wirtschaftsfreiheit der Herren suchte er durch Beschränkungen der letzteren aufzulösen, durch 55 Auch das Folgende: Fircks, Die Letten in Kurland, S. 248 ff, 264 ff. 56 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 272, 274. 57 So sollte ein Mitglied des Schutzausschusses die en détail reglementierte Beteiligung der Untertanen an Hochzeits- und Beerdigungszeremonien der Herrschaft protokollieren, um Aufschluss über die Wohlfahrt der Bauern zu gewinnen: Fircks, Die Letten in Kurland, S. 271. -

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Organisationsvorschriften, eingriffsbefugte Kontrollorgane, Beschneidungen des Eigentumsrechts: in der Summe eine derjenigen der Leibeigenen komplementäre Schollenbindung und Verhaltensgängelung des Adels. Wenn, vordergründig paradoxal, vom grundsätzlichen Vorzug der Freiwilligkeit gegenüber dem Zwang die Rede ist,58 so meint das

eben nicht die Freiheit des einzelnen, sondern der Ritterschaft als Kollektiv. Damit schloss der Reformvorschlag zwar an das altständische Herrschaftsmuster an, überführte es aber in einen Gesellschaftsentwurf, der einen Entwicklungsgedanken kennt und dem daraus resultierenden Stabilisierungsbedarf mit einer Hierarchie regulierter sozialer Interdependenz Rechnung trägt. Fircks reagiert auf den Geltungsverlust des Herrschaftsintegrals, die Erfahrung einer destabilierten Harmonie und die daraus folgende Legitimitätsnot, indem er die Libertät als spezifische Würde ständischer Herrschaft ersetzt durch kollektiven Selbstzwang zur Verbürgung von Solidarität und Wohlfahrt. Das weist voraus auf Vorstellungen einer von Desintegration bedrohten Gesellschaft, die zu ihrer Integration konstruierter Ligaturen bedarf nicht zurück in die Welt segmentierter Freiheiten, wie sie der a priori integre Kosmos transzendentaler Bindungen idealiter barg. Das zugrundeliegende Ordnungskonzept, als solches vergleichsweise konsistent, ist denn auch weniger wirtschaftlicher als umfassend sozialer und politischer Natur, ein gesellschaftlicher Neuordnungsversuch bereits im Lichte der modernen ontologischen Kluft,59 eher reaktionär als restaurativ. Seinen Anstoß nahm Fircks nicht eigentlich an sinkenden Erträgen und steigenden Unterhaltskosten, sondern am Legitimitätsverlust der alten Ordnung, wie er sich eben in den Angriffen nichtindigener Publizisten äußerte.60 Deren manifest adelsfeindliche Tendenz bestärkte freilich zunächst diejenigen, die die unabsehbaren Konsequenzen eines politischen Eingreifens fürchteten, die Reste beziehungsweise das Ideal der alten „Unabhängigkeit vom Gesetze"61 nicht aufgeben wollten oder einfach intellektuell -

weniger beweglich waren.

58 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 275. 59 Wie oben: S. 58, Anm. 139; S. 140, Anm. 219. 60 Wiewohl diese Publizistik ihren Schwerpunkt zunächst in Livland hatte und sich auf die dortigen Verhältnisse konzentrierte, wurde sie in Kurland wahrgenommen und auf die eigene Landschaft bezogen. Literatur in Auswahl: Heeg, Merkel als

Kritiker; Wihksninsch, Aufklärung; Neuschäffer, Geschichtsschreibung; Donnert, Eisen; Taterka, Anhang; Jürjö, Aufklärung!Hupel. 61 Vgl. oben, S. 56, 59ff.

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Reformversuche Gleichwohl mehrten sich nach 1800 konkrete Vorstöße zu einer Regulierung der Agrarverhältnisse. Ihre Befürworter bemühten ökonomische und moralische Argumente in unterschiedlicher Kombination, ohne dass sich eine einheitliche Richtung ausmachen ließe, weder der Analysen noch der Lösungsansätze: Die Positionen bewegten sich zwischen der anreizliberalen des Anonymus und der ordo-utopischen Fircks', je nachdem, ob im Hintergrund altständisch-bewahrende, aufgeklärt libertäre oder bereits romantisch inspirierte Vorstellungen standen. Abermals stellen sich die Projekte weniger als Deduktionen aus konsistenten Ideengebäuden oder Programmatiken dar denn als kontextorientierte Hybride. Den gemeinsamen Nenner bildete vorderhand lediglich, dass Fehlentwicklungen ohne Systemwechsel, innerhalb der Leibeigenschaftsverfassung behoben werden sollten. Angesichts einer starken, teils verschreckt, teils hartleibig für grundsätzliches Beharren plädierenden Mehrheit prägten Vagheit, Pragmatismus und hergebrachte Schutzgedanken die Initiativen. 1803 legte Ulrich v. Schlippenbach dem piltenschen Landtag eine Schrift Ueber die Einschränkung der Leibeigenheit in Kurland vor, in der er anregte, persönliche und Eigentumsrechte für die Untertanen sowie eine begrenzte bäuerliche Gemeindeselbstverwaltung zu kodifizieren.62 Das Ansinnen, offensichtlich von der livländischen Schutzgesetzgebung desselben Jahres inspiriert, wurde höflich zurückgewiesen: Man wolle als kleinerer Teil von sich aus der kurländischen Ritterschaft keine

Vorschläge tun.63

Zwei Jahre später brachte Georg v. Lüdinghausen-Wolff nun auf dem kurländischen Landtag ein Gesetzbuch in Vorschlag, das insbesondere die willkürliche Belastung und Strafung der Erbleute unterbinden sollte, um die „moralische und physische Existenz unsers Bauern zu sichern". Denn der stünde „bey der zunehmenden Ausartung des National-Charakters vielleicht noch in Gefahr [...], gleich dem Last-Vieh behandelt zu werden".64 Wie bei Fircks kam der Gedanke eines Führungszeugnisses für künftige Arrendatoren ins Spiel, in diesem Fall anlässlich einer Zulosung des Ritterschaftsgutes Degwahlen unter den Indigenen.65 Allein die Versammlung ließ den Antrag unbehandelt unter den Tisch 62 Wiedergegeben bei Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 260 ff. 63 Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 266. 64 LVVA 7363/3/363, pp. 5, 10. Wolffs Anlass war ein Gutsherr, der einen Untertan für die Misshandlung eines Pferdes vorm Pflug selbst an den Pflug hatte binden und prügeln lassen: Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 21. 65

LVVA 7363/3/363, p. 11.

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Schluss und wollte die sich endigen. Wolff, in Geschäftsordnungsfragen wahrlich kein Neuling, wurde heftig und wies auf die Unrechtmäßigkeit des Verfahrens hin, auch seine der Ritterschaft während der Ständekonflikte geleisteten Dienste66 im Tonfall kaum weniger bissig gegen die „Bauernschinder", als er zehn Jahre zuvor gegen den Fürsten, Howen und die Bürgerunion polemisiert hatte. Und griff am Ende zu dem bewährten letzten Mittel der Opposition: Sollten ihm weiterhin Recht und Aussprache verweigert werden, werde er sich an den „weisen Monarchen" in Petersburg wenden.67 Die Landschaft reagierte mit einer Klage wegen Missachtung ihrer Würde, Verleumdung und Beleidigung des Adels und ließ Wolff vor das Oberhofgericht zitieren.68 Wolff zog zurück, wie schon in der Duellsache gegen Howen. Bemerkenswert daran ist, dass es sich bei denjenigen, die ihre Standesgenossen zu Mäßigung im Umgang mit der eigenen Macht aufriefen, vielfach um Akteure der vormaligen moderat-antiherzoglichen Partei handelte.69 Zumindest personell bestand eine gewisse Kontinuität zwischen Fronde und Bauernschutzpolitik, ebenso wie es der alten Konstellation entsprach, dass Wolff mit dem Gang zum Thron drohte. Gleichzeitig widerlegt die Episode Merkels Auffassung70, bereits seit Schlippenbachs Vorstoß hätten Projekte zur Einschränkung der Leibeigenschaft immerhin nicht mehr von vornherein im Ruch des Vaterlandsverrats gestanden.71 Dennoch, und das mag zu Wolffs letztendlichem Stillhalten beigetragen haben, wandten sich noch im selben Jahr der Illuxtsche Hauptmann Georg Reinhold v. Saß und der Vizegouverneur Maximilian v. Briskorn an Finanzminister Vasil'ev und schilderten die Lage der Kronsbauern als derart deplorabel, dass ohne schleunige Abhilfe deren völliger Ruin und damit der der ohnehin schon herabgekommenen Domänen absehbar sei.72 Beide plädierten für eine Monetarisierung der Leistungen, aller-

fallen, kam

zum

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66 U. a. hatte er die Festschreibung niedriger Arrendeanschläge in der Kompositionsakte erzwungen: wie oben, S. 231, Anm. 42. 67 LVVA 7363/3/363, pp. 2ff. 68 LVVA7363/3/363, p. 1. 69 Zu Schlippenbach vgl. oben, S. 137, Anm. 210; auch S. 176. Ernst v. Grotthuß war zeitweilig Mitdelegierter Wolffs und Heykings in Warschau: DBBL, S. 266. 70 Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 266. 71 Vgl. a. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 20f; dem Intellektuellen Schlippenbach hielt man zugute, er sei halt ein „Schwärmer": ebd. 72 LVVA 7424/1/24, pp. 25f. Vgl. a. Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 323f.; Strods, Proekt, S. 216; ders., Krona zemnieku klausas, S. 79ff.

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dings Saß zu Lasten der Bauern, Briskorn der Arrendatoren.73 Im Hintergrund stand eine Anzahl Eingaben von den Kronsgütern, in denen Untertanen über die extraordinären Fronen klagten, die sie nun auch im öffentlichen Interesse zu erbringen hatten. Aus dem Kameralhof drangen die Beschwerden bis nach Petersburg.74 Dort hatte unterdessen ein stärkerer imperialer Gestaltungswille die Oberhand gewonnen. Teile der bürokratischen Elite um Alexander I. drängten auf eine Umgestaltung der Agrarverhältnisse an der Ostsee, als Versuchsfeld beziehungsweise zum Vorbild für Veränderungen im Reich überhaupt.75 Die Schlüsselrolle fiel zunächst eben Livland zu, wo ähnlich wie in Kurland eine indigene Minderheit, die Reformgesetze für notwendig hielt ohne übereinzustimmen, wie diese aussehen sollten -, einer Mehrheit gegenüberstand, die die korporativen Freiheitsrechte in Gefahr sah (von der Sorge vor materiellen Einbußen abgesehen).76 Doch wurden die „Ostseeprovinzen" allmählich als Einheit wahrgenommen, jedenfalls administrativ so behandelt, seit sie 1801 einem gemeinsamen Generalgouverneur unterstellt worden waren.77 Im Laufe der Zeit folgte die Bündelung der erst separaten Agrardebatten im „Komitee für Livländische Angelegenheiten" beim Innenministerium.781809 befahl Alexander, eine Untersuchungskommission für Kurland aus Gutsbesitzern und -

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LVVA 7424/1 /24, pp. 27 f. Saß schlug außerdem vor, dem Gouvernement die Rekrutierungen zu erlassen und statt dessen Läuflinge aus anderen Provinzen einzuziehen: ebd., p. 28. Strods, Krona zemnieku klausas, S. 79. Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 280 ff; Schallhorn, Lokalverwaltung, S. 66, 77; vgl. a. unten, S. 341, Anm. 21. Die Rolle des Staates in der Agrarentwicklung generell betont neuerdings Lust, Pärisorjast, anhand Nordlivlands. Vgl. Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 323 ff.; nach wie vor grundlegend, wenn auch überoptimistisch bzgl. des Engagements der Ritterschaften, Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1. Der Generalgouverneur war (meist) zugleich „Ziviloberbefehlshaber" der jeweils (Zivil-) Gouverneuren unterstellten Provinzen und Kriegsgouverneur in ihnen, doch schwankten die Bezeichnungen und Einteilungen in der Folge noch. 1808-1818 wurde Estland das 1775 mit Livland zusammengeschlossen worden war einem eigenen Generalgouverneur unterstellt; 1819 wurde dem Marquis Filippo Paulucci, seit 1812 Ziviloberbefehlshaber von Livland und Kurland und Rigaer Kriegsgouverneur, auch Estland, 1823 zudem Pskov anvertraut; letzteres wurde mit der Ernennung seines Nachfolgers Carl Magnus v. d. Pahlen 1830 wieder abgetrennt: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 14.1.1830 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1830). Von da an bis 1876 blieb es bei dieser Ordnung, wobei Reval einen eigenen Kriegsgouverneur behielt (bis 1856; Erledigung des Amtes in Riga 1864): Amburger, Behördenorganisation, S. 389; Liste der Generalgouverneure und kurländischen Gouverneure: Kurland und seine Ritterschaft, S. 146 f. Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 324. -

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Kameralhofbeamten unter Vorsitz des Zivilgouverneurs zu bilden, die die „publiken Lieziben (povinnosti)", also Staatsfronen, zusammenstellen und regulieren sollte.79 Daraufhin brach der Interessenkonflikt offen aus. Zwar erkannten die Privatgutsbesitzer die Überlastung, versuchten aber, sie heranterzurechnen, da sie eine Umverteilung befürchteten, sei es in Abgaben, sei es, dass ihre Leute mitherangezogen würden.80 Waren in herzoglicher Zeit die Erträge aus dem Lehnsfonds Gegenstand der Verteilungskonflikte zwischen Landstand und Fürst gewesen, so ging es nun um die öffentlichen Lasten. Eine Analogie zum Vorherigen bestand darin, dass der Adel als Ursache aller Beschwernisse die Bedürfnisse der Obrigkeit und deren Begünstigung Nichtindigener ausmachte. Der entscheidende Unterschied war, dass die Herrschaft nicht mehr mit Hilfe äußerer Instanzen erpresst werden konnte. Damit hatte sich die taktische Position der Ritterschaft strukturell verschlechtert, und dem entsprach eine gewisse Immobilisierung. Die Ritterschaftsmehrheit richtete sich in einer Verteidigungsposition ein, die ähnlich starr auf Versagung angelegt war wie die der karolinischen Huldverweigerer zur Zeit des Einvernehmens zwischen Herzog Ernst und Katharina II. Auf die agrarwirtschaftliche Krise selbst reagierte man ad hoc, sei es in Form paternalistischer Intervention oder mit Optimierungsversuchen ausgreifenderer oder geringfügigerer Art, auch unter Rückgriff auf größere Härte, wie sie den Protest Grotthuß' oder Wolffs ausgelöst hatte. Ansonsten betrieb man Hinhaltepolitik. Briskorn benannte in einer Relation die Blockade und zog in drastischen Worten die Kontinuitätslinie: Die Besetzung der Kommission mit Saß, einem Rat des Kameralhofs, einem der Gouvernementsregierung sowie zwei Bevollmächtigten der Oberhauptmannschaften Seiburg und Tuckum lasse keinerlei Nutzen erwarten, da der kurländische Adel („Gospoda Dvorjane Kurljandskie") sich notorisch jeglicher Regulierung zugunsten des Staats entgegenstemme; die Geschichte des Herzogtums stelle eine einzige Sammlung von Intrigen in dieser Absicht dar, die am Ende die Regierung zerstört hätten. Damals wie jetzt würden die Indigenen die Arrendesummen drücken und öffentliche Aufwendungen verweigern, und gegen ihre Stimmen in der Kommission sowie die der Gouvernementsregierung (!) sei der Kameralhofrat -

machtlos: „Welchen Erfolg kann man in dieser Sache bei den Adligen erwarten, wenn nicht einer von ihnen das geringste Verständnis für die

79 LVVA 7424/l/24,p. 28. 80 Strods, Krona zemnieku klausas, S. 81.

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wirtschaftlichen Dispositionen des Kameralhofs mitbringt?"81 Das Ergebnis gab ihm recht: Als die Kommission im Frühjahr 1810 ihre Arbeit abschloss, empfahl sie eine teilweise Aufhebung, teilweise Monetarisierung, endlich schlicht eine Umwandlung der außerordentlichen Kronslieziben in ordentliche.82 Die Defensivposition minimaler Modifikationen und fiskalischer Verweigerung hatte sich durchgesetzt. Da verschob sich die Verhandlungskonstellation mit einem Ruck, der die Ritterschaft in die eingeklemmte Position des Herzogs brachte. Ende des Jahres83 ging in Petersburg ein umfassendes Reformprojekt ein, das die Verhältnisse grundgestürzt hätte und von sechs Wirten aus den beiden Ritterschafts- und vier Kronsgütern84 unterzeichnet als Supplik an den Kaiser gerichtet war. Die Präambel rekapitulierte die historische Genese der bestehenden Verhältnisse und lieferte eine im emphatischen Sinne geschichtsbewusste Einordnung, die sich der fundamentalen juristischen Kategorien und Rechtsbegriffe, in denen die Adelsherrschaft legitimiert und kritisiert wurde, sowie der Signalwörter der zeitgenössischen Rede bediente und vertraut mit der aktuellen politischen Situation zeigte: „Unsere Vorfahren, glücklich einst im freien Besitz des vaterländischen Bodens, unterlagen vor mehreren hundert Jahren den überlegenen Waffen einwandernder Fremdlinge. Den Besiegten schrieb das blutige Schwerdt Leibeigenschaft und schwere Frohndienste vor, und vorübergegangene Jahrhunderte haben den Ausspruch des Siegers mit der Kraft des LandesGesetzes besiegelt. So war unser Zustand zu den Zeiten der Herzöge, so wurde dieses Land an die Krone Ruslands übertragen, und so lebt noch heute der Bauer in Curland auf seinem ursprünglich väterlichen Boden ohne persönliche und bürgerliche Rechte, ohne Eigenthum, ohne Kultur, weder Herr seiner Zeit noch seiner Kräfte, von bestimmten und unbestimmten Frohnen erdrückt, oft ein Raub der kühnen Willkühr, oft der Wuth jeder Witterung, oft den Qualen des Hungers preisgegeben, in sei-

LVVA7424/1 /24, pp. 28f., Zt. p. 29: ,,[K]akogo mozno ozidat' ot Dvorjan po semu delu uspecha, kogda ni kto iz nich i ponjatja o ékonomiceskich rasporjazenijach Kazennoj Palaty ne imeet?" Als Vizegouverneur stand Briskorn der Behörde vor. 82 Gouverneur Wilhelm v. Hogguer überstellte die Ergebnisse, die auf einer Umfrage unter den Arrendatoren beruhten, unter dem 3. Mai an das Finanzministerium, nicht ohne eine gewisse Skepsis bezüglich ihrer Realisierbarkeit auszudrücken: LVVA 7424/1 /24, pp. 29 ff; vgl. a. unten. 83 Zur Korrektur der Datierung 1811 bei Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 324: Strods, Proekt, S. 215. 84 Irmlau, Grendsen, Prawingen im Kirchspiel Autz bzw. Tuckum, Ziepelhof, Peterhof und Apschuppen im Kirchspiel Doblen: LVVA 7424/1/24, p. 8. Kirchspiele nach ebd. 7363/3/241. 81

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elenden Hütte verarmt und muthlos. Die Regierung, milder stets als der Privatmann, und nicht, wie dieser, dem Einfluß kleinlicher aber stürmender Leidenschaften unterworfen, hat, von einem sanfteren Zeitgeiste geleitet, ihren Blick auf uns gerichtet. Man hat an Erleichterung unseres Schicksals gedacht, es sind die Mittel dazu vorgeschlagen, und es ist eine Comittée in Mitau niedergesetzt worden, diesen Gegenstand zu berathen. Aufgefordert von den Arrendeherren, unsere Meinung zu sagen, haben wir geglaubt, uns in einer so wichtigen Sache an Eure Majestät selbst wenden zu müssen. [...] Man hat den Quell unseres Elendes in den unbestimmten Frohnen (Krons Leeziben) zu finden geglaubt und man hat sich hierin geirrt."85 Es folgt eine Liste der Dienste und Abgaben, die ein Wirt je nach Grosse seines Gesindes im Durchschnitt zu leisten habe, mit dem Schwerpunkt der Klage auf der willkürlichen Festsetzung des Zeitpunktes der Leistung naheliegenderweise meist in den jeweils am besten dafür geeigneten Wochen: „Traurig blickt der Wirt nach seinen eigenen Wiesen und Feldern. Sie liegen verwaist. Seine Zeit und seine Kräfte verzehren sich im Dienste des Hofes, und vor dem kräftigen Argument der Peitsche verstummt jede Klage".86 Das Ergebnis seien herabgekommene Gesinde und Misswachs. Gewiss, es gebe milde Pächter, die auf das Auskommen ihrer Untertanen Rücksicht nähmen: „Allein unsere Arrendatoren wechseln wie Tag und Nacht, und mit ihnen unser Schicksal."87 Von den minutiös zusammengestellten Arbeiten für die Krone hingegen entfalle das meiste auf den Winter oder das erste Frühjahr, so dass sie kaum mit der bäuerlichen Wirtschaft in Konflikt gerieten, oder sie seien monetarisiert und erträglich, am beschwerlichsten noch die Holzfuhren zum Hafenbau nach Windau und Libau: ,,[S]ie drücken uns, aber sie erdrücken uns nicht".88 Die Wurzel des Elends stellten die ordentlichen Fronen dar, die von der eigenen Feldbestellung abhielten. Deshalb gehe das Vorhaben, die Kronsfronen in eine Geldabgabe umzuwandeln, am Ziel vorbei. Es würde im Gegenteil, Entrichtungsmodus, Durchschnittserträge und Marktpreise gesetzt, eine noch ärgere Belastung der Untertanen und eine Nettomehrabschöpfung durch die Arrendatoren bewirken.89 „Ist es Euer Majestaet Wille, unser unglückliches Schicksal günstiger zu bestimmen, so giebt es dazu nur ein einziges Mittel ein ner

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LVVA 7424/1/24, p. 1. LVVA 7424/1/24, p. 2. LVVA 7424/1/24, p. 3. LVVA 7424/1/24, p. 3;

gegenteilige

Position bei Saß und Briskorn: ebd., p. 26

(wie oben). 89 LVVA 7424/1 /24, pp. 3f., mit elaborierter Kalkulation.

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Mittel, das die Menschlichkeit empfiehlt, die Gerechtigkeit gebietet, und die Klugheit billigt ein Mittel, das dem Geist der Zeit, und dem -

Herzen eines Alexanders gleich schön entspricht. Zerbrechen Sie die Ketten der Sclaverey, unter deren Last wir seit Jahrhunderten seufzen. Heben Sie die Leibeigenschaft auf. Lassen Sie jene Arrendé aufhören, den Quell des Reichthums für eben 170 Arrendatoren, und des Verderbens für mehr als 6000 Krons-Wirthe."90 Zur Umsetzung wird ein konziser Plan in acht Punkten vorgeschlagen.91 Den Wirten sollte gegen einen fixierten Pachtzins der Erbbesitz an ihren Gesinden zugesprochen werden, unter Kontrolle und Schutz des Kameralhofs, mit Appellationsrecht ans Oberhofgericht, bei Hinfälligkeit aller Fronverpflichtungen. Bis zum Auslaufen der bestehenden Kontrakte sollten, zweitens, die Arrendatoren im Besitz des Hofes, der Krüge, Mühlen usw. bleiben, diese aber mit Lohnarbeitern bewirtschaften, weiter ihre Arrendé abführen und im Gegenzug den Pachtzins der Wirte erhalten, die, drittens, ihrerseits ein Recht zur Aufsage genossen. Viertens sollte mit Auslaufen der Arrenden die Hofeswirtschaft aufgelöst, das Land verpachtet, der Immobiliarbestand, sofern der Gemeinde notwendig, von ihr unterhalten, ansonsten aufgegeben werden. Fünftens sollten analog die Krüge und Mühlen an Erbpächter versteigert werden; sechstens war ein ähnliches Verfahren für die Widmen vorgesehen, auf denen die Amtsträger statt der Fron nunmehr die Pacht erhalten würden sowie den Nießbrauch an den von Lohnarbeitern zu bestellenden Hofesfeldern. Siebtens wurde angeregt, anstelle der Amts- oder Gutsbezirke „Gemeinheiten" aus je 100 Wirten zu bilden und diese kollektiv für die Pacht bürgen sowie einen Justitiar unterhalten zu lassen, der im Verein mit sechs aus den Wirten gewählten Beisitzern einer Selbstverwaltung vorstand. Das Organ sollte Polizei und Gericht erster Instanz pflegen, die Steuern abführen und dem Kameralhof berichten. Der achte Punkt sah eine Seelenrevision vor, eine Inventarisierung der Gemeinden und jährliche Inspektionsreisen eines Kammerverwandten, der auch Streitigkeiten zwischen Justitiar und Gemeinde zu schlichten und letztere in Händeln mit Privatgutsbesitzern und deren Leuten vor Gericht zu vertreten hatte. Die Vorteilhaftigkeit des Projekts für alle Beteiligten von den Arrendatoren abgesehen wurde unter den jeweiligen Punkten mit präzisen Berechnungen auf Grundlage landesstatistischer Daten belegt -

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90 LVVA 7424/1/24, p. 4. 91 LVVA 7424/1 /24, pp. 5 ff. Eine allerdings mit einigen Missverständnissen durchsetzte Zusammenfassung bietet Strods, Proekt, S. 217ff.; dort, S. 220, auch zu offenkundigen Anlehnungen an preußische, mecklenburgische und litauische Modelle.

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der Plan als das Mittel vorgestellt, „das allein unserer bejammernswürdigen Lage ein Ende machen kann [und], indem es den Ertrag Ihrer [des Kaisers, M. M.] Domainen verdreifacht, Ihnen einen Fonds sichert, aus welchem verdienstvolle Männer belohnt werden können, ohne daß, wie bisher, mehr als 6000 Ihrer guten Unterthanen unter der Geißel der Frohn jämmerlich verschmachten müßten."92 In der Summe stellte das Vorhaben mithin ganz auf die Interessen der Wirte ab.93 Sie allein treten als die „schmachtenden Untertanen" auf, hatten den größten materiellen Nutzen aus den Vorkehrungen zu gewärtigen, wenn nicht den einzigen, und sie waren es, die kollektiv an die Stelle der Amtsherrschaft treten sollten. Sieht man einmal von der Möglichkeit ab, durch Urbarmachung zu Freijahren eine Stelle zu erwerben, ging das Gesindevolk leer aus; vielmehr wird die Entlassung von Knechten ausdrücklich genannt, um die Frage nach der Herkunft der erforderlichen Tagelöhner zu beantworten.94 In diesem Fluchtpunkt einer starken Pachtfarmerschicht wie auch in etlichen Aspekten der „Gemeinheit" nahm der Entwurf zentrale Elemente der 1817 schließlich verabschiedeten Bauer-Verordnung vorweg, die im einzelnen allerdings eklatant von dem „Bauernprojekt" abwich: Die vollständige Monetarisierung der Beziehungen wurde am Ende durch Fronpacht als Option ersetzt, und das hieß faktisch als Norm; die Auflösung der Eigenwirtschaften blieb aus, da sie im Zuge einer allgemeinen Verordnung auch Privateigentum berührt hätte; die herrschaftliche Gutspolizei und ein Aufsichtsrecht über die Gemeindepolizei blieben erhalten; der Erbnutzen an den Gesinden entfiel zugunsten freier Pachtverträge.95 So gravierend sich diese Differenzen lesen, sind sie doch überwiegend der Ausweitung der Reform auf alle, also auch die Privatgüter zuzuschreiben. Die Grundsätze sind zumindest eng verwandt. Das wird um so deutlicher, vergleicht man die Eingabe mit anderen, bis dahin im Umlauf befindlichen Reformvorhaben, die allesamt eine stärkere Schutzkomponente zulasten der Konzepte von persönlicher und Vertragsfreiheit aufweisen, vor allem aber mehr oder weniger punktuell ansetzen jedenfalls den entscheidenden Systemwechsel nicht beinhalten: die Aufhebung der Leibeigenschaft. Insofern handelte es sich um einen programmatischen Durchbruch. Das deutsch und französisch abgefasste „Bauernprojekt" ist von so unterschiedlichen Autoren wie Tobien, Wittram und Strods als Ausweis eines überraschend fortgeschrittenen wirtschaftlichen und politischen

und

so

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92 93 94 95

LVVA 7424/l/24,p. 8. Vgl. a. Strods, Proekt, S. 220. LVVA 7424/1 /24, p. 5 (Pkt. 2). Vgl. unten, S. 346ff.

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Denkens unter den Leibeigenen behandelt worden.96 Doch hat bereits Strods die feine Beobachtung angestellt, dass das umfangreich zugrundegelegte landesstatistische Material und die Kommissionsunterlegung den Bauern von jemandem zugänglich gemacht worden sein müssen, „der Zugang dazu hatte".97 Das ist das mindeste. Wahrscheinlicher ist, dass das dichotome Raster (deutsche) Herren versus (lettische) Bauern nicht funktioniert. In ihrer Erudition geben die Ausführungen Anlass zum Zweifel bezüglich der sechs Wirte als Autoren. Vier von ihnen lassen sich in den verschiedenen Seelenrevisionslisten nachweisen,98 ohne dass man mehr über sie erführe. Allerdings fällt auf, dass keiner der Supplikanten in den späteren Gemeindegerichten vertreten ist, deren Vorsteher und Beisitzer wiederum mit drei Ausnahmen auf Ziepelhof und Apschuppen ihre Namen nicht schreiben können.99 Ein zwingendes Argument ergibt sich daraus nicht, aber man gewinnt den Eindruck, es mit Strohleuten zu tun zu haben. Ein völlig selbständiges Agieren lässt sich jedenfalls ausschließen. Plausibler ist eine Instrumentalisierung der Beherrschten gegen die Mehrheit ihrer Herren im Sinne eines liberalen Designs mit dem Ziel, aus der Untertanenklage Legitimität zu ziehen und der Oberherrschaft einen Anlass zu entschlossenerem Eingreifen zu liefern die Reformer in eine Position zu bringen, die an die der gegen ihren „despotischen" Herzog bei der damaligen Zarin Beschwerde führenden Ritterschaft erinnert. Dass dabei ohne Hilfestellung oder Duldung der indigenen Besitzer beziehungsweise Disponenten100 vorgegangen worden -

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96 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 324; Wittram, Baltische Geschichte, S. 160; Strods, Proekt, S. 215. 97 Strods, Proekt, S. 216. 98 Jänis aus dem Skrimbe-Gesinde in Grendsen 1811, 1815/16, 1826/27: LVVA 630/1/264, pp. 238, 491, 772; Ans aus dem Waine-Gesinde in Ziepelhoff 1811, 1816, 1826: ebd./801, pp. 42f., 77, 130f.; Jänis aus dem Rimaicken-Gesinde in Apschuppen 1811, 1815, 1826: ebd./37, pp. 7, 30, 61 f. (als Vater des aktuellen Wirts); Kristiänis aus dem Graisen-Gesinde in Peterhof 1811: ebd./510, p. 4. Für Irmlau und Prawingen fehlen die entsprechenden Listen. 99 Sie zeichneten durch Kreuze: LVVA 630/1/264, pp. 252f.; ebd./801, pp. 99, 166f; ebd./510, pp. 27 ff.; ebd./37, pp. 37, 39f., 65 f., 69; Ausnahmen: ebd./801, pp. 167; ebd./37, pp. 66, 69, 100. Allgemein wurden die Wortführer bäuerlichen Widerstands zu Gemeinderichtern gewählt: Zutis, Zemnieku brTvlaisana, S. 71. 100 Apschuppen war 1811 in Besitz eines Capitäns und Försters v. Medem, der es Friedrich v. Torck in Arrendedisposition gegeben hatte, gleichwohl dort als ansässig verzeichnet blieb: LVVA 630/1/37, pp. 10f.; Grendsen hatte Carl v. Sacken in Arrendé: ebd. / 264, p. 749; auf Ziepelhof hatte General Casimir v. Meyendorff als Disponenten einen Gottfried v. Kuhn eingesetzt: ebd./801, pp. If; auf Peterhof, im Besitz des Generals Aleksej Petrovic Tormansov, zeichnete „in Abwesenheit des

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sein sollte, scheint ebenso abwegig101 wie die Annahme, dass keiner der bei der Gouvemementsregierung oder im Kameralhof tätigen Ritterschaftsadligen zumindest unterrichtet war. Angesichts der Stoßrichtung, der allgemeinen Konstellation und der Teilnahme untereinander konfligierender Indigener an allen sonstigen Landschaftssachen liegt eine Initiative aus diesem Kreis nahe.102 Wo das treibende Moment zu suchen ist, ob es sich um ein von der Zentralbürokratie gegen die Adelsmehrheit inszeniertes oder aus dem reformorientierten Adel lanciertes Projekt handelte, bleibt Spekulation. Festzuhalten ist, dass von interessierter Seite den Reformen Schub in eine bestimmte Richtung gegeben wurde. Diese Richtung fügt sich ins größere Bild. Die zwischen 1802 und 1809 in Estland und Livland verabschiedeten Verordnungen umfassten Lastennormierungen, Besitzsicherung, verbesserte Gerichte, Einschränkungen der Hauszucht, Erschwerung des Untertanenverkaufs u. ä., blieben also Schutzgesetze innerhalb der Leibeigenschaftsverfassung.103 Um 1810 nahmen die Dinge eine Wendung. Mit den livländischen Ergänzungsparagraphen zur Reform von 1804 war die Instruktion für eine Messrevisionskommssion verabschiedet worden, die eine Katastrierang des Landes zur Regulierung der bäuerlichen Leistungen vornehmen sollte.104 Die Vermessung machte die Lastenfestschreibung für den Adel zum Albtraum: Das Land hatte die enormen Kosten selbst zu tragen.105 In Estland begann sich daraufhin die Waagschale zugunsten der Anhänger einer Emanzipation und anschließender Pachtverträge zu senken, der

Bevollmächtigten" der Wagger Kristap Krehwen, der allerdings im Zusammenhang Projekts nicht auftaucht: ebd./510, p. 4.

des

101 Auch, dass spätere Sanktionen gegen die Unterzeichner nicht auszumachen sind und sie als Wirte auf ihren Gesinden blieben, deutet in diese Richtung, ebenso der Satz „aufgefordert von unseren Arrendeherren" (s. o). 102 Etwa setzte sich einer der einflussreichsten Landespolitiker der Zeit, Dietrich Ernst v. Schoeppingk, in den späteren Verhandlungen vehement für liberale Lösungen ein: unten, S. 341,343. 103 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1,S. 199 ff, 237 ff.; Abriss bei Wittram, Baltische Geschichte, S. 155 ff. 104 Wittram, Baltische Geschichte, S. 158f; vgl. zum Folgenden auch den Abriss bei Thaden, Deutsche Universitäten, ?. 226ff., mit der älteren Literatur; Zutis, Zemnieku brXvlaisana, S. 6ff. 105 Livland kostete sie zwischen 1809 und 1823 drei Millionen Rbl.S.: Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, ?. 333. Rosenberg, Bauernbefreiung, S. 382, nennt zwar nur 26000 Rbl.S. pro Jahr, doch scheint das wenig plausibel auch angesichts früher Schätzungen von kurländischer Seite, wo die Entwicklung aufmerksam beobachtet wurde: Medem an Korff 13.11.1809, LVVA640/2/158, p. 12.

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regulierte Bauernschutz verlor Unterstützung,106 und im Frühjahr 1811 erlangte die Ritterschaft die Allerhöchste Erlaubnis, ein Vorhaben auszuarbeiten, das auf eine grundsätzlich anders gelagerte Neuordnung als

in Livland zielte.107 Während dort die Macht der Gutsbesitzer über ihre Bauern durch eine Normsetzung eingehegt werden sollte, die, um nicht selbst wiederum willkürlich zu sein, einen erheblichen rational-bürokratischen Taxierungsaufwand erforderlich machte, strebte die estländische Ritterschaft eine staatsferne und aufwandsärmere marktliche Lösung die allerdings vertragsfähige, also persönliche freie Gegenüber eran forderte. Doch angesichts des Dilemmas, das aus dem Spannungsverhältnis zwischen freien und gebundenen Märkten erwuchs, hatte ein Be-

freiungsschlag seinen Charme. Das war der Hintergrund, vor dem das kurländische „Bauernprojekt" in Petersburg Gehör fand. Peter v. Ekesparre, der im Komitee für Livländische Angelegenheiten mit dem Vorgang betraut war, sprach sich zunächst für einen Rückruf der bereits zur Allerhöchsten Genehmigung vorbereiteten Vorschläge der Mitauer Kommission aus, um die Sache einer neuerlichen Prüfung zu unterziehen und gegebenenfalls weitere Meinungen von Ältesten aller Domänen einzuholen; die bisher vom Komitee eingezogenen Ansichten der Arrendatoren möchten wohl die Bedürfnisse der Untertanen verzerren.108 Zugleich befand Ekesparre eine Entscheidung über das „Bauernprojekt" für so weitreichend, dass zuvor „sachverständige Männer" in der Provinz selbst um eine Stellungnahme gebeten werden sollten, und zwar aus der Kommission und dem Kameralhof, vorläufig jedoch ausdrücklich nicht unter Hinzuziehung der Bauerschaften, um Unruhen zu vermeiden.109 Alexander stimmte zu und befahl, die Vorschläge der Mitauer Kommission aus dem Finanzministerium anzufordern, damit im Komitee für Livländische Angele-

genheiten eine vergleichende Beurteilung angefertigt werden könne -110 und damit kam die Sache zum Erliegen. Im Finanzministerium wurde der Befehl verschleppt. Strods vermutet eine Obstruktion aus Kurland hinter den Kulissen,1" die in Zusammenhang mit dem Kampf um die 106 Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 328. 107 Richter, Istorija, S. 70; den defensiven Charakter der Aktivitäten in Estland angesichts der Petersburger Reformbestrebungen betont Zutis, Zemnieku brivlaisana, S. lf.; differenzierend dazu Kahk, Bauer und Baron, S. 127 f. 108 LVVA 7424/1/24, p. 13: Konzept der Vorlage beim Kaiser 3.2.1811. 109 LVVA 7424/1/24, pp. 14f. 110 LVVA 7424/1/24, p. 34. 111 Strods, Proekt, S. 221.

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Speranskijschen Reformprojekte überhaupt zu sehen sein mag."2 Als Finanzminister Gur'ev der wiederholten Order Mitte August 1813 endlich nachkam, bemerkte er, den Vorschlägen der Mitauer Kommission sei ohnehin eine diesen gegenüber durchaus kritische Vorstellung aus dem Kameralhof gefolgt."3 Insgesamt sei durch den Krieg die Lage aber nunmehr derart verändert, dass man neu ansetzen müsse."4 In der Tat war der allgemeine Reformimpuls mit dem Sturz Speranskijs im Frühjahr 1812 zumindest beschädigt worden, mit dem Einmarsch Napoleons im Juni alle dahingehende Tätigkeit unterbrochen. Als sie wieder aufgenommen werden konnte, war Kurland in schwere Mitleidenschaft gezogen. Invasion und Besetzung hatten das Land gründlich ruiniert, nachdem der europäische Konflikt bereits während der ersten Reformdebatten einen Einbruch ausgelöst hatte: Auf den in Tilsit erzwungenen Beitritt Russlands zur Kontinentalsperre hin verfielen die Getreidepreise, der überhitzte Finanzmarkt kollabierte. Der Johannistermin 1808 stellte den Auftakt zur sogenannten „Konkurszeit" dar, die erst in den 1830ern auslief und die dazwischenliegenden Jahre für den gutsbesitzenden Adel eigentlich prägte."5

112

Überblicksweise: HBGR, Bd. II.2, S. 960ff. Eine analytische Einbettung der Provinzial- in die Reichsgeschichte steht aus, zu Ansätzen vgl. d. folg. Teil. Mit Schwerpunkt auf der früheren Zeit und den nördlicheren Provinzen: Ralph Tuchtenhagen, Zentralstaat und Provinz im frühneuzeitlichen Nordosteuropa, Wiesbaden (im

Erscheinen). 113 LVVA 7424 /1 / 24, p. 31 (wie oben, Anm. 82). Der Einwand lautete im wesentlichen, dass die Überlastung durch die Gutsfronen den Untertanen eine Marktproduktion unmöglich mache, mithin ein Geldzins von diesen nicht aufgebracht werden könne. 114 LVVA 7424 /1 / 24, pp. 23 f. 115 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, ?. 23f.; von dort mit Modifikationen in die historiographische Periodisierung eingegangen: Hollmann, Agrarverhältnisse, S. 12,49; Abriss: ebd., S. 18ff; vgl. a. Kurland und seine Ritterschaft, ?. 45 f.

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Gesellschaft

„But some animals are more

equal than others.

"

5.2 Markt und Herrschaft

Krieg Um 1800 waren die meisten Güter massiv beschuldet. '16 Emporgeschnellte Ausgaben,117 vor allem aber das spekulative Moment der Expansion hatten den Obligationenverkehr anschwellen lassen, ohne dass dem adäquate Liquiditätsreserven gegenüberstanden.118 Den Zeitgenossen machte sich der Sachverhalt bald als chronischer „Geldmangel" fühlbar,"9 konkret in hohen Zinsen,120 und alljährlich, wenn es auf den Johannistermin (12.-15. Juni alten Stils)121 zuging, begann ein geschäftiges Verhandeln über Auslösungen, Neuaufnahmen und Umschuldung.122 Die wirtschaftliche Lage der Gutsbesitzer war bereits fragil, als Russland gegen Frankreich Geld, Rekruten und Offiziere brauchte, denen es am -

116 1788 schätzte Carl v. Manteuffel die Gesamtverschuldung für Kurland auf vier Millionen Rth. alb.: Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 13; 1805 war sie auf „gewiß die Hälfte" des Schätzwerts der Güter von 32,5 Mio. fl. alb. angewachsen, also um 40-50%: Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 180, Anm. Auf den Gütern des Kreises Pilten lasteten 1802 bei einem geschätzten Hypothekenwert von acht Millionen fl. alb. 3,6 Mio. fl. alb. ingrossierte und noch einmal wohl 1,5 Mio. nicht ingrossierte Verbindlichkeiten: Fircks, Die Letten in Kurland, S. 12, 16. 117 So nahm mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert insbesondere die Errichtung repräsentativer Gutshäuser einen kräftigen Aufschwung: Pirang, Herrenhaus, Bd. 1, S. lOff., 54ff.; näher unten, S. 324ff. Zur unscharfen Grenze zwischen „Konsum" und „Investition" vgl. oben, S. 115, 121. 118 Cruse, Ein Wort, S. 4f., rechnet als typisches Exempel einen wohlkalkulierten, in der Krise aber fallierten Gutsankauf auf Kredit vor; ähnlich nennt Moench, Ideen, S. 38, als übliche Ursachen eines Konkurses zu große Unternehmungen auf zu geringer Eigenkapitalbasis, aber auch Spekulation ohne hinreichende Marktkenntnis, endlich inkompetente oder nachlässige Wirtschaftsführung. Vgl. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 135; auch oben, S. 118ff. 119 Bereits in den Auseinandersetzungen mit dem Herzog hatte der Adel daraufgedrungen, der Fürst möge seine Mittel, statt sie im Ausland unterzubringen, lieber auf die Entlastung des kurländischen Finanzmarkts verwenden: Bericht Hütteis 14.4.1791 (Brüggen, Beiträge, S. 444); vgl. a. Grotthuß wie oben, S. 277, zitiert. 120 Der Zinsfuß lag zwar gesetzlich fest bei 5%, ab 1808 bei 6% (Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 15), doch schlugen „Wucherer" ein Disagio ab, während der Kreditnehmer die volle Summe quittierte: Howen, Nähere Auseinandersetzung, S. 48, 52; auch Bosse, Einkünfte, S. 581; diese und ähnliche Praktiken allgemein verbreitet: Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 123 f. 121 WieS. 63, Anm. 173. 122 Bosse, Einkünfte, S. 581; Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 137f.

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Ende den Sold nicht zahlen konnte123. Andererseits verdeckten infolge der Kriege steigende Getreide- und damit Bodenpreise124 die strukturelle Krise. Eine Obligation konnte ohne Angabe von Gründen jeweils bis Weihnachten per Johanni aufgesagt werden. Erwies sich der Schuldner dann im Juni zahlungsunfähig, konnte sein Gläubiger entweder auf Exekution, also Pfändung des Gegenwerts klagen oder einen Konkurs erwirken.125 Dabei unterlag die Pfändung der Taxe von 1717, die für je 1000 fl. alb. Forderangswert einen halben (Bauern-) Haken anschlug, im allgemeinen etwa ein Gesinde126- angesichts des landwirtschaftlichen Produktivitätszuwachses und des Preisanstiegs seitdem eine gläubigerfreundliche, mithin kreditfördernde Regelung.127 Weil freilich Insolvenzen meist erst eintraten, wenn Güter über ihren analog definierten Hypothekenwert hinaus belastet waren, war die Regel der Konkurs und die anschließende Versteigerung des Guts.128 Da wiederum griffen Schuldnerschutzbestimmungen und Rahmengesetze ständischer Natur, die den Gläubigern äußerst nachteilig werden konnten: Zunächst drückte die Exklusivität des Kreises potentieller Käufer auf die Subhastationserlöse; dann wurde die liquidierte Masse nicht anteilig, sondern nach dem Alter der Forderungen ausbezahlt, so dass die jüngsten Ansprüche in der Regel unbefriedigt blieben. Das Argument dafür lautete, wer in den noch soliden Debitor vertraut habe, sei sicherer zu stellen als derjenige, der sich im Zweifel bereits „wuchernd" auf ein offenkundiges -

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123 Engelhardt, Kurlands Betragen, ?. 13. 124 Anh. 4 und 11. Dass darin ein inflationäres Moment enthalten ist, steht außer Zweifel, nähere Aussagen lässt das Material jedoch nicht zu; vgl. oben, S. 118, Anm. 103. 125 Moench, Ideen, S. 10f.; Critische Erleuterung der Reichsgesetz-Commission zu dem Entwurf der Verordnung in Betreff der Verbesserung des Credits- und Hypothekenwesens im Kurl. Gouvernement aus dem Jahre 1813/14, LNB Rx 100 K/2/33,

p.7. 126 Der Bauernhaken, nicht zu verwechseln mit dem Willigungsmaß (vgl. S. 76, Anm. 250), bezeichnete eine Einheit besetzten Landes, von der ein bestimmter Gehorch zu fordern war, die also Bodengüte und Besatz in Rechnung stellte als Faustregel: zwei Gesinde, die jeweils eine Woche einen Arbeiter zu Fuß, die andere einen zu Pferd stellten; überschlagsweise entsprach das zwei Dutzend Leuten: Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, ?. 97 ff; Hollmann, Agrarverhältnisse, S. 10. 127 Moench, Ideen, S. 9ff.; vgl. a. Howen, Nähere Auseinandersetzung, ?. 10. 128 Moench, Ideen, S. 11; auch zum Folgenden und zum Vergleich mit zeitgenössischen Regelungen v.a. für Russland und in deutschen Territorien: Critische Erleuterung... 1813/14, LNB Rx 100 K/2/33, pp. 19ff. -

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Gesellschaft

Risiko eingelassen habe.129 Schließlich war zwar für die Transparenz der Finanzverhältnisse eines Kreditnehmers theoretisch gesorgt, indem vorderhand überhaupt nur in den öffentlichen Hypothekenbüchern ingrossierte und korroborierte Verschreibungen zum Zuge kamen,130 doch gab es privilegierte Ansprüche, das Eingebrachte der Frau etwa, bestimmte Erbteile, familialeigentümliche Bindungen, die entweder nicht oder nicht vollständig publik waren oder auch nur unbegründet vorgetragen zu langwierigen Verschleppungen führten.131 Und da während dessen Konkurs und gerichtlich eingesetzte Kuratelverwaltung fortdauerten, die Zinsen aber nicht flössen, sondern nach Abzug der Verwaltungskosten zur Masse geschlagen wurden, geriet leicht auch ein gut positionierter Gläubiger selbst in Bedrängnis, von den schlechter gestellten zu schweigen.132 Prozessnormen und Abwicklungstechnik ergänzten sich somit dahingehend, dass eine Stockung auf dem Finanzmarkt nahezu zwangsläufig eine Kettenreaktion und ein anschließendes Festfrieren des Marktes herbeiführen musste. Der Schock, der den Mechanismus auslöste, trat 1806/07 mit der Kontinentalsperre ein, Russlands Beitritt im Frieden von Tilsit, Englands Gegenblockade, die Kurland von seinen Überseemärkten abschnürten und an das napoleonische Europa der Agrarpreisdepression banden.133 Getreide wurde nahezu unverkäuflich. Auf dem Höhepunkt der Absatzkrise ließen sich selbst zum halben Preis früherer Jahre allenfalls -

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129 Moench, Ideen, S. 6, 26, 36. Hinzu kam, dass die Konkurskosten ebenfalls nicht anteilig den Gläubigern auferlegt, sondern der Masse entnommen wurden, also voll dem ersten unbefriedigten Kreditor zugeschlagen: ebd., S. 28. 130 Howen, Nähere Auseinandersetzung, S. 57. Ingrossation meint die wörtliche Eintragung der Urkunde in das Gerichtsbuch, Korroboration das beglaubigte, auf dem Dokument vermerkte Attest darüber: Klopmann, Güter-Chroniken, Bd. 1, S. VII; die Bücher wurden bei den jeweiligen Hauptmannsgerichten geführt: LNB Rx 100 K/2/33, p. 18. Sie sind wohl größtenteils verloren, zumindest verschollen. 131 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 137; Moench, Ideen, S. 31 ff.; vgl. a. Klopmann, Güter-Chroniken, Bd. 1, S. 178; Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 41; Kvaskova, Nurmhusen, S. 26ff. Ähnlich verunsichernd wirkte die anreizpolitisch gedachte Norm, Krediten für Meliorationen einen Vorrang unabhängig vom Alter einzuräumen: Moench, a.a.O., S. 7; bisweilen betrieben nachrangige Gläubiger Verzögerungen in der Hoffnung, dass die Revenüen die Masse steigen ließen und sie doch noch berücksichtigt würden: ebd., S. 36. 132 Moench, Ideen, S. 23 f.; Howen, Nähere Auseinandersetzung, S. 22, 70. 133 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 322; Zusammenfassung der Krisenmomente: Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 15ff.; allgemeine Entwicklung und exemplarischer Einzelfall: Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 70.

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kleine Mengen an die Bäcker losschlagen,134 zugleich kollabierte der Markt für Veredelungsprodukte, vor allem Mastvieh und Branntwein.135 Die Bareinkünfte der Gutsbesitzer wurden ausradiert. Wer Verschreibungen besaß, suchte sie zu liquidieren. Prompt forderten besorgte Gläubiger auch ohne akute Not Außenstände ein, um einem Konkurs und damit dem Verlust oder günstigstenfalls der Kaltstellung ihres Kapitals zuvorzukommen mit dem entgegengesetzten Ergebnis einer Nachahmerpanik.136 Über die in den Boom- und Spekulationsjahren zumeist auf Kredit gekauften, nun schlagartig unprofitabel gewordenen Güter ging eine Aufsagenwelle, die ihre Besitzer erst recht in Bedrängnis brachte; die verflochtenen Refinanzierungsverhältnisse verstärkten den Schneeballeffekt. Die Johannistermine 1807 und vor allem 1808 wurden zur Katastrophe.137 Die Blase war geplatzt. Eine Landesversammlung im Oktober 1808 tat daraufhin das Naheliegende und Grundfalsche: Sie beschloss, in Petersburg um Bestätigung eines verstärkten prozessualen Schuldnerschutzes einzukommen, außerdem um eine Heraufsetzung der Hakentaxe auf 4500 bis 7000 fl. alb., also eine deutliche Absenkung der Sicherheiten.138 Und sie forderte nach preußischem Vorbild einen Induit.139 Einen Zahlungsanstand still vorzubereiten und rasch zu verhängen, wäre eine Möglichkeit gewesen, die Eskalation zu stoppen.140 Ihn öffentlich und ergebnislos zu erörtern, musste die Unsicherheit unter den Gläubigern und damit den Kapitalabzug anheizen. Doch befanden sich unter denjenigen, die qua Verfassung Mitsprache genossen, eben auch Nettokreditoren, nicht zuletzt unbesitzliche Rentenierer oder „Kapitalisten":141 Das indigene Partizi-

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134 Cruse, Ein Wort, S. 6 (1811). 135 Cruse, Ein Wort, S. 6f. Der russische Binnenmarkt bot keinen Ausweg, vielmehr drückten aus der vormaligen Exportregion Erzeugnisse in die Grenzprovinz: Howen, Nähere Auseinandersetzung, S. 63; mit den Jahren spitzte sich die Absatzkrise noch zu: Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, p. 49. 136 Cruse, Ein Wort, S. 6f.; Howen, Nähere Auseinandersetzung, ?. 50. 137 Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, ?. 18; Howen, Nähere Auseinandersetzung, S. 5. 138 Howen, Nähere Auseinandersetzung, S. 35 ff, argumentierte dafür mit Preisen in der jüngsten Vergangenheit von 6000-12000 fl. alb. 139 Konferenzialschluß 17.10.1808, LVVA 640/4/103, p. 288: Versteigerungsaussetzung bis zwei Jahre nach „Wiedereröffnung des freien und ungestörten Handels in der Ostsee". Konziseste Darstellung und fundierte Kritik: Moench, Ideen, ?. 4ff; Verteidigung: Howen, Nähere Auseinandersetzung. 140 Vgl. Cruse, Ein Wort, S. 8 f. 141 Howen, Nähere Auseinandersetzung,?. 5 ff., 17; Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 18; Konferenzialschluß 17.10.1808, LVVA640/4/103, p. 285; zu den Rentenierern vgl. oben, S. 53.

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pationsrecht gekoppelt mit umfassenden Finanzengagements innerhalb des Standes selbst bewirkte, dass die Sache erst allgemein zur Sprache

und es dann dabei blieb.142 Das Resultat war eine neuerliche Kündigungswelle im Dezember 1809,143 wiewohl etliche Forderungsbesitzer angesichts der eingebrochenen Güterpreise stillhielten, um nicht in einem ertraglosen Konkurs ihr Kapital zu verlieren.144 Die Spirale drehte sich, bis Petersburg im April 1811 schließlich doch den Induit verfügte und sie stillstellte.145 Frisches Geld gab es auch danach nur zu horrenden kam

-

Sätzen, wenn überhaupt.146

Bereits in der zeitgenössischen Publizistik findet sich die von der ständischen Zugehörigkeit einiger Wortführer scheinbar gedeckte147 Interpretation der Ereignisse als Konflikt zwischen nichtindigenen Gläubigern und indigenen Schuldnern.148 Diese Figur eines sozialen Gruppenantagonismus stellt eher ein Echo der Ständekämpfe dar als eine realitätsnahe Deutung.149 Zwar hatten Stadtbürger und vor allem vermögende Literati große Summen in Gütern stehen, sinngemäß als stille Teilhaber, da ihnen der direkte Besitz mindestens erschwert war. Doch operierten gerade auch die Kaufleute mit Fremdkapital,150 das sie nun nicht mehr bedienen konnten, während andererseits Mitglieder der Ritterschaft sich per Saldo ihrer Finanzverhältnisse in Gläubigerpositionen befanden, die sie ohne viel Federlesens realisierten151 oder in Kon-

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142

Indultverzögerung durch das .moneyed interest': Howen, Nähere Auseinandersetzung, S. 17; vgl. a. Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 13, zu bereits früher aus dem Adel vorgetragenen Versuchen, das Konkursrecht günstiger für die Gläubiger zu

gestalten.

143 Cruse, Ein Wort, S. 9. 144 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 136; Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 40. 145 Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 20: Zunächst für ein Jahr, dann noch einmal verlängert bis 1813. 146 1812 zahlten selbst Kreditnehmer mit exzellenter Bonität Sätze bis 24%: Fircks, Ueber Hülfs-Leihbanken, S. 39. 147 Prominente Beispiele sind die beiden hier zitierten Autoren, der Hofgerichtsadvokat Johann Friedrich Leonh. Moench und der Ritterschaftsrentmeister Karl v. d. Howen. 148 So erwähnt Howen, Nähere Auseinandersetzung, S. 1, zwar auch die „adelichen Kreditoren", will aber im „Bürgerstand" die „natürlichen Gegner" der Gutsbesitzer ausmachen. 149 Vgl. Cruse, Ein Wort, S. 9, 15. 150 Cruse, Ein Wort, S. 7; Howen, Nähere Auseinandersetzung, S. 59. 151 Fircks, Ueber Hülfs-Leihbanken, S. 4; vgl. a. Klopmann, Güter-Chroniken, Bd. 2, S. 116; Kurländische Güter-Chroniken N. F., S. 94. Vgl. a. oben, S. 120f., zur Kapitalvermehrung Adolph v. Hahns. Dass Hahns Schwiegertochter Wert darauf legte, er habe nicht einen Konkurs provoziert (Hahn, In Gutshäusern, S. 155), bestätigt.

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kursen Kapital verloren.152 Ähnlich konnten einerseits die „notorisch Reichen" in der Krise eher ihren Kredit behaupten,153 andererseits waren häufig eben sie es, deren Güter fideikommissarisch knappen Verschuldungslimits154 unterlagen und die deshalb Probleme hatten, sich mit Neuaufnahmen über die Einkommensausfälle zu retten.155 Endlich war Kredit nicht gleich Kredit, vieles persönlich oder familiär grundiert.156 Alles in allem sollte man eher von individuellen Akteuren in äußerst heterogenen Lagen ausgehen, die sich kaum sinnvoll zu Interessengruppen aggregieren lassen, jedenfalls nicht entlang ständischer Scheidelinien. Am ehesten wird man noch der Elite unter den Literati, den gut verdienenden Advokaten, unterstellen können, dass sie eine spezifische kollektive Erfahrung machten, die platzender Ausleihungen.157 Als Dienstleister in einer wenig kapitalintensiven Branche verloren sie zwar selten die Lebensgrundlage, wohl aber Nebeneinkünfte und Altervorsorge. Eines war der Mehrheit gemein, „Konkursifexen"158 wie denjenigen, die ihr Kapital abschreiben mussten: Sie erlitten deutliche materielle

Rückschläge.

Das Jahr 1812 steigerte die Einbußen noch einmal dramatisch. Am Vorabend und in den ersten Tagen des wiederaufflammenden Krieges lieferte Kurland Proviant und Pferde im Wert von über einer Million Rubel an das Militär, ungerechnet zahllose und verlustreiche Fuhrdienste („Podwodden/podvody") über Hunderte von Werst und allgemeine Durchmarschschäden.159 Ende Juni zogen die Russen sich dann auf Riga zurück und überließen die Provinz dem Feind. Franzosen und -

152 153 154 155 156

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-

selbst wenn es stimmt, eher noch die Verbreitung der Praxis. Auch der Hofgerichtsadvokat Peter Bienemann, 1794 als Bienemann von Bienenstamm römisch geadelt und 1799 zu Ritterschaft rezipiert (GenHB, Bd. 1, S. 14), gewann in den Konkursjahren ein Vermögen und erwarb mehrere Güter: Otto, Stammbuch Pernitz, S. 23. Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, p. 50, mit Vorwurf an „den betrügerischen Mannrichter Stempel". Howen, Nähere Auseinandersetzung, ?. 50; Fircks, Ueber Hülfs-Leihbanken, S. 7. Im allgemeinen bis zur Antrittssumme: Klopmann, Güter-Chroniken, Bd. 1, S. 177 f. Kurland und seine Ritterschaft, S. 46. Vgl. unten, S. 308 ff. Manteuffel-Szoeges, Agrarkredit, S. 14, Annahme, in der „nicht sehr großen, aber weitverzweigten Familie", die der Indigenatsadel gebildet habe, sei die Konzilianz allgemein gewesen, ist gleichwohl nicht zu halten. Pantenius, Jugendjahre, S. 13: Die Familien beider Großväter des Autors, Pantenius und Conradi, hatten den größeren Teil ihres Vermögens in Gütern stehen und verloren ihn 1812/13. Moench, Ideen, ?. 37. 1109470 Rbl.S.: Seraphim, Feldzug 1812, S. 306; vgl. a. Chelme, Polozenie, S. 72.

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Preußen blieben bis zum Winter, nährten sich aus dem Land und legten ihm Kontributionen von zwei Millionen Rbl. S. auf. Soviel Geld war schlicht nicht vorhanden. Man lieferte in Naturalien, gab oder versteigerte Wertgegenstände aller Art,160 zog Kredite zu halsbrecherischen Konditionen aus dem Ausland161 am Ende blieb es bei rund drei Fünfteln der geforderten Summe.162 Den aus der Besetzung insgesamt entstandenen Schaden schätzte George v. Engelhardt 1813 auf 15 Millionen Rubel,163 wobei es die Reicheren anteilig stärker getroffen habe als die Kleinbesitzlichen, die Geflohenen härter als die Anwesenden.164 Als Russland nach der Rückeroberung eine Kriegssteuer von progressiv 1,5-10% auf den Ertrag der Güter ausschrieb, meldete praktisch kein Gut überhaupt einen positiven Rohertrag, zahlreiche deklarierten sich als „gänzlich ruiniert".165 Auf die Katastrophenjahre folgte eine gewisse Konsolidierung zwischen 1814 und 1820. Der Export zog wieder an,166 und während Induit und allgemeine Geldnot zwischen 1810 und 1815 die Verkäufe aus Konkursen hatten zurückgehen lassen, wurde dieser Stau in der ersten Nachkriegskonjunktur abgebaut,167 auch neuerlich auf Kredit gekauft.168 Die Aufhellung blieb jedoch Episode. Ab 1820 ließ die europäische Agrardepression die Preise abermals einbrechen.169 Dieser zweite Krisenschub entfaltete zwar nicht die Schockwirkung des ersten, der Markt verfiel auf -

160 Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 75; Hahn, In Gutshäusern, S. 180. 161 LVVA 640/4/216, pp. 135ff. 162 Chelme, Polozenie, S. 72; eindrückliche Kontributionsliste für Abgunst und Grünfeld: Klopmann, Güter-Chroniken, Bd. 1, S. 20. 163 Engelhardt, Kurlands Betragen, S. 9. Engelhardt, der auch unter der Okkupation für die Regierung gearbeitet hatte, sah sich zu seiner ausführlichen Rechtfertigungsschrift veranlasst, um Vorwürfen der Kollaboration und ungerechten Verteilung der

Kriegslasten zu begegnen.

164 Engelhardt, Kurlands Betragen, hier S. 12, 17, 23 f., 35 f. 165 (Unvollständige) Steuerlisten 1812/14: LVVA 640/4/224; Progression: ebd. 1100/9/65, p. 57 (Berechnung Manteuffel-Katzdangen); allgemein zur „Procentsteuer" 1812-1815: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 10.4.1824 166

(Kurl. Gvts.Reg./Patente 1824). Begünstigend wirkten gute Ernten bei gleichzeitigem Misswachs in Teilen Deutschlands: Hahn, In Gutshäusern, S. 155.

167 Anh. 4: Tab., Diagr. A und C. 168 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 135; Kurland und seine Ritterschaft, S. 46, Anm. 169 Friedenskontraktion und staatliche Sanierungspolitiken taten ein übriges; Anziehen der Steuer- und Abgabenlast in den 1820ern: Zutis, Zemnieku brTvlaisana, S. 40f.; systematisch für Preußen: Klatte, Anfänge des Agrarkapitalismus, S.15 ff.; „worldwide silver famine" und globale Nachkriegsdepression: Bayly, Birth of the Modern World, S. 126.

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weniger tiefes Niveau. Dennoch setzte, nachdem die vorangegangenen Jahre die Reserven aufgebraucht hatten, die eigentliche Konkurszeit ein und dauerte bis zur Erholung der Agrarkonjunktur in den 1830ern.170 Märkte

Die Krise traf den Gutsbesitz insgesamt, wirkte sich aber im Einzelfall sehr verschieden aus. Am Ende gab es Gewinner und Verlierer. Dabei spielten die Fideikommisse, mit denen insbesondere die größeren Besitzungen seit Mitte des 18. Jahrhunderts bewehrt waren,171 eine entscheidende Rolle. Zwar gerieten sie aufgrund ihrer eingegrenzten Beschuldbarkeit schneller in den Konkurs,172 doch folgte daraus zunächst lediglich eine Kuratelverwaltung, keine Versteigerung. Als weitere ausschlaggebende Faktoren traten der schiere Vermögensumfang, Verwandtschaftsbeziehungen, genealogische und individuelle Zufälle hinzu. Drei Beispiele zur Illustration: 1813 kam die Erbfolge auf Nurmhusen, einem der größten einherrigen Güterkomplexe des Landes,173 an Friedrich Ewald v. Fircks174, der bereits mit Dannenthal in Konkurs stand. Fircks' Gläubiger schössen ihm noch die Antrittssumme für das Majorat vor und stellten dann Nurmhusen unter Kuratel; dem bankrotten Besitzer stand ein Wohnrecht und Deputat zu, beziehungsweise, da er eine freiere Lebensweise vorzog, eine jährliche Zuweisung von immerhin 5 500 Rth. alb.175 Im weiteren konnten die Gläubiger den Besitz uneingeschränkt verwalten oder verarrendieren, bis sie auf ihre Kosten gekommen waren. Als 1820 Friedrich Ewalds jüngster Sohn volljährig wurde, forderten sie ihn auf, den Schuldverpflichtungen seines Vaters und den darüber stattgefundenen Konventionen beizutreten. Die Söhne machten jedoch einen -

170 171 172

Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, ?. 74f, 136; Kurland und seine Ritter-

schaft,?. 45 f. Vgl. oben, S. 119, bzw. Anh. 5. Foelckersam, Das alte Kurland, S. 49: Nurmhusen, Dondangen, Edwahlen. Ob-

gleich dieses Limit des öfteren nicht eingehalten oder manipuliert wurde: Critische Erleuterung... 1813/14 (wie Anm. 125), LNB Rx 100 K/2/33, p. 5; Klopmann, Güter-Chroniken, fia. 1,S. 177 f. 173 2403 Seelen 1826: LVVA 7363/3/241, p. 60; 1813 umfasste er namentlich Großund Klein-Nurmhusen, Plawen, Lahdsern, Groß- und Klein-Sehnjen, Wolfshof, Liebleischen: Kvaskova, Nurmhusen, S. 25. Das Folgende nach ebd. ff. 174 Nicht zu verwechseln mit seinem als Autor und Landespolitiker mehrfach zitierten Namensvetter auf Nogallen. 175 Das Gesetz sah einen „standesgemäßen Unterhalt" vor: Critische Erleuterung... 1813/14, LNB Rx 100 K/2/33, p. 5.

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eigenen Vorschlag: Friedrich Ewald solle Nurmhusen bereits zu Lebzeiten auf den Ältesten übertragen, der ein tüchtiger Landwirt sei, dieser den Kuratelverwalter ablösen und zu dessen bisherigem Salär sowie unter fortbestehender Weisungsgebundenheit und Rechenschaftspflicht das Gut sanieren; außerdem sei der Schwager Roenne, Erbbesitzer von Hasenpoth, bereit, zusätzlich zu bürgen. Die Gläubiger willigten ein. Mehr noch, sie gestanden Fircks jun. zu, aus den Erträgen Wirtschaftsge-

bäude wiederherzustellen oder neu zu errichten, darunter eine Schweinemastung, Brauhaus und Windmühle als Veredelungszweige. Schließlich kam noch ein Vergleich mit dem Vater zustande, der die Erträge weiter entlastete, und mit strikter Ökonomie gelang es Fircks, den Fideikommiss bis 1835 zu entschulden. Nurmhusen lässt sich als komprimierte Geschichte einer Form des „Obenbleibens" lesen: Das ständische Institut hatte der Familie in der Krise den Besitz gerettet, ihr gleichsam eine zweite Chance offengehalten, die eine sich auf konsequentere Weise als Landwirte begreifende, professionalisierte Generation zu nutzen verstand, nicht zuletzt, indem sie auf die weitere Verwandtschaft (Roenne) als Ressource zurückgriff. Es war eine Kombination tradierter und neu hinzugewonnener, moderner Assets, mittels derer die Fircks-Nurmhusen ihren Besitz und Elitenstatus wahrten. Gegenbeispiel: 1781 übernahm Johann Adam Wilhelm v. Klopmann die nach einer fast zwanzigjährigen, konservativ wirtschaftenden Mündelverwaltung schuldenfreien, mit einem beträchtlichen Barvermögen ausgestatteten Schorstädtschen Güter. Er etablierte eine fürstliche Haushaltung, investierte in großem Stil in Grund und Politik, versuchte auf die im ersten Teil skizzierte Weise Land und Geld in politischen Einfluss und politischen Einfluss in Land und Geld umzusetzen.176 Da Schorstädt durch Gesamthand- und Erbverträge von 1624/1689 mit Groß-Würzau verbunden war, protestierten die dortigen Klopmanns schließlich gegen die rapide Verschuldung unter Berufung auf ein Urteil des Oberhofgerichts von 1733, doch der Senat kassierte den Spruch und gestand beiden Häusern 1796 freie Verfügung zu.177 In der Kreditkrise war es dann Würzau, das 1809 zuerst unter Konkursverwaltung kam: Erbteilauszahlungen in den späten 1790ern, Kreditaufnahmen, Verkäufe und Unterverpachtungen innerhalb der Familie hatten den Besitz geschwächt.178 1820 ersteigerte Dietrich v. Grotthuß das Gut.179 Johann Adam Wilhelm auf Schorstädt konnte sich mit seinen weitgespannten Finanzverbindungen -

176 Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, ?. 53, 65ff. 177 Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, ?. 46f, 66. 178 Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, ?. 69f. 179 Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, ?. 70, 75f.

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länger halten, wurde infolge eines ruinösen Rechtsstreits gegen Johann v. Medem-Elley 1821 aber gleichfalls zahlungsunfähig. Nach mehrjährigen Verhandlungen ging Schorstädt an Fürst Carl v. Lieven.180-Mit Würzau-Schorstädt implodierte ein im Kern vierhundert Jahre altes, in der Boomphase unter Bruch des erbvertraglichen Schutzes auf insgesamt über 4000 Seelen getriebenes181 Konglomerat. Eine mehrköpfige Agnatenschaft, jeder für sich mindestens starker Mittelstand, war in Kurland unbesitzlich geworden.182

Drittens: Nachdem die Gesamte Hand der Manteuffels auf Piaton und Katzdangen bereits Mitte des 17. Jahrhunderts einvernehmlich gelöst worden war,183 hatte sich Katzdangen im 18. zu einem der stattlichsten freien Güterkomplexe Piltens entwickelt184 und ungeachtet der entschieden pro-herzoglichen Parteinahme seiner Besitzer185 nach 1795 behauptet. In der Depression konnte Carl v. Manteuffel sich nicht nur halten, sondern trotz eigener Kapitaleinbußen noch zukaufen, bauen und in die Wirtschaft investieren.186 Dabei kam ihm außer „notorischer" Kreditwürdigkeit und reibungslosen Erbgängen187 zustatten, dass Geld Geld heiratet188: Sein Schwiegersohn Johann v. Lambsdorff war der älteste Sohn des ersten Zivilgouverneurs von Kurland, des Generals, Geheimen Rats und 1817 gegraften Erziehers des Carevic Nikolaj Matthias v. Lambsdorff und der Tochter des Petersburger Hofbankiers Boethlingk.189 In Kurland selbst großbesitzlich und eng der Hofaristokratie verbunden, vermochte Lambsdorff dem Schwiegervater zwischen 1808 und 1816 45000 Rbl.S. vorzustrecken und fand sich noch bereit,

180 Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 78f. 181 Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 24, 43. 182 Johann Adam Wilhelm konnte immerhin seinen Besitz in Litauen retten: Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 79. 183 Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, pp. 19, 48. 184 Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, pp. 34f., 43. 185 Wie S. 109, Anm. 55; S. 147; S. 254, Anm. 147. Übrigens im Gegensatz zu den Klopmanns, die in der Mehrheit Howen anhingen: Klopmann/Klopmann, WürzauSchorstädt, S. 67. 186 Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, pp. 49f. 187 Zweimal wenige Geschwister, die sich rasch einigten: Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, pp. 43, 52. 188 Er selbst hatte es durch seine Ehe mit der Erbin von Zirau, Katharina Charlotte v. Behr, bereits von Wohlhabenheit zu Reichtum gebracht: Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, pp. 34f. 189 Seeberg-Elverfeldt. Genealogie Lambsdorff, S. 142f., 145f.; DBBL, S. 439 (wo Johann fehlt); vgl. auch Erinnerungen von Marie Baronin Freytag Löringhoff, LVVA 1100/9/71, hier pp. 133ff.

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Gesellschaft

die Manteuffels gegen ungelegene Rückforderungen zu sichern.190 Als Katzdangen 1816 Fideikommiss wurde,191 handelte es sich mithin um eine zusätzliche Absicherung. Hier gab der schlichte Umfang der verfügbaren Ressourcen den Ausschlag,192 der es erlaubte, in der Modernisierungskrise von Marktmechanismen und der imperialen Einbindung zu profitieren. Neben dem rechtlichen Schutz war das der mindestens zweitbeste: die Gravitationskraft großer, ungeteilter Vermögen. Entsprechend war auch das seit 1509 von den Klopmanns besessene Würzau an einen der stärksten Grundbesitzer des Landes gefallen, der über annähernd 2000 Untertanen verfügte.193 Familiale Solidarität hingegen griff in allen drei Fällen. Wie bei Nurmhusen und Katzdangen die Schwager bürgten oder aushalfen, kamen den in Konkurs stehenden Klopmanns-Würzau die näheren Verwandten zu Hilfe allein es reichte nicht, und sie wurden in das Fallissement mit hineingezogen.194 Streitlust, Rechtshändel, die Aggressivität Dritter, vor allem aber die Überschuldung Schorstädts in der Hochspannung des wirtschaftlichen Optimismus, während dessen die Klopmanns sich auch des familienvertraglichen Schilds begeben hatten, die Belastung und teilweise Schmälerung Würzaus durch Erbauszahlungen, Verteilung des Vermögens auf mehrere Köpfe:195 Am Ende konnte sich auch ein ursprünglich rechtsgeschützter Besitz, nach seiner Masse Nurmhusen oder Katzdangen eher überlegen denn ebenbürtig, nicht behaupten. Bei der Mehrzahl der rund 80 Privatgüter fast ein Fünftel -, die während der 1820er in Konkurs gingen,196 war die Ausgangsposition wesentlich schlechter. Der sich abzeichnende Konzentrationsprozess löste bereits zu Beginn der Dekade Unruhe aus. 1820 fragte Friedrich v. Fircks: „Hat in den letzten Jahren der Ankauf großer Besitzlichkeiten von einzelnen Reichen nicht mit Recht so große Besorgnis bey uns erregt, daß mehrere aus -

-

-

190 LVVA 1100/9/65, p. 74. Lambsdorff selbst konnte 1817 noch mit Suhrs ein Filetstück (1 709 Seelen 1826) aus dem Konkurs Keyserlings-Blieden erwerben: Seeberg-Elverfeldt, Genealogie Lambsdorff, ?. 145. 191 Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, pp. 52f. 192 Insgesamt umfasste der Besitz 1826 knapp 3500 Seelen: LVVA 7363/3/241; Nutzung zeitweilig zwischen Carl und seinen zwei Söhnen aufgeteilt: Geschichte Katzdangens, ebd., 1100/9/76, pp. 52f. 193 Auswertung der Tabelle von 1826 in LVVA 7363 / 3 / 241 ; vgl. a. unten. 194 Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 75f. 195 Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 69f. 196 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 136; bis 1824 waren es vierzig: Auszug aus dem Journal des Ministerkomitees 11.2., 19.8.1824 (Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 27.11.1824: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1824).

312

Die Agonie des Ancien

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Mitte auf diesem Landtage darauf antragen wollten, dem unbegränzten Ankaufe Schranken zu setzen?"197 Fircks erblickte in Schicksalen wie dem der Klopmanns eine Gefahr für das Corps als solches. Wenn es ungehemmt so weitergehe, warnte er, „dann muß auch in ganz kurzer Zeit unser Adel, der den Gesetzen und seinem Ursprung nach sich gleich ist, in den hohen und niederen zerfallen, das heißt in den ganz Reichen und den ganz Armen". „Wie in Polen" würden einige Familien das Land untereinander aufteilen, die anderen mit Glück ein paar Bauernhöfe halten können oder in den Dienst der „Magnaten" treten.198 Einzig dem mangelhaften Konkursprozess und dem „gewaltsamen Mittel" des Induit sei es zu danken, dass diese Entwicklung noch nicht weiter fortgeschritten sei,199 sowie in gewissem Widerspruch dazu „der moralischen Denkungsart unserer Reichen".200 Denn kämen jene zehn oder zwölf Personen, die durch ihren bedeutenden Besitz allein noch über Kredit verfügten, „auch nur stillschweigend [überein], sich gegenseitig beym Ankauf von Gütern keine Hindernisse in den Weg zu legen, [...] so können sich selbst bemittelte Familien nicht nur nicht erhalten, sondern ihre Güter müssen auch unter dem Werth [...] weggehen."201 Auch ohne eine solche oligarchische Verschwörung meinte Fircks zu beobachten, dass sich in der Krise die schon zur Herzogszeit erkennbare materielle Binnenstratifizierung des Standes dramatisch zuspitzte. So verhielt es sich in der Tat. Analysiert man das eingeführte202 Sample von männlichen Indigenatsadligen auf deren Besitz hin, fängt die Eindeutigkeit der Befunde die methodischen und Quellenprobleme auf, die das Material belasten:203 Gänzlich unbesitzlich war demnach um die Mitte des 18. Jahrhunderts jeder zehnte, in der späten Herzogszeit und bis in die Krisenjahre ein Viertel, im Anschluss dann fast jeder zweite.204 Unter den überhaupt Besitzlichen fiel der Anteil der Besitzer von drei und mehr Gütern von 35 % auf 30 % (im gesamten Sample von 35 % auf 15 %), während der der Besitzer von zwei Gütern bei 30 % blieb (im gesamten Sample von 25% auf 15% fiel), derjenige der Besitzer eines einzigen Gutes aber von 35 % auf 45 % stieg (im gesamten Sample von unserer

-

-

Fircks, Ueber Hülfs-Leihbanken, S. 8. Fircks, Ueber Hülfs-Leihbanken, S. 11. Fircks, Ueber Hülfs-Leihbanken, S. 4. Fircks, Ueber Hülfs-Leihbanken, S. 10. Fircks, Ueber Hülfs-Leihbanken, S. 9. S. 149; bzw. Anh. 1, Vorbemerkung. Vgl. Anh. 6, Vorbemerkung; dort auch zur Anlage der Auswertung. Die Angaben hier folgen Tab. 2 (Rundung zu fünf Prozent). 204 Über kein Gut in Kurland/dort einschließlich des litauischen Grenzstreifens verfügten in denselben Zeiträumen 30%/15%, 30-40%/25-30%, 55%/45%. 197 198 199 200 201 202 203

313

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fiel).205 Somit traf die Konzentration des Landes in einer schrumpfenden Zahl von Händen mit voller Wucht die Generation, die 35 % auf 25 %

während der und unmittelbar anschließend an die Konkurszeit in das Alter kam, eine Existenz zu etablieren. Man könnte von einer Generation der Enterbten sprechen, der eine Enteignung ihrer Väter voranging.206 Belegt dieser einigermaßen grobschlächtige Längsschnitt kaum mehr als eine Tendenz, lässt eine 1826 angefertigte Gütertabelle eine Querschnittsanalyse und präzisere Aussagen zu, die mit der Seelenzahl die eigentliche Wirtschaftskraft der Güter beschreiben und die Profiteure sowohl der Krise als auch des politischen Wandels kenntlich machen.207 Sie verzeichnet insgesamt 801 Besitzlichkeiten,208 darunter 463 Privat-209 und 179 Kronsgüter, auf denen mit 298440 Seelen 94,2% der gutsuntertänigen Landbevölkerung lebten.210 Von den Privatgütern befanden sich 377 (81,4%) mit 188850 Seelen (86,6%) in der Hand von Indigenen, höchstens 57 (12,3 %) mit 13507 Seelen (6,2%) in der von nicht zur Ritterschaft gehörigen Kurländern.211 Die Diskrepanz zwischen der 205 Die Summe von 105% ergibt sich aus Rundungsabweichungen. 206 Da die Väter oftmals entweder noch mit ihrem zeitweiligen Besitz verzeichnet sind, teils auch Konkurs oder Exekution bis zu ihrem Tod herauszögern konnten, zudem der Erbfall die Belastungsprobe schlechthin darstellte (vgl. Fircks, Ueber Hülfs-Leihbanken, ?. lf.), ist die Statistik für die Kohorte der Erben die eigentlich relevante. 207 LVVA 7363/3/241; Auswertung in Anh. 7. 208 Kurland und Pilten zusammen; zur Vereinigung 1817/19 wie S. 38f, Anm. 14. 209 Etwa zu vier Fünfteln stimmbefähigende Besitzungen, nämlich rund 290 in Kurland, knapp 90 im ehemaligen Kreis Pilten: Abgleich der Gütertabelle mit Hupel, Kurlands alter Adel, S. 59ff.; ders., Nachrichten von Kurland, ?. 128ff.; Stimmtabelle im Anhang des Entwurfs zur Versammlungs- und Verhandlungsorganisation... 1804 (Materialien LTO). Doch ist die politische Qualität hier unerheblich. Streng genommen wäre zudem angesichts der-an dieser Stelle nicht weiter vermerkten Beihöfe und Zusammenlegungen vielfach von Güterkomplexen zu

sprechen.

-

210 Anh. 7, Tab. 1. Die Zahl der Gesindewirte (21397/93,9%) modifiziert die Aussage nicht. Die restlichen Seelen verteilten sich auf 88 Pastorate (7140/2,2%), 47 Kronsforsteien (6240/1,9%), 6 Ritterschaftsgüter (3753/1,2%), 11 Hauptmanns- und Oberhauptmannswidmen (1688/0,5%), 7 sonstige Besitzlichkeiten (137/0,04%); für drei Krons- bzw. Privatgüterund sieben Pastorate fehlen die Angaben zur Seelenzahl. 211 Davon 25 (5 590 Seelen) in Erbpfandbesitz, drei (854 Seelen) in Pfandbesitz und drei (2435 Seelen) in Arrendebesitz; umgekehrt hielten die Indigenen nur vier Privatgüter (939 Seelen) als Erbpfandbesitz, zwei (1 138 Seelen) als Pfandbesitz und zwei weitere (703 Seelen) als Arrenden. Da die im Gegensatz zu den Kronsgütern nicht genannten Obereigentümer überwiegend ebenfalls indigen gewesen sein dürften, ist die Stellung des Ritterschaftsadels noch einmal stärker zu veranschlagen. Die -

314

Die Agonie des Ancien Régime

Vergleich zum Seelenbesitz weist Bodenanteil Nichtindigener vor allem aus geringe kleineren Gütern bestand. Zugleich wird ein Phänomen sichtbar, das schon den Zeitgenossen ins Auge gefallen sein muss, zu artikulieren aber heikel war: Einige der größten Besitzungen gingen an Mitglieder des russischen Reichsadels212, nämlich 13 Privatgüter (2,8 %) mit 11 221 prozentualen

Teilhabe

am

Guts- im

aus, dass der ohnehin

(5,2 %).213 Wichtiger für die Argumentation ist jedoch die standesinterne Verteilung. Am Privatgüterbesitz partizipierten gut 200 Ritterschaftsadlige aus vor 1780 immatrikulierten Familien, von denen 190 individuell eindeutig zu identifizieren sind. Aus diesen geboten die reichsten acht zusammen über ein Viertel der entsprechenden 150000 Seelen und noch einmal Seelen

19 über ein weiteres Viertel. Das heißt, die Hälfe der Privatbauern auf indigen besessenem Land verteilte sich auf 27 Gutsbesitzer, die andere Hälfte auf die verbleibenden 163 (85%) der überhaupt Besitzlichen, von denen es das schwächste Drittel auf gerade einmal 6,2 % brachte.214 Oder, anders gewendet: Setzt man einen Besitz von mehr als 2000 Seelen als Reichtum, von 1000 bis 2000 als Wohlhabenheit, von 200 bis 1000 Seelen als mittleren Adel und von weniger als 200 als verarmt an,215 konnten je 18 Indigene (jeweils 9,5% aus allen Besitzlichen) als reich oder wohlhabend gelten,216 die große Mehrheit von 127 (66,8%)

Additionsdefizite neren

ergeben

sich

aus

auch im

folgenden nicht berücksichtigten klei-

Positionen; vgl. Anh. 7, Tab. 6.

Begriff fasst die nichtkurländischen Träger russischer, polnischer oder ostseeprovinzialer Namen mit hohen Rängen bzw. Titeln zusammen; Zahlen Anh. 7,

212 Der

Tab. 6. 213 Wo dabei das Landesrecht gebrochen bzw. ignoriert wurde, behalf sich die Ritterschaft gegebenenfalls, indem sie die Läsion durch Immatrikulation heilte. Allgemein gilt aber, dass die Rechtspraxis weniger exklusiv war als das Gesetz und die politische Rhetorik. 214 Anh. 7, Tab. 9a. 215 Die Kategorisierung folgt Hildermeier, Russischer Adel, S. 185 f., dessen Zahlen allerdings verdoppelt sind, da sie bei ihm nur männliche Leibeigene meinen. Demzufolge war bei einem Besitz von weniger als 100 männlichen Seelen keine standesgemäße Lebensführung mehr möglich, und diese Untergrenze wurde denn 1831 auch zur Bedingung für vollberechtigte Korporationsteilhabe: ebd., S. 185. Dass eine Übertragung auf kurländische Verhältnisse problematisch ist, versteht sich, doch geht es hier nur um eine Abschätzung im Sinne des Konzentrations- und Differenzierungsarguments. Für alternative Berechnungen, die am Kern der Aussage aber wenig ändern, s. Anh. 7, Tab. 9a und 9b. Hier nach 9c. 216 Die 18 Schwerreichen vereinigten dabei 38,9%, die Reichen noch einmal 17,9% der Seelen auf sich, bei Durchschnittswerten von 3 250 bzw. 1 500.

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Gesellschaft

als mittelmäßig begütert,217 immerhin 27 (14,2%) für arm.218 Vor allem aber: Alle diese Privatbesitzlichen zusammen machten günstigstenfalls die Hälfte der in Frage kommenden erwachsenen männlichen Indigenen aus.219 Die innere Differenzierung war in der Tat erheblich. Fircks' Alarmismus hatte seinen Grund. Denn hinzu kam, dass sich bei den Kronsgütern die Lage für den eingeborenen Adel insgesamt kritischer darstellte. 85 indigenen Besitzern (47,5%; 47631 Seelen = 52,7%) standen 43 nichtindigene Kurländer (24%; 18244 Seelen 20,2%) und 43 Reichsadlige (23,5%; 21041 Seelen = 23,2%) gegenüber.220 Dieser Befund einer Rückdrängung der Indigenen aus der Nutzung von Staatsland wird verschärft und hinsichtlich der Profiteure modifiziert, berücksichtigt man, dass die von der Krone verarrendierten Güter vielfach weiterverpachtet, „cediert", wurden: Auf 68 Kronsgütern war der verzeichnete Besitzer nicht Kronspächter oder direkter Nutznießer einer kaiserlichen Gnadengabe, sondern Cessionär eines solchen, und nur drei derartige Unterbesitzer stammten aus dem Reichsadel (1 141 Seelen), während auf 32 Kronsgütern (12414 Seelen) Indigene und auf ebenfalls 32 (13565 Seelen) Nichtindigene erst auf dem Umweg zum Zug kamen.221 Unter den unmittelbar von der Krone Begünstigten erhöht sich damit der Anteil des Reichsadels auf 87 Güter (48,6%; 39428 Seelen = 43,6%), der der Indigenen fällt auf 69 (38,6%; 42539 Seelen = 47%) und der der nichtindigenen Kurländer auf 13 (7,3%; 4679 Seelen = 5,2%).222 Die Verdrängung des eingeborenen Adels geschah also eher durch die aristokratische und Dienstelite des Reichs als durch im Land ansässige Literaten oder Kaufleute. Dieser =

217 Mit durchschnittlich 490, in der Summe 42,3% der Privatuntertanen auf indigen besessenem Grund. 218 Sie verfügten über 1,9% der Seelen, 106 im Durchschnitt. 219 Zu derZeit wurden 2677 Adlige beiderlei Geschlechts gezählt (LVVA7363/3/241, p. 2), worunter im großen und ganzen Indigene zu verstehen sind: Hoheisel/Wörster, Seelenrevisionslisten, S. 11. Setzt man nur ein Drittel der Männer als potentielle Interessenten an, scheint eine Zahl von rund 400 Anwärtern plausibel. Das passt in etwa zu den obigen Befunden zur Besitzlosigkeit. Stellt man zudem in Rechnung, dass hier zwar nur die Privatgüter in Rede stehen, sich andererseits etliche davon im Besitz von Witwen befanden und die längerfristig Abwesenden, dienstweise oder bereits emigriert, nicht erfasst sind, dürfte die Konzentration eher noch ausgeprägter gewesen sein, als die Längsschnittbetrachtung ausweist. 220 Fünf Güter (2196 Seelen) standen unter direkter Verwaltung durch die Krone: Anh. 7, Tab. 10. 221 Anh. 7, Tab. 13. 222 Anh. 7, Tab. 12 und 14. Allerdings konnten sich in diesem Fall die Indigenen die durchschnittlich größeren Komplexe sichern, wie aus den Verhältnissen des Güterzum Seelenbesitz hervorgeht.

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Die Agonie des Ancien

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Trend stellt sich nochmals ausgeprägter dar, wenn man die Kategorie der Indigenen näher aufschlüsselt. Während die nach 1780 rezipierten Räte und Eingeheirateten das Bild kaum verändern, verstärken die kurz vor und nach 1795 mit dem Indigenat geehrten hohen russischen Würdenträger223 das Gewicht der imperialen Elite unter den Besitzern von Kronsgütern deutlich: Es kommen zehn direkt genutzte Güter mit 10252 Seelen und fünf an Alteingesessene cedierte mit 3 195 Seelen hinzu; bei einer entsprechenden Neuberechnung der oben gemachten Angaben steigt der Anteil des Reichsadels zu Lasten der langansässigen Indigenen auf 57% der Kronsgüter (58,4% der Seelen; gegenüber 30,2%/32,2 %).224 Zwar ist keine einheitliche Aussage darüber möglich, bis wann und inwieweit diese neuen Mitglieder des Corps als fremd wahrgenommen wurden, doch ließ sich eine äußerst geringe Zahl jemals im Land nieder; auch in der Landespolitik tauchen sie praktisch nicht auf. Die Masse blieb so etwas wie Ehrenbürger.225 Zusammenfassend: Mitte/Ende der 1820er Jahre hielt sich „der" Ritterschaftsadel erfolgreich im Besitz der Privatgüter und zog als direkter oder indirekter Nutznießer noch beträchtlichen Vorteil aus den Kronsgütern. Doch begann diese Ausweichmöglichkeit für Unbegüterte knapp und angesichts der zwischengeschalteten Oberbesitzer und insgesamt verschlechterter Konditionen mager zu werden. Das wog um so schwerer, als der Konzentrationsprozess innerhalb der Ritterschaft eine Binnenstratifikation zeitigte, die es kaum mehr zulässt, undifferenziert von einem Gutsbesitzerstand zu sprechen. Das in der Selbstverständigung wichtige Ideal wurde von der Realität nicht mehr gedeckt, beziehungsweise oft nur noch in Form eines Landstücks, das allenfalls symbolisch, als eine Art Erinnerungswert zu Buche stand. Die Folgen für Lebenschancen und -entwürfe des einzelnen, damit für den sippschaftlichen Herrschaftsverband als ganzen waren gravierend. Eine erste, quantifizierende Annäherung an diese Konsequenzen lässt sich mit Hilfe eines Indikators unternehmen, der relativ simpel zu aggregieren ist, indes ein biographisches Kerndatum betrifft, Erfolg und Misserfolg auf dem Heiratsmarkt.226 Allerdings weist die Interpretati223 Für die Rezeptionsjahre s. die Matrikel in Kurland und seine Ritterschaft, ?. 429 ff. 224 Anh. 7, Tab. 12 und 14; für die Privatgüter ergibt sich aus dieser Unterscheidung keine nennenswerte Modifikation: ebd., Tab. 7. 225 Vgl. Kurland und seine Ritterschaft, S. 68, 414f, 463ff: wie oben, S. 42, Anm. 35. 226 Zum „marital market" vgl. a. Whelan, Adapting to Modernity, S. 139ff. Whelans Befunde decken sich nicht durchgängig mit den hier gebrachten, was nicht zuletzt

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der Daten Risiken auf: Die Einschätzung „Erfolg/Misserfolg" hat ein komplexeres und beweglicheres Ensemble kultureller Bedingungen und individueller Präferenzen zu gewärtigen als die für den Güterbesitz recht umstandslos zu treffende Vorannahme, dass die meisten Indigenatsadligen zwischen 1750 und 1850 lieber Geld hatten als keins. Die folgenden Deutungsvorschläge stehen deshalb unter noch einmal stärkerem Thesenvorbehalt als der Rest der Argumentation. Ich unterstelle zunächst, dass die Akteure für gewöhnlich heiraten beziehungsweise ihre Eltern sie verheiraten wollten, dabei nach Möglichkeit den Status der (Kern-227) Familie wahren oder verbessern, und zwar sowohl im Sinne von Prestige wie Wohlhabenheit und politischem Einfluss oder sozialer Macht.228 Von diesen Ressourcen wird außer dem Stand ohne Ränge und Titel nur der Gutsbesitz erfasst, doch dürfte nach allem bisher Gesagten über ihre starke gegenseitige Bedingtheit, die „Kongruenz der Dimensionen sozialer Ungleichheit"229, Land auf gesellschaftlichen Rang allgemein hinweisen. Solange die Daten keinen erheblichen Zweifel an diesen Vermutungen aufwerfen, dass Ehelosigkeit nicht auf freie Entscheidung, sondern Mangel an Gelegenheit zurückzuführen war und dieser sich in Unbesitzlichkeit ausdrückte, nehme ich weiterhin an, dass die Imponderabilien individueller Verhältnisse und Dispositionen von der Aggregation nivelliert werden. Eine Kritik dieser Unterstellungen folgt weiter unten. Die Quote unverheirateter indigener Männer im gesamten Sample230 entwickelte sich in der Form einer ungleichschenkligen Parabel: Der Anteil stieg von 13,3% unter den 1701-1725 Geborenen über 19,6% aus den Jahrgängen 1726-1750 auf 34,7% in der Kohorte 1776-1800, um unter den 1801-1825 Geborenen wieder auf 20,7% zurückzufallen.231 Fragt man nach dem Status der Ehelosen, handelte es sich bei den zwischen 1700 und 1801 geborenen Männern zu recht konstant zwei Dritteln on

-

-

227

228

auf die bereits mehrfach angesprochene Problematik einer homogenisierenden Analyse livländischer oder estländischer und kurländischer Verhältnisse zurückzuführen ist. Schon die Faktionsmuster des späten 18. Jahrhunderts relativieren „die Familie" im sippschaftlichen Sinne zugunsten von Vater-Sohn-Traditionen der Lagerbindung etwa bei Howen, Heyking oder den Klopmanns. Das negiert den Einfluss von Emotionen nicht, negligiert ihn jedoch im Sinne sozialstatistischer Thesenbildung. Vgl. aber die Warnung vor gesellschaftsgeschichtlichem Reduktionismus in Sachen „Liebe" bei Blickle, LeibeigenschaftI Menschenrechte,?. 203 ff. Kocka, Stand Klasse Organisation, ?. 137, passim. Vgl. Anh. 1, Vorbemerkung.

229 230 231 Anh. l,Tab. 1.

-

-

318 um

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Unbesitzliche, mit leicht steigender Tendenz, während in der Jahr-

gangskohorte 1801-1825 ausschließlich Männer ohne Grundvermögen keine Ehe eingingen. Oder umgekehrt, nämlich aus der Perspektive der

Heiratswahrscheinlichkeit betrachtet: Von den Unbesitzlichen der Jahrgänge 1701-1750 blieb knapp die Hälfte alleinstehend, unter denen der Kohorte 1751-1775 waren es 57%, unter denen der Kohorte 1775-1801 66%, dann aberging unter den 1801 bis 1825 geborenen Unbesitzlichen die Quote der Ehelosen auf 40 % zurück. Die entsprechenden Daten für die Besitzlichen sind 7%, 9,5%, 14,5%, 17%, 0%-aus der letzten Kohorte des Samples nahmen alle Grundbesitzenden eine Frau. Noch einmal anders gewendet: Der Anteil Landbesitzloser an den Eheschliessungen zwischen 1700 und 1826 wuchs mit der zunehmenden Unbesitzlichkeit überhaupt von 10% auf 20%, schnellte dann aber 1826 bis 1875 auf fast 40 % empor.232 Die Frauen erlebten denselben Trend, nicht jedoch seine Umkehr. Aus den analog gebildeten Jahrgangskohorten blieben 8,3%, 15,5%, 20,6%, dann 21,8%, endlich 27,5% unverheiratet.233 Besitz spielte auch hier seine Rolle. Zwar ist die Zahl der Väter ohne Land zu niedrig, um tragfähige Aussagen über die Heiratschancen ihrer Töchter zuzulassen234 Ergebnis der relativ schlechten Reproduktionschancen unbesitzlicher Männer über das 18. Jahrhundert, wie sie die vorgenannten Zahlen ausweisen. Was sich hingegen niederschlägt, ist die Anzahl der zum Zeitpunkt einer Eheschließung beziehungsweise möglichen Eheschließung noch lebenden Geschwister: Sie war bei den Unverheirateten deutlich höher als bei den Verheirateten; erst für die zwischen 1801 und 1825 geborenen Frauen verlor dieser Faktor seine Bedeutung. Derweil machte sich für die Töchter die Position in der Geburtshierarchie zu keinem Zeitpunkt signifikant bemerkbar.235 Beides entsprach der Logik des Erbrechts, das (männliche) Primogenitur und Pflichtteile für die Geschwister vorsah.236 Im Ergebnis: Die Heiratschancen derjenigen, die über kein Land verfügten beziehungsweise Aussicht auf keine oder nur eine mehrfach geteilte Erbschaft hatten, lagen durchgängig unter denjenigen Besitzlicher, und der Konzentrationsprozess verschärfte diese Spaltung. Die absolute -

232 Anh. l.Tab. 3. 233 Anh. l,Tab. 2. 234 Erst in der letzten Kohorte deuten die Zahlen daraufhin: Anh. 1, Tab. 2. Sie stiegen zum Ende des Untersuchungszeitraums, blieben aber unter den im vorigen genannten Anteilen Unbesitzlicher insgesamt. 235 Allenfalls, indem das durchschnittliche Heiratsalter der Nachgeborenen tendenziell über dem ihrer älteren Schwestern lag. 236 Vgl. oben, S. 80.

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Zahl wie der relative Anteil Indigener, die aus materiellen Gründen auf eine Familiengründung verzichten mussten, stiegen. Als in der letzten Geburtskohorte die Heiratswahrscheinlichkeit überhaupt wieder zunahm, unter Besitzlichen wie Unbesitzlichen, verschob sich einerseits bei den Männern die Ehelosigkeit ganz zu den Unbegüterten, sank andererseits die Ehelosigkeit innerhalb dieser Gruppe und erwies sich zugleich das Schicksal der Frauen als weniger von ihren Erbaussichten bestimmt. Beide Entwicklungen, das Absinken der Heiratsquote im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert wie ihr Anziehen unter denjenigen, die gegen Ende des Untersuchungszeitraums zur Welt kamen,237 erfuhren die Unbesitzlichen in einem Verstärkereffekt. Diesen Beobachtungen entsprechen im wesentlichen die zur Partnerwahl. Ergibt sich für das 18. Jahrhundert eine mehr oder weniger klare, am deutlichsten bei den zwischen 1751 und 1800 heiratenden beziehungsweise zwischen 1726 und 1750 geborenen Männern konturierte positive Relation zwischen der Größe des eigenen Besitzes und dem des Schwiegervaters, schwächt sich diese in späterer Zeit ab, ohne allerdings zu verschwinden.238 Das für die Töchter ermittelte Verhältnis zwischen dem Besitz der Brautväter und dem der Schwiegersöhne liefert ein ähnliches Bild, jedoch mit einer wesentlichen Modifikation:239 Beginnend mit den zwischen 1801 und 1825 geschlossenen Ehen und im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts steigend respektive für die nach 1775 und verschärft für die nach 1800 geborenen Frauen fällt die Besitzstärke der Männer hinter die der Brautväter zurück. Während sich also den Männern allmählich Chancen auch außerhalb landwirtschaftlicher Einkommen eröffneten, blieb die Attraktivität der Frauen an das Grundvermögen ihrer Väter gebunden. Das fügt sich in die Trendumkehr bei der Nichtverehelichung von Männern im Gegensatz zur kontinuierlichen Zunahme unverheirateter Frauen, wird allerdings relativiert durch den Bedeutungsrückgang miterbender Geschwister. Endlich die Herkunft der Partner: Unter den indigenen Männern sank der Anteil derjenigen, die wiederum indigen heirateten, von 80 % der 1701 bis 1725 Geborenen, oder 85 % der im selben Zeitraum geschlossenen Ehen, auf 60 % der nach 1800 Geborenen wie der nach 1825 Heiratenden. Bei den Unbesitzlichen war der Trend noch ausgeprägter.240 Unter ihnen fiel das Binnenkonnubium von einem niedrigeren Ausgangsniveau auf rund die Hälfte im späteren 18. und frühen 19. Jahr-

-

237 238 239 240

Anh. l.Tab. 1. Auch zum Folgenden Anh. 1, Tab. 5 und 6. Anh. l,Tab. 1. Anh. l.Tab. 1 und 3.

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Die Agonie des Ancien

Régime

hundert, später auf ein Viertel der nach 1850 geschlossenen Ehen.241 Der Verband öffnete sich, wobei externe Partnerwahl nicht per se auf eine

Chancenverschlechterung hinweist. Mancher zog eine Eheverbindung in den europäisch-russischen Aristokratien vor, nicht weil er musste, sondern weil er es sich leisten konnte. Gleichzeitig heiratete freilich eine überschaubare, aber doch merkliche Zahl Männer nichtindigene Kurländerinnen oder nichtadlige Ausländerinnen. Die mit der Besitzkonzentration einhergehende Differenzierung der biographischen Optionen ließ den sippschaftlichen Charakter der Korporation erodieren. Andererseits lag der Anteil der indigen heiratenden Frauen durchgängig höher und fiel nie unter drei Viertel.242 Waren die Männer beziehungsweise Väter zur Aufrechterhaltung des Geschlechts und Namens oder als Zugeständeinen sich erweiternden Gesichtskreis bereit, Konzessionen bezüglich der konnubialen Abschließung des Herrschaftsverbandes zu machen,243 trugen die Frauen/Töchter die Konsequenzen eines prinzipiell fortdauernden Willens zur Exklusion. Dem 1775 gegründeten Mitauer Fräuleinstift folgten denn auch im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Reihe ähnlicher Legate und Einrichtungen.244 Kurz, zwischen materieller Verteilung und Heiratschancen bestand ein Nexus, der eine zunehmende Zahl von Indigenen aus dem Reproduktionsverband ausgliederte oder aus ihm auswandern ließ, und in diesem Sinne wurde das sippschaftlich-egalitäre Corps im 19. Jahrhundert ein symbolischer Ort, dessen Integrität die Frauen verbürgten, je weniger die Vorstellungen vom exklusiv verschwägerten, landsässigen Herrenstand real gedeckt nis

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an

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waren.

Zugleich sind die eingangs getroffenen Annahmen zu relativieren. Die schwächer werdende Entsprechung zwischen dem Landbesitz heiratender Männer und Frauen respektive Brautväter weist aus, dass, während bei den von anderweitigem Vermögensgewinn ausgeschlossenen Frauen Boden auch im 19. Jahrhundert der Schlüsselindikator sozialer Attraktivität blieb, dies für die Männer nicht mehr galt. Unter ihnen nahm der Anteil der Erstgeborenen an den Ehelosen überproportional 241 Anh. l.Tab. 3. 242 Anh. 1, Tab. 2. Bei den Töchtern von Unbesitzlichen scheint die Quote darunter gelegen zu haben, doch lassen die niedrigen absoluten Zahlen keine belastbaren

Aussagen zu. 243 Bis zu einem gewissen Grad hatten Söhne auch schlicht bessere Chancen, ggf. ihren Willen gegen den der Eltern durchzusetzen: Erinnerungen von Marie Baronin Freytag Löringhoff, LVVA 1100/9/71, pp. 136f. (Matthias v. Lambsdorff). Vgl. a. Whelan, Adapting to Modernity, S. 153. 244 Kurland und seine Ritterschaft, S. 126; vgl. a. Schlau, Wanderungs- und Sozialgeschichte,S. 179.

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Gesellschaft

einem Sechstel der ersten Geburtskohorte auf die Hälfte in der Generation der ,Enterbten' zu245 verlor sich also der Vorteil aus der Geburtshierarchie zugunsten individuell erworbener Potentiale. Mit dem Ausgang des Ancien Régime diversifizierten sich die Ressourcen, die auf dem Heiratsmarkt in Ehen umgesetzt wurden. In der oben gewählten Terminologie: Die „Kongruenz der Dimensionen sozialer Ungleichheit" verschwamm. Nachdem zwischenzeitlich die Ehelosigkeit allgemein zugenommen hatte, ging sie zurück auf diejenigen, die weder über Landbesitz verfügten noch anderweitig eine Existenzgründung ermöglichen konnten, bei gleichzeitig verbesserten Reproduktionschancen auch für Landbesitzlose. Darüber hinaus modifiziert das zeitweilige Anwachsen der Ehelosigkeit auch unter Besitzlichen und ihr späterer vollständiger Rückgang die Hypothese vom konstant gegebenen Heiratswillen. Um drei prominente Beispiele zu nennen, blieben so unterschiedliche Charaktere wie Otto Hermann v. d. Howen, Friedrich v. Fircks und der jüngere Karl v. Manteuffel-Katzdangen unverheiratet, obwohl sie über teils stattliche Vermögen verfügten.246 Die Nichtwahmehmung ihrer Heiratschancen durch begüterte Adlige vor und um 1800 im Gegensatz zur weitgehenden, dann vollen Ausschöpfung dieser Chancen in früheren und ab der folgenden Generation247 deutet ebenso wie die parallele Zunahme der Scheidungen und ihre anschließende Rückläufigkeit248 eine Differenz der Dispositionen an, zu der der Schlüssel in der ausgeprägten Ich-Realisierung und der Individualitätsemphase der Hochaufklärang und frühen Romantik liegen dürfte. Sie erlaubten es, ein Leben auch ohne Frau (und Kinder) als gelungen zu definieren und solches Gelingen über den Imperativ der genealogischen Kontinuität zu setzen. Nach etwa 1820 setzte sich dann ein „Kult der Familie"249 durch, der den Erhalt von Stand, Stamm und Namen zusammendachte, Familiengründung und -leben verbindlich idealisierte. Im Unterschied zur ungeschichtlich-religiös fundierten Selbstverständlichkeit des früheren 18. Jahrhunderts wurde die (engere) Familie nun ausdrücklich als stabilisierender Pol in eivon

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245 Anh. l,Tab. 1. 246 Wenn auch im Falle Howens über zweifelhaftes Prestige, schillerndes in dem Fircks', dessen politisch-moralische Kompromisslosigkeit seine biegsameren Standesgenossen bisweilen überforderte; vgl. Hahn, In Gutshäusern, S. 177. 247 Zahlen s. o. Ein Widerspruch zur vorstehenden Argumentation ergibt sich daraus nicht, da der Anteil Unverheirateter unter den Unbesitzlichen durchgängig signifikant höher liegt. 248 Anh. 1, Tab. 1-4, jew. Zeile 2b bzw. 3b (bzgl. der ersten Ehe). 249 Eingehend dazu Whelan, Adapting to Modernity, S. 103ff., 127ff.

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Die Agonie des Ancien

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fundamental krisenhaften Welt konzipiert, zugleich und damit verschränkt als Garant des Kollektivs. Nach den Verwerfungen um 1800 lässt sich darin im doppelten Sinn eine Reaktion erblicken gegenüber der Modernisierungserfahrung von Differenzierung, Individualisierung und Vergeschichtlichung. Oder, systemisch gesprochen: Eine ihre Grundlagen überfordernde Population durchging zunächst Reproduktionsausschluss und Reproduktionsabstinenz.250 Da sich gleichzeitig das Konnubium öffnete, war das Corps zudem kaum mehr als geschlossener Sippschaftsverband zu beschreiben, so wenig wie als Gutsbesitzerstand: Die Fundamente der Adelsherrschaft in ihrer tradierten Form erodierten. Freilich konnte beides, Ehelosigkeit und Exogamie, zur Überwindung der Krise und Rekonsolidierung des Standes beitragen, indem einerseits die verringerte Heiratsquote dem Anwachsen eines unversorgten Adelsnachwuchses entgegenwirkte, andererseits engere Verbindungen zumal ins Reich neue Chancen und Versorgungsmöglichkeiten außerhalb der Provinz erschlossen. Zuvor jedoch zeitigte die Krise ihren sozial-kulturellen und standespolitischen Reflex. ner

Res publica amissa?

Im April 1827 trug sich Paul v. Hahn, Zivilgouverneur von Kurland und als Sohn des Finanziers trotz mehrerer Geschwister einer der Reichen im Land, mit dem Gedanken, aus dem russischen Staatsdienst zu scheiden. Finanzminister Cancrin, der Hahn schätzte, machte ihm das Angebot, als Bevollmächtigter der Kaiserinnichte Prinzessin von Württemberg deren Güter in Kurland zu verwalten. Auf die entsprechende Mitteilung antwortete Hahns Frau unangenehm berührt: Sie habe „es stets unter der Würde eines Edelmannes empfunden, in irgend einer Weise den Amtmann eines großen Herrn abzugeben. Jedenfalls hoffe ich, daß kein Gehalt mit der Sache verbunden ist. So ehrenvoll es auch ist, dem Staate zu dienen, [...], so sehr finde ich es unter unserer Würde, irgend jemand sonst für Geld zu dienen, und wäre er von vornehmster Geburt."251 Die Pointe liegt darin, dass es Sophie v. Hahn nicht einfiel, eine ähnliche Empfindlichkeit Herrn v. Huene zu unterstellen, dem Ver250

Vgl. a. die Überlegungen zum Zusammenhang kunftsperspektiven und Geburtenhäufigkeit in

zwischen (wahrgenommenen) Zuden baltischen Ritterschaften bei Mühlendahl, Zeitverhältnisse. Die in Anh. 1 enthaltenen Kinderzahlen weisen in eine ähnliche Richtung, sind aber insbesondere für die jung Gestorbenen nicht zuverlässig genug, als dass ich sie hier benutzen möchte; vgl. dort, Vorbemerkung. 251 Hahn, In Gutshäusern, S. 248.

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Gesellschaft

waiter ihres Gutes Asuppen.252 Wiewohl ritterbanksindigen, zählte er für sie nicht als „Edelmann", sondern zu einer Klasse von „betitelten Bauern"253, der sie mit der größten Verächtlichkeit begegnete. Umgekehrt respektierte sie den schwerreichen Heinrich Graf Keyserling-Kabillen als einen der Herren, „die ihren Adel sorgfältig vom Junkertum zu unterscheiden trachteten".254 Derart offenherzige Zeugnisse eines nach innen, gegen die ärmeren Standesgenossen gerichteten Dünkels sind vergleichsweise selten. Sie wurden unterdrückt von einer ausgeprägten Egalitätsrhetorik, wie sie Friedrich v. Fircks artikulierte255 und die ähnlich die Selbstrepräsentation des polnischen Adels als Szlachta im weiten Sinne kennzeichnete.256 Sophie v. Hahn dagegen war eine geborene de Graimberg,257 Rheinländerin,258 die den Diskurs nicht verinnerlicht hatte und aus ihrem Widerwillen gegen die schäbigeren Mitbrüder wenig Hehl machte. Der Topos nun, mittels dessen sie ihresgleichen, die Fircks-Nogallen, Keyserling-Kabillen, aber auch die politisch-persönlichen Gegner Grafen Medem von den „Junkern" unterschied, war der der „Kultur" und „Bildung": Geist, ein geschmackvoll eingerichtetes, großzügiges Haus, gesellige Weitläufigkeit, umfassende Kenntnisse, jedenfalls eine freie, gleichwohl ostentativ „gesittete" Largesse des Umgangs.259 Von Geld sprach man nicht (mehr). Das hatte man. Oder eher: Man sprach davon kokettierend, redete sich arm oder blieb allgemein,260 ließ es aber als Exklusionsgrand im Ungenannten. Bis zu einem gewissen Grad, ab einer gewissen Schwelle von Mindestbesitz konnte das Vermögens-, auch Standesunterschiede überbrücken261 und ermöglichte eine Betonung von 252 Hahn, In Gutshäusern, S. 220. 253 Hahn, In Gutshäusern, S. 147; ebd., S. 227: „Bauern mit Frack und einem Stammbaum". 254 Hahn, In Gutshäusern, S. 157. 255 Wie oben, S. 312; historiographische Fortschreibung: Wulffius, Betrachtungen, S. 5. 256 Jaworski/ Lübke /Müller, Kleine Geschichte, ?. 201 f. 257 Ihr Vater war französischer Emigrant, die Mutter Tochter eines Kurländers in preußischen Diensten, des Generals v. Budberg: Hahn, In Gutshäusern, ?. lf. 258 So ihre Selbstbezeichnung: Hahn, In Gutshäusern, ?. 187; vgl. a. ebd., S. 226f: „Cornelie Fircks, die Tochter des freien Britannien, und ich, wir Sprößlinge zweier gesitteter Nationalitäten" in „einem nur halbzivilisierten Land". 259 Hahn, In Gutshäusern, S. 157, 166ff., 171, 176f, 191 ff, 227. Dieselbe Zusammenziehung bei Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 81: ,,[A]n der freisinnigen und offenen Unterhaltung [...] erkannte man den gebildeten aristokratischen Zirkel." Auch Elisa v. d. Reckes Journal atmet diesen Geist. 260 Hahn, In Gutshäusern, ?. 220. 261 Hahn, In Gutshäusern, ?. 223;

Recke, Journal, ?. 142, passim.

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Die Agonie des Ancien

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„Charakter", Ehrenhaftigkeit und Dienstbereitschaft gegenüber dem Gemeinwesen.262 Die Alltagspraxen differenzierten sich

aus, und der Teil

des Standes, der es sich leisten konnte, begann jene „breite und behagliche Lebensführung"263 zu entfalten, die dem kurländischen Adel zum Leitbild wurde.264 Illustrativ greifbar sind der Wandel und seine sozialen Implikationen am Gutshaus, das im Mittelpunkt solcher Lebensführung stand. Nach dem Nordischen Krieg oft „ein Notbau, nicht wesentlich anders geartet wie das ortsübliche Bauernhaus",265 nur wo sie überdauert hatten auch eine mittelalterliche befestigte Anlage, waren die Herrensitze überwiegend den oikonomischen Erfordernissen angepasst.266 Typischerweise flankierten Wirtschaftsgebäude einen Hof, an dessen Kopfseite quergestreckt das Wohnhaus stand. Hinter dem mittigen Eingang setzte sich der Hof in den Wirtschaftsräumen gleichsam fort, mit Herdstelle und Mantelschornstein als Herzstück. Rechts und links lagerten Schlaf- und Aufenthaltsräume an, Durchgangszimmer, an deren Ende und unter Umständen mit eigenen Öfen ausgestattet abgetrennte Kammern. Ab etwa 1750 wurde das einstöckig auf rechteckigem Grundriss aufgeführte Gutshaus dann vereinzelt von U-Formen oder Doppel-Ts abgelöst, die Eingangslösung großzügiger, bisweilen ein Saal integriert. Die Oikonomie verschob sich in den rechten Flügel, der Aufenthalt in den linken, für die Schlafzimmer kam ein Oberstock hinzu. Sieht man von den herzoglichen Schlossbauten ab, blieben die Wohnungen der ständischen Elite jedoch Wirtschaftshöfe, im Arrangement den bäuerlichen Gesinden ähnlich267: eine ins Große und Komfortablere gewendete Einheit der Funktionen Ökonomie und Behausung, die die Wehrbestimmung -

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262 Zur Fortentwicklung des oben, S. 171 ff., beschriebenen „Patriotismus"-Gedankens vgl. unten, S. 423 ff. 263 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 90. 264 Das zentrale Zeugnis dieser Selbstverständigung ist Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, das ihres Nachwirkens Kurland und seine Ritterschaft. Vgl. a. Kahk, Bauer und Baron, S. 70 ff. 265 Pirang, Herrenhaus, Bd. 1, S. 13. Pirangs Studie ist volkstumskundlich, unter den Auspizien der Ostforschung verfasst, seine architekturgeschichtlichen Befunde jedoch sind grundlegend und erfahren mittlerweile wieder-kritische-Würdigung: Maiste, Gutsarchitektur, S. 11. Zu den einfacheren Bauten zwischen dem Nordischen Krieg und den „Stilbauten" des späteren 18. und des 19. Jahrhunderts auch Rank, Das baltische Herrenhaus. 266 Auch zum Folgenden Pirang, Herrenhaus, Bd. 1, S. 28ff.; Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 54f.; Wätjen, Geschichte Osten-Sacken, S. 96. 267 Wie Anm. 265. Die Gemeinsamkeit war freilich eine rein strukturelle; bei aller Rustikalität trennten auch die frühen Gutshöfe von den Hütten der Untertanen Welten.

Gesellschaft

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abgelegt hatte, während die Ausrichtung auf Repräsentation und große Geselligkeiten noch kaum hinzugetreten war. Die Möbel waren zweckmäßig und über Generationen in Gebrauch, das Dekor karg, oft plump; Inventaríen und Brautausstattungen weisen neben Wirtschaftsgütern und Gebrauchsgegenständen Preziosen primär als Wertanlagen aus.268 Dauerbarkeit und Nutzen korrespondierten einer Welthaltung, die aus Knappheit geboren und auf Statik angelegt war, und in der Kongruenz

mit den Bauernwirtschaften manifestierte sich einmal mehr das Muster des Abbildungsintegrals. Mit den Neubauten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts änderte sich das. Sie folgten jeweiligen Moden, im architektonischen Detail wie in der Einrichtung.269 Vor allem aber rückten sie von der Ökonomie ab, gingen mehr auf Parkeinbettung und Repräsentation aus270 und beendeten im selben Zug das intime Nebeneinander von Herren und Beherrschten. Heinz Pirang hat das am Beispiel des 1790 errichteten Gutshauses Spahren (v. Grotthuß) beschrieben: Ein Erdgeschoss nahm die Wirtschaftsräume auf, darüber ein Hauptgeschoss die Aufenthaltsund Schlafräume, die einzige Verbindung zwischen beiden bildete eine Treppe von der Küche ins „Schenkzimmer". Der vordem allgemeine Eingang auf der Vorderfront führte nun in den Oberstock, die Zugänge zum unteren wanderten in die Querseiten. „Der Verkehr der Dienstboten spielt sich in einer anderen Horizontalebene ab wie der herrschaftliche Verkehr, und in einer anderen Richtung. Wer die herrschaftliche Anfahrtstreppe hinaufsteigt, durch das Vorzimmer in den Saal geht [...], vom Saal auf die Terrasse tritt, um in den Garten hinabzusteigen, sieht und hört von der Unterwelt nichts. [...] Die soziale Scheidung ist eine vollkommene. Das ist das eine Zeichen der Zeit, das zweite Charakteristische ist die repräsentative Note, die in der bevorzugten Lage des mächtigen Saales zum Ausdruck kommt. Die Zahl und Grosse aller Räume übersteigt den eigentlichen Wohnbedarf selbst einer sehr vielköpfigen Familie um ein Bedeutendes. [...] Hier gilt die Forderung des Festtags, der Geselligkeit; hier äußert sich die vielgepriesene echt baltische Gastlichkeit. In der Tat, der Grandriss eines Hauses ist die Horizontalpro268 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 53ff, 73; vgl. a. Die Aussteuer der Sophia Aemilia von den Brinken geb. v. Blomberg, in: Nachrichtenblatt der Baltischen Ritterschaften 12,3 (1970), S. 36; Inventar Eckengrafen, LVVA 1100/9/65, pp. 47f.; Hahn, In Gutshäusern, ?. 167. 269 Vgl. oben, S. 114 f. 270 Pirang, Herrenhaus, Bd. 2; Lancmanis, Kaucmindes muiza, ?. 42; Bruchs, Bornsmindes muiza, S. 40f.; vgl. a. Foelckersam, Das alte Kurland, S. 98. Pferdestall, Kleete und ggf. Leutehäuser blieben zunächst beim Haupthaus.

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Die Agonie des Ancien

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jektion der entsprechenden Gesellschaftskultur."271 Insofern diese eine vermögend-adlige war, hob sie sich aus der gemeinen Notwendigkeit, dem Dunst der Leuteküche, und richtete sich eine Etage höher auf eine Kultur repräsentativer Geselligkeit ein. Man kann darin eine symbolische Vorwegnahme der späteren Agrarreform lesen. Die integrale Weltvorstellung wurde abgetan zugunsten differenzierter Sphären, der Untertan entlassen aus dem unmittelbaren Aufsichtskreis generell aus der Sichtbarkeit und über die achsengedrehte Kompartementierung die hierarchische Distanz neu definiert. An -

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die Stelle unvermittelter Herrschaft in einem diffusen Raum trat die diskrete Ausübung von Macht an jeweils markierten Orten; unter Umständen wanderte sie in die Hände von professionellen Verwaltern Institutionen. Gewaltbefugnis wurde von einer personalen Substanz zu einer situativen, über- und aneignenbaren Akzidenz. Voraussetzung der Teilhabe an ihr war zunächst Zutritt zur Saalgesellschaft: So wie die Untertanen verknappten, reglementierten Eintritt genossen, erfuhren es auch bedürftige oder ambitionierte Standesgleiche. Zugangsnormierung, Besitzerpflichten und Machtausübung wurden komplexer geregelt, aber auch freier gegenüber den Konventionen des sippschaftlichen Herrschaftsverbandes. Was der Einzelne daraus machte, war eine Frage des Geschmacks und der ideologischen Positionierung. Friedrich v. Schubert, der Friedrich v. Korff aus Preekuln einen Urlaub lang nach Kurland begleitete, hat eine charmante Skizze dieser über die Güter wandernden, jagenden, tanzenden Gesellschaft feiner Männer, schöner Frauen und würdiger Greise hinterlassen: der Genüsse eines „geregelten Wohlstands", frei wie in Polen, gediegen wie in Deutschland adelsparadiesischer Zustände.272 Allein bei näherer Betrachtung zeigt das Bild Risse. Da ist das Jahr: 1811 befand sich das Land auf dem ersten Höhepunkt der Wirtschaftskrise, war eben der Induit verhängt worden und das Klagen über den allgemeinen Bankrott groß. Dass bei Schubert davon nichts zu lesen ist, erklärt sich aus der Bemerkung, den „Fond der Gesellschaft machten indessen beständig die weitläufigen Familien der Saß, Mirbachs, Hahns, Keyserlings aus, alle mit dem Preekulnschen Hause nahe verwandt."273 Das sind eben jene Namen, die Sophie v. Hahn gründlich von den „Junkern" unter-

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271 Pirang, Herrenhaus, Bd. 1, S. 55f.; in einem Projekt für Grenzhof hieß es explizit: „Die Herrschaft wird durch die Domestiquen nicht im geringsten molestieret" (ebd., S. 56); vgl. a. Lancmanis, Kaucmindes muiza, S. 38f. 272 Schubert, Unter dem Doppeladler, S. 204 f.; vgl. a. Kurland und seine Ritterschaft, S. 91 f. 273 Schubert, Unter dem Doppeladler, S. 205.

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schieden wissen wollte. Hier wie in der Güterliste

von

1826 tauchen die

Altenbockum, Blomberg, Brunnow, Funck, Haaren, Hoyningen-Huene, Meerscheidt-Hüllessem, Landsberg, Lysander, Schilling, Seefeld, Trot-

ta-Treyden, Wigandt274 und andere nicht oder nur am Rande auf. Sie waren in einer Art sozialem Zwischengeschoss zwischen den Aristokraten und den Dienstboten verschwunden. Verfügten sie überhaupt über Land und Leute, lebten sie in einem von „jenen Häusern [...], die Kurland damals in Mengen zählte, in welchen nichts den Stand seiner Bewohner bekundete", wie Sophie v. Hahn rümpfte: „Einstöckig und von Holz, war das Haus [der Huenes auf Satticken, M. M.] von Ödland umgeben [...] Kein Bild unterbrach die Einförmigkeit der weißgetünchten Wände, keine Gardine milderte das grell einfallende Licht; ein Sopha von Strohgeflecht an der Wand, davor ein runder Tisch, umgeben von zwölf Strohstühlen, kein Buch außer dem Kalender im Hause."275 Immerhin, ein Haus. Die auch das nicht besaßen, suchten ihr Aus-

kommen als Verwalter auf den großen Komplexen,276 als Kronsarrendatoren, im Reichsdienst, nicht zuletzt in den besoldeten Landesämtern.277 Sie mochten bei begüterten Verwandten unterkommen, doch das wurde schwieriger, je länger sich die Reichen im fashionablen Ausland, geschäftsweise in Petersburg, später auch zum Winter in der Stadt aufhielten.278 Die „allgemeine Cousine" und der „Krippenreiter" begannen zu verschwinden, verarmte Adlige ohne Familie, die es immer gegeben hatte, und die von Gastfreundschaft und Mildtätigkeit lebend umherzogen. Armut wurde von einem Schicksal, gegebenenfalls einem göttlich verfügten, zu einem Ausweis von „Indolenz und Faulheit"279 direkt oder vermittels des „Kultur"-Unterschieds zu einem als legitim empfundenen Exklusionskriterium. Mancher fiel schlicht aus dem sozialen Zusammenhang seines Standes. Im Juni/Juli 1805 kritzelte Otto Christopher v. d. Brincken in den ubiquitären Taschenkalender: „daß man meinen Leichnam in denen Kleidern, darin ich sterbe im Sarge, ungewaschen lege, und es ohne Klang und Gesang den Wirth aus H. von Stempeil sein Gebiete Janne, zum Abfuhr übergebe, der es zu dem Grabstätte hinbringen wird den ich mir selbsten ausersehen und Ihn auch willig ge-

274 Laut der Matrikel von 1833, LVVA 640/2/25, allesamt zu dem Zeitpunkt in Kurland weder ausgestorben noch „nicht mehr domicilierend". 275 Hahn, In Gutshäusern, S. 146; vgl. a. Foelckersam, Das alte Kurland, S. 97. 276 Ausgewiesen in den Seelenrevisionslisten, LVVA 630; vgl. a. Zutis, Zemnieku brTvlaisana, S. 99, allerdings mit Betonung des „bürgerlichen" Elements. 277 Zur Stratifizierung allgemein Whelan, Adapting to Modernity, S. 31 ff. 278 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 77. 279 Verklärend Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 75 f.

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macht ohne Nachfolge. Dafür ihm 6 [Rth. alb.] zu zahlen. Nach diesem meine geringe Nachlaßenschaft verauctionim und es gesezl. anwende, und sollte kein legitimer Erbe sich finden, die in denen Zeitungs-Blatiera dazu aufzufordern sind, es an die Armen zu vertheilen." Der Bürgermeister Kuntz, dem der Vollzug dieses letzten Willens aufgetragen wurde, möge sich aus der Hinterlassenschaft die 50 Taler nehmen, die er Brincken vorgestreckt habe, außerdem ihn bei sich aufgenommen, da „sich keiner meiner angenommen, jeder mir hülflos gelaßen". Der in Petersburg lebende Sohn hingegen sei mit 700 Talern abgefunden und habe keine weiteren Ansprüche. In Ermangelung Petschafts oder Lacks beließ Brincken es bei seiner Unterschrift.280 Besitzkonzentration, Differenzierung der biographischen Optionen und Ungleichheit der Lebensführungen, Kohäsions- und Solidaritätsverlust konnten nicht ohne Auswirkung auf das Funktionieren des Adels als Korporation bleiben. In Verbindung mit dem verwaltungsstaatlichen Eindrang einerseits, bald ans Licht tretenden Unzweckmäßigkeiten der Viril-Landtagsordnung von 1797 andererseits höhlten sie die ständische Verfassung aus. Gewiss, die Auseinandersetzungen der herzogszeitlichen Faktionen waren bis zur offenen Feindschaft geführt worden, aber sie hatten nie die selbstverständlich vorausgesetzte Verbundenheit, oder eher: Gebundenheit des Corps berührt; der kollektive Partizipationswille des Herrschaftsverbandes an sich stand zu keinem Zeitpunkt in Frage. Nun machte sich eine Tendenz bemerkbar, die das Standschaftsprinzip nachhaltiger bedrohte als der Parteienhader: Desinteresse. Nach 1797 waren die Anreize so gesetzt, oder wurden so wahrgenommen, dass eine Mehrheit die institutionelle Ordnung zur unmittelbaren Interessenwahrnehmung nutzte, sich ansonsten aber der Landespolitik fernhielt. Die Kandidatenlisten zu den Landschafts- und öffentlichen Ämtern sprechen eine deutliche Sprache: Als 1803 ein neuer Oberhauptmannschaftsbevollmächtigter für Tuckum und ein Hauptmannsgerichtsassessor für Friedrichstadt gesucht wurden, bewarben sich auf den ersten Posten zwei, auf den zweiten 45 Indigene -281 während die Assessorenstelle den Eintritt in eine anfangs karg, bei einem Aufstieg aber auskömmlich, unter Umständen stattlich dotierte Richterlaufbahn und Anstellung auf Lebenszeit bedeutete,282 waren die Landschaftsämter 280 DSHI 190 (ehem. HStA Marburg 701)/VI, „von den Brincken", Nr 2: Eintragungen unter dem 8. und 16.6. und im August. 281 LVVA 640/4/4, pp. 238,252. 282 Foelckersam, Das alte Kurland, ?. 35 ff; dort auch zum bereits angesprochenen Nepotismus und Klientelismus. Ätzend sarkastische Abrechnung mit den zusätzlichen Möglichkeiten der Bereicherung im Amt: LVVA 640/2/254, pp. 17f.

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temporär und vorwiegend unbesoldet beziehungsweise erforderten faktisch einen die Gage übertreffenden Aufwand.283 Angesichts der später

noch verschärften Stratifizierang war damit das Reservoir potentieller Amtsträger der Ritterschaft von vornherein auf die wenigen Wohlbegüterten begrenzt,284 die wiederum häufig abwinkten.285 Am anderen Ende der Landschaftsdemokratie, auf den Kirchspielkonvokationen, sah es nicht besser aus. 1803 erschienen in Grobin drei Eingesessene mit Vollmachten für weitere zwei, in Autz ebenso, während vier sich ganz fernhielten, in Tuckum war das Verhältnis von persönlich Erschienenen zu in Vollmacht Vertretenen sechs zu sechs, in Mitau 15 zu 21, in Talsen vier zu fünf, in Windau drei zu zwei, in Nerft vier zu vier, in Frauenburg fünf zu fünf, in Grenzhoff drei zu zwei, bei zwei Ausbleibenden, in Kandau fünf zu sechs zu neun.286 Aus Bauske berichtete der Bevollmächtigte des Kirchspielsbevollmächtigten (sie), Rutenberg, es hätten sich sechs Eingesessene in Vollmacht, ,,[i]n Person niemand eingefunden", und fuhr ungerührt fort: „Es wurde hierauf zuvörderst zum Balottement geschritten".287 Daraus, dass die Stimmen geteilt waren, geht hervor, dass die Vollmachten durchaus den Charakter einer Briefwahl hatten, doch von einem politischen Leben kann keine Rede sein. Auf den Landesversammlungen sah es kaum anders aus: Eine erhebliche Zahl Stimmberechtigter erschien gar nicht oder reiste vorfristig ab und überließ die Landesgeschäfte einer Handvoll Vertreter.288 Die sich durch die Neuordnungsversuche ziehende ausgiebige Beschäftigung mit

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283 Foelckersam, Das alte Kurland, ?. 26. Dass die Landesbevollmächtigten, wie Foelckersam sich erinnert, überhaupt ungagiert waren, stimmt wenigstens für die hier behandelte Zeit nicht; allerdings verzichtete etwa Karl v. Medem ( 1797— 1801, 1814-1827) auf sein Salär, um die Schuldentilgung zu beschleunigen: LTS 21.4.1817, §13; LTA 1832, Relation des Obereinnehmers, S. 40; ähnliche Fälle: LTD 22.12.1832, S. 38. Ansonsten standen dem Landesbevollmächtigten 2000 Rth. alb. im Jahr zu, dem Ritterschaftssekretär 1 000, dem Obereinnehmer 300, einem zeitweilig fungierenden Rentmeister 450. Ab 1813 erhielten auch die residierenden Oberhauptmannschaftsbevollmächtigten/Kreismarschälle je 400 Rth. alb.: LTA 1813, Relation der Kalkulatoren (LVVA 640/4/257, p. 23); eher eine Aufwandsentschädigung als ein Gehalt: Fircks, Betrachtungen, ?. 22. Zur Entwicklung der Entgelte vgl. a. unten, S. 377f. 284 Foelckersam, Das alte Kurland, S. 27 f. 285 LTA 1816, LVVA 640/4/257, pp. 194ff.; LTD 25.5.1827, S. 54; LTS 21.9.1827, §7; LTD 22.3.1833, S. 10. 286 LVVA640/4/4, pp. 231, 235, 237f., 248, 252, 255, 258, 260, 267, 269, 272; vgl. a. ebd. p. 286(1805). 287 LVVA 640/4/4, pp. 246f. 288 Erster Bericht einer zur Abfassung der Landtags-Ordnung ernannten Kommission 12.3.1806, S. 15f: Materialien LTO.

330

Die Agonie des Ancien

Regime

dem Vollmachtenwesen, die Erörterungen von Strafen für unentschuldigtes Ausbleiben, an deren Ende doch keine schmerzhaften Sanktionen standen,289 auch die Laxheit der Kirchspielkonvokanten im Umgang mit der Vorschrift, die Abwesenden der Committee zu melden,290 zeugen davon, dass nicht die wenigsten ihre Mitspracherechte eher linker Hand abmachten von einem gewissen Beobachten der Ereignisse aus dem Augenwinkel, für den Fall, dass es interessant wurde. Ein Aufruf der Gouvernementsregierung etwa, der verabschiedeten russischen Offizieren eine bevorzugte Anstellung bei den Behörden in Aussicht stellte, fand seine Resonanz.291 Die Ständeaktivisten oder, wenn man will, Verfassungs-Patrioten nahmen solche Tendenzen als Gefahr für die provinzialen Privilegien wahr. Ein zentraler Ausgangspunkt der 1803/04 einsetzenden Bemühungen um eine Reform der Landtagsordnung war, der „durch verminderte Kenntniß der vaterländischen Angelegenheiten, sich vermehrenden Indolenz entgegen zu würken".292 Die Virilversammlungen wurden als zu zeit- und kostentaufwendig für den einzelnen verworfen, als aus den genannten Gründen partizipatorisch unbefriedigend, außerdem für unbedachte oder manipulierte Ad-hoc-Entscheidungen anfällig.293 Eine Landtagsordnungskommission294 konzipierte deshalb doch wieder Deputiertenlandtage, die nun aus zwei Terminen bestanden.295 Auf dem „Relationstermin" hörten die gewählten Kirchspielsvertreter die Berichte der Amtsträger, fassten die Deliberatorien in Frageform zusammen und gaben sie in die Kirchspiele zurück. Dort instruierten die -

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289 Entwurf zur Landtags-Ordnung [1806], §§68,71: Materialien LTO; LTO 1826/27, §§68, 71 (LVVA 640/3/17, pp. 21 f.): 3 Rth. alb. Bußgeld (noch fünf in einem früheren Entwürfe D., §67: Materialien LTO); nach dem dritten Mal Verlust des Stimmrechts bis zum übernächsten Landtag, durch LTO 1826/27, a.a.O., spezifiziert: „exclusive". 290 Noch LTA 1832, Relation des Obereinnehmers, S. 32f.; Vorschrift: Entwurf zur

Landtags-Ordnung [1806], §95 (Materialien LTO).

291 LVVA 640/4/4, pp. 232, 244f., 248, 252, 262, 267 (1803). 292 Erster Bericht einer zur Abfassung der Landtags-Ordnung ernannten Kommission 12.3.1806, S. 14: Materialien LTO. 293 „Die Konferenz, die durch die zur Stelle erwählten Deputirten ihre Angelegenheiten besorgen wollte, giebt alle Vortheile der reinen Konferenz auf und vergrößert die zeitherigen Mängel": Landtagsordnungskommission an die Ritterschaftscommittée5.11.1806, S. 5 (Materialien LTO). Kritikpunkte: ebd. f.; Erster Bericht einer zur Abfassung der Landtags-Ordnung ernannten Kommission 12.3.1806, S. 15 f.

(Materialien LTO). 294 Konstituiert durch Konferenzialschluß 27.2.1805, § 15: Materialien LTO. 295 Weniger systematisch gab es Ansätze zu einer derartigen Rücksprache bereits in herzoglicher Zeit, vgl. etwa LVVA 640/4/88.

331

Gesellschaft

Stimmberechtigten ihre Deputierten entlang des Fragenkatalogs und fertigten sie zum „Instraktionstermin" ab, auf dem dann die Mehrheit entschied;296 das Problem der ungleichen Stimmenverteilung zwischen den Kirchspielen behob man durch deren Neuzuschnitt.297 Die neue Ordnung wurde 1807 beschlossen,298 doch löste sie die Mitspracheunlust nicht. Noch 1832, als sich auf Landesebene sowohl der Sache nach funktionierende als auch identitätsstiftende institutionelle Routinen ausgebildet hatten, klagte Friedrich v. Fircks: „Ein Blick auf unsere verschiedenen Kirchspiels-, Kreis- und Oberhauptmannschaftsversammlungen, auf die Convocationen, die den Landtagsverhandlungen vorangehen und ihnen folgen, und müssen wir nicht unumwunden und offen das Geständnis ablegen, daß wir für unsere vaterländischen Angelegenheiten eine, bis an Gleichgültigkeit gränzende, Theilnahmslosigkeit hegen? Müssen nicht oft Stimmen ruhen, weil man keine Individuen hat, die sie ausüben? [...] Wie viele und wie wichtige Commissa sind unerledigt geblieben, weil niemand die auf ihn gefallene Wahl annehmen wollte".299 Gründliche Beratungen in den Kirchspielen fänden nicht statt, allenfalls Wahlen erlangten größere Aufmerksamkeit. Zu der ständischen Katerstimmung nach den hochfliegenden Bestrebungen des 18. Jahrhunderts trugen indes nicht nur ideologische Ernüchterung und private Verpflichtungen bei angesichts des zentralbürokratischen Machtanspruchs ging es auch schlicht um zu wenig, für den einzelnen wie den Stand. Über die Reichssteuern bestand keine Mitsprache; für die Berechnung und Repartition der Gouvernementsabgaben war nicht der Landtag, sondern das Prästandenkomitee zuständig; eine Minderung der Lasten betrieb die Committee ohnehin, auf obskuren Wegen und mit Ungewissem Erfolg; Vorstellungen im Privatinteresse brachte man effektiver direkt bei ihr, beim Landesbevollmächtigten, den Gouverneuren oder, wer konnte, in Petersburg an; in Krisenmomenten wie 1808 griff man zur außerordentlichen Vollversammlung oder Konferenz. Erst als die Sanierung des Landschaftsetats fehlschlug und die Willigungen ausuferten, ohne dass ein Ende absehbar wurde, rührte sich das Corps. -

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zur Landtags-Ordnung [1806], §§8-48, 100ff.: Materialien LTO. Näher Verfassungsentwicklung unten, S. 379ff. Entwurf zur Landtags-Ordnung [1806], §§lff, und Anhang, S. 48: Materialien LTO. Auch die Rentenierer wurden unter Berücksichtigung des Ziels etwa gleicher Stimmenzahlen jeweils einem Kirchspiel zugeschlagen: ebd., §64.

296 Entwurf zur

297

298 Relation der Committee 1808, Pkt. 37: LVVA 640/4/105, p. 5. 299 Fircks, Betrachtungen, S. 17.

332

Die Agonie des Ancien Régime

1811 verweigerte Dietrich Ernst v. Schoeppingk die Zahlung und führte den Prozess bis in den Senat, wo er allerdings unterlag. Da er im Zuge dessen jedoch die Privilegien für „Trugbilder" erklärt hatte, die Committee öffentlich scharf angegriffen, sie der Misswirtschaft geziehen und verkündet, er verzichte lieber auf seine Adelsrechte, als dass er die Selbstbesteuerung mittrüge, ging auf dem Landtag 1813 ein Deliberatorium ein, Schoeppingk das Indigenat abzuerkennen.300 Es wurde nicht nur abgeschlagen,301 vielmehr provozierte der Gegenstand eine Fundamentaldebatte über den Sinn und Zweck der ständischen Einrichtungen. Autz führte die gescheiterte Sanierung auf das Deputiertensystem zurück,302 das es den Pläneschmieden und Ränkemachern erlaube, den unzulänglich informierten Kirchspielen Projekte einzureden, die dann Delegationen303 und andere Auslagen verursachten, ohne einen adäquaten Vorteil zu bewirken. Infolgedessen seien die Willigungsbeiträge auf ein Zehntel der Reineinkünfte der Güter gestiegen und dennoch Landesschuld und Schuldendienst gewachsen,304 teils ohne Autorisierung und in erheblicher Unordnung. Die Diäten, die einen Landtag 4000 Rth. alb. kosten ließen,305 hätten aus den Mandaten lukrative Posten gemacht und doch erteilten selbst die Deputierten einander weiter Vollmachten und sei am Ende kaum ein Drittel der Gewählten anwesend. Nach wie vor fänden Manipulationen im Privatinteresse statt. Das Kirchspiel forderte deshalb die Rückkehr zur diätenlosen Konferenz, eine Verminderung der Ämter und Senkung der Gagen, einen transparenten Sanierungsplan, zumal in einer Lage, „wo durch so viele unglückliche Verhältnisse das Verarmen so vieler respectabeln Familien Statt findet, und wo Jeder schon zu den größten Einschränkungen reducirt ist."306 Grenzhof ging einen Schritt weiter und wollte die ordentlichen Landtage ganz einstellen, „weil sie dem Lande nur unnötige Kosten -

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300 LVVA 640/4/257, pp. 68ff. 301 Es blieb dabei, dass die Sache „der Rüge der öffentlichen Meinung überlassen werden" sollte: LVVA 640/4/257, p. 51; auch eine offizielle Missbilligung fiel durch: ebd. 302 Deliberatorium 1813, LVVA 640/4/257, pp. 39ff. 303 Mit gut 15000 Rth. alb. der drittgrößte Posten des Dreijahres-Budgets 1810-1813 nach Gagen (knapp 30000) und Zinsen (21000): Relation des Obereinnehmers 1813, LVVA 640/4/257, p. 19. 304 1814 betrug die Landesschuld 318 631 Rbl. S.: LTA 1832, Relation des Obereinnehmers, S. 11. 305 Vgl. a. LTA 1813/14, Relation des Obereinnehmers: LVVA 640/4/257, p. 19. 306 Deliberatorium 1813, LVVA 640/4/257, pp. 39ff. Auf demselben Landtag wurde ein Ausgleich für die unter der Okkupation überstark Herangezogenen gefordert sowie eine Verlängerung des Zahlungsanstands bis 1820: ebd., pp. 53 f., 65.

333

Gesellschaft

verursachen und zu keinem ersprießlichen Zweck führen können."307 Zur Erledigung der unabdingbaren Geschäfte und als Ansprechpartner der Regierung solle jede Oberhauptmannschaft einen Bevollmächtigten auf ein Jahr wählen,308 die weiteren Ämter möge man reduzieren, die Vertretung der Landesinteressen dem Gouverneur und Generalgouverneur überlassen; im Bedarfsfall könne man immer noch eine außeror-

dentliche

Landesversammlung einberufen. Sieben Kirchspiele endlich,

aus zwei weiteren, wollten von dem gesamnichts mehr wissen und Petersburg um die Repräsentationswesen der Wiederrichtung Statthalterschaftsverfassung bitten,309 wobei sie unter der Hand den vorteilhaften Nebenaspekt einer Vermehrung der staatlich besoldeten Richterstellen anführten.310 Kurz: Einer starken Minderheit erschien die ständische Selbstverwaltung mehr als Bürde denn als Privileg, ein Kostenfaktor, der wenigen Aktiven nützte, indem er die Gemeinheit belastete. Das nahm im Kern die alten Vorwürfe wieder auf, nur dass die Kritiker nicht mehr die Kontrolle und allgemeine Teilhabe zu verbessern trachteten, sondern sich der Partizipation generell überdrüssig zeigten. Gegen eine schlechte Selbstregierung optierten sie für eine geordnete Verwaltung. Weitere Deliberatorien, die zur Bereinigung des Landesetats einen Verkauf des Ritterhauses oder der Ritterschaftsgüter forderten, zogen gleichsam auch symbolisch den Schlussstrich unter das landständische Herkommen.311 Unter den Gegnern der ständischen Selbstaufgabe ragt abermals Friedrich v. Fircks heraus, nach Leidenschaft wie Konsequenz der Argumentation.312 Fircks stritt mit ideologischer Unbedingtheit und gleichzeitig Pragmatismus in der Sache für die Diäten und eine ordentliche Besoldung der Landesämter, Erhalt von Indigenat und Lebenszeitstellung der Richter als Gewähr für Kompetenz und Unabhängigkeit und verwarf auf Frist gedungene Landrichter, überhaupt die Statthalterschaftsverfassung als „Despotie der Kanzelleyen"313. Seine Kombination von Sarkasmus („was wir aber bey dem Tausch von schlechten Richtern gegen schlechte gewinnen, begreife ich nicht"314) und Sentimentalität („unmöglich, den

unterstützt

von

Einzelvoten

ten

307 Deliberatorium 1813, LVVA 640/4/257, pp. 42f., Zt. p. 42. 308 Der die Wahl nicht ablehnen durfte, dann aber drei Jahre dispensiert blieb. 309 Deliberatorien 1813, LVVA 640/4/257, p. 32 (Mitau mit Modifikationen). 310 Replik Friedrich v. Fircks', LVVA 640/4/257, pp. 88, 93; vgl. a. Snell, Beschreibung, ?. 44, zu diesem Effekt in Livland. 311 Deliberatorien 1813, LVVA 640/4/257, p. 28. 312 Replik Fircks', LVVA 640/4/257, pp. 85ff. 313 LVVA 640/4/257, p. 92; vgl. a. Fircks, Betrachtungen. 314 LVVA 640/4/257, p. 95.

334

Die Agonie des Ancien

Régime

Schmerz zu unterdrücken, den in mir die Gleichgültigkeit meiner Brüder erzeugt für eine Verfaßung die aus einer schönen Vorzeit auf uns herabstammte, und viele Generationen hindurch das Glück unseres Vaterlandes ausmachte"315) gibt die gespaltene Rhetorik der Achsenzeit prägnant wieder. Alles in allem ein frühmoderner Vörwärts-Reaktionär, der geschichtliche Phantasie und historische Sehnsucht, politische Pragmatik und ständischen Trotz so unbeschwert wie eigenwillig kombinierte, kam er bereits der folgenden Generation fremd vor.316 Sein ordo-utopisches Denken und nüchterner Realismus gegenüber dem „Ehrenamt" waren dem liberal-konservativ domestizierten Pathos des späteren 19. Jahrhunderts gleichermaßen suspekt. Zunächst trug Fircks seinen Teil dazu bei, dass Autonomie und Wahlrecht die innere Krise überdauerten: Am Ende votierte der Landtag für die Beibehaltung der Adelsverfassung. 1813/14 war das allerdings wenig mehr als ein Sieg des Trägheitsgesetzes, der seine Perspektive erst noch finden musste.

315 LVVA 640/4/257, p. 85. 316 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 12. Linten war nur acht Jahre jünger, schrieb seine Memoiren aber für ein bereits fundamental anders diskutierendes Publikum; zudem neigte er eher dem Reformlager zu und war wesentlich an der

Emanzipationsgesetzgebung beteiligt gewesen.

Imperialisierung

dynamisierten Bedingungen zeigt sich moderne Vermachtstaatlichung angewiesen auf die Revision unergiebiger Sozialordnungen, die Anpassung von Verteilungsmechanismen und Statuschancen: auf institutionelle Reformen und elitäre Herrschaftskompromisse, Unter dauerhaft

die wiederum horizontal zwischen Etablierten und Homines novi, vertikal zwischen metropolitanen und peripheren Führungsgruppen zu stiften sind. Integraler Bestandteil dessen ist nicht zuletzt die Verständigung auf Weltdeutungen, die die Arrangements „erklären" und legitimieren, sollen deren Kosten nicht aus dem Ruder laufen. „Imperialisierung" meint eine derartige Neudefinition von Handlungsräumen und Ausrichtung der Selbstverständnisse: einen Politik-, Struktur- und Kulturgeschichte einbegreifenden Integrationsprozess. Dabei zielten Imperien so wenig wie Nationalstaaten auf eine Beseitigung lokaler oder regionaler Loyalitäten und Referenzmuster. Vielmehr musste ihnen daran gelegen sein, diese zu ihren Resonanzböden zu entwickeln, zwischen landschaftlichen Verbundenheiten und ihnen übergeordneten Bezugssystemen eher ein komplementäres als ein Konkurrenzverhältnis entstehen zu lassen. Erachteten die provinzialen Eliten das Angebot aus Machtpartizipation, Güterverteilung und Legitimitätserhalt als vorteilhaft oder wenigstens tragbar, konnten örtliche und nationale oder impériale Loyalitäten zusammenwachsen, flankiert von entsprechenden Narrativen. Wo nicht, kam es zu Sezessionsprogrammen und -bewegungen, die sich, nach Zeit und Ort verschiedenen Konjunkturen folgend, als Regionalismus oder Nationalismus artikulierten beziehungsweise im Rückblick gedeutet wurden etliche Regionalismen lassen sich als gescheiterte Nationalismen, Nationen als verwischte Imperien lesen, und kaum ein Imperium sah von Nationalisierungsbestrebungen gegenüber einem tendenziell immer weiter definierten Kernraum ab.1 -

1

Vgl. Sundhaussen/Ther, Regionale Bewegungen; Mesenhöller, Le frontière; zum Konstruktcharakter der Kategorien v. a. Beissinger, Rethinking Empire. Einschlä-

336

Imperialisierung

gleichwohl einen idealtypischen Unterschied zwischen und imperialisierender Herrschaftsbildung, nationalisierender beidem, wohl am ehesten im Kulturell-Ideologischen zu suausmachen, wäre er chen: Während Nationalstaaten eine exklusive innere Homogenisierung von Sprache, Recht und Gesittung unter Berufung auf eine gemeinsame Geschichte Herkunft und Ziel betrieben, bedienten sich Imperien einer offeneren Zusammengehörigkeitsbehauptung. Deshalb blieb ihr Modernisierungs-, das heißt hier: Vergeschichtlichungsimpuls nicht notwendig weniger ausgeprägt der impériale Machtmodus lässt sich nicht auf Ressourcenextraktion im Gegensatz zu Ressourcenmobilisierang reduzieren. Bevorzugt dienten Zivilisations-Erzählungen zur Absicherung einer dynastischen Klammer, die angesichts fortbestehender kultureller und institutioneller Partikularität einen erhöhten Grad an Verallgemeinerbarkeit aufwiesen.2 Dass die meisten europäischen Fälle changieren, empirische Realtypen darstellen, die eine saubere Abteilung nach Imperialität, Nation(alismus) und Region(alismus) unterlaufen, liegt zutage. Im folgenden Teil wird die Imperialisierung Kurlands mit großer Selektivität vor allem als Bedingung der adelslandschaftlichen Modernisierung und Konsolidierung der alten Elite im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts behandelt, und zwar unter vier Gesichtspunkten: dem der Agrarreform als Grundlegung aller weiteren gesellschaftlichen Entwicklung, zweitens dem der institutionellen Reorganisation, die Funktionalität und Legitimität der Teilhabe in Balance bringen musste, damit einhergehend die marktinduzierte Erosion des sippschaftlichen Zusammenhalts abfangen. Drittens wird nach dem Zusammenhang differenzierter Muster von Adligkeit und dem „Obenbleiben" der Indigenen im neuen Rahmen gefragt sowie nach Ausgleichsmöglichkeiten der seit der späten Herzogszeit nicht pazifizierten Ständekonflikte. Das abschliessende, zugleich ausblickende Unterkapitel wendet sich legitimierenden Deutungen der fortgeschriebenen sozialen Dominanz und ihren Problemen zu. In der Summe geht es darum zu zeigen, wie Agrarreform, mehrdimensionale Elitenkompromisse und Zivilisierungsdiskurs bei Will

man

-

-

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des Imperialen: Osterhammel, Imperialgeschichte, Among Empires, S. 19ff. 2 Allgemein vgl. Barth /Osterhammel, Zivilisierungsmissionen; zum „Universalismus" imperialer Ideologie wie vorherg.; außerdem Osterhammel, Expansion und Imperium, S. 382 f.; Münkler, Imperien, ?. 127 ff. Mit Mann, Geschichte der Macht, Bd. 1, S. 46ff., ließe sich von ideologischer Machtbildung sprechen, die die politische, militärische und ökonomische ergänzte; vgl. oben, S. 270, Anm. 246. Dass die beliebte Attribuierung „vormodern" hier verworfen wird, versteht sich aus

gige Bestimmungsversuche ?. 226; Maier,

dem Modell.

337

Imperialisierung

der Überwindung der Krise des Ancien Régime in Kurland zusammenwirkten, indem sie die entstandenen Blockaden und sozialen Antagonismen teils lösten, teils mittels geschichtlicher Sinnstiftung erträglich machten wo die Dysfunktionen blieben oder neue entstanden, verlor sich doch die Disperspektivität. Insbesondere in Hinsicht auf den letztgenannten Aspekt muss eine Einschränkung gemacht werden: Zur Ideologiegeschichte des Russischen Reichs ist einiges bekannt, ebenso dazu, wie sie in den Ostseeprovinzen verfing, beziehungsweise ab wann sie nicht mehr verfing.3 Hingegen fehlen Untersuchungen, die diese Beziehungsgeschichte diskursiver Transfers und imperialer Identitätsstiftung mit gleichem Interesse an beiden Partnern aufhellen und damit die deutschbaltische Werdung' in den Kontext des Reichs stellen würden, ohne den sie nicht denkbar ist. Dennoch bleibt auch hier die Betrachtung lokal fokussiert und beschreibt die Konstruktion des regionalen, nicht aber eines eigentlich imperialen Narrativs. Das Defizit ist misslich, es zu beheben würde jedoch eine gesonderte Arbeit fordern. Endlich darf die systematisierende Skizze nicht trügen: Die konkreten Prozesse verliefen selten gemäß einem Plan, wurden oft aus der Situation entschieden, waren durchgängig Zufällen unterworfen und zeitigten unbeabsichtigte Konsequenzen. Sie gestalteten sich in keiner Weise reibungslos. Davon wird die Rede sein. -

,

Wortman, Scenarios; mit ausführlicher Bibliographie Gerasimov u.a., Novaja imperskaja istorija; für die Ostseeprovinzen immer noch Rothfels, Reich, Staat und Nation; Pistohlkors, „Russifizierung"; Whelan, Adapting to Modernity, S. 209 ff.; Hirschhausen, Stand, Nation, Region und Reich; jetzt dies., Grenzen der Gemeinsamkeit.

6 Reformen 6.1 Die Aufhebung der Leibeigenschaft „Juristische Schlaumeier haben es als freies

Vertragsverhältnis interpretiert, was es wegen fehlender Alternativen, auf andere Art zu überleben, nicht war. ""

„Liberias inaestimabilis est. "5

Das Gesetz

Mit Gur'evs Herausgabe der Akten im August 1813 kam noch während des Krieges wieder Bewegung in die Agrarreformdebatte.6 Alexander I. forderte eine Lösung, zu Propagandazwecken7, in ökonomischer Ab-

sicht, aus Gesinnung.8

Auf Allerhöchsten Befehl berief Filippo Paulucci, Ziviloberbefehlshaber von Livland und Kurland,9 im August 1814 eine neue Kommission, die innerhalb eines Vierteljahres einen Reformplan auf der Basis der livländischen Schutzgesetzgebung von 1804 erarbeiten sollte.10 4 Blickle, Leibeigenschaft /Menschenrechte, S. 163, mit Bezug auf die Patente Friedrich Wilhelms I. für die ostpreußischen und litauischen Domänenbauern 1719/20. 5 Engelhardt, Einige Worte, Motto. 6 Vgl. oben, S. 298 ff. 7 „Die Aufhebung der Leibeigenschaft gehörte immer zu den ersten gesetzgeberischen Akten, mit denen der Staat des 19. Jahrhunderts seine Aufgeklärtheit, seine Modernität und seinen Respekt vor der Würde des Menschen inszenierte": Blickle, Leibeigenschaft/Menschenrechte, S. 36. 8 Nach wie vor hilfreiche Studie zum Zustandekommen der Gesetze: Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 280ff; kritischer Abriss: Zutis, Zemnieku brXvlaisana, S. 6ff; neuerdings Lust, Pärisorjast; vgl. aber a. Schweitzer, Neuere Literatur, S. 330. 9 Seit 1812: Zutis, Zemnieku brXvlaisana, ?. 14; Amt: oben, S. 291, Anm. 77. Paulucci war ein aus österreichischen in russische Dienste gewechselter Italiener, der eine Kurländerin geheiratet hatte: Hahn, In Gutshäusern, S. 188. 10 Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 6; zu Livland Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 199ff.; Wittram, Baltische Geschichte, S. 155ff; vgl. a. oben, S. 298. Unter dem Vorsitz des Gouverneurs war sie aufgefordert, „nach Vergleichung aller,

340

Imperialisierung

gehörten Dietrich Ernst v. Schoeppingk auf Bornsmünde, Johann Medem-Elley, Ulrich v. Schlippenbach-Neu-Sexaten, Karl v. Man-

Ihr v.

teuffel-Zilden", Johann

v.

Foelckersahm-Steinensee12 und Friedrich

Fircks-Nogallen an Vertreter des begüterten Adels, die in der Debatte bereits hervorgetreten waren.13 Der Entwurf, den sie im Dezember vorlegten,14 nahm eine freundliche Darstellung der Lage zumal der Privatbauern zum Ausgangspunkt und machte sich unter dieser Prämisse seinen Reim auf das livländische Vorbild: Die Schollenbindung der Erbleute sollte vorläufig beibehalten werden, die Fronlast aber in freien Abmachungen fixiert, mit Laufzeiten nicht unter zwölf Jahren und obligater gerichtlicher Bestätigung. Kam es zu keiner Übereinkunft, waren lokale Taxationskommissionen einzusetzen, die unter Berücksichtigung von Herkommen, örtlichen Vergleichsmaßstäben sowie Umfang und Güte des Nutzlandes Leistungsnormen ermitteln und bei Gericht bestätigen lassen sollten. Ein Erbrecht der Wirte wurde zurückgewiesen, da das den Knechten und Dienstboten jede Hoffnung nehme, selbst einmal Wirt zu werden, zugleich den Wirten den Anreiz, sich zu bewähren, mithin der Entwicklung der Landwirtschaft abträglich sei.15 Für Streitigkeiten der Erbleute untereinander sollten zukünftig Bauergerichte aus drei bis fünf Wirten unter Vorsitz des Gutsherrn zuständig sein, was an die Hinzuziehung bäuerlicher Rechtsfinder16 anknüpfen konnte. Die zweite Instanz und erste in Auseinandersetzungen zwischen Untertanen und Herren sollten Landgerichte aus drei gewählten Adligen und einem Vertreter der Krone bilden, jedoch ohne Bauernvertreter: In einem Begleitgutachten motivierte Paulucci die Partizipationsabsage mit der schlechten livländischen Erfahrung, dass der Bauer als Mitrichter sich gegen seine v.

-

11 12 13 14 15

16

den Zustand der Bauern in Kurland betreffenden Rücksichten mit den gegenwärtigen Verhältnissen in Livland, über die Pflichten der Bauern, einen das Wohl derselben, so wie das der Gutsherrschaft bezweckenden Plan zu unterlegen": LVVA 640/4/225, p. 1. Zusammensetzung auch bei Tobien, a.a.O., S. 325. Zilden (später Katzdangen): GenHB, Bd. 1, S. 382; Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, p. 49; vgl. a. Richter, Istorija, S. li. Vorname: GenHB, Bd. 1, S. 248. Vgl. oben, S. 289 ff Das Folgende skizziert nach Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 326ff. Dem widersprach Paulucci, ein Erbrecht an der Gesindenutzung habe sich als das geeignetere Instrument zur Förderung des Wirtschaftseifers erwiesen und beseitige zudem einen Anlass permanenter Unruhe und Missgunst; den Taxationsmodus ohne kostspielige Katastrierung hingegen unterstützte er unter Berufung auf die Erfahrungen in Livland nachdrücklich: Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 329 f. Hahn, Bäuerliche Verhältnisse, S. 42; auch Fircks, Die Letten in Kurland, S. 256; vgl. oben, S. 87, 90f, aber auch 181 ff.

341

Reformen

Standesgenossen wende, den Gerichtsgliedern höheren Standes zu gefallen suche. Darüber hinaus schloss Paulucci sich einem Sondervotum Schoeppingks an, der die Notwendigkeit von Landgerichten grundsätzlich bezweifelte und anstelle dessen für einen Ausbau der Hauptmannsgerichte plädierte. Schoeppingk warb zudem für die restlose Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit und wollte die Fron-Vereinbarungen gänzlich von Regulierungen und gerichtlicher Bestätigung befreien17-ein liberales Programm der konsequenten Scheidung von unrestringierter Vertragsfreiheit und öffentlicher Schiedsgewalt, sozialer und institutionaler Macht, das zu Ende gedacht ohne eine persönliche Freiheit der Bauern nicht auskam. Da mochte auch Paulucci nicht mitgehen, doch kennzeichnet es seine Perspektive und seinen Politikstil -, dass er Schoeppingk in die Kommission berief, nachdem dieser es eben erst mit anstößigen Kommentaren zum „Trugbild" der Privilegien bis kurz vor die Indigenatsaberkennung gebracht hatte18. Die Kommissionsmehrheit legte indes eine Mischung von Herrschaftszufriedenheit und Timidität an den Tag, die sie vor einschneidender Veränderung zurückscheuen ließ: Der Bildungsstand der Landleute lasse deren Emanzipation nicht zu, nämlich einen verständigen Umgang mit der Freiheit nicht erwarten; das vertrauensvolle Verhältnis von Herren und Untertanen leide keine äußere Intervention; Menschenliebe, Ehrenhaftigkeit und öffentliche Meinung reichten als Schutzmechanismen im Grunde hin.19 Angesichts der schwelenden Krise nimmt sich die unzutreffende Behauptung, Kurland kenne denn auch keine Bauernunruhen,20 nachgerade hilflos aus zwei stürmische Jahrzehnte hatten eine furchtsam beharrende, gegen Staat wie Untertanen argwöhnische Generation hervorgebracht, die auf Herausforderungen verunsi-

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chert, skeptisch-konservativ reagierte.

In Petersburg herrschte ein anderes Klima. Zwar war Speranskij verdrängt und sein Konzept eines fundamentalen Staatsumbaus auf Eis gelegt, doch dauerte der Gestaltungswille an, zumal der Peripherie des Reichs gegenüber, teilweise auf eine Art experimentelle Musterbildung bedacht.21 Finnland erhielt bei seiner Annexion 1809 eine weitgefasste 17 18 19 20 21

Beide Positionen nach Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 330ff. Vgl. oben, S. 332. Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 327. Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 327. Rappeler, Vielvölkerreich, S. 97; HBGR, Bd. II.2, S. 981 f.; Thaden, Deutsche Universitäten, S. 228; Whelan, Adapting to Modernity, S. 71; vgl. a. oben, S. 291, Anm. 75.

342

Imperialisierung

Autonomie, Polen 1815 eine Konstitution in den Ostseeprovinzen -

sollte die Leibeigenschaftsverfassung revidiert werden. 1816 wurde ein estländischer Entwurf, der um die Schlagwörter „persönliche Freiheit" und „freier Vertrag" zentriert war, Allerhöchst bestätigt,22 und noch im Dezember erging ein Reskript an Paulucci, in dem Alexander I. den kurländischen Vorschlag zwar nicht rundweg verwarf, aber seine Präferenz für die estländische Lösung deutlich zum Ausdruck brachte.23 Formaliter stellte er das Land vor die Wahl, doch gab das Schreiben zu bedenken, dass ein regulatives Schutzgesetz ohne vorhergehende exakte „Vermessung und Graduirung der Grundstücke", also eine Katastrierung, kaum praktikabel erscheine.24 Spätestens damit wurde die Präferenz zum Befehl: Sollte die Provinz sich dem estländischen Modell verweigern, drohten ihr Vermessungskosten in Millionenhöhe.25 Unter diesen Prämissen versammelte sich am 16. Dezember 1816 der Landtag.26 Es gab einen gewissen Widerstand mit Friedrich v. Fircks als Wortführer, der die alten Bindungsverhältnisse verteidigte und für Schutzklauseln warb, alles Weitergehende würde die soziale Kohäsion zerstören.27 Doch Paulucci stellte den Deputierten höflich, aber bestimmt vor Augen, was von ihnen erwartet wurde.28 Er selbst hätte eine Beibehaltung der Schollenpflicht zur Sicherung des landwirtschaftlichen Arbeitskräftereservoirs vorgezogen, sah in den Freizügigkeitsbeschränkungen der estländischen Verordnung jedoch einen befriedigenden Er-

22 Die älteren Schilderungen, die in den estländischen Vorschlägen reine Notwehr sahen (Tobien, Gernet, auch Zutis), sind wohl zu differenzieren. Es war auch Überzeugung im Spiel: Kahk, Bauer und Baron, S. 128; zum über den Universitätsbesuch in Deutschland, v. a. Göttingen, vermittelten Einfluss Adam Smiths Rosenberg, Bauernbefreiung, S. 383ff.; Thaden, Deutsche Universitäten, S. 228. Dass sich bereits in diesem Stadium Kurländer einschalteten, ist sicher (Richter, Istorija, S. 72), doch wäre eine Rekonstruktion der Kanäle, über die die Ostseeprovinzialen mit- und gegeneinander auf die Petersburger Politik wirkten, erst noch zu leisten. 23 Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 271 ff. 24 Nach Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 272. 25 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 333; Kosten wie oben, S. 298, Anm. 105. 26 LTD 16.12.1816, S. 3. 27 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 334; auch der Versuch, im Gegenzug eine „abgesonderte Verfassung, nach dem Beyspiel von Finnland und Polen" bzw. „staatsbürgerliche Verfassung für Kurland" herauszuhandeln, blieb ergebnislos: LTD 2.1., 11. L, 11.4.1817. S. 22, 29, 50. 28 Landtagsrede Pauluccis 20.12.1816: Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 274 ff.

343

Reformen

satz.29 Außerdem

wusste er, wann

eine

Entscheidung

zu

akzeptieren

war.

Auf dem Instruktionstermin im April 1817 präsentierten die Landboten 231 gegen 9 Stimmen für eine Agrarreform auf der Basis des estländischen Gesetzes.30 Zu dessen Adaption wurde eine Kommission aus fünf Mitgliedern der Ritterschaft unter einem vom Generalgouverneur ernannten Vorsitzenden gewählt, der ein Kameralhofrat als Vertreter der Domänengüter beisaß.31 Bezeichnenderweise war in ihr kein Mitglied der Gruppe von 1814 vertreten, auch nicht unter denjenigen, die dem Gremium dann zuarbeiteten bis auf Schoeppingk.32 Der Landtag limitierte sich,33 und die Kommission nahm eine gründliche Überarbeitung des Textes vor, die teils der Anpassung an die kurländischen Verhältnisse, teils der Präzisierung und juristischen Stringenz galt.34 Als die Deputierten im Juni wieder zusammentraten, entstand Streit zumal um die Gerichtsverfassung:35 Ob nämlich nach dem Vorbild der beiden nördlichen Provinzen Bezirks- respektive Landgerichte als zusätzliche Instanz in bäuerlichen Streitsachen eingerichtet werden soll-

29 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 329f. 30 Unterlegung der Ritter- und Landschaft an Paulucci 4.4.1817, LTD 3.4.1817, S. 36; auch bei Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 279ff. (dort allerdings 236 statt 231 affirmative Stimmen). Die neun Opponierenden unterstützten den Kommissionsentwurf von 1814. 31 Gewählt wurden Christoph Ludw. Wilh. v. Lüdinghausen-Wolff auf Sonnaxt, Kreismarschall Otto Magnus v. Derschau-Autzenbach (bei Merkel verdruckt „Stutzenbach"), Heinrich v. Keyserling-Kabillen, Carl Georg v. Heyking-Oxeln, Johann v. Lambsdorff-Laiden; Friedrich Christoph Alexander v. Roenne-Berghof wurde von der Gouvernementsregierung zum Präsidenten ernannt, der (nichtindigene) Kameralhofrat Johann Friedrich (v.) Recke als Vertreter der Krone: Unterlegung der Ritter- und Landschaft an Paulucci 4.4.1817, LTD 3.4.1817, S. 37; Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 282; vgl. a. Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 336. Protokolle der Kommission: LVVA 5759/2/105. Aus letzteren geht nicht zuletzt die einflussreiche Rolle der beiden Redakteure hervor, Ritterschaftssekretär Ernst v. Rechenberg-Linten und Oberhofgerichtsrat George Benedict v. Engelhardt. In der Kanzlei der Kommission wirkten außerdem Oberhofgerichtsadvokat Ewald v. Sacken und Substitut-Assessor Wilhelm v. Heyking: ebd., pp. 3 f., 24. 32 Erwähnt in der Rede Engelhardts bei Übergabe der redigierten Entwürfe am 11.6.1817, LVVA 1100/13/1168, p. 3. Die von Engelhardt genannten Oberburggraf (Carl) v. Manteuffel-Platon und Kanzler (Alexander) v. Medem-Rumbenhof waren Namensvettern der 1814 Beteiligten. 33 Unbeschadet seiner anderweitigen Beschlüsse: LTS 21.4.1817, § 14. 34 Protokolle Abfassungskommission, LVVA 5759/2/105. 35 Auch zum Folgenden Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 336f.; Übergabe des Entwurfs am 30.6.: LVVA 5759/2/105, pp. 29f.; diverse Modifikationen abseits des Grundsätzlichen: ebd., pp. 30ff.

344

Imperialisierung

oder eine Verstärkung der Hauptmannsgerichte hinreichend sei. Da keine Einigung zustande kam und die Differenzen die gesamte Verabschiedung aufhielten, griff Paulucci ein und forderte einen schleunigen Mehrheitsentscheid,36 wobei er wiederum auf einen pekuniären Aspekt hinwies: Für seine Begriffe sei ein strafferer Instanzenzug wünschenswert, vor allem aber möge die Ritterschaft bedenken, dass die Hauptmannsgerichte vom Kaiser getragen würden, auch in vermehrter Form eine ihnen untergelagerte Instanz hingegen kaum. Der Beschluss lautete auf Erweiterung der Hauptmannsgerichte um eine Zweite Abteilung für bäuerliche Rechtssachen, ab 1820 kurz Kreisgericht genannt.37 Am 20. Juli legte die Ritterschaft dem Generalgouverneur die revidierte Verordnung zur Einholung der Allerhöchsten Bestätigung vor.38 Sie erfolgte nach Prüfung durch den Reichsrat am 25. August 1817,39 ihre Bekanntmachung in Mitau am 30. August 1818, die Publikation des Gesetzes nach Abschluss der Übersetzung ins Lettische, Polnische und Russische am 12. Dezember.40 Es regelte die Transformation der Erbgehörigenschaft in einen freien, dabei politisch unberechteten und materiell ausgelieferten Staatsuntertanenverband. Das Gesetzbuch für die kurländischen Bauern^ legte einen Übergang von vierzehn Jahren ab dem ersten Georgstag nach seiner Promulgation (23. April 1819) fest42 und zerfiel deshalb in zwei Teile, einen für den „transitorischen"43 und den für den „definitiven Freiheitszustand"44. Im

ten

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36 Paulucci übte bereits auf die Kommission Zeitdruck aus: Protokoll 1.6.1817, LVVA 5759/2/105, pp. 22,26. 37 Zutis, Zemnieku brTvlaisana, S. 20; Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 10. Auch „Bezirksgericht" war im Gespräch, um die längliche Formulierung „Zweite Abteilung" usw. zu vermeiden: Landtagsdeliberatorium 1819, LVVA 640/4/258, p. 52. Zur Zusammensetzung s. u. 38 Erklärung der Ritterschaft 20.7.1817: Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 285 ff. 39 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 337f ; vgl. a. das abschließende Kommissionsprotokoll 27.8.1817, LVVA5759/2/105, p. 52. 40 Allerh. Befehl an Paulucci und Zivilgouverneur v. Stanecke 27.8.1818: Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 290ff Die Termine waren auf den Namens- und den Geburtstag Alexanders I. gelegt. 41 Deutsch Mitau 1819, lettisch Jelgawa 1818; im folgenden wird die deutsche Version zugrundegelegt. Hilfreiche Zusammenfassungen: Engelhardt, Einige Worte; Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 6ff.; Richter, Istorija, S. 74ff. 42 Gesetzbuch, S. 4; „Kurländische Bauer-Verordnung für den transitorischen Zustand" (ebd., S. 1-59; im weiteren BV/trans.), §§ 1 f.; vgl. a. unten, Anm. 55. 43 Wie vorherg. 44 „Kurländische Bauer-Verordnung für den definitiven Zustand": Gesetzbuch, S. 61221; im weiteren BV/def.

345

Reformen ersten Jahr wurden aus den

Gutsuntertanenschaften

Bauergemeinden

gebildet,45 die eine Lokalbehörde wählten, das Gemeindegericht.46 Ausserdem wurde das Inventar der Gesinde aufgenommen und taxiert.47 Was davon zur Fronerfüllung notwendig war, blieb Eigentum des Guts, das den Bestand gegebenenfalls auch ergänzen musste; was darüber hinausging, fiel an die Wirte.48 Diesen wurden zugleich sämtliche bis zum 1. Januar 1817 aufgelaufenen Schulden, überwiegend Korn Vorschüsse, erlassen.49 Die Idee war die eines Nulljahres. Im darauffolgenden Jahr wurden die bisherigen Leistungspflichten der dergestalt (re)konstituierten Wirtschaften erfasst und vorläufig auf dem Stand von Anfang 1817 festgeschrieben (sog. „Gehorchtabellen"),50 im dritten diese Normen überprüft, reguliert und gegebenenfalls Differenzen zwischen Herrschaft und Untertanen geschlichtet.51 Das vierte oder „Abteilungsjahr" diente der Bildung von drei Klassen: Wirte, deren Dienstleute und Hofesleute ohne Land.52 Anschließend folgte über acht „Sektionsjahre" die Entlassung.53

45

BV/trans.,§§9(Abs. 1), 118-121; BV/def, §§ 11 f., 22-25. Gegebenenfalls konnten auch mehrere

Güter eine Gemeinde bilden. So entstanden bis 1832 412 Gemein-

degerichte (Umschreiben des Zivilgouverneurs an die Kreisgerichte o.D. 1.1832, Kurl. Gvts.Reg./Patente 1832), davon 359 „adlige", also auf Privatgütern (LVVA 2514/112, p. 12) woraus sich ein bemerkenswertes Ungleichgewicht der Durchschnittsgrößen von rund 600 Privatseelen im Gegensatz zu 1.700 Kronsseelen je Gericht ergibt, bzw. von je einem Gericht per 1,3 Privatgüter versus 3,4 Kronsgüter (nach dem Verschlag von 1826; vgl. Anh. 7, Tab. 1). Der Grund mag in einer zu diesem Zeitpunkt stärkeren Geschlossenheit des Staatsbesitzes gelegen haben, auch in divergenten Politiken der Besitzer, mit vorderhand unklaren Folgen. BV/trans., §§9 (Abs. 1), 123. Also Geräte, Zugvieh etc.: BV/trans., §§9 (Abs. 2), 125-145. BV/trans., §§ 125-127, 130. Beil. Litt. E. Es bestand auch die Möglichkeit gegenseitiger Barkompensationen: ebd., §§131 f.; Streitigkeiten gingen vor das Kreisgericht: ebd., §§ 134—136; Moventien und Mobilien der Hofesleute blieben bzw. nach strengerer Rechtsauffassung: wurden deren Eigentum: ebd., § 144. BV/trans, § 148. Hofesleute und Gesindevolk waren davon ausgeschlossen: ebd., § 149 es ging nicht um das Los einzelner, sondern um die Lebensfähigkeit der -

46 47 48

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49

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Wirtschaften. -

BV/trans., §§ 10, 155-162; auf den Kronsgütern behielten die jeweils jüngsten Wackenbücher und Inventaríen Geltung: ebd., § 168. 51 BV/trans., §§11, 163-167. 52 BV/trans., §§12, 15-27. 53 BV/trans., §§ 13, 28-51. Im ersten Jahr wurde ein Achtel der Untertanen aus jeder Klasse entlassen, im zweiten ein Siebtel vom Rest usf. Die Designation zu einer Sektion traf der Herr, doch konnten die Leute sich dazu verhalten: ebd., § 61. 50

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Imperialisierung

Sektion um Sektion erhielten die Leibeigenen die unveräußerliche54 persönliche Freiheit.55 Gleichzeitig verloren sie alles Recht an dem von ihnen bearbeiteten und bewohnten Grund, den Schutz durch die provisorischen Gehorchtabellen und den Anspruch auf Unterstützung.56 Die Emanzipation basierte auf dem doppelten Grundsatz, dass das Land den Herren blieb, jegliches Verhältnis zwischen ihnen und Dritten der Vertragsfreiheit im Rahmen der Zivilgesetzgebung überlassen wurde.57 Idealiter sollten die Wirte zu Pächtern ihrer Gesinde werden58 und selbst wiederum mit Knechten und Mägden Anstellungsverträge abschließen.59 Die Kontrakte waren wie auch die der Herren mit ihren Hofesleuten in den Konditionen beliebig auszuhandeln60 und unter Beobachtung gewisser Fristen bei-

54 BV/def, §§ 17, 145; der Verkauf von Leibeigenen ohne Land wurde bereits mit Einsetzen des transitorischen Zustandes unzulässig: BV/trans., §5. 55 Sofern sie nicht durch die Bestimmungen für den transitorischen Zustand ausdrücklich aufgeschoben wurden, traten die des definitiven umgehend in Kraft: Gesetzbuch, S. 5 f.; für den Kern des Folgenden war das der Fall. Die zeitliche Ausfaltung der Freiheitsrechte auch innerhalb der Sektionen, ihre Einschränkungen und Modifikationen über den transitorischen Zustand, die insbesondere die beiderseitige Kontraktfreiheit und die Freizügigkeit betrafen, werden hier nicht berücksichtigt; vgl. dazu BV/trans, §§ 52-117. Dass die Übergangsphase für die im zwölften Jahr Entlassenen immer noch drei Jahre betrug, erklärt die Diskrepanz zwischen der Freiheit nach zwölf bzw. nach 14 Jahren: ebd., §§9, 14; Allerh. Befehl an Paulucci und Stanecke 27.8.1818 (Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 290 ff); vgl. a. Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 13, 15. 56 De facto war der Schnitt weniger scharf, das belegt etwa ein Regimentsbefehl von 1827, fürderhin solle für Vorschüsse des Guts nicht der einzelne, sondern das Gemeindemagazin haften: Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 51. Offenkundig fiel auch manchen Herren die Umstellung schwer bzw. blieb ihnen in Krisenzeiten gar nichts anderes übrig, wollten sie nicht einen massiven Verlust an Arbeitskräften oder Unruhen riskieren: ebd., S. 45; vgl. a. Rechenberg-Linten, Bauerverhältnisse I, Sp. 7, 10. Doch handelte es sich eben um keinen Anspruch mehr; vgl. die Anregung, solche Unterstützungsleistungen in die Pachtkontrakte aufzunehmen: Anleitung zur Abfassung der Pachtkontrakte, ad 1.1 Vl.a (aus der Gouvernementsregierung 31.8.1826, Kurl. Gvts.Reg./Patente 1826). Der Leitfaden ist generell instruktiv, insofern er das Credo der individuellen Vertragsfreiheit alltagspraktisch durchdekliniert. 57 Gesetzbuch, S. 3; BV/def, §§ 8-10, 16. Für die Krone, vertreten durch den Kameralhof, galten dieselben Rechte und Pflichten, deren Ausübung sie frei delegieren konnte: ebd., §21; näher zum allgemeinen Vertragsrecht: ebd., §§ 144-147. 58 BV/def, §§147, 174-191. 59 BV/def, §§147-173. 60 BV/def, § 160. Die umfangreichen Bestimmungen (wie vorherg.) betrafen weitgehend Form und Prozess des Pacht- sowie Dienstvertrages, allerdings auch einige

347

Reformen

derseitig kündbar.61 Gleich allen anderen Ständen war es den Bauern gestattet, Landeigentum zu erwerben, wo das nicht das Indigenat voraussetzte, etwa an „Bürgerlichen Lehen".62 Im Umgang mit diesem unbeweglichen und ihrem Mobiliarbesitz waren sie rechtsgeschützt und frei,63 von Pflichtteilen abgesehen auch testierfrei.64 Zwei ergänzende Regimentspublikationen von 1826 erlaubten ihnen, zur Landwirtschaft gehörige Produkte ohne Zölle oder Handelsscheine auf allen Märkten und in den Städten zu verkaufen.65 Allein die Freizügigkeit blieb eingeschränkt: Die Emanzipierten durften weder das Gouvernement ver-

ihnen eine Übersiedlung in die Städte gestattet, bis die Zahl der zum Bauernstand Angeschriebenen 200000 erreicht haben würde66 eine der Hauptsorgen des Adels wie der Gouvernementsregierung bei der Aufhebung der Eigenschaft bestand in der Sicherung eines agrarischen Arbeitskräftereservoirs.67 Die Beschränkung der Berufswahl auf solche Tätigkeiten, durch die der Bauer „dem Ackerbau, den ländlichen Gewerben und Industriezweigen, den auf dem Lande nothwendigen Handwerken und sonstigen mit dem Landbau verbundenen Beschäftigungen nicht entzogen wird",68 stellte denn auch mehr

lassen, noch

war

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materielle Mindeststandards, etwa den Ausschluss von Krankheit als Kündigungsgrund oder den Anspruch auf ein Dienstzeugnis: ebd., §§ 160, 167. 61 Bei einjährigen Pachten betrug die Kündigungsfrist sechs, bei längerlaufenden neun Monate: BV/def, §§ 161, 185. Um die Suchkosten zu minimieren, hatte jede Kirchspielkonvokation einen „Mäkler" oder Vermittler zu bestellen: ebd., § 252. 62 BV/def, §§4, 93; ansonsten war Pacht- und Pfandbesitz bis zu 50 Jahren zulässig, aber unter dezidierter Absehung von Meliorationsersatz: ebd., § 174. 1830/41 wurde die Pfandlaufzeit für adlige Güter allgemein auf längstens zehn Jahre reduziert: Creutzburg, Agrarverhältnisse, ?. 52; Hollmann, Agrarverhältnisse, ?. 18. 63 BV/def., §§93-104. 64 BV/def., §§ 105, 130; Erbrecht insgesamt: ebd., §§ 105-139; analoge Schenkungsfreiheit: ebd., §§ 140-143. 65 Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 51. 66 BV/def, §§ 19, 553-558. Ausnahmen ließen sich erwirken durch die Stellung eines Ersatzmanns, landtäglichen Dispens der Ritterschaft sowie Aufnahme in eine (Kaufmanns-) Gilde. Schließlich gab der Loskauf von den Rekruten dasselbe Recht freier Ortswahl wie abgeleisteter Militärdienst: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 13.9.1823 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1823). Um Unannehmlichkeiten vorzubeugen, wurde noch eigens statuiert, dass die persönlichen Bedienten Reisefreier, also v. a. Adliger, dem Recht ihrer Dienstherren folgten: BV/def, § 557. 67 Den Anlass gaben die äußerst dünne Besiedlung, die im Durchschnitt der Ostseeprovinzen noch hinter der des europäischen Russland zurückblieb, aber auch die fortbestehende Leibeigenschaft in Innerrußland, die nur eine einseitige Wanderung möglich gemacht hätte: Richter, Istorija, S. 68, 84; vgl. a. Protokoll der Abfassungskommission 28.5.1818, LVVA5759/2/105, p. 20. 68 BV/def, §555.

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Imperialisierung

Ausführung der Land(wirtschafts)pflicfitigkeit als eine zusätzliche Beschneidung dar in diesem Rahmen standen die Berufs- und Ortswahl frei. Die potentiell restriktiven russischen Passbestimmungen,69 denen Wanderung und Aufenthalt in Kurland wie allgemein im Reich unterlagen, scheinen in der Praxis weitgehend verpufft zu sein.70 Dennoch: Der projektierte Markt blieb sektoral abgeschottet die Freiheit, auch rechtlich, eine kupierte. Einmal konstituiert, bedingte sie jedoch als ihre Komplemente öffentlichen Gerichtsstand und Selbstverwaltung. Beides verband sich in den Gemeindegerichten, die die erste Stufe eines regulären Instanzenweges bildeten und zugleich Lokalbehörden unter der Aufsicht und Schiedsgewalt des Gutes darstellten; das Gut seinerseits unterlag der Kontrolle der Kreisgerichte über das ländliche Institutionengefüge insgesamt. Zu den dreijährlichen Wahlterminen trat die Gemeinde in zwei Ku-

eine

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rien zusammen, einer der Wirte und einer der vereinten (männlichen) Gesinde- und Hofesbediensteten.71 Die Kurien entschieden mit doppelter Mehrheit die Angelegenheiten der Gemeinde und wählten das besoldete Gericht, dessen Vorsteher ebenso wie mindestens die Hälfte der je nach Größe der Gemeinde zwei bis sechs Beisitzer aus den Wirten genommen werden musste.72 Dabei verfügte das Gut über eine Letztkompetenz, indem wie für die Landesämter Dreierlisten gewählt wurden, aus denen es je einen Kandidaten bestätigte.73 Die Gutspolizei in Beratung mit dem Gemeindegericht löste auch Uneinigkeit zwischen den Kurien74 und genoss endlich ein generelles Bestätigungsrecht aller -

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69 BV/def, §§267-269; vgl. Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 24.5.1804: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1804. 70 Zwar wurden 1827 einige formale und prozessuale Erschwernisse verfügt, um den „leichtsinnigen Wanderungen der Bauern" zu steuern (Publikandum der Einführungskommission 28.3.1827, Kurl. Gvts.Reg./Patente 1827), doch sind die Regimentsbefehle der 1820er durchzogen vom offenkundig fruchtlosen Bemühen, dem Problem der „unverpassten Leute" beizukommen, bis hin zu dem Ansinnen, das Verbot, sie aufzunehmen, in den Pachtkontrakten zu wiederholen: Anleitung zur Abfassung der Pachtkontrakte, ad 7/VI.c (aus der Gouvernementsregierung 31.8.1826, ebd. 1826). Im Finanzministerium wurde zeitweilig auch ein grundsätzliches Abzugsverbot von den Domänen erwogen, da man eine massenhafte Bewegung hin zu den Privatgütern befürchtete: Zutis, Zemnieku brTvlaisana, S. 15. 71 BV/def, §§45f. 72 BV/def, §§ 30f, 46f Für alle Ämter war das aktive Wahlalter die „Majorennität", das passive 25 Jahre, die Wahlperiode drei Jahre: ebd., §§32, 34, 46; das Gehalt der Richter bestimmte die Gemeinde, brachte es also auch auf: ebd., §42; Frauen blieben ausgeschlossen: ebd., §46. 73 BV/def, §33. 74 BV/def, §47.

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Beschlüsse der Gemeinde die aber im Konfliktfall an das Kreisgericht appellieren konnte.75 Bei den ergänzend zum Gericht als permanente „Repräsentanten" der Gemeinde gewählten Vorstehern76 dagegen brach bereits Neuwahl eine Nichtbestätigung.77 Schließlich stand dem Gemeindegericht zur Verteidigung seiner und der Gemeinde Rechte die Beschwerde bei der Gouvernementsobrigkeit bis hin zum Generalgouverneur offen,78 doch bedurfte dies einer Anzeige beim Gut und deren Bescheinigung; unterblieb die Bescheinigung, konnte neuerlich das Kreisgericht sie erzwingen.79 Gemeindeversammlungen zwischen den Wahlterminen hingegen konnte die Gutspolizei nach Ermessen gestatten oder untersagen, während ihr selbst eine Anberaumung freistand.80 Der Tätigkeitsbereich der Gemeindegerichte war weit ausgespannt. Zunächst übten sie die (Gemeinde-) Polizei als administrativ-exekutive Ordnungskompetenz:81 Das Gericht verantwortete und organisierte die Instandhaltung der Heerstraßen und Wege82 sowie der öffentlichen Gebäude, Kirchen, Küstorate etc.83, die Errichtung und Unterhaltung einer Schule je 1000 Seelen beiderlei Geschlechts,84 Brandschutz und Feuerwehr,85 die Viehseuchenbekämpfung,86 die Schank- und Herbergsordnung,87 es führte die Seelen- also (Kopf-) Steuerlisten88 und trieb die -

75 BV/def, §§48f. 76 Je drei, bei Gemeinden über 200 männliche Seelen optional einer mehr pro 100 Mitglieder: BV/def, §32; die Vorsteher blieben unentschädigt: ebd., §42. 77 BV/def, §33. 78 BV/def, §§53-56. Einzelnen Bauern hingegen war die außergerichtliche Beschwerdeführung bei den Behörden streng verboten, wenn auch mit wenig Erfolg: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 21.7.1826 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1826); vgl. a. Zutis, Zemnieku brXvlaisana, S. 25 ff., zu Pauluccis diskretionärer Praxis, die Eingaben zur Steuerung und Kontrolle der Unterbehörden zu nutzen. 79 BV/def, §57. 80 BV/def, §43; eine Ausnahme war der Klagefall gegen eine ganze Gemeinde, auf den hin diese sich versammeln und einen Vertreter wählen durfte und musste: ebd., §396, Abs. 2. 81 BV/def, §§215-233. 82 BV/def, §234. 83 BV/def, §243. 84 BV/def, § 60. Jedoch fehlte eine detaillierte Ausführungsbestimmung wie für Livland (Richter, Istorija, ?. 101 ff.) und wurde die Sache verschleppt; vgl. unten, S. 460 ff. 85 BV/def, §235. 86 BV/def, §251. 87 BV/def, §236. 88 BV/def, §237.

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Steuern auch ein89, für die die Gemeinde in Solidarhaftung stand,90 überwachte die Kirchenabgaben,91 lenkte die Rekrutenstellung und -ausstattung beziehungsweise den Freikauf davon.92 Im Rahmen der „Wohlfahrtspolizey" wachte es über die Wirtschaft der Gemeinde,93 bestimmte und gewährte in Notlagen Kornvorschüsse94 und unterhielt zu diesem Zweck Vorratsmagazine unter detaillierter Satzung95. Eingehend geregelt waren auch Aufbau, Verwaltung und Verwendung einer „Gebietslade", oder Gemeindekasse,96 die Armenfürsorge aus diesen Mitteln, ihre Bereitstellung aus Strafgeldern und Willigungen, deren Verhältnis zu den Pachtsummen der Wirte und den Lohneinkommen der Dienstleute.97 Das Gesetz spiegelte die fiskalischen Okkupationen der Ritterschaft auf die Gemeinden, und kontrollbeflissen wie der Adel nach oben war, gab er sich nach unten: Die Gemeindepolizei war der Gutspolizei verantwortlich,98 die Beschlüsse bis zu einer Entscheidung des Kreisgerichts suspendieren konnte.99 Das Gut diente als Vermittler in Streitigkeiten zwischen Gemeinde und Gemeindegericht, bevor daraus Klagen beim

89 BV/def, §§238f 90 B V / def, §§ 7,23. Es handelte sich dabei weniger um eine Kollektivverfassung wie später in Russland als um eine Art Steuereinbehalt durch die Dienstherren und eine Eintreibungsverantwortung des Gerichts diesen gegenüber: Engelhardt, Einige Worte, S. 31. Individuell Steuersäumige, für die die Gemeinde in Vorlage getreten war, blieben denn auch von der Erlassung ausstehender Kronsabgaben beim Thronwechsel 1825 ausgeschlossen: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 30.6.1826 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1826). 91 BV/def, §242. 92 BV/def, §§240 f. ,542-552. Seit 1829 entschied dann das Los: Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 30; erfolgloser Einspruch der Oberhauptmannschaftsversammlungen: LTA 1832, Relation der Committee, §58. 93 BV/def, §§245f. 94 BV/def, §247. 95 BV/def, §248. 96 BV/def, §§ 30, 57, 249; zugleich eine Art Feuerversicherung: ebd., § 249, Abs. 7. Sollte das Vermögen derart anwachsen, dass eine Aufbewahrung in der Lade „unratsam" wäre, „so soll das Geld an die Kurländische Ritterschaft als verzinsliches Darlehen gegeben werden": ebd., Abs. 13. 97 BV/def, § 250. In größeren Gemeinden konnten zu dem Zweck besondere Armenvorsteher gewählt werden; Betteln wurde im selben Zug verboten: ebd., Abs. 7f. 98 Es bestand eine allgemeine wöchentliche Berichtspflicht, eine besondere bezüglich des Magazins sowie über alle Aus-und Eingänge der Gebietslade: BV/def, §§231, 248 (Abs. 5), 249 (Abs. 11). 99 BV/def, §§219, 260. Das Kreisgericht löste generell Blockaden, die sich aus der Konkurrenz zwischen Gemeindeselbstverwaltung und gutspolizeilicher Aufsicht ergaben, etwa auch bei der Rekrutenaushebung: ebd., § 544. -

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351

Reformen

Kreisgericht entstanden,100

als Exekutive des Hauptmannsgerichts,101 als Ersatzexekutive, wo die Gemeindepolizei sich nicht durchzusetzen vermochte,102 als lokales Organ der Gouvernementsobrigkeit103 die Selbstverwaltungsfreiheit blieb eine beaufsichtigte. Allerdings stand es dem Eigentümer frei, dieser Aufsicht zu entsagen und seine Kompetenzen an die Gemeindepolizei übergehen zu lassen.104 Auch konnten sie ihm wegen Missbrauchs vom Oberhofgericht entzogen werden.105 Die Patrimonialgerichtsbarkeit hingegen fiel. Zwar blieb den Dienstherren also auch Gesindepächtern gegenüber ihren Kontraktleuten die Hauszucht,106 doch prinzipiell konnte ein Bauer nur noch „nach vorhergängiger Untersuchung, und zufolge Urtheils und Rechts, zur Strafe gezogen werden",107 in erster Instanz der Polizei- und Zivilsachen eben durch das Gemeindegericht,108 das „wie alle anderen Behörden, im Namen des Monarchen, unter Oberaufsicht des Civil-Oberbefehlshabers und unter Aufsicht der Oberbehörden, Urtheil und Recht" sprach,109 -

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100 BV/def, 101 BV/def,

§259. §§261-263; in der Praxis lagen bei der Gutspolizei Verantwortung und von der Gemeindepolizei vollzogen: BeMitau 9.12.1824 (Kurl. Gvts.Reg./Patente

Aufsicht, die dingliche Exekution wurde fehl Sr. Kaiserl.

Majestät

usw.,

publ.

1824). 102 BV/def, §258. 103 BV/def, §§264, 266-269: v. a. Verbreitung von Anordnungen ergänzend zur Abund Ausstellung von Pässen. BV/def, §255; da dem Gut im Unterschied zu Estland keine Kompensation zustand, sollte es sich zu diesen Rechten und Kosten freiwillig verhalten können: Protokoll der Abfassungskommission 1.6.1817, LVVA 5759 / 2 /105, p. 22. BV/def, §257. Der Fall blieb selten, kam aber vor; so wurden Anfang der 1820er einem v. Budberg auf Weißensee Polizei und Hauszucht genommen: LTD 16.3.1823, S. 29. BV/def, §§ 170, 192. Wirte konnten höchstens sechs Stock- oder Peitschenschläge auferlegen, Gutsbesitzer bis zu 15 pro Delinquent und Woche oder 48 Stunden Arrest; Überschreitungen wurden mit Geldstrafen bis 25 Rbl. S. geahndet: ebd., § 171. Altfreie Leute niederen Standes, die vormals der Patrimonialgerichtsbarkeit unterworfen waren, unterlagen in etwa denselben Polizei- und Prozessnormen, so dass auch in dieser Hinsicht unterhalb der Indigenen und Exemten Rechtsgleichheit hergestellt war: Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 51 f. BV/def. §6. Zugleich wurden die Gutsbesitzer von mit dem Patrimonialgericht „verknüpft gewesenen Kosten und Lasten aller Art" entbunden, konnte von ihnen auch keine Erstattung für Kanzleigebühren oder Unterhalt und Bewachung von Arrestanten mehr gefordert werden: BV/def, §§ 193, 196. BV/def, §§ 197, 200-204. BV/def., §202; als Gericht erst in Sachen mit einem Streitwert oberhalb fünf Rbl. S., geringere wurden prozessual sparsamer unter den Polizeibefugnissen abgemacht: ebd., §216.

kündigung durch den Pastor 104

105

106

107

108 109

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352

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mithin ein vollwertiges Element des Staatsaufbaus bildete.110 Appellationsinstanz in Angelegenheiten, deren Streitwert 25 Rbl. S. überstieg,1" und erste Instanz in Kriminalsachen waren die Zweiten Abteilungen der Hauptmannsgerichte, das heißt Kreisgerichte.112 Sie bestanden aus einem adligen Bezirksrichter, einem adligen Assessor, einem Beisitzer aus dem Bauernstand und einem Sekretär; im Vorfeld wirkte ein ebenfalls adliger Friedensrichter mit Schiedsfunktion.113 Richter und Assessoren wurden jeweils von den Eingesessenen eines Gerichtsbezirks gewählt und vom Generalgouverneur bestätigt;"4 die bäuerlichen Beisitzer bestimmte im Dreijahresturnus eine Deputiertenversammlung der Gemeinden.115 Sie traten freilich in dem Moment aus, in dem der Beklagte ein „Edelmann oder Exempt" war:116 Die Bauern wurden zu Mitrichtern ihrer selbst, nicht jedoch der privilegierten Stände. Sachen mit einem Streitwert von über 100 Rbl.S. endlich waren vor dem Oberhofgericht

revisionsfähig."7

Das Recht nun, das in diesem Instanzenzug gesprochen wurde, war ein in der Bauer-Verordnung für den definitiven Zustand als Privatrecht (§§61-191), Polizei- und Strafrecht (§§279-349) sowie Prozess- und Gerichtsordnung (§§350-541) einschließlich der Regelung des Kon-

110 Faktisch war die Neuerung wohl noch deutlich einschneidender als auf dem Papier: Nachdem bei Wiedereinführung der alten Gerichtsverfassung 1797 eine Bestätigung der Patrimonialgerichtsurteile in Kriminalsachen durch das Oberhofgericht vorgeschrieben worden war, waren die Patrimonialgerichte weitgehend durch Hauszucht und Gutspolizei ersetzt worden; wo nicht gerade Schwerverbrechen zur Verhandlung standen, „wurde gewöhnlich eine gute Tracht Prügel von Seiten des Gutsherrn ohne alle Förmlichkeiten ausgetheilt und die Sache beseitigt" (Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 9; die Gemütlichkeit der Formulierung dürfte trügen). Insofern wurde mit Hauszuchtregulierung, Klagerecht und Gerichtsordnung überhaupt erst ein geregelter Rechtsgang (wieder)errichtet. 111 BV/def, §384. 112 BV/def, §§ 196f, 205, 214, auch 272-278. 113 BV/def, §205. 114 BV/def, §206. 115 BV/def, §211. Jede Gemeinde entsandte mindestens einen Deputierten, ab 100 männliche Seelen für jedes Hundert einen weiteren; das Wahlrecht vermittelte also zwischen körperschaftlicher und Individualvertretung. 116 BV/def, §207. 117 BV/def, §§ 197, 395, 398^103. Die unterliegende Partei konnte noch beim Ziviloberbefehlshaber um abermalige Revision und Neuverhandlung einkommen, dieser nach geschehener, seines Erachtens aber unbefriedigender Revision dem Kaiser berichten wie in der Landespolitik blieben Recht und Rechte zumindest symbolisch vom Prinzip der bürokratisierten Selbstherrschaft eingefangen. -

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kursprozesses (§§481-503) kodifiziertes.118 Die Zentralbegriffe des Privatrechts bildeten Eigentum"9 und Freiheit120, das erste Anliegen von Gericht und Prozess beider Sicherung, entsprechend ausführlich und detailliert waren die Regelungen. Zur materiellen Flankierung der angestrebten Vertragsfreiheit und Rechtssicherheit wurden bäuerliche Kontrakte und Klagen von der Stempelpapierpflicht und sonstigen Gebühren freigestellt;121 außerdem waren die Gemeindegerichte mit einem

Gut besoldeten Schreiber zu versehen.122 Andererseits zog als ungerechtfertigt verworfenes Klagen Konsequenzen nach sich, meist Schläge,123 und fielen in den oberen Instanzen gegebenenfalls die Prozesskosten an,124 jedenfalls (rückerstattungsfähige) Sukkumbenzgelder.125 Dem zweiten Kernanliegen, der Ruhe und Ordnung des flachen Landes, diente im wesentlichen die Polizeiordnung.126 Doch auch sie widmet 26 von 69 Paragraphen über „Polizeyvergehungen" der Sicherheit des Eigentums,127 wobei auf eine Weise, die an die späteren der privaten Gutsgesetze erinnert, Wucher, Glücksspiel, Führung falscher Namen und Zahlungsunfähigkeit infolge von Liederlichkeit,128 also ehedem moralisch begriffene Verfehlungen explizit unter ihrem wirtschaftlichen Aspekt gefasst und sanktioniert werden. Als genuine „Vergehungen gegen die Sittlichkeit"129 werden hingegen nur Randavom

118 Subsidiar sollte „nach den für Kurland zur Nachachtung publicirten Ukasen, den Statuten, den kommissorialischen Dezisionen, Landtagsschlüssen und den übrigen in Kurland geltenden Rechten entschieden werden": BV/def, §62. 119 Als Grundsatz galt, dass der Bauer in seinen Eigentumsrechten allen anderen Staatsuntertanen gleichgestellt wurde: BV/def, §93. 120 Nicht zuletzt die freie Heirat, wobei die Frau grundsätzlich dem Stand des Mannes

folgte: BV/def., §§64-76. § 198; auch die Erlassung der im übrigen Russland erhobenen sechsprozentigen Immobilien-Transaktionsteuer wurde auf den Bauernstand ausgedehnt:

121 BV/def,

122

ebd., §20. BV/def, §38. Allerdings konnten sich bis

zur

vier Gemeinden einen Schreiber

teilen.

123 BV/def, §259. 124 BV/def., §§478-480. 125 BV/def., §§387, 395 (Abs. 2). Besonders unberechenbar war das Risiko naturgemäß bei den rechtsstaatlich ohnehin fragwürdigen Eingaben an die Regierung: Zutis, Zemnieku brXvlaisana, S. 26f., wenngleich mit Sympathie für die exekutiven Interventionen bei den vorgeblich parteiischen ordentlichen Gerichten; dagegen s. unten, S. 365 f. 126 BV/def, §279; subsidiar war nach „den allgemeinen polizeylichen Verordnungen" zu urteilen: ebd., §280. 127 BV/def, §§315-340. 128 BV/def, §§ 329f, 336, 339. 129 BV/def, §§346-349.

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lieren oder öffentliche Ohnmacht in trunkenem Zustand, Zuhälterei und das gemeinsame (Schwitz-) Baden von Mann und Frau aufgeführt. Ähnlich knapp hielt das Gesetz die Religionspolizei: Vier Paragraphen stellten die Störung des Gottesdienstes, Zauberei und Sektengründung sowie das Anzetteln von „Religions-Streitigkeiten" unter Strafe.130 Die eigentlichen Ordnungsgesetze bezogen sich primär auf den Bereich der Staatssicherheit: Die Verfälschung oder Unterschlagung, aber auch Verspottung von Gesetzen und Anordnungen, Agitation gegen die Obrigkeit, Widersetzlichkeit, eigenmächtiges „Zusammenlaufen", die Gründung von „Gesellschaften" ohne Bewilligung wurden mit teils empfindlichen Sanktionen belegt -131 die persönliche Freiheit war keine politische, beinhaltete weder Rede- noch Versammlungs- oder Vereinigungsfreiheit. Ansonsten handelte es sich um Normen zur Aufrechterhaltung einer geordneten Verwaltung und Extraktion, gegen Korruption und Fluchthilfe, Deserteurshehlerei, Amtsmissbrauch,132 sowie zur Sicherheit der Person gegen Übergriffe und Fahrlässigkeit Dritter.133 Alles Weitere fiel unter die Kriminalgerichtsbarkeit.134 Kodexbindung und Gemeindegericht waren grundlegende Neuerungen. Die privaten Hofrechte und vereinzelte Bauergerichte, die verbreitete Hinzuziehung bäuerlicher Rechtsfinder mögen in der Vorstellungswelt als Anknüpfungspunkte für die Möglichkeit eines Transfers elitärer Rechts- und Partizipationspraktiken auf die Gemeinen gedient haben so etwas wie Keimzellen stellten sie nicht dar. Das Gesetz in diesem Sinne wörtlich: es handelte sich um einen Akt der Setzung reflektierte Ideen und institutionelle Erfahrungen der ständischen Elite, fand aber keine Vorbereitung in den überkommenen Herrschaftsverhältnissen und Alltagsvollzügen auf den Gütern. Wenn der Adel mit der Bauer-Verordnung „humanen und liberalen Grundsätzen" zu folgen behauptete,135 traf deshalb zumindest das zweite auf spezifische Weise zu: Unter Abkehr von der Autorität des Hergebrachten, „vernunftgemäß" auf die Zukunft bezogen, erklärte der Akt die Leibeigenen zu mündigen, in ihrem Eigentum, ihrer Person und ihren Rechten sorgfältig -

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130 BV/def, §§296-299. 131 BV/def, §§281-286; obwohl unter den Schutz des Eigentums rubriziert, gehört auch das Verbot ungenehmigten Kollektensammelns (ebd., §340) teilweise hierher. 132 BV/def, §§288, 290, 292, 295. 133 BV/def, §§300-314. 134 BV/def, §279. 135 Rede Engelhardts bei Übergabe der redigierten Entwürfe am 11.6.1817, LVVA 1100/13/1168, p. 1.

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geschützten, sonst kaum restringierten Agenten ihres Geschicks.136 Dieselben Prinzipien instruierten dann 1937 das Zivilgesetzbuch der Republik Lettland, mit dem das Privatrecht der Bauer-Verordnung endgültig abgelöst wurde.137 Als Gemeindeverfassung verbürgte die Ordnung differenzierte Kontrollmechanismen und Machtbalancen; prozessuale Normen überwogen

materielle, strukturell auffallend denen der Provinzebene ähnlich. Doch bildete kein Abbildungsverhältnis mehr den Zusammenhang, wie dieses auch elitenintern zunehmend Delegationsvorstellungen und Sektorenlogik wich. Vielmehr wurden verschiedene Ebenen gemäß einem als rational aufgefassten Modell von Funktionszuweisungen und Entscheidungstechniken verfasst. Ein Gefüge distinkter, je spezifisch kompetenter Institutionen trat an die Stelle des tradierten Herrschaftsintegrals. Von früheren Policey-Vorstellungen hingegen oder sozialutopischer Durchregulierung im Sinne des jungen Friedrich v. Fircks war nichts oder wenig aufgenommen.138 Zugleich blieben die Landleute oberhalb der lokalen Ebene politisch rechtlos, auch vom Gericht über die sie wiederum richtenden privilegierten Stände ausgeschlossen. „In Ansehung ihrer bürgerlichen Verfassung", stellte das Gesetz fest, „konstituieren sich die Kurländischen Bauern in Bauer-Landgemeinden"139 und eben nur dort. Zwar spricht der Gesetzestext sie bisweilen als Staatsbürger an,140 doch trifft der Be-

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136 Bereits 1832 tendierte man dazu, auch die Beschränkungen der Freizügigkeit als systematisch fremden und schädlichen Nachklang der Schollenbindung auf sich beruhen zu lassen: LTD 15.12.1832, S. 19. 137 Zivilgesetzbuch, S. 1. 138 Entsprechend bitter die Vorbehalte bei seinem Bruder Carl, der sich als unversöhnter Anhänger der alten Ordnungsprinzipien zeigte: an die Einführungskommission, Konzept o.D., LVVA 2514/1/2, pp. 11 ff.; Ansichten über Gemeindegerichte, Rx 100K/1 /64. Vgl. a. unten, S. 361 f. 139 BV/def, § 11; der Vollständigkeit halber: „deren Angelegenheiten unter Aufsicht der Gemeindepolizey verwaltet werden." 140 BV/def, §§61, 194; allgemein im Verständnis der Zeitgenossen: „gehörige Würdigung seiner [des Bauern, M. M.] Verhältniße als Staatsbürger" (Carl v. Fircks, LVVA 2514/112, p. 11); „seine [des Bauern, M. M.] Bildung zu einem bessern und nützlichem Bürger des Staats" (Paulucci, LVVA 5759/2/105, p. 52). RechenbergLinten, Verhältnisse Kurlands, S. 28, formuliert es wohl unbeabsichtigt treffender-prospektiv: Der Adel sei „zum Bewußtsein des auch im Bauern zu achtenden -

Staatsbürgers" gekommen.

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griff „unmittelbarer Unterthan des Staats"141 die Novität eher. Sie waren frei, aber stumm: Proto-Bürger.142 Implementierung

„Proto-Bürger" beschreibt den Sachverhalt auch insofern, als die Bauaber kein Eiern zwar über abgesicherte Eigentumsrechte verfügten gentum, jedenfalls nicht an Land. Darin freilich hatten die Anhänger des estländischen Entwurfs dessen hauptsächlichen Charme ausgemacht. So argumentierte der Neuenburgische Deputierte v. Derschau mit den Erfahrungen verschiedener deutscher Territorien, stets sei noch aus der Regulierung der Fronen deren allmähliche Minderung bei zugleich sich einschleifenden und endlich staatlich sanktionierten Ansprüchen der Bauern auf den Boden erwachsen, „auf Kosten des Grundeigenthümers [...] Durch solche Erfahrungen belehrt und durch den Wunsch Seiner Majestät, des Kaisers, ermuntert, entsagt der Ehstländische Adel allen Ansprüchen auf die Leibeigenschaft, und glaubt, durch das Gesetz, nur mit freyen Leuten über Leistungen contrahirend, eine Bürgschaft für die Unverletzbarkeit des Grundeigenthums, und durch die Entbehrung der in Liefland so gehässigen und zum Ruin des Landes gereichenden Vermessungs- und Gehorchscommissionen, einen sichern gesetzlichen Maaßstab in dem freyen Willen contrahirender Theile und ihrer wechselseitigen Unentbehrlichkeit, gefunden zu haben. [...] Wenn ein Gehorch von der Obrigkeit durch Commissionen einmal festgesetzt ist; so wird er, nach der Erfahrung aller Länder, ohne Ausnahme nur vermindert, niemals für die Zukunft vermehrt. Durch freye Willkühr im Contract hat die Ehstländische Ritterschaft diesen Inconvenienzen vorbeugen wollen, was sie in ihrem Plan auch glücklich erreicht."143 Die Annahme -

der Reform findet sich selten klarer motiviert: Es handelte sich um eine Mischung aus Druck der Zentrale und bewusster Vorwärtsverteidigung des Eigentumsrechts am Boden, der Möglichkeit, die Fronen zu steigern, und eben gegen die Vermessungskosten. Außeröffentlich bekannte 141 BV/def, §7; Engelhardt, Einige Worte, S. 30. 142 Der „Untertan [ist] der Vorgänger des Staatsbürgers und der Leibeigene der Vorgänger des Untertanen": Blickle, Leibeigenschaft/Menschenrechte, S. 177. Eine logische, dabei bezeichnende Konsequenz war die flächendeckende Annahme von Nachnamen über die Folgezeit: Plakans, The Latvians, S. 83. 143 Einige Bemerkungen über die Ehstländische Bauerverordnung, prod, in der Landbotenstube 12.1.1817: LTA 1813/17 (LVVA 640/4/257, pp. 246f ). Als besonders abschreckendes Beispiel wird Oberschlesien genannt. Derschau Deputierter von Neuenburg: LTS 31.4.1817, S. 37.

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das auch George Benedict v. Engelhardt, als Redakteur maßgeblich am Zustandekommen der Bestimmungen beteiligt, „die einst von unseren Nachkommen wegen dessen, was wir darin unserem Korps gerettet haben erst werden gewürdigt werden."144 Doch rückte Engelhardt die Verordnung zudem in eine historische Perspektive: Auf die Dauer werde „der Zeitgeist" die persönliche Herrschaft über Menschen ohnehin nicht mehr zulassen; indem der Adel sie rechtzeitig aufgebe, könne er sich den zukunftsfähigen Teil seiner Basis, das Grundeigentum, ohne Abstriche erhalten.145 Sollte er langfristig bestehen, hieß das, musste der Adel sich primär seiner materiellen Ressourcen versichern und sie möglichst weitgehend unter den Schutz der liberalen Dogmatik bringen: die Heiligkeit des Privateigentums, Freiheit der Disposition, des Vertrags und nicht zuletzt der Person bevor das Herrenrecht zur Falle wurde. Mit der Parteinahme für die estländischen Lösung baute Petersburg den Hellsichtigen unter den Indigenen eine goldene Brücke. So gravierend sich nun die Entscheidung für die Prinzipien „Land mein, Zeit dein"146 und „freier Vertrag" aus der historiographischen Rücksicht ausnehmen konnte, scheint sie für sich genommen nur begrenzt offenen Widerstand hervorgerufen zu haben. Zu massiven Auseinandersetzungen kam es hingegen auf konkreten, zumal den vertrauten Konfliktfeldern.147 Bei der Aufteilung der Gesindeausstattungen und der Festschreibung der vorläufigen Gehorche brachten die Untertanen ihre Druckmittel in Anschlag, Verweigerung, Ausstände, Tumulte bis zum Aufruhr, vereinzelt bereits auf schlichte Missverständnisse und Gerüchte hin.148 Das bestätigt die bereits ausgeführte Annahme einer nicht zu unterschätzenden Wehrhaftigkeit der Untertanen im zugespitzten Interessenkonflikt,149 bleibt aber unspezifisch. Um der Betrachtung mehr Tiefenschärfe zu geben, mit der Situation auch die langfristige Bedeutung der Reform klarer herauszuarbeiten, werden im Folgenden die Anlaufschwierigkeiten der Gemeindegerichte dargestellt und die Klagen ana-

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144

Engelhardt

an

Ritterschaftssekretär Ernst

v.

Rechenberg-Linten 29.10.1819,

1100/13/1168, p. 8. 145 Engelhardt an Linten 29.10.1819, LVVA 1100/13/1168, pp. 8f. LVVA

146 147

Formulierung des livländischen Landrats Heinrich August v. Bock: Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 334. Ungeachtet aller Betonung eines grundsätzlichen Antagonismus ist das der Eindruck, den Zutis, Zemnieku brXvlaisana, S. 51 ff., auch Sväbe, Latvijas vesture

1800-1914, S. 88 f., und Kahk, Bauer und Baron, ?. 132, bei näherer Lektüre vermitteln. Vgl. dazu die Beobachtungen dess., Dreieck-System, S. 88, 91 ff; auch ders., Der Bauer in der Literatur. 148 Zutis, Zemnieku brXvlaisana,?. 152f, 162 f. 149 Vgl. oben, S. 88 ff.

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lysiert, die aus ihnen sowie über den Umweg einer Eingabe an die Oberbehörden vor die Kreisgerichte gelangten.150 Die Aufsicht über die Implementierung der Bauer-Verordnung lag grundsätzlich bei der Gouvernementsregierung.151 Doch folgte die Imperialbürokratie einmal mehr dem Muster, sich zwar die letzte Entscheidung zu sichern, aber Ressourcen und Kompetenzen des Landes heranzuziehen. Das Gesetz sah eine „Einführungskommission" vor,152 als deren Präsident der Zivilgouverneur fungierte, als Beisitzer ein Rat der Gouvernementsregierung, zwei Kameralhofräte und drei der fünf residierenden Oberhauptmannschaftsbevollmächtigten, oder Kreismarschälle, die die Ritterschafts-Commitée bestimmte.153 Der Kommission wurde aufgetragen, darauf zu sehen, dass der Bauernstand die ihm erteilten Rechte auch „wirklich erwerbe und genieße", jedoch „die ihr zugestandene Autorität nicht weniger zum Schutz der Herren, als zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Gouvernement [zu] gebrauchen".154 Zu dem Zweck holte sie Berichte

von den lokalen BehörBauern wie Gütern entgegen,155 prüfte neu ergehende Verfügungen auf ihre Kompatibilität mit der Bauer- Verordnung und suspendierte sie gegebenenfalls bis zu einer Revision,156 entschied strittige Interpretationsfragen157 und verfasste Modifikationsvorschläge, wo das Gesetz sich als unzulänglich erwies. Der Generalgouverneur bestätigte die Beschlüsse oder konnte sie mit einem Gegenvotum versehen dem Kaiser unterlegen.158 Zur Durchsetzung ihrer Entscheidungen griff die Kommission auf die ordentliche Exekutive zurück;159 außerdem verfügte sie über ein Mitspracherecht in (Volks-) Schulfragen, ,,[d]a von der moralischen Bildung der Landleute [...] sich

den ein und nahm Beschwerden

von

150 Die Praxis wurde vom Adel als dem Rechtsgang zuwider bekämpft, vergeblich: Zutis, Zemnieku brTvlaisana, S. 27; zum kontinuierlichen Strom von Klagen und Beschwerden: ebd., S. 148. Vgl. a. oben, Anm. 78. 151 Allerh. Befehl an Paulucci 25.8.1817: Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 287 ff. 152 BV/def, Vierter Anhang; Akten Einer Allerhöchst verordneten Commission zur Einführung der Bauer-Verordnung in Kurland (1817-1832): LVVA2514. 153 BV/def, Vierter Anh., §§4-10; die Beisitzer waren nach ihren Rechten und Pflichten gleichgestellt, während der Präsident das Privileg genoss, einen gegen sein Votum gefällten Mehrheitsentscheid zur Überprüfung an den Generalgouverneur geben zu können: ebd., §§ 19, 42. 154 BV/def, Vierter Anh., §20. 155 BV/def, Vierter Anh., §21. 156 BV/def, Vierter Anh., §§25 f. 157 BV/def, Vierter Anh., §22. 158 BV/def, Vierter Anh., §23. 159 BV/def, Vierter Anh., §§28 ff.

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wohlthätigsten Fortschritte in Erreichung des durch ihre neue Verfassung beabsichtigten Zwecks erwarten lassen".160 Dieser Bildungsauftrag freilich wirkt wie der hilflose Ausdruck eines Bewusstseins, das die Skeptischeren unter dem Adel gegen die BauerVerordnung überhaupt eingenommen hatte:161 Der Rock war viel zu groß geschnitten. Es handelte sich um ein Recht und eine Institutionenverfassung, die sich ihre Subjekte erst zupass machen mussten. Ein sprechendes Detail ist, dass zu Bauerbeisitzern der Kreisgerichte „vorzüglich" Personen gewählt werden sollten, „welche lesen, schreiben und rechnen können" dies aber erst 20 Jahre nach der Promulgation verdie

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bindlich wurde.162 Und selbst wo die Bauern den Gesetzestext zu lesen vermochten, konfrontierte er sie mit einem Rechtsdenken und einer Sprache, die ihnen vielfach unverständlich waren. Als die Einführungskommission im Spätjahr 1824 von den Kreisrichtern Vorschläge zu einer Instruktion für die Gemeindegerichtsschreiber erbat,163 fielen die Antworten ernüchternd aus. Gotthard v. Meerfeldt (Doblen-Mitau) klagte bezüglich der Gemeinderichter resigniert über „Leute, die vom Pfluge genommen, von denen die wenigsten kaum ihren Namen schreiben, Geschriebenes oft gar nicht lesen können. Die nicht einmal Vorschriften und Befehle verstehen, wenn selbige ihnen von den Gerichtsschreibern nicht verdeutlicht werden. Auf denen kann eigentlich gar keine Schuld einer Ordnungswidrigkeit, weder in Rücksicht der Protokoll Verhandlungen noch in Befolgung höherer Vorschriften fallen."164 Ähnlich der Tuckumsche Kreisrichter Alexander v. Kleist: Die Glieder der Gemeindegerichte entbehrten aller Kenntnis und Bildung, die zur Ausübung ihres Amtes unumgänglich seien, die allerwenigsten könnten lesen, noch weniger schreiben. „Ebenso wenig können sich die meisten derselben von Vorurtheilen und vorgefaßten irrigen Ansichten und Meinungen lossagen, oder solche bekämpfen, da ihnen die Mittel hiezu gänzlich mangeln. Das Gerichtsglied aus dem Stande der Wirthe glaubt die Gerechtsame der Wirthe, und das aus dem Stande der Dienstboten die Rechte derselben vertreten zu müßen. Ist nun wie fast überall diesen -

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160 BV/def, Vierter Anh., §27. 161 In diesem Punkt auch Befürworter wie Derschau: „Die Justiz- und Polizeybehörden scheinen, ihrer meisterhaften Organisation und wechselseitigen Beziehung ungeachtet, doch zu complicirt für die erste Generation der aus der Erbunterthänigkeit in den freyen Zustand übergehenden Classe" (Einige Bemerkungen...: wie Anm. 143, LVVA 640/4/257, p. 247). 162 BV/def, §212. 163 Akten der Einführungskommission, LVVA 2514/1/2, p. 10. 164 Meerfeldt an die Einführungskommission 2.3.1825, LVVA 2514/112, p. 7.

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ein Schreiber zugesellt, der nur nothdürftig Buchstaben mahlen kann, dem aber alle übrigen und selbst die unerläßlichsten Requisite zur Verwaltung seines Amtes abgehen, ja der nicht einmal im Stande ist, seine Gedanken so zu ordnen und niederzuschreiben, daß sie auch wieder von andern verstanden werden können, so ist auch klar, daß das Thun und Treiben der Gemeindegerichte immer an Nullitäten und Nichtigkeiten laborirt, ja sogar in den meisten Fällen lächerlich wird".165 Jede noch so gute und deutliche Instruktion werde daran scheitern, dass das Personal sie nicht fassen könne. Die Gerichte wiesen denn auch die Gemeinden nicht in die neue Ordnung und ihre Begriffe ein, sondern verwirrten schon krause Vorstellungen nur vollständig, und wo auch nur halberlei Ordnung herrschen solle, müssten deshalb die Kreisrichter die Geschäfte an sich ziehen: „So lange also die gänzliche Unfähigkeit der Gerichtsglieder und vorzüglich der Gemeindeschreiber nicht gehoben wird, ist kein ordnungsmäßiger Fortgang in den Geschäften der Gemeindegerichte denkbar".166 Von den elf Schreibern in seinem Bezirk seien zehn „absolut unfähige Subjecte".167 Die Einreichungen aus Bauske, Talsen, Friedrichstadt und Windau schlugen denselben Ton an.168 Insofern hatten die Geschäftsgänge und Veraktungsordnungen, die die adligen Beamten auf Grundlage ihrer Erfahrungen in der höheren (Justiz-) Verwaltung anregten,169 einen Zug ins Hypothetische. Was sie auch sahen und deshalb die Instruktionsfrage mit verschiedenen, mehr oder weniger elaborierten Vorschlägen zur Modifikation an den Wurzeln verbanden. Unter diesen Ausarbeitungen ragen die Tuckumsche und die Talsensche heraus durch Ausführlichkeit, systematische Anlage und äußerste ideologische Gegensätzlichkeit. Alexander v. Kleist aus Tuckum gab zunächst zu bedenken, „daß der bisherige erbunterthänige kurländische Bauer als unmündig betrachtet wurde, unter Vormundschaft seines Erbherrn stand und von ihm geleitet ward", nun aber mündig sei, ohne dass sich an seinen Vorstellungen und Verhältnissen viel geändert habe und er auch nichts lernen, da nicht lesen könne. Unter diesen Umständen sei nichts wünschenswerter, als „gebildete und wohlwollende Subjecte" zu gewinnen, die als Schreiber zugleich Lehrer wären: „Der jetzt active Bauerrichter wird gewiß die auf diese Art erworbenen und gesammelten Erkenntnisse seinem Nachfol-

Gerichtsgliedern

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165 Kleist an die Einführungskommission 5.3.1826, LVVA 2514/1/2, pp. 15ff, Zt. p. 15. 166 LVVA 2514/1/2, p. 16. 167 LVVA 2514/1/2, p. 17. 168 LVVA 2514/1/2, pp. l,3ff, 11 ff., 21 f., 23 ff. 169 LVVA 2514/1/2, pp. 3ff, 21,24.

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ger im Amte [...] überliefern [...] und nur so kann das Gemeindegericht die Schule der künftigen Zeiten werden."170 Diese Vision des Gerichts als gesellschaftlich-politische Bildungsanstalt erforderte indes andere Mentoren als das halbalphabetisierte Personal aus den unteren Schichten der freien Landbevölkerung, und das hieß zuvörderst: eine andere Besoldung. Da aber die Verordnung eine Entschädigung aus den Gutem vorsah, unter denen insbesondere die kleineren sich die Auslagen von „mehreren hundert Rubel" für einen qualifizierten „Syndikus des Gerichts"171 nicht leisten könnten,172 so Kleist, solle man die Gemeindegerichte teilweise zusammenlegen, Posten im Justizetat freimachen und die Schreiber als Staatsbeamte behandeln, also öffentlich examinieren, einstellen und entlassen.173 Der Mehraufwand würde sich allemal auszahlen, und auch die längeren Wege zum Gerichtsort erster Instanz seien immer noch kürzer als die zum Kreisgericht, die der Rechtsuchende derzeit auf sich nehmen müsse, „da das Gemeindegericht durch Unwissenheit und gänzliche Regellosigkeit sein oft gutes Recht auf das empfindlichste kränkt."174 Ein vehementer Gegner dieser und verwandter Gedanken war Carl v. Fircks, Kreisrichter in Talsen.175 Fircks argumentierte unter Fundamentalvorbehalt gegen die Bauer-Verordnung, die die Gemeindegerichte mit Aufgaben überfrachtet habe, „wie man sie noch Heute [nicht] von den Jahrhunderte freyen Bauern Deutschlands & anderer Staaten, ja nicht einmal von den Gerichts Personen der Mittelstädte des Auslands fordert".176 Ohnehin sei das Gesetz geeignet, das „Patrimonial-Verhältniß als das glücklichste für uns & unsre Bauren" gänzlich aufzulösen;177 jede weitere Verstaatlichung der Beziehungen, und zumal die Bevollmächtigung examinierender, einstellender und korrumpierender, vor

170 Kleist an die Einführungskommission 5.3.1826, LVVA 2514/1/2, p. 17. 171 Hier in der Formulierung v. Meerfeldts an die Einführungskommission 2.3.1825, LVVA2514/l/2,p. 7. 172 Kleist schlug zur Orientierung 300 Rbl.S. p. a. vor, freie Wohnung sowie zusätzliche Emolumente: LVVA 2514/1/2, p. 18. Die tatsächliche Besoldung lag Carl v. Fircks zufolge bei durchschnittlich 40 Rbl. S. (Fircks an die Einführungskommission, Konzept o.D.: ebd., p. 12), also bei etwa zehn Prozent dessen, was eine Fachkraft kostete. Man kann sich die Bewerber vorstellen. 173 LVVA 2514/1/2, p. 18. 174 LVVA 2514/1/2, p. 19. 175 Zu ihm vgl. a. oben, Anm. 138. 176 Fircks an die Einführungskommission, Konzept o.D.: LVVA 2514/112, p. 11. 177 LVVA 2514/1/2, p. 13. Vgl. a. oben, S. 340f, zu den von seinem Bruder Friedrich mitverfassten Erwägungen der Kommission von 1814.

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allem Kosten verursachender178 Behörden müsse dem noch Vorschub leisten. Die Einführung von Gerichtsbüchern bei den Gemeinden werde eine beschwerliche Bürokratie fördern; die Belastung der Kreisgerichte durch die allfälligen Inspektionen werde diese lahmlegen.179 Fircks' Sicht lief darauf hinaus, es bei einem schlechten Gesetz, geboren aus dem Zeitgeist „der sogenannten Philanthropie", Gefallsucht gegenüber dem Kaiser und den „juristischen Theorien eines Engelhards",180 zu belassen und zu hoffen, dass die Gutspolizeien sich in der Praxis ordnend durchsetzen würden.181 Das Beispiel der Gemeindegerichtsschreiber ist insofern instruktiv, als es erstens das strukturelle Problem der neuen Ordnung spiegelt, das Aufeinandertreffen zweier (Vorstellungs-) Welten. Die „juristischen Theorien" eines George Benedict v. Engelhardt der hier für die Kommission insgesamt verschimpft wird standen tatsächlich in der von den Konservativen berufenen Distanz zu den Realitäten auf dem platten Land. Bei der Reform handelte es sich gleichsam um eine legislative Zielvorgabe, die einzuholen den lokalen Akteuren in Politik, Verwaltung und diskutierender (Halb-) Öffentlichkeit aufgegeben war. Zweitens gibt das Beispiel diesen Umgang der Landeselite mit der Vorgabe paradigmatisch wieder: Alles in allem waren die Indigenen durchaus daran interessiert, die einmal gesetzte Ordnung zum Funktionieren zu bringen,182 und daraus entstand eine dauerhafte, kontroverse Operationalisierungsdebatte auf allen Ebenen. Juristisch versierte Gutsbesitzer knüpften an einen Streitfall grundsätzliche Erwägungen und sandten sie als Privatgutachten mit ein.183 Die Kommission erwog, votierte und versorgte die Regierung mit Informationen und Einschätzungen, die Kreisgerichte mit Interpretationen und Anweisungen, die diese an die Gemeindege-

-

178 Fircks errechnete eine bereits bestehende „Contribution" der Privatgutsbesitzer für die Schreibersalärs von 14.460 Rbl.S. im Jahr anhand von 359 Gerichten mal 40 Rubel: LVVA 2514/112, p. 12. Zwar teilten sich etliche Gerichte einen Schreiber, doch mögen diejenigen, die mehrere Stellen versahen, auch mehrfach entlohnt worden sein. 179 LVVA 2514/1/2, pp. 12f 180 LVVA 2514/1/2, p. 11. Zu George Benedict v. Engelhardt als Spiritus rector der Gerichtsverfassung vgl. unten, S. 425, 450f. 181 LVVA 2514/1/2, p. 13. 182 Selbst Carl v. Fircks wollte nur ihre, wie er es sah, fatalen Auswirkungen eindämmen (LVVA 2514/112, p. 13) bzw. später-bei allem Pessimismus gegenüber „unserer ephemeren Bauernverfassung" eine Grundüberholung anregen: Ansichten über Gemeindegerichte, LNB Rx 100K/1 /64, pp. 1 ff., Zt. p. 1. 183 Wilhelm v. Stempel an die Einführungskommission 3.12.1821, LVVA 2514/1/7, -

p.5.

Reformen

363

richte weiterleiteten oder auf die sie replizierten -184 in dem Kommunikations- und Aushandlungsprozess, den die Implementierung darstellte, dienten die Kreisgerichte als hauptsächliche Relaisstationen zwischen dem Land und den Oberinstanzen. Drittens waren die im Indigenatsadel abrufbaren theoretisch-systematischen Kenntnisse, die politische Phantasie und das praktische Erfahrungswissen nicht zu unterschätzen, doch hatten vor dem Hintergrund der angespannten wirtschaftlichen Lage, aber auch gemäß der Logik der Selbstbesteuerung überhaupt defensive und vor allem billige Lösungen die besseren Durchsetzungschancen. Im allgemeinen behielt die Kostenaversion die Oberhand über größere Designs einer aktiven Gesellschaftspolitik, und so auch bezüglich der Gerichtsschreiber: Die Sache verlief im Sand.185 Dass sich gleichwohl eine irreversible Veränderungsdynamik entfaltete, dafür sorgte nicht zuletzt Druck von seiten der Emanzipierten. Mochte der Kodex selbst ihnen in mancher Hinsicht unzugänglich sein,186 die Bauern verstanden, dass sie nun über verbriefte, einklagbare Rechte verfügten. Sie wurden, mit dem Wort des entnervten Carl v. Lieven auf Baldohn, „prozeßwüthig"187. Lieven schrieb aus Anlass des „grundlosen" Prozessierens zweier seiner Wirte wegen „gemißbrauchter Hauszucht", das er als formal haltlos und in der Sache unbegründet verwarf, als allein von der bösen Absicht motiviert, die Gutsverwaltung „zu beunruhigen und in Schaden zu setzen", an die Einführangskommission und rechnete ihr seine gehabten Kosten an Gerichtstagen und Zeugenreisen vor: Immerhin seien es von Baldohn zu Gericht nach Bauske fast 40 Werst, es sei ein Arbeitsausfall von 104 Manntagen oder 4 160 Zeugen-Werst aufgelaufen und dann das Urteil auch noch vergleichend ausgefallen, so dass fürderhin jede noch so unsinnige Bauernklage aus purem Mut- und Schadwillen betrieben werden würde. Er bitte deshalb um eine „Reform" des Urteils, auch um ganz grundsätzlich diesem Treiben ein Ende zu setzen. Lievens Überforderung durch den Aufstieg seiner Herrschaftsobjekte zu Rechtssubjekten war kein Einzelfall188 und das Prozessaufkommen 184 LVVA 2514/1/7, pp. 6f.; ebd./8, pp. 2ff; ebd./9, pp. 6f.; ebd./10, pp. Iff.; ebd./19, pp. Iff.; ebd./23, pp. Iff.; ebd./29. 185 Neuerlicher Revisionsvorschlag Carl v. Fircks' 1833: Ansichten über Gemeindegerichte, Rx 100K/l/64,pp. 3f., 11. 186 Vgl. Zutis, Zemnieku brXvlaisana, S. 50. 187 Lieven an die Einführungskommission 3.5.1825, LVVA2514/1 /24, p. 3; dort auch das Folgende. 188 Sie wurzelte in jener Zeit, „wo es als eine Empörung angesehen worden wäre, wenn der leibeigene Bauer über seinen Erbherrn klagen gegangen sein würde, und wo zur Annahme einer solchen Klage auch kein Richter instruirt und autorisirt war, in

364

Imperialisierung

Kreisgerichten in der Tat beträchtlich. In den erwartbaren Verteilungskonflikten suchten Gutsbesitzer, Verwalter und Pastoren aus eigener Unkenntnis oder unter Ausnutzung derjenigen der Leute, haltlose Rechtspositionen durchzusetzen; Bauern zeigten sich nicht bereit, durchaus im Recht gegründete Forderungen zu akzeptieren; vieles war schlicht unklar. Doch trügt die von Lieven wie in der eingangs angeführten Literatur vorausgesetzte Eindeutigkeit der Konfliktlinien, und auch seine Vorstellung der Bauern als Prozesshanseln hält einer Überprüfung an den Verzeichnissen der bei den Kreisgerichten anhängigen Klagen nicht stand. Aus einer Stichprobe von sieben Kreisgerichtsquartalen189 mit 234 verwertbaren Fällen stellen nur 79 Auseinandersetzungen zwischen Bauern und Gut190 dar, davon 47 von jenen, 32 von diesem angestrengt.191 Der Sache nach betreffen elf Gutsklagen Widerstand gegen Entscheidungen über Gesindebesitz, zehn Unbotmäßigkeit oder Gehorch-, also Leistungsverweigerung, acht Verletzungen ihrer Amtspflicht durch bäuerliche Funktionsträger, etwa nicht (richtig) gewährte Rechtspflege seitens des Gemeindegerichts. Die von Bauern eingereichten Klagen haben vor allem unrechtmäßige oder ungerechtfertigte Bestrafung (14) sowie Injurien und Bedrohungen (5) zum Gegenstand, widerrechtliche Leistungs-, im allgemeinen Fronforderung (8) und ebenfalls Gesindebesitzstreitigkeiten (5) sowie sonstige Besitz- und Schuldtitel (Grenzfragen, nicht gebei den

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zahlter Lohn, ausstehende Kredite (!): 11). Es erweiterten sich also die bekannten Konfliktfelder, auf denen nun der Eigensinn der (ehemaligen) Untertanen justiznotorisch wurde, um spezifische Probleme aus der Entflechtung der Gutsherrschaft. Das passt zu Lievens Eindruck, überrascht aber auch nicht. Doch waren in 54 Fällen Bauern überhaupt nicht beteiligt, in weiteren 58 handelte es sich um Auseinandersetzungen innerhalb der Bauernschaft und bei 35 Klagen um solche zwischen Bauern und altfreien Landbewohnern, also Müllern, Brennern usw. Unter letzteren dominieren reine Zivilklagen: 23 Streitsachen zwischen Bauern und Dritten ha-

einer Zeit, wo der Gutsherr über jede ihn nur im Geringsten verletzende Aeußerung seines leibeigenen Bauern Kläger und Richter zugleich sein" und zur Klärung „eine Tracht Prügel verabreichen" konnte: Rechenberg-Linten, Bauerverhältnisse I, Sp. 3. Für eine reizvolle Deutung solchen Machtgebarens als Abhängigkeitskompensation s. Kahk, Bauer und Baron, S. 147. 189 Wie Anh. 9, Vorbemerkung. 190 Also Besitzer, Amtmann, Disponent, Arrendator, Verwalter oder wer immer die Rechte des Eigentümers und damit die Gutspolizei ausübte. 191 Auch alle weiteren Zahlen: Anh. 9, v.a. Tab. 2.

365

Reformen

ben Besitz- und Schuldtitel zum Gegenstand, sechs Injurien oder Bedrohungen, fünf eine Pflichtverletzung durch bäuerliche Amtsträger. Bei den zwischenbäuerlichen Auseinandersetzungen hingegen halten sich Zivilkonflikte (Besitz- und Schuldtitel: 21, Injurien und Bedrohungen: 7) die Waage mit Klagen über unrechtmäßige Bestrafung durch das Gericht, einen Wagger oder Zehntner192 (14) sowie über Verletzungen der Amtspflicht, hier neben verweigerter Rechtspflege auch Amtsmissbrauch oder Unterschleif (12). Das heißt: Außer, dass die Mehrzahl der Sachen, die vor die Kreisgerichte kamen, mit der neuen Ordnung an sich wenig zu tun hatte,193 fanden die Macht- und Auffassungskonflikte, die sie tatsächlich generierte, in mindestens demselben Maß innerhalb der Gemeinden statt wie zwischen Bauernschaft und Gut. Das Bild einer monolithischen Ex-Untertanenschaft im Konflikt mit der ehemaligen Herrschaft löst sich weiter auf, berücksichtigt man den Status der beteiligten Gemeindemitglieder.194 Von den 79 Rechtshändeln mit dem Gut wurden 49 von Wirten oder einzelnen Amtsträgern geführt, 17 von der Gemeinde beziehungsweise dem Gemeindegericht, nur 13 von Knechten, Mägden oder Dienstleuten. Ähnlich entfielen 15 von 20 internen Konflikten mit dem Gemeindegericht auf die bäuerliche Elite, die auch die Mehrheit der zivilrechtlichen Streitigkeiten untereinander austrug. Zweifellos drückt sich darin schlicht die Verteilung der Streitwerten Güter aus, doch die Dominanz dieser Minderheit auch in den Obrigkeits- oder Ordnungsfragen legt eine korrespondierende Statusdifferenz und Ungleichheit des Chancengewinns aus dem neuen Recht offen. So wenig sich „private" strikt von „gesellschaftlichen" Verteilungskonflikten trennen lassen, so kenntlich wird doch, dass die Gefälle sozialer Macht nicht auf den Ständeantagonismus zu reduzieren sind, gleich gar nicht dieser die Alltagskonflikte dominierte. Komplementär weisen denn auch die Urteile, wo sie beigefügt sind, kein eindeutiges Muster auf, ebensowenig die Interventionen der Gouvernementsregierung oder der Einführungskommission, etwa im Sinne adels-parteiisch urteilender Gerichte und einer zum Vorteil der Leute revidierenden Bürokratie -195 zumal es eben in der Mehrzahl der Fälle um Auseinander192 Bäuerliche Wirtschaftsaufseher oder-Vorsteher, vgl. oben, S. 87, 184, 188 ff. 193 Rechnet man die Fälle zwischen Gut und Bauern ein, stehen Zivilstreitigkeiten (Besitz- und Schuldtitel, Alimentationsklagen, Injurien u.a.: 81) deutlich vor Ordnungsfragen (unrechtmäßige Bestrafung, Verletzung der Amtspflicht: 56) und den zwittrigen Konflikten (Gesindebesitz, Leistungsforderungen, 194 195

Gehorchverweigerung/Auflehnung: 35). Vgl. dazu auch Zutis, Zemnieku brXvlaisana, ?. 83, sowie oben, S. Vgl. a. LVVA 2514/1/8, p. 5; ebd./24, pp. 2f.

86f.

366

Imperialisierung

Setzungen innerhalb der ehemaligen Untertanenschaften beziehungs-

weise mit Dritten ging.196 Die Bauer-Verordnung gab einer bereits vielschichtigen sozialen Realität einen Impuls hin zu weiterer Differenzierung, und sie moderierte die aus dieser Dynamisierung entspringenden Konflikte mit dem Mittel gesetzten Rechts, gehandhabt von einer geregelten Verwaltung und öffentlichen Justiz als eigenständigen Größen. Anders gewendet: Die Reform von 1819/33 schuf ein differenziertes Institutionengefüge, eröffnete neue Handlungsfelder und stellte zur Aushandlungsregulierung den modernen Apparat abstrakter Begriffe und komplexer materieller und prozessualer Normen bereit, die mittelfristig dispositionen- und verhaltensmodifizierend wirken konnten mit allen sozialstrukturellen und politischen Implikationen. Insofern verkennt etwa Strods, wenn er mit Blick auf das Landeigentum von der Emanzipation als „juristischer Fiktion" spricht,197 sowohl das Gewicht von Recht und Prozess als kulturellen und kulturprägenden Definitionsleistungen als auch ihren Zusammenhang mit der bäuerlichen Binnenstratifikation, die er selbst betont198. Beziehungsweise, er sitzt der Blickverengung des wissenschaftlichen Sozialismus als einer Spielart normativer Modernisierungskonzepte auf. Diese Geschichte breitenwirksamen gesellschaftlichen Wandels in Kurland liegt jenseits des hier zu Erörternden. Doch sei die Skizze der Situation in den 1820ern immerhin um eine knappe Einordnung der Folgen der Reform ergänzt. -

Folgen „Die wirtschaftliche Lage der Bauern hatte sich mithin durch die Bauernverordnung

zunächst eher verschlechtert als verbessert,

und der Fortschritt lag mehr auf moralischem Gebiet."m

In den ersten Jahren blieb, soweit ersichtlich, vieles, wie es war. Bei den „Kontrakten" scheint es sich zunächst um wenig mehr gehandelt zu haben als um Absprachen, die die bestehenden Verhältnisse fortführ-

Vgl. a. LVVA 2514/1 /10, p. 4; hierher gehören im Grunde auch die Fälle, in denen Gemeinden gegeneinander klagten und die Gutsbesitzer sich hinter ihre jeweiligen Leute stellten: ebd. /13, pp. 1 ff. 197 Strods, Krona zemnieku klausas, S. 60; ders., Klausu rente, S. 96. 198 Strods, Agrarwirtschaftliche Struktur, S 228 f. 199 Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 36. 196

367

Reformen

Überbeanspruchung

hielt an, wo nicht Agrardepression201 den Druck noch steigen ließen ebenso Nachkriegsbesteuerung202 jedoch brach sich gutsherrliche (Markt-) Macht weiter am Widerstand der Leute, den Klagen, Auflehnungen.203 Der „Plan, unter dem Vorwand des gegenseitigen Übereinkommens' unbegrenzte Fronleistungen einzuführen, scheiterte völlig":204 Wenn diese Einschätzung Kahks auch überpointiert sein mag, sowohl was die Annahme eines „Plans" anlangt, als auch in Bezug auf das „völlig", dürfte doch der Tenor stimmen. Nur allmählich kam Bewegung in die materiellen Verhältnisse. Erst nach dem Ende des transitorischen Zustandes, mit der Stabilisierung des Finanzmarktes und der konjunkturellen Wiederbelebung der 1830er, als die Spielräume zu investieren wuchsen,205 schlug die Befreiung aus den Blockaden der Leibeigenschaftsverfassung durch. Experimente

ten.200 Die und

-

Agrarverhältnisse, S. 16, 22; Kahk, Bauer und Baron, ?. 130f; ders., Dreieck-System, ?. 87. Kahk hat wie schon vor ihm Äbers vergeblich nach frühen Beständen solcher Verträge bzw. nach Kontraktbüchern für Estland und Livland gesucht entweder wurden die Vereinbarungen zunächst nicht einmal rudimentär

200 Hollmann,

fixiert, oder die Dokumente sind verloren gegangen. Zwar -

setzte

Mitte der 1820er

Beschäftigung der Legislatur mit dem Pachtvertrag ein (Anleitung zur Abfassung der Pachtkontrakte, aus der Gouvernementsregierung 31.8.1826: Kurl. Gvts.Reg. /Patente 1826; vgl. a. Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 19), doch mag das zur vorauseilenden Normsetzung im Sinne des oben Gesagten gehören. Für Nordlivland jetzt zum gesamten Komplex Lust, Pärisorjast. Hollmann, Agrarverhältnisse, S. 19. Zutis, Zemnieku brXvlaisana, S. 40f.; Aufstellung der „Onera publica" eines Inländischen Bauern, von denen sich aber die in Kurland offenkundig wenig unterschieden: Johnson, Abhandlungen, ?. 39f. Allerdings scheint die „apologetische" Behauptung, zahlreiche Gutsbesitzer hätten Teile der bäuerlichen Steuern über-

eine intensivere

201 202

nommen, nicht ganz haltlos zu sein: wie oben, Anm. 56. 203 Wie Anm. 147. Dabei gab es auch unterhalb der gewaltförmigen Auseinandersetzung Möglichkeiten, dem Grundbesitzer erheblichen Schaden zuzufügen, etwa durch Verweigerung: Zutis, Zemnieku brXvlaisana, ?. 105 ff. 204 Kahk, Bauer und Baron, ?. 132. Hollmann, Agrarverhältnisse, ?. 16 ff., sucht den Grund dafür, dass die Gutsbesitzer ihre Möglichkeiten nicht voll ausschöpften, dagegen in deren Eigeninteresse am Wohlergehen ihrer Bauern: „Nicht das Princip der freien Vereinbarung, sondern die traditionelle Anerkennung des Rechtes des Thatsächlichen hat Kurlands Agrarverhältnisse geregelt" (ebd., S. 43). Gegenposition einer steigenden Ausbeutung trotz vereinzelt erfolgreicher Abwehr: Zutis, Zemnieku brXvlaisana, ?. 16, 65 ff, der übrigens ähnlich wie Kahk von einem „Plan zur endgültigen Ausraubung der Bauern (zemnieku gallgas aplauplsanas plans)" spricht (ebd., S. 52); anhand v. a. livländischer Beispiele auch Strods, Klausu rente, S. 97ff. 205 Hollmann, Agrarverhältnisse, ?. 23 f. Auch für die Bauern lies: Wirte sei dies eine Zeit der ökonomischen Erholung gewesen. Dagegen außer den oben Genannten Svaräne, SociaTnaja psichologija, ?. 157, die einen kontinuierlichen Nieder-

-

368

Imperialisierung

auf Lubb-Essern und Postenden (v. Hahn) und Poperwahlen (v. Bach) initiierten die flächendeckende Umstellung auf Zinspacht, mit ihr einhergehend den Übergang zum ausgedehnten Kartoffelanbau, zu Rotationssystemen und Futterkulturen, die die Viehwirtschaft zu intensivieren erlaubten; mehr Dung wiederum steigerte die Ackererträge.206 Der Umsturz der Agrarverfassung, vom Machtstaat erzwungen, von dessen Erzwingungsapparat rückversichert gegen bäuerlichen Aufruhr, wirkte nun lösend weit über den unmittelbaren Gehalt der Legislation hinaus, indem er die Timiditäten aushebelte, die der Disperspektivität der sozialen und ökologischen Krise zugrundegelegen hatten. Die Freiheits- als (Eigen-) Verantwortungszuweisung nahm einen erheblichen Legitimationsdruck von den Besitzenden, erweiterte ihre Optionen hinter der nomenklatorisch statischen Fassade „Adelsherrschaft" setzten sich die Dynamisierungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts fort. Das brachte scharfe Zugluft. Bald stellten sich die Folgen der Befreiung ohne Land als massenhafte Pauperisierung dar,207 und in den unruhigen 1840er Jahren war aus einem Abhängigkeitsverhältnis entlassen zu werden bereits keine Verheißung mehr, sondern eine wirksame Drohung.208 Erst als man um 1860 meinte, Arbeitskräfteknappheit zu spüren, verschoben sich die -

Marktpositionen erneut.209 Die Historiographie, nicht erst nur die (sowjet-)lettische, sondern be-

reits die deutschbaltische, hat an den Gesetzen der Jahre 1816/19 denn auch wenig Gutes gelassen.210 Machte die letztgenannte allerdings einen gang der Bauernwirtschaften auch während der Konsolidierung der Güter zumindest für Livland annimmt. 206 Neumann, Rückblicke, S. 512ff.; Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 39, 52ff; Rechenberg-Linten, Bauerverhältnisse II, Sp. 17 ff.; vgl. a. auch die Periodisierungen der kurländischen Agrargeschichte des 19. Jahrhunderts bei Hollmann, Agrarverhältnisse, S. 12f., bzw. Creutzburg, a. a. O, passim: transitorischer Zustand/Konkurszeit 1819/33, Erstarken des Kredits und (zurückgehende) Fronpacht 1833/1845, Geldpacht und rationelle Landwirtschaft 1845/64, Periode des Bauernlandverkaufs ab 1864; auch Strods, Klausu rente, S. 96ff., zu den Veränderungen seit der „Fronzeit". Als die Fronpacht Mitte der 1860er Jahre verboten wurde, war sie bereits praktisch verschwunden: Kurland und seine Ritterschaft, S. 71; Neumann, a.a.O., S. 515f 207 Strods, Jautäjumä, mit gutem Blick für den längerfristigen Trend. Darin nahm Kurland freilich teil an einer gemeineuropäischen Krise, die sich spezifisch ausprägte. 208 Rechenberg-Linten, Bauerverhältnisse I, Sp. 3. Die Perpetuierung der ausgesprochenen in die unausgesprochene Unfreiheit, der „freie Vertrag" zwischen ungleich Potenten als Emanzipationsfalle findet sich ähnlich im atlantischen Raum: summa-

risch Eley, Historicizing the Global, S. 265 f. 209 Neumann, Rückblicke, S. 515. 210 Überblick: Pistohlkors, Geschichtsschreibung und Politik,

v.a.

S. 283ff., 327ff.

369

Reformen

Kurzschluss des wirtschaftsliberalen Zeitgeistes aus,2" so meinte etwa Jänis Zutis, von „Liberalismus" könne keine Rede sein:212 Allenfalls habe sich der Adel liberaler Floskeln bedient, um eine „Freiheitsillusion" zu errichten, die materielle Abhängigkeit der Untertanen festzuschreiben und zugleich sich selbst aller Verpflichtungen zu entledigen.213 Der Berührungspunkt beider Positionen liegt in ihrer normativen Teleologie. Wo der Historismus einen ergänzungsbedürftigen ersten Schritt auf dem Weg zu einer guten Ordnung sah, Veränderer besten Willens, aber zeitgebunden fehlbar, machte der historische Materialismus skrupellose Machteliten und eine bedingende Durchgangsphase auf dem Weg zur Revolution aus. Spitz gesagt, die ersten nahmen die Akteure vertrauensselig beim Wort, die zweiten die Selbsterfüllungskraft des Wortes nicht ernst. Nichtsdestoweniger haben beide Stränge Thesen zur Wirkung der Reform vorgeschlagen, die nach wie vor instruktiv sind: Die Klassik, vor allem Tobien, mit ihrer Betonung der neuen Institutionen und der Verrechtlichung214 als, in derzeitiger Terminologie, „zivilgesellschaftlicher"215 Schule; die sowjetlettische Forschung mit Untersuchungen zur forcierten Differenzierung der Bauerschaften und Herausbildung einer Oberschicht von Bauern-Pächtern und eines Landproletariats. An Tobiens zeitweilig als „apologetisch" verworfene Thesen ist mittlerweile von verschiedener Seite angeknüpft worden, doch bedürften sie zumal für Kurland eingehender Überprüfung. Vorderhand spricht einiges für sie. Eine kulturalistisch informierte Geschichtsschreibung -

211 „Freiheit" und „freie Concurrenz" als „Signatur der Zeit": Hollmann, Agrarverhältnisse, ?. 3f., vgl. a. S. 15; vernichtendes Urteil: Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 439f; ders. an anderer Stelle „verderbliche", „manchesterliche Theorie": hier nach Laur, Bauernlandverkauf, ?. 87. Dort auch ein Abriss späterer Urteile sowie die neuere Literatur v. a. zu Estland. Laur selbst schließt sich der Einschätzung „zu liberal", „zu jäh" an: ebd., S. 89. Zu Tobien wäre noch anzumerken, dass sein Verwerfen der gleichsam archaisch-liberalen Reform vor deren Schatten Fölkersahms livländische Re-Reform um so heller strahlen konnte unmittelbar an das konservativ eingefärbte Fortschritts- und Überlegenheitsgefühl Lintens anschließt, wie es einleitend, S. 11 f., skizziert wurde. 212 Zutis, Zemnieku brXvlaisana, S. 6, 8. 213 Zutis, Zemnieku brXvlaisana, S. 11: „brîvlbas iluzija" bzw. „skietama brîvïba" womit er sich auf Einwände bereits der Petersburger Bürokratie berufen konnte: ebd. ff. Vgl. a. Strods, wie Anm. 197; Mierina, Agräräs attiecxbas, S. 14 ff. 214 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 1, S. 372ff; seine Formulierung „staatsbürgerliche Freiheiten" (ebd., S. 374) scheint allerdings aus den oben ausgeführten Gründen heikel. 215 Näher Mesenhöller, Zivilgesellschaft und Ständegesellschaft, S. 131, 141 ff. (Befunde), 152 f. (Kritik des Konzepts). Vgl. a. Beermann, Peasant Laws. -

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370

Imperialisierung

und SelbstorganisationsReeschenüber das Gemeinde- und kompetenzen, in der zunächst holprigen ImplementieKontraktsystem fortsetzte,216 rung der Freiheits- und Eigentumsbegriffe sowie abstrakter Prozessnormen nach 1819 einen tiefgreifenden Wandel. „Es hatte sich eine neue sozialpolitische Situation gebildet", schreibt Kahk: In „der Mentalität der Bauern war die Achtung vor dem Privateigentum gewachsen."217 Oder, kruder: „The Estonians and Latvians generally rejected the language of the oppressors, but internalized their ethical system" (René Beermann).218 Hingegen überzeugt Tobiens enthusiastische Sicht auf die „Vollendung" der Agrarreformen219 in Livland 1849/60 unter der Ägide Hamilcar v. Fölkersahms, die mit dem „roten Strich" Bauernland und Gutsland trennte und die Wirte in einer „Art bäuerlichen Gesammtfideikommiß" sicherte,220 weniger. In Kurland blieb eine derartige Reform der Reform aus,221 und doch stellten sich nach der Freigabe des Landeigentums Anfang der 1860er analoge Ergebnisse ein:222 Binnen zweier Generationen wurden die Pächter Eigentümer lebensfähiger Höfe.223 Das legt es nahe, vorrangig im Landgemeindewesen, wie es vermutet im Erwerb von

wie

er

Selbstverwaltungs-

sich

vom

-

216 Vgl. a. Kahk, Bauer und Baron, S. 146. 217 Kahk, Bauer und Baron, S. 143; ders., Dreieck-System, S. 95f.; mit Betonung der Internalisierung rechtsstaatlicher Prinzipien schon Richter, Istorija, S. 3; ähnlich Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 56, der in der Fronpacht-Zeit eine Schule der Arbeitsdisziplin sah. 218 Beermann, Peasant Laws, S. 382, in Abgrenzung von der innerrussischen

Entwicklung. von Tobien, Agrargesetzgebung; kritische Würdigung: Pistohlkors, Geschichtsschreibung und Politik, S. 328 ff. 220 Tobien, Agrargesetzgebung, Bd. 2, S. 39ff., Zt. ebd., Bd. 1, S. 440; ähnlich Richter, Materialy, S. 5, der von einer „wirtschaftlichen Emanzipation (chozjajstvennaja èmancipacija)" durch die Agrargesetzgebung des Jahres 1860 spricht; vgl. a. das wie selbstverständliche Nachwirken Tobiens etwa bei Rosenberg, Bauernbefreiung, S. 386f. Kritische Erörterung: Pistohlkors, Reformpolitik, S. 43 ff. Zu den Hauptpunkten der livländischen Gesetze (Trennung von Bauernland und Gutsland, Bauernbank, Abschaffung der Fron, Landverkauf) auch Richter, Istorija, S. 150ff. 221 Hollmann, Agrarverhältnisse, S. 13; Wittram, Baltische Geschichte, S. 165. 222 Bis zu einen gewissen Grad unterhöhlt das auch die Thesen Kahks zur Typologie von Wegen aus der LeibeigenschaftsVerfassung, mit denen er sich 1996 in einer Offenheit selbst revidiert hat, die man nicht anders als groß nennen kann: Kahk, Agrarreformen, v.a. S. 546, 555; auch in ders., Bauer und Baron, S. 160ff. Vgl. a. unten, S. 403, zu den kurländischen „Agrarregeln" von 1863/64 und ihren Folgen. 223 Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 63; trotz wohl etlicher „Sprengungen" von Gesinden (Bauernlegen) verteilte sich der genutzte Boden 1910 immer noch auf

219 So im Untertitel des zweiten Bandes

1 000000 ha Gutsland, 980000 ha Bauernland, 570000 ha Kronsland: Creutzburg, a. Hollmann, Agrarverhältnisse, S. 37ff; Über-

Agrarverhältnisse, S. 2, 36. Vgl.

Reformen

371

die frühliberal orientierten Reformen von 1816/19 für die Ostseeprovinzen konstituierten, die Schlüsselinstanz gesellschaftlicher Modernisierung zu vermuten. Die Indizien, die in diese Richtung weisen, sind stark, doch fehlen dazu letztlich systematische Untersuchungen in vergleichender Sicht.224 Umstandslos als dem komplementär lässt sich indes die soziostrukturelle Differenzierung begreifen, die insbesondere die marxistisch inspirierte Historiographie herausgearbeitet hat. Der aus der Herzogszeit rührende Trend verschärfte sich deutlich.225 Die Bauer-Verordnung stärkte institutionell, mittelfristig auch ökonomisch die relative Position der Wirte,226 während sie die Dienstleute in eine äußerst prekäre Lage versetzte. Die Zahl der Landlosen wuchs227 und mit ihr die Kluft zwischen den ländlichen Schichten.228 Das entspricht der oben angedeuteten schnelleren Reaktion der Wirte auf die Chance, im Umgang mit den neuen Möglichkeiten Ansprüche durchzusetzen, der bald Adaptionen in Wirtschaftsmentalität und -weise folgten.229 So war es freilich vorgedacht: Die liberale Rede von einer starken Freibauernschaft implizierte stets auch ein zahlreiches Reservoir unterbäuerlicher Arbeiter.230 Merkels 1814 preisgekrönte Antwort auf ein Ausschreiben der Kaiserlichen Ökonomischen Gesellschaft in Petersburg,231 der Beweis, daß es halb

224

225 226 227

228 229 230

231

blick über die Entwicklung bis in die 1890er: ebd., S. 25 ff.; relative Stärke der Bauernhöfe: Mierina, Laukuproletariats, S. 20, 26; ebd. S. 24: „Die Wirte bilde[te]n so etwas wie eine Aristokratie (Saimnieki ir it kä aristokrätija)". Für Estland jedoch Traat, Vallakohus Eestis; aus agrarwirtschaftlicher Perspektive Lust, Pärisorjast; Ansätze zu einer nordosteuropäischen Komparatistik: Jansson, Age of Associations; ders. Agrargesellschaftlicher Wandel, v.a. S. 51 ff., 78ff., zum „local representative self-government". Einen rechts- und gerichtsgeschichtlichen Überblick, der die hier gemachten Annahmen stützt, bietet Lazdins, Zemnieku privättieslbas. Vgl. a. Tuchtenhagen, Bildung als Modernisierung. Strods, Agrarwirtschaftliche Struktur, ?. 227 ff; ders., Jautäjumä; Zutis, Zemnieku brXvlaisana, ?. ill f. Kahk. Agrarreformen, ?. 554f. Mierina, Lauku proletariats, S. 21, 23 (Arrondierung der Wirte auf Kosten der Lohnfelder der Knechte), passim; vgl. a. Strods, Jautäjumä; ders, Agrarwirtschaftliche Struktur, v. a. S. 227 ff. Das Problem war freilich schon den Zeitgenossen bewusst, Gegenstand der deutschbaltischen Publizistik und Geschichtsschreibung: Pistohlkors, Geschichtsschreibung und Politik, S. 285. Bis hin zum schärfer getrennten Konnubium: Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 55; vgl. a. Svaräne, Social'najapsichologija, S. 157. Svaräne, Social'naja psichologija,?. 161 ff. Richter, Istorija, S. 4. Hierher gehört auch die Privilegierung der Wirte und ältesten Wirtssöhne durch Freistellung vom Militärdienst: Creutzburg, Agrarverhältnisse, ?. 29. Merkel, Beweis, S. 4 f.

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Imperialisierung

viel koste, seine Ländereien von Tagelöhnern bestellen zu lassen, als von leibeigenen Bauern, lief eben darauf hinaus, dass der Tagelöhner, der auf eine (Wieder-) Anstellung angewiesen sei, besser und effizienter arbeite; inzwischen würden die Löhne nicht übermäßig steigen, solange die Unverheirateten mit ihrem geringeren Subsistenzbedarf Preisdruck auf die Familienväter ausübten. Vor allem aber könne das Gut die „Rüstigen" einstellen und müsse sich um die übrigen nicht weiter bekümmern. Man brauche also nicht das ganze Jahr über so viele Leute durchzufüttern, wie man während der Stoßzeiten nötig habe, und dafür auf Boden zu verzichten, der sich als Gutsland gewinnbringender bewirtschaften ließe. Man wird der Schrift durchaus eine gewisse Rezeption unterstellen dürfen.232 Eine Generation nach der Emanzipation jedenfalls rechnete sich die Mehrzahl der Gutsbesitzer selbst zu den Befreiten.233 Die anfängliche Sorge vor einem Arbeitskräftemangel war der vor unterbeschäftigten, land- und nutzlosen Modernisierungsverlierern gewichen; die Beschränkungen der Freizügigkeit wurden als äußerst lästige Einschränkung empfunden234 und 1849 / 58 ohne Rücksicht auf die so

-

ursprünglich angestrebte Bevölkerungszahl endgültig aufgehoben.235 Die alten Ligaturen hatten sich erschöpft. Sie wurden ersetzt durch interessierte Kooperation, wo sich etwa Güter und Gesindewirte zu Lasten der Landarbeiter arrangierten,236 allgemein durch spontane, differenzierte Übereinkunft. An die Stelle der einstmaligen Herrschaftsgebräuche gegenüber Untertanen, die um 1840 „mehr lächerlich als grausam erscheinen"237

len

von

konnten, trat formal freies Wohl- oder Übelwol-

Interaktionspartnern höchst ungleicher politischer, sozialer und

Marktmacht,238 das seine Grenzen für alle in der Freiheit der Person, der Garantie des

Eigentums

und dem

rechtsförmigen Schiedsmonopol

232 Kahk, Bauer und Baron, S. 153, geht allgemein von einem „wichtigen Einfluss" solcher „Kampfschriften" auf die Gesetzgebung in Estland und Livland aus; eine zweite Quelle für Vorstellungen von der Überlegenheit freier Arbeit macht die klassische Geschichtsschreibung in der Bekanntschaft mit den deutschen Territorien aus: Richter, Istorija, S. 68; vgl. a. oben, Anm. 22. 233 Rechenberg-Linten, Bauerverhältnisse I, Sp. 1, 3. 234 Rechenberg-Linten, Bauerverhältnisse I, Sp. 3. 235 Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 58; vgl. a. Richter, Istorija, S. 84; Lockerungen schon vorher: wie oben, Anm. 136. 236 In den 1840ern: Svarane, Social'naja psichologija, S. 165. 237 Rechenberg-Linten, Bauerverhältnisse I, Sp. 2. 238 Rechenberg-Linten, Bauerverhältnisse I, Sp. 4, 6; ebd., Sp. 4f.: „Die freundliche Seite des patriarchalischen Verhältnisses bleibt auch jetzt dem Gutsherrn unverändert offen. Wer verbietet ihm denn, [...] als verehrtes Oberhaupt seiner großen Bauernfamilie aufzutreten [...]?" Die Sitte war eine Option geworden, und, wie aus Lintens Ausführungen hervorgeht, keine oft gewählte.

373

Reformen

des Staates fand. Derweil blieb die Ungleichverteilung der Ressourcen eine ständisch verbürgte, zumindest ständerechtlich flankierte. Auch die Privilegienverfassung jedoch war auf ein politisches Abkommen gegründet, getroffen in einer historischen Situation, die sich wieder öffnen konnte.239 Zunächst kamen Staat und Stand überein, dass sie einander bedurften.

6.2 Staat und Stand

(oder Freisetzung) der Leibeigenen stellte die augenfälligste Neuordnung des frühen 19. Jahrhunderts dar, war aber kein isoDie Freilassung

liertes Ereignis. Vielmehr bildete sie das Herzstück einer umfassenden institutionellen Anpassung, die am Ende die adelsständische Verfassung renovierte. Die Agrarreform lässt sich als Katalysator dieser Herrschaftskonsolidierang verstehen. Gewiss, es war ein zum allerwenigsten halber Oktroi, der Akt als solcher wie die Anlehnung an das estländische Gesetz. Doch wurden, erstens, bei der näheren Ausarbeitung und insbesondere der Implementierung die Indigenen hinzugezogen, und analog forderte die Regierung auf anderen Feldern ihre Teilnahme regelrecht ein: Je höher der Ordnungsaufwand stieg und dahingehend bedeutete die Emanzipation einen Qualitätssprung -, desto mehr sah sich der Zentralapparat auf die Mitarbeit der lokalen Elite angewiesen. Zweitens: Wenn oben gesagt wurde, die ständische Abstinenz resultierte nicht zuletzt daraus, dass es um zu wenig ging,240 so standen nach dem Krieg Dinge zur Entscheidung, die an die Substanz der Verhältnisse rührten. Zwar blieb die von den Standschaftsideologen erhoffte allgemeine partizipatorische Mobilisierung dennoch aus,241 wurde die Zurateziehung der Provinzialen immer wieder von deren „Indolenz in vaterländischen Angelegenheiten"242 frustriert.243 Doch etablierte sich, drittens, über die Interaktion gouvernementaler und landschaftspatriotischer Akteure ein Verständnis von Repräsentation als kontrolliert delegierter Verantwortung, das es erlaubte, die Krise der Selbstverwaltung zu überwinden. Erst damit entstand der -

-

-

239 Vgl. oben, S. 256, Anm. 157. 240 Oben, S. 331. 241 Fircks, Betrachtungen, S. 17f. 242 Erster Bericht der zur Abfassung einer Landtags-Ordnung ernannten Kommission 12.3.1806, S. 14: Materialien LTO. 243 So gingen auch die Antworten in Sachen der Gemeindegerichtsschreiber äußerst verzögert ein: LVVA 2514/112, pp. 8, 10.

374

Imperialisierung

Transmissionsriemen, der die Kräfte des beiderseitigen Interesses in politische Leistung übersetzte. Zur seiner Akzeptanz trug entscheidend bei, dass die Vertretungsorgane sich bei der Moderation staatlicher Eingriffe durchaus bewährten, mit dem Kurländischen Adeligen Credit-Verein schließlich ein Zugeständnis erringen konnten, das auch nach -

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innen befriedend wirkte. Landesautonomie und impériale Integration, später oft als feindliche Prinzipien gehandelt,244 beförderten einander zunächst gerade auch im Konflikt. -

„Das Land" Sichtet man die Akten seit der Reform der Landtagsordnung 1807, fällt vor allem eins auf: Sie werden dicker.245 Die Relationen der Amtsträger werden stetig ausführlicher, die Budgetrevisionen intensiver246, die Verhandlungsgegenstände nehmen zu, die Deliberatorien gewinnen an Komplexität, die Diarien (Verhandlungsprotokolle) an Länge und Beilagen. Gleichzeitig dauerte die Debatte über die Kosten der Mitsprache an,247 und Ende der 1820er beschloss der Adel eine Vereinigung von je zwei Kirchspielen auf einen Deputierten, um den Diätenaufwand zu halbieren.248 Das Experiment scheiterte mit dem Landtag 1832/33 doppelt: Zum einen hatte man sich weder bereitgefunden, die Kirchspiele als solche zu verschmelzen, noch das Mandat freigegeben, so dass ein und derselbe Deputierte unter Umständen in wechselnder Rolle gegensätzliche Instruktionen vertreten musste.249 Zweitens zeigten sich die nur noch siebzehn Landtagsmitglieder außerstande, das Arbeitspensum

Historiographieprägende Klassiker: Tobien, Die Livländische Ritterschaft; Schirren, Livländische Antwort; Kritik: Pistohlkors, Reformpolitik; ders., „Russifizierung". 245 Druckausgaben: LNB B 34(1), „Kurländischer Landtag. Landtagsacten". 246 Und konflikthaltiger; in voller Schärfe: LTA 1832, Relation des Obereinnehmers (inkl. der Relationen der Kalkulatorenkommission und Gegenrelationen der 244

Committee). 247 Vereinzelte Stimmen forderten einen Landtag von sechs zu sechs Jahren oder neuerlich eine Virilversammlung: LTD 28.3.1833, S. 42; für die Abschaffung der ständischen Organe scheint hingegen niemand mehr plädiert zu haben. 248 LTA 1832, Relation der Committee, §22; Bestrebungen seit 1823: LTS 28.3.1823, §50; LTA 1827, Relation der Committee, §37; die modifizierte Landtagsordnung 1826/27 findet sich LVVA 640/3/17, die Zusammenstellung der Kirchspiele ebd., p. 36. 249 Den zusammengestellten Kirchspielen waren separate Instruktionen erlaubt: LTO 1826/27, §§33, 44 (LVVA 640/3/17, pp. 10, 13). Damit wurde, was bereits bei Vertretungen in Vollmacht vorkam, zum System.

Reformen

375

bewältigen.250 1836 kehrte man zum Landtag mit 33 Kirchspielsdeputierten zurück.251 zu

Waren schon die Deputierten kaum mehr in der Lage, der Geschäfte Herr zu werden, stiegen die Anforderungen an die Amtsträger erst recht. Auch das förderte die Konzentration von Funktionen bei einer relativ überschaubaren Anzahl von Akteuren, die den Willen und die Möglichkeiten mitbrachten, sich in die Details des komplexer werdenden Normierungsbetriebs einzuarbeiten.252 Für diesen sind weniger die großen Fragen repräsentativ, insofern sie ihn überdramatisieren: Agrarreform, Kreditverein oder Landtagsordnung waren zentrale, aber keineswegs alles dominierende Gegenstände. Das Tagesgeschäft war kleinteiliger. Eine Auswahl allein aus den Landtagsakten zeigt die Committee befasst mit Verhandlungen um Feinheiten des Konkurs-,253 Kriminal-,254 und Bauernzivilprozesses,255 der Vormundschaftsordnung,256 des Hypothekenwesens,257 der Kirchenorganisation258 und ähnlicher justitieller Fragen, die der Abstimmung mit den entsprechenden provinzialen und imperialen Kommissionen und Organen bedurften, außerdem mit der Wahrung privater Hölzungsrechte in den Kronsforsten,259 der Zusammenbringung von Familiennachrichten und Adelszeugnissen für die Reichsheroldie,260 jagdrechtlichen Nachsuchungen,261 der (restriktiven) 250 LTS 8.4.1833, §35; LTD 8.12.1832, S. 9. 251 LTS 8.4.1833, §35; vgl. a. die Unterschriften der Deputierten, LTS 30.4.1836, S. 42ff. Im Grunde handelte es sich ohnehin um Augenwischerei: Die Diäten des Landtags von 1827 beliefen sich auf 6.600. Rbl. S. bei einem Dreijahres-Etatansatz von gut 150000 Rbl.S. (LTA 1827, Relation des Obereinnehmers, Anlagen C und D) das Einsparpotential lag also bei maximal 2 %. Dem regelmäßigen Leser der Bildzeitung ist das Argument als Muster mild hysterischer Komplexitätskompensation gleichwohl vertraut. 252 Wie oben, S. 329ff. Die Committéemitglieder wechselten selten, Wiederwahl war die Regel: LTS 21.4.1817, §4; LTS 28.3.1823, §4; LTS 21.9.1827, §7; LTS 8.4.1833, §5; Amtsinhaber waren automatisch Kandidaten: LTO 1826/27, §40 (LVVA640/3/17, p. 11). 253 LTS 28.3.1823, § 15; LTA 1827, Relation der Committee, § 11; LTS 21.9.1827, §29. 254 LTS 21.4.1817, §15. 255 LTS 28.3.1823, §§45ff.; LTA 1827, Relation der Committee, §§ 33ff. 256 LTS 28.3.1823, § 16; LTA 1827, Relation der Committee, § 12. 257 LTA 1827, Relation der Committee, § 72. 258 LTA 1827, Relation der Committee, § 74. 259 LTS 21.4.1817, §41; LTS 28.3.1823, §38; LTA 1827, Relation der Committee, §26. 260 LTS 21.4.1817, §51; LTS 28.3.1823, §55; LTA 1827, Relation der Committee, §40. Die Indigenen reagierten lax, je nachdem, ob sie sich auf die Zertifikate persönlich angewiesen sahen oder nicht: Zirkularschreiben der Committee 11.1.1829, LVVA -

640/3/649, p. 101. 261 LTS 28.3.1823, §59; LTA 1827, Relation der Committee, §44; LTS 21.9.1827, §28.

376

Imperialisierung

Judenpolitik,262 Klageführungen der Ritterschaft gegen einzelne Privatoder Kronsgüter,263 mit der Bauernunterstützung in Notjahren,264 dem

Erlangen von Beihilfen zum Infrastrukturausbau265 und solchen zur Errichtung des Allerhöchst verordneten Bauernschulwesens,266 der Strafmilderung für Seelenunterschlagungen im Oberland,267 der Aufsicht über die milden Stiftungen,268 mit Einwirkungsversuchen auf die Arrendemodalitäten,269 der Förderung neuer Wirtschaftsweisen,270 immer wieder mit der Postorganisation und ihren Kosten271 inklusive solcher Details wie Brunnenverzierungen, Krugdächer, Brückengeländer,272 vor allem aber in permanenter Auseinandersetzung mit den Regierungsbehörden um Zölle, Einquartierungen, Fuhrdienste, Prästandenleistungen273, technische Einzelheiten der Erhebung, Beitreibung und Aussetzung. Hinzu kamen die Verwaltung der eigenen Mittel, des Passivetats in Obligationen und Coupons sowie der Ritterschaftsgüter und nicht zuletzt die Verteidigung prätendierter oder tatsächlicher Privilegien gegen legislative wie rechtsbrecherische Verletzungen von der Ausfertigung von Befehlen, Kommissionsgutachten, Wahllisten etc. an das Land, der Redaktion und Kommunikation seiner Willensäußerungen intern und an die Obrigkeiten ganz abgesehen.274 In der Masse war es ein unspektakuläres, oft zähes, jedenfalls tagfüllendes Geschäft, das sich deutlich von der thematisch wie technisch eher punktuellen Politik der Herzogszeit unterschied, und dem entsprach der institutionelle Neuzuschnitt. Aus -

262 LTS 21.4.1817, §§21, 27, 39; vgl. a. unten, S. 459, Anm. 277. 263 LTS 21.4.1817, §59; LTA 1827, Relation der Committee, §§49f. 264 LTA 1827, Relation der Committee, §53; LTA 1832, Relation der Committee,

§69. 265 266 267 268 269 270

271 272 273

274

LTA 1827, Relation der Committee, §§ 61 f. LTA 1827, Relation der Committee, § 20; vgl. aber a. unten, S. 460ff. LTA 1827, Relation der Committee, § 64. LTA 1827, Relation der Committee, §78; LTS 21.9.1827, § 12. LTS 21.9.1827, §§31 f.; LTA 1832, Relation der Committee, §§71 f. LTA 1827, Relation der Committee, §82; bzw. Abwehr von propagiertem Unfug, etwa eines ebenso teuren wie wirkungslosen Feuerschutzanstrichs für Strohdächer: LVVA 640 / 3 / 649, pp. 9 ff. Überblick: LTA 1832, Relation der Committee, § 18; vgl. a. LTS 21.9.1827, § 35. LTS 28.3.1823, §§ llff.; LTA 1827, Relation der Committee, §§6ff. Man war dazu übergegangen, die residierenden Kreismarschälle/Oberhauptmannschaftsbevollmächtigten zugleich mit der Vertretung des Adels im Prästandenkomitee zu betrauen: LTD 17.4.1817, S. 61; LTS 28.3.1823, § 8; LTA 1827, Relation der Committee, §§3, 70; LTS 8.4.1833, §23; folgerichtig wurde auch dieser Etat vom Landtag revidiert: LTO 1826/27, §26 (LVVA 640/3/17, p. 8); LTD 15.12.1832, S. 20. Vgl. oben, S. 262f, 276; auch Fircks, Betrachtungen, S. 25f.

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Reformen

dem Oberratskollegium war ein Oberhofgericht mit ausschließlich judikativer Kompetenz geworden, an seine und des Herzogs Regierungsstelle die Gouvernementsobrigkeit getreten, der dahinter stehende impériale Apparat, letztlich der Zar. Ein Pendant zur Committee hatte es zuvor so nicht gegeben; der Landesbevollmächtigte hatte eher eine Wächterfunktion vor den in der Form nun nicht mehr bestehenden Verfassungsrechten ausgeübt. Zugleich waren weder er noch die Landtage in dem Maße in den Routinebetrieb involviert wie ihre Namensnachfolger des 19. Jahrhunderts.-Das gesteigerte Staatshandeln, das in die Alltagswelt der Provinzialen griff, ging einher mit deren beträchtlich erweiterter administrativer oder wenigstens konsultativer Partizipation. Die entsprechenden Felder zu beherrschen, begann eine längerfristige Aneignung, kontinuierliche Tätigkeit zu erfordern, eine faktische -

-

Professionalisierung. Auf niedrigerem Niveau gewannen auch die Landtage einen durchschnittlichen Kompetenzvorsprang vor dem Publikum. Das illustrieren die „Meinungen" der Deputierten, die diese im Zuge ihrer Redaktionsarbeit auf dem Relationstermin den Deliberatorien beifügten275 und die sich von den vielfach unrealistischen oder unsystematischen, wenn nicht krausen Einbringungen der Kirchspiele unterscheiden, indem sie die Vorschläge in den größeren Zusammenhang bestehender Gesetzgebung, politischer Opportunität und prinzipieller Erwägungen einordnen oder

schlicht einen klareren Blick für Machbarkeiten aufweisen. Überdies konnten die Deputierten unmittelbar auf die Sachkenntnis der anwesenden selbst jedoch seit 1823 nicht mehr landtagsfähigen:276 die Kontrollierten sollten nicht Kontrolleure sein dürfen Committee zurückgreifen. Offensichtlich wurde dieser Vorsprang anerkannt, oder er überzeugte: Die übergroße Mehrzahl der Voten folgte den Empfehlungen. Der Landtag 1813/14 trug der Tendenz zur politischen Hauptamtlichkeit Rechnung und räumte den residierenden Kreismarschällen eine Gage von 400 Rth. alb. ein.277 Das deckte zumindest die Reisekosten, die mit dem Amt verbunden waren, vor allem aber den ständigen Aufenthalt in Mitau bis dahin war die Anwesenheit der Committéemitglieder eine sporadische oder vom Besitz eines Stadthauses abhängig gewesen.278 Ähnlich verhielt es sich mit den Diäten und Reisegeldern -

-

-

275 Vgl. LTO 1826/27, §22: LVVA640/3/17, pp. 6f. 276 LTS 28.3.1823, §49. 277 LTA 1813/14, LVVA640/4/257, pp. 23, 30. 278 Fircks, Betrachtungen, ?. 15, 22; vgl. a. oben, S. 329, Anm. 283; 1832, Kirchpielsdeliberatorium Nr. 82.

Gagenetat:

LTA

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für die

Landtagsdeputierten279 oder dem Salär des Landesbevollmäch-

2000 Talern, das auch einem Minderbesitzlichen erlauben sollte, „eine angemessene Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft" einzunehmen:280 Die Entschädigungen stellten sicher, dass die umfangreicheren Geschäfte wirklich wahrgenommen wurden, und erweiterten den Kreis potentieller Kandidaten. In den späten 1820ern weigerten sich dann selbst zu Spezialkommissionen gewählte Indigene, die Aufgabe anzunehmen, sofern ihnen nicht eine adäquate Kompensation zugesagt wurde.281 Als daraufhin verschiedene Kirchspiele ihre Bestrebungen intensivierten, nicht nur diese, sondern auch die Landtagskosten und die der Committee zu reduzieren, indem man einige Stellen strich und die übrigen durch nicht oder minimal gagierte Amtsträger ersetzte, die im Gegenzug kurzfristig rotieren sollten,282 wies Friedrich v. Fircks auf die Absurdität einer solchen Umgestaltung angesichts „der Vielseitigkeit des Geschäftsbetriebes in der Committee, bey den complizirten Verhältnissen derselben" hin.283 Zudem würde so bei ohnehin schon schwacher Partizipationsbereitschaft der Kreis williger Kandidaten eingeengt, andererseits Unwilligen ein Amt oktroyiert.284 Ohne seinen Idealen in Hinsicht auf ein engagiertes Interesse aller abzuschwören, plädierte Fircks doch für eine „Repräsentation", die, materiell mindestgesichert, Kontinuität in die Angelegenheiten zu bringen vermochte, Routinen ausbilden. Am Ende überwand er das Murren der Steuerzahler,285 die zwar ihre Amts- und Mandatsträger für zu teuer erklären, aber nicht mehr auf eine halbwegs geregelte Selbstverwaltung verzichten mochten. Ebenso folgte die Mehrheit dem Dafürhalten der Deputierten, die eine Abschaffung der Diäten mit der Begründung verwarfen: „Ist unzweckmäßig, in-

tigten

von

Abwartung eines ordentlichen Landtags: Entwurf Landtags-Ordnung [1806], §5 (Materialien LTO); später 140 Rbl.S. plus 2 Rbl.S. Reisespesen je Meile ab dem Konvokationsort: LTO 1826/27, §5 (LVVA

279 Zunächst 150 Rth. alb. für die zur

640/3/17, p. 2). 280 Fircks, Betrachtungen, S. 13. 281 LTA 1832, Relation der Committee, § 19; Zirkularschreiben der Committee an die Kirchspiele 6.5.1832, Kurl. Gvts.Reg./Patente 1832; Forderung, ihre Kompensationen anzupassen, durch den Kirchenvisitator v. Medem und den Marschkommissar v. Behr: LTA 1827, Relation der Committee, §§89f; zusätzliche Gage von 133 1/3 Rbl.S. p. a. für die in die Einführungskommission entsandten Kreismarschälle: BV/def, Vierter Anh., § 13. 282 Fircks, Betrachtungen, S. 9f; der Entwurf lehnte sich an das livländische Modell an. Etliche ähnlich gelagerte Vorschläge sowie deren Diskussion: LTA 1832, Kirchspielsdeliberatorien Nr. 81-85. 283 Fircks, Betrachtungen, S. 10, 24f., Zt. S. 19. 284 Fircks, Betrachtungen, S. 17 ff. 285 LTD 27.3.1830, S. 40.

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dem die Wahl zu Deputirten dadurch in einem Grade beschränkt werden dürfte, der häufig Männern von Talent und regem Fleiß für das Wohl des Vaterlandes den Weg zur Landbotenstube verschließen und dadurch eine Beschränkung in der Auswahl ihrer Deputirten für die Wähler selbst herbeyführen könnte."286 Statt dessen wurden 1833 die letzten Hürden für im Kirchspiel oder überhaupt unbesitzliche sowie in Staatsdiensten stehende Indigene beiseitegeräumt, gleichberechtigt als Kirchspielsde-

putierte zu fungieren.287 Es setzte sich eine Auffassung durch, die Politik als ein Feld praktischer Spezialisierung anerkannte und Repräsentation als ein Delegationsverhältnis begriff. Parallel hörte „das Land/die Landschaft" auf, als geglaubte Synekdoche zu bestehen. So wenig wie die Committee als Inbegriff seines Willens oder der Landtag als sein Abbild gedacht wurden, stellte „das Land" noch seine (privilegierten) Bewohner dar. Vielmehr wandelte der Ausdruck sich zur metaphorischen Wendung, um die zahlreichen unaufhebbar Einzelnen bündig anzusprechen: Wo es eben ging, jedenfalls aber bei Wahlen und pekuniären Belastungen, ballotierten alle Stimmberechtigten und entschied die Mehrheit über die Kirchspielgrenzen hinweg.288 1820 dann wurde beschlossen, dass auf den entsprechenden Versammlungen grundsätzlich jeder Indigene über so viele Stimmen verfügen sollte, wie er stimmbefähigende Güter besaß -289 im Unterschied zu der bisherigen Übung, dass eine Stimme im Kirchspiel hatte, wer dort besitzlich war, ungeachtet seiner Güterzahl; wer in mehreren Kirchspielen hakenpflichtiges Land besaß, stimmte zwar in jedem davon, stets aber nur einmal.290 Aktivierte vordem Besitz das personale Stimmrecht in der Klein-Landschaft, so wurden nun die Stimmen den landesweiten Besitztümern der Besteuerungsgrund-

286 LTA 1832,

§35.

Kirchspielsdeliberatorium Nr. 89; LTD 28.3.1833, S. 43; LTS 8.4.1833,

287 LTS 8.4.1833, § 34. Ansätze schon im Entwurf zur Landtags-Ordnung [1806], § 73: Materialien LTO, aber noch mit Restriktionen. 288 Entwurf zur Landtagsordnung [1806], §35: Materialien LTO; LTO 1826/27, §35: LVVA 640/3/17, p. 10. Ab 1827 wurden die örtlichen Kreismarschälle nur noch von den Besitzlichen der jeweiligen Oberhauptmannschaft gewählt, „deren Geschäftsführung sie vorstehen", die residierenden als Geschäftsführer aller weiter von allen: LTS 21.9.1827, §8. 289 LTO 1826/27, § 117a): LVVA 640/3/17, p. 33; Zuschlagung der Rentenierer, also freiwillig steuernden Kapitalbesitzer, zu den Kirchspielen unter Berücksichtigung des Ziels möglichst gleicher Stimmenverteilung: wie oben, S. 331, Anm. 297. 290 Ziegenhorn, Staats Recht, §477, S. 174f.; Entwurf zur Versammlungs- und Verhandlungs-Organisation 1804, S. 5f., 8: Materialien LTO; Entwurf zur LandtagsOrdnung [1806], §§64 f., 109f, 112: ebd.; Entwurf zur Konferenz-Ordnung [1806], S. 10: ebd.

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läge-„angeklebt"291. Aus

„wer

sitzt, stimmt" wurde

„wer

besitzt, be-

stimmt (mit)", und zwar im Verhältnis zu seinem Beitrag.292 Die unabbildbar einzelnen, unterschiedlich potenten Steuerzahler konnten nur und zugleich nicht mehr repräsenvon sich selbst repräsentiert werden tieren als sich selbst. Daraus erwuchs bei komplexeren Fragen, die sich nur erörternd-abwägend entscheiden ließen, das Problem, Funktionalität und Legitimität zu versöhnen. Nachdem sich der Quasi-Virillandtag als ineffizient erwiesen hatte, das Ideal eines authentischen Abbildungszusammenhangs zwischen Landschaft und Deputiertenversammlung aber aus der Vorstellungswelt schwand, hatten die Teilung der Landtage in zwei Termine, die Einführung landesweiter Voten während der Intervalle und die Umwandlung der Kirchspiele von historisch gewachsenen Teillandschaften in etwa gleich groß zugeschnittene Stimmgebiete den Weg gewiesen.293 Amtsinhaber und „Abgeordnete"294 wurden allmählich als dem Entscheidungskörper veräußerlichte „Geschäftsträger"295 und Kontrolleure akzeptiert und entsprechend ausgestattet zugleich beider Freiheiten kontinuierlich beschnitten. Bezüglich der ersten bedeutete das die bereits erwähnte Unvereinbarkeit von Amt und Mandat296, aber auch, dass den Kirchspielen Versammlungsfreiheit zwischen den Landtagen eingeräumt wurde und das Recht, der Committee Beschwerden über deren -

-

291 Nicht das Stimmrecftf, für das auch die Formulierung schon zuvor existierte: Entwurf zur Versammlungs- und Verhandlungs-Organisation 1804, S. 5 (Materialien LTO); LTD 17.2.1797, LVVA 640/4 /96, p. 163. 292 Voll entwickelt zeigt sich das „an den Grundstücken haftende Stimmrecht" in der Landtagsordnung von 1879, §§ 1 ff, die es explizit auf die Versammlungen aller Ebenen bezieht (§ 2), außerdem zwischen ritterschaftlichen und Landesangelegenheiten unterscheidet und in letzteren auch dem mittlerweile zugelassenen nichtindigenen Besitz das Votum zuerkennt (§ 1); den Rentenierern wird zwar ein verhältnismäßig zu ihrem Kapitalbesitz steigender Willigungsbeitrag abverlangt, davon unabhängig jedoch nur eine Stimme zugestanden (§9): Kurland und seine Ritterschaft, S. 336ff. (Abdruck der Ordnung). 293 Wie oben, S. 331. 294 Der Begriff taucht zum erstenmal auf in LTO 1826/27, §53: LVVA 640/3/17, p. 17. 295 So schon Entwurf zur Landtags-Ordnung [1806], §29: Materialien LTO; ebd., §39:

„Geschäftsführung".

296 LTS 28.3.1823, §49: wie Anm. 276. Ähnlich stieß später eine Kombination von Wahlamt und Sitz in der Direktion der Kreditbank auf Widerspruch (LTS 8.4.1833, §5), wurde allerdings unter Umständen toleriert, so im Fall des Tuckumschen residierenden Kreismarschalls Carl v. Vietinghoff-Lambertshoff: LTA 1832, Relation der Committee, §45, S. 31; Kurland und seine Ritterschaft, S. 166, 177

(Ämterlisten).

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Amtsführung zuzuleiten, die diese samt Rechtfertigung zu zirkulieren hatte.297 Parallel erfolgte eine immer engere Anleinung der Deputierten: Je weniger sie als sein organisch „dem Land" verbundener Ausdruck gelten konnten, desto mehr mussten sie zu mechanischen Aussprachewerkzeugen des Mehrheitswillens gebändigt werden.298 Die strikte, drastisch rechtsbewehrte Verpflichtung auf die Instruktionen wurde explizit reassumiert,299 anstehende Entscheidungen wurden auf dem Relationstermin möglichst weitgehend in binäre Fragen übersetzt, über die in den Kirchspielen mit Ja oder Nein gestimmt werden konnte.300 Neuerungen in Angelegenheiten, die nicht derart herunterzubrechen waren und der Deliberation der Deputierten überlassen werden mussten, wurden an eine Zweidrittelmehrheit auf dem Instruktionstermin gebunden.301 Angesichts der auswuchernden Materien wurden die Kenntnisnahmefristen gedehnt.302 Um den Kirchspielversammlungen größere Unabhängigkeit von den Darlegungen ihrer Deputierten zu verschaffen, war bis zur Instraktionskonvokation ein gedruckter Diarienauszug des 297 LTO 1826/27, §94: LVVA640/3/17, p. 26. 298 Nachgerade karikaturhaft wirkte sich das in der Formalisierung der Redebeiträge als Diktate „zum Diario" aus: LTO 1826/27, §50 (LVVA640/3/17, p. 15). 299 Indigenatsverlust: Entwurf zur Landtagsordnung [1806], § 100 (Materialien LTO); LTO 1826/27, § 100 (LVVA 640/3/17, p. 28); die Ergänzung: „Das Geständnis, seine Instruktion nicht zu verstehen und erklären zu können, zieht den Verlust der Rechte der fernem Vertretung nach sich, und ein solches Kirchspiel wird auf Veranstaltung des Landbotenmarschalls vom Landtage vertreten" (ebd.), schloss ein Hintertürchen, durch das ein Deputierter, der eine von ihm persönlich nicht geteilte Auffassung vertreten musste, sich in die Enthaltung stehlen konnte. Die Sanktionen und Substitutionsregeln bei Verspätung, Abwesenheit von der Sitzung etc. waren entsprechend: Entwurf usw., §§51 f., 103 ff. (a.a.O.); LTO 1826/27, §§52ff, 103ff. (a.a.O., pp. 28f.). 300 Entwurf zur Landtagsordnung [1806], §43: Materialien LTO; LTO 1826/27, §43: LVVA 640/3/17, p. 12. 301 Entwurf zur Landtagsordnung [1806], §44: Materialien LTO; LTO 1826/27, §44: LVVA 640/3/17, p. 13; dort auch nochmals das explizite Verbot, auf dem zweiten Termin über „Nova" zu deliberieren. Derselbe Modus griff bei von der Krone geforderten Entscheidungen, die keine Zeit ließen, „an die Kirchspiele zu rekurriren": Entwurf usw., §47 (a.a.O.); LTO 1826/27, §46 (a.a.O., p. 14). Analoges galt für die Beschlussnahmen der Committee: ebd. Außerdem wurde das Recht des Landtags, (notorisch teure; vgl. etwa die Abrechnung von 1811, LVVA 640/2/158, p. 4) zu verfügen, von Einstimmigkeit abhängig gemacht (Entwurf usw., § 62: a. a. O.) und später noch auf Situationen beschränkt, „wo die größte Gefahr im Verzüge ist": LTO 1826/27, §62 (a.a.O., p. 20). 302 Von vier auf fünf bis sechs Wochen: Entwurf zur Landtagsordnung [1806], § 1 lb) (Materialien LTO); LTO 1826/27, § 11b) (LVVA 640/3/17, p. 4).

Delegationen

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zu liefern;303 die Sitzungen waren korporationsöffentund lich,304 jeder Indigene konnte während des Tages einen Termin beim Obereinnehmer beantragen und die Landschaftsrechnungen einsehen.305 Kurz, es wurde alles getan, damit „der Zweck der Konferenzen, daß Alle Alles hören, prüfen und dann entscheiden sollen erreicht, und dem Fehler der zeitherigen Landtage, daß so Vieles der Willkühr der Deputirten überlassen war vorgebeugt werde".306 Die enge Kontrolle der Kontrolleure durch die staatsbürgerlich Berechteten: Das war der tiefere, die umgebrochene Ordnung der Dinge reflektierende Sinn der Repräsentationsverfassung nach dem Scheitern der ,Basisdemokratisierung' der Landschaft.307 Hatte das imperative Mandat in der Herzogszeit eine kontrafaktische Verbürgungsfiktion des Übereinklangs von Landtag und Landschaft dargestellt, so trug seine tatsächliche Durchsetzung einer vorausgesetzten Disjunktion von Kommittenten und Mandatierten Rechnung. Je weiter die Vorstellung vom organischen Zusammenhang zurücktrat, desto größere Bedeutung kam dem mechanischen zu. Foelckersams Terminus der „suspekten Vertrauensperson"308 trifft den spätaufklärerischen Versuch, Legitimität und Funktionalität gleichermaßen zu gewährleisten, recht gut, vielleicht eben weil er die Verfassung aus radikalisiert konservativer Warte, eine andere Heilung der Kluft im Sinn, kritisch sah309. Zu der Zeit, in der die Institutionen geprägt wurden, fand sich selbst ein Friedrich v. Fircks darein, dass die bereits im Patrio-

Relationstermins

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303 LTO 1826/27, §30: LVVA 640/3/17, p. 9; vgl. a. Anm. 298 zur Formalisierung der Redebeiträge. 304 Entwurf zur Landtagsordnung [1806], §50: Materialien LTO; LTO 1826/27, §50: LVVA640/3/17, p. 15. 305 Entwurf zur Landtagsordnung [1806], §26: Materialien LTO; LTO 1826/27, §26: LVVA 640/3/17, p. 8. 306 Entwurf zur Landtagsordnung [1806], §6c): Materialien LTO; wörtlich beibehalten in LTO 1826/27, §6c): LVVA 640/3/17, p. 3. Immerhin blieb den Deputierten erlaubt, mit einfacher Mehrheit eigene, zusätzliche Deliberatorien zu verfassen: „Indem durch diese neue Ordnung, die den Deputirten ehemals verstattete, Willkühr beschränkt wird, erhalten sie hier einen weiten Wirkungskreis für ihren patriotischen Eifer" (Entwurf usw., § 29: a. a. O.). 307 Vgl. oben, S. 262f., 329ff 308 Foelckersam, Das alte Kurland, S. 15. 309 Er beklagte 1925, dass die Kurländer „aus Bequemlichkeitsgründen" auf einen Virillandtag nach livländischem Vorbild verzichtet hätten, sich auch „kein Haupt, keinen Führer", sondern eben nur einen Bevollmächtigten gegeben hätten: „Das ist im Grunde ein demokratischer Zug", mit dem die „aristokratische Republik" wie in so vielem dem polnischen Einfluss erlegen sei (Foelckersahm, Das alte Kurland, S. 14, 16, 25 f.).

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tismus-Begriff des jüngeren Bolschwing310 reflektierte Zerspaltung der Weltauffassung3" ihre verfassungspolitische Übersetzung erfuhr. Das institutionelle Arrangement gehorchte dem modernen Bewusstsein entzweiter Totalität, jedoch in Abkehr von den Tendenzen des Parlamentarisierangsprojekts.312 Indem es ein System stark restringierter Mitsprachedelegation an Kontrolleure über die Exekutoren des Mehrheitswillens aller schuf, folgte es einem Code mechanistischer Reduktion. Anders gewendet: Entsprach der frühneuzeitliche Repräsentationsbegriff einer synekdochischen Konfiguration der Erfahrungswelt, der des frei mandatierten, generalbevollmächtigten Parlamentariers einer metaphorischen, so folgte die kurländische Landtagsverfassung des 19. Jahrhunderts einem metonymisch operierenden Protokoll. Sie stellte eine Option von mehreren dar, nach dem Unglaubwürdigwerden der ineinandergespiegelten Abbildungsverhältnisse zu einem sowohl als legitim empfundenen als auch funktionalen Modus politischer Partizipation zu gelangen. Dieser wiederum signalisierte die Transformation des kirchspielweise verfassten sippschaftlichen Herrschaftsverbandes in

eine ständische Provinzialelite. An handlungsfähigen Landschaftsinstitutionen lag nicht zuletzt der Regierung. Wollte sie ihre Extraktions- und Ordnungsanliegen effizient verfolgen, sah sie sich auf das Kompetenz- und Legitimitätsreservoir der Landschaft angewiesen, auch unter Inkaufnahme von Reibungsverlusten. Zwar stimmte sie verschiedentlich Aussetzungen des Landtags zu, wo die Ritterschaft oder ihre Repräsentanten darauf drangen, um eine bestimmte Entwicklung, etwa eine Entscheidung Petersburgs abzuwarten -313 das war unproblematisch, solange die Committee funktionierte und gegebenenfalls ihre Kommittenten kirchspielweise oder auf Oberhauptmannschaftsversammlungen konsultieren konnte. Als aber 1826 eine mehrschichtige Auseinandersetzung Generalgouverneur Pauluccis mit der ständischen Spitze und insbesondere dem stellvertretenden Landesbevollmächtigten Carl v. Vietinghoff die Kooperation lahmlegte,314 kamen etliche Geschäfte der Gouvernementsverwaltung beziehungsweise ihr aufgegebene Vorhaben zum Stillstand: Außer durch ihren Sitz in der Committee vertraten die Kreismarschäl-

310 Vgl. oben, S. 176ff., v.a. 179. 311 Wie S. 140, Anm. 219; auch S. 58, Anm. 139. 312 Vgl. oben, S. 21 Iff. 313 Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 28.1.1827: Kurl. 1827; dort auch zum Weiteren. 314 LTA 1827, Relation der Committee, §71.

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le die Ritterschaft in der Rekrutenkommission,315 dem Kollegium der öffentlichen Fürsorge,316 der Einführungskommission,317 vor allem dem Prästandenkomitee.318 Stellten sie sich quer, zogen sich zurück oder betrieben Separatpolitik im Zentrum,319 lief das gouvernementale Wollen leer. Paulucci antwortete mit der Forderung, einen Landtag einzuberufen, um die Blockade zu brechen, worauf die Committee in allem Gehorsam mit prozeduralen Winkelzügen und Hinhaltepolitik reagierte.320 Der Generalgouverneur wandte sich ans Innenministerium, das Anfang 1827 im Senat einen Allerhöchsten Befehl erwirkte, den Tag umgehend auszuschreiben.321 Im Mai endlich versammelte sich der Relations-Landtag und brachte mit hörbarem Knirschen und unter Nachverhandlungsvorbehalt für die Committee Einigungen in den wesentlichen Fragen zustande, namentlich bezüglich der Postprästanden und ähnlicher mit Kosten verbundener Ministerialbefehle.322 Die Deliberatorien gingen ins Land, der Instruktionstermin kam. Am 3. September kehrten die zur Anzeige seiner Eröffnung an Paulucci abgesandten Deputierten mit roten Köpfen zurück.323 Der Generalgouverneur habe die „Vertreter des Vaterlandes", in deren Hände dasselbe „seine Ehre niedergelegt"324 habe, „beschimpft [und] vor ganz Rußland unsere Würde als Menschen und als Diener des Staates bekränkt",325 mithin das Corps insgesamt angegriffen.326 Seiburg trug an, den derart beschädigten Landtag sofort zu limitieren.327 Dünaburg wollte weitertagen, aber jeden Kontakt mit der -

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LTA 1827, Relation der Committee, §70. Befehl usw.: wie Anm. 313. Wie oben, S. 358. Wie oben, Anm. 273. In der Auseinandersetzung 1826/27 kam alles zusammen: Der Landesbevollmächtigte lobbyierte in Petersburg, sein Stellvertreter Vietinghoff erwies sich obstinat und wurde von Paulucci zur Persona non grata erklärt, die übrigen Kreismarschälle weigerten sich, ein Substitut zu nominieren; wie Anm. 313, 314; vgl. a. LTA 1827, Relation des Landesbevollmächtigten, v.a. S. 89ff., 97ff. Vgl. a. oben, S. 131, zur früheren Verschleppungspraxis. LTA 1827, Relation des Landesbevollmächtigten, S. 90f LTD 2.-25.5.1827. Vgl. zum Folgenden auch die etwas zurückgenommene Darstellung LTD 3.9.1827, S. 6, passim. Auch das drückt im Sinne des oben Gesagten ein Delegations-, kein Abbildungsverhältnis aus. Reaktion des Selburgschen Deputierten Wilhelm v. Schilling, LVVA 640/4/116, pp. 461,463. Landbotenmarschall Georg v. Roenne im Namen der Landtagsversammlung an Zivilgouverneur Paul v. Hahn 5.9.1827, LVVA 640/4/116, p. 467. LVVA 640/4/116, p. 461.

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Regierung abbrechen und darum einkommen, „hinführo keine Deputationen an solche Personen abdeleguiren zu dürfen, bey denen beym Audienzhalten Beleidigungen zu befürchten sind."328 Der Mehrheit schien

beides ein zu offener Konfrontationskurs. Statt dessen verfasste man eine Supplik um Beistand an Nikolaj L, in der der Landtag sich bitter über das skandalöse Betragen des kaiserlichen Vertreters beschwerte:329 Nicht nur habe Paulucci die Deputierten im Überrock, ohne Säbel, Orden und Epauletten empfangen, sondern ihnen auch mit den Worten, er „wünsche daß sie [die Versammlung, M. M.] vernünftiger würde" die Befähigung zu ihrem Mandat abgesprochen. Wenn man trotzdem zusammenbleibe, dann allein aus „höchstem Respekt gegen die Anträge der Obrigkeit".330 Das erinnert an die ostentative Ablegung der Kurialien in zottigen Handschuhen durch die Landboten zwei Generationen zuvor331, nur dass diesmal die Provokation von der Regierungsseite -

ausging.

Dass sie sofort zündete, lag wesentlich daran, dass etliche Landbolediglich auf den Anlass warteten, einen Konflikt neu anzuheizen, der sich aus allgemeiner Unzufriedenheit mit den imperialen Lasten speiste, Empörung über Pauluccis hochfahrende Art332, dem Empfinden, bloßes Erfüllungsorgan unverhandelbarer Ansprüche zu sein aus internen Spannungen, die Entladung suchten, und der Hoffnung, wenn nicht zur Blockade durch Verweigerung zurückkehren, so doch per Immediatappell an den Monarchen die eigene Position stärken zu können. Allein unter dem 24. September teilte der Innenminister dem Landtag ein verärgertes Reskript des Zaren mit, der die Klage grundlos fand, Pauluccis Aufklärung des „Missverständnisses" hinreichend, das Verhalten des Adels impertinent.333 Wie der Kaiser noch im Frühjahr „dem General-Gouverneur die wahre Grenze seiner Verpflichtungen bestimmt habe," so fordere er nun „nach denselben Grundsätzen [...], daß die von mir bestellten Autoritäten repektirt werden", bei strenger Ahndung.334 Dieser verfiel zunächst der Landbotenmarschall Georg v. Roenne, weil er die Versammlung nicht zur Mäßigung gebracht, vielmehr seine Unterschrift unter die Klage gesetzt hatte. Roenne sei von seinem Amt zu entfernen und ein anderer Deputierter an seine Stelle zu wählen. „Mit ten

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LVVA 640/4/116, p. 462. LVVA 640/4/116, p. 466 (Konzept). LVVA 640/4/116, p. 466 (Konzept). Vgl. oben, S. 58. Vgl. a. Hahn, In Gutshäusern, S. 188. LVVA640/3/4, pp. If. LVVA 640/3/4, p. 1.

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werden Sie [der Innenminister, M. M.] dem Landtag daß die Rechte des Adels, als ein Geschenk meiner Vorfaheröffnen, keine örtliche Autorität eigenbeliebig verletzt werden könren, durch nen. [...] Keine Berührbarkeit derselben kann stattfinden, solange der Adel unter dem Schütze der Monarchischen Gewalt verstehen wird, sich derselben würklich zu bedienen."335 Aus landschaftlicher Warte musste freilich bereits der Hinweis auf das „Geschenk" der Privilegien und der sprechende Beleg ihrer daraus resultierenden Fragilität in Form der Absetzung eines gewählten Landbotenmarschalls per Befehl die Rechte „berühren". Doch schloss der Tag, bevor das Schreiben einging,336 und die Deputierten konnten unter der Machtdemonstration durchtauchen, da mit dem Schluss das Marschallsamt ohnehin erlosch. Bemerkenswert an dem Eklat ist anderes. Zunächst der Hinweis Nikolajs auf seine Parteinahme vom April, als er Paulucci wegen einer Verächtlichmachung des Landesbevollmächtigten offiziell vermahnt, den Zivilgouverneur Paul v. Hahn auf seine Pflichten hingewiesen und den Streit der Sache nach zugunsten der Ritterschaftsrepräsentanten entschieden hatte.337 Die Krone agierte nicht einseitig im Sinne der Behörden oder der ständischen Organe, offenkundig auch nicht diskretionär, sondern nach Möglichkeit regelorientiert mit dem Ziel einer ausbalancierten Kooperation beider Instanzen. Zweitens konnte daraus nach Lage der Machtverhältnisse, Interessen und Dispositionen der beteiligten Akteure nur eine prekäre Stabilität erwachsen: Paulucci provozierte den Landtag so bewusst, wie dieser den Fehdehandschuh aufgriff. Nachdem der Generalgouverneur ein halbes Jahr vorher zurechtgewiesen worden war, hatte er zur Landtagseröffnung per Vorstellung an das Ministerkomitee einen Befehl erwirkt, der Adel und insbesondere der Landesbevollmächtigte Medem möchten sich an die Reichsgesetze und ihren Generalgouverneur halten, „ohne die Obrigkeit mit unnützer, an sich unschicklicher und in keinem Falle zu duldender Wortfechterey anzugehen."338 Nun suchte Paulucci seinen frischen Vorteil auszubauen, der Adel wartete nur auf die Gelegenheit zurückzuschlagen. Im Zuge des Sich-Einspielens der landespolitischen Institutionen trugen die Beteiligten von inhaltlichen Fragen abgesehen einen Kampf um die Machtverteilung aus, nicht zuletzt anhand diesem

zugleich

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335 LVVA 640/3/4, p. 2. 336 Der Landtagsschluss 21.9.1827 wurde von Roenne als Landbotenmarschall gesiegelt: LVVA 640/4/115, p. 116. 337 Auszug aus den Protokollen des Ministerkomitees 4.2., 23.4.1827, LVVA 640/3/172, pp. 20f. 338 Mitteilung des Zivilgouverneurs, LTD 1.9.1827, S. 3f., Zt. S. 4.

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der symbolischen Ordnung, die sich in Garderobe und Wortwahl ausdrückte. Drittens stellte sich wie bereits im Frühjahr Zivilgouverneur v. Hahn, obwohl selbst indigen, auf die Seite des Generalgouverneurs und wurden Hahns Abwiegelungsversuche339 prompt von seinen landtagenden Standesgenossen als unzulässige Einmischung gewertet und brüsk zurückgewiesen.340 Bezeichnenderweise sah sich dieselbe Versammlung genötigt, gegen die „von einigen Kreisgerichten beliebte Maßregel" vorzugehen, „die Kleeten der Bauern vermessen zu lassen, und von den Gutsbesitzern Reversale einzufordern, daß sie ihre Bauern bey eintretendem Mangel unterstützen werden".341 Hier wie in vergleichbaren Auseinandersetzungen zwischen der Committee und den (Ober-) Hauptleuten342 kollidierten indigene Akteure gemäß den Funktionslogiken der Ämter, die sie bekleideten: Der Gouverneur Hahn, die Kreisrichter und Hauptleute folgten der obrigkeitlichen Ratio ihrer Positionen nicht einer Solidarität der Standeszugehörigkeit. Während die interne wirtschaftlich-soziale Krise dem Konflikt den Gegenstand gab, illustrieren die Details seiner Austragung die reibungsvolle Durchsetzung differenzierter Institutionen und Feldlogiken, die eine durchaus nicht harmonische, aber letztlich funktionsfähige neue Ordnung der Interessenverhandlung etablierte. -

Der Adelige Credit-Verein

Den Anlass des Eklats von 1827 bildete der zentrale landespolitische Konflikt jener Jahre: konkurrierende Vorstellungen von einer Hilfskasse oder Kreditbank, die den bedrohten Gutsbesitz sichern sollte. Denn 339 Hahn an Roenne 5.9.1827, LVVA 640/4/116, p. 464. Dass Hahn der Committee am selben Tag wegen der verzögerten Ausschreibung des Landtags einen Verweis erteilte (LTD 5.9.1827, S. 9), steigerte seine Erfolgsaussichten nicht eben, entspricht aber dem Handlungsmuster. 340 Roenne im Namen der LandtagsVersammlung an Hahn 5.9.1827, LVVA 640/4/116, p. 467; vgl. a. LTD 21.9.1827, S. 41 f.: Hahn als Gouverneur habe kein Recht zur Einsicht in die Landtagsakten, als Indigenem jedoch könne man sie ihm nicht versagen. 341 LTS 21.9.1827, §26. 342 Etwa stritten die Hauptleute auf der einen, Kameralhof und Ritterschaftsvertreter auf der anderen Seite um die Einrichtung von festen Arrestantenstationen, die die ersten für einen notwendigen Bestandteil der exekutiven Infrastruktur erachteten, die zweiten als Belastung der Güter übereinstimmend ablehnten: LTS 28.3.1823, § 44; LTA 1827, Relation der Committee, § 32. Und folgerichtig wandten sich die Oberhauptleute in Auseinandersetzungen mit Kreismarschällen und Landtag an die imperialen Stellen, v.a. den Senat, um Unterstützung: LTA 1832, Relation der Committee, §§59, 86. Vgl. a. Hahn, In Gutshäusern, ?. 221.

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im Hintergrund aller institutionellen Veränderungen dauerten die Schuldenkrise und der mit ihr einhergehende Druck auf den einzelnen wie den Adel als Formation fort eine wirtschaftliche, damit soziale und am Ende politische Existenzfrage. Bereits im 18. Jahrhundert war zur Stabilisierung des schwankungsund risikoreichen Kreditwesens eine Einrichtung nach dem Vorbild der schlesischen „Landschaft" angeregt worden, in den Boomjahren aber ohne Resultat.343 Nach dem Zusammenbruch des Finanzmarktes kam das Vorhaben neuerlich aufs Tapet, blieb aber wegen des Krieges, dann der konjunkturellen Aufhellung und der Agrarreformdebatten trotz befürwortender Landtagsschlüsse abermals liegen.344 Erst 1819/20 wurden in den Oberhauptmannschaften Kommissare gewählt, die orientiert vor allem an den Instituten Livlands und Estlands einen Plan zu einem Bankverein ausarbeiten sollten.345 Der Entwurf ging im Herbst 1821 an die Kirchspiele,346 wurde nochmals auf Oberhauptmannschaftsversammlungen geprüft347 und mit den geforderten Modifikationen 1822 als Landtagsdeliberatorium vorgelegt.348 Auf dem Instruktionstermin im März 1823 wurde das Reglement angenommen und die Committee beauftragt, sich deswegen mit der Obrigkeit ins Benehmen zu setzen:349 Generalgouverneur Paulucci möge das Projekt in Petersburg vorstellen, um die kaiserliche Bestätigung einkommen und bitten, dass zu einer eventuellen Prüfung durch die Zentralbehörden die Ritterschaft hinzugezogen werde. Vor allem aber sollte er eine Fundierung der Bank durch ein mit zwei Prozent verzinsliches, bis 1848 zu tilgendes Sonderdarlehen der Krone von vier Millionen Rbl. B.A. auswirken.350 Ende des Jahres jedoch ließ Friedrich v. Fircks zirkulieren, er habe privat Unterhandlungen in Petersburg angeknüpft und die Zusage erhalten, dass, „wenn man 1000 [Rbl.B.A.] daran wenden wolle, à fond perdu, für Correspondenz, Abschrift u.s.w. und nachher nach erfolgter -

343 Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 13; in Estland und Livland setzten die Befürworter sich durch und wurden 1802 die entsprechende Institute geschaffen: ebd; zusätzliches Vorbild Ostpreußen: Neugebauer, Standschaft, S. 23. Zum kurländischen Kreditwerk s. a. Neumann, Rückblicke, S. 510ff ; Hollmann, Agrarverhältnisse, S. 20ff ; Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 40ff ; Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 134ff. 344 Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 21 f. 345 Zirkular des Landesbevollmächtigten 5.3.1820, LVVA 7363/3/394, p. 9. 346 Zirkular des Landesbevollmächtigten 30.11.1821, LVVA 7363 / 3 / 394, pp. 17 f. 347 LVVA7363/3/394, pp. 3Iff (Protokoll Goldingen). 348 Entwurf: LVVA 7363/3/394, pp. 59ff. 349 LTS 28.3.1823, §21. 350 LTS 28.3.1823, §21.

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Bestätigung 5000 [Rbl.B.A.,] das Geschäft einen schnellen und guten Ausgang nehmen könne und werde." Zur Aufbringung der Summe wollte er eine Subskription von zehn Rbl.B.A. ausschreiben lassen.351 Die Committee deren Mitglied Fircks als residierender Kreismarschall für Goldingen immerhin war beantwortete diese Eigenmächtigkeit mit einer Distanzierung352 und dem Hinweis, Fircks' „Weg des eigenen Willens und Eifers" in einer Angelegenheit, die eine „öffentliche und collegialische" Vorgehensweise gebiete, sei weder legitim noch der Sache nach hilfreich, der Aufwand ganz überflüssig, da man die Unterstützung der Gouvernementsregierang habe.353 Damit begann der Landesbevollmächtigte Karl v. Medem, seine unglückliche, wenn nicht zweifelhafte Rolle in der Bankfrage zu spielen, die die Wiederherstellung des Kredits -

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auf Jahre verzögerte.354 Zunächst bestand Fircks darauf, dass seine Position der öffentlichen Abfuhr seitens des Landesbevollmächtigten hinzuzufügen sei, teils um sich zu rechtfertigen, teils um angesichts von mittlerweile 50 laufenden Konkursen und der Absehbarkeit weiterer die möglichste Beschleunigung des Vorhabens zu bewirken -355 er drang nicht durch. Gut ein Jahr später resümierte Fircks den bisherigen Gang der Bemühungen.356 Die Committee hatte dem Generalgouverneur am 3. Dezember 1823 das Reglement zur Vertretung in Petersburg unterlegt, und Paulucci, warmer Befürworter einer Hilfsaktion für die bedrängten Gutsbesitzer, hatte dem entsprochen. Allein im folgenden August schlugen Ministerkomitee und

351 Privatumschreiben 31.12.1823, LVVA 640/3/170, p. 2. 352 Zirkular des Landesbevollmächtigten und Mahnung an Fircks, beide 8.2.1824, LVVA 640/3/170, pp. 3f. (Konzepte); die Schreibung „Kreismarschall v. Fircks auf Strasden" (ebd., p. 6; meine Hervorhebung, M. M.) muss ein Fehler sein, da ansonsten ausschließlich der Vorname „Friedrich" auftaucht und von einem residierenden Kreismarschall die Rede ist, während der Strasdener Ewald Heinrich örtlicher oder nichtresidierender Kreismarschall von Tuckum war. 353 Medem an die Committee 29.2.1824, LVVA 640/3/170, p. 6. 354 Im deutschbaltischen Geschichtsbild schlugen sich dagegen die von Medems Anhängern bestimmten Landtagsschlüsse nieder, die um 1900 die Rückverlängerung eines Gegensatzes zu einer als feindselig-zentralistisch empfundenen Bürokratie erlaubten, zugleich eine Mahnung zur Geschlossenheit und ein Exempel am Ende glücklichen „Ausharrens" zu bieten schienen: paradigmatisch Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, ?. 25, 33. 355 Antrag Fircks' o.D. (Konzept) und Schreiben an Medem 9.2.1823, LVVA 640/3/170, pp. 8f. 356 Antrag an die Committee 26.4.1825, prod. 17.5., als Zirkular an die Kirchspiele lithographiert: LVVA 640/3/649, pp. 79ff; daran ist die folgende Darstellung im wesentlichen angelehnt. Vgl. aber auch LTA 1827, Relation der Committee, § 17.

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Kaiser auf Empfehlung des Finanzministers die Bitte ab.357 Die Committee zirkulierte dieses Ergebnis unter dem 21. September im Land, entschied aber Mitte Oktober, eine bevorstehende Reise Pauluccis nach Petersburg für einen zweiten Versuch zu nutzen.358 Fircks entwarf den Antrag und reichte ihn ein, konnte aber an der Sitzung darüber nicht teilnehmen, und das Stück wurde mit der Begründung zu den Akten gelegt, für eine Neueingabe sei die Absage doch noch zu frisch.359 Die Mehrheit der Committee hielt die Sache für erledigt.360 Unterdes hatten die unter der Geldnot besonders leidenden oberländischen Kirchspiele beschlossen, um eine „Anwendung" der Reichsleihbank auf Kurland zu bitten,361 die in den innerrussländischen Gouvernements wirtschaftlich angeschlagene Güter gegen die Verpfändung von Revisionsseelen kreditierte.362 Zivilgouverneur v. Hahn drängte daraufhin die Committee unter dem 5. November, „das Interesse des ganzen Landes wahrzunehmen" und diesen Weg einzuschlagen, stieß aber auf taube Ohren.363 Nichtsdestoweniger wurde Paulucci am 24. im Finanzministerium vorstellig und erwirkte das Angebot eines Krondarlehens aus der Reichsleihbank in Höhe von 70-75 Rbl. S. per Revisionsseele; zur Anpassung der Einzelheiten an die besonderen Verhältnisse der 357 LTA 1827, Relation der Committee, § 17, S. 16ff. Finanzminister Cancrin gab eine dreifache Begründung: In der vorgestellten Form diene die Bank allein dazu, den Adel von einer Begleichung seiner Schulden bei bloßer Zahlung der Zinsen zu befreien; ohne Fonds den Petersburg nicht zu geben bereit war wären die Papiere instabil; solange die Assignatenrubel nicht auf ihren Nominalwert gestiegen seien, könnten keine neuen Kreditscheine zugelassen werden, die den Kurs des Papiergeldes weiter drücken würden; vgl. Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 34, der im letzen das Hauptargument sieht. Das Weitere legt nahe, dass zudem neben der Reichsleihbank grundsätzlich keine lokalen Sonderinstitute mehr gegründet werden sollten; vgl. a. Anm. 372; auch Dixon, Modernisation, S. 96, zur Ausweitung der Aktivitäten der Bank in diesem Zeitraum. 358 Zirkular Fircks' (wie Anm. 356), LVVA 640/3/649, p. 80. 359 Zirkular Fircks', LVVA 640/3/649, p. 80. 360 Zirkular Fircks', LVVA 640/3/649, p. 79. 361 Zirkular Fircks', LVVA 640/3/649, pp. 80f.; vgl. a. LTA 1827, Relation der Committee, § 17, S. 16. 362 Amburger, Behördenorganisation, S. 212; vgl. Befehle Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 12.9.1823, 13.3., 11.7., 17.9.1824: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1823, 1824. 363 Die Committee beharrte auf der separaten Bank und einer Vorstellung allenfalls im Namen einzelner, nicht wie Paulucci es dann tat für die Provinz insgesamt: LTA 1827, Relation der Committee, § 17, S. 17; Zirkular Fircks', LVVA 640/3/649, p. 81. Fircks wies jedoch darauf hin, dass die anvisierte Ausweitung grundsätzlich nur provinzenweise, nicht individuell erfolgen konnte (ebd.); insofern handelte es sich um eine reine Verweigerungshaltung, praktisch eine Nichtreaktion. -

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Provinz sollte eine ritterschaftliche Kommission gewählt werden.364 Davon aufgeschreckt erklärte die Committee dem Generalgouverneur am 16. Dezember, bei allem schuldigen Dank fühle man sich übergangen, die Reichsleihbank stelle für Kurland keine taugliche Lösung dar. Da offenkundig eine staatliche Fundierung nicht zu erhalten sei, bitte man um die Bestätigung des Reglements allein und Bewilligung einer freien Institution. Paulucci lehnte unter Hinweis auf die bereits ergangene Resolution ab.365 Vergleicht man die jeweils kurzen Reaktionszeiten der Obrigkeiten mit dem verzögerten Agieren der Ritterschaftsrepräsentation, gewinnt man den Eindruck eines zielgerichtet auf die Nutzung des imperialen Instituts als einzig gangbare Lösung hinsteuernden Behördenapparats und eines Landesbevollmächtigten, der die Sache ohne besondere Eile, nachgerade desinteressiert verfolgte. Fircks, der als dauerhaft antreibende Kraft auch bereit war, prinzipielle Konzessionen zu machen, fühlte sich in der Committee isoliert.366 Im Januar 1825 forderte Paulucci das Gremium auf, die Wahl der verordneten Kommission zu veranlassen. Daraufhin sandte die Committee ein Deliberatorium ins Land, das das Angebot verkürzt wiedergab, es für gänzlich ungeeignet erklärte und statt der angeordneten Kommission eine Willigung zur Delegation Medems nach der Residenz vorschlug, um doch wieder für das ursprüngliche Projekt einer separaten provinzialen Institution mit subventioniertem Fonds zu werben.367 Paulucci rang sichtlich um Fassung. Sowohl wegen dieser „Eigenbeliebigkeit" gegenüber den Gouvernementsobrigkeiten und Undankbarkeit gegen die Krone, als auch weil ihm „dieses Benehmen der Ritterschafts-Committée, als diese wichtige Angelegenheit in Gefahr setzend, und das ihrer Wachsamkeit und Obhut anvertraute Wohl ihrer hülfsbedürftigen Gutsbesitzer verletzend" erschien,368 ließ er Hahn auf die behördliche Infrastruktur zurückgreifen und die Hauptmannsgerichte anweisen, ein Protestschreiben an die Committee sowie die „unverfälschte" Offerte dem Adel in ihren Bezirken bekannt zu machen. Als Hauptpunkte gegen das Deliberatorium der Repräsentation brachte die Regierung vor, dass erstens explizit eine Anpassung der Konditionen an die Lokalverhältnisse erlaubt, ja gefordert sei und zweitens einer Verwendung der Mittel „zur Errichtung einer Hülfs-Banque" beziehungsweise eines „solida-

364 365 366 367 368

Paulucci an Hahn 30.1.1825, LVVA 640/3/649, p. 73. LTA 1827, Relation der Committee, § 17, S. 17. Zirkular Fircks', LVVA 640/3/649, p. 81. Paulucci an Hahn 28.2.1825, LVVA 640/3/649, p. 74. Paulucci an Hahn 28.2.1825, LVVA 640/3/649, p. 74. Zudem saß ihm der Finanzminister im Nacken, der wegen der Kommissionsergebnisse nachfragte.

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rischen Vereins" nichts im Wege stehe.369 Da aber offenkundig die Argumente Medems Resonanz fanden, das Angebot sei für das Land nutzlos und stelle zudem einen Anschlag auf die Rechte das Adels dar, man dürfe „den Civil-Autoritäten keine Einmischung in unsere Angelegenheiten gestatten",370 darüber hinaus seien die Zinsen untragbar hoch,371 legte Hahn nach und ließ die erwähnte summarische Darstellung Fircks' lithographieren und versenden. Fircks schlug sich mit der ihm eigenen Vehemenz auf die Seite der Gouverneure. Der ursprüngliche Plan sei gut, seine Erlangung aber nicht mehr realistisch: Weder gebe es den leisesten Wink, dass sich die eben erst vom Ministerkomitee gefasste und vom Kaiser bestätigte Ablehnung „wegräumen" lasse, noch sei es wahrscheinlich, dass die Zentralbürokratie gerade für Kurland eine Ausnahme von ihrem Unterstützungsmodus machen werde und „allgemein anerkannte, für wahr angenommene Grundsätze um unserer willen [...] ändern", damit in 50 Gouvernements den Wunsch nach eigenen Sonderformen wecken.372 Erst recht nicht, wenn die Ritterschaft in offener Missachtung einer ministeriellen Anordnung den offiziellen Geschäftsgang auszuhebein versuche. Die Reichsleihbank verheiße zügige Abhilfe, also warum nicht die Verhandlungsoption nutzen, um die fraglos hohen Zinssätze zu drücken und eine Assoziation zu gründen, die in wesentlichen Zügen nach dem entworfenen Reglement verfasst wäre. Was die in diesem Schema notwendige spezielle Verpfändung von einem Hundertstel der beliehenen Seelen an die Krone durch einige aus dem Verein anlange, trete er mit Nogallen und Sillenhof (350 Seelen) gern für die ersten 30000 ein. Vor allem jedoch solle der Landesbevollmächtigte seinen 369 Hahn

an die Committee sowie ders. an die Hauptleute, beides 2.3.1825, LVVA 640/3/649, pp. 76f., 78. „Solidarischer Verein": LTA 1827, Relation der Committee, § 17, S. 17. 370 Zt. nach Zirkular Fircks', LVVA 640/3/649, p. 82. 371 LTA 1827, Relation der Committee, § 17, S. 17; auch galt die Taxation der Güter

aufgrund ihrer Seelenzahl gegenüber der komplexeren kurländischen Ertragswertermittlung nach dem Muster der Willigungsbeiträge als ungeeignet; vgl. a. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 139. Das denkbare Argument, nach Aufhebung der Leibeigenschaft stellten die „Seelen" generell keinen sinnvollen Anhaltspunkt

mehr dar, findet sich nicht. 372 Zirkular Fircks' (wie Anm. 356), LVVA 640/3/649, p. 84. Die estländische und die livländische Provinzialeinrichtung waren gegründet worden, bevor bzw. während das reichsweite Hilfsbanksystem eine neue Ordnung erhielt: Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 13; Amburger, Behördenorganisation, S. 212. Als einen möglichen Ausweg erwog Fircks später den Beitritt Kurlands zum livländischen Kreditwerk: LTA 1827, Relation der Committee, § 17, S. 19; vgl. a. Manteuffel-Szoege, a. a. O., S. 35.

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fruchtlosen wie unangebrachten Boykott der Gouvernementsbehörden einstellen, die sich durchaus wohlwollend zeigten und ohne deren Kooperation man nichts erreichen werde; dies um so mehr, als Medems Unwille gegen sie offenkundig stärker von persönlichen Motiven geleitet als dem Autonomiegedanken verpflichtet sei. Er, Fircks, hege keinen Zweifel an Medems gutem Willen, doch auf dem Weg des Landesbevollmächtigten verschwende man bestenfalls Zeit und Geld, schlimmstenfalls verprelle man den Monarchen und mache alle Aussichten selbst auf eine zweitbeste Lösung zunichte.373 Paulucci ging einen Schritt weiter: Der Generalgouvemeur insinuierte recht unverblümt, dass Medem als nie wirklich umgeschwenkter Gegner des Bankprojekts insgesamt nicht einfach fahrlässig, ungeschickt und selbstherrlich zum Schaden des Landes beziehungsweise der bedrängten Schuldner agiere, sondern mit seinem Konfrontationskurs bewusste Sabotagepolitik betreibe.374 Mit seiner Reise nach Petersburg verfolge Medem private Zwecke, für die er das Land aufkommen lassen wolle, unter dem Vbrwand eines mit „Einwilligung nur eines Theils des Adels projectirten Plan[s] zur Errichtung einer Kreditbank in Kurland [...], der mit der größten Verstandlosigkeit augenscheinlich bloß zum Nutzen der Adels-Committee gemacht, welcher die Direction derselben überlassen wird, um unter diesem Vorwand Geschäfte zu betreiben".375 Umgekehrt machte freilich Medem später Paulucci wesentlich für sein Scheitern verantwortlich. Denn nachdem alle Einwirkungsversuche der Gouvernementsregierang nichts gefruchtet hatten, die Mehrheit dem Landesbevollmächtigten gefolgt und dieser im Januar 1826 in der Residenz eingetroffen war, hinderten ihn dort auf Schritt und Tritt aus Riga lancierte Anklagen, Desavouierungen, Zweifel, Zurückweisungen.376 Inzwischen war in der Prästandenkasse ein gravierender Unterschleif entdeckt worden, den formal Medem verantwortete und den Hahn öffentlich gemacht hatte,377 so dass der Bevollmächtigte das Landesanliegen zunächst hinter die Verteidigung seiner Person zurückstellen musste. Er blieb das ganze Jahr über in Petersburg beziehungsweise Moskau, erfolglos, geso

-

373 Zirkular Fircks', LVVA 640/3/649, pp. 80ff. 374 Paulucci an Hahn 28.2.1825, LVVA 640/3/649, pp. 74f. 375 Mitteilung Peter v. Medems auf dem Landtag 1827, LVVA 640/4/116, p. 93. 376 LTA 1827, Relation des Landesbevollmächtigten, S. 85ff., 92ff.; in der letztlich entscheidenden Frage des Krondarlehens war man mittlerweile auf 800000 Rbl. S. oder 3 Mio. Rbl.B.A. zurückgegangen und bereit, 3 % Zinsen plus 1 % in einen Amortisations- oder Sinkingfonds zu zahlen: ebd., S. 92. 377 LTA 1827, Relation des Landesbevollmächtigten, S. 112ff.; Rechtfertigungsschrift Hahns 1827, LVVA412/2/51; vgl. a. Hahn, In Gutshäusern, S. 206ff.

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demütigt

hier ist nicht der Ort, die Haken und

Ösen dieses Ringens

darzustellen.378 Jedenfalls, Medem scheiterte. Im Februar 1827 teilte -

Hahn der Committee mit, dass der Kaiser auf die unterlegte Supplik hin „die schleunige Beendigung aller Angelegenheiten dieser Art anzuempfehlen geruht" habe; mithin sei nun zügig der Landtag zu versammeln und in „schuldiger Erfüllung des Allerhöchsten Willens" gemeinsam mit den Behörden eine Lösung zur „Rettung von dem Untergang vieler Familien, ja des ganzen Grundbesitzes in diesem Gouvernement" zu erarbeiten. Um jeder weiteren Verzögerung vorzubeugen, legte er ein entsprechendes Zirkular in 40 Lithographien bei und bat um Empfangsbestätigung und umgehende Versendung.379 Im Mai fand der Relationstermin statt, ohne den Landesbevollmächtigten, der Petersburg nicht im Zustand der Anklage verlassen wollte, außerdem die Entscheidung über eine Bittschrift abwarten, in der er mit Blick auf den ausgeschriebenen Landtag noch einmal die gesammelten Anliegen der Ritterschaft, darunter auch den Bankverein, vorgebracht hatte.380 Auch die Deputierten beharrten mehrheitlich darauf, den Generalgouverneur für eine Unterstützung des vorliegenden Plans zu gewinnen, statt eine Kommission zur Ausarbeitung eines neuen wählen zu lassen.381 Abermalige Bitten der Oberländischen, sich „bei der Geldnoth" doch wenigstens auf eine Lösung einzulassen, die Reichsleihbank und Provinzialreglement „amalgamieren" würde,382 blieben ungehört. Endlich ließ man sich immerhin herbei, einen Ausschuss zu wählen, der überhaupt mit dem Generalgouverneur über eventuelle Modifikationen des Reglements verhandeln sollte.383 Zum Instruktionstermin im Herbst lag dann eine verschärfte Wiederholung dessen vor, worüber man ein halbes Jahr zuvor noch gemeint hatte hinweghören zu können: Der Zar befahl, die Verhandlungen über ein eigenständiges Provinzialinstitut einzustellen und dem kurländischen Adel zu eröffnen, falls er eine Unterstützung aus der Reichsleihbank wünsche, habe „derselbe die auf das Bankreglement nothwendig zu erachtende[n] Anwendungen an den Herrn Generalgouverneur vorzustellen" sich weiterer „unschicklicher -

378

Vgl. dazu v.a. Medems umfangreiche Darlegung LTA 1827, Relation des Landesbevollmächtigten.

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Hahn an die Committee 3.2.1827, LVVA 640/3/649, p. 97. LTA 1827, Relation des Landesbevollmächtigten, S. 114f LTD 7.5., 16.5.1827, S. 12 f., 25. LTD 10.5.1827, S. 17. LTD 21.5.1827, S. 42. Freilich wies Paulucci darauf hin, dass letztlich alles im Ministerkomitee entschieden werde.

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Wortfechterey" aber zu enthalten.384 Paulucci machte seine Bemerkung bezüglich der nun hoffentlich zur Vernunft gekommenen Deputierten, und es folgte der geschilderte Eklat.385 Zu Medems Scheitern hatte außer seiner persönlichen Belastung durch die Unterschleifaffäre, undiplomatischer Sturheit und schwer erklärlichen Schlampereien wie eine mangelhafte Übersetzung des Re384 LTD 1.9.1827, S. 3f.: wie Anm. 338; die dahingehenden Beschlüsse des Ministerkomitees datieren vom 2. und 16.8.1827: LTA 1832, Relation der Committee, §45, S. 28. 385 Allerdings vermochte nicht jeder, sich der Sache mit der gebotenen Erbitterung zu nähern. Ein vormaliger Deputierter, der sich altersbedingt aus der Landespolitik zurückgezogen hatte, reichte der Landbotenstube ein „unvorgreifliches Dafürhalten, in geheimer Sitzung zu erwägen" ein, das zur Vermeidung massenhaften Blutvergießens in einem drohenden Bürgerkrieg ein Stellvertreter-Duell zwischen Landesbevollmächtigtem und Generalgouverneur anregte. Etwa könne man „die chevaliers sans peur et reproche auf ihr großes Paradepferd steigen heißen, und demjenigen im voraus die Siegerkrone zuerkennen, dessen Zelter zuerst der aufgehenden Sonne entgegen zu wiehern begönne." Oder, so sie die frische Morgenluft nicht vertrügen, möge man „die Hochbetrauten irgendeinem zahmen Vogel, etwa einer Gans, von der Linken und der rechten herein gewohntes Futter vorwerfen lassen, und das Annehmen des einen oder des anderen entscheide sodann ein für alle mal, auf wessen patriotischen Bemühungen der Segen des Himmels ruhe. Es läßt sich jedoch kaum anders vermuten, als daß ein edler Patricier von Rom, der sich von jenseits der Alpen her zu uns verirrt hat [Paulucci, M. M.], in der Geheimlehre der Augurn besser Bescheid wissen werde, als ein Graf des heiligen römischen Reichs, der eigentlich am Rhein und an der Donau seinen Sitz hatte [Medems Reichsgrafentitel war eher reichsfern, nämlich 1779 als Voraussetzung der Ehe Dorothea v. Medems mit Peter Biron erworben, M. M.]; so daß ein durch nichts aufzuwiegender Vortheil auf Jenes Seite im Grund zu befürchten steht." Bliebe, eine Laus zwischen sie zu setzen, „und in wessen Bart sie dann kröche, [sei] fürderhin der gründlichere Philosoph und größere Prophet. Da indessen das Gelingen dieses Experiments durchaus einen Bart von bemerklicher Länge bei den beiden Weltweisen voraussetzt, das Streben der beiden aber die Zeit her vornehmlich darauf gerichtet war, einander so glatt als nur immer möglich zu halbieren", musste der Modus ..die Entscheidung zur Ungebühr verzögern", so dass sich schließlich empfehle: Eiertitschen. Und zwar mit dem „KronsEi" blitzblau, das „LandesEi" donnergrün gefärbt. Grün passe auch deshalb zur Landschaft, weil es deren Gabe symbolisiere, „jederzeit guter Hoffnung zu seyn, ohne sich eben in anderen, als ihren gewöhnlichen Umständen zu befinden." Abschließend gab der Schreiber der eigenen Position Ausdruck: „Nach Kant besteht das Wesen der ästhetischen Schönheit in Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Hiernach unterliegt es wohl keinem Zweifel, daß die Idee eines achtprocentigen Darlehns aus der Reichsleihbank zu dem Schönsten gehört, dessen Hervorbringung bis hiezu der menschlichen Empfindsamkeit geglückt ist." Eine Hochwohlgeborene Ritter- und Landschaft möge „diese kühne Schöpfung eines wahrhaft künstlerischen Enthusiasmus förmlich und feierlich für das achte Wunder der Welt" erklären. LVVA 7363/3/393, pp. 1 ff. „I trust the reader has enjoyed this note." (Nabokov, „Pale Fire", Note to Line 149). -

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glements ins Russische386 wesentlich eine Eingabe beigetragen, die die Auseinandersetzungen in den Zusammenhang der wirtschaftlichen Differenzierung und sozialen Kohäsionsverluste rückt: Anfang 1826 teilte

Paul v. Hahn der Committee mit, etliche Gutsbesitzer hätten sich mit der Befürchtung an ihn gewandt, gegen ihren Willen zu dem Kreditwerk zugezogen zu werden, und sich strikt gegen irgendeine Mithaftung verwahrt.387 Als die Committee nicht reagierte, sah sich Hahn gezwungen, den Vorbehalt wie von den Protestierenden gewünscht in den Dienstweg zu geben.388 Abermals agierte der Gouverneur recht zügig, die Repräsentation befremdlich langsam. Endlich antwortete die Committee und teilte die Paragraphen des Reglements mit, die ein strenges Freiwilligkeitsprinzip statuierten. Hahn sandte seiner ersten eine zweite Anzeige nach Riga hinterher,389 doch war der Einspruch nicht mehr aufzuhalten und diskreditierte den Landesbevollmächtigten in Petersburg. Auch nach der Widerlegung des Bedenkens blieb ein Rest von Fragwürdigkeit. Medems Bemerkung, dass ein Blick in das Reglement hingereicht hätte, die gravierenden Folgen zu vermeiden,390 deutet darauf hin, dass die Protestierenden eine Hilfskasse grundsätzlich ablehnten: Sie fühlten sich stark genug, ohne einen „solidarischen Verein" auszukommen, und legten keinen Wert auf eine derartige Einrichtung. Auf der anderen Seite des Spektrums standen vor allem Gutsbesitzer aus den oberländischen Kirchspielen „notorischer Maaßen die von der Natur am wenigsten begünstigten Theile Kurlands"391 -, die ebenso wie der um die landständische Verfassung besorgte Fircks zu Kompromissen und einer vorbehaltlosen Kooperation mit den Regierungsbehörden bereit waren, wenn nur überhaupt eine rasche Lösung gefunden wurde. Sie hatten bereits bei der ursprünglichen Beschlussfassung 1822/23 die Masse der Subskribenten392 auf den Bankverein gestellt;393 im Gegen-

LTA 1827, Relation des Landesbevollmächtigten, S. 93. Hahn an die Committee 15.1.1826, LVVA 640/3/172, p. 14. Hahn an die Committee 29.1.1826, LVVA 640/3/172, p. 10. Hahn an die Committee 29.1.1826, LVVA 640/3/172, p. 10. LTA 1827, Relation des Landesbevollmächtigten, S. 94f Alexander v. Lysander als Kirchspielsbevollmächtigter von Dünaburg-Überlautz an den Landesbevollmächtigten Carl Nikolai v. Korff 9.10.1805, LVVA 640/4/216, p. 71 (in Sachen der Rekrutenstellung). 392 Woraus allein schon, ebenso wie aus den damaligen Verhandlungen (vgl. Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 22) die Freiwilligkeit hervorgeht, die die Protestierenden 1827 anzweifelten. Doch mochten sie eine gewisse Automatik oder Hineinzwingung von guten Risiken im Zuge der näheren Ausgestaltung fürchten. 393 Listen in LVVA 640/4/113. Oberhauptmannschaft Seiburg: 29 Güter (ebd., pp. 200 ff, 216), Oberhauptmannschaft Tuckum: 9 (pp. 207 f., 226), Goldingen: 11

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verzeichnet die Liste derjenigen, die sich gegen den Beitritt, bereits gegen die Kosten zur Erwirkung der Institution verwahrten, ja vorwiegend Güter aus den fruchtbaren Oberhauptmannschaften Mitau und Tuckum.394 Und während sich unter den Subskribenten überwiegend kleine oder höchstens einmal mittelgroße Güter finden, zählten zu den Gegnern etliche der größeren und fideikommissarisch abgesicherten Besitzungen. Doch erzwang der Mehrheitswille in 22 Kirchspielen eine Befürwortung395 zu Fircks freudiger Überraschung.396 Zuvor hatte er sich skeptisch gezeigt, da die Einwände „zum Theil von Männern herrühren, die im Publicum Einfluß haben", auch wenn ihre Argumente nicht trügen. „Von den Gründen, die der minder gutgesinnte Theil für sich zwar anführen könnte, die er aber nie laut auszusprechen wagen wird, erlaube man mir [...] zu schweigen".397 Dass die Sache dann aus der Provinz selbst hintertrieben wurde, lag folglich nur nahe. Zwar wirkte die Solidaritätsrhetorik stark inhibierend: Eine scharfe Rüge und Pönalisierang derjenigen, die bei Hahn Protest eingelegt hatten,398 konnte nicht exekutiert werden, da die betreffenden Indigenen es verstanden, zumindest offiziell anonym zu bleiben.399 Gleichwohl wurden Stratifizierang und Erosion des Zusammenhalts auch und gerade in der von Fircks nicht zu Unrecht als exisatz dazu

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(pp. 209ff.), Hasenpoth: 2 (p. 225), Mitau: 5 (p. 230). Die Zahl derjenigen, die zwar beitreten, selbst aber keinen Kredit nehmen wollten, war verschwindend. Immerhin Bresilgen, Neumocken, Neu-Sahten und Wiexeln aus Tuckum erklärten sich explizit dazu bereit: LTD 14.3.1827, S. 25. 394

Gegen Beitritt und Kosten bewahrten sich die Kirchspiele Grenzhoff und Frauenburg, aus dem Kirchspiel Mitau das Gut Dandahlen/Dannenthal, aus Eckau Kamberley, aus Dünaburg Gulben und Kalkuhnen, aus Sessau Elley, Groß-Platon,

aus Talsen Nurmhusen, Postenden, Waldegahlen, WandLaidsen, Kargadden, Strasden und Stenden, aus Neuenburg Kliggenhoff, aus Zabeln Brinck-Pedwahlen, Asuppen, Kalitzen, Warriben, Sutten, Heykings-Pedwahlen, Hohenberg, Adsirn, Strasden, Neu-Wacken, Brüggen, Rönnen, Weggen, Kabillen und Wirben; letztgenanntes wollte „nur keine Kosten willigen", und eben-

Groß-Würzau und Wilzen, sen,

Assieten aus Ambothen sowie Dondangen; aus Autz meldete Sirmeln Vorbehalt allein gegen den Beitritt: LTD 6. und 7.3.1823, S. 12ff. LTD 6.3.1823, S. 13. Privatumschreiben 31.12.1823 (wie Anm. 351), LVVA640/3/170, p. 2. Fircks, Ueber Hülfs-Leihbanken, ?. 35. Wie zerrüttet das Vertrauen in die Standessolidarität war, illustriert auch Fircks' ausgiebige Auseinandersetzung mit dem kursierenden Bedenken, eine Handvoll Schwerreicher könnte Pfandbriefe en masse an sich bringen, konzertiert aufsagen, die Bank kollabieren lassen und sich aus der Konkurswelle mit billigen Gütern eindecken: ebd., S. 44. LTS 21.9.1827, §30. LTA 1827, Relation des Landesbevollmächtigten, S. 95; später zog man es dann vor, den Riss verheilen zu lassen: LTA 1832, Relation der Committee, § 14. so

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398 399

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stentiell begriffenen Frage der Kreditstabilisierung fühlbar.400 Aus dem Kreis derjenigen, die sich relativ sicher fühlten oder vom Erwerb aus Konkursen zu profitieren hofften, teils bereits profitiert hatten -, zeigte sich eine hinreichend große Zahl bereit, ohne weitere standespolitische Sentimentalität dieses ihr Interesse zu verfolgen, wenn sie es auch nicht öffentlich eingestehen mochten. Derweil entsprang die Politik der Gouverneure wesentlich einer pragmatischen Chanceneinschätzung, die sie aus der Vertrautheit mit dem hierarchischen Apparat ableiteten. Als Nikolaj anlässlich seiner Krönung den Adelsmarschällen erlaubte, Bitten ihrer Provinzen dem Innenminister zu unterlegen, sich also noch einmal eine außerreguläre Gelegenheit bot, das Projekt vorzubringen, verweigerten auch der General- und der Zivilgouverneur ihre „Protektion" nicht -401 andererseits hing dann doch wieder alles an einem ausbleibenden Gutachten Pauluccis.402 Ähnlich zeigte sich Hahn gegenüber den Obstruierenden geradezu eilfertig, schwieg sich später über sie aus,403 und 1822 hatten die Hahnschen Güter zu denjenigen gehört, die Verwahrung einlegten: eine gewisse Ambivalenz jenseits der bloßen Divergenz der Feldlogiken auch hier. In der Summe: War es „Dummheit oder Verrat"? Man wird Miljukovs einschlägige Formulierung der historiosophischen Grundsatzentscheidung differenzieren müssen. Auf der Analyseebene von Struktur und Interesse gaben in der Tat unsolidarischer Partikularismus und divergierende Handlungslogiken den Ausschlag, auf der der kulturellen Dispositionen ein Überlappen von Vörstel lungs weiten und bis zur Borniertheit getriebene Ideenkonflikte404, auf der der Akteure das Zusammenspiel von Nebeninteressen, Charakterzufällen, Fehleinschätzungen und halbgaren Intrigen wo immer man den Schwerpunkt setzen will, 1827 war das Projekt zu einem kurländischen Güterkreditverein gescheitert. Und vielen war es recht. -

-

400 Noch 1832/33 fiel ein Deliberatorium durch, dem Kreditverein ein von der Ritterschaft vorgestrecktes Kapital zur Bildung eines besonderen Fonds eigentümlich zu überlassen: LTD 24.3.1833, S. 25; ähnlich fand die Gründung einer Unterstützungskasse für verarmte Mitglieder des Ritterschaftsadels keine Mehrheit: ebd. 401 LTA 1827, Relation des Landesbevollmächtigten, S. 96. 402 LTA 1827, Relation des Landesbevollmächtigten, S. 97. 403 Mit Hinweis auf sein zweites Schreiben, das die Sache doch erledigt habe, verweigerte er selbst Paulucci als seinem unmittelbaren Vorgesetzten die Auskunft: Hahn an Paulucci Ende Januar 1826 (Konzept o.D.), LVVA 412/2/49, p. 2. 404 „Unsinnigkeit und Partheywut" nannte es ein Indigener 1830: Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 35.

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Wenn oben gesagt wurde, eine funktionierende Aushandlungsordnung sei etabliert worden (habe sich ausgebildet), so war dies ein entscheidender Moment: Das System erwies sich als funktional in dem Sinne, dass es Neuansätze erlaubte, zweitbeste Lösungen die Verkeilungen lagen unterhalb einer „versteinerten Figuration"405. Mit Medems Rücktritt noch während des Septemberlandtags 1827406 und seinem Tod im November407 schied ein kontroverser Akteur aus, mit der harschen Äusserung des kaiserlichen (Un-) Willens war die Partei der Maximalposition erheblich geschwächt, mit der Ächtung der Obstruierenden durch den Landtag der Widerstand illegitimiert worden. Ein Arrangement auf der Basis des Reichsleihbankreglements wurde durchsetzbar. Im November 1827 erklärten sich 120 Gutsbesitzer interessiert und wählten eine Ausarbeitungskommission; im Frühjahr 1828 autorisierte der stimmfähige Adel die Committee zur Teilnahme und machte damit die Sache einzelner zu einer der Korporation.408 Man einigte sich mit Paulucci und gewann dessen nunmehr volle Unterstützung. Ende 1828 reiste Johann v. Lambsdorff nach Petersburg, um die Bestätigung zu -

erlangen.409

Lambsdorff, Sohn einer hofnahen Familie, war im öffentlichen Leben wenig hervorgetreten, hatte sich im Gegenteil bewusst auf ein kultiviertes Landleben zurückgezogen,410 bevor er aus dem Bankverein ein Anliegen machte. Er erfüllte einen Sonderauftrag, in gewissem Sinne warerein Spezialist.4" Insofern stellt Karl v. Medems Ausscheiden mehr dar als eine akzidentielle Personalie, sondern steht für das Ende einer spezifischen Blockierung, die Ämterverquickung, Hochfahrenheit und Gegenhochfahrenheit provoziert hatten. Der alte Landesbevollmächtigte verfolgte vieles gleichzeitig, so dass sich die Konfliktlinien und Verhandlungsgegenstände überlagerten; nicht zuletzt konnte man ihm vielerlei anhängen, weil er vielen Funktionen nachkam und sich hart-

405 So Elias', Höfische Gesellschaft, ?. 402, immer noch reizvoller Begriff für die systemische Blockade, die in Frankreich letztlich die Revolution heraufbrachte. 406 LTD 19.9.1827, S. 35 ff. 407 26.11.1827: LVVA 640/4/649, p. 99. 408 LTA 1832, Relation der Committee, §45, S. 28. 409 LTA 1832, Relation der Committee, §45, S. 29; Korrespondenz: LVVA 640/4/172, pp. 1 ff. 410 Erinnerungen von Marie Baronin Freytag Löringhoff, LVVA 1100/9/71, pp. 138, 161 ff; Seeberg-Elverfeldt, Genealogie Lambsdorff, ?. 145f.; vgl. a. unten, S.419Í. 411 Jedoch nicht zu verwechseln mit seinem Bruder Alexander auf Bresilgen, der dann erster Direktor des Vereins wurde: Kurland und seine Ritterschaft, S. 177; SeebergElverfeldt, Genealogie Lambsdorff, ?. 147.

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sie als viele anzusehen, sie statt dessen als Ausdruck einer umfassenden Bemächtigung verstand.412 Darin war er ein Vertreter des integrierenden Ancien Régime, im Unterschied zu dem Verwaltungsbeamten Hahn, dem Landespolitiker Fircks, auch zu seinem Nachfolger im Amt des Landesbevollmächtigten Dietrich Carl v. Grotthuß-Weggen, der die Führung der Banksache vorderhand Lambsdorff überließ, generell stärker als Moderator auftrat. Medem, mag er nun dem Diskurs des Patriotismus oder der Praxis der Bereicherung nähergestanden haben, scheiterte nicht zum wenigsten an einer disfunktional gewordenen Ineinssetzung, die persönliche Ehre und Landeswürde, die vielfältigen Geschäftsbereiche und Funktionen nicht trennte Innen und Außen des Integrals dafür um so schärfer. Unter anderem deshalb erblickte er in einer Zusammenarbeit von Committee und Regierung unzulässige Einmischung, in einem Reichsbankdarlehen eine Gefährdung der Privilegien,413 in den politischen Gegenvorstellungen eines Friedrich v. Fircks Insubordination und stand am Ende ebenso angreifbar wie hoffnungslos verzettelt da. Zunächst freilich stieß auch Lambsdorff auf Hindernisse.414 Mochten Modifikationen in Einzelheiten des neuen Reglements noch aushandelbar sein, so stellten sich bei aller Abschlussbereitschaft die Vorstellungen der Ritterschaft und des Finanzministeriums über den Zinssatz eines Reichsbankkredits als unvereinbar heraus, zumal nach einem allgemeinen Anziehen der Sätze infolge des russisch-türkischen Kriegs 1828/29. Mit Unterstützung des mittlerweile aus dem Dienst geschiedenen Paulucci ließ sich zwar 1830 eine Bestätigung des Reglements erreichen, doch ohne Finanzierung.415 Es folgten Verhandlungen um einen Privatkredit in Riga, nach deren Fehlschlagen ein abermaliger Versuch bei der Krone, zu dem das Mitglied des mittlerweile bestellten Direktoriums Carl v. Vietinghoff-Lambertshof bestimmt wurde, begleitet vom Landesbevollmächtigten und dem neuen Generalgouverneur Carl Magnus v. d. Pahlen, die über Immediatzugänge verfügten.416 Das Ereig-

näckig weigerte,

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-

412 413 414

Vgl. die Ausführungen zu seinem Amtsverständnis als Landesbevollmächtigter, prod, in der Landbotenstube 20.12.1822: LVVA 640/4/114, pp. 230ff. So dann auch wieder eine mit Petersburg hadernde Historiographie um 1900: Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 24. Das Folgende nach LTA 1832, Relation der Committee, §45, S. 29ff; vgl. a. Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 24f, 33ff ; Korrespondenz Lambsdorffs wie

Anm. 409. 415 Befehl Sr. Kaiserl. te

1830;

erstes

Majestät usw., publ. Mitau 31.3.1830: Kurl. Gvts.Reg./Patendahingehendes Angebot Finanzminister Cancrins: Mitteilung Pau-

luccis an Grotthuß 23.9.1829, LVVA640/3/172, p. 3. 416 LTA 1832, Relation der Committee, §45, S. 31.

401

Reformen

nis, das die Reise überraschend vereitelte, gab dann der ganzen Angele-

genheit eine Wendung, die es später der historiographischen Rückschau erlaubte, Medems Beharrlichkeit unter den früheren, unzuträglichen Bedingungen zu rechtfertigen:417 Im November 1830 revoltierte in Polen

und Litauen der Adel gegen die russische Herrschaft. Die kurländische Ritterschaft bekundete ostentativ ihre Loyalität zum Reich.418 Wiewohl das um so leichter fiel, als in der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung die Interessen der provinzialen und der imperialen Elite konvergierten, honorierte Nikolaj den Treuebeweis als Beleg, dass wenigstens dieses vormalige Glied der Rzeczpospolita in Russland angekommen war, und stellte nach der Niederschlagung 1832 das Kronsgut Rothhof419 sowie ein sonderkonditioniertes Reichsleihbankdarlehen von 500000 Rbl.B.A. für ein provinziales Kreditsystem zur Verfügung.420 Damit nahm der Kurländische Adelige Credit-Verein eine Form an, die im wesentlichen der anfangs erstrebten entsprach eine Volte, die gesteigerter Kontingenz an der Schnittstelle von Strukturprozessen entsprang, hier sozialer und funktionaler Differenzierung, wachsender Identifikation mit dem Imperium, dessen Integrationsproblemen andernorts, namentlich angesichts nationalisierbarer Konflikte. Sie wirkten dergestalt ineinander, dass eine dem eigentlichen Vorgang exogene, dem System, das die ihn konstituierenden Bedingungen setzte, jedoch endogene Verschiebung das verführerisch notwendig anmutende Ergebnis einer mehrfach gebrochenen Ereignisfolge definierte. Kommt man abschließend doch noch einmal auf Peter Herdes und mit ihm Wolfgang Neugebauers in der Einleitung zitiertes Zugangskriterium zur Modemisierungsgeschichte zurück, ob die Stände „neue Formen des politischen Lebens und neue Institutionen zu schaffen vermochten, sich von der bloßen Abwehrhaltung zur positiven Mitwirkung bei der Entstehung neuer Verfassungsformen erhoben und damit einen Anteil an -

417 Wie Anm. 354. 418 LTA 1832, Relation der Committee, §§60ff. 419 Arrendefrei auf 50 Jahre: Zirkularschreiben der Committee an die Kirchspiele o.D.4.1832, Kurl. Gvts.Reg./Patente 1832; vgl. a. LTA 1832, Relation der Committee, §45, S. 31; Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 37. 420 Befehl NikolajsI. anCancrin 3.6.1832,LVVA640/3/172,p. 8;Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 39. Das lag deutlich unter den ursprünglich erbetenen vier, später drei Millionen Rbl.B.A., reichte als Gründungskapital aber offensichtlich hin. Die endgültige Fundierung erfolgte dann wenige Jahre später, indem die Pfandbriefe von fünf auf vier Prozent herabgesetzt wurden und die folgenden Kündigungen mit Hilfe des Berliner Bankhauses Mendelssohn aufgefangen, spezielle Neuemissionen international plaziert werden konnten: Neumann, Rückblicke, S. 512; Creutzburg, Agrarverhältnisse, ?. 49.

402

Imperialisierung

Entwicklung des modernen Verfassungsstaates beanspruchen können",421 erweist sich am Kreditverein der blinde Fleck dieser politikbeziehungsweise verfassungsgeschichtlichen Engführung.422 Die ständischen Einrichtungen konnten einen Gestaltwandel vollziehen, den man der Ahnherrenschaft des „modernen Verfassungsstaats" zuschlagen mag oder nicht, sie konnten aber gemäß ihrem obrigkeitlich-gesellschaftlichen Zwittertum auch in der anderen Richtung fortwirken, auf das hin, was zuletzt unter dem Etikett „Zivilgesellschaft" Aufmerk-

der

samkeit erfahren hat. Der Kreditverein bediente sich zahlreicher aus der Landschaftspraxis vertrauter Entscheidungs- und Mitsprachemodi, Taxationsmechanismen und Verfahrensroutinen.423 Indem der Adel die ständische Erfahrung in eine privat-assoziative Körperschaft eintrug, zur gesellschaftlichen Selbstorganisation nutzte, um den Herausforderungen seiner Zeit zu begegnen, schuf er ein funktionierendes, bald allgemein akzeptiertes Instrument, das die weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung nachhaltig beeinflusste. Die für beide Seiten sicheren, deshalb niedrigzinsigen Pfandscheine international handelbare Rentenpapiere stabilisierten den Finanzmarkt und brachten die Konkursdynamik zum Erliegen.424 Mit dem Wiederanziehen der Agrarkonjunktur in den 1830ern erlaubten die günstigen, risikoarmen Kredite den Gutsbesitzern dann Investitionen in den Übergang von der Fron- zur Geldpacht, agrotechnische Innovation, die Diversifizierung der Produktion. Parallel dazu setzte sich die Stratifizierung der Bauernschaften in Gesindepächter und landlose Knechte fort, und als 1863/64 den vormaligen Untertanen der Erwerb der Gesinde zu Eigentum kon-

-

Einleitung, S. 19, Anm. 26: nach Neugebauer, Politischer Wandel, S. 6; ders, Standschaft, S. 13. Das Potential einer sozialgeschichtlichen Überprüfung hat schon Neugebauer gegen Herde demonstriert, wenn auch weiterhin in politik-/partizipationsgeschichtlicher Absicht: Neugebauer, Standschaft, S. 14ff. Die innere Verfassung des Vereins war der erneuerten Landtagsordnung nachgebildet, mit Bezirks- und Kreisversammlungen, dreijährlichen Deputiertenkonventen zu zwei Terminen bzw. Generalkonventen analog der Landes Versammlung/ Konferenz, einem der Committee korrespondierenden Direktorium sowie einem Kontrollausschuss, der einem etwa gleichzeitig eingerichteten Landtagsorgan (LTA 1836, Correlation der Geschäftsführung usf., S. 3f.) entsprach. Vgl. die Zusammenfassung des Statuts bei Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 26ff ; Entwurfsvarianten und Akten: LNB Rx 100/2/39ff; Versammlungsprotokoll nach Muster der Landtagsdiarien: ebd./44( 1830); Rückgriffe auf den institutionellen und Erfahrungsbestand schon in der Vorbereitungsphase: LVVA 7363/3/394, v.a. pp. 30ff. Vgl. auch den Reglementsentwurf von 1822, ebd., pp. 59ff. Was zunächst einmal die Abwicklung der aufgestauten Versteigerungen bedeutete: Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 136; vgl. a. Anh. 4.

421 Wie 422

423

424

403

Reformen

zediert wurde,425 öffnete der Adel den Kreditverein und ermöglichte so innerhalb von 20 Jahren den Abkauf von drei Vierteln der Höfe, bis 1910 von 99 Prozent.426 Neuerlich spielten neben der Hoffnung auf gesellschaftliche Stabilisierung und genuiner Wertorientierung materielle Interessen ihre Rolle: Die Gutsbesitzer hatten angesichts eines Kapitalisierungs- und Monetarisierungsschubs, des Vordringens landwirtschaftlicher Maschinen sowie der sich entwickelnden Milchwirtschaft und Lohnarbeit dringenden Bedarf an frischem Geld auf den Eigenwirtschaften.427 Unter ökonomischen Gesichtspunkten lässt sich durchaus von einer Erfolgsgeschichte sprechen, die zudem die Interessen der Gutsbesitzer mit denen der großbäuerlichen „Grauen Barone" verkoppelte.428 Doch wurde gleichzeitig den Statuten des Vereins eine Klausel zugefügt, die die Mitbestimmung an einen faktisch nur von den Gütern zu erreichenden Mindestkredit band, so das ständische Exklusionsmuster fortbildete. Mittelfristig förderte das die Ummünzung uneindeutiger wirtschaftlicher Konkurrenz-Kooperations-Situationen in griffige national-soziale Gegensätze,429 an deren Ende die Revolution stand.430 Inwieweit diese Konfliktverhärtung der sozialen Mobilisierung unter ständisch-polyethnischen Vorzeichen inhärent war oder die Entwicklung offen, wann Türen sich schlössen, wäre eine Frage an die Alltags- und Mikrogeschichte, die hier nicht zu klären ist.431 Zunächst trug der Kreditverein erheblich zur Konsolidierung des Corps und zur Kanalisierung der wirtschaftlichen Dynamik bei, damit zur Absicherung eines Prozesses, dem nicht zuletzt die Gründungsge-

„Agrarregeln" von 1863/64 vgl. Creutzburg, Agrarverhältnisse, ?. 61 ff; Hollmann, Agrarverhältnisse, S. 35ff.; Zusammenfassung: Wittram, Baltische Geschichte, S. 165. Sie brachten außerdem ein Verbot der-ohnehin selten gewor-

425 Zu den

Fronpacht, erschwerten das Einziehen von Höfen und machten langfristige Pachtverträge verbindlich. 426 Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 63; rund die Hälfte des Privatlandes insgesamt: wie Anm. 223; auch Pistohlkors, Reformpolitik, ?. 25. 427 Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 64; Creutzburg, Agrarverhältnisse, ?. 55, denen

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72 ff. 428 Gemeinsame Interessen führten denn auch zu Kooperationen, doch ist der Gegenstand von der Forschung weitgehend vernachlässigt; für Livland: Engelhardt/ Neuschäffer, Livländische Sozietät; für Estland: Rosenberg, Ausstellungen; vgl. a. Jansson, Agrargesellschaftlicher Wandel, ?. 54; Kahk, Agrarreformen, S. 553. 429 Lettisch-bäuerliche Gegengründungen: Manteuffel-Szoege, Agrarkredit, S. 70ff. 430 Differenzierte Darstellung der hier stark verknappten Zusammenhänge: Benz, Revolution. 431 Vgl. aber Pistohlkors. Reformpolitik, für eine skeptische Analyse der politischen Mentalitäten; auch Mesenhöller, Entwicklungspotentiale; vgl. a. unten, S. 464ff. Differenzierte Erörterung für Riga: Hirschhausen, Grenzen der Gemeinsamkeit.

404

Imperialisierung

schichte der Institution selbst angehört: der Integration der landschaftlichen Elite in das Imperium. Sie wurde flankiert von einer das Reich mitdenkenden Selbst-

deutung.

7

„Obenbleiben"

Beim Adel und allen Volksklassen habe er eine große Liebe zur Monarchin gefunden, berichtete 1795 ein Entsandter Katharinas II. aus dem annektierten Kurland: Es bestehe Anlass zu der Hoffnung, dass die Provinz künftig zu den treuesten des Reiches zählen werde.1 Eine Generation später, während des Novemberaufstands 1830/31, erfüllten die Kurländer diese Hoffnung nach Kräften. Als russische Offiziere dienten sie in den Verbänden, die die Insurrektion in Polen niederschlugen,2 als Landespolitiker und -beamte organisierten sie die Miliz und Sicherung des Gouvernements,3 kooperierten eng mit den Behörden bei Versorgung und Geleit der durchmarschierenden Truppen, der Adel als Corps erklärte sich unverbrüchlich loyal.4 Im Gegensatz zu den polnischen Eliten gingen die kurländischen ohne jede Ambivalenz auf das Angebot ein, das Russland ihnen machte. Mit dem ehemaligen Suzerän verband sie vordergründig nichts mehr. Angesichts der beträchtlichen Zumutungen und Verwerfungen, die die Durchsetzung der neuen Ordnung gebracht hatte, möchte man das für weniger selbstverständlich halten, als es sich im Rückblick darstellt. Die schon sprichwörtliche Loyalität der „Balten" zum russischen Thron scheint bisweilen eine allzu fraglos vorausgesetzte Größe des 19. Jahrhunderts. Sie war allerdings strukturgeschichtlich wahrscheinlich. Das Zarenreich übte eine weitgehende Zurückhaltung gegenüber vorgefundenen kulturellen Verhältnissen und sozialen Hierarchien, wenn es auch im eigenen Interesse lokale Blockaden brach. Doch endete 1795/97 die Sorge vor einer Zerschlagung der Landschaft in oberherrschaftliche Pfründen. Statt dessen ergänzte sich die rasche und enorme Expansion Russlands mit einer Intensivierung des Staatshandelns zu beträchtlichem Personalbedarf,5 und was als Extraktion und Penetration drückend wirkte, schuf zugleich Aufgaben und Auskommen für die Ambitionierten und -

1 N.N. o.D.[1795], LVVA640/3/643, p.23. 2 Gefallenenangaben GenHB, Bd. 1, S. 31, 528, 620, 625; vgl. a. Seeberg-Elverfeldt, Genealogie Lambsdorff, S. 149; Thaden, Borderlands, S. 235. 3 LTA 1832, Relation der Committee, § 62. 4 LTA 1832, Relation der Committee, §§60ff.; Bitte einiger über die Grenze in Litauen angesessener Indigener um Anschluss ihres Gebietes an Kurland: ebd., §67; vgl. a. den Gnadenbrief Nikolajs I.: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 10.3.1832 [verdruckt 1829] (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1832). 5 Allein die Zivilbeamtenschaft des Reichs wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vervierfacht: Wortman, Scenarios, Bd. 1, S. 322; vgl. aber auch die Relativierung bei Dixon, Modernisation, S. 133.

406

Imperialisierung

Deklassierten. Mit der Rangtabelle bot das Imperium zudem ein aristokratisch-meritokratisches Mischsystem, in dessen Rahmen sich etablierte Statusansprüche und Aufstiegsverlangen ausgleichen ließen, und anders als die Rzeczpospolita6 kannte es keine ausgeprägte Exklusion oder von Staatsämtern nach konfessionellen Kriterien. Das Russische eben „Russländische"7 Reich gab sich kulturell duldsam. Die kurländischen Eliten, sprachlich im eigenen Territorium, konfessionell in der weiteren Nachbarschaft eine Minderheit, musste das ansprechen. Es ergab sich, stark vereinfacht, eine selbstverstärkende Wechselwirkung: Während die Kurländer erfuhren, dass Loyalität mit Chancenvielfalt belohnt wurde, spielten polnische Eliten wiederholt die nationale Karte, so dass Deutschbalten im Verhältnis desto bessere Chancen fanden, die sie um so treuer sein ließen, in der Folge besser zum Zuge kommen.8 Hatten sich bereits seit dem späten 18. Jahrhundert Kurländer und Polen und Litauer situationsweise verschieden ausgerichtet, verfestigte sich nun ein Muster. Der polnische Adel wählte wiederholt eine nationalisierende, gegenimperiale Strategie als zweckmäßig im Sinne von Statuserhalt beziehungsweise Statustransformation, dem kurländisch-deutschbaltischen musste im selben Interesse die ständisch-russische Imperialisierung vorteilhaft erscheinen wenn nicht angesichts der Gemengelage (potentieller) Nationen in der Großregion als der einzig gangbare Weg in die Zukunft.9 Denn dass man sich auf einem Weg befinde, das Paradigma der historischen Entwicklung, wurde nach 1800 unter den Indigenen Gemeingut: -

-

-

6 Trotz etlicher Ausnahmen, vor allem dem Militärdienst, stand diese Zurücksetzung einer stärkeren Integration der Landschaft in die Rzeczpospolita entschieden im Weg: Heyking, Letzte Tage, ?. 88f., 135, 138; Heyking selbst diente dennoch ausgerechnet der Konföderation von Bar/Teschen, aber eben deklariert als militärischer Charakter: ebd.. S. 138ff; Scheitern des Projekts zu einer „kurländischen Garde": ebd., S. 183ff. 7 Vgl. jedoch die Bestimmung von „rossijskij" vs. „russkij" nicht als anational vs. ethnisch-national, sondern als „two rival national identities" bei Dixon, Modernisation, S. 160; ähnlich Wortman, Scenarios, Bd. 1, S. 135 ff, zur bewussten Darstellung imperialer Macht als weit ausgespannter Herrschaft über heterogene Völkerschaften, die das großrussische Element durchaus akzentuierte. Etymologie: Torke, Einführung, S. 11 f. Gespanntes Verhältnis von orthodoxer Kirche und Staat in Russland aufgrund dessen konfessioneller Zurückhaltung: Dixon, Modernisation, S. 209 ff. 8 Vgl. Rappeler, Vielvölkerreich, S. 97, 115; „special relationship" der Ostseeprovinzen zum Thron: Thaden, Borderlands, ?. 25ff., 98f.; Verabsolutierung der Kaisertreue im „nationalen" Tugendkatalog der deutschsprachigen Eliten: Wittram, Ständisches Gefüge, S. 152. 9 Zur kurzlebigen Nationalisierungsdebatte s. u., S. 452ff.

407

„Obenbleiben"

dass sich nicht alles, aber vieles ändern musste, sollte die soziale Dominanz des Adels erhalten bleiben. Das abschließende Kapitel widmet sich diesem Einklinken des Indigenatsadels in die Große Erzählung der Moderne und seinen gesellschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen.

7.1

Adligkeit(en) um

Neue

1830

Optionen

Katharinas Berichterstatter schloss 1795 seine günstige Prognose, außer von Treue sei allenthalben vom Getreideausfuhrverbot die Rede. Man möge das doch heben; wenn er nur wieder exportieren dürfe, wolle der Adel zu einem vernünftigen Preis gern vorab liefern, was den Militärmagazinen erforderlich sei.10 Das bezeichnet den Kern des Arrangements: Loyalität und Erfüllung der russischen Staatsinteressen gegen konditionierte Mitsprache und Berücksichtigung der Anliegen des landsässigen Adels. Was unter dem Stichwort „Reformen" erörtert wurde, lässt sich im wesentlichen als Ausfaltung dieses Satzes verstehen. Doch während die Institutionen allmählich ihre Balance fanden und der politische Betrieb zu funktionieren begann, der Kreditverein den restlichen Landbesitz stabilisierte, hätte beides allein kaum hingereicht, den Stand und seine Position zu konsolidieren, die erfolgreiche Integration der neuen Provinz zu gewährleisten. Die gegenseitige Förderung von imperialer Einordnung und landschaftlicher Neuordnung ging erheblich weiter. Darüber kam es zu einer, wenngleich die Formulierung so schief wie überstrapaziert ist, „Neuerfindung" des Adels. Besser: Es bildete sich eine pluralisierte Vorstellung von Adligkeit aus, die den Differenzierungsvorgang begleitete und die Entwicklung, die den inneren Zusammenhang der Korporation zu lösen drohte, zum Vorteil wandte. Gerade ihre soziale Inhomogenität ermöglichte es den Indigenen, die Chancenvielfalt, die das Russische Reich bot, in vollem Umfang zu nutzen und auf dem Weg wiederum die Chancen vieler zu sichern oder zu mehren. Die Aneignung dieser Logik sowie die Prämien, die sie für einzelne wie für den Stand abwarf, milderten schließlich die internen Spannungen, ließen einen ausgeprägten Corpsgeist entstehen und regenerierten so die Voraussetzungen des Arrangements selbst. Gegen das spätere Bild vom „Stilleben" und „provinziellen Biedermeier" als einer Periode ländlich-behäbiger Genügsamkeit zwischen etwa 1820 und 1840 ist deshalb richtig eingewandt worden, dass es sich um eine frikti-

-

10 N.N. o.D.[1795], LVVA640/3/643,

pp.23f.

408

Imperialisierung

onsreiche Phase des massiven Positionsausbaus der ostseeprovinzialen Ritterschaften handelte." John Armstrong hat das Konzept der „mobilen Diasporagruppe (mobilized diaspora)" vorgeschlagen, um entsprechende Interaktionen zwischen dominanten und minoritären Eliten zu analysieren, und es am Fall der Deutschbalten im Zarenreich des 19. Jahrhunderts thesenhaft ausgeführt.12 Trotz einiger Unscharfen und angreifbarer Interpretationen, vor allem der fragwürdigen Annahme einer deutschen „Ethnie" in Russland,13 der die Deutschbalten und insbesondere der baltische Adel als „high-status reference group" gedient hätten,14 bieten seine Überlegungen pointierte Einsichten in die Mechanismen, mittels derer impériale Integration und Statuserhalt beziehungsweise die Vermehrung von Statuschancen für alle Beteiligten gelingen konnten. Sie bilden den Ausgangspunkt für das Folgende. Zunächst gewann die klientelpolitische Position des Verbandes dadurch, dass die Gewinner der ökonomischen Differenzierung einerseits 11

Whelan, Adapting to Modernity, S. 65ff, in Anlehnung v.a. an PistohlReformpolitik; dort, S. 19, Anm., auch zur Geschichte des Ausdrucks; vgl. a. ders., Argumentationen, S. 241 ff., mit Betonung des agrarsozialen Wandels. Armstrong, Mobilized Diaspora. Vgl. a. Rappeler, Vielvölkerreich, S. 67ff, 108 ff., zu Livland und Estland bzw. zur „interethnischen Arbeitsteilung" allgemein; Bezugnahme auf Armstrong: ebd., S. 117f. Kappelers Arbeit ist hier hilfreich, insofern sie einen Überblick aus der umgekehrten Perspektive bietet, der des Imperiums, oder: nach dem Funktionieren des Reichs für sich, nicht für eine Gruppe fragt. Seine Qualifizierung Russlands als „vormodern", die im wesentlichen den Argumentationslinien klassischer Modernisierungstheorie folgt (v. a. ebd., S. 262ff.), sei dahingestellt. Armstrongs Ethnos-Begriff ist der zentrale Schwachpunkt des Konzepts und liegt auch der unglücklichen Begriffsbildung selbst zugrunde, die unter eine analytische Kategorie zwingt, was sich dort schwer verträgt. Entsprechend konstruiert wirkt seine Unterscheidung der „Deutschen" als „situational mobilized diaspora" von der „achetypical diaspora" etwa „der" Juden und Perser: Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 71 f. -Auch die Streckung von Hans Rothfels', Reich, Staat und Nation, Erörterung des aristokratisch-reichspatriotischen Ressentiments gegen den Nationalismus zu der Annahme, Russland habe nicht zuletzt mittels des doppelköpfigen Adlers von vornherein eine „nostalgia for a great ecumenical empire" befriedigen können, die der Erinnerung an das Deutsch-Römische Reich entsprungen sei (Armstrong, a. a. O., S. 82), ist kaum haltbar. Allerdings übt die Idee, mit einer undifferenziert aufgefassten „Reichs"-Vergangenheit und -Memoria den Generalschlüssel für sämtliche Haupt- und Nebengelasse „deutscher" Geschichte aufgestöbert zu haben, einen unausrodbaren Reiz; vgl. Winklers, Der lange Weg, Bd. 1, S. 5, Versuch, sich damit als vierter Evangelist neben Johannes, Nipperdey und Wehler zu Zuletzt kors,

12

13

etablieren. 14

Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 65.

409

„Obenbleiben"

ihre Verbindungen zu den Spitzen der Reichsaristokratie und bei Hof halten oder ausbauen konnten, sich andererseits bald nach der Einverleibung Kurlands ganz auf Petersburg ausrichteten. Die Lieven,15 Lambsdorff,16 Keyserling,17 Sacken,18 Korff,19 auch Medem20 und andere wandelten sich von nordmitteleuropäischen Adelsfamilien zu kontinental vernetzten Mitgliedern der russischen Elite.21 Sie verfügten über die Mittel, in dieser Gesellschaft zu bestehen, und offensichtlich kompensierten der Glanz und die Macht Russlands, genau zu sein: Petersburgs den Verlust der Freiheitsgrade infolge der Festlegung auf einen Hof.22 „Aristokraten" nach Besitz, Bildung und Orientierung, hielten sie sich regelmäßig in der Residenz auf und agierten dort als Patrone landschaftlicher Angelegenheiten wie der Privatanliegen Dritter.23 Das musste sich erst einspielen, wie das Scheitern Karl v. Medems zeigt, doch gewannen die Einwirkungsversuche an Effizienz, je mehr sich Kurländer allgemein im Staatsdienst bewährten. Ihre Zahl und Kenntlichkeit bildeten gleichsam den Resonanzboden, auf dem die Stimmen der mit Konnexionen und Immediatzugängen ausgestatteten Fürsprecher des Landes und Einzelner durchdringen konnten. Als Voraussetzung und Ergebnis 15

16 17 18 19 20

DBBL, S. 453 f.; der Zweig, dem die Staatsdame, spätere Fürstin Lieven qua Heirat angehörte, war ursprünglich livländisch, wie auch die Wahlkurländer v. d. Pahlen (DBBL, S. 571, 574): Die Ausbildung dieser Schicht in Petersburg anschlussfähi-

ger Indigener hatte mehrere Dimensionen. Möglicher Einfluss Charlotte v. Lievens auf Paul I. bei der Aufhebung der Statthalterschaftverfassung: Dunsdorfs, Latvijas vesture 1710-1800, S. 266. Seeberg-Elverfeldt, Genealogie Lambsdorff, S. 142f, 145f, 148f Taube, Baltischer Adel, S. 42 ff. Wätjen, Geschichte Osten-Sacken, S. 53, 57, 86f, passim. DBBL, S. 402ff. LVVA 640/2/158, pp.6ff. Ungeachtet alles Gewesenen setzte sich nicht zuletzt Dorothea Biron, geb. Medem, verschiedentlich für die Provinz ein, so wegen der Donation von Irmlau und Grendsen als Ritterschaftsgüter aber auch in Fortsetzung des alten Haders, nämlich zur Abwendung von Forderungen der Delegierten um Howen an das Land: LTA 1808, Relation der Committee, §§59, 62 (LVVA 640/4/105, pp. 10f, 12). 1823 beschloss der Landtag, sie mit einem Denkmal zu ehren: LTS 28.3.1823, §56. Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 87 f.; vgl. a. ebd., S. 71, 74, zur Wahl elitärer russischer Ausbildungsstätten, des Lyzeums in Carskoe Selo, später auch der Kaiserlichen Rechtsschule (Imperatorskoe Ucilisce Pravovedenija) in St. Petersburg. Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 91: Im Umgang mit ihren v.a. preußischen (Namens-) Vettern begannen die Aristokraten „to take a patronizing attitude toward [Germany's] feeble polities in comparison with their own magnificent opportunities in the powerful Russian ecumenic polity." Vgl. a. unten, Anm. 69. Vgl. oben, S. 264,266ff; zur Dienstpatronage auch Dixon, Modernisation, S. 98ff, 132 ff. -

21

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23

410

Imperialisierung

zugleich veränderten sich Lebensführung und Statusrepräsentation, Erwerbswege und Selbstverständnisse. Da die militärischen Dienstgrade der Indigenen recht kontinuierlich überliefert sind, lassen sich zunächst die Entwicklungen in diesem Bereich anhand des Samples quantifizieren und Verhaltensänderungen über eine längere Frist beschreiben. Wenig überraschend ergibt sich als erstes, dass das Soldatentum durchgängig eine biographische Option war, auf Zeit24 oder Dauer. Die Quote militärischer Chargen stieg von 47% unter den zwischen 1700 und 1726 Geborenen auf 60% der Jahrgänge 1726-1750, um in den folgenden Kohorten über 44% auf 41 % beziehungsweise 40% (Jahrgänge 1801-1825) zurückzugehen.25 Angesichts der eingeschränkten Möglichkeiten im Herzogtum dienten die Indigenen ganz überwiegend in den Heeren der umliegenden Staaten, dem preußischen, polnischen, sächsischen und russischen, vereinzelt auch in anderen.26 Dabei lag unter den Militärs aller Dienstgrade der Anteil Erstgeborener aus den Jahrgängen 1701-1725 nahe ihrer prozentualen Stärke in der gesamten Kohorte, eher leicht darüber. In der folgenden Kohorte gilt das nur noch für die Ränge vom Kapitän aufwärts, während sich auf den unteren Stufen die Relationen zugunsten der Nachgeborenen verschieben. Da die Plazierung bei einem Regiment zunächst einmal Geld kostete,27 erhielten mit dem Anziehen der Agrarkonjunktur mehr Söhne die Chance herauszukommen, einen Rang zu erwerben, nach Umständen eine Militärkarriere zu machen. Über letzteres entschieden dann Veranlagung und Neigung, natürlich das Vorhandensein von auskömmlichen Alternativen: Mit steigendem Dienstgrad gleicht sich das Verhältnis wieder der Verteilung von Erst- und Nachgeborenen überhaupt an, unter den Lauf-

bahnsoldaten zwischen 34 % und 42 % aller Dienenden28 sind die jüngeren Söhne überproportional vertreten. Leicht modifiziert lässt sich dieses Muster auch noch unter den Geburtsjahrgängen 1751-1775 beobachten. Der Militärdienst war eine standesgemäße Form, Weltkenntnis -

24 25

26 27 28

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Häufig in Kombination mit anderen Ausbildungselementen, vgl. oben, S. 160ff; LVVA 5759/2/610, p. 1 ; Heyking, Letzte Tage, S. 82. Anh. 10, Tab. 2; dort auch die folgenden Zahlen. Dass allerdings Adligkeit grundsätzlich einen Militärdienst implizierte, wie Whelan, Adapting to Modernity, S. 156, meint, trifft für Kurland nicht zu. Vgl. a. Heyking, Letzte Tage, ?. 192, zum „malerischen Bild" der verschiedenen europäischen Uniformen in Mitau. George Friedrich v. Manteuffel an seinen Vater 21.3.1751, LVVA 1100/9/21, p. 10; Briefe desselben an den Bruder, ebd./18, pp. 16, 18f. Hier: Majore und höher. Das Kriterium ist aus den deutlicher sichtbaren Biographien abgeleitet; im Einzelfall mag es unzutreffend sein, doch geht es abermals um Tendenzen.

411

„Obenbleiben"

erwerben im Zweifel bis der Tod des Vaters ein Gut freimachte29 -, der nichterbende Söhne und Neigungssoldaten dann einen Beruf machen mochten. Je mehr sich freilich die Offizierscorps professionalisierten30 und auf unvertauschbare Loyalitäten eingeschworen wurden,31 das chevalereske Element verschwand, desto häufiger kam es zum Konflikt dieser Konzepte. 1786 wandte sich eine Zahl in preußischen Diensten stehender Kurländer an die Oberräte, sie möchten doch das leichtherzige Quittieren und Desertieren ihrer Standesgenossen unterbinden, da es die ganze Landsmannschaft in Verruf bringe und die Einstellungen erschwere.32 Friedrich II. habe bereits vereinzelt Ordre gegeben, keine Kurländer mehr anzunehmen: „Ihre Landsleute glauben, daß meine Armee ein Tauben-Haus sey."33 Die rückläufige Dienstbereitschaft dürfte nicht zuletzt mit dieser Militarisierung des Militärs zusammenhängen. Im Siebenjährigen und endgültig in den Napoleonischen Kriegen verloren Krieg und Soldatsein jeden simulativen Anstrich und wurden Schlachtfolgen, blutig ernst gemeintes „Kriegertum".34 Wie sehr Revolution und Invasion die Indigenen auch zur Parteinahme trieben, die Offiziersquote erreichte nie wieder die 60 % vom Vorabend der Sieben Jahre. Da ein frühes Eintreten in Kadettenanstalten unter dem kurländischen Adel die Ausnahme blieb,35 setzte der Drill (zu) spät ein, griff vor allem die zu

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aus

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29 Oder dieser den Sohn vorsorgend zurückbeorderte: Geschichte Katzdangens, LVVA 1100/9/76, p. 30. 30 Vgl. Reinhard, Staatsgewalt, S. 356. 31 Darin konvergierten Fürsteninteresse und der moralische Impuls des Aufklärungszeitalters. „Man muß Soldat sein, für sein Land; oder aus Liebe zu der Sache, für die gefochten wird. Ohne Absicht heute hier, morgen da dienen: heißt wie ein Fleischknecht reisen, mehr nicht", urteilte ein kurländisch-preußischer Major bereits 1763 wenn auch ein fiktiver: Lessing, „Minna von Barnhelm", III, 7. 32 Schreiben derer im Königreich Preußen sich befindenden Herren Kurländischen von Adel, an die Herren Ober-Räthe in Kurland, Königsberg 15.4.1786: LVVA 5759/2/610, pp. 1 f. 33 Schreiben..., LVVA5759/2/610, p. 1. 34 Zumal Friedrich II. ging vom Stellungs- und Marschierkrieg zur verlustbereiten Strategie der Schlacht coûte que coûte über, bei der Drill, (verbessertes) Steinschlossgewehr, Bajonett und beweglichere Artillerie zu Siegen (!) mit Verlustquoten bis 40% führten: Reinhard, Staatsgewalt, S. 355 ff; vgl. a. Kunisch, Friedrich, S. 368, 392, 434f „Crudely, Europeans became much better at killing people": Bayly, Birth of the Modern World, S. 62; vgl. a. ebd., S. 126. 35 Noch um 1830 erwirkte die Committee eine Sonderregel, dass Kurländer direkt bei den Regimentern eingestellt werden durften: LTA 1832, Relation der Committee, §63; statt Förderung entsprechender Anstalten lediglich der Lehrplan des Gymnasiums in Mitau modifiziert: ebd.; LTS 18.3.1808, §57 (LVVA 640/4/103, p. 57). -

412

Imperialisierung

Abrichtung zur Opferbereitschaft nicht recht. Vielmehr wirkte der säkulare Trend zur Hochschätzung des individuellen Selbst, zu Selbsterhalt voraussetzender Selbstrealisation, einhergehend mit einer gewissen Abnabelung von soldatischen wie solidaritätsverbürgenden Ehrbegriffen:

Diesen „Abschaum ausgearteter Menschen", heißt es in dem Schreiben an die Oberräte, schere es nicht einmal, wenn der eigene Name an den Galgen geschlagen und so „unser ganzer Adel der Gefahr einer Prostitution ausgesetzt" werde.36 Die Klage wurde im Land durchaus gehört und verstanden, insbesondere ihre materiellen Implikationen. Man beobachte nur „unsere Jugend", schrieb Dietrich Ernst v. Schoeppingk 1792, „und man wird bemerken, daß sie den Soldaten Stand nicht mehr als einen Ehren- sondern nur als einen höchst beschwerlichen Nahrangsstand betrachtet, den sie, auch bei der entferntesten Aussicht auf Versorgung, und oft ohne irgendeine Aussicht verläßt und zu ihrer eigenen und ihrer Familie Lasten, in ihr Vaterland zurückkehrt. [...] Diese Ausartung des Adelichen Standes können wir nicht unserer Jugend zur Last legen; wir Väter aber die wir ihre Phisische und Moralische Erziehung verfehlen müssen uns die bittersten Vorwürfe machen!" Statt in einem Geist der Ehre und Härte „erziehen wir sie artig und zierlich, aber zugleych weichlich und feyge".37 Der Lösungsvorschlag, einen „Ritterbund" zu gründen, mit regelmäßigen „Ritter-Spielen", die starke Züge des alten Gesellschaftsmilitärs in pseudomittelalterlichem Gewand trugen, gehört allerdings eher in den Kontext einer historisierenden Repräsentation von Adligkeit als unter die Antworten auf eine professionalisierte Welt der Kadettenanstalten und Kavallerieangriffe mit blankem Säbel38. Bei den zwischen 1775 und 1801 Geborenen verschoben sich dann die Verhältnisse im unteren Laufbahnbereich, wo die Zahl Erstgeborener wieder mit ihrem prozentualen Anteil von allen zusammenfiel, während es beim relativen Übergewicht der Jüngeren unter den Karrieremilitärs blieb.39 Die Mobilisierungsanstrengung der Napoleonischen Kriege wird sichtbar, aber auch Evasion40: Für diese Jahrgänge war der -

-

36 Schreiben... (wie Anm. 32), LVVA 5759/2/610, pp. 1 f. 37 „Ritterbund", LVVA 5759/2/610, pp.4ff, Zte. p.4. Der Text enthält keine Autorenangabe; ihn Schoeppingk zuzuschreiben folgt Napiersky /Recke, Schriftstellerund Gelehrtenlexikon, Bd. 4, S. 116. 38 Funktionsweise, technische und habituelle („Schneid") Ausbildungsvoraussetzungen: Engels, Kavallerie, ?. 291 f., 301, 307. 39 Anh. 10, Tab. 2. 40 Der Dienst blieb freiwillig; als Anreiz wurden raschere Beförderungen geboten, auch wo die Regimenter zunächst keine Vakanzen hatten: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 5.10.1806 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1806). Gewisse Verzerrungen, auch bezüglich der leicht rückläufigen Zahl militärischer Grade überhaupt

413

„Obenbleiben"

Kriegsdienst kein Ausbildungsbestandteil oder Karrierebeginn, sondern eine riskante Entscheidung, die sich in etwa über die Kohorte gleichverteilt. Parallel hörten die Dienstnahmen bei fremden Mächten endgültig auf- Russland beanspruchte seinen Adelsnachwuchs für sich,41 und der folgte oder blieb fern, diente aber jedenfalls nicht mehr auswärts. Revolutionsfeindschaft42 und Besetzung, staatliche Propaganda, materielle und symbolische Gratifikationen griffen ineinander bei der Herausbildung eines später überhöhten43, gleichwohl realiter zu beobachtenden Reichspatriotismus, der sich nach dem Sieg und dem Aufstieg Russlands zur europäischen Vormacht 1815 noch intensivierte. Aus den 1801 bis 1825 Geborenen sind wieder die ältesten Söhne zumal unter den Kapitänen überproportional vertreten44 und auf der höheren Ebene relativ unterrepräsentiert.45 Das heißt, wer konnte, erdiente sich einen ehrenvollen Rang und nahm dann seinen Abschied; wer musste, setzte die Dienstkarriere nach Möglichkeit fort unter den höheren Dienstgraden betrug der Anteil der Unbesitzlichen 81 %.46 Das alte Muster reetablierte sich im neuen Kontext, Dienst auf Zeit einerseits, konsequente Militärkarriere andererseits,47 doch von nun an in nur noch einer Armee und mit neuer ideologischer Aufladung.48 An die Stelle einer Wertschätzung des Soldatentums an sich als standesgemäß und ehrbringend war nach der spätaufklärerischen Zurückhaltung die „Untertanenpflicht" getreten,49 -

(s.o.), dürften sich allerdings aus den im Zeitvergleich überdurchschnittlichen Ver41

42 43

44 45 46 47 48

lusten gerade unter Laufbahnanfängern ergeben. Nicht anders als etwa Preußen: Strods, Kurljandskij Vopros, Bd. 2, S. 147; in einem charakteristischen Archaismus kommentierte noch Alexander II. das von Alexander v. Keyserling freilich umgehend zurückgewiesene Angebot eines preußischen Ministerpostens durch Bismarck: „Ce serait une félonie" (Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 87). Vgl. oben, S. 225 f., 238ff. Repräsentativ die Gedächtnisschrift Wrangells, Baltische Offiziere 1812; vgl. a. Wätjen, Geschichte Osten-Sacken, S. 53, dessen genealogisch brauchbare Arbeit ansonsten ein Kompendium bis ins Karikaturhafte stilisierter deutschbaltischer Geschichtsmythen bietet. Anh. 10, Tab. 1. Anh. 10, Tab. 2. Anh. 10, Tab. 2. Die allerdings mit zivilen Aufgaben changieren konnte. Mit spürbaren Auswirkungen auch auf die Reintegration des Corps selbst: „Unter der Kaiserlichen Regierung ging der Adel in die russischen Militairdienste und brachte aus denselben mit der Einheit der Disciplin und in dem Verkehr mit nur einer [Lintens Hervorhebung, M. M.] Nation auch mehr übereinstimmende Lebensanschauungen und Gefühle der in einer Armee gepflogenen Kameradschaft zurück": Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 146. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 148. -

-

49

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Imperialisierung

ein Code, der Einordnung und Submission als Sozialisationselemente aufwertete, das mühselige und gefahrvolle „Kriegshandwerk" unter den Glanz von Reich und Kaiser zu rücken vermochte. Die letzte hier aufgenommene Generation nutzte zur Distinktion bereits das Habitusmodell des „Schneids", militär-adlig kanalisierte „Tollkühnheit", eine Selbstwert- und Statusbestätigung, die sich nicht mehr in politischer Obstination ausdrückte, sondern darin, im Stehen reiten zu können „wie die Kosaken" und „Campagnen" „mitgemacht" zu haben.50 Diese Militarisierung des kurländischen Adels stützte nicht zuletzt die Position derjenigen, die auf die Armee angewiesen waren, um ein Auskommen zu finden: Der Anteil von vier Fünfteln Unbesitzlicher an den Laufbahnsoldaten illustriert die Ventilfunktion, die das Imperium für den Elitenüberschuss der Provinz gewann. Wie der allgemeine Eindruck der Unzuverlässigkeit eine oder zwei Generationen zuvor die Chancen der Kurländer in Preußen beschädigt hatte, profitierten sie nun vom Ruf kriegstüchtiger

Loyalität. Nichtsdestoweniger ging

während und nach der Differenzierungskrise der Anteil der höheren Militärs unter den Soldaten wie von allen im Vergleich zum 18. Jahrhundert leicht zurück. Mit der Zeit wurde auch der zivile Dienst verstärkt zu einer Alternative die militärischen Karrieren allein lassen den Beitrag, den die neue Herrschaft zur Entspannung der Verhältnisse leistete, nicht ermessen. Eine quantifizierende Aussage dazu ist zwar vorderhand nicht möglich; die verwendeten Quellen bieten zahlreiche Hinweise in dieser Richtung, geben aber keine serielle Auswertung her.51 Doch wird das Argument von der einschlägigen Literatur hinreichend gedeckt.52 Freilich steht es auch dort -

50 51

Erinnerungen pp. 180 ff. Vgl. Anh. 1,

von

Marie Baronin

Freytag Löringhoff,

LVVA

1100/9/71,

Vorbemerkung; auch die bei Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 97 f., Anm., angeführten Quellen folgen sämtlich bereits einer Vorauswahl, insofern sie nur Studenten oder Amtsträger enthalten, also keine Aussage über deren Anteil an

einer Referenzgruppe zulassen. 52 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, ?. 148; Amburger, Behördenorganisation, S. 517f; Kurland und seine Ritterschaft, ?. 44; Armstrong, Mobilized Diaspora, v.a. S. 76; Whelan, Adapting to Modernity, S. 156. Whelan geht zwar von einem relativen Rückgang der Zivilkarrieren aufgrund anziehender Qualifikationsanforderungen, insbesondere russischer Sprachkenntnisse, seit dem frühen 19. Jahrhundert aus (ebd. f.), doch kann das naturgemäß allenfalls für die beiden nördlichen, bereits im 18. Jahrhundert russischen Provinzen gelten. Zu deren Erfahrung mit dem chronisch unterpersonalisierten russischen Staat Bartlett, Nobility, S. 238.

.Obenbleiben'

415

Rand. Der Beruf eines Zollangestellten53, Wasserbaukommissars54, Archivars55 oder Translateurs56 hatte für die (nachträgliche) Selbstrepräsentation des Adels zu wenig Funktion, um analog den Rollen des am

Landwirts, Offiziers, Landes- oder hochrangigen Staatsbeamten,

aus-

nahmsweise auch des Gelehrten57, in die Tradition einzugehen. Die schied den niederen Zivilbediensteten weitgehend aus, wie sie auch die Tätigkeit der Landesbeamten als reinen Ehrendienst verstehen wollte: generell vom Überleben-Müssen ungern sprach. Zunächst gehörten der impériale Zivildienst, auch etliche Landesämter zu den Optionen, ein Einkommen jenseits von ererbtem Grund und Boden zu gewinnen, die dem einzelnen und damit dem Stand die Konsolidierung und Selbstbehauptung ermöglichten.58 Wie erwähnt, waren das Recht an den Richterstellen fortgeschrieben und der Justizapparat im Zuge der Emanzipation erweitert worden, und wenngleich der Wunsch der Ritterschaft, das Monopol auf sämtliche Positionen des höheren Dienstes auszudehnen, unerfüllt blieb,59 kamen Indigene auch dort zum Zug.60 Ähnlich verhielt es sich mit den Kronsarrenden: Dass das Verlangen nach einer Wiederherstellung des Exklusivzugangs abgeschlagen wurde,61 bedeutete eine Minderung, aber noch lange kein Versiegen dieser Quelle.62 In komprimierter Form lässt sich der Verbleib der Bankrotteurssöhne am Schicksal der Klopmanns demonstrieren.63 Von den acht Kindern aus Würzau gelang es Dietrich, ein Kronsgut zu erhalten und, da unverhei53 54 55 56 57

58

59 60 61 62 63

George Hermann v. d.

Howen: GenHB, Bd. 1, S. 317; Johann Otto v. HoyningenHuene: ebd., S. 596; Carl Frommhold v. Bistram: ebd., S. 523. Ernst Friedrich Jacob v. Fircks: GenHB, Bd. 1, S. 85. Christian August Eberhard v. Hahn: GenHB, Bd. 2, S. 852. Peter Heinrich v. Simolin: GenHB, Bd. 1, S. 186. Ein erster, noch privater Gelehrter, mit dem man sich schmückte, war „Herr v. Grotthus auf Jedduz, oft als Authorität in den Annalen der Chimie citirt": Linten an Zivilgouverneur v. Stanecke 14.6.1821 (Konzept), LVVA 640/3/649, p. 16. In diesem Anliegen konvergieren Friedrich v. Fircks' Ordo-Utopie (oben, S. 286 ff., vgl. aber a. unten, S. 445 f.), sein Eintreten für die Beibehaltung der ständischen Verfassung bei akzeptabler Besoldung der Amtsträger (oben, S. 333 f., 378) und für eine Güterkreditkasse (oben, S. 311 f., 388ff.) sowie seine Polemik gegen nichtindigenen Landbesitz (oben, S. 286), endlich sein Rekurs auf kollektive und individuelle Leistung (unten, S. 427f., 431): Es sind die Bandbreite der Mittel und die Konsequenz der Positionsverteidigung, die seine Person interessant machen, nicht typisch, aber repräsentativ. LTS 28.3.1823, § 19; LTA 1827, Relation der Committee, § 15. Vgl. oben, S. 260. Wie oben, S. 272, Anm. 260. Anh. 7, Tab. 12, 13; vgl. oben, S. 315f. Vorgeschichte s. o., S. 309f.

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ratet, genug anzusparen, um 1826 mit Klein-Feldhof ein Stück des väterlichen Besitzes zurückzukaufen. 1832 hinterließ er es seinem Bruder Ulrich, der als einziges der Kinder eine Frau nahm, die Pflegetochter des örtlichen Pfarrers Bahder, ermöglicht durch die Unterstützung auch des dritten Bruders, Ferdinand Werner, der Friedensrichter war und zeitweilig Pächter des Kronsgutes Garrosen.64 Dagegen hatten auf Schorstädt die weitgespannten Geschäfte, die Johann Adam Wilhelm am Ende den Konkurs eintrugen, diesem zunächst noch erlaubt, seine Töchter attraktiv zu verheiraten und zwei Söhne großzügig ausgestattet in elitären russischen Regimentern unterzubringen; einer heiratete später eine Fürstin Vjazemskij und begründete die Linie Klopman-Romanov.65 So erlaubten Landesdienst und Domänenpacht einerseits, der hergebrachte Modus sozialer Investition und die impériale Option andererseits eine Fortsetzung der ehemaligen Würzauschen wie Schorstädtschen Zweige, wenn auch genealogisch und besitzlich reduziert beziehungsweise unter Wechsel in einen neuen Kontext. Das Beispiel der Klopmanns ist noch unter einem anderen Aspekt charakteristisch: Außer als Auffangbecken für den vom Bodeneinkommen abgeschnittenen Elitenüberschuss wuchs dem Staatsdienst Bedeutung als Vehikel gesellschaftlicher Integration zu. Er stellte den Weg dar, auf dem die Kurländer Russland für sich entdeckten, oft ganz wörtlich. War von den Berufssoldaten ab den Majoren seit jeher eine beträchtliche Zahl in das Dienstland abgewandert, nahm das noch einmal leicht zu, erfasste zudem einige der Kapitäne66 und konzentrierte sich auf das Zarenreich. Unter den nach 1775 Geborenen kamen andere Wanderungsziele, auch die vordem stark vertretenen preußischen Länder, praktisch nicht mehr vor; zugleich überholte das innere Russland Estland und Livland.67 Einhergehend heirateten Mitglieder dieser Generation vermehrt Russinnen vereinzelt auch die Frauen Russen und andere Mitglieder des nicht-kurländischen Reichsadels,68 was prinzipiell den Konfessionswechsel zumindest der Kinder implizierte.69 Anfang des 19. Jahrhun-

64 65 66 67

-

Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 76f. Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, ?. 11, 79. Anh. 10, Tab. 2. Anh. 10, Tab. 1. Übersiedlungen in den litauischen Grenzsaum sind nicht

berücksichtigt. 68 69

Anh. 1, Tab. 1-4.

Amburger, Behördenorganisation, S. 513. Offensichtlich wurde diese Regel aber nicht immerbeachtet: GenHB, Bd. 1,S. 441,444(v. Nolde, erst späterer Übertritt eiEnkels). Vgl. a. Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 73. Warnung Carl v. Lievens 1837 an seinen Sohn Otto, der sich mit einer russischen Ehe trug, doch um Gottes Willen nicht die eigenen Kinder „zu solcher Abgötterey [zu] verurtheilen": nes

417

„Obenbleiben"

derts entstanden die russifiziert-orthodoxen Zweige der Brüggen, Fircks, Howen, Korff, Koskull, Nolde, Huene, Pahlen, Sacken, Lambsdorff und eben Klopmann.70 Derweil blieben Spannungen nicht aus. „Die Deutschen" wurden von Wettbewerbern als überrepräsentierte Fremde wahrgenommen, lösten als Offiziere bei den Mannschaften Misstrauen und Widerwillen auf der Grundlage einer vormodernen Xenophobie aus,71 lange bevor der moderne Nationalismus den Modus vivendi des Vielvölkerreichs grundsätzlich in Frage stellte.72 Während der Herrschaft Nikolajs I. bildete sich dann ein innerrussisches Elitenreservoir heran, das im späteren 19. Jahrhundert die Aufnahmekapazitäten des Apparats überstieg,73 die Konkurrenz verschärfte sich, das entstehende Ressentiment konnte sich nun bereits einer modern-nationalisierenden Rhetorik bedienen.74 Etwa gleichzeitig, und im Zusammenhang damit, erreichten die Standardisierungsbestrebungen sowie das Penetrationsvermögen des Staats eine neue Qualität und waren die ritterschaftlichen Reformpotentiale erschöpft75 der metropolitan-periphere Herrschaftskompromiss bekam Schlagseite.76 In welchem Maße das tatsächlich eine nachhaltige Verschlechterung individueller Lebenschancen bedeutete, steht indes auf einem anderen Blatt; zuletzt sind eher erfolgreiche Anpassungsleistungen und gelungener Statuserhalt betont worden.77 Wie relativ etwa -

Seesemann, Lieven, S. 34. Wobei die Klage des Vaters, Otto wie dessen Brüder habe eine „schwärmerische Überschätzung alles Russischen und die blinde Zuneigung dazu" erfasst (ebd., S. 35), eine in der um 1800 geborenen Generation verbreitete

Orientierung anspricht.

GenHB, Bd. 1, S. 24, 87, 89, 318f., 339, 438, 580f, 605f; Seeberg-Elverfeldt, Genealogie Lambsdorff, S. 148f.; Wätjen, Geschichte Osten-Sacken, S. 56f, 78; DBBL, S. 402 ff. Zur Bedeutung in einem stark an Verwandtschaft ausgerichteten Patronagesystem vgl. Dixon, Modernisation, S. 138. 71 Hartmann, Zorndorf, S. 191, 196. 72 Rappeler, Vielvölkerreich, S. 113, 211 ff.; Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 83; von Suvorov wird das bittere Aperçu überliefert, wenn Paul I. ihn auszeichnen wolle, möge er ihn zum Deutschen befördern. Ironischerweise, zugleich bezeichnend, stießen die Kurländer im Alten Reich auf analoge Probleme: Heyking, Letzte Tage, 70

S. 166 (1760er). 73 Hinzu kam eine Rücknahme der alexandrinischen Qualifikationsanforderungen für den Adel: Dixon, Modernisation, S. 94. 74 Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 84; Rappeler, Vielvölkerreich, S. 247, 255; zum internationalen Zusammenhang und Hintergrund der „Transformationskrise" Russlands wenn auch methodisch nicht mehr ganz frisch Geyer, Funktionen. 75 Pistohlkors, Reformpolitik; ders., „Russifizierung". 76 Vgl. Haltzel, Abbau. 11 Whelan, Adapting to Modernity; aber auch schon Pistohlkors, Reformpolitik; Schlingensiepen, Strukturwandel. -

-

418

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Rückzug aus dem Reichsdienst bis 1914 war, sticht zumal dort ins Auge, wo nicht deutschbaltische Verlustgeschichten den Hintergrund bilden, sondern die impériale Elite aus der Perspektive anderer nichtrussischer Bevölkerungsgruppen erörtert wird.78 Auch gab sich der Machtstaat gegenüber den Ostseeprovinzen merklich konzessionsbereiter als andernorts.79 Ungeachtet der vielberufenen Antagonismen und institutioneller Veränderungen dauerten Elemente des nach 1800 gefundenen Interessenausgleichs bis ins 20. Jahrhundert spürbar fort und schrieben sich der sozialen und kulturellen Physiognomie der Landschaft ein. Der historiographische Nachklang dieser Prozesse ist in der Einleitung angesprochen worden. Ein Letztes: Ließ die Bindung an einen einzigen Dienstherrn die Zahl der ritterschaftsadligen Offiziere in der russischen Armee um 1800 schlagartig anwachsen,80 und traten noch die Zivilbediensteten hinzu, so gingen außerdem zahlreiche Literati beziehungsweise Literatenkinder in den Reichsdienst, motiviert von der in der Landschaft gefühlten Exklusion einerseits, dem im Russland der Rangtabelle winkenden Dienstder

adel andererseits.81 Gleich den besitzlosen Indigenen bot sich ihnen hier ein Ausweg zu Prestige, Macht und Einkünften. Und wie jene verstärkten sie die Sichtbarkeit der dem Staat nützlichen Provinzialen; darüber hinaus tragen sie infolge ihrer primär auf höhere Bildung abstellenden Statusdefinition zum Nimbus der intellektuell qualifizierten „Deutschen" bei.82 Was am einen, imperialen Ende die Chancen durch Chancennutzung erhöhte, entlastete am anderen, dem lokalen, das um 1800 von scharfen Gegensätzen aufgeladene Ständesystem. Strukturell funktionierte die Stabilisierung einer von unbefriedigten Elitenansprüchen gefährdeten Situation in Kurland analog dem Muster kolonialer Expansion, durch den Export der Abstiegsbedrohten und Aufwärtsmobilen. Allein hier verlief der Dienstwanderweg von der Peripherie ins Zentrum oder die fernere Peripherie, war die Asymmetrie eine gebrochene. Deshalb stachen „landische" und kosmopolitische, adlige und nichtindigene Sozialisationen und Profilierang sich nicht aus, sondern komplementierten einander.83 Professionelle Kompetenz und weiträumige Versippung, Einkommensnot, Aufstiegshunger, Sprachenkenntnis und 78 79

80 81 82 83

Velychenko, Who Administered, v. a. S. 197, 204f.; Chimiak, Kariery. Rappeler, Vielvölkerreich, ?. 228; Thaden, Borderlands, S. 235 ff; differenzierende Analyse: Schweitzer, „Baltische Parallele". Anh. 10, Tab. 1-2. Handrack, Soziale Inzucht, ?. 65f.; Wittram, Drei Generationen, S. 255. Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 66f. Vgl. Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 74.

419

„Obenbleiben"

kulturelle Konnektivität84 begründeten den Nutzen eines heterogenen Akteursensembles für das Reich und den des Reichs für die einzelnen, dieser für ihre Herkunftsgesellschaft.85 Zumal in der Residenz berührten sich der funktionsentsprungene Einfluss hoher Beamter und die klientelpolitische Verwendung der „Aristokraten".86 Die Ergebnisse freilich reflektierten fortbestehende Statusdifferenzen, indem die solcherart beeinflusste Reichspolitik tendenziell zum Vorteil des Indigenatsadels ausfiel. Folgerichtig erreichte die institutionalisierte Vormacht der Ritterschaft 1845 ihren Höhepunkt mit der Kodifizierung eines Provinzialrechts87, das die Privilegien bestätigte, in einigen von den Nichtindigenen angestrittenen Punkten nach deren Auffassung sogar noch ausbaute.88 Kurz: Russland machte bei aller staatlichen Behelligung dem kurländischen Adel ein Angebot, das dessen „Obenbleiben" ermöglichte, namentlich durch lokale (Re-)Privilegierung in Kombination mit sozialer Konsolidierung per Imperialität von der wiederum der Privilegienstandpunkt profitierte. „Nicht bloß Unterthanenpflicht, sondern auch Familien-, Standes- und Vermögens-Interesse knüpfen uns an den Thron mit aufrichtiger fester Treue, Hand in Hand mit der Obrigkeit -

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wirkend."89

„Ventil" ist das eine Bild, ein anderes könnte „Schild" sein. Denn hin-

Deckung des funktionselitären Abkommens entstanden Freiräume, in denen sich gesellschaftliche Dominanz ungeschoren privatisieren ließ, Adligkeit in bewusstem Gegensatz zu Staat und Dienst konzipieren. Was unter dem Aspekt sozial-kultureller Differenzierung bereits angeklungen ist, sei hier nochmals gewendet. ter der

Johann v. Lambsdorff der Carl v. Manteuffel in der Konkurszeit aushalf und das Statut des Kreditvereins aushandelte hatte bei Kant in Königsberg studiert und anschließend im 1. Kadettenkorps als Adju-

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84 Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 89. 85 Vgl. Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 74, 89, passim. 86 So setzten sich in pikanter Kombination bereits Howen und Heyking als Mitglieder des Senats unter Paul I. für die Provinz ein: Heyking, Kaiser Paul, S. 15, 53ff.; Minderung von Einquartierungen durch General v. Sacken: LTA 1819, Relation der Committee, § 29. 87 Provincialrecht der Ostseegouvernements. 3 Bde., St. Petersburg 1845; vgl. a. Whelan, Adapting to Modernity, S. 16 ff. 88 Das betraf zumal das ausschließliche Güterbesitzrecht, das jedoch in Kurland nie in dem Maße unter Druck geraten war wie in Livland, wo die Angelegenheit denn auch zu erbitterten Konflikten und einer moderaten Öffnung (Besitzrecht für nichtindigene Adlige) führte: Whelan, Adapting to Modernity, S. 74ff. Vgl. a. Kurland und seine Ritterschaft, S. 419. 89 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 148 (1858). -

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420

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gedient;90 schon sein Vater und Großgemacht,91 und entsprechend wurde

tant des Großfürsten Konstantin vater hatten glänzende Karrieren

Johann mit besten Chancen auf die impériale Laufbahn gesetzt. Er kam gut voran, bis er 1805 aus freien Stücken seinen Abschied nahm und sich auf das väterliche Gut Laiden im Piltenschen zurückzog.92 Die Eltern blieben in Petersburg, alles andere als glücklich über die Entscheidung, akzeptierten sie aber.93 Lambsdorff richtete Laiden komfortabel ein, zog Ananas im Treibhaus und flanierte die Enfilade, da der Grund vor der Tür kotig war. Er nahm Anteil an der Erziehung seiner Kinder und lehnte Ende der 1820er für die zweite Tochter ab, Hofdame bei ihrer Patin, der Kaiserin-Witwe Marie, zu werden, weil er die Trennung scheute. Sonst nutzte und vermittelte er höfische Konnexionen mit Selbstverständlichkeit.94 Der Lebenszuschnitt auf Laiden kombinierte Petersburger Eleganz, Landadelsgepflogenheiten und biedermeierliches Familienleben, das Abendessen in großer Toilette, rustikale Gastfreiheit (zumal für Jäger), Bildungsemphase und Innerlichkeit ein grandseigneurales Junkerdasein im „bürgerlichen Zeitalter". Darin einen mehrfachen Widerspruch auszumachen hat erst eine absichtsvolle, bereits in den zeitgenössischen sozialen und kulturellen Positionsbestimmungen wurzelnde, später diskursiv ausgehärtete und in die akademische Kategorienbildung eingegangene Rede über die Gesellschaften des 19. Jahrhunderts und ihre Eliten gelehrt. Andererseits konnte die Beanspruchung von Grundbeständen des modernen Wertehaushalts Bildung, Arbeit, Kernfamilie als „bürgerlich" sich in der Tat auf ostentative Verweigerungshaltungen berufen, die von Adligen zur Selbstvergewisserung angesichts rapiden Wandels, relativer Positionsverluste95 und zunehmender disziplinarischer Abhängigkeiten entworfen wurden, bei Lambsdorff etwa die Aufrechterhaltung höfischer Alltagspraktiken in denkbarer Entfernung vom Hof. Anders und doch ähnlich inszenierten die Brüder Manteuffel auf Katz-

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90 Auch 91 92 93 94 95

zum

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Folgenden: Erinnerungen von Marie Baronin Freytag Löringhoff, LVVA

1100/9/71, pp. 131 ff. DBBL, S. 439; die des Vaters hatte zeitweilig nach Kurland zurückgeführt, als erster (Zivil-) Gouverneur der neuen Provinz. Wie Anm. 90; Seeberg-Elverfeldt, Genealogie Lambsdorff, S. 141 f., 145 f. Erinnerungen von Marie Baronin Freytag Löringhoff, LVVA 1100/9/71, p. 138. Erinnerungen von Marie Baronin Freytag Löringhoff, LVVA 1100/9/71, pp. 143f. „Relativ" heißt: Der einzelne „stieg" nicht notwendig „ab", auch wenn er davon bedroht sein mochte, aber andere stiegen auf; vor allem nahmen in den großflä-

chig integrierten Interaktionsräumen die Konstellationen zu, in denen man sich mit mächtigeren, reicheren oder an Prestige überlegenen Akteuren auseinandersetzen musste.

421

„Obenbleiben"

ihre Landadligkeit. Der eine lehnte den angebotenen Grafentitel ab, da sein Name alt genug sei, um ohne auszukommen; der andere mietete die Logen des Mitauer Theaters an und besetzte sie mit seiner Jagdmeute -96 angeblich. Im Nachhinein ist kaum mehr zu klären, welche von den zahllosen Kolportagen wahr sind, beziehungsweise wann sie erfunden oder ausgeschmückt wurden. Beachtenswert sind sie, insofern sie ein bestimmtes Selbstverständnis97 ausdrücken. Fast immer geht es um ein „Original", das witzige bis ätzende Bonmot, auch offen gesellschaftsunmögliches Verhalten, in diesem Fall eben die Verspottung der aufkommenden Bildungsreligiosität und zur Schau gestellte Absage an das Titelwesen jedenfalls Äußerungen individueller Unabhängigkeit, gestischer Individualität, die sich wie eine Übersetzung der alten Libertät in symbolische Ersatzhandlungen lesen. Aus ihnen spricht eine pointiert andere Ich-Behauptung als aus den hochfliegend-direkten, nunmehr für frivol geltenden Selbstrealisationen der Aufklärungszeit. Das „Original" brach nicht die Norm der Moral, sondern der Konvention in direkter Umkehr der Anerkennungskultur des Ancien Régime, die wohl Amoral gelitten hatte, aber keine Despektierlichkeit, den Gierigen, nicht jedoch den Kauz. Seitdem hatte sich die Individualität modifiziert, der Freiheitswille sich um das Konsistenzpostulat ergänzt, war der Äußerlichkeitssinn, die Wertschätzung der Oberfläche, unter den Druck des „inneren Wertes" geraten: der Kultus der Authentizität entstanden. Eben im Namen der „Echtheit" aber übte das „Original" den Regelverstoß und blieb damit innerhalb des öffentlich Akzeptablen, aus dem der Aventurist, der Libertin oder die undifferenzierte Bereicherung verbannt wurden. Das Terrain des Spielerischen hatte sich verschoben; wenn man so will: An die Stelle des Maskenballs trat die Maske der Authentizität. Verhaltensweisen wurden elitennotorisch, die in der alten Ordnung kaum unsanktioniert geblieben wären, nun aber Möglichkeiten des Rückzugs auf eine sich habituell absondernde Adligkeit eröffneten für die, die es sich leisten konnten. Während das tägliche Dasein zunehmend „rationaler" Norm unterworfen wurde, Betriebsroutine, „Tüchtigkeit" und reduzierter ethischer Ambivalenz, versorgten die „Originale" den Stand mit einem Arsenal von „Pratchen", anekdotenhaften, letztlich unanstößigen Selbsterzählungen, an denen sich auch das Standesbewusstsein derjenigen aufrichten konnte, die harsch ange-

dangen und Zirau

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96

Erinnerungen

172. 97 In Reinform

von

Marie Baronin

Freytag Löringhoff,

LVVA

1100/9/71, pp. 167,

reproduziert in Kurland und seine Ritterschaft, S. 93.

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wiesen wurden, ihre Bürozeiten einzuhalten und nachzuweisen98. Im selben Zug verbürgte der symbolische Regelbruch ,echten' Adel gegen die Relativierungstendenzen des Dienstadelssystems, indem er dessen Unverlierbarkeit demonstrierte, scheinbare Unabhängigkeit von gesellschaftlichen und staatlichen Anerkennungsmechanismen. 1841/45, parallel zur Kodifizierung der Privilegiensammlung, wurde denn auch die Matrikel „reguliert" und das informelle Notorium beseitigt,99 das die Ränder des Sippschaftsverbandes im Unscharfen gelassen hatte. Das nunmehr endgültig fixierte Corps war in seiner Exklusivität hermetischer denn je die Bedeutung dieser Exklusivität angesichts der Konkurrenz eines erweiterten Spektrums von Eliten und Elitenanwärtern jedoch vielfach ungewiss, der Leistungsdruck auf die, die nicht erheblich erbten, bei allem Erfolg fühlbar gestiegen. Dass man eigentlich' nach wie vor in seinem Status unangreifbar und frei war, bewiesen exemplarisch für alle die landsässigen „Originale", und das machte sie zum attraktiven Topos auch für diejenigen, die den Kultus der sozialen Unbekümmertheit im Grunde nicht goutierten oder denen er verschlosalso die Mehrheit. sen war In einer Beschreibung Livlands von 1794 heißt es: „Der Civil-Etat ist durch die Statthalterschaften ungemein zahlreich geworden. [...] Junge Edelleute, die sonst fast keine andere Wahl, als den Soldatenstand, hatten, widmen sich jezt den Kanzeleygeschäften, lernen Routine, und werden mit der Zeit tüchtig zu wichtigen Staatsämtern."100 „Tüchtigkeit" als Hauptingredienz moderner Habitusanforderungen mag mit „Originalität" narrativ vereinbar sein, alltagspraktisch ist sie es weniger. Die „Kanzeleygeschäfte", auch der militärische Liniendienst implizierten das genaue Gegenteil: eben „Routine", die Internalisierung heteronomer Verhaltens- und Verfahrenskodizes, die eine Sinnstiftung, Bestimmung des eigenen sozialen Werts erforderte, für die die übersetzte Libertät (nach)erzählbar war, aber nicht lebbar. In den Adligkeitskonzepten des „Originals" und des Staatsdieners manifestierten sich die Pole dessen, was van der Loo und van Reijen als „Modernisierungsparadox" von Verselbständigung und Abhängigwerdung, Befreiung und Ohnmachtserfahrung gefasst haben.101 Der Umgang mit diesem Fundamentalpro-

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Order des Kurländischen Gouvernements-Prokureurs, publ. Mitau 22.1.1824: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1824; vgl. a. die Anweisung des Innenministeriums an Zivilgouverneur Nikolaj Arsènev 11.7.1808, LVVA 412/2/34, p. 1. 99 Kurland und seine Ritterschaft, S. 408, 416; Ansätze dazu hatte es bereits seit ca. 1830 gegeben: vgl. oben, S. 41, Anm. 30. 100 Snell, Beschreibung, S. 44. 101 van der Loo/van Reuen, Modernisierung, S. 41 f. 98

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„Obenbleiben"

erwies sich als konstitutiv für den im frühen 19. Jahrhundert einsetzenden Elitenwandel.

zess

Elitenwandel Der Begriff des Elitenwandels102 weist ähnlich dem des Elitenkompromisses zwei Dimensionen auf.103 Nimmt letzterer Arrangements sowohl zwischen metropolitanen und peripheren Eliten als auch solche zwischen je örtlichen Etablierten und Aufsteigern in den Blick, kann der Wandel einerseits die soziale Zusammensetzung der Gruppen auf den „gesellschaftlichen Kommandohöhen" betreffen, sich andererseits auf Adaptionsleistungen dominant bleibender Formationen in Funktion, Habitus oder Selbstverständnis beziehen. Im allgemeinen stellt eine solche Häutung die Conditio sine qua non erfolgreicher Kompromisse dar, insofern diese revidierte Anerkennungsmuster und Legitimationsstrategien erfordern. Integration und Absonderung, der Reichsdienst und der Rückzug in die Freiheit der geographischen oder funktionalen Ränder konnten das allein nicht leisten. Doch entwickelten sich etwa gleichzeitig die spezifisch aufgeladenen Konzepte des „Landwirts" und des „Landesbeamten" (inklusive des Landespolitikers): die Vorstellung von einem im Dienst am „Land" in dessen mehrschichtiger Bedeutung tätigen Adel. Sie machte den Hauptstrang der Neubegründung sozialer Dominanz nach 1800 aus, zu der „Original" und „Offizier" gleichsam die stabilisierenden Ausleger bildeten. „Landwirt" und „Landesbeamter" hingegen wurden zentrale Repräsentationsfiguren, die die Rollendifferenzierung begleiteten und absicherten, eine Verständigung über den sozialen Ort der Akteure ermöglichten, ihre (Selbst-) Wertschätzung und schließlich eine übergreifende Zuschreibung von Elitenstatus. Das Fol-

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gende leuchtet beide Konzepte exemplarisch aus. George Benedict v. Engelhardt wurde 1760 als zweiter Sohn des polnischen Obersts und Kammerherrn Gerhard Michael v. Engelhardt gedie Überlegungen für Ostmitteleuropa bei Müller, Adel und Elitenwandel; deutschen Fall Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, S. 29f, 63, 119; zum historischen Elitenbegriff Hartmann, Kontinuitäten, S. 401 ff. Hier werden als „Eliten" pragmatisch-allgemein Akteure und Gruppen angesprochen, die über signifikant mehr Ressourcen (Macht, Geld, Prestige, Privilegien, Öffentlichkeit) als die Mehrheit der Gesellschaft verfügten. 103 Ähnlich, wenn auch anders nuanciert: Reif, Adel und Bürgertum, Bd. 1, S. 13 (Einleitung des Hg.). 102

Vgl.

zum

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Propädeutikum, anschließend Studium der Königsberg. „Nur wenige Wochen war ich da, als ich im

boren.104 1776 ging

er zum

Rechte nach Verkehr mit meinen Commilitonen über meine Unwißenheit erschrak. Mein Ehrgefühl fand sich beleidigt. Ich warf mich mit Aufgebung der Genüße der Jugend auf die Kenntniß der Lateinischen Sprache, Geschichte usw. Ich fand keinen Freund, der meine Studien leitete, und darum habe ich bei eisernem Fleiß nicht das in den Wissenschaften erreicht, was ich hätte erreichen können." Engelhardts Startnachteile hatten ihren handfesten Grund in den eingeschränkten Vermögensverhältnissen seines Vaters, der sechs Söhnen eine Ausbildung und drei Töchtern die Mitgift finanzieren musste.105 Offenkundig war erst der Hausunterricht unterdurchschnittlich ausgefallen, dann blieb der Wechsel knapp und kam unregelmäßig, und als Engelhardt 1781 nach Kurland zurückkehrte, fand er das väterliche Haus „ganz zerrüttet und dem Konkurs nahe. [...] Zerrissen war mein Herz beim Anblick meiner armen Geschwister ohne Bekleidung und ohne Erziehung. Ich hatte nicht die geringste Unterstützung und begreife selbst nicht, wie es mir möglich gewesen ist, mich zu erhalten und zu kleiden." Mag auch das erzählte Elend nicht wörtlich zu verstehen, der Mangel weniger ein absoluter als einer an standesgemäßer Kleidung und Erziehung gewesen sein, bleibt doch die Kernaussage: Die Engelhardts waren auf dem absteigenden Ast. Eine Auswanderung nach Amerika will George Benedict nur verworfen haben, weil er, bereits auf der Reise, die zehnjährige Elisabeth Charlotte v. Stempel kennenlernte, sich in sie verliebte und sie zwei (!) Jahre später heiratete. Immerhin, das Gut berechtigte zur Teilnahme an der Landespolitik, und 1782 wurde Engelhardt erstmals zum Landtag deputiert. 1786 profitierte er vom Beutezug des Adels gegen die herzoglichen Kassen und erhielt eine der nunmehr erträglich besoldeten Assessorenstellen,106 zehn 104 Das Folgende nach Brincken, Engelhardt; vgl. a. DBBL, S. 189; GenHB, Bd. 1, S. 225. 105 Zwei der Brüder brachten es zum russischen General, einer beendete die Militärkarriere mit dem Rang eines preußischen Rittmeisters und erwarb 1808 von einem Vetter das kleine Gut Bächhof (Klopmann, Güter-Chroniken, Bd. 1, S. 83; 93 Seelen 1826: Gouvernementsstatistik wie Anh. 7), einer wurde Assessor am Mitauschen Oberhauptmannsgericht; zwei der Töchter heirateten polnische Offiziere, eine indigen: GenHB, Bd. 1, S. 225 f. Brincken, Engelhardt, S. 34, erwähnt noch einen 1794 gegen die Polen gefallenen Bruder und ein weiteres, wohl früh gestorbenes Kind, das im GenHB nicht aufgeführt ist. Das Muster ähnelt dem Klopmannschen, vgl. oben, S. 415 f. 106 Vgl. oben, S. 100; auch Bosse, Einkünfte, S. 573, Anm. Die Gegenpartei zweifelte daraufhin Engelhardts Indigenat an: GenHB, Bd. 1, S. 223 f.

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Jahre später, während der Statthalterschaftsordnung, gelangte er auf eine Ratsstelle beim Gerichtshof der bürgerlichen Sachen, nach Wiederherstellung der alten Verfassung wurde er zum Hauptmann gewählt, 1803 zum Oberhauptmann. Unter der Napoleonischen Besetzung 1812 war er als Gouvernements-Prokureur maßgeblich an der Repartition der Kontributionen beteiligt107 und wurde anschließend als Kollaborateur arretiert, konnte sich aber rehabilitieren, und 1815 gelang ihm der Sprung ins Oberhofgericht. 1817 wurde er von der Ausarbeitungskommission für die Bauer-Verordnung zugezogen, die seinen Vorschlägen zur Gemeindegerichtsordnung im wesentlichen folgte108 und ihn später zum zweiten Redakteur109 der Verordnung berief; im Jahr darauf wurde er Präsident der Provinzialgesetzkommission.110 Als Engelhardt im März 1822 starb, war er ein wohlhabender Mann, fachlich geachtet, öffentlich ausgezeichnet."1 Sein ehemaliger Vorgesetzter Karl v. Heyking"2 hatte ihm das Zeugnis ausgestellt, neben „gesundem Urteil" und „achtbarem Charakter" über „die ausgebreitetsten Kenntnisse auf dem Gebiete der Jurisprudenz" zu verfügen: „Er galt ohne Widerspruch für den ersten Juristen Kurlands.""3 Derweil schrieb Engelhardt selbst, zu der Zeit schon Oberhofgerichtsrat, an eine seiner Töchter: „Ich lebe nur meinem Amte. Beinahe glaube ich, daß man es fühlt, daß ich viel leiste. Mir scheint es wenigstens, daß selbst meine Feinde jetzt Achtung für mich haben. [...] Einladungen habe ich viel, aber ich lehne alle ab"."4 Und: „Überall begegnet man mir bis jetzt [1816, M. M.] mit viel Achtung, doch das verändert nichts in meinem Lebensplan: einsam mitten im Weltgetümmel zu leben. [...] Die Welt das ist ihre Geschenke gehören nicht den arbeitenden und Redlichen sondern den Klugen, den Schleichern, den Hofschranzen.""5 Höchste Ämter, Einfluss und öffentliche Anerkennung bei aller mit -

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107 Vgl. seine Apologie Engelhardt, Kurlands Betragen. 108 Daher Carl v. Fircks' Schnauben über die „juristischefn] Theorien eines Engelhards": oben, S. 362. 109 Nominell erster Redakteur war der Ritterschaftssekretär Ernst v. Rechenberg-Linten: LVVA 1100/13/1168, p. 16; gleichwohl firmiert Engelhardt im DBBL, S. 189, als „Hauptredakteur", bei Brincken, Engelhardt, S. 33, gar als einziger; dass er in dieser Funktion die Aufhebung der Leibeigenschaft „bewirkt" habe (ebd.), ist unhaltbar. 110 Karrierestufen nach DBBL, S. 189. 111 Brincken, Engelhardt, S. 34. 112 Vgl. oben, S. 260. 113 Heyking, Letzte Tage, S. 486. 114 Brincken, Engelhardt, S. 34. 115 Brincken, Engelhardt, S. 34.

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ihr einhergehenden Anfeindung, in einem streitbaren Publikum wie dem kurländischen Adel erst recht-, drei Arrendegüter,116 der Annenorden, gute Partien seiner Töchter änderten daran nichts: Engelhardt empfand seine Umstände als bescheiden, zu bescheiden. Der Abstand zur „glänzenden Gesellschaft", zu der er als hochrangiger Beamter zwar Zugang hatte,117 mit deren Lebensführung er aber bei allem Aufstieg nicht konkurrieren konnte, war einfach zu groß. Und er wurde fühlbar, eben weil Engelhardt nicht ausgeschlossen wurde, sondern sich in einem System, das auch mittelloses Talent emporkommen ließ, neben den über das Maß Bemittelten wiederfand ihm dem Stand nach gleich, dem Status nach inkommensurabel überlegen, an Leistung, wie er fand, unvergleichlich nachrangig. Um diesen Verhältnissen Sinn zu geben, in ihnen die eigene soziale Position zu definieren, wählte er den bereits angeklungenen Modus: „Der Hohe und der Reiche sind mit des Lebens Genüßen zu sehr beschäftigt; der Dürftige von den ersten Lebensbedürfnißen zu sehr gedrungen, um die Zeit zu haben, über dieses Leben zu reflectieren. Die Mittelklaßen zwischen diesen beiden scheinen den Beruf nicht zum irdischen Glücke, aber zu einer ausgezeichneten Stellung im Reiche der Geister [...] erhalten zu haben. [...] Gott stellte dich und mich, mein geliebtes Kind, in diese Mittelklaße", so abermals an die Tochter. Und an seinen vormaligen Mitredakteur Ernst v. Rechenberg-Linten: „Es gibt Arbeiten die nur durch höchste Kraftäusserungen und Entsagung auf Lebensgenuß vollbracht werden können und die ungeachtet ihrer eingreifenden Einwirkung auf das öffentliche Wohl, selten anerkannt werden. Zur Übernahme derselben gehört gewiß Selbstverläugnung aber es liegt auch im eigenen Bewußtseyn ein Trost, der Entbehrung und fehlenden aussein Lohn vergütet."118 Engelhardt unterstrich den gesamten Passus. Die Topoi konsequenten Verzichts, solidemittleren Status, des Trosts aus der Religion durchziehen seine Äußerungen, und immer wieder der Begriff der „Arbeit": Arbeitskraft und Bildung, vereint zu „Leistung" sind die zentralen Wertbegriffe, um die die Selbsterzählung kreist die Texte könnten durchaus von einem Literatus in Reflektion seiner ständischen Zurücksetzung und zum Lebens-

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116 Zwei für den Entwurf einer neuen Prozessordnung 1803, Neu-Sessau für die Redaktion der Emanzipationsgesetze: Brincken, Engelhardt, S. 33; Linten an Generalgouverneur v. d. Pahlen 23.3.1835, LVVA 1100/13/1168, p. 16. 117 Konkret der Neujahrsempfang der abgedankten Herzogin 1818: Brincken, Engelhardt, ?. 34. 118 Engelhardt an Linten 29.10.1819, LVVA 1100/13/1168, p.9. Engelhardt wollte Linten als Mitarbeiter der Kommission zur Sammlung der Provinzialgesetze

gewinnen.

„Obenbleiben"

notwendigen angespannte Tätigkeit verfasst sein. Die Arbeit", vordem Attribut der niederen und abhängigen Stände, unterhalt

427 „saure

wurde den Meritokraten zu einem Wert erhoben, der sublimer adeln sollte als Geburt und Erbschaft, und die zu ihrem Fortkommen auf „eisernen Fleiß" mit „Aufgebung der Genüße der Jugend" angewiesenen Indigenen machten da keine Ausnahme. Doch greift die Interpretation als kompensatorische Wertvergewisserung angesichts unbefriedigter sozialer Ansprüche allein zu kurz. Engelhardt gehorchte nicht zuletzt einem Diskurs, verwandte dominante Kategorien und Sprechweisen, die sich aus dem gesellschaftlichen Gespräch der Aufklärung entwickelt und über analoge Mechanismen etabliert hatten."9 Denn gar so schlecht hatte er es nicht getroffen, sich bei der Erlangung der genannten Güter zur Würdigung seiner Dienste durchaus nicht ungeschickt angestellt, und seine Position und Vermögensverhältnisse reichten immerhin, Neider zur bitterbösen Persiflage eines Schreibenfs] eines Schwiegervaters v. Efngelhardt] an seinen Schwiegersohn v. Bfistram] zu veranlassen, in dem der ältere dem jüngeren erläutert, wie man auf der Richterlaufbahn mittels Blendwerk, Betrug, Rechtsbeugung und Intrige zu Ansehen und Wohlstand komme.120 Wie immer dem war, der gebeutelte, unbedankte Arbeiter, den er auch im innersten Familienkreis entwarf, war Engelhardt nicht. Jenseits aller persönlichen Motive reproduzierte er gleichwohl eine Rede, die „Arbeit" ethisch, als Opfer codierte und zum Beleg ihre materiellen Früchte herunterspielte oder negierte. Er bediente sich einer Legitimationsstrategie sozialer Ungleichheit, die einerseits auf Verdienst abstellt, andererseits die eigene Position relativiert, als durchaus nicht beneidenswert schildert und zugleich eben darin das Elitäre entdeckt. Ganz ähnlich repräsentierte Friedrich v. Fircks, als politischer Schriftsteller der Adelsapologie ungleich wichtiger als Engelhardt, den landsässigen „Edelmann". In Abwehr der Merkeischen und anderer nichtindigener Angriffe auf den Privilegienverband schrieb er 1804: „Man vergleiche die Arbeit des Gutsbesitzers, der mit der aufgehenden Sonne sein Bette verläßt, und der Hitze und Frost, Regen und Sonne auf seinen Feldern erduldet, mit jenen wenigen Stunden [des Kaufmanns, M. M.] im Comptoir; man vergleiche die einfache Speise, Kleidung und Wohnung des Landmanns mit dem Luxus des Kaufmanns unserer Städte; von

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119 Schon Heyking war zu disziplinierter Tätigkeit erzogen worden und beklagte später, sein Bruder habe beim Militär „die Lust zum Arbeiten" verloren: Heyking, Letzte Tage, S. 82; vgl. a. oben, S. 163, Anm. 65. 120 1807: LVVA 640/2/254, pp. 17f.; undatierte Kopie. Der Autor war nicht zu ermitteln.

428 man

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vergleiche den mühseligen Erwerb jenes mit dem reichen Erwerb

dieses."121 Die Gutshäuser seien unaufwendig, „wenngleich geschmack-

voll", ihre Ausstattung, die Kleidung ihrer Bewohner ebenfalls: „Überall erblickt man Spuren des Wohlstandes, nicht aber des Reichthums".122 Leicht könne er, Fircks, „Hausväter nennen, die sich kaum alle zwey Jahre einen Rock machen lassen, die Kleider tragen, mit denen sie vor mehreren Jahren auf Universitäten Staat machten. Nie wird man in den meisten Häusern mehr als 2-3 Schüsseln auf dem Tische finden; kaum 3 oder 4 Häuser im ganzen Lande ausgenommen; nie anders Wein beym Mittagessen sehen, als wenn man gute Freunde bey sich hat". Und wenn dem Besuch zu Ehren doch einmal aufgefahren werde, dann bloß Produkte des Bodens, „die wir durch eigene Arbeit erzeugten".123 Nun mag man, von allem anderen abgesehen, bezweifeln, dass Fircks' Vater, Erbherr auf Nogallen, Rokaischen, Fischröden und Willgahlen,124 piltenscher Landrat und später kurländischer Oberhofgerichtsrat, im ersten Morgenregen Mist fuhr. Doch geht es hier um vorgestellte Normalitäten, den Modus und Gehalt der Herrschaftslegitimation. Zur Ausdeutung seines Standes rückte Fircks „Arbeit" und „Bescheidenheit" ins Zentrum, „Geschmack" und „Bildung" (wie selbstverständlich hat sein Gutsbesitzer eine Universität besucht), zusätzlich verbürgt durch die Abgrenzung gegen den üppigen, buchstäblich nicht verdienten Reichtum einer anderen Gruppe.125 Im Ton offensiver als der etwas larmoyante Engelhardt, transportiert Fircks' Text dieselbe Werteordnung, allerdings mit Betonung der „praktischen" gegenüber der „geistigen" Arbeit, wobei er auf bezeichnende Weise die Landgeistlichen einbezieht: „Ob es nützlicher und dem Stand des Predigers angemessener sey, gleichwie Tausende seiner Amtsgenossen [andernorts] nichts zu thun, oder die ganze Woche sich mit Folianten zu balgen, oder sein Feld zu bauen, bedarf wohl keine weitläufige Argumentation."126 Vielmehr trügen in Kurland die Pastoren auf ihren Widmen maßgeblich zur Verbesserung der Landwirtschaft und Verbreitung neuer Techniken bei. Fircks schlug ein Selbstbild vor, das es erlaubte, die ländliche Herrschafts- in eine agrarische Führangsfunktion umzudeuten, und das zen121 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 17f. 122 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 14. 123 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 15 f. 124 GenHB, Bd. 1, S. 85. Fircks selbst war zu dem Zeitpunkt vierundzwanzig. 125 Das schließt an die Polemik gegen den nichtindigenen „Aristokratismus" aus den Ständekämpfen an (oben, S. 215ff), nutzt das Fremdbild jedoch primär als Kontrastfolie der Selbstbeschreibung. 126 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 110.

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tral wurde, als einerseits die Depression auch starke Gutsbesitzer zum „Ökonomisieren" zwang, andererseits die Herren im Zuge der Emanzipation wesentliche ihrer unmittelbaren Gewaltkompetenzen verloren zugleich aber Restriktionen oder Inhibitionen entfielen, denen ihre wirtschaftlichen Dispositionen aufgrund des traditionalen Rollenintegrals und der Reziprozität vormoderner Lokalherrschaft unterworfen gewesen waren. Die oben genannten Klopmann-Jostan,127 FircksNurmhusen,128 später die Pioniere der Zinspacht Hahn-Postenden und Bach-Poperwahlen129 handelten und verstanden sich als „Landwirte", die auf ihren Gütern nicht mehr herrschten, sondern eben wirtschafteten.130 Zwar blieben die 1820er noch von den Implementierungskonflikten um die neue Ordnung und der zähen Krise der Konkurszeit dominiert, doch erfolgte anschließend der Wandel um so rascher und veränderte den Alltag der Landadligen auf breiter Front.131 Die betrieblichen Anpassungen begleitend, teils ihnen vorauseilend, bildete sich die Kultur der Muße und großen Gesellschaften zurück, in die für zahlreichen Besuch vorgehaltenen Stallungen zogen Knechts- und Zinsnerpferde, landwirtschaftliche Fachsimpelei wurde salonfähig, das Kartenspiel kam aus der Mode.132 Ein Kultus der Ernsthaftigkeit und auch hier „Tüchtigkeit" griff Raum, der es rechtfertigte, unter Umständen gebot, das Gut als Betrieb zu achten, Marktchancen zu nutzen, technischer und organisatorischer Innovation systematisch nachzugehen. Gleichzeitig wurde das eigene Wirtschaftsverhalten gezielt gegen kurzatmiges Gewinnstreben -

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Klopmann/Klopmann, Würzau-Schorstädt, S. 76. Kvaskova, Nurmhusen, S. 28 f. Neumann, Rückblicke, S. 514; Creutzburg, Agrarverhältnisse, S. 52f

Oder sich zurückzogen etwa um die Jahrhundertmitte übertrug Theodor v. Sacken das riesige Dondangen frühzeitig seinem Sohn, „da er selbst weder Jäger noch Landwirt war": Wätjen, Geschichte Osten-Sacken, S. 72. Zur Tendenz bereits 1805 Derschau/Keyserling, Beschreibung, S. 179: Der „größte Theil des hiesigen Adels wohnt als Landeigenthümer auf seinen Gütern, welche die Quelle seines Erwerbs und seines Fortkommens sind. Diesen Beruf erfüllt er mit immer zunehmender berichtigter Einsicht". Beispiele für die aufblühende landwirtschaftliche Ratgeber-Literatur: Klapmeyer, Kleebau; Dullo, Kurländische Landwirtschaft; vgl. a. Strods, LauksaimniecTbas biedrTbu darbTba; auch die Diskussion der jüngeren Gutsgesetze oben, S. 189ff. 131 Dazu ungeachtet des Anklagetons die materiellen Befunde bei Strods, LauksaimniecTba Latvijä; ders., LauksaimniecTbas vësture, S. 101 ff; 114ff. Mit Schwerpunkt auf Livland: Whelan, Adapting to Modernity, S. 83 ff.; skeptisch für Estland: Kahk, Krise. 132 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands. S. 83. -

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Geschäftemacherei und „ackerjüdische" Geldgier,133 eben „Arbeit" definiert, die das Land heraufbrachte.134 Bereicherung beziehungsweise materielle Sicherheit blieben durchgängig starke und historisch wirksame Motivationen, doch gelang es, die Erzielung privaten Nutzens als Dienst am allgemeinen Besten zu umschreiben. Insofern entsprach das Modell des „Landwirts" nach seiner ethischen Aufladung und sozialen Profilierang strukturell dem Muster, in dem Engelhardt den Landesbeamten vorstellte. Solche Umdeutung adliger Existenz in Mühe, die Apologie privilegierter Positionen aus dem Leistungsbegriff, die Leugnung allen Glanzes steht in auffallendem Kontrast zur Unbefangenheit, teils Ostentation, mit der Herrschaft im Ancien Régime geübt wurde. Hingegen näherte sie sich, wie angedeutet, den Selbstvergewisserangsmustern der nichtindigenen Eliten und zumal der Literati. Ungeachtet fortdauernder Spannungen, die die politischen und Ämtermonopole des Adels, die Ungleichheit der Privilegien135 provozierten, lag hier eine Möglichkeit

abgegrenzt, als eine

133 Whelan, Adapting to Modernity, S. 44 f., die der Erinnerungsliteratur darin folgt und die Repräsentationen unbesehen für Verhalten nimmt. Die angeführte wirtschaftsgeschichtliche Literatur, aber auch die Interessenpolitik während der Kreditkrise decken das nicht. Aufschlussreich auch das von Gramsden (Dep. Friedrich v. Fircks und Friedrich v. Korff) 1813 eingebrachte Deliberatorium, ein „ritterschaftliches Handlungshaus" zu errichten, um den Adel aus der Hand der Kaufleute zu befreien, die „mit einem Gewinngeiste, der uns fremd ist", die Preise manipulierten, „wenn wir nicht für Fremde gearbeitet haben" wollen: LVVA 640/4/257, p.38. Der Plan zu dem Institut ist freilich alles andere als ökonomisch unbedarft, visiert eine professionelle Marktbeobachtung und Spekulationsberatung an und läuft schlicht darauf hinaus, die Handelsmargen zu drücken bzw. an sich zu bringen. Ähnlich die Klage über die Blutsaugerei der Advokaten, die „die Unkunde und Gewinnsucht der Staatsbürger benutzen, um Prozesse zu erzeugen", da neuerdings die „einfachsten Geschäfte, die sonst jeder selbst führte, [...] durch Advokaten betrieben [werden]; Familieninstitute und Verträge, die Jahrhunderte hindurch ihr ehrwürdiges Ansehen erhielten, und über ganze Generationen Segen und Glück verbreiteten, werden jetzt angegriffen" (ebd., p.37) stellt sich die Frage, wessen „Gewinnsucht" und Klagelust denn die Dynamik der Bereicherung und die stetig komplexer werdenden Rechtshändel andauern ließ. Dass Fircks die Antwort kannte, zeigen seine Bemerkungen im Zusammenhang der Hilfsbank: oben, S. 397. Sein Adelskonzept unter anderen war ein idealisierendes, was dessen Wirkmächtigkeit für den Selbstentwurf des Standes jedoch keinen Abbruch tat. 134 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, ?. 84ff., 164f., 170ff. 135 Wohlgemerkt handelte es sich um ungleiche Privilegien, nicht deren Besitz versus Nichtbesitz. V. a. die Freiheit der Person, von Kopfsteuer, Rekrutierung und Körperstrafe, auch der Gerichtsstand waren den Beteiligten gemein. Einen Abstieg unter die freien, aber von den genannten Vorrechten ausgeschlossenen „Okladisten" erfuhren allerdings zeitweilig Literaten- und Kaufmannskinder, die nicht selbst wieder eine akademische Qualifikation, eine Gildenmitgliedschaft oder einen ander-

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der Verständigung, die Fircks denn auch explizit betrieb, indem er eine Bescheidenheit des Adels nicht nur in materiellen Dingen reklamierte, sondern ebenso in Statusfragen: Nirgends gebe „Rang und Geburt weniger Anspruch auf die Achtung seiner Mitbrüder [...] als in meinem Vaterlande. Eng schließt sich alles aneinander; und die Grenzlinie zwischen dem Adel und dem edlern [lies: akademischen, M. M.] Theile des Bürgerstandes ist so verwischt, daß sie kaum das geübteste Auge zu entdecken im Stande seyn wird."136 Diese Nähe-Behauptung konnte zunächst auf die tradierte, sich gleichsam mitentwickelnde partielle Kongruenz von Lebensformen und -Perspektiven verweisen. Den Kern der Literatenschaft und insbesondere des Klerus machten einige eng versippte Familien aus,137 deren Stellung auf relativer Exklusivität bis hin zu Pfründendynastien beruhte.138 Pastorate gingen vom Vater auf den Sohn über,139 der Widmenbesitz gewann oft einen faktisch erblichen Charakter,140 und in bezeichnender Analogie zur Praxis des Adels wurde die Pfründe dem Familiennamen beigefügt.141 Identität und Authentizität wurden in Erzählungen beteuert, die deutlich der Anekdote vom adligen „Original" korrespondieren,142

weitigen Rang erwarben: Hahn, In Gutshäusern, S. 202f 1832 wurde dann mit der „Ehrenbürgerschaft" eine Art freischwebender, erblicher Exemtenstatus eingeführt: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 4.8.1832 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1832); vgl. a. N.N., Broschüren-Literatur, S. 551. 136 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 24. 137 Handrack, Soziale Inzucht. 138 Das räumt auch Fircks, Die Letten in Kurland, S. 107, ein, streicht aber die wohltätige, Lokalkenntnis und Vertrautheit mit der Gemeinde garantierende Wirkung der Praxis heraus. 139 Stegmann, Landgüterbesitz, S. 72. Am Beispiel der dort erwähnten Familien nach Kallmeyer, Prediger und Kirchen: Bernewitz-Neuenburg, 1806-(mind.) 1910/3 Generationen (S. 242ff); Kraus-Neugut, 1792-1908/3 Generationen (S. 477f.); Kupffer-Zabeln, 1712-1866/4 Generationen (S. 490f.); v. d. Launitz-Grobin, 1771-1882/3 Generationen (S. 502f); Rosenberger-Ringen, 1770-1885/3 Generationen (S. 617ff); Ruprecht-Grünhof, 1692-1792/3 Generationen (S. 626f.); Stender-Sonnaxt, 1766 (mind.) 1910/5 Generationen (S. 677ff.); Stender-Lassen, 1711-1824/3 Generationen (S. 675ff.); Wilpert-Siuxt, 1772-1906/4 Generationen (S. 733ff.). Die v. d. Launitz arrondierten ihren Widmenbesitz zudem um den benachbarten Privatbesitz Luisenhof: Stegmann, a. a. O. 140 Jedoch Zuziehung der Bauern etwa des Ritterschaftsgutes Degahlen wegen der Adjunktur des Tuckumschen Predigersohnes bei seinem Vater: LTA 1813/14, LVVA 640/4/257, p. 11. 141 Wie Anm. 139. Bzw. sie wurden wie die Gutsbesitzer nach dem jeweiligen Sitz allgemein der Soundso„sche" genannt: Pantenius, Jugendjahre, S. 47. 142 Charakterisierenderweise gern mit Stoßrichtung gegen den Adel; vgl. Pantenius, Jugendjahre, S. 44; Lenz, Literatenstand, S. 10, 45; Wachtsmuth, Adel und Litera-

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angesichts strukturell ähnlicher Chancen und Risiken bedienten Nichtindigene derselben Strategien und Instrumente wie der Adel, etwa wenn die Steffenhagensche Druckerei als Fideikommiss vererbt und sich

wurde143.

Wichtiger war, dass der „konkurrierende Adelsanspruch"144 der LiRangtabellensystem immerhin teilweise Befriedigung fand und die Ritterschaft diesen doppelten Kompromiss mit Krone und Nebeneliten letztlich akzeptierte.145 Nachdem sie auf dem Höhepunkt der Ständekämpfe teils scharfe Ab- und Ausgrenzungsbemühungen unternommen hatten,146 kehrten Indigene und privilegierte Nichtindigene zu erhöhter Geselligkeit und gemeinsamer Betätigung zurück.147 Darüber begann ein soziales und diskursives ,Spiel', das Abwehr und Annäheteraten im

rung, Exklusion und Inklusion mehrfach brach und im Endeffekt ein Zusammengehörigkeitsgefühl in Differenz generierte: Der Adel eignete sich, wo er konnte, mit den in einem bürokratisierten Staatsapparat unabdingbaren Kompetenzen den Bildungsdünkel der Literaten an, die ihrerseits „adlige" soziale und symbolische Kompetenzen in die Ausbildungsgänge ihrer Kinder integrierten und den Stolz der Indigenen als Herablassung gegenüber deren vorgeblicher Unbildung kopierten.148 Einen rhetorischen Vereinigungspunkt beider Statusgruppen gab die Ausgrenzung der Kaufbürger mit ihrem „schrecklichen Beigeruch von Kup-

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148

tentum; plausible Qualifizierung der entsprechenden Erzählungen als „Wanderpratchen": Bosse, Einkünfte, ?. 532, Anm. Bis 1921: Rosenberg, Steffenhagen, ?. 238. Bosse, Einkünfte, S. 532; vgl. oben, S. 70. 1833 bemerkten die Landtagsdeputierten zu einem Kirchspielsdeliberatorium, das bloß zum russischen Rangadel gehörenden Personen die Führung des Prädikats „von" untersagt wissen wollte: „Es dürfte unzweckmäßig seyn, einen Gegenstand in Anregung zu bringen, der uns nur unangenehmen Collisionen mit den Autoritäten aussetzen dürfte, ohne dem Land einen reellen Vortheil zu bringen" (LTD 24.3.1833, S. 35). Das weckt nebenbei ein gewisses Misstrauen gegen die u. a. von Wachtsmuth, Adel und Literatentum, vertretene These, das „von" zu tragen habe der Literatenstolz widerraten. Vgl. a. Bosse, Einkünfte, S. 531 ff. Cruse, Curland, Bd. 2, S. 200. Etwa in der 1815/17 gegründeten „Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst": Kvaskova/Petersone, Kurländische Gesellschaft, v. a. S. 3 f., 10, 29; vgl. a. unten, S. 451 f. Wie Anm. 142. Nicht unähnlich in Deutschland, vgl. Bleeck / Garber, Adel und Revolution, ?. 96: Unter „den Prämissen einer meritokratisch transformierten Ständegesellschaft stellt der ,Gegenadel' auf der Basis des Verdienstes ein getreues Spiegelbild des (reformierten) Geburtsadels dar" und lag so „ein integratives Modell beider Adelsarten nahe" ungeachtet gegenseitiger Abgrenzungsrhetoriken. -

433

„Obenbleiben"

fermünze"149 ab.-Das Firckssche Muster ist deutlich wiedererkenn-

bar, freilich in weniger harmonischen Formen. Oder, systematisch gesprochen: Ähnlich wie in Deutschland,150 wenn auch schärfer ständisch verfasst, fanden konkurrierende Akteure zu einer ritualisierten Rivalität und darüber zu einem im doppelten Wortsinn geteilten Elitenstatus. Indem die komplementären Selbstdeutungen um die Ständegrenze kreisten und die erheblichen Heterogenitäten auf beiden Seiten negligierten, ließen sich desto selbstverständlicher die gemeinsamen Außengrenzen behaupten die Energie, die das ständische Spannungsfeld erzeugte, entlud sich statt im Konflikt als kanalisierter Wettbewerb. Der Antagonismus wurde zur Ressource. Denn unterteilt man das Bild von den Großformationen weiter, ergibt sich in etwa: Die aristokratische Spitze des Adels vertrat das Land in der Residenz, bei Hof, und konnte gegebenenfalls auf die zahlreichen Besitzlosen und Nichtindigenen verweisen, die der Dynastie treu dienten, auch zur Mehrung des eigenen Herkunftsprestiges, das wiederum auf die Laufbahnbeamten abstrahlte; die Landsässigen profitierten von der qualitativen und quantitativen Sichtbarkeit ihrer Landsleute im Reich, deren Ansehen und Einflussmöglichkeiten, vor allem durch die Wahrung der Lokalautonomie, als Gutsbesitzer von Zuwendungen und erheblicher Freiheit im Alltag, als Landesbeamte von institutioneller Macht, sozialer Geltung und Einkünften, als Pastoren, säkulare Literaten und Kaufleute von relativem Wohlstand, vielfältigen Optionen und Statuschancen. Fircks vereinseitigte drastisch, sprach aber einen im Kern realen Vorgang an: das Arrangement konkurrierender Akteursensembles, bei dem für alle Beteiligten etwas zu gewinnen war. Ähnlich wie die Auseinandersetzungen der frühen 1790er um eine Neujustierung, nicht Beseitigung der ständischen Verfassung gekreist waren,151 gingen die Elitenkompromisse des 19. Jahrhunderts auf eine Stabilisierung unter ständegesellschaftlichen Vorzeichen aus. Der von Heyking gleichzeitig zur philosophischen Banalität und politischen Unsinnigkeit erklärte Egalitätsgedanke wurde wie im „Patriotismus"-Aufsatz des jüngeren Bolschwing als geschichtliche Potentialität angenommen, aber prak-

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149 Wittram, Drei Generationen, S. 243; ebd. f. zur „nach allen Seiten gerichtet[en]" Überheblichkeit der Literaten und deren Ähnlichkeit mit dem „altmodischen Hochmut des Adels"; vgl. a. ders., Ständisches Gefüge, S. 152, zum „neuen Normensystem" der „gebildeten Gesellschaft"; außerdem Armstrong, Mobilized Diaspora, S. 66. 150 „Ständische Einfärbung des Klassenunterschieds": Kocka, Stand- Klasse Organisation, S. 148. 151 Vgl. oben, v. a. S. 200ff., 210, 226ff. -

434

Imperialisierung

tisch verworfen zugunsten einer „tatsächlichen Entwicklung"152 im Rahmen ungleicher Rechte, vor allem bezüglich Landbesitz und Partizipation, bei habitueller Annäherung.153 Dieser überaus schematische Entwurf dürfte zur Analyse der Interaktionen konkreter Handlungspartner in zeitlich, räumlich und sozial changierenden Arenen wenig hilfreich sein,154 beschreibt aber in etwa den Makromechanismus der -

Kompromisse.

Um sie diskursiv abzusichern, bedurfte es einer Repräsentation der Autonomie als funktional und der Adelsmacht als legitim. Dieses Bedürfnis richtete sich nach außen so gut wie nach innen, da Spannungen aus der politischen und besitzrechtlichen Privilegierung des Indigenats virulent blieben, ebenso die Verteilungsungleichgewichte und mit ihnen die potentielle Konflikthaltigkeit, wenn nicht Unvereinbarkeit der angesprochenen Selbstdeutungen und Alltagspraktiken: George Benedict v. Engelhardt wird über Karl v. Manteuffels Einfall, seine Hunde ins Theater zu schicken, kaum gelacht haben, Sophie v. Hahn allenfalls kopfschüttelnd, Manteuffel hingegen musste die intellektuelle Larmoyanz Engelhardts als zumindest fremd empfinden, Carl v. Fircks lehnte dessen „juristische Theorien", also symbolisches Kapital, offen ab, und mit den russifizierten Klopmann-Romanov verband sie alle so viel oder wenig wie mit den bäurischen Huene-Satticken, von dem verarmten Testator Brincken zu schweigen. Am ehesten bot noch Friedrich v. Fircks eine Erzählung an, unter deren Dach sich die einen wie die anderen wiederfinden konnten, solange sie sie nicht allzu wörtlich nahmen. Die je für sich und ihre Autoren sinnstiftenden Narrative forderten ein gemeinsames Drittes, das sie ausglich, eine umfassende, die Gegensätze nicht heilende, aber doch überwölbende Meistererzählung, die interpretationsoffen genug war, allen Elitenansprüchen als Referenz dienen zu können und gegenseitige wie äußere Anerkennung zu gewährleisten. -

152 Kurland als „Land der tatsächlichen Entwicklung": Recke, Noch ein Wort, ?. 333; vgl. dazu unten, S. 462. 153 Zur weitgehenden Äquivalenz der sonstigen Vorrechte s. Anm. 135. Auch darin stellt sich die Entwicklung als nicht weit entfernt von der etwa in den deutschen Territorien dar, vgl. Bleeck/Garber, Adel und Revolution, S. 97 f. 154 Konzept und Beispiele, wie eine solche Analyse vorzugehen hätte: Karsten HoLSTE/DietlindHüCHTKER/Michael G. Müller (Hg.), Aufsteigen und Obenbleiben in europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts. Akteure Arenen Aushandlungsprozesse, ersch. Berlin 2009. -

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435

„Obenbleiben"

7.2

Sinnstiftung

Geschichte

„Ironically, the discovery of history the essential mode of explanation for all phenomena, natural and human, was the most revolutionary change of the nineteenth century. "ISS as

Die Ironie der modernen Weltauffassung besteht darin, dass sie den Diskontinuierungen, aus denen sie hervorging, mit der Konstruktion tief in die Zeit reichender Zusammenhänge begegnete, zur Bewältigung der Zukunft die Vergangenheit mobilisierte. Dass es sich um eine Ironie handelt, ist die konstitutive Textauffassung postmodernen Denkens. Wie in der Einleitung gesagt, war das historische Gedächtnis alles andere als eine Erfindung der Moderne, das geschichtliche Bewusstsein hingegen schon. Es konnte auf vorliegende Berichte vom „Einst" zurückgreifen, löste sie aber aus ihrer Auxiliarität zu Recht, Religion oder Philosophie; „die Geschichte" stieg vom propädeutischen Hilfswissen zur selbständigen Disziplin auf, schließlich zur hegemonialen Geisteswissenschaft. Gleichzeitig infiltrierte die Vorstellung gerichteter Veränderung die Naturwissenschaften, das Wirtschaften, die Politik und das Politikverständnis, das Rechtsdenken, die Rechtssetzung, Rechtsauslegung und eben die Legitimationsstrategien sozialer Ungleichheit und Macht. Was fortan Sinn und Geltung einfordern durfte, musste sich in einem Rahmen diskutieren lassen, der gewesenes und künftiges Sein und Sollen zu einer Entwicklung integrierte. Erst diese Verortung in einem „Gang" verlieh einem Anliegen Legitimität, machte es überhaupt verhandelbar.156 Was dabei zuerst da war, die Beschleunigung der Erfahrungen oder die Entfesselung der Erwartungen, muss hier nicht geklärt werden: Es reicht die Annahme fundamentaler Verunsicherung und gesteigerter Begründungszwänge angesichts beider und ihres Auseinanderklaffens, damit eines Bedürfnisses, deutend die Kontrolle zurückzu-

155 Bayly, Birth of the Modern World, S. 484. 156 Die räumliche Metaphorik scheint untrennbar mit dem Geschichtsbegriff und seiner Dynamik verknüpft, zur Veranschaulichung des höchst abstrakten Gedankens kaum abdingbar bei paralleler Verzeitlichung des Raumes mittels Vorstellungen von „Vorreitern" und „nachholenden" Gesellschaften (der moderne Schlüsselbegriff der „Avantgarde" verschmilzt beides). Vgl. Rebecca Karl, Staging the World. Chinese Nationalism at the Turn of the Twentieth Century, Durham 2002. -

436

Imperialisierung

gewinnen, indem man sich eines sinnvollen Zusammenhangs zwischen Erinnerung, Erfahrung und Hoffnung versicherte. In Kurland hatten zumal die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen um den Privilegienbestand eine Publizistik hervorgebracht, die die Rechtsquellen und ihre Hintergründe als tages- und verfassungspolitische Argumente aufbereitete.157 Die Herrmeister und die Ordensvergangenheit, die Landes- als politische und Rechtshistorie des Standes waren in der kollektiven Memoria präsent,158 als Teil des Selbstverständnisses und eben Referenzen, wenn es darum ging, Nichtindigene auszuschließen, dem Herzog entgegenzutreten, auf polnische Interventionen zu reagieren. Wie oben skizziert lud sich dann in den Ständekämpfen der Vorwurf der verfassungsrechtlichen Illegalität konkurrierender Ansprüche mit dem ihrer geschichtlichen Illegitimität auf um so mehr, als der Adel sich de facto selbst vom Rechtsgrund seiner Forderungen -

entfernte.159

gab es bezeichnende Überlieferungslücken: So galt die Originalmatrikel für verloren,160 und als im frühen 19. Jahrhundert die Reichsheroldie mit Stoßrichtung gegen den polnischen Klein- und Daneben

Kleinstadel aus den annektierten Gebieten Standesnachweise forderte, machte es erhebliche Schwierigkeiten, die dahingehenden familiengeschichtlichen Nachrichten zusammenzutragen.161 Die Praxis des Anerkennungsverbandes hatte keine ausgeprägte genealogische Tradition erfordert. Entgegen einer naheliegenden Vermutung scheint die Stammbaum-Pflege keine ausgezeichnete Quelle des geschichtlichen Interesses im kurländischen Adel gewesen zu sein,162 entwickelte sich die historische Familienkunde erst im Zusammenhang einer intensiveren

157 Das umfassendste Kompendium dieser Gattung ist Ziegenhorns Staats Recht (1772/76); die seinerzeit (1799) verfügbaren Druckschriften in Regestenform versammelt Schwartz, Staatsschriften. Auch Recke, Auszüge; Medem, Fortsetzung. 158 Heyking, Letzte Tage, S. 11. 159 Vgl. oben, v. a. S. 198, 204, 207f., 214ff. 160 WieS. 41, Anm. 30. 161 LTS 21.4.1817, §51; LTS 28.3.1823, §55; LTA 1827, Relation der Committee, §40; LTA 1832, Relation der Committee, § 11; vgl. a. S. 375, Anm. 260. 1833 wurde daraufhin eine Kommission unter Vorsitz eines „Ritterschaftsgenealogen" beschlossen, die ein „historisch-genealogisches Adelslexikon nebst Stamm- und Ahnentafeln" anfertigen sollte: LTS 8.4.1833, §28. 162 Dagegen Seeberg-Elverfeldt, Baltische Genealogie, ?. 141: „Seit ihrer Einwanderung haben sich die deutschstämmigen Einwohner des Baltenlandes mit ihren verwandtschaftlichen Zusammenhängen und der Frage ihrer Abstammung beschäftigt." Die „reiche archivalische Überlieferung", die Seeberg-Elverfeldt, anführt, bezeugt freilich noch keine Beschäftigung, sondern allenfalls ein vorsorgliches Nicht-Wegwerfen. Die Indigenen nutzten das Material höchstens sporadisch; eine

437

„Obenbleiben"

Auseinandersetzung mit der Vergangenheit allgemein, beziehungsweise eben von neuen Notwendigkeiten stimuliert:163 Verteilungskampf und Staatsbildung waren auch hier die Auslöser, nicht zuletzt der ins Land sickernde Diskurs der Aufklärung.

Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts finden sich unter den Privataufzeichnungen der Familienarchive zunehmend Literaturauszüge, Vorlesungsnotizen, kleinere Abhandlungen zur Geschichte, deren Gehalt und Modus die Verbindung zu den deutschen Universitäten und spezifische Anliegen der Indigenen widerspiegeln.164 Dabei handelte es sich um ein primär politisch-statistisches, pragmatisches Orientierungsinteresse, bisweilen auch unbestimmte antiquarische Wissbegier, durchsetzt mit Reflexionen in sinnstiftender Absicht. So notierte ein v. d. Ropp in Anlehnung an Friedrich Carl v. Moser eine „moralisch-politische LandCharte" Europas,165 eine Mental map im doppelten Sinn einer vorgestellten Geographie der Mentalitäten. Der Autor kartierte einen Weltkreis politischer Ereignisse, sozialer Strukturen und der sie bedingenden, je nach „Nation" verschiedenen „Triebfedern" der Entwicklung, die ihn in Interpretations- und Handlungsfähigkeit gegenüber Nachrichten, potentiellen Reisezielen, Dienstherren und ökonomisch-politischen Fernwirkungen setzte. Indem er als leitende Hinsichten Wohlfahrt, Wissenschaften, vor allem aber die an einem Ort je herrschenden Freiheiten wählt und letztere zum Maßstab einer Hierarchisierung macht, reflektiert die Karte zugleich ein für Kurland gedachtes Programm im wesentlichen das des aufgeklärten Adels. Derlei ,naive' Selbstverortungen in der historischen Raumzeit weisen bereits über unmittelbar praxisrelevantes Vergangenheitswissen hinaus, sind immanent-säkular orientiert, stammeln aber gleichsam noch. Zunächst zeigte sich systematische Ge-

systematische Auseinandersetzung brachten erst das späte

18. und vor allem das 19.

Jahrhundert, wie Seeberg-Elverfeldt, ebd., S. 142ff, selbst einräumt. 163 Außer dem Adelsnachweis vor allem die gezielte Privilegiensammlung zum Zweck der Kodifizierung: LTA 1827, Relation der Committee, §75; ebd., Relation des Landesbevollmächtigten, S. 105 ff; LTA 1832, Relation der Committee, §40; auch Engelhardt an Linten 29.10.1819, LVVA 1100/13/1168, pp.8f. 164 Vgl. die Rubriken „Historische Aufzeichnungen (piezlmes par vestures/filozofiskiem jautäjumiem)" u. ä. in LVVA 1100/1-12. Allgemein zum Hintergrund Dann. Historisches Interesse. 165 LVVA 1100/11/5, pp. 10ff. Die undatierten Aufzeichnungen erwähnen die Parlements als einzige Beschränkungen des „Despotismus", eine „zärtliche Liebe" der Franzosen gegen ihren König, aber bereits den Rückzug eines „ehrlichen Ministers", wohl Neckers 1781, so dass sie etwa Mitte der 1780er geschrieben sein dürften. Mosers „Beherzigungen" waren erstmals 1761 in Frankfurt a. M., 1767 in vierter Auflage erschienen.

438

Imperialisierung

schichte, wiewohl bereits im Singular,166 noch religiös gebunden und der Vorstellungswelt von Wiederholung und Spiegelung kongruenter Phänomene verhaftet. Exemplarisch dargelegt sei das an Ernst Johann v. Schoeppingks167 1762 verfasstem Versuch [eines] kurtzen Grundrisses zu der Kurland- und Semgallischen Geschichte}6i Schoeppingk motivierte seine Schrift damit, ,,[d]aß die Wissenschaft von der allgemeinen Weltgeschichte einem jedem verständigen Menschen, der sich von der Menge der Unwissenden zu unterscheiden gedenkt, etwas ganz unentbehrliches sey: solches ist keines Beweises nöthig, wird auch von niemandem geläugnet werden, außer von solchen, die [...] ohne etwas gelernt zu haben weise zu seyn sich überreden. Daß aber die Geschichte des Vaterlandes darüber den Vorzug verdiene, wird vermuthl. Keiner in Zweifel ziehen, der nicht gerne zu Hause ein Fremdling seyn will, und von dem nichts zu wissen, eine recht strafbare Verachtung bezeigt".169 Zumal ein Adliger werde auf die entsprechenden Kenntnisse nicht verzichten wollen: „Denn wie kann ein solcher zu den Diensten des Landes sich besser vorbereiten, als wenn er dessen gegenwärtigen Zustand mit dem vorigen [...] vergleichen lernet?, wie kann er die Gerechtsamen desselben besser verstehen, als wenn er von [...] ihren Gründen unterrichtet ist? welches aber nirgends anders, besser und sicherer, als aus der Historie voriger Zeiten kann hergeholet werden."170 Das Interesse an der (vaterländischen) Geschichte speiste sich nach Schoeppingk aus einer allgemeinen Hoffnung auf das Potential der Geschichte als Magistra vitae, dem Gebot identifizierender Anteilnahme an der Vergangenheit des ständischen Kollektivs, dem Nutzen für den Adel als politisch aktivem Stand im Sinne des „Patriotism", insbesondere mit Blick auf die Privilegien, damit einer mutmaßlichen Orientierungsfunktion in der Zeit, die freilich gleich dem Raum als reine Dehnung, qualitativ statisch aufgefasst wird. Gleichwohl operiert seine Darstellung mit zwei spezifischen Zäsuren, einer essentiell-eschatologischen und einer politisch-pragmatischen: Der erste Teil behandelt die „älteste Geschichte Kurlands von der Sündflut an, bis auf die Entdeckung durch die Deutschen und die Bekehrung zum Christentum",171 der zweite die 166 Vgl. Koselleck, Einleitung, ?. 625 f. 167 Er hatte in Jena und Königsberg studiert, sich in der Landespolitik als Parteigänger Herzog Karls vorgetan und war seit 1760 Hauptmann von Doblen, später Landesbevollmächtigter: DBBL, S. 695. 168 LVVA 5759/2/916 (Hs.); die Konjektur im Titel wegen eines Einrisses im Blatt. 169 LVVA 5759/2/916, p.l. 170 LVVA 5759/2/916, p. 1. 171 LVVA 5759/2/916, p. 3.

„Obenbleiben"

439

Unterwerfung, Missionierung und Zeit der Ordensherrschaft,172 der dritte die Errichtung des Herzogtums sowie seine Verfassungs- und Regentengeschichte, wobei „dieses Stück der Curländischen Geschichte das merkwürdigste ist, indem es seinen Einfluß bis auf die gegenwärtige Zeit hat".173 Das heißt, es handelt sich um eine Einweisung in die zeitgenössischen Rechts- und Machtverhältnisse, deren Zustandekommen und Fundierung, die denn auch nüchtern-faktographisch, mit primärem Interesse an dynastischen, Verfassungs- und Gesetzgebungsfragen ge-

halten ist.174 Im Unterschied dazu sind der erste und zweite Teil auf Weltkenntnis und moralische Belehrung aus. Schoeppingk unterscheidet zwei Zustände, einen vorgeschichtlichen und den christlichen, indes über erstgenannten wenig Gewisses zu sagen sei, „denn es hat kein ander Volk sich dieses Vorzuges anzumaßen, daß es vom Anfange seinen Ursprung, Fortpflanzung und Begebenheit erweisen könnte, als das Jüdische, dessen Geschichte die H. Schrift in unverrückter Ordnung, bis auf die Ankunft Christi und dessen hernach erfolgte Zerstreuung beschrieben."175 Nichtsdestoweniger werden die verschiedenen Mutmaßungen über die Abkunft der in „Kurland" siedelnden Völker seit Noah referiert und ihre „Regiments Verfassung" und Religion erörtert, ersteres mit dem Hinweis, ,,[o]b wohl alle diese Völker sich selbst gelaßene und in ihrer natürlichen Freyheit gebohrene gewesen, auch daher leicht zu urtheilen ist, daß sie keiner Despotischen oder Selbstherrschenden Obrigkeit, in solchem Stande sich unterworfen haben" so sei doch zu unterstellen, dass sie irgendeine Art von Obrigkeit gehabt haben müssten, denn „selbst die noch jetzt in einer gleichen Ewigkeit [!] lebenden Tartaren zeigen bey ihrer ungebundenen und umschweifenden Lebensart, daß eine Gesellschaft nicht ohne Haupt seyn kann".176 Aber es habe sich wohl kaum um mehr als sporadische und lose Heerführerschaften gehandelt und ansonsten das Faustrecht des Stärkeren, Brautraub, Ehebruch und Totschlag geherrscht, wie die Schwierigkeiten der ersten Bischöfe belegten.177 Der vorchristliche als außergeschichtlicher („ewiger") Zustand war mithin einer der Freiheit, aber „in den Graulen des verblendetsten Heydenthums"178 befangen. „Sonderlich haben diese -

LVVA 5759/2/916, pp. 3, 16. LVVA 5759/2/916, p.46. LVVA 5759/2/916, pp.47ff. LVVA 5759/2/916, p.4. Die jüdische Geschichte ist also Geschichte christliche Vor-Geschichte, eben „Altes" Testament. 176 LVVA 5759/2/916, p. 6. 177 LVVA 5759/2/916, p. 9. 178 LVVA 5759/2/916, p. 11. 172 173 174 175

primär

als

440

Imperialisierung

elenden Nationen von dem in Sinai wiederholten göttlichen Sittengesetz keine Wißenschaft gehabt", beziehungsweise sie hätten als Nachkommen Japhets auch das, was ihnen bekannt war, durch die Trennung von Israel vergessen.179 Außerhalb der Offenbarung (nicht notwendig vor ihr) war der Mensch auch außerhalb der „bürgerlichen Gerechtigkeit".180 „Die Deutschen" fanden folglich ein, mit Rüssow, „bös heidnisch Volk" vor, an dem sich damit aber die Prophezeiung Noahs an Japhet erfüllte, dass auch seine Nachkommen „zu der wahren Erkenntniß Gottes gelan-

gen" würden.181

Damit auf den vermeintlich sicheren Boden der älteren Chroniken gelangt, gibt Schoeppingk einen Überblick über die Ereignisse nach 1200. Zwei Wertungen sind bemerkenswert. Zum einen, dass die ersten lateinischen Missionare „von Rechtes wegen" den ,,reußische[n] König Wladimir von Plosecke oder Polocz" als Tributherrn über einen Teil Semgallens um Erlaubnis fragten, denn der „war ein Christ, und zwar nach den Grundsätzen der orientalischen oder griechischen Kirche";182 zum anderen das herb kritische Urteil über den „Pabst": Den habe die Kunde von der Landnahme erfreut als „eine neue Gelegenheit, sein Reich und seine Herrschaft zu erweitern und sähe diese Länder als eine Gute Beute an."183 Er habe also das Kreuz predigen und im Land „den blutigsten Krieg" führen lassen,184 nach einer Weile durch den Orden, „gerade zuwieder der Lehre und Beyspiel Christi, der nicht haben wollte, daß seine Diener mit dem Schwert drein schlagen sollten."185 Erst später kehrt die Schilderung zu einer größeren Sympathie für die Rittertugenden der Eroberer zurück, ohne Schwächen und „Unordnung" zu übergehen, bis zum enthusiastischen Lob Plettenbergs, endlich dem Auftreten Kettlers.186 In der anschließenden Darlegung der Religionsverhältnisse dupliziert Schoeppingk das Bewegungsmuster innergeschichtlich, das ihm bereits zur Beschreibung des Verhältnisses von Geschichte und Nicht(Heils-)Geschichte gedient hatte: So wie der Stamm Japhet aus ihr herausfiel, um wieder in sie zurückgeholt zu werden, wechseln nun Phasen der Verdunklung und Verunreinigung mit Zeiten sittlicher Hebung, zuletzt am hellsten der „durch Lutheri Reformation wieder hergestellte[n] 179 180 181 182 183 184 185 186

LVVA 5759/2/916, p. 10. LVVA 5759/2/916, p.9.

LVVA5759/2/916,p.l5. LVVA 5759/2/916, LVVA 5759/2/916, LVVA 5759/2/916, LVVA 5759/2/916, LVVA 5759/2/916,

p. 18. p. 19.

p.20. p. 21. pp. 28ff.

441

„Obenbleiben"

Evangelii".187 Den abermaligen Triumph eines „müßigen, prächtigen, unmäßigen und unkeuschen" Lebens konnte freilich auch Lehre der

das Augsburger Bekenntnis nicht verhindern,188 und es kam der Zusammenbruch Altlivlands 1558. Geschichte nach Schoeppingk war Heilsgeschichte in einer unerlösten und unerlösbaren Welt: kein aufsteigender Prozess, sondern das Expandieren und Kontrahieren der „Wißenschaft vom göttlichen Sittengesetz", quantitativ nach der Menge der erfassten Völkerschaften, qualitativ nach der Reinheit der Lehre. Selbst die Ausdehnung dieser Geschichte geht mit Raub und Totschlag einher, und jederzeit kann Verblendung sie abschnüren. Schoeppingks Darstellung der Mission bleibt in der Sache kaum hinter den späteren Abrechnungen etwa Merkels zurück,189 verfügt aber mangels eines immanenten Fortschrittsoptimismus nicht über die Möglichkeit eines ähnlich scharfen Gerichts. Vielmehr würdigt er die Signatur der Wiederholung in den Details, etwa der ersten Verkündigung durch den Augustinermönch Meinhard in der Wiederherstellung der Lehre durch den Augustiner Luther.190 Aus der fortwährenden Duplizierung des Evangeliums in der Geschichte bezieht deren Kenntnis denn auch ihren Wert über die politische Tageskunde hinaus: „Wie nun durch dergleichen Aufführung [die sittliche Verwahrlosung der Livländer vor dem „Russensturm", M. M.] der göttl. Zorn gereizt und die eigtl. Veranlaßung zur Veränderung und Verwüstung gegeben worden, bezeugt nicht nur das göttl. Wort genugsam, sondern es lehren es auch die Beyspiele so vieler Länder, an den es ist erfüllet worden, überflüßig."191 In dieser zirkulär-statischen Welt begründete sich Herrschaft aus dem Recht, einschließlich des Herrenrechts des Eroberers, und aus der Herrschaftsausübung in Einklang mit dem göttlichen Gebot. Das erste galt per se; Verfehlungen im zweiten zu strafen, lag bei Gott, der sich dazu äußerer Kräfte wie eines Ivan IV. bediente. Doch auch schlechte christliche Herrschaft, oder besser: die Herrschaft schlechter Christen war immer noch Teil der Geschichte ihre Abwesenheit oder Zerstörung gleichbedeutend mit dem Tohuwabohu, außerhalb des Heilsgeschehens, dessen Abdruck die „bürgerliche Gerechtigkeit" oder polizierte Gesellschaft bildete. Durch Beispiel, Ermahnung und Strafe ließen sich (imdie (Herrschafts-) Verhältnisse als solmer wieder) die Herren ändern -

-

-

gegeben.

che

waren

187 188 189 190 191

LVVA 5759/2/916, LVVA 5759/2/916,

p.46. p.47.

LVVA5759/2/916, v.a. pp. 18ff., 33, 35,41 f. LVVA 5759/2/916, p. 32.

LVVA5759/2/916,p.48.

442

Imperialisierung

Damit steht Schoeppingks Schrift einer früheren Chronistik etwa Franz Nyenstädts nahe,192 die unter Berufung auf die Propheten wie die antiken Geschichtsschreiber „nicht allein die großen Magnalia Dei und Wunderthaten Gottes, so sich auff Erden zugetragen, [...] sondern auch, was in andern politischen Händeln und Sachen je in der Welt vorgelauffen" für überliefernswert befand, „um der Nachkommen willen, sich darinne zu bespiegeln, das Böse zu meiden und allen guten Tugenden zu folgen, wie man denn aus allen wahrhaftigen Historien befindet, dass Gott der Herr allezeit bey seiner wahren Kirche [...] Gedeihen und Wachsthum nebst seinem Segen und Frieden gegeben. Wiederum, da man verkehrter Weise in schändlicher Abgötterey [...] und allen Sünden und Schanden gelebet, von schrecklichen Verwüstungen und Verstörungen ganzer Monarchien, [...] Landen, Städen und Ständen lieset".193 Zwei Verschiebungen stechen gleichwohl ins Auge. Zum einen unterscheidet Schoeppingk nicht mehr das göttliche Handeln und der Welt Händel als parallele Gegenstandsbereiche, von denen der ontologisch geringere auf den erhabeneren verweist, sondern zwischen einer integrierten Geschichte Gottes mit seinen Menschen und einem Außerhalb. Indem Immanenz und Heilsgeschichte ineinander aufzugehen beginnen, bewegt sich der Text bereits in Richtung auf „die" universale Geschichte als Container der vielen Geschichten. Zweitens und damit einhergehend gewinnt das zu Berichtende Ambivalenz. „Die Geschichte" kennt Verderbtheit, Verfehlung und Unrecht als Teil ihrer Bewegung während Nyenstädt zwischen gelohnter Gottestreue und bestrafter Abgötterei binär unterscheidet, Unterwerfung und Mission der „wilden heydnischen Völcker"194 nahezu ohne Einschränkung als „frommes" und „ritterliches" Tun „zur Ehre Christi" auffasst,195 zur Erklärung der Katastrophe 1558 wohl inne-

-

192 Nyenstädt, Livländische Chronik (1604-1609). Der Vergleich legt nahe, dass Nyenstädt Schoeppingk als Quelle gedient hat, wobei beide wiederum aus Balthasar Rüssows „Livländischer Chronik" von 1578/84 schöpften. Zu Nyenstädt/Nyenstede/Nienstedt, seiner Chronik und weiteren Editionen vgl. Taube, Livländische Chronistik, S. 23 f., 34 ff; zur Chronistik des 16. Jahrhunderts allgemein, auch dem stärker an Kurland orientierten Salomon Henning, ebd., S. 23, 28f.; zu den mittelalterlichen Vorgängern siehe den Aufsatz von Norbert Angermann im selben Band: Rauch, Deutschbaltische Geschichtsschreibung. 193 Nyenstädt, Livländische Chronik, S. 3. Das steht nicht in Konflikt mit Taubes, Livländische Chronistik, S. 35, Befund, bei Nyenstädt sei „das Überwiegen wirtschaftlicher und standespolitischer Interessen gegenüber religiösen und nationalen Motiven sehr deutlich zu erkennen": Taube argumentiert auf der Ebene der inhaltlichen Ausrichtung, während es hier um narrative Vorannahmen und Temporalitäten

geht. 194 Nyenstädt, Livländische Chronik, S. 14. 195 Nyenstädt, Livländische Chronik, S. 21 ff.

443

„Obenbleiben" ren

Zwist bemüht,196 aber keine quasi-eschatologische Dekadenztheorie.

Ähnlich fehlt bei Nyenstädt die zeitlich tiefreichende Sinnstiftung, wie

sie Schoeppingk mit der Erfüllung des Noah-Wortes an Japhet betreibt und so eine Historie entwirft, die ähnlich einem Roman keine lose hängenden Stränge duldet Nyenstädt zählt her, Schoeppingk erzählt. Der Jüngere sticht von dem Älteren ab durch sein stärker argumentatives Legitimationsbemühen im Hinblick auf die Herrschaftsverhältnisse und einen komplexeren Umgang mit theonomischen Deutungen des Weltgeschehens, die eine wachsende Skepsis gegenüber der Evidenz der Verhältnisse und damit steigende Begründungszwänge abbilden. Schoeppingks Grundriss weist bereits auf das historische Räsonnieren voraus, das eine Generation später die politischen Auseinandersetzungen dynamisierte. Den eigentlichen Schub hin zur Vergeschichtlichung der Weltauffassung lösten die Zäsurerfahrungen im Umfeld dieser Konflikte selbst aus, vor allem aber die nun von „der Geschichte" als Modus fundamentaler Gesellschaftskritik Gebrauch machende (Spät-) Aufklärung. Auf Merkel als den bedeutendsten, weil wirkmächtigsten Vertreter dieser Publizistik ist mehrfach hingewiesen worden; unter seinen Vorläufern und Wegbereitern sind vor allem Friedrich Konrad Gadebusch, August Wilhelm Hupel, Heinrich Johann v. Jannau und Johann Georg Eisen zu erwähnen,197 auch Karl Ph. Snell.198 In die Form kurländischer Historiographie im engeren Sinne brachten 1785/89 Ludwig Albrecht Gebhardi199 und 1814 Ernst Swenson200 ihre Adelskritik. Dabei gehört Gebhardis Darstellung, ursprünglich als Beitrag zu einer Gemeinschaftsarbeit mit Schlözer über die Geschichte Litauens, Kurlands und Livlands verfasst, eher in den allgemeinen Zusammenhang der sich entfaltenden europäischen Staaten-Geschichte und ähnlich seine historische Adelskritik in den Kontext aufklärerischen Umgangs mit dem Vergangenen überhaupt; er bleibt relativ unspezifisch. Anders Swenson. Ein Landeskind, Kandidat der Theologie,201 schrieb er in offen provinzialpolitischer Absicht, -

196 Nyenstädt, Livländische Chronik, S. 37ff.; vgl. a. Taube, Livländische Chronistik, S. 25. 197 Überblick: Neuschäffer, Geschichtsschreibung; Wihksninsch, Aufklärung; vgl. a. oben, S. 288, Anm. 60. 198 Snell, Beschreibung; vgl. Graubner, Ständisches und aufgeklärtes Denken, S. 185 ff. (wie oben, S. 259, Anm. 175; vgl. aber a. S. 265, Anm. 211). 199 Gebhardi, Geschichte. 200 Vollständige Geschichte Kurlands nach der Zeitfolge (1814), LVVA 5759/2/910

(Hs.). 201 LVVA 5759/2/910, pp.

1,5.

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und zwar „nach den Regeln der Critick",202 also auf der Höhe der Zeit.203 Vor allem vollzog er die prognostische Wende mit, die die Tempora verschränkte: „Wenn man die Begebenheiten der Vorzeit mit den Ereignißen des gegenwärtigen Zeitalters vergleicht, so kann man aus dieser Vergleichung von dem Gegenwärtigen auf das Zukünftige schließen, und gleichsam in die Zukunft hineinblicken."204 Das gegenwärtige nun, so Swenson, sei ein eminent „schöpferisches" Zeitalter, „wo beispiellose Weltbegebenheiten sich ereignen, wo ganze Staaten ihre Selbständigkeit und ihr politisches Dasein verlieren, aus deren Trümmern neue Staatskörper geschaffen werden"205 eine Zeit des Umbruchs und, natürlich, „aufgeklärt" und „vielwissend".206 Rückblickend erkannte er „PriesterGewalt" und „Ritter-Tyrannei", die den Bauern „des edelsten Menschenguths, seiner persönlichen Freiheit beraubt" und ihn verroht hätten,207 dann gemäß dem Gang der Zeitalter und Staatsformen 1558/61 niedergebrochen seien: „Eine auf Menschenrechte gegründete, und durch Verträge gefestigte Verfassung sollte dem kurländischen Staate ein dauerhaftes Daseyn geben."208 Doch schwächten Händel zwischen dem Fürsten und dem „herrschsüchtigen Adelsstande" diese Verfassung und wurde sie endlich in eine „aristokratisch-republikanische Regierungsform verwandelt", die „bisherige Gleichheit aller Stände der deutschen Nation in Kurland aufgehoben".209 Der Konflikt ging bis zur Auflösung des Staatskörpers; seitdem habe die neue Herrschaft „allen Streitigkeiten ein Ende" gemacht.210 Die Geschichte bewies Swenson zufolge nicht nur die Verderblichkeit der Adelsherrschaft, sondern auch den Fortschritt ihr zum Trotz: Der Leser „lernt die stufenweise Entwicklung und Ausbildung des Geistes, die wissenschaftliche und sittliche Vervollkommnung dieser Nation [hier: der freien Landeseinwohner, M. M.] betrachten, und den Einfluß ihrer Geistesausbildung auf ihren gesellschaftlichen Lebenszustand."2" -

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202 203 204 205 206 207 208 209 210 211

LVVA 5759/2/910, p. 6.

Vgl. Neuschäffer, Geschichtsschreibung, S. 75. LVVA5759/2/910,p.7. LVVA 5759/2/910, p.7. LVVA 5759/2/910, p.6. LVVA 5759/2/910, p. 8. LVVA 5759/2/910, p. 8. LVVA 5759/2/910, p. 8. LVVA 5759/2/910, p. 8. LVVA 5759/2/910, p.9; außerdem Dignifizierung des historischen Wissens an sich: „Überdies gereicht es einer gebildeten Nation zur Erhöhung ihrer Menschenwürde, eine genaue Kenntnis von ihrer Vaterlandsgeschichte zu besitzen."

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Das war ganz im Geiste Merkels geschrieben, betrieb die Delegitimierung des Bestehenden als (normativ) in Unrecht und Barbarei wurzelnd und (positiv) vor dem unausweichlichen Fortschreiten der Menschheit chancenlos.212 Die geschichtliche Argumentation verließ sich nicht mehr allein auf Moral und ein grundsätzliches Sollen, sondern machte sich zwingend, indem sie die Notwendigkeit des historischen Prozesses, die jeweils eigene Sache als schon vor dem Sieg siegreich ausrief. Mit Erfolg: Dass zumal die Leibeigenschaftsverfassung problematisch geworden war, lag auch für ihre Anhänger zutage.213 „Aufgeklärt" wie sie waren, kam auch für sie eine Verteidigung unter Rückgriff auf die Argumente positiven Rechts, des politischen Realismus oder gar der gottgewollten, statischen Ordnung nicht in Frage. Direkt zu Eingang seiner Verteidigungsschrift gegen Merkel räumte Friedrich v. Fircks die legalistische Position und gab die tradierte Basis der Herrschaftsbegründung offen auf, den Rekurs auf das rechtsförmige Zustandekommen der Privilegien: „Gern räume ich eine, daß jene Handlungen [die mittelalterliche Unterwerfung, M. M.] ungerecht waren. Allein warum uns dieser Vorwurf? Was können wir dafür, daß der Titel, aus dem unsere Vorfahren sich den Besitz erwarben, unrechtmäßig war? Sollten wir deswegen Land und Leute verlassen?"214 Da die Besitztitel Privater wie der Staaten nun einmal durchweg auf Eroberung und Belehnung gegründet seien, könne höchstens über den Gebrauch dieser Titel und Rechte gestritten werden;215 ob der Adel seine Vorrechte zum Nutzen oder Schaden des Landes übe, müsse den Ausschlag geben. Eben diesen Beweis zu führen, dass das Land einschließlich der Gutsuntertanen mit der Adelsherrschaft gut gefahren sei und fahre, ist Fircks' Buch angelegt, um am Ende eine weitere Verbesserung auf der Grundlage der vorhandenen Institutionen und Verfassung zu entwerfen.216 Vorangestellt ist eine Erörterung, inwiefern „leider! zur Glückseligkeit der Nationen die philosophischen Bestimmungen nicht hinreichen."217 Statt ein Mehr an Glück und Zufriedenheit aller habe die Theoretisiererei und Verachtung unsystematisch gewachsener Realitäten durch die radikalen Menschenfreunde in der Praxis nichts als ein Mehr an „Begriffen", Despotie und Blutvergießen gebracht, der revolutionäre Fortschritt sich -

212 Nicht notwendig linear, sondern mit Wieland-in „Spirallinie": Merkel, Fortschreiten der Menschheit, v. a. S. 59, 75 f. 213 Vgl. die Reformdebatten um 1800: oben, S. 286ff., 289ff. 214 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 2 f. 215 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 3. 216 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 223 ff. 217 Fircks, Die Letten in Kurland, S. 226. -

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als Rückschritt in die mittelalterlichen „Zeiten der Barbarey" und des „Faustrechts" entpuppt.218 Der Vorwurf lautet auf ideelle Unbescheidenheit: „Wenn die Regierangsart nur die Eigenschaft besitzt, die, so unter ihr stehen, glücklich zu machen; wenn nur die Nationen zufrieden sind: so ist es genug."219 Das war eine Absage an das politische Programm der historisierenden Kritik aber nicht an ihr Anliegen, nicht einmal an ihre Folgerungen. Über die Leibeigenschaft heißt es, die „Zeit, die unaufhaltsam Alles modificirt, und die Dinge den Umständen anpast, wird auch hier Alles verändern und anpassen"; allein den Wandel zu forcieren und „gewaltsam übertrieben" herbeizuzwingen, führe unweigerlich in den „Untergang" auch des wünschenswerten Neuen. „Mit Recht glaube ich daher, dass die Leibeigenschaft in Kurland in praktischer Hinsicht zu vertheidigen ist, dass sie für jetzt noch bestehen müsse, wenn die, die unter ihr stehen, nicht unglücklicher werden sollen, als sie es bisher seyn konnten".220 Fircks stellte weder eine unausweichlich fortschreitende Entwicklung in Abrede, noch dass dieser in historischer Perspektive die Leibeigenschaft weichen müsse. Er benannte sogar den Moment, in dem die von ihr vorgeblich garantierte Verbindung zweier Stände enden könne und werde zugunsten einer Trennung in miteinander wetteifernde „Klassen": Wenn nämlich das Reich eine Verfassung erhalte, die die autokratische Macht binde und es damit interessierten Parteien unmöglich würde, „zum Nachtheil des Andern mächtige Befehle auszuwirken".221 Solange keine solche unverrückbare Grandgarantie erlangt sei, müsse eine Aufweichung der lokalen Ligaturen zu zerstörerischer Vörteilsnahme führen, „und es ist wohl keine Frage, wem die Erschleichung leichter fallen dürfte."222 Mit einem „noch" ausgestattet, deklarierte Fircks die Leibeigenschaft zum Bauernschutz um. Man kann das durchsichtig finden, entscheidend ist, dass Fircks nicht mehr das Ob, sondern das Wann und das Wie des Fortschritts diskutierte und der emanzipatorischen Richtungsvorgabe folgte. Der Vorwurf an die Kritik greift diese nicht bei ihren säkularen Entwicklungsannahmen, sondern bei ihren konkreten Befunden, eignet sich ansonsten deren Axiome an und wendet sie gegen die liberale Position zurück, indem er ihr eine Vergewaltigung des historischen Prozesses nachsagt. Der Übergang in den geschichtlichen Modus vollzog sich im wesentlichen analog der ursprünglichen Adaption der aufklärerischen Rede. -

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218 219 220 221 222

Fircks, Die Letten in Kurland, S. Fircks, Die Letten in Kurland, S. Fircks, Die Letten in Kurland, S. Fircks, Die Letten in Kurland, S. Fircks, Die Letten in Kurland, S.

226f. 229. 229. 230 ff, Zt. S. 231. 232.

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Gestritten wurde über „richtige" oder „falsche" Verständnisse des Verhältnisses von Ideen, Geschichte und Politik nicht aber um die kategorialen Voraussetzungen des Diskurses selbst. Damit setzte sich die Anti-Kritik der Frage nach einer positiven historischen Selbstverortung und Verfahrensalternative aus. Außer der bloßen Zurückweisung musste sie der delegitimatorischen Erzählung ein glaubwürdiges Narrativ entgegensetzen, das eine genetische Deutung des Status quo mit einer Zukunftsperspektive verknüpfte, um zu potentiell handlungsleitenden Verlaufsannahmen zu gelangen. -

„Zivilisierung" und „Deutschbalten" (Ausblick) „Der Übergang des Baltenlandes von Schweden an Rußland bedeutet einen Wendepunkt in seiner Geschichte, aber keinen Verrat an der Aufgabe. Aus dem Sperrblock Europas gegen Asien wurde es nun, da Peter der Große sein Reich Europa erschloß, der Brückenkopf Europas zur Erschließung des gewaltigen russischen Raumes, das Einfalls"22S tor europäischer Kultur in den Osten.

Die Figur eines „deutschen Kulturträgertums im Osten", ihre politischhistorische Radikalisierung und die vielfach selbst wieder verzerrenden Zurückweisungen haben mittlerweile ihre historiographiegeschichtliche Kontextualisierung erfahren, insbesondere im deutsch-polnischen Austausch,224 aber auch mit Bezug auf das heutige Lettland und Estland.225 Im Zuge dessen wurde auf die exponierte Beteiligung von „Balten" an solchen Entwürfen und Politiken hingewiesen,226 die, folgt man sowjet-

223 Arved v. Taube, zt. nach Ernst Seraphim, Führende Deutsche im Zarenreich, Berlin 1942, S. 5. 224 Stellvertretend: Hackmann/Jaworski/Piskorski, Deutsche Ostforschung; Themenheft ZfO 46(1997, 3); vgl. a. Mühle, Geschichte Ostmitteleuropas, S. 110; zuletzt und mit Literaturüberblick Unger, Ostforschung, S. 18 ff. 225 Hackmann, Ethnos oder Region?; Feest, Abgrenzung, v.a. S. 522ff; vgl. a. Pistohlkors, Die Stellung der Deutschen; ders., Zum 50. Jubiläum, S. 12ff.; Diskussion westdeutscher Traditionskritik in Lettland: Duhanovs/Ronis, Par dazäm jaunä iezTmem (1982); zu der interessanten Schnittstelle polnischer Baltikumshistoriographie Heyde, Polnische Forschungen, v. a. S. 55 f. 226 Volkmann, Von Haller zu Wittram, v.a. S. 26ff.; vgl. auch den Aufsatz Christine Pajouhs zur Ostpolitik Alfred Rosenbergs in Garleff, Deutschbalten.

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lettischen Positionen wie der von Edgars Melkisis,227 kaum wunder nimmt, da sich der entsprechende Diskurs bis in den Humanismus zurückverfolgen lasse.228 Doch fällt bei näherem Hinsehen auf, dass sich die Chronik Nyenstädts auf die sich Melkisis vor allem bezieht wie auch noch Schoeppingks Grundriss in der oben skizzierten Weise von der modernen historischen Thesenbildung unterscheiden: Sie handelten eben nicht eigentlich von „Kultur", sondern vom Glauben, von Erlösung, nicht Entwicklung. Zwar wird der heidnische Zustand in grellen Farben als „wild" und primitiv ausgemalt, aber es folgt darauf kein Bericht eines geschichtlichen Voranschreitens. Die frühen Chronisten und Historiographen nutzten die technische und vermeinte zivilisatorische Überlegenheit der Eroberer, um das eschatologische und sittliche Privileg des Christentums auszudrücken einen säkular-geschichtlichen Leistungsnachweis hatten sie nicht im Sinn. Als dann Ende des 18. Jahrhunderts der geschichtsphilosophische Diskurs an die ostseeischen Adelslandschaften herangetragen wurde, geschah dies in Form einer mehr oder weniger vehementen Kritik an den bestehenden Verhältnissen, die von Jahrhunderten der Unterjochung und Verwahrlosung, nicht der Kultivierung handelte. Der Aufschwung des Zivilisierungsnarrativs hingegen fällt in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.229 Bis dahin dominierte eine durchaus skeptische, der Aufklärung verbundene Historiographie,230 deren Autoren zwei Folien konstruierten, gegen die die Ostseeprovinzen und ihr Agrarzustand negativ abstachen: das mittlere und westliche Europa und Russland, wobei das letztere als Bezugsrahmen im Vordergrund stand.231 Im Vergleich mit -

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227 Mel'kisis, Kridka. Mefltisis' kurzer Aufsatz ist insofern besonders interessant, als er die zeit- und ortsgenössischen Angriffe durch die Aufklärungsschriftsteller in den Mittelpunkt rückt, damit zugleich differenziert und die erste Quelle der späteren Kritik kenntlich macht. 228 Mel'kisis, Kritika, ?. 79ff. 229 Beginn mit Richter, Geschichte (1857/58): Bosse, Geschichtsschreibung, S. 116ff.; zur allmählichen Ausbildung neuer historischer Werturteile im Biedermeier, seit Romantik und Restauration vgl. ebd., v. a. S. 115. Übersicht über die späteren Synthesen: Hackmann, Ethnos oder Region?, S. 535f.; Ablösung dieser Landesgeschichte durch „Volksgeschichte": ebd., S. 538f. 230 Prominenteste Kurländer: Cruse, Curland (1833/37); Rutenberg, Geschichte der Ostseeprovinzen (1859/60). Das nahezu gleichzeitige Auftreten der Antipoden Richter und Rutenberg markiert den Moment des Umschlags; vgl. Bosse, Geschichtsschreibung, ?. 116; auch Neuschäffer, Geschichtsschreibung, ?. 85. 231 Donnert, Eisen, ?. 12f; Merkel, Die Letten, S. 81, 116, passim; gerade auch August Wilhelm Hupels (Neue) Nordische Miscellaneen (ersch. 1781-1798) sind von diesem Geist durchzogen; hingegen sucht Snell, Beschreibung, ?. 1 ff., bei aller Hochachtung und Sympathie eine verbreitete Russland-Begeisterung zu relativieren.

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dem engeren Wirkungsbereich des „aufgeklärten Absolutismus" deklarierten die politischen Geschichtsschreiber ihren Gegenstand als rückständig, barbarisch. Wieviel Liebedienerei gegenüber der Zarenmacht, Ambition, Manipulation232 und Fehleinschätzung der tatsächlichen Verhältnisse in Innerrussland, aber auch in den Provinzen selbst,233 dabei immer im Spiel gewesen sein mag234 angesichts der örtlichen Krise, der Macht und Pracht Petersburgs, von kontinuierlicher Selbstinszenierung noch überhöht, vor allem angesichts des auch im Adel aufkeimenden Empfindens, die Leibeigenschaftsverfassung sei eklatant reformbedürftig,235 kam nicht einmal ein Friedrich v. Fircks auf den Gedanken, der Kritik eine Bilanz jahrhundertelanger „Kulturarbeit im Osten" entgegenzusetzen.236 Die entsprechenden Vorstellungen einer historischzivilisatorischen Mission gewannen erst später Kraft, als rückverlängerte Deutungen spürbarer Veränderungen einerseits, in der sich verschärfenden Auseinandersetzung mit dem russischen Staat andererseits. Der entscheidende Wandel des frühen 19. Jahrhunderts bestand dagegen in der Durchsetzung eines imaginierten Projekts zur Zivilisierung der Letten' einhergehend mit einem Bewusstsein eben erst erfolgter oder erfolgender Selbstzivilisierung. Beides legte freilich späteren Geschichtsbildern den Grund.237 Unter diesem Aspekt lässt sich George Benedict v. Engelhardts Selbstdeutung in Aufzeichnungen und Briefen noch einmal lesen als autobiographische Reflexion einer sich um 1800 ausbildenden Kollektiverzählung der ständischen Elite mit klassisch-modernem Plot.238 -

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232 Wihksninsch, Aufklärung, S. 210f ; Neuschäffer, Unterschlagene Machtpolitik, S. 416. 233 Vgl. Kahk, Der Bauer in der Literatur. 234 Kritischer Überblick: Neuschäffer, Unterschlagene Machtpolitik. 235 Vgl. oben, S. 282ff., 289ff. 236 Allerdings hob er in den Auseinandersetzungen um eine Wiedereinführung der Statthalterschaftsverfassung die ständische, „deutsch" geprägte Rechts- und Institutionenkultur Kurlands von den „einfacheren Sitten" Russlands ab: LTA 1814, LVVA 640/4/257, p. 87. Darin mag man eine Andeutung der späteren Zusammenführung von Privilegienstandpunkt und Zivilisationsrhetorik erkennen. 237 Insofern sitzt wiederum Volkmann, Von Haller zu Wittram, S. 27, einer zeitgeschichtlichen Verkürzung auf, die gleichsam das Gegenstück zu Melkisis' Verlängerung darstellt: „Fand die deutsche Ostkolonisation in der historiographischen Literatur bis dato ihre Rechtfertigung weitgehend in der Missionsidee, so wurde dieser im Laufe der 20er Jahre [des 20. Jh., M. M.] die Kulturträgertheorie hinzugefügt." Der Gedanke ist deutlich älter; vgl. a. Feest, Abgrenzung, S. 522. 238 Systematisch zur Ausweitung des Kulturbegriffs von individueller „Bildung" zum Bezug auf einen menschheitsgeschichtlichen „Fortschritt": Fisch, Zivilisation, Kultur, S. 707.

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Engelhardts Bildungsroman beginnt mit seinem Auszug aus dem engfrommen elterlichen Haus nach Königsberg, längst als ein Epizentrum europäischen Geisteslebens codiert.239 Dort kommt es zur schockhaften („ehrverletzenden") Konfrontation mit der eigenen Zurückgebliebenheit. In aufopferungsvoller Arbeit (!) gelingt es dem jungen Adligen, Anschluss an den Wissensstand der Zeit zu gewinnen, der jedoch die religiösen Gewissheiten erschüttert.240 Ein quälendes Grübeln setzt ein, das über die Rückkehr nach Kurland hinaus andauert; Kant, Fichte, Schelling bieten keine befriedigenden Antworten, das Land stößt sein zweifelndes Kind ab, Engelhardt erwägt auszuwandern. Die Liebe hält ihn. Allmählich erfährt er Anerkennung, er findet seinen Ort, findet auch zurück zum Seelenfrieden eines aufgeklärten Christusglaubens. Das im Ausland Adaptierte wird mit der Überlieferung versöhnt, und auf diesem Grand betätigt sich Engelhardt für das Land und seine Einwohner das ruinierte väterliche Haus und der verwahrloste Zustand der Geschwister durchaus pars pro toto. Endlich krönt er seine Erhebung aus roher Unwissenheit über inneren und äußeren Tumult zur zivilisatorischen Sittlichkeit durch die Mitarbeit am Emanzipationsgesetz: „Persönliche Freiheit der Leibeigenen ist die Lieblings Idee des Befreiers der Welt [Alexanders I. als Bezwinger Napoleons, M. M.]. Mit dieser Idee baut er sich von neuem in den Annalen der Menschheit auf ewig ein. Er berief uns zu Theilnehmern seiner Glorie [...] Die Rittercorps von Kurland und Pilten sprachen vergessend ihr pécuniaires Interesse das große Wort aus: Freiheit dem Leibeigenen. Dies hohe Wort faßt in sich Vergütigung für das, was wir dadurch opfern."241 In der Bauer-Verordnung treffen sich und kulminieren die zivilisatorische Opferbereitschaft des Adels und die aufopferungsvolle Selbstzivilisierung Engelhardts. Sein Lob für den Mitredakteur und Ritterschaftssekretär Rechenberg-Linten war kaum auf diesen allein bezogen: „Möge das Vaterland, zu seinem eigenen Besten, von der Fackel der Geschichte beleuchtet, lebhaft einsehen, [dass] der Einfluß solcher Männer auf das Wohl und Weh der Staaten [...] auf jedem Blate des Entwickelungs Protocolls der Menschheit zu lesen [ist]".242 Und an Linten selbst, mit modifizierter Klangfarbe: „Der Adel hat große pécuniaire und noch größere Standesrechte -

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239 Vgl. oben, S. 424. 240 Wie entschuldigend: „Die Periode meines accademischen Lebens fiel in die Periode Friedrichs und Voltaires." (Brincken, Engelhardt, ?. 33). 241 Engelhardt an die „Herren Mitbrüder" bei Überreichung des fertiggestellten Gesetzes am 11.6.1817, LVVA 1100/13/1168, pp. 2f. Hervorhebungen getilgt, Interpunktion angepasst; so auch in den folgenden Zitaten. 242 LVVA 1100/13/1168, p.2.

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auf dem Altar der Humanität gebracht. Mögen auch mehrere noch sich darin nicht finden es war ein Tribut, welchen der Zeitgeist forderte. Alle Völker werden diesen Tribut früh oder spät zahlen müssen, da alles Widernatürliche unbeständig ist nur was kann widernatürlicher seyn als Leibeigenschaft und Sklawerei? Ein Adel muß, davon bin ich überzeugt, seyn; dieser Adel muß, soll er seinen Beruf in des Staats Hierarchie erfüllen, eine Basis haben. Stärker, dauerhafter aber ist seine Basis, wenn sie Grundeigenthum ist, als wenn sie auf Leibeigenschaft beruht. Mit Beruhigung können Sie und Ich, die wir an jenem Werk arbeiteten, auf dasselbe blikken".243 Das bringt den Zusammenhang von materieller und diskursiver Neufundierung, die die Agrarreform darstellte, prägnant zum Ausdruck.244 Später unter Negligierung oder Relativierung des imperialen Impulses wie der anfangs offen einbekannten Interessen erinnert,245 wurde die Aufhebung der Leibeigenschaft zum Dreh- und Angelpunkt adliger Geschichtsdeutung; auf die Legislation von 1817 hin wurde das Vorherige ausgerichtet und das Spätere als Erfolgsgeschichte bezogen. Insofern damit die (nachträgliche) Befähigung der Bauern zur Freiheit in den Mittelpunkt der Erzählung rückte, bot das Drama der Mission civilisatrice nicht zuletzt der Literatenschaft, den Pastoren vorab, eine tragende Rolle. Provoziert und in gewissem Sinne vorformatiert von der Herrschaftskritik der Aufklärung, bildete sich eine Elitenverständigung heran, die in die Herrschaftsrechtfertigung des ständischen Regionalismus, schließlich „baltischen Deutschtums" überleitete. -

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1815/17 gründeten sechs Indigene und zwei Literati in Mitau die Kurländische Gesellschaft für Literatur und Kunst.246 Gemäß Statut sollte sie „einen Vereinigungspunkt für diejenigen bilden, welche sich mit den Fortschritten der Literatur und Kunst in Bekanntschaft erhalten und selbst dafür wirksam zu sein wünschen," um „neue, für das bürgerliche Leben nützliche Erfindungen und Entdeckungen bekannter zu machen 243 Engelhardt an Linten 29.10.1819, LVVA 1100/13/1168, pp.8f. 244 Vgl. a. oben, S. 357. 245 Ansätze schon auf dem Landtag selbst: Rede des Landbotenmarschalls Ferdinand v. Rutenberg 20.12.1816 (Merkel, Die freien Letten und Esthen, S. 278 f.). 246 Heinrich v. Offenberg, Ulrich v. Schlippenbach, Michael v. Plater-Sieberg, Alexander v. Medem, Friedrich v. Wettberg, George v. Foelckersahm (allesamt Landesoder Staatsbeamte) sowie der Mitauer Gymnasialprofessor Karl Wilhelm Cruse und der Kameralhofrat Johann Friedrich (v.) Recke. 1817 trat zum „engeren Ausschuss" noch Magnus Georg (v.) Paucker hinzu, wie Cruse Lehrer am Gymnasium: Kvaskova/Petersone, Kurländische Gesellschaft, S. 3, 8 f.

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und gemeinschädlichen Vorartheilen entgegenzutreten."247 Dorothea Biron gab ein Kapital von 1000 Rbl. S. als Fonds, (Nachlass-) Schenkungen erlaubten den Aufbau einer Bibliothek, 1817 wurde aus der Gesellschaft heraus ein Museum für Literatur und Poesie gegründet, 1818 das Kurländische Provinzialmuseum, das buchstäblich alles sammelte, was in irgendeiner Verbindung zu der Landschaft und insbesondere ihrer Geschichte stand.248 1820 hatte die Gesellschaft rund 200 überwiegend zahlende Mitglieder im In- und Ausland. Auf den öffentlichen Sitzungen wurden Vorträge und Diskussionen wissenschaftlicher, auch mehr oder weniger grundsatzpolitischer oder praktischer Natur gehalten.249 Eine der ersten Vortragsreihen betraf zwischen Februar und April 1819 die Option einer „Germanisierung der Letten".250 Den Auftakt machte der Sallgallnsche Pastor Adam Conradi mit einem Vortrag „Wäre die Metamorphose der Letten in Deutsche zu beklagen?", in dem er den Untergang des Lettischen als unvermeidlich voraussagte und zugleich begrüßte.251 Nach der Aufhebung der Erbgehörigkeit trenne allein die Sprache „den Letten vom Deutschen; sie hindere eine solche soziale Verschmelzung, wie sie Genossen einer Glaubensform und eines Vaterlandes gezieme. Die neue Verfassung führe eine Annäherung beider Nationen herbei, man müsse daher nicht den Gang der Natur hemmen; der Lette, gewohnt das Deutsche als das Bessere zu schätzen, werde sich gern fügen".252 Hingegen habe der „Hinblick auf seine Urväter" dem Letten „nichts Erhebendes" zu bieten. „Besser für ihn, wenn ein dichter Nebel ihm ihre Geschichte, die wohl keine reiche Ausbeute liefern würde, verberge, um keinen Groll zu erzeugen gegen seine Überwältiger." Zwar, wäre diese Überwältigung ausgeblieben, stünden die Letten gewiss „im Rang der übrigen zivilisierten Völker Europas", so aber hätten sie den Anschluss verloren. Mit der Emanzipation „auferweckt", verdienten sie um so mehr auch die Beseitigung des faktischen Hindernisses zwischen ihnen und der europäischen Kultur. „Durch Hinwegräumung der lettischen Sprache" ließen sich gewinnen: „1) Der ungehinderte innere Verkehr der Bürger des Landes, zu denen 247 Kvaskova/Pëtersone, Kurländische Gesellschaft, S. 3. 248 LVVA 5759/1-2. 249 Auch Beratung der Ritterschafts-Committée in wissenschaftlich-technischen Fragen: LVVA 640 / 3 / 649, pp. 9 ff. 250 Sieben Vorträge; vgl. a. Skinke, Kurzemes Literaturas un mäkslas biedrlba, S. 86f. 251 Sieben Vorträge, ?. 62 ff. Die folgenden Zitate sind dem Protokollauszug entnommen und stehen deshalb bereits in indirekter Rede. 252 Auch alle folgenden Zitate Conradis: Sieben Vorträge, S. 63 f.

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nach der neuen Verfassung auch der Bauernstand werde gezählt werden können. 2) Ein sicheres Bildungsmittel für denjenigen Letten, der, heller sehend, sich zur geistigen Veredelung erheben wolle". Conradi vertrat ein Bildungsrecht der Emanzipierten als Bürger- und Menschenrecht auf soziale und kulturelle Inklusion und einen Bildungsauftrag, oder Umbildungsauftrag, derjenigen, die vordem expansiv die Selbstbildung der Leibeigenen-Nation vereitelt hatten, wenn sie „ihrem" Tun ex post Sinn verleihen wollten. In einer offensichtlich auf Diskussion angelegten Pointierung schloss Conradi, die „deutschen Ostseeprovinzen dürften nicht aufhören, deutsche Provinzen zu sein; daher müßte, um dem etwaigen Rausche undeutscher Volkstümlichkeit vorzukommen, zur geistigen Veredelung der deutschen Sprache beigetragen und der Grundsatz sanktioniert werden: Keine Letten mehr!" „Deutsch" meint hier gewiss zunächst „Kant" und „Bildung", doch kannte Conradi offensichtlich auch seinen Fichte, und so blitzt aus dem Schluss ein ahnungsvoller Machiavellismus, der das inkludierende „Beiseiteräumen" des Lettischen auch als Prävention eigener Exklusion verstehen lässt.253 Vor allem aber gehorcht die Argumentation treu dem frühen Geschichtsdiskurs: Notwendigkeit und Wünschbarkeit werden zusammengeführt, der behauptete Zivilisationsfortschritt verkoppelt kulturelle Aufwärtsentwicklung und universalbürgerlichen Telos. Der erste, der Conradi antwortete, war Karl Wilhelm Cruse, Historiker am Gymnasium Illustre254 und späterer Verfasser der ersten einschlägigen Geschichte des Herzogtums.255 Er konzedierte, die „Sprache des Letten reiche nicht mehr aus für sein Bedürfnis als Freien", forderte aber, sie fortzubilden. „Das Bedürfnis, aus der Sprache des Sklaven eine Sprache des Freien zu bilden, liege in der neuen Verfassung selbst". Da die Sprache der Verwaltung Deutsch sei, sollten die Letten gewiss auch dies lernen können; die Folgen für ihre „Nationalität oder Volkstümlichkeit" hingegen seien allein „Sache der Vorsehung, nicht des Menschen" womit er Conradis Argumentation die Spitze der konkreten Notwendigkeit brach, ihren normativen Kern aber prinzipiell -

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253 Bezeichnenderweise lautete der Vorwurf des Herausgebers des Protokolls 1905, Conradi sei noch ganz dem „geringen historischen Verständnis" der „Aufklärungszeit" verhaftet während der politische Gehalt der Ausführungen vollständig zugunsten des „kulturellen" übergangen wird: Sieben Vorträge, S. 61 f. 254 Das Mitauer Gymnasium hatte auf die Wiedergründung der Universität Dorpat hin 1806 seine akademischen Privilegien verloren; sein Charakter als Arbeitsstätte wissenschaftlich tätiger, teils international renommierter Gelehrter blieb jedoch zunächst erhalten: Donnert, Wissenschaftslehre, S. 205. Vgl. a. unten, S. 467. 255 Sieben Vorträge, S. 64; folgende Zte. ebd. Cruse, Curland, erschien 1833/37. -

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stehen ließ. Es folgte ein weiterer Gymnasialprofessor, Ernst (v.) Trautvetter, der „den streitenden Teilen einen natur- und vernunftgemäßen Vereinigungspunkt bieten" wollte, indem er zunächst einmal das Dilemma benannte: „1) Jedes Volk muß die Sprache behalten, die ihm von Gott, der Natur gegeben worden. 2) An einem und demselben Orte können nicht zwei Sprachen zugleich herrschen."256 Es stünden sich mithin das Lebensrecht jeder Sprache, wie armselig auch immer, und das geschichtliche der Deutschen „als Schöpfer alles höheren Lebens" gegenüber. Den Ausweg wies er über die Tautologie: „Ort" sei zu definieren, und da habe jede Sprache ihren. Insgesamt aber herrsche in den „deutschen Ostseeprovinzen" eo ipso das Deutsche, „im natürlichen wie im staatsbürgerlichen Sinne, als Sprache der Gebildeten, in der Stadt und auf dem Lande", und werde sich im Fortschreiten wohl durchsetzen. Zum Trost wies Trautvetter die „Undeutschen" unter Rücknahme seines ersten Punktes auf den Untergang des Wendischen und Platt im östlichen Deutschland hin, aber auch auf die zunehmende Erfordernis für die deutschen Herren, Russisch zu lernen, endlich darauf, dass am Ende die deutschsprachige Bildung doch auch eine Entwicklung des Lettischen ermögliche Trautvetters Heilungsversuch des bisher nicht einmal voll zutage getretenen Gegensatzes verlief sich im Durcheinander. Dagegen hielt sich Karl Friedrich Watson, zu dem Zeitpunkt Pastor in Lesten, ganz an Herder:257 „Er sei fest überzeugt, daß ein jedes Volk nur durch seine eigene angeborene, von der Gottheit ihm als Wächterin seiner Nationalität erteilte Sprache gebildet werde könne."258 Was die lettische angehe, so müsse man „sie studieren und sich völlig aneignen, um einzusehen, daß sie keineswegs arm und roh, sondern reich und geschmeidig und in kirchlicher Hinsicht bereits gebildet, folglich in juristischer und politischer ebenso bildungsfähig" sei. Auch könne von „Duldung derselben [...] gamicht die Rede sein, da sie die eigentliche Landessprache wäre und da sich die Letten in Kurland zu den übrigen Bewohnern wie 6 zu 1 verhielten." Unter Verweis auf die benachbarten „Lettenvölker" der Preußen und Litauer postulierte Watson einen Zusammenhang zwischen Sprachverkümmerung und Zurückbleiben der geistigen wie materiellen Kultur, während zugleich die vollständige Germanisierung dieser Völker unmöglich sei. Mithin: „Die Geschichte lehre, daß Ausrottung von -

Sprachen durch menschliche Anstalten nicht bloß höchst schwierig, son-

256 Sieben Vorträge, ?. 64; die folgenden Zitate ebd., S. 65 f. 257 Watson gehört in die Tradition geistlicher Sprachpfleger des Lettischen und hatte maßgeblichen Anteil an der Übersetzung der Bauer-Verordnung: DBBL, S. 852. 258 Sieben Vorträge, ?. 66.

„Obenbleiben"

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dem auch höchst ungerecht und schädlich sei."259 Den Übergang von der positiven zur normativen Entkräftung Conradis schloss der Tuckumsche Pastor Karl Elverfeldt ab, indem er die „Art zu reden" schlechterdings zur „Art zu sein" erklärte und das Unterfangen, den „echten Letten" zu einem „Deutschlein" zu „verunstalten", für „geistigen Mord".260 In derselben Sitzung vom 2. April sprach der erste Indigene, Engelhardt. Er plädierte für nationale und sprachliche Vielfalt; die persönliche Freiheit sei „nicht an die Sprache gebunden", auch die dabei zu beobachtende „Stufenfolge" liege „im Plan der Schöpfung". Folglich: „Beim Germanisieren sei nichts gewonnen, denn was der Bauer wissen müsse, das könne er in seiner Sprache erlernen. Der Bauer sei von Natur an mechanische Arbeiten gewiesen, man müsse ihm daher nicht seinen Pflug und seine Sense verleiden; das wichtigste, was dem Letten jetzt not tue, sei die Erklärung des ihm gegebenen Gesetzbuches, nicht aber der Unterricht in der deutschen Sprache."261 Das war die Perspektive des Praktikers, und angesichts der sich dann tatsächlich einstellenden Schwierigkeiten bei der Implementierung der Verordnung nicht unzutreffend. Doch klingt in Engelhardts Realitätssinn bereits die ständepolitische Wendung an, die drei Wochen später der Selburgsche Kreismarschall v. d. Brincken-Gulben262 auf den Punkt brachte: „Die Letten, deren Beruf als Landbewohner der Ackerbau sei, hätten und behielten ihre soziale Bestimmung unter Letten, und bedürften vielleicht gerade der Sprachverschiedenheit und Subordination in Begriffen und Bedürfnissen, um den hohen Zweck dieses ältesten göttlichen Instituts zu erfüllen."263 Die Verschiedenheit der Sprache, Berufsbestimmung und Sitten tue dem Gemeinwesen keinen Abbruch, denn die „Nationalität bilde sich nicht durch [die] Übereinstimmung der Sprache, sondern aus der Übereinstimmung und Einheit der RegierungsVerfassung"; auch der „Übertritt einzelner Letten in die deutsche Klasse [!] könne als Schluß a minori ad potiorem ebenso wenig beweisen, als die Majorität der Letten einen Bestimmungsgrund für die Deutschen abgeben könne, ihre Sprache anzunehmen." Seine Absage an Volksnation und Quantitätsprinzip 259 Sieben Vorträge, S. 67f Auf der philologischen Annahme, die Letten und das Lettische seien „aus der Verschmelzung der Gothen in die Slaven" entstanden, bemerkte Watson noch, zwar sei die Fortexistenz dieses „Verbindungsmittels" zwischen Slaven und Germanen wünschenswert und wahrscheinlich, andernfalls die „natürlichste Metamorphose" jedoch, „daß die Letten zum Slavenstamm zurückkehrten." 260 Sieben Vorträge, S. 69 f. 261 Sieben Vorträge, S. 68 f. 262 Gulben: DBBL, S. 104. Brincken war wie Engelhardt Jurist, allerdings

promoviert.

263 Alle Zitate Brinckens: Sieben Vorträge, S. 70f.

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begründete Brincken doppelt, erstens: „Das Recht auf die Erhaltung der Sprache sei, mit dem Recht auf das Leben, als das erste angeborene Bürgerrecht anzusehen." Das griff Watsons und Elverfeldts Menschenrecht

auf Nichtassimilation auf, verlieh ihm aber durch den Nexus mit Beruf und Sitte eine sozialhierarchische Implikation, die bereits Engelhardt ins Spiel gebracht hatte. Zweitens rückte Brincken die Sprachenvielfalt in einen weiteren politischen Kontext: „Aber selbst für die Sicherheit eines kolossalen Staatskörpers ständen mehrere diplomatisch-politische Gründe der Sprachvereinigung entgegen: divide et impera!" Provinziale Unifizierangspolitik begab sich demnach in Opposition zur imperialen Staatsräson. Die Kraft der Argumentation lag darin, dass sie zwei politische Realien Imperialität und Ständerecht mit zwei starken Normen, Zivilisationsfortschritt und (sprach)nationalem Daseinsrecht, verkoppelte, also eher umstandslos das leistete, woran Trauvetter gescheitert war. Dazu musste Brincken nicht einmal Conradis Inklusionsanliegen aufgeben, sondern konnte dessen ahnungsvolle Sorge vor einer Art Rache der Geschichte gerade geschichtlich abfangen: „Die Aufhebung der Leibeigenschaft habe den Letten keineswegs das Ende ihrer Geschichte herbeigeführt, sondern mit ihr hebe eine neue, höchst wichtige, erfreuliche Periode derselben an. Daher auch der Rückblick in ihre Vorwelt keine bittere Empfindung, sondern nur dankbare Gefühle und herzerhebende Vorsätze für ihren Nationalgeist hervorrufen könne. Die von dem Zeitgeist hiezu aufgeforderten Letten beweisen sich auch durch ihre und in ihrer Sprache wert, für die Aufklärung und Einsicht ihrer Pflichten und Rechte als Untertanen diejenige höhere Bildung und Weihe zu empfangen, welche sie dereinst fähig machen wird, sich die Freiheit einer verfassungsmäßigen Regierung mit Geistesreife anzueignen. Der Redner schließt mit dem liberalen Ausruf: Es lebe die Sprache und in ihr der Geist!" Was vorderhand bedeutete, „für den Letten die Agrikultursprache". Aber eben vorderhand, im gegebenen Stadium einer Entwicklung, die freilich nicht der gewaltsamen Modifikation und Überstürzung, sondern aufbauender Leitung bedurfte. Die geöffnete Zukunft hatte den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass in ihrem vagen „dereinst" vieles Platz fand, was den Akteuren „noch nicht" zupass kam, ohne dass sie den Status quo als solchen hätten verteidigen müssen. Die Vortragsreihe lässt sich als Verdichtung der nachaufklärerischen Selbstverständigung über den historischen Ort und die „Aufgabe" der Privilegienbesitzer lesen. Am Anfang stand ein universalistisch-inklusives Nationalisierungsprogramm, dem erst die geschichtsgewisse, dann die normative Spitze gebrochen wurden, bis eine pragmatisch-emanzipatorische Sicht überleitete zur Rechtfertigung kulturell konturierter -

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Macht- und Funktionsdifferentiale. Eine „Germanisierung der Letten" wurde aus Gründen des nationalen Lebensrechts, der Machbarkeit und der politischen Räson, unter Berufung auf Partikularität, „Geist" und Entwicklungsbedingungen verworfen. Brincken, der nicht nur als Abschlussredner der Reihe auftrat, sondern auch ideologiegeschichtlich das letzte Wort behielt, bestätigte den Bildungsimpuls im Sinne einer Befähigung zum „dereinstigen" vollen Genuss verfassungsmäßiger Freiheit; einen Eingriff in die sprachlich unterfütterte ständische Segregation lehnte er ab, aus relativ unverblümt ausgesprochenem Interesse, das er wiederum eng mit der imperialen Herrschaftslogik verknüpfte. Zugleich ließ sich der Hinweis auf deren Prinzip, durch Teilen zu herrschen, verbunden mit dem explizit auch auf die „Deutschen" bezogenen „Bürgerrecht" auf Erhalt der Sprache ebensogut gegen etwaige Vereinheitlichungsbestrebungen des Imperiums selbst wenden: Sie wären weder legitim noch im wohlverstandenen Eigeninteresse der Metro-

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pole empfehlenswert.

Damit war der Kern eines ständischen Regionalismus formuliert, den die deutschsprachigen Eliten im späteren 19. Jahrhundert nationalpolitischem „Erwachen" einerseits, staatsbürokratischer „Russifizierung" andererseits entgegensetzten.264 Er gründete auf einem „natur- und vernunftgemäßen"265 Recht zur kulturellen Autonomie, als deren Garant die ständische Verfassung desto mehr berufen wurde, je stärker sie unter Druck geriet, bis Eigenart, Privileg und Geschichtsprozess in eins fielen: „Wir sind in der That nicht die Parteigänger eines nichtsnützenden Junkerthums; aber wir halten dafür, daß unser Land einer Vertretung seiner deutsch-protestantischen Entwicklung bedarf, und solange verfassungsmäßig unsern baltischen Provinzen keine andere Vertretung gewährt ist, glauben wir diejenige mit allen Mitteln stützen zu müssen, welche Indem der Adel sich als (ein) uns in den Ritterschaften geboten ist."266 dann Garant einer erster Träger, Zivilisierungsmission neu legitimierte, schuf er gleichsam erst die nachmals vielberufene koloniale Situation.267 Doch was „die Deutschen" später auf die Anklagebank brachte, ermöglichte zuerst einmal die Heranführung des ständisch-aristokratischen an moderne Suprematierhetoriken:268 Aus Herren über Land und Leute wurden Männer von Besitz und Bildung, aus Eroberern Kulturträger, -

264 Vgl. insbes. Hirschhausen, Stand, Region. Nation und Reich, v.a. S. 382ff, 396f 265 Trautvetter: Sieben Vorträge, S. 66. 266 Recke, Noch ein Wort, S. 318 (1861). 267 Vgl. S. 66, Anm. 188. 268 Vgl. Fisch, Zivilisation, Kultur, v.a. S. 681, 740; auch Barth /Osterhammel,

Zivilisierungsmissionen.

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Imperialisierung

historisch Berechteten Funktionäre der Geschichte.269 Ansätze dazu finden sich bereits in den Adaptionsbemühungen gegenüber dem Diskurs der Aufklärung. Es handelte sich um einen Teil jener Fundamentalverschiebung, die aus den Dynamisierungen der Herzogszeit herrührte, in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts grundsätzlich vollzogen wurde und dessen weiteren Verlauf nachhaltig beeinflusste. Auf diesen Verlauf sei abschließend ein kursorischer Ausblick genommen, unter zwei Gesichtspunkten, die zur Einordnung des Bisherigen hilfreich scheinen: der „Zivilisierang" in der Praxis und der Konstruktion ihres Raumbezugs damit Wandlungen, Gehalt und Grenzen einer Modernisierung im Rahmen des ständischen Regionalismus. Zivilisierung meinte, wie angesprochen, zunächst Selbstzivilisierung. Deren Horizont bildete ein Wertekanon, den „Arbeit" und „Bildung" konstituierten, Dienst, Opferbereitschaft, auch der „Kult der Familie".270 Die oben genannten Interpretationsmöglichkeiten von Adligkeit teilten diesen Nenner einer habituellen Domestizierung, die die umfassende Libertätsemphase des Herrschaftsverbandes ablöste und ebenso die intensive Selbstauslebung der Spätaufklärung. Gewalt als Modus der Konfliktlösung wurde zurückgedrängt oder strikt formalisiert,271 der Degen wich dem spitzen Wort, die spontane Prügelung Bedienter wurde unschicklich, insbesondere für Frauen.272 Die Mätresse (der Liebhaber) und das „natürliche Kind" verschwanden, nicht unbedingt faktisch, aber als einbekannte Normalität. Hatten Söhne oder Töchter aus außerehelichen Beziehungen vordem häufig eine Ausbildung oder materielle Versorgung, oft eine verballhornte Form des väterlichen Namens erhalten, so kam diese Offenheit außer Gebrauch.273 Inwieweit das Sexualverhalten sich wandelte oder der Ehebruch nur ähnlich dem Duell274 aus der Sichtbarkeit genommen wurde, sei dahingestellt,275 doch signalisiert bereits aus

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269 Das ist der Gedanke, der etwa dem „Mémoire" der Ritterschaft gegen die Bürgerunion noch abgeht, wenn es zwar die längere Ansässigkeit des Adels, nicht aber eine ausgesprochene Leistungsbilanz ins Feld führt: LVVA640/4/85, p.375. 270 Whelan, Adapting to Modernity, S. 103ff., 127ff.; vgl. a. oben, S. 321 f. 271 Anerkennung des „Antiduellantenstandpunkts" in Dorpat und Verbreitung des waffenlosen Genugtuungsverfahrens von dort aus, bei gleichzeitiger Verpflichtung aller zum rituellen Schlagen: Wittram, Baltische Geschichte, S. 178f. 272 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, ?. 18, 23. 273 Amburger, Erfundene Familiennamen, ?. 577. 274 Vgl. die Einschärfung des bereits katharinäischen Duellverbots: Befehl Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 2.9.1830 (Kurl. Gvts.Reg./Patente 1830). 275 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, ?. 70, formuliert es ganz allgemein so: „Alle Gefühle wirkten stärker bei der einfachen Erziehung, mithin auch die Liebe." Die Distanzierung ist kritisch zu lesen, sein Kapitel zu den „früheren gesellschaft-

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„Obenbleiben"

das Verbergen der „Ausschweifung" einen Übergang zu Elitenkodizes des 19. Jahrhunderts. Deren symbolische Verletzungen durch das „Original" waren denn auch auf bestimmte Felder und Topoi beschränkt, den Ausweis einer bereits gebundenen Freiheit, der wiederum das Normengefüge tendenziell stabilisierte. Die Hinweise können und sollen nur eine Perspektive andeuten, aus der nach sich wandelnden Alltagsrepräsentationen von Adligkeit in der weiteren ständegesellschaftlichen Modernisierung zu fragen wäre.276 Hier interessiert primär ein anderes: die Realisierung oder Nichtrealisierung des legitimatorisch gemeinten Zivilisierungsprogramms mit Bezug auf die emanzipierten ehemaligen -

Gutsuntertanen.277

Alle Beiträger zu der Debatte von 1819 nahmen, in welcher Ausformung immer, eine historische Bildungsaufgabe gegenüber „den Letten" an, und auch die weiteren Protokolle und Materialien der Gesellschaft für Literatur und Kunst weisen dieses Auftragsempfinden als zentral aus.278 Man konzipierte Periodika für die Landbevölkerung, die werbende Erläuterungen der Bauer-Verordnung enthielten, Nachrichten aus aller Welt, vor allem Russland und Deutschland, schwerpunktmäßig agrarwirtschaftlicher und -legislativer Natur, als Handreichungen gemeinte Mitteilungen zu „wissenschaftlichen Gegenständen", man trat in Verbindung mit Korrespondenten in Livland und Estland, um Erfahlichen, häuslichen und Bildungszuständen" insgesamt aber eine in mehrfacher Hinsicht aufschlussreiche Lektüre, sowohl zu den Sittenidealen seiner eigenen Zeit (ca. 1860) und ihrem Geschichtsbild als auch für Fingerzeige, wo nach Veränderung zu suchen wäre. 276 Einführend: Whelan, Adapting to Modernity., v. a. Teil III, S. 209 ff. 277 Zunächst repressiv wirkte sich die enge Verknüpfung von Zivilisierungsvorstellungen mit neuständischen Funktionszuweisungen für diejenigen aus, die bis dahin die ständisch Undefinierten Nischen besetzt hatten: Die Juden wurden mit Schankpacht-, Zuwanderungs- sowie Pacht-, Arrende- und Dispositionsverboten für adlige Güter vom Land vertrieben (LTA 1813, LVVA 640/4/257, p.34; LTS 21.4.1817, §§21, 27, 39), später mit Ausweisung aus der Provinz bedroht, sofern sie kein legales und hinreichendes Einkommen nachweisen konnten: LTS 28.3.1823, §58; LTA 1827, Relation der Committee, §43. „Zigeuner" wollte ein Deliberatorium sesshaft gemacht oder „sämmtlich nach den Colonien versendet" sehen, wogegen die Deputierten allerdings einwendeten, zumindest letzteres sei nur als Strafe für bestimmte Verbrechen vorgesehen: LTD 24.3.1832, S. 22; ähnlich schon LTS 18.3.1808, §36 (LVVA 640/4/103, p. 262). Offensichtlich handelte es sich dabei in erster Linie um ein diskursives Phänomen, denn Derschau /Keyserling, Beschreibung, S. 201, geben die Zahl der Zigeuner 1805 mit 28 erwachsenen Seelen an die gleichwohl „in Horden unter freiem Himmel" hausten. Beide Exklusionsbestrebungen folgen mehr oder weniger einschlägigen modernen Phantasien sozialer Normalisierung. 278 LVVA 5759/1/8; zur Schul- und Bildungsdebatte vgl. a. Taterka, "Für den Geist", S. 362 ff. -

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rangen auszutauschen, sich abzustimmen und gegebenenfalls zusammenzuarbeiten.279 Pastor Watson verfasste im Auftrag der Gesellschaft einen „Plan über die Art und Weise, wie die Gesellschaft für Literatur und Kunst auf die Kultivierung des lettischen Landvolkes einwirken könne",280 in dem er wort- und ideenreich die Optionen und Hindernisse einer Volksbildung ausführte, dass man etwa den Steffenhagenschen populären Kalender nutzen könne, auch vor dem Unterhaltsamen nicht zurückschrecken dürfe, um die notorische Anhänglichkeit der ehemaligen Untertanen ans Herkommen zu brechen, und wie die offiziellen Kanäle zur Distribution zu nutzen wären wenn nur die Hauptschwierigkeit sich überwinden ließe, dass es nämlich „dem Landvolk an elementarsten Bildungsgrundlagen" mangele. Rund zwei Drittel der Bauern konnten nach Watsons Schätzung nicht lesen; Schreiben und „Rechnen mit Ziffern" sei eine solche Seltenheit, dass man auf 500 Seelen kaum einen einzigen annehmen dürfe, der es beherrsche.281 Damit war im Grunde das Urteil über alle Projektemacherei gesprochen. Man konnte sich den eigenen Volksbildungswillen noch so geschäftig ausmalen, ohne flächendeckendes Elementarschulwesen blieb die „Kultivierung des Landvolks" Chimäre.282 Watsons Überlegung, eine Prämie von 10 Rbl. S. für lettische Lehrer oder Lehrerinnen auszulohen, die einer bestimmten Anzahl Kinder, beispielsweise 50, übers Jahr das Lesen beigebracht hätten, endete in Kleinmut: Rechne man nur eine Prämie je Pfarrgemeinde, summiere sich das auf 1000 Rbl. S. im Jahr den Stiftungsfonds der Gesellschaft. Wie immer man die langfristige Bedeutung des Vereins für die kulturelle Entwicklung der Provinz insgesamt veranschlagen mag,283 zunächst blieb er ein Ort, an dem vor allem der ständische Ausgleich und seine ideologische Grundlage elitenintern bekräftigt wurden. Waren das Thema Volksschulen, so lag rechtlich der Ball bei den Gemeinden selbst, die sie laut Emanzipationsgesetz zu errichten hatten.284 Angesichts deren Anlaufschwierigkeiten war jedoch allein die Ritterschaft in der Lage, in dieser Hinsicht etwas zu bewegen.285 Schon der -

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279 LVVA5759/l/8,pp.21ff.,28f. 280 LVVA 5759 /1 / 8, pp. 12 ff. 281 LVVA5759/1/8, p. 14; vgl. a. Rosenberg, Steffenhagen, ?. 244. 282 So rückt denn auch Schaudinn, Deutsche Bildungsarbeit, die Tätigkeit herausragender Einzelner bzw. Livland in den Mittelpunkt. 283 Vgl. dazu Skinke, Kurzemes Literaturas un mäkslas biedrtba. 284 BV/def., §60; vgl. oben, S. 349. 285 DaukSte, Tautskolas, S. 262; Kurland anders als Livland in dieser Hinsicht praktisch ohne Tradition: ebd., S. 263 f.; Schaudinn, Deutsche Bildungsarbeit, S. 35 ff., 80ff.; skeptisch auch zu Livland: Thaden, Deutsche Universitäten, ?. 234ff.

„Obenbleiben"

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1808 hatte auf eine Verordnung zur Gründung von Parochialschulen hin beschlossen, immerhin auf den Ritterschaftsgütern Irmlau und Grendsen zwei Bauernschulen zu errichten.286 Doch in der Wirtschaftskrise verlief sich die Sache, und 1823 wurde die RitterschaftsCommittée erneut dahingehend beauftragt.287 Vier Jahre später berichtete sie, mittlerweile sei zwar ein „Ritterschaftsuntertan" zum Lehrer gebildet worden, nur fehle ein „Local" und sei wegen anderer bedeutender Ausgaben für die Güter der Schulunterricht „zeither noch nicht förmlich eingeführt";288 da aber ohnehin das Küstorat abgebrannt sei, solle es zugleich als Schule wiedererrichtet werden.289 Ebenso unerfüllt war die gleichfalls 1823 beschlossene Gründung eines Lehrerseminars geblieben, Voraussetzung jeden ordentlichen Schulbetriebs -290 wobei das entscheidende Hindernis darin bestand, dass die Ritterschaft die Aufwendungen scheute und von der Krone erfolglos die Anweisung einer weiteren Domäne zu dem Zweck forderte.291 Immerhin hatte das Vorhaben als solches die Allerhöchste Bestätigung erhalten, und es war eine Kommission unter Vorsitz des Generalgouverneurs und Beiziehung zweier Kreismarschälle mit der Erarbeitung eines näheren Plans befasst worden.292 1827 wurden die Ergebnisse dem Landtag präsentiert. Der Entwurf sah zwei Seminare vor, je eines für Semgallen und für das untere Kurland, an denen innerhalb von neun Jahren die nötigen Lehrer ausgebildet werden sollten. Währenddessen waren allmählich die Schulen zu errichten, „mit Vorschlägen zur Kostenverminderung und Vereinfachung der Lehrgegenstände, sowie, daß die Schulen lieber auf Deputat zu fundiren wären, und nur die Gutsherren die Inspektion haben möchten".293 Der Landtag beriet und ergänzte den Plan und übergab ihn zur Entscheidung an die Oberhauptmannschaftsversammlungen.294 Dort scheiterte das Projekt an der für Willigungen erforderlichen Zweidrittel-

Landtag

286 Daukste, Tautskolas, S. 266; LTS 18.3.1808, §63: LVVA 640/4/103, p.267. Eine allgemeine Einführung wurde aufgrund der ökonomischen Lage, vor allem aber angesichts der weit auseinanderliegenden Gesinde verworfen und die Committee instruiert, in Petersburg entsprechend vorstellig zu werden: ebd., §58 (a.a.O.). 287 LTS 28.3.1823, §26. 288 LTA 1827, Relation der Committee, §91. 289 LTA 1827, Relation der Committee, §97. 290 LTS 28.3.1823, §29; LTA 1827, Relation der Committee, §20. 291 LTD 24.5.1827, S. 45 f. 292 LTA 1827, Relation der Committee, § 20. 293 LTD 17.9.1827, S. 34f. 294 LTD 17.9.1827, S. 34 f. Der Tag selbst konnte nicht entscheiden, da er die Sache erst beriet, die Kirchspielsdeputierten also nicht über sie instruiert waren.

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mehrheit.295 Erst 1836 fand sich die nötige Zustimmung für wenigstens

ein Institut,296 und 1840 begann der Ausbildungsbetrieb in Irmlau, nachdem die Bauerschaft das Seminargebäude errichtet und auf dem Wege ihre Schuldigkeit abgelöst hatte, eine Schule bereitzustellen.297 Zu dem -

Zeitpunkt waren 20 Jahre seit dem Emanzipationsgesetz und seiner Verordnung, je 1000 Seelen eine Schule zu gründen, vergangen. Dass die Angelegenheit überhaupt zum Abschluss kam, verdankte sich wesentlich dem Engagement einzelner, insbesondere des Zirauschen Pastors Johann Christoph Wolter und des dortigen Gutsbesitzer Ludwig Georg v. Manteuffel, die privat mit der Schul- und Lehrerbildung vorangegangen waren und massiv für eine landesweite Lösung nach den in Zirau gemachten Erfahrungen warben.298 Abermals zwanzig Jahre später wurden diese und ähnliche Initiativen in die Repräsentation Kurlands als „Land der tatsächlichen Entwicklung" integriert, wo der Fortschritt ohne legislativen Zwang aus der (elitären) Gesellschaft heraus getragen werde: „In Bezug auf den Elementar-Unterricht aber wird man einräumen, daß Schulen ohne Reglements noch werthvoller sind, als Reglements ohne Schulen."299 Denn seit den 1840er Jahren

nunmehr das Schulreglement Gegenstand ergebnisloser Auseinandersetzungen zwischen Gouvernementsbehörden und Landesorganen, bis endlich der Landtag von 1869 eine ritterschaftliche Schulaufsicht beschloss.300 Als zwei Jahre später ein Schweizer Beauftragter der Evangelischen Allianz insofern ein wohlwollender Beobachter das Elementarschulwesen in den rassischen Ostseeprovinzen inspizierte, kam er dennoch zu dem Befund, in Kurland stehe die Bauernbildung hinter keinem Teil Deutschlands zurück, das in der Hinsicht führenden „Rheinpreußen" ausdrücklich eingeschlossen.301 Zu Ende des Jahrhunderts dann wiesen die Provinzen den höchsten Alphabetisierungsgrad innerhalb des Russischen Reichs war

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295 Mit 158 affirmativen zu 92 negativen Stimmen: LTA 1836, Relation der Committee, § 11. Die Kosten hätten bei 500 Rbl. S. im Jahr gelegen. 296 LTS 30.4.1836, §8. 297 Hoheisel, Lehrerseminar, ?. 35. Einer Erhebung der Ritterschaft zufolge erhielten damals (1841) in der gesamten Provinz knapp 2000 Kinder Schulunterricht, davon drei Viertel unregelmäßig: DaukSte, Tautskolas, S. 270. 298 Hoheisel, Lehrerseminar, S. 34. Wolter allein soll 1 500 Briefe deswegen geschrieben haben. 299 Recke, Noch ein Wort, S. 318. 300 DaukSte, Tautskolas, S. 273 f., 284. 301 Tobien, Die Livländische Ritterschaft, Bd. 1, S. 243 f. Zu der Zeit betrug die Zahl der Volksschullehrer in Kurland 520.

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auf, um 90 %.302 Die These

von der gesellschaftsorganisierten Entwickdie deutschbaltische deren Erfolg Historiographie mit Verve auf lung, das Konto der ständischen Eliten gebucht hat,303 ist mithin nicht unbesehen von der Hand zu weisen. Doch übergeht sie den Beitrag der bäuerlichen Selbstverwaltungen304, junglettischer Nationalisierer,305 nicht zuletzt des für ausschließlich retardierend, später zerstörerisch erachteten306 Staatshandelns. Die Faktoren wären erst noch systematisch zueinander in Beziehung zu setzen,307 und ebenso fehlen Arbeiten, die nicht von „dem Adel" oder „der Ritterschaft" handeln, sondern Positionierungsstrategien und Motivationen einzelner Akteure beziehungsweise Akteursgruppen analysieren. Festzuhalten ist, dass zumindest über das erste Jahrhundertdrittel, in Teilen auch während des zweiten, die Praxis der „Kulturarbeit" hinter der Bedeutung des Topos für die Elitenverständigung zurückblieb. Wo entsprechende Ansätze zu beobachten sind, mussten sie sich mühsam gegen die Strukturbedingung des Steuerzahler-Landtags und eine aller Rhetorik zum Trotz in ihm fortwirkende ältere Konzeption durchsetzen: die sozialpolitische Abstinenz des Projectum von 1791. Es handelte sich um dieselben Hindernisse, an denen die Befürworter besser besoldeter, öffentlich geprüfter Gemein-

degerichtsschreiber gescheitert waren.308 Das Beispiel der Elementarschulen ist insofern sensibel, als es einerseits den Kern einer historiographisch perpetuierten Selbsterzählung und deren Transformation zur Kulturträgertheorie berührt, andererseits die Volksbildung bereits um 1820 von den Zeitgenossen als Schlüssel zu jeder weitergehenden „Zivilisierung" ausgemacht wurde.309 Entsprechend deuten die zunehmenden Aktivitäten der Ritterschaft wie einzelner nach

302 Rappeler, Vielvölkerreich, S. 256; ähnlich Plakans, Dictionary, S. 105. Allerdings lag Kurland bis in die 1870er/ 80er Jahre deutlich zurück, mit einer Analphabetenquote unter Rekruten von 40 % gegenüber 5 % in Estland und Livland: DaukSte, Tautskolas, S. 285; Thaden, Deutsche Universitäten, S. 236. Im restlichen Reich waren es freilich um 75 %: Thaden, a. a.O. 303 Tobien, Die Livländische Ritterschaft, Bd. 1, S. 238 ff; Taube, Landesverwaltung, S. 172f.; Hehn, Deutsche Kulturarbeit, S. 455ff ; Schaudinn, Deutsche Bildungsarbeit; in aufgeklärter Form noch Haltzel, Abbau, S. 124. 304 Sie trugen immerhin drei Viertel der Kosten: Taube, Landesverwaltung, S. 173. 305 Wie Anm. 307. 306 Wittram, Baltische Geschichte, S. 223; Haltzel, Abbau. S. 141 ff. Vgl. Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 341. 307 Ansätze und Überblick über die ältere Literatur: Daukste, Tautskolas; dies., Probleme; umfassend: Vies, Skolu vesture, dessen ausgeprägtes Differenzierungsbemühen aber weitgehend unanalytisch bleibt. 308 Vgl. oben, S. 226ff, 363. 309 Sieben Vorträge, S. 64.

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der Jahrhundertmitte310 den Mechanismus an, der die Neulegitimierung ständischer Macht über das Diskursive hinaustrieb: Wie andernorts „zivilgesellschaftliche" Rhetoriken in den Widerspruch „Universalitätsanspruch kontra reale Exklusion" gerieten und so eine „Dynamik verbürgende Diskrepanz" entstand,311 mussten die Träger des Zivilisierungsnarrativs ab einem bestimmten Punkt auf Forderungen nach Einlösung ihres geschichtlichen Versprechens reagieren. Verschärft griff diese Logik, als sich Mitte der 1860er Jahren ein lettisches Nationalbewusstsein zu artikulieren begann und publizistische Kritik aus Innerrussland laut wurde.312 Der Adel sah sich zu vermehrten Anstrengungen genötigt, die Berechtigung seiner privilegierten Position nachzuweisen, auch, aber nicht nur im Bildungsbereich. Dass er sich in Fragen zumal der politischen Partizipation weiter intransigent gab, widerspricht dem weniger, als dass es die Ratio aller sonstigen Bemühungen bildete. Inzwischen setzte sich eine Verräumlichung der Vorherrschaftsbegründung durch, die nicht länger die Provinz oder Landschaft, sondern eine weitere Region als Bezugsrahmen konstruierte mit Rückwirkungen auf Gehalt und Abgrenzungsmuster des Führungsanspruchs selbst. Der Chiffre „deutsch" kam in den lokalen Repräsentationen von Anfang an zentrale Bedeutung zu. Sie sicherte zunächst die mehrdimensionalen Elitenkompromisse wie die Apologie der in ihnen fortgeschriebenen sozialen Dominanz ab. Begünstigt vom Aufstieg der deutschsprachigen intellektuellen Produktion zu internationalem Ansehen,313 verbürgten sprachliche Zugehörigkeit und tatsächliche oder behauptete Transferbeziehungen den kulturellen Überlegenheitsanspruch, auf den sich die gegenseitige Anerkennung der beteiligten Akteure wie die Selbstempfehlung der Provinzialen für den Reichsdienst stützten. Wenn etwa George Benedict v. Engelhardt wünschte, sein Enkel möge Conrad heißen, weil der Name „so aecht teutsch" sei,314 schließt das unmittelbar an seine oben skizzierte Selbstdeutung auf der Basis von Leistung und Dienst an. Es war ein und derselbe Code, der „Tüchtigkeit" -

310 Vgl. Thaden, Deutsche Universitäten, S. 335 ff. 311 Kocka, Zivilgesellschaft, S. 483. 312 Vgl. Mesenhöller, Zivilgesellschaft und Ständegesellschaft, S. 146ff. Die dort vertretene These einer ausbleibenden Ethnisierung wird im folgenden revidiert. Gesteigerte Aktivitäten in Livland schon auf die Unruhen der 1840er hin: Daukste, Par atdecxbüm. 313 Vgl. Armstrong, Mobilized Diaspora, ?. 66; auch Wittram, Baltische Geschichte, S. 172 f. 314 Brincken, Engelhardt, ?. 34.

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und Nationalität in den Vordergrund rückte; der Gedanke des an seinen Verdiensten erkennbaren Einzelnen und die Idee der historischen Individualität und geschichtlichen Leistung des Kollektivs entsprachen und verstärkten einander.315 Indem die ständischen Eliten sich diese Wertmaßstäbe zu eigen machten, bereiteten sie das Feld für eine Konstruktion, die den 1561 fixierten Titel der Landschaft auf „deutsche Obrigkeit" in ein seit dem Mittelalter erworbenes und gewachsenes Anrecht der „deutschen Ostseeprovinzen" Russlands auf Vollendung einer Sonderentwicklung überführte. Der Begriff der „deutschen Ostseeprovinzen" spiegelte die doppelte ideologische Innovation, im Attribut durch die semantische Verschiebung vom Juridischen zum Kulturellen; das Nomen oder einen vergleichbaren Sammelbegriff hatte es bis dahin nicht gegeben. Es war neuer Wein in einem neuen Schlauch, beides hervorgebracht unter den Bedingungen und dem Einfluss des Imperiums. Dessen Bedeutung für die innerlandschaftliche Konsolidierung und Reorganisation ist oben angesprochen worden; bei der transterritorialen Verräumlichung des Zivilisierungsnarrativs verhielt es sich nicht viel anders. Die bündelnde Bezeichnung wurde zwar 1823 von Karl Gottlob Sonntag popularisiert, vielleicht auch geprägt, der einen Zeitungsmarkt sah und das Ostseeprovinzenblatt herausbrachte.316 Der Sache nach handelte es sich jedoch um eine gouvernementale Herantragung. Nach einigen Wechseln des administrativen Zuschnitts wurden die drei Provinzen 1819 zum Generalgouvernement Riga zusammengefasst317 und erfuhren seitdem eine zunehmende Parallelbehandlung als „Liv-, Est- und Kurland", die sich lokal in der Ausrichtung politischen Handelns wie im Sprachgebrauch niederschlug.318 Etwa im Gleichschritt mit der Verbreitung von Sonntags Abbreviatur begannen dann auch die Regierungsinstanzen, sie re315 Dabei trugen die Überhöhung der Individualität in die des Kollektivs und die Verpflichtung der „Persönlichkeitsentwicklung" auf sie wesentlich zur Domestizierung der Selbstrealisationen der Aufklärungszeit bei und nahmen der hohen Meinung vom Ich das zentrifugale bzw. subversive Potential. 316 Berkholz, Geschichte des Wortes „baltisch", S. 520; vgl. a. Napiersky/Recke, Schriftsteller- und Gelehrtenlexikon, Bd. 4, S. 249; Jansen, Das „Baltentum", S. 79f. Die Nähe zu allgemeinen Annahmen über den Zusammenhang von Medienmärkten und Identitätsräumen sticht ins Auge, einschlägig Anderson, Imagined Communities. 317 WieS. 291, Anm. 77. 318 Berkholz, Geschichte des Wortes „baltisch", S. 519. Die Nomenklatur richtete sich nach der Zeitfolge der Unterwerfungen. Frühere polnisch-livländische Gesamtheitsvorstellungen (vgl. Dybas, Livland und Polen-Litauen, S. 127) dürften kaum eine Rolle gespielt haben.

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Imperialisierung

verwenden und beglaubigten schließlich die Einheit mit dem „Provinzial-Svod", der Kodifizierang eines Sonderrechts der „ostzejskich", also Ostsee-Gouvernements 1845.319 Der russische Staat half seinem späteren Widerpart, dem baltischen Regionalismus, zur Welt. Zunächst dominierten in „Liv-, Est- und Kurland" landschaftliche Selbstverständnisse und Interessen, wirkten zumal zwischen Kurland und Livland unterschiedliche Verfassungsgeschichten und Oberherrschaften, gegenseitige Abschottung und Konkurrenz in Zoll-, Handelsund Läuflingsfragen fort,320 um deren Neuordnung auch die Briefwechsel zwischen den Repräsentanten der Adelskommunitäten unmittelbar nach 1795 kreisten. Zwar wurden die „engen Bande, wodurch einst die Vorväter beider Korps einander verwandt waren"321 berufen, abseits der Floskeln aber konfligierende Anliegen kühl vertreten.322 Allein bereits 1798 fanden sich die Ritterschaften zur Kooperation verdammt. Auf Befehl Pauls I., der den Besuch ausländischer Universitäten untersagt hatte, um das Einsickern „schädlicher Ideen" zurückzudämmen, zugleich aber „Aufklärung und Bildung" seiner Untertanen zumal „von Adel" nicht abschneiden wollte, kamen Deputierte des estländischen, livländischen, kurländischen und piltenschen Adels zusammen, um eine gemeinsame „protestantische Universität für die teutschen Provinzen des russischen Reichs" zu entwerfen.323 Die Kurländer

gelmäßig

zu

319 Berkholz, Geschichte des Wortes „baltisch", ?. 520; vgl. bspw. a. Befehle Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 19.3.1823, 17.4.1828: Kurl. Gvts.Reg./Patente 1823, 1828; hingegen noch Befehl usw., publ. Mitau 4.5.1800 (ebd. 1800): die „an der Ostsee gelegenen Gouvernements" Estland, Livland, Finnland und Kurland. Den entscheidenden Impuls dürfte die Emanzipationsgesetzgebung gegeben haben. 320 LTA 1808, Relation der Committee, §41: LVVA 640/4/105, p.5; LTS 18.3.1808, §§83f.: ebd./103, pp.270f. Vgl. a. Jansen, Das „Baltentum", S. 75f. 321 Friedrich v. Sivers als livländischer Gouvernementsadelsmarschall an die kurländische Ritterschaft 22.1.1796, LVVA 640/4/210, p. 1. Eine Generation zuvor bemerkte Karl v. Heyking es als besonders „liebenswürdig", dass der russische Gesandte in Warschau Otto Magnus v. Stackeiberg ihn einen „halben Landsmann" nannte, „denn wir Livländer und Kurländer sind es doch ein wenig": Heyking, Letzte Tage,?. 179. 322 LVVA 640/4/210, pp. 1 ff. Noch in den 1840ern praktisch keine Kooperation der drei Ritterschaften: Pistohlkors, Reformpolitik, S. 56; vgl. a. Hirschhausen, Grenzen der Gemeinsamkeit, ?. 343. 323 Vizekanzler Aleksandr Kurakin an den Landesbevollmächtigten Karl v. Medem 18.4.1798, LVVA 640/4/211, p. 20; Verhandlungsprotokolle der zur Errichtung einer protestantischen Universität für die teutschen Provinzen des russischen Reichs versammelten Deputation Einer Edlen Ritterschaft der Fürstenthümer Esthland, Livland und Kurland, wie auch des Kreises Pilten, Mitau, Okt. 1798: ebd., pp. 110 ff.

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wünschten, das Gymnasium Academicum auszubauen, und konnten in ersten Teilerfolg Mitau als Versammlungsort durchsetzen. Die Vertreter der beiden nördlichen Provinzen jedoch plädierten für eine Wiederbelebung der schwedenzeitlichen Universität Dorpat.324 Nachdem man die Frage des Standortes zurückgestellt hatte, kamen die konzeptionellen Verhandlungen voran,325 dann folgte abermals ein unversöhnliches Tauziehen um den Ort, zwischenzeitlich ein Votum Kaiser Pauls für Mitau, bis endlich Alexander I. 1801 zugunsten Dorpats entschied.326 Die Kurländer reagierten verschnupft, verließen die Kommission327 und kehrten, da das Studienverbot im Ausland mittlerweile aufgehoben war, zu ihren etablierten Bildungswegen zurück.328 Sie orientierten sich erst um, als die Regierung russische Abschlüsse zur Zugangsvoraussetzung für den Staatsdienst machte,329 was nach Lage der Dinge für die deutschsprachig-protestantischen Oberschichten bedeutete, zumindest einen Teil des Studiums in Dorpat zu absolvieren. In der Folge wurden die Universität und ihre Korporationen zum zentralen Ort einer Elitenvergesellschaftung, die die ständische Zerklüftung der unterschiedlichen Privilegienbesitzer überbrücken half und die landschaftlichen Rivalitäten in einen Bestätigungsmodus regionaler Zusammengehörigkeit überführte.330 Gänzlich überwunden wurde der provinziale Eigensinn zwar nie,331 so wenig wie der ständische Antagonismus je völlig befriedet werden konnte,332 doch sollten die fortbestehenden Partikularismen nicht verabsolutiert werden. Vielmehr lässt sich im Rahmen des Regionalismus die Zugehörigkeit stiftende Funktion der abgrenzend-ergänzend aufeinander bezogenen „Lands-

einem

324 LVVA640/4/211,pp.33f,70, Ulf, 128. 325 LVVA 640/4/211, p. 112. 326 Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 343; zum anschließenden erfolglosen Kampf der kurländischen Ritterschaft um den Erhalt des akademischen Charakters des Mitauer Gymnasiums LTA 1808, Relation der Committee, §58: LVVA640/4/105, pp. 9 f.; vgl. aber a. oben, Anm. 254. 327 Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 343. 328 Räder, Curonen, S. 6. 329 Befehle Sr. Kaiserl. Majestät usw., publ. Mitau 20.4., 23.10.1803: Kurl. Gvts. Reg./Patente 1803; Ausdehnung 1818 und 1824: Befehl usw. publ. Mitau o.D.9.1824 (ebd. 1824). Vgl. a. Räder, Curonen, S. 6f 330 Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 345f., 348; Wittram, Baltische Geschichte, S. 177f, 180. 331 Nicht zuletzt aufgrund der Aufhebung der gemeinsamen Zentralbehörden 1876: Garleff, Relations. Versuche zur (Wieder-) Errichtung eben solcher Einrichtungen blieben erfolglos. 332 Vgl. Pistohlkors', Argumentationen, S. 245, Warnung, insbesondere die Integrations- und Pazifizierungsleistung Dorpats nicht zu überschätzen.

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Imperialisierung

mannschaften" als eine dritte Dimension von elitärem Arrangement beschreiben, etwa analog der Komplementarität regionaler für nationale

Identitätskonstruktionen.333

Der Begriff, auf den diese Verständigung schließlich gebracht wurde und der beides, „deutsch" und „Ostseeprovinzen", den kulturellen Hegemonial- und den Raumanspruch, in sich aufhob, war die Selbstansprache „baltisch".334 Ein pseudohistorisches Etikett eher zufälliger Provenienz,335 zunächst adelskritisch aufgeladen,336 fand der Terminus seit den ausgehenden 1850er Jahren Verbreitung.337 Seinen nachwirkenden programmatischen Gehalt jedoch erlangte er durch die Verbindung mit dem etwa gleichzeitig zur Erfolgserzählung ausreifenden ständischzivilisatorischen Selbstbewusstsein,338 in der schubweise eskalierenden Konfrontation mit einer jüngeren, nationale Rhetoriken offensiv ver-

Regionale Bewegungen; Haupt /Müller /Woolf, Identities; vgl. Hirschhausen, Stand, Region, Nation und Reich, S. 385: das „Deutungsmuster der Region" als „strukturell analoges Sinnstiftungsangebot" zur „Herausforderung

333 Sundhaussen /Ther,

des Nationalen". Auch dies., Grenzen der Gemeinsamkeit, ?. 342f. 334 Das verschärft ethnisierende Substantiv „Balten" trat erst nach 1890 daneben: Wittram, Baltische Geschichte, ?. 224f.; außerhalb der Region schon früher in Gebrauch: Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, ?. 365. 335 Berkholz, Geschichte des Wortes „baltisch", ?. 520ff; auch Wittram, Deutsch und baltisch, v.a. S. 196. Vgl. a. Hirschhausen, Stand, Region, Nation und Reich, ?. 384f., die allerdings Berkholz' Ironie überliest. Jetzt v. a dies., Grenzen der Gemeinsamkeit, S. 341 ff.; Jansen, Das „Baltentum". Ausführlich zur Etymologie Svennung, Belt und Baltisch. 336 Hirschhausen, Grenzen der Gemeinsamkeit, S. 344f.; Jansen, Das „Baltentum", ?. 80. Eine Inklusionsabsicht über die wortführenden Literati und Stadtbürger hinaus beinhaltete das nicht, „da man der Ansicht war, für die Bauern hätten die Ritterschaften bereits genug getan": ebd. 337 Der „Baltischen Monatsschrift" (1859) folgten das „Baltische Polytechnikum", eine „Baltische Frauenzeitschrift" usf.: Hirschhausen, Stand, Region, Nation und Reich, ?. 385; Pistohlkors, Die Ostseeprovinzen, S. 365. In Fortsetzung der imperialen Geburtshelferschaft wurde ebenfalls 1859 der alle drei Provinzen umfassende „Baltische Domänenhof (Pribaltijskaja palata gos. imuscestv)" gegründet: Berkholz, Geschichte des Wortes „baltisch", ?. 522; Amburger, Behördenorganisation, S. 248. Die zentraladministrative Ansprache der Provinzen als „Baltisches Gebiet (Pribaltijskij [auch: Baltijskij] kraj)" auch nach der Aufhebung des gemeinsamen Generalgouvernements 1876 (Pistohlkors, a. a. O., S. 363; Amburger, a. a. O., S. 375, 388) dürfte eher aus der Perspektive einer Verfestigung von Identifikationen qua Antagonismus zu betrachten sein. Vgl. a. Bismarcks dezidiert antiirredentistische Bemerkung zum russischen Botschafter Fürst Saburov 1879, es seien doch die Russen, die die Provinzen als „deutsche" ansprächen, nicht als russische, lettische oder estnische: Volkmann, Von Haller zu Wittram, S. 34. 338 Wie oben, S. 448, v.a. Anm. 229, 230; vgl. a. Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands (1858); Recke, Noch ein Wort (1861); Neumann, Rückblicke (1860). -

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„Obenbleiben"

wendenden russischen Publizistik, endlich zentralstaatlichen Vereinheitlichungsbestrebungen damit einhergehend einer konservativen Wende um 1870, für die emblematisch der Name Carl Schirrens steht und die ab den 1880ern allgemein wurde.339 In der Rede der nun einsetzenden Einigelung verräumlichte der Container „baltisch" ein Narrativ, das sich nicht gar so altfränkisch gegen „Nationalitätenschwindel"340 und Staatsvergötzung richtete, wie später gemeint.341 Seine Durchschlagskraft bezog es aus einem kräftigen Schuss Nationalgefühl, das, wenn auch als ein „geistiges" und „kulturelles" gegen „Blut" und „Race" (Schirren) polemisierend, in höchstem Maße exklusiv und latent aggressiv war modern. Auch, dass es sich um keinen Staatsnationalismus gehandelt habe, spielt die obrigkeitlichen Funktionen des nicht zufällig so genannten „Landesstaats"342 und das Credo der Autonomie herab. Vor allem aber negligiert die These einer erst von „Panslawismus" und lettischer Nationalbewegung provozierten Abwehrreaktion343 die vorgängige Diskursumstellung der aufs Deutsche rekurrierende Dominanzanspruch war der erste in der Region, und er hatte gute strukturelle Gründe. Dass er dem Imperium kompatibel gehalten wurde, entsprach den Machtverhältnissen, aber auch Glanz und Stellung Russlands als konservativer Vormacht nach 1815, nicht zum wenigsten der früh als potentiell gefährlich erahnten eigenen Minderheitenposition344. Wenn mithin oben gesagt wurde, dass der polnische Adel wiederholt auf die nationale Karte setzte, der kurländische wohlweislich nicht, so wäre genauer zu formulieren: Die Kurländer artikulierten ihre nationalisierende Selbstdeutung in einem landschaftlichen, bald regionalistischen Rahmen, der sich mit den Interessen des Vielvölkerreichs vereinbaren ließ. Als dann die Integrations- und Normierungsanliegen des Machtstaats einerseits, die Verteilungskonflikte zwischen mittlerweile stark differenzierten imperialen und lokalen Eliten und Elitenanwärtern andererseits wuchsen,345 -

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339 Jüngste Skizze: Hirschhausen, Grenzen der Gemeinsamkeit, S. 357ff. 340 Alexander v. Keyserling, nach Rothfels, Reich, Staat und Nation, S. 234. 341 Historiographischer Schlüsseltext: Rothfels, Reich, Staat und Nation. 342 Mit ausführlicher Institutionenkunde für Livland vor dem Ersten Weltkrieg: Schlingensiepen, Strukturwandel. 343 Wittram, Baltische Geschichte, S. 223f., 232ff; ders., Ständisches Gefüge, S. 156ff; ders., Schirrens „Livländische Antwort". 344 Vgl. oben, S. 452f. 345 Vgl. oben, S. 417 f. Noch Wittram, Baltische Geschichte, S. 224, wiewohl er den entstehenden verächtlichen Hass beim Namen nennt, reproduziert das entsprechende Ausgrenzungsklischee: „Am Gegensatz zum willkürlichen, frivolen, bestechlichen Tschinownik wurde man sich der überlieferten Wesensart dankbar bewußt". Sophie v. Hahn, In Gutshäusern, S. 203, als Zeitzeugin artikulierte es ständisch und

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Imperialisierung

ging ungeachtet an und für sich relativ erfolgreicher Positionsbehauptungen346 diese Balance verloren.347 Gegenüber metropolitanen Revisionsabsichten und lettischen und estnischen Inklusionsforderungen, ja Konkurrenzansprüchen348 entfaltete der ständische Regionalismus unter den deutschsprachigen Führungsschichten seine volle integrale Potenz, mit aller Unduldsamkeit gegen den „Abfall" auch in den eigenen Reihen349 vermittelte insofern noch einmal einen begrenzten

Herrschaftskompromiss. Die Verknüpfung von Privilegienstandpunkt und Zivilisierungsmission gewann Züge eines National-Standes-

dünkels. Ohne die Kontingenzen der Entwicklung in Frage zu stellen, die Annahme, dass die Geschichte offen war (und es bleibt, bis wir sie schreiben): Als Möglichkeit angelegt war der Verlauf bereits in der Begründung der Elitenkompromisse um 1820, der Rechfertigung sozialer Dominanz aus geschichtlicher Leistungsfähigkeit und dem Erfolg dieser Selbstauffassung. So konnte es etwa gleichzeitig mit dem Aufkommen der Formel „baltisch" um 1860 gelingen, die zivilisationsgeschichtliche Mental map der Aufklärung regelrecht umzustülpen: Die ehedem doppelte soziokulturelle Peripherie gegenüber der progressiven Selbstherrschaft im Osten und den Maßstäbe setzenden west- und mitteleuropäischen Zentren figurierte jetzt als Beispiel eines ständisch moderierten, in der Summe überlegenen Fortschritts. In seinen vorn zitierten programmatisch aufgeladenen Erinnerungen hob Ernst v. Rechenberg-Linten den Modernisierungsmodus der Ostseeprovinzen vorteilhaft von der Inhumanität des Industrieliberalismus und den sozi-

346 347 348 349

bei aller Parteilichkeit wohl treffender: „In dem Tschinownik (Staatsbeamten), der alles vom Staate erwartet, während die Aristokratie alles vom Staate fürchtet, sieht der Adel seinen natürlichen Feind". Zu der Nonchalance, mit der sie übersieht, dass nicht nur die von ihr bedauerten Nichtindigenen, sondern auch eine gute Zahl ihrer Standesgenossen im „Tschinowniktum" ihre materielle „Rettung suchten" (ebd.), vgl. a. oben, S. 322f. Vgl. oben, S. 417 f., auch S. 25 f. V.a. Haltzel, Abbau; mit Betonung der innerständischen Blockaden: Pistohlkors, „Russifizierung"; ders., Reformpolitik; Zusammenschau: Thaden, Russification. Einführend: Apals, Nacionälä kustxba; Dribins, Nacionälais jautäjums; Wohlfart, Letten Verein; älterer Forschungsabriss (1995): Henning, Nationalbewegung. Die Bezeichnung war bewusst doppelsinnig: Pistohlkors, „Russifizierung", S. 629. Vgl. a. ders., Die Ostseeprovinzen, S. 411, zum Bedeutungsgewinn der Ritterschaften im Sinne des oben, S. 457, angeführten Zitats Carl v. d. Reckes; auch Wittram, Ständisches Gefüge, S. 155; vergleichend mit Territorien des Deutschen Bundes:

Pistohlkors, „Feststehen".

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„Obenbleiben"

alen Verwerfungen postständischer Gesellschaften ab.350 Das Imperium strich er zwar als Rahmen dieser Entwicklung heraus und stellte Russland ausdrücklich als das größere Eigene vor,351 handelte aber de facto fast ausschließlich von den lokalen Verhältnissen und schwieg von den innerrussischen.352 Um so deutlicher fiel dann die Absage aus, die zehn Jahre später Carl Schirren Jurij Samarin erteilte: „Wer wollte Ihrem Volk glückliche Anlagen abstreiten? Aber an seinem Character finde ich nichts, was zu herrschen berechtigte: weder Ernst, Maas, Ausdauer, noch eine gewisse Uebung, Erfahrungen zu nutzen, um nicht immer in dieselben Illusionen zu fallen; Stimmungen finde ich genug; nicht einen männlichen Grundsatz. [...] [D]as russische Volk [ist] fahrlässig, genügsam bis zur Liebenswürdigkeit, bis zur Barbarei und völlig unfähig, irgend etwas bedeutsam Dauerndes aus sich selbst zu schaffen."353 Folglich: „Nein, Ihr Volk ist nicht reif und nicht werth, über uns zu herrschen".354 Eher, möchte man hinzufügen, schon umgekehrt. Die ständische Macht- als Tüchtigkeitsbehauptung ethnisierte sich, von Schirren zu Ernst Seraphims Führende Deutsche im Zarenreich, dem das diesen Abschnitt einleitende Zitat als Motto voransteht, ist der Weg -

350 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 33, 129, 157, 159ff: wie oben, Einleitung, S. 12, Anm. 4, 5. Eine Absage an das Erwerbsstreben war das nicht, im Gegenteil setzte auch Linten „Gleichgültigkeit gegen Erwerb und Betriebsamkeit" mit „moralischer Verschlimmerung" gleich: Rechenberg-Linten, Bauerverhältnisse I, Sp. 9. 351 Rechenberg-Linten, Zustände Kurlands, S. 159 ff., passim. 352 Mit der Ausnahme des Schlussworts, Zustände Kurlands, S. 175: „Der Eine nennt das Barbarei, was der andere Civilisation", und so habe Russland die weittragende Artillerie mit großer Tötungseffizienz allein aus Not im Krimkrieg von den Westmächten übernommen; es halte die Todesstrafe für inhuman, der Westen nicht; es trage in Kriminalsachen die Prozesskosten, um nicht auch noch die Familie des Verbrechers zu ruinieren, das Ausland nicht; Russland halte es für Barbarei, Kleinkriminelle in die Kolonien zu schicken, England nicht. Und eben auch die „demokratischen Ideen der Neuzeit, die die Staaten bewegt haben", hätten in dem „großen Reiche", „das seinen eignen Geist der Zeit pflegt und entwickelt, wirkt und handelt", nicht vordringen können. 353 Schirren, Livländische Antwort, S. 103, 104f. Vgl. a. Wittram, Schirrens „Livländische Antwort", S. 178ff, der den Text kritisch behandelt, aber eben rein reaktiv auffasst. 354 Schirren, Livländische Antwort, S. 101. Die Schrift wurde in Leipzig gedruckt und konnte ihr Publikum in den Ostseeprovinzen erreichen, da Schirren an der Universität Dorpat das Amt des Zensors bekleidete und sich selbst passieren ließ. Er musste freilich umgehend emigrieren: Neander, Schirren, S. 186, 189.

472

Imperialisierung

kurz.355 Er variiert die europäisch-modernen Leitmotive geschichtlichen

Hochmuts, nach außen gerichteter Aggression und innenpolitischer Absicht, führt in den Juli 1914 und über ihn hinaus tiefer ins 20. Jahrhundert hinein.

355 „Alle baltischen Historiker, die bis 1918 die gemeindeutschen Vorstellungen von Rußland beeinflußt haben, sind aus der Schule Schirrens hervorgegangen [...] Die Wirkungen der .Antwort' gingen durch mehrere Generationen": Wittram, Schirrens „Livländische Antwort", S. 181. Zum „Wandel deutschbaltischer Ideologien" mit Fokus auf die Zwischenkriegszeit vgl. Feest, Abgrenzung.

What if Mexico's whole generation have turned out like this? Will Postwar be nothing but .events', newly created one moment to the next? No links? Is this the end of history?" Thomas Pynchon1 „

„Don't panic." Douglas Adams2

Überblick

Scheinbar unberührt von Kriegen, Aufklärung, Revolution, Staatswechsel und heftigen konjunkturellen Ausschlägen, selbst von der Aufhebung der Leibeigenschaft 1819/33, konnte der seit dem 16. Jahrhundert landständisch privilegierte Indigenatsadel Kurlands zentrale Komponenten seiner Macht bis ins späte 19. Jahrhundert, in Teilen bis 1920 behaupten. Entsprechend gilt die Ritterschaft wie zahlreiche andere „ost(mittel)europäische" Elitenformationen für einen Meister der Beharrung, erfolgreichen Entschleuniger gesellschaftlichen Wandels. Allein Zeitgenossen empfanden das, was zwischen etwa dem letzten Drittel des 18. und dem ersten des 19. Jahrhunderts an institutioneller, sozialer, diskursiver und alltagspraktischer Veränderung einsetzte, als umfassenden Bruch mit dem Bestehenden. Der Text folgt ihrer Wahrnehmung und entwirft die Hergänge als qualitative Umgestaltung, die dem Epochenvorgang der europäischen Modernisierung angehört. -

-

1 2

Thomas Pynchon, Gravity's Rainbow, London 2000 (EA 1973), S. 56. Douglas Adams, The Hitchhiker's Guide to the Galaxy. A Trilogy in Five Parts, London 1993 (EA 1979-1992), S. 42, passim.

Überblick

474

Modell und Absicht

„Modernisierung" meint hier ein Ensemble von Fundamentalprozessen (strukturelle Differenzierung, Domestizierung von Natur, Individualisierung der Person, kulturelle Vergeschichtlichung), die ein zunehmend interdependentes Europa etwa gleichzeitig erlebte. Dabei handelte es sich nicht um den Einstieg in eine Bewegung ,auf etwas zu', sondern um kontingente Dynamisierungen, die einige ihrer möglichen Folgen zeitigten. „Die" Moderne ist kein Monopol eines Gesellschaftstyps und wird nicht erreicht, sondern variabel ausagiert. Das konstituiert sie als gemeineuropäische3 Epoche. Kann die Modellannahme entsprechende Vorgänge auch in einer als notorisch „rückständig" qualifizierten Peripherie zeigen, besteht ihr narrativer Mehrwert in einer Enthierarchisierung europäischer Vergangenheiten, der methodische darin, tatsächliche Dynamiken sichtbar und analytisch zugänglich zu machen, wo Abfolgetypologien ihren blinden Fleck haben und deshalb zur Konstruktion von Defizitgeschichten neigen. Im konkreten Fall: Jenseits der vordergründig-nomenklatorischen Herrschaftskontinuität und undifferenziert behaupteten Beharrungsmacht „des" kurländischen Adels kommen Verschiebungen zu etwas

substantiell Neuem zwischen ca. 1760 und 1830 in den Blick. Diesen Wandel als ständische Modernisierung zu untersuchen zielt weniger auf landesgeschichtliche Kenntnisausweitung als auf eine Entfaltung der

Epochenhypothese.

Das Herzogtum

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Dynamisierungen

Der kurländische Ritterschaftsadel Mitte des 18. Jahrhunderts lässt sich als sippschaftlicher Herrschaftsverband, die ,Polis' als „Adelsrepublik mit fürstlicher Spitze" beschreiben. Die „Indigenen" bildeten ungeachtet einer partiellen zivilrechtlichen Gleichstellung nichtindigener4 Nebeneliten den einzigen politischen Stand, genossen ein landtägliches Partizipationsmonopol, ein Monopol an den höheren Ämtern und Richterstellen sowie an den (allodifizierten) Privatgütern, nicht zuletzt ein Kooptationsrecht beziehungsweise auf die Landschaft bezogenes Nobilitierungsveto. Umkämpft war indes der pfand- oder pachtweise Nießbrauch an den fürstlichen Domänen gut der Hälfte des Landes. In Anbetracht -

3 4

Zur Zur

(Selbst-) Beschränkung auf Europa vgl. S. 23, Anm. 46.

analytischen Untauglichkeit des Begriffs „bürgerlich" vgl. S. 70.

475

Überblick

dieser materiellen Übermacht des Herzogs erwies sich die Konkurrenz zwischen der polnischen Lehnsoberherrschaft und den interessierten Mächten, vor allem die Außensteuerungspolitik Russlands, als wirksamster Schutz der ständischen Freiheiten und Mitspracheprivilegien. Gleichzeitig herrschten Adlige als Landbesitzer nahezu unumschränkt über leibeigene Untertanen, deren Widerstands- und Verweigerungspotentiale allerdings oberhalb dessen lagen, was die Rechtsquellen allein aussagen. Etwa weisen Schlichtungsprotokolle, bei näherer Lektüre auch Bauernüberlassungskontrakte eine alltägliche Handlungsmacht der Unterworfenen aus, die deren umstandsloser Viktimisierung entgegensteht. Gleichwohl: Auf den ,Oikoi' fügten sich Gericht, Polizei, Wirtschaftsaufsicht und privater Lebensvollzug zu einem (vorgestellten) Herrschaftsintegral, das dem kompakten Handlungsraum korrespondierte, den auf der Landschaftsebene Sippschaftlichkeit, Politik, Ökonomie und Rechtspflege bildeten. Besitztümer wurden politisch erworben und politisch investiert, Rechte, Macht und Ämter mit finanziellen Mitteln verteidigt oder gewonnen, Karrieren und Lebenschancen in Klientelverbänden eröffnet und realisiert. Entsprechend stellten vergleichsweise homogene Konzepte von Adligkeit auf eine holistische Herrenrolle in Verbindung mit einem emphatischen Begriff von Freiheit als möglichster Ungebundenheit ab. Vor allem drei interdependente Faktoren dynamisierten diese in Figuren von Abbildung, Kongruenz und Wiederholung gefasste Ordnung der Dinge: der Marktimpuls der europäischen Agrarkonjunktur, der Diskurs der Aufklärung und die Expansion des modernen Machtstaats. -

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Angesichts steigender Getreidepreise auf den Exportmärkten reagierten die Indigenen auf die Chance zur Revenüenvermehrung mit einer Intensivierung der extensiven Exploitation, konkret Anhebungen und Reorganisation der Fronlasten, mit sporadischer technischer Intensivierung der Produktion, nicht zuletzt mit deren Extensivierung durch Zukauf. Die Folge war ein Auftrieb der Güterpreise, der ein starkes spekulatives Element enthielt und mittelfristig in einer Überhitzung des Finanzmarkts mündete. Dabei dominierten Kreditbeziehungen Ritterschaftsadliger untereinander, während solche zu Ausländern oder Nichtindigenen schwach blieben. Zugleich entfaltete sich zwischen Ritterschaft und Herzog ein Kampf um die Domänen, um den Nutzen am ,Staats'-Fonds, damit einhergehend um die Verfassung, den beide Seiten als existentiell auffassten. Der Konflikt war strukturell angelegt in der Bodenverteilung und im ständischen Machtdualismus, wurde von der Inter-

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Überblick

ventionskonkurrenz zumal der Oberherrschaft Polen und des regionalen Hegemons Russland verstetigt und von einem sich bald abzeichnenden Konzentrationsprozess auf dem Privatgütermarkt angeheizt. Seine Eskalationsbedingungen gründeten in dem Rollen- und Feldintegral, das allenfalls eine schwache funktionale Scheidung von „öffentlich" und „privat", „politisch" und „wirtschaftlich" kannte, damit eine Praxis der undifferenzierten Bereicherung nahelegte: eine kaum sektoral definierte Suche materieller Vorteile. Insofern die folgende Eskalation unter Peter Biron entsprechende Differentiale hervorbrachte, kann sie als eine Art Erbauseinandersetzung um das frühneuzeitliche, befürstet-sippschaftliche Gemeinwesen gelesen werden. Dazu trug maßgeblich der Ausgang individualer Lebenshoffnungen und Ambitionen aus historischen Bindungen, die Aneignung aufklärerischer Codes durch adlige Akteure bei. Der Status des Adels basierte auf Recht sowie seinem Vermögen, die ihm beanspruchten Privilegien auch wahrzunehmen, die Ämter auszufüllen. Zur Verteidigung beziehungsweise Ausweitung seiner Position war der Herrenstand zudem darauf angewiesen, vor polnischen Reichstagen und Gerichten, an den umliegenden Höfen seine Anliegen wirksam zu vertreten. Außer Geld erforderte das juristische und ideologische Schlagfertigkeit, Gesellschafts- und Überzeugungsfähigkeit: sich einlassende Kenntnisnahme zeitgenössischer Rede, seit Mitte des 18. Jahrhunderts eben des Diskurses der Aufklärung. Dessen Transfer verlief im Wege häuslichen Unterrichts, auswärtigen Schul- und Universitätsbesuchs, über Reisen, Dienstnahmen und zunehmend Lektüre, mediale Vermittlung, später eine libertäre (Standes-) Öffentlichkeit, nicht zuletzt im Kielwasser fürstlicher Repräsentation und im Kontext eines klientelisch eingetränkten Logenwesens. Seine Anverwandlung schlug sich nieder in politisch-philosophischen Selbstreflexionen und Weltdeutungen, markant im sich wandelnden Verständnis von ständischem „Patriotismus"', auch in einer teilweisen Modifikation der lokalen Herrschaftspraxis, wie eine Anzahl Gutsgesetze oder „Hofrechte" sie ausweisen. Vor allem jedoch: Indem Praxis der Bereicherung und Diskurs der Aufklärung ineinanderfassten, gewann der Verteilungskonflikt systemsprengendes Potential. Von Peter Birons Güterpolitik, Anfang der 1790er zusätzlich von nichtindigen-elitären Teilhabebegehren herausgefordert, verließen die ritterschaftlichen Wortführer die historisch-rechtliche Begründung adliger Dominanz und verschmolzen tradierte Privilegienpo-

von

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Überblick

sitionen und Versatzstücke ideeller Moden zu einem Programm, das auf exklusive Parlamentarisierung, ständische Gewaltenteilung und eine Depotenzierung des Fürsten hinauslief, unter diesem Aspekt resolut modern war und Herzog und nichtindigene Opposition im Griff nach der

Landesherrschaft ideologisch überspielte.

Die Agonie des Ancien Régime: Krise mit Alternative Die Ritterschaft konnte sich in zentralen Punkten durchsetzen, erzwang eine institutionelle Differenzierung auf der legitimatorischen Basis geschichtlicher Innovation der Adel näherte die Polis einem Staat als ziviler Veranstaltung an: einem machtpolitisch abstinenten, darüber gesellschaftsorganisatorisch sterilen Obrigkeitsskelett zur Regulierung der Beziehungen der Eliten untereinander. Unterdessen geriet infolge der französischen und polnischen Revolutionen der systemische Rahmen der kurländischen Verhältnisse in Bewegung. Sich in wechselseitiger Kompensation arrondierend griffen die Mächte aus. Zunächst stürzte im Land selbst das Klima. Endgültig das Überspringen des Kosciuszko-Aufstands 1794 und die folgenden Bauernunruhen führten zu einer Diskursumwälzung im Adel, der von Republikanisierung zu Stabilisierung überschwenkte, zu einer Mischung aus Resignation und Konteraggression. Neuerungslust geriet in einen „jakobinischen" Ruch. Am Ende wiesen Revolutionsfurcht, Vorteilssuche und Einsicht ins Unvermeidliche den Weg zur russischen Inkorporation die freilich andernorts ausgehandelt wurde. Nicht die Unterwerfung führte zur Annexion, sondern die Teilungsabrede lief auf den Subjektionsakt hinaus. Dennoch ist, was sich mächteseitig betrachtet in die Expansion der Großstaaten fügt, aus landschaftspolitischer Warte als eine Staatsabwälzung beschreibbar: halb unwillige Einwilligung in die Revoltierung der Herrschaftsordnung von außen. Was folgte, war eine für die Indigenen schmerzhafte, das eben noch triumphierende Freiheitsverständnis berührende Penetration der provinzialen Verhältnisse durch den extrahierenden und normierenden, Anstalten exportierenden und die Kooperation seiner Untertanen einfordernden imperialen Staat. Die nun im Kontext der Autokratie zu bewältigende Reorganisation der Institutionen landschaftlicher Macht- und Verwaltungsteilhabe löste heftige Auseinandersetzungen und erfolglose Experimente aus, geprägt von einer vorderhand unauflöslichen Spannung zwischen Funktionalitäts- und Legitimitätsanforderungen an die ständischen Mitspracheorgane. Verschärfend wirkte, dass Steuern und Rekrutierungen -

-

Überblick

478

erhebliche materielle und soziale Kosten verursachten, deren Umlage die Kohäsion des gutsbesitzenden Adels unterminierte. Derweil wurde eine Erosion der Grundlagen infolge der ausfuhrorientiert-monokulturellen Leibeigenschaftsökonomie fühlbar, eine Auszehrung der Böden, der Bauerschaften, damit der Legitimität adliger Herrschaft über Land und Leute. Abgaben und Aushebungen stellten gewiss eine zusätzliche Last dar im Kern war der Niedergang regimeimmanent. Nach 1800 mehrten sich denn auch parallel zur Revision der im engeren Sinne politischen Ordnung Reformversuche bezüglich der Agrarverfassung, die von punktuellen Eingriffen bis zu umfassenden Polizeiutopien einerseits, durchgreifenden Liberalisierungsprojekten andererseits reichten. Allein, der Widerstand der Adelsmehrheit verhinderte eine wie immer geartete Lösung. Vielmehr führten Krieg und Absatzeinbruch zur vollen Entfaltung der Krise als einer des Herrschaftsverbandes. 1808/09 kollabierten auf die Kontinentalsperre hin die Märkte, der für Agrarprodukte, in seiner Folge der Kreditmarkt, begann für den gutssässigen Adel die „Konkurszeit", die bis in die 1830er währte. Genauer: Für einen Teil des Adels begann eine Zeit der materiellen Bedrängnis und des Besitzverlustes, während andere, vielfach die ohnehin überdurchschnittlich Begüterten, sich ,nach oben' absetzten. Waren die materiellen, symbolischen und politischen Ressourcen der formal ebenbürtigen Indigenen seit jeher ungleich, so drifteten nun spezifisch profilierte Segmente des Adels dramatisch auseinander. Die Stratifizierung nach Besitz und Lebenschancen in jeder Hinsicht etwa auf dem Heiratsmarkt stieg und drohte die Korporation von innen aufzuhebein. Eine unmittelbare Konsequenz bestand im grundsätzlichen Fragwürdigwerden des politischen Betriebs: Solidaritätsschwund, machtstaatlicher Eindrang, Legitimitätsverlust und Reformblockaden provozierten Partizipationsverweigerung und endlich Anträge, das Mitsprachesystem ganz aufzugeben. -

-

-

Dass es sich gleichwohl um eine ,Krise mit Alternative'5 handelte, also keinen perspektivlosen Ordnungsverlust, resultierte zum einen aus Chancen, die der Reichsanschluss auch eröffnete, zum anderen aus einer 5

Um Christian Meiers Interpretation der altrömischen Res publica zu variieren, die bis zur Begründung des Prinzipats eben keine positive Alternative zur disfunktional gewordenen alten Verfassung vorzustellen vermochte, sondern nur den Ordnungsverlust: Christian Meier, Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik, Frankfurt a. M. M 997 (EA 1966), v. a. S. 20Iff.

479

Überblick

der Deutungsweisen, die es erlaubte, Wandel als sozialer Verhältnisse gemäß aufzufassen, allfälligen Neudem Wesen positionierungen mit Hilfe von Fortschrittsvorstellungen Sinn zu geben. Darin lag die diskursive Voraussetzung zu den imperialen und lokalen Elitenkompromissen, die noch in der System- und Orientierungskrise Gestalt gewannen und die weitere Geschichte Kurlands im 19. Jahrhundert formatierten.

Vergeschichtlichung

Imperialisierung und Elitenkompromisse Nach dem Ende des europäischen Kriegs 1815 kam die Agrarreform wieder auf die Agenda. Unter Druck Petersburgs nahm der Landtag 1817 ein an der estländischen Legislation vom Vorjahr ausgerichtetes Emanzipationsgesetz an, das die Leibeigenschaft aufhob und nach einer Übergangsphase alle Wirtschaftsbeziehungen auf dem Land dem Recht freier Verträge überließ. Der Boden blieb ohne Einschränkung Eigentum der Herren, die ihn nach Ermessen nutzen beziehungsweise verpachten konnten; das Ziel bestand explizit in einer Umgründung lokaler Macht von Herrschaft auf Besitz. Im selben Zug wurden Bauerngemeinden und Gemeindegerichte geschaffen, die in erster Instanz Recht sprechen sollten, Polizei und lokale Selbstverwaltung pflegen und aus deren massiven Anlaufschwierigkeiten sich der eigentliche Veränderungsimpuls der Reform ableiten lässt: Ihre Implementierung konfrontierte die Landbevölkerung mit abstrakten prozeduralen und materiellen Normen, institutionellen Herantragungen, die die Freigesetzten vielfach überforderten. Indem jedoch die Verordnung mit Klageweg und kommunalen Gestaltungschancen Anreize zu einer Einlebung in das verrechtlicht-differenzierte System bot, transferierte sie Anpassungsvisionen der Elite(n) auf die Ex-Untertanenschaft. Zu den Folgen gehörte außer einem entsprechenden Wandel der kulturellen Dispositionen eine beschleunigte Stratifizierung nun auch der Gemeinden. Neben pauperisierten Knechten und Löhnern entstand eine Schicht starker Pachtbauern, die ihre Höfe nach der Öffnung des Eigentumsrechts 1863/64 innerhalb einer Generation zu erwerben vermochten. Wesentlichen Anteil daran hatte der Kurländische Adelige CreditVerein, der den Käufern risikoarm Darlehen gewährte. Das Institut war 1830/32 nach einem zähen internen Ringen zwischen konkursbedrohten und liquiden, teils in der Krise profitierenden Indigenen gegründet worden, um dem sich abzeichnenden Auseinanderbrechen des Standes zu begegnen. Angesichts der Konzentrations- respektive Enteignungs-

Überblick

480

tendenz, sodann landwirtschaftlicher Investitionserfordernisse gewann die ständisch imprägnierte Assoziation kaum zu überschätzende Bedeutung für die Elitenkonsolidierung und die ökonomischen Umstrukturierungen, die der Emanzipation von Gutsuntertanen wie Gütern aus den alten Ligaturen und Restriktionen folgten. Darüber hinaus gelang schrittweise die Neubegründung der Standschaftsverfassung mittels eines Institutionengefüges, das spezialisierte Ämterbesetzungen, funktionale Kontrolle und eine effiziente Kooperation mit der russischen Gouvernementsregierung, einhergehend eine Berücksichtigung von Anliegen der Provinz oder ihres Führungsstandes gewährleistete. Die sukzessive angepasste Landtagsordnung drückte ein fundamental gewandeltes Verständnis von Repräsentation und „dem Land" aus: Ähnlich wie die Status- und Rollendifferenzierung das Herrschaftsintegral gelöst hatte, wichen die Kongruenz- und Abbildungsvorstellungen einer Imagination von Gesellschaft und interessierter Vertretung, die die ontologische Spaltung der Moderne und ihre soziale Reflexion voraussetzte. -

-

-

"

Entscheidend zum Obenbleiben des Adels trugen neue Optionen und damit korrespondierende, sich diversifizierende Verständnisse von „Adligkeit" bei. Die Auffächerung des Standes fand in den Integrationsangeboten des Imperiums eine Entsprechung und ermöglichte zugleich deren Wahrnehmung: Kurländer profitierten von der Inkorporation auf höchst unterschiedlichen Funktions- und Interaktionsebenen und das Reich von ihnen, mit der Folge, dass provinziale Privilegienansprüche überdurchschnittliche Chancen hatten, Gehör zu finden. Andererseits konnte der lokale Elitenüberschuss, insbesondere besitzloser Adelsnachwuchs, untergebracht werden. In einer gespannten, für die gesellschaftliche Vormachtstellung der Indigenen bedrohlichen Situation bot die Imperialisierung gleichsam Schild und Ventil in einem. Neben diesen .vertikalen' metropolitan-peripheren Herrschaftskompromiss traten in einem umfassenderen Sinn von Elitenwandel lokale horizontale' Arrangements zwischen konkurrierenden indigenen und nichtindigenen Akteursensembles mit Elitenanspruch. Bis zu einem gewissen Maße konnte das meritokratische Element der russischen Rangtabelle landschaftliche Exklusionen kompensieren, während gleichzeitig das „Normensystem der gebildeten Gesellschaft" (Wittram) auch im Adel Verbindlichkeit gewann, nicht zuletzt mit Blick auf den Reichsdienst. Der Einschluss der Nichtindigenen in den metropolitanperipheren Ausgleich wiederum stabilisierte diesen nochmals. Endlich wurden die mehrdimensionalen Elitenkompromisse diskursiv flankiert und gestützt von der Verständigung der örtlichen Akteure „

-

-

-

481

Überblick

selbstvergewissernde Sinnstiftung, die sich unter einen emphatischen Begriff von Geschichte stellte und aus dem kulturellen und Sprachunterschied zur Mehrheitsbevölkerung eine Zivilisierungsmisauf eine

sion ableitete: die soziale Dominanz der „Deutsch(balt)eri,i aus der Erfüllung einer geschichtlichen Aufgabe rechtfertigte. In diesem Rahmen liessen sich die fortbestehenden ständischen Differenzen ebenso vermitteln wie die aus der Binnenstratifizierung „des" Adels und Aufspaltung des

herrschaftlichen Rollenintegrals hervorgegangenen, potentiell antagonistisch auseinandertretenden Interpretationen von Adligkeit. Mit der Einlösung des gesellschaftspolitischen Versprechens stand es zunächst bescheiden. Im Grunde fand es Verbürgung allein in der mit wachsendem zeitlichen Abstand als selbstlose Großtat um-erinnerten Agrarreform. Erst als eine lokal und reichsweit ansteigende Elitenkonkurrenz die provinzialen Akteure in Zugzwang brachte, näherte sich das Verhalten der legitimatorischen Erzählung. Dagegen erwiesen sich die strukturellen Folgen der Emanzipationsgesetzgebung als tiefgreifend, indem die Verordnung das entsprechende Reservoir lettischsprachiger Konkurrenzeliten und mobilisierbarer Depravierter entstehen ließ. In Wechselwirkung mit staatlicher Durchdringung und „Russifizierungs"Ängsten stellten die Ansprüche dieser Gruppen zunehmend eine Herausforderung dar, die von den alten Eliten als grundsätzlich aufgefasst und mit einer forcierten Ethnisierung des Zivilisierungsnarrativs („Kulturträgertheorie") beantwortet wurde wie sie freilich bereits in den Kategorien der internen Verständigung des ersten Jahrhundertdrittels -

angelegt war. Aus den Dynamisierungen der Herzogszeit hervorgegangen, in der Krise des Ancien Régime um 1800 konfliktreich ausgehandelt und im Kontext der Imperialisierung der Landschaft durchgesetzt, prägte die ständische Modernisierung den weiteren Verlauf der Entwicklung in Kurland für Adel, Nichtindigene und Mehrheitsbevölkerung bis in das 20. Jahrhundert hinein.

483

Ehen 1700-1875

Anhang

1: Ehen 1700-1875

Basis Den folgenden Tabellen Handbuch der baltischen

liegt im wesentlichen das Genealogische Ritterschaften (GenHB) zugrunde, unter ervon Frey, Baltisches Biographisches Archiv, gänzender Heranziehung der Landesämterliste in Kurland und seine Ritterschaft, S. 148 ff., des Amburger-Archivs des OEI München,1 der im Literaturverzeichnis angeführten Familiengeschichten, des DBBL u. ä. einschlägiger Personenverzeichnisse, nenberg,

etwa der

Studentenlisten bei Räder, Curonen, und Dan-

Gymnasium.2

Erfasst sind gut 600 männliche und rund 500 weibliche zwischen 1700 und 1826 geborene Mitglieder der Familien v. Ascheberg, v. Bach, v. Bagge af Boo, v. Bienemann-Bienenstamm, v. Bistram, v. d. Brüggen,

Drachenfels, v. Engelhardt, v. Fircks, v. Foelckersahm, v. Funck, Gohr, v. Haaren, v. Hahn, v. Hoerner, v. Holtey, v. d. Howen, v. Hoyningen-Huene, v. Manteuffel-Szoege, v. Meerscheidt-Hüllessem, v. Saß, v. v.

Simolin und v. Witten.3 Die Auswahl der Familien folgt der von der Demoskopie instruierten Annahme, dass bei strengem Zufallsprinzip bereits ein relativ überschaubares Sample repräsentative Ergebnisse liefert: Ähnlich wie im Fall der Güterchroniken4 gaben für die Aufnahme in die Lieferungen des unvollständig gebliebenen5 GenHB pragmatische, nicht inhaltliche Kriterien den Ausschlag, die keinen erkennbaren Bias enthalten. Zwischen den veröffentlichten Genealogien wurde gelost. v.

-

1 2

3

4 5

-

Die Datensätze sind mittlerweile auch online verfügbar, vorläufig in einer Testversion: http://88.217.241.77/amburger (letzter Zugriff 13.6.2008). Etwas veraltet, aber immer noch nützlich für einen ersten Überblick: SeebergElverfeldt, Baltische Genealogie. Von den erfassten Individuen sind rund 80% für die Auswertung brauchbar. Je nach Abfrage fallen Personen wegen unvollständiger oder uneindeutiger Angaben heraus. S. u., Anh. 4, Vorbem. Inzwischen liegt eine Ergänzung vor, die zum Zeitpunkt der Erhebung noch nicht

verfügbar war: Genealogien kurländisch-ritterschaftlicher Geschlechter.

484

Anhang

1

Auswertung Kohortenbildung zum diachronen Vergleich ist eine zweifache: Erwerden Generationskohorten gebildet, die den Geburtsjahrgang zugrundelegen (Tab. 1 und 2): 1 geboren 1701-1725 2 geboren 1726-1750 3 geboren 1751-1775 4 geboren 1776-1800 5 geboren 1801-1825 Zweitens werden nach analogen Zeiträumen 1701 bis 1875 unabhängig vom Geburtsjahr der Beteiligten „Hochzeitskohorten" gebildet (Tab. 3 und 4), da unter Umständen das Heiratsverhalten weniger von der Generationszugehörigkeit als von den Gegebenheiten des Moments abhing. Darüber hinaus verspricht eine verstrebte Doppelauswertung belastbarere Aussagen. Die Klassifikation der Ehepartner geschieht nach einem Schema, das soziale und kulturräumliche Zuschreibungen kombiniert, wobei die Kategorienbildung notwendig artifiziell ist: Eine Unterscheidung der nichtkurländischen Ostseeprovinzialen in „indigen" und „nichtindigen" ist teilweise retrospektiv, da die Matrikeln in Livland und Estland erst 1747 beziehungsweise 1756 geschaffen wurden6; eine Kategorie „Reichs(dienst)adel" für die nichtrussische Elite des Vielvölkerreichs in Absetzung von zumeist adligen Russ(inn)en und Pol(inn)en ist ein analytisches Konstrukt, und ähnlich der Sprach- und Kulturkreis „Deutschland", hinter dem sich primär die preußischen, sächsischen sowie einige niederdeutsche Territorien verbergen. Vor allem jedoch stößt die Großgruppenbildung rasch auf ein heuristisches Kernproblem der Elitenforschung: War der Pastorensohn und Oberst, später Generalleutnant (Johann?) Friedrich Heinrich (Alexander?) (v.) Timroth7 aus dem Semgallischen ein Literaten- oder Klerikerkind, adlig, dienstadlig, Militär, Gutsbesitzer, Kurländer, Reichsadel, Deutschbalte?8 Welcher Kategorie ist die Tochter eines Londoner Rentiers hessisch-hugenottischer Abstammung zuzuschlagen, deren Onkel, ein vormaliger preußischer Offizier, seit den 1790ern in Kurland verDie

stens

= =

= = =

-

-

6 7

Wittram, Baltische Geschichte, S. 128. GenHB, Bd. 1, S.528f.; DBBL, S.802 (Vorname fraglich). Erheiratete 1826 Elisa-

8

beth v. Bistram. Ich habe mich in diesem Fall für die entschieden.

Kategorie „nichtindigener

Kurländer"

485

Ehen 1700-1875

und besitzlich war und 1803 aufgrund des englischen Majorspaseines Vaters in Pilten als adlig rezipiert wurde?9 Das sozialstatistische Bemühen erinnert an Borges' chinesische Enzyklopädie nicht je weniger, sondern je mehr man über die Akteure in Erfahrung bringt. Sie waren nicht dies oder das, und sie verstanden sich nicht so, intergenerationell erst recht nicht. Zumal mit der zunehmenden Differenzierung möglicher Rollen stellen sie sich als kontextbezogen agierende Mitglieder eines Elitenkonglomerats vielgestaltiger Provenienz, Qualifikation und Funktion dar, in dem die Indigenen mit ebenso vielfältigen Anschlussmöglichkeiten einlagerten. Die quantifizierenden Daten, und das gilt allgemein für das folgende Zahlenwerk, sind nicht als beweiskräftige „harte Fakten" zu lesen, sondern als Hinweise auf Tendenzen vermutlichen Geschehens. Den unscharfen Rändern des Indigenats selbst wird Rechnung getragen, indem alle 1841 /45 in die Matrikel aufgenommenen „Notorischen" als indigen aufgefasst werden, die explizit Rezipierten ab dem Jahr der Eintragung; die wenigen verbleibenden Fälle werden nach Kontext und Ermessen behandelt. Gleichzeitig und im Sinne dessen, was das Beispiel Timroths illustriert, bleibt die Frage nach Adel oder Nicht-Adel etwa erkauftem Römischen oder erdientem Russischen bei den nichtindigenen Kurländern unberücksichtigt, da er für die provinzialen Muster von Inklusion und Exklusion nachrangig gewesen zu sein scheint. In der Mehrheit handelte es sich um Literati beziehungsweise dem Literatentum entstammende russische Staatsdiener, oft Offiziere, was die (pragmatisch naheliegende) Tendenz einer Absetzung der ländlich-dienstlichen Heiratskreise von den städtisch-kaufmännischen bestätigt. Um den Zusammenhang von Vermögen und Eheschließung zu erfragen, werden Männer respektive Brautväter nach dem groben Modus wie für Anh. 6 (s. dort, Vorbemerkung) in Besitzklassen eingeteilt:

sippt tents

-

-

0: 1: 2: 3:

kein Gut ein Gut zwei Güter drei und mehr Güter

Die Zahl der bis ins Erwachsenenalter überlebenden Kinder, hier mit 16 Jahren oder einer Verheiratung angesetzt, ist relativ zuverlässig; die der jung gestorbenen hingegen vergleichsweise unsicher, da sie offenkundig in etlichen Fällen nicht überliefert sind. Das heißt, es kann über 9

Louise Grandidier heiratete um 1810 Friedrich v. Nolde auf Kalleten, nach der Scheidung der Ehe 1814 den nach Ostpreußen übergesiedelten Otto v. Keyserling auf Heinrichswalde: GenHB, Bd. l,S.91ff., 143,441.

486

Anhang

1

die Reproduktion als Erfolg und als Optionswahl (Eheschließung) quantitativ etwas ausgesagt werden, jedoch nichts über das Anliegen. Dass die Erhebung schließlich die zeitgenössische Geschlechterhierarchie widerspiegelt, die allein die Deszendenz der Männer vermerkt, während Frauen als genealogische Sackgassen behandelt werden, bleibt für die Statistik ohne Relevanz.

Generationskohorten

I

Tab. 1 : Männer

1

Stärke 0

2

Lebenserwartung

Unverheiratete

unverh.

Erstgeborene

unverh. Unbesitzliche

1. Kohorte

2. Kohorte

3. Kohorte

4. Kohorte

5. Kohorte

(geboren

(geboren

(geboren

(geboren.

(geboren

1701-1725)

1726-1750)

1751-1775)

1776-1800)

1801-1825) 101

60,1

90

92

106

121

64,3

62,8

58,8

57,6

12

18

28

42

21

(13,3%)

(19,6%)

(26,4%)

(34,7%)

(20,7%)

2

7

9

16

9

29

21

8

12

17

(67%/47%)'°

(67%/41%)

(61%/57%)

2

4

3

8

4(7%)"

6(9,5%)

11(14,5%)

13(17%)

0 Heiratsalter/Anzahl

31,3/78

32,4/74

28,3/78

29.5/78

30,4/80

0 Heiratsalter Erst-

30.4/42

31.5/46

27,3/39

27,7/41

30,2/31

41/9

36,8/17

36,6/13

29,8/15

33,1/31

11,3

7,4

7,2

8,4

7,0

62(80%)12

54(73%)

61(78%)

53(68%)

48(60%)

unverh.. erstgeborene

(69%/66%) (100%/41%) 9

Unbesitzliche

unverh. Besitzliche 3

1. Ehe

geborene/Anzahl 0 Heiratsalter Unbesitz-

liehe/Anzahl 0 Altersunterschied > Frau (in Jahren)

3a

Partner Kurland:

10 Prozent 11 Prozent 12 Prozent

Indigene

von von von

den Unverheirateten / von den Unbesitzlichen Besitzlichen überhaupt. Verheirateten überhaupt.

überhaupt.

487

Ehen 1700-1875

1. Kohorte

2. Kohorte

3. Kohorte

4. Kohorte

5. Kohorte

(geboren 1701-1725)

(geboren 1726-1750)

(geboren

(geboren.

(geboren

1751-1775)

1776-1800)

1801-1825)

erstgeborene Männer

34

unbesitzliche Männer

3

Kurland:

Nichtindigene

(81 %)13

32(70%)

33(85%)

27(66%)

20(65%)

/(33 %)]tA

7(41%)

5(39%)

7(47%)

12(39%)

2

1

4

7

5

1

3

2

1

Ostseeprovinzen: Indigene Ostseeprovinzen: Nichtindigene

1

Dtld. mit Adelsprädikat/davon Preußen

5/4

Dtld. ohne Adelsprädi-

1 /1

5/2

5 4

21-

2/2

5/-

21-

kat/davon Preußen

Reichs(dienst)adel /

1/1

1/1

t/t

davon dt.

3b

3c

Polinnen

I

Russinnen

12

Westeuropäerinnen

1

unklar

3

Eheende

Tod der Frau

26

28

30

37

22

Tod des Mannes

34

23

30

31

45

Scheidung"

I

7

II

I

5

unklar

17

16

7

9

1.24

1.46

1.46

1,89

1,96

1,09

1.19

1,38

1,92

1,86

2,78/5,11

3,00/5,65

2,50/5,34

2,03/5,84

1,59/5,41

Kinder" 0 Zahl der überlebenden

Söhne 0 Zahl der überlebenden Töchter 0 Zahl jung

gestorbener

Kinder/Summe Kinder

Prozent von verheirateten Erstgeborenen überhaupt. Prozent von verheirateten Unbesitzlichen überhaupt. Ein spezifischer Zusammenhang zwischen Stand des Partners und Scheidungsbereitschaft ist weder hier noch sonst zu erkennen. 16 Allgemein, insbesondere aber bzgl. der jung gestorbenen: sofern nachgewiesen. 13 14 15

488

Anhang 1. Kohorte

2. Kohorte

3. Kohorte

4. Kohorte

5. Kohorte

(geboren 1701-1725)

(geboren 1726-1750)

(geboren

(geboren.

(geboren

1751-1775)

1776-1800)

1801-1825)

42,8/19

47,2/20

38,6/17

41,8/18

45,5/8

11,5

16,9

14,8

12,5

16,7

17

13

11

11

5

2

1

3

2. Ehe 0 Heiratsalter/

Anzahl

überhaupt

0 Altersunterschied >

4a

Frau

(in Jahren)

Partner Kurland:

Indigene

Kurland:

Nichtindigene

Ostseeprovinzen: Indigene

1

1

Ostseeprovinzen: Nichtindigene Dtld. mit Adelsprädi-

2/1

1/1

kat/davon Preußen Dtld. ohne Adelsprädikat/davon Preußen 2/2

Reichs(dienst)-

1/1

adel/davon dt. 1

Polinnen

I

Russinnen unklar 4b

I

I

I

Eheende

Tod der Frau

4

6

6

5

3

Tod des Mannes

10

9

6

10

4

1

1

2

5

4

4

1

0,5

0,90

1,19

0,58

0,71

1,5

1.47

1,00/2,08

1,50/3,11

2,33/5,02

1,67/4,14

Scheidung unklar 4c

2

Kinder 0 Zahl der überlebenden

Söhne 0 Zahl der überlebenden Töchter 0 Zahl jung

gestorbener

Kinder/ Summe Kinder

1,00/1,2

1

489

Ehen 1700-1875

1. Kohorte

2. Kohorte

3. Kohorte

4. Kohorte

5. Kohorte

(geboren 1701-1725)

(geboren 1726-1750)

(geboren

(geboren.

1751-1775)

1776-1800)

(geboren 1801-1825)

50/3

58,5/2

46/3

42

29.5

3. Ehe 0 Heiratsalter/

Anzahl

0 Altersunterschied >

5a

55/1

52/4

34

20

überhaupt

Frau (in Jahren)

Partner Kurland:

I

Indigene

Reichs(dienst)-

I




Frau

(Jahre) Partner Kurland:

34

(85Í

Indigene

erstgeborene Männer

unbesitzliche Männer

69

61

71

42

53

19

(93%)

(74%)

(83%)

(70%)

(62%)

(60%

17

39

39

33

25

21

5

(81 %)23

(93%)

(75%)

(89%)

(74%)

(64%)

(56%)

2

5

6

6

6

14

3

/(50%)]1'

(83%)

(40%)

(50%)

(50%)

(52%)

1(25%)]

2/2

7/4

2/1

4'2

Kurland:

Nichtindigene Ostseeprovinzen: Indigene Ostseeprov.: Nichtindigene Dtld. mit

Adelspräd. / dav. Preußen

21 22 23 24

„Kein Wert": Die Daten geben keinen statistisch signifikanten Wert her. Prozent Prozent Prozent

von von von

Verheirateten überhaupt. verheirateten Erstgeborenen überhaupt. verheirateten Unbesitzlichen überhaupt.

493

Ehen 1700-1875

Dtld.

o.

1. Kohorte

2. Kohorte

3. Kohorte

(oo 17011725)

(oo 17261750)

(oo 17511775)

Adels-

4. Kohorte (oo 1776-

5. Kohorte (oo 1801-

1800)

1825) AI-

6. Kohorte

(°° 18261850)

7. Kohorte (oo 1851-

1875)

1/1

2/2

3/-

1/1

1/1

3

3

2

1

2

3

10

6

16

2

prädikat/ davon Pr.

Reichs(dienst)-

1/1

1/1

adel/ davon dt. 2

Polinnen

Russinnen Westeuro-

I

2

päerinnen 111

unklar 2b

Eheende Tod der Frau

13

24

26

38

24

30

8

Tod des Mannes

20

35

33

28

27

38

21

2

5

12

1

6

1

7

13

18

8

8

11

2

1,58

1,34

1,41

1,52

1,60

2.12

1,77

1,40

1,08

1.28

1,5

1,80

1.93

1,52

5,33/ 8,31

3,00/ 5,42

2,73/ 5,42

2,54/ 5,56

2,21/ 5,61

1.72/

5,77

1,00/ 4,29

46/6

42/8

41,8/20

43,8/23

41,6/18

38,4/12

51,2/11

18

9

12,9

15,4

13,4

12,4

18,4

4

7

17

16

10

5

9

14

2

1

Scheidung unklar 2c

Kinder 0 Zahl der

überlebenden Söhne

0Zahlüberlebenden Töchter 0 Zahl

jung

gest. Kinder/Summe 3

2. Ehe 0 Heiratsalter/

Anzahl 0 Altersunter-

schied

>

Frau

(Jahre) 3a

Partner

Kurland:

Indigene Kurland:

Nichtindigene

494

Anhang 1. Kohorte

(oo 17011725)

Ostseeprovinzen: Indigene

2. Kohorte (oo 1726-

1750)

3. Kohorte

(oo 17511775)

4. Kohorte (oo 1776-

5. Kohorte (oo 1801-

1800)

1825)

1

Ostseepro-

(oo 18261850)

7. Kohorte (oo 1851-

1875)

1

1

1

6. Kohorte

1

1

vinzen Nichtin-

digene Dtld. mit

1/-

1/1

II-

II-

2/2

1/1

1/1

Adelspräd. / dav. Preußen

Dtld.

o.

Adels-

1 /1

prädikat/davon Preußen.

Reichs(dienst)adel/davon dt.

111

1

Polinnen Russinnen

1 1

unklar 3b

1

Eheende Tod der Frau

12

6

8

4

3

4

Tod des Mannes

3

12

9

8

7

6

1

2

1

3

Scheidung unklar 3c

1

2

3

2

5

4

1

1

1,00

1,20

0,67

1,05

0,82

1,13

0,11

0,80

0,80

0,64

0,72

1,56

1,38

0.56

-/1,8

2,00/4,0

—/1,31

2,33/4,1

1,80/4,18

1,75/4,26

1,00/1,67

?/l

58/2

55/1

52/4

47,5/4

36/1

44/1

34

20

21

Kinder 0 Zahl der

überlebenden

Söhne 0 Zahl der

überlebenden Töchter

0Zahljung gest. Kinder/Summe 4

3. Ehe 0 Heiratsalter/

Anzahl 0 Altersunter-

schied

(Jahre)

>

Frau

21

495

Ehen 1700-1875

4a

1. Kohorte

2. Kohorte

(»17011725)

(»17261750)

3. Kohorte (co 1751-

1775)

4. Kohorte

(00 17761800)

5. Kohorte (oo 1801-

6. Kohorte (oo 1826-

7. Kohorte (oo 1851-

1825)

1850)

1875)

Partner Kurland:

Indigene

Ostseeprovinzen:Indigene Russinnen

4b

Eheende

Tod der Frau Tod des Mannes

Scheidung unklar 4c

Kinder 0 Zahl der

1,00

0,67

0,33

3.00

1,00

0,25

2.00

überlebenden Söhne 0 Zahl der

überlebenden Töchter 0 Zahl

jung gestorbener

(4)

Kinder

Tab. 4: Frauen

1

Stärke

2

1. Ehe 0 Heiratsalter

langfr. Mittelwert/Anzahl

1. Kohorte

2. Kohorte

3. Kohorte

4. Kohorte

5. Kohorte

6. Kohorte

(oo 17011725)

(co 1726-

(oo 1751-

1750)

1775)

(oo 17761800)

(oo 18011825)

(oo 18261850)

24.3

7. Kohorte (oo 1851-

1875)

44

49

64

76

63

22

20.2

23,2

26,3

20.8

23,2

29

23,71170

23,01161

496

Anhang

0 Heiratsalter

1. Kohorte

2. Kohorte

(oo 17011725)

(»o 17261750)

24,3/12

19,0/24

3. Kohorte (o= 1751-

1775) 20,6/27

4. Kohorte

(oo 17761800)

24,8/40

5. Kohorte (oo 1801-

6. Kohorte (

k.W.

-16

k.W.

-11,5

2,3

-10

Mann

(Jahre)

langfr. Mittel-

-12,1

-0,75

wert

3a

Partner Kurland:

Indigene

16

4

9

6

3

k.W.

498

Anhang 1. Kohorte

(oo 17011725)

2. Kohorte (oo 1726-

3. Kohorte (oo 1751-

1750)

1775)

4. Kohorte

5. Kohorte

6. Kohorte

7. Kohorte

(oo 17761800)

(oo 18011825)

(» 18261850)

(oo 18511875)

Kurland:

Nichtindigene Ostseeprovinzen: Indigene Reichs(dienst)adel/davon dt. Polen Russen unklar

3b

Eheende

Tod der Frau Tod des Mannes

Scheidung unklar

III Besitzkombinationen Tab. 5: nach Generationskohorten Männer Besitzklasse Mann

1. Kohorte

2. Kohorte

3. Kohorte

4. Kohorte

5. Kohorte

Mittel-

(geboren

(geboren

(geboren 1751-1775)

(geboren 1776-1800)

(geboren 1801-1825)

wert alle

1701-1725) 0 Besitzklasse

1726-1750)

0.8

0.3

0.Í

1.4

1.9

1.2

l.l

1,7

1,7

1,7

1,4

1.1

1.2

1.4

1,4

1.6

1.6

1.3

1.4

2.0

1,9

1,6

Schwiegervater 0 Besitzklasse

Schwiegervater 0 Besitzklasse

Schwiegervater 0 Besitzklasse

Schwiegervater

1.5

1

499

Ehen 1700-1875 Frauen

Besitzklasse Brautvater 0 Besitzklasse

1. Kohorte (geboren

2. Kohorte

3. Kohorte

4. Kohorte

5. Kohorte

(geboren

(geboren

(geboren

1701-1725)

1726-1750)

(geboren 1751-1775)

1776-1800)

1801-1825)

Mittelwert alle

k.W.3

0,3

k.W.

k.W.

().;

1.3

1.3

1.0

1.3

0.8

0.8

1.0

1.3

1.4

0,9

1,5

0.8

1.2

1.6

1.7

1,3

1.3

1.3

1.4

Mann I

0 Besitzklasse

Mann 0 Besitzklasse

Mann 0 Besitzklasse

3

Mann Männer und Frauen

Besitzklasse

Mittel-

Mann/ Brautvater

wert

Frauen & Männer

1.2

0 Besitzklasse

Partner 1.1

0 Besitzklasse

Partner 1.3

0 Besitzklasse

Partner 1.5

0 Besitzklasse

Partner

Tab. 6: nach Hochzeitskohorten Männer 1. Kohorte 2. Kohorte 3. Kohorte 4. Kohorte 5. Kohorte 6. Kohorte

Besitzklasse Mann 0

(oo 17011725) 0 Besitz-

k. W.'

(0O17261750) 1.0

(oo 17511775)

0,5

(oo 17761800) 0.7

(co 18011825) 1,4

(» 18261850) 1,7

klasse

Schwiegervater

31 32

„Kein Wert": Die Daten geben keinen statistisch signifikanten Wert her. „Kein Wert": Die Daten geben keinen statistisch signifikanten Wert her.

7. Kohorte

(oo 18511875) 1.2

500

Anhang

Männer Besitzklasse Mann I

1. Kohorte 1701-

(oo

1725) 0 Besitz-

2. Kohorte 3. Kohorte 4. Kohorte 5. Kohorte 6. Kohorte 7. Kohorte (oo 1751- (oo 1776- (oo 1801- (00 1826- (x 1851-

(o=17261750)

1775)

1800)

1825)

1850)

1875)

0.6

0,9

1.3

0.9

1.7

1,8

0.9

l.l

1,0

1.7

1,3

1.7

1.5

1,2

1,3

1,5

2.11

1.4

2.0

2.2

klasse

Schwiegervater

0 Besitz-

klasse

Schwiegervater

0 Besitz-

klasse

Schwiegervater

Frauen 1. Kohorte

Besitzklasse Vater 0

(oo 17011725) 0 Besitz-

2. Kohorte 3. Kohorte 4. Kohorte 5. Kohorte 6. Kohorte 7. Kohorte (001726(oo 1776- (oo 1801- (oo 1826- (oo 1851(oo 1751-

1750)

1775)

1800)

1825)

1850)

1875)

kW.

k. W.

k. W.

k. W.

k. W.

1.2

k. W.

kW.

1,4

(1,0)

1.4

1,0

0,8

k. W.

(1,5)

1,4

1.2

1,1

0,8

k.W.

k.W.

1.6

1,9

1,3

1,3

1,3

1,0

klasse Mann 0 Besitz-

klasse Mann 0 Besitz-

klasse Mann 0 Besitz-

klasse Mann

1

Begebungen Leibeigener 1700-1819

501

Anhang 2: Begebungen Leibeigener 1700-1819 Basis Erfasst sind Kauf-, Tausch- und Überlassungsverträge aus 12 Familienarchiven: LVVA 1100/1/84 (v. Behr); ebd./2/94-96 (v. d. Brüggen); ebd. /4/44 (v. Fircks); ebd. 15120-21 (v. Vietinghoff-Scheel); ebd. 16119 (v. Grotthuß); ebd./7/20 (v. Heyking); ebd./13/279 (v. d. Brincken); ebd./677 (v. Holtey); ebd./767 (v. Klopmann); ebd./962 (v. Medem); ebd./1269 (v. Simolin); ebd./1378 (v. Taube). Ergänzend wurde ein Faszikel zu herzoglichen Gütern (ebd. 554/3/1285) herangezogen, das aber ebensowenig Abweichungen zur Praxis auf den Privatgütern ausweist wie die Bezüge auf Domänen in den Familienarchiven.

Auswertung Die

Auswertung verzichtet auf eine Unterscheidung nach Verkäufen, Vertauschungen und Überlassungen, da der Modus der Begebung für die Fragestellung (und die Betroffenen) keinen wesentlichen Unterschied macht.

502

Anhang 2

Anzahl der Verträge

Dekaden

27 24

42

39

24

16 29 20

34

31

43 22

21

18

132

132

124

132

Adliger und fürstlicher Güterbesitz

503

1785

Anhang 3: Adliger und fürstlicher Güterbesitz

1785

Basis Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 128-158 (für Kurland und Semgallen); ders., Kurlands alter Adel, S. 59-64 (für Pilten); vgl. a. BHO, S. XXXI f. Die von Hupel herausgebrachten Listen sind weder vollständig noch absolut zuverlässig, bieten aber einen ungefähren Einblick.1 -

Auswertung Bei der Zählung ist jeder Name als ein Gut aufgefasst: Wo mehrere Güzu einer Hakenzahl beitragen oder zu einer Hakenzahl zusammengezogen sind („Ilsen- und Lautzensee", „Edwahlen und Terwenden"), werden sie nichtsdestoweniger einzeln gezählt; gleichfalls werden Namen erfasst, für die „wüst" oder „zu [einem anderen Gut]" vermerkt ist. Hingegen wird nicht versucht, Formulierungen wie „mit allen Beihöfen" u. ä. aufzuschlüsseln. Das folgt dem im Kern politischen, nicht ökonomischen Argument und scheint von allen schlechten Systematiken immer noch die am wenigsten willkürlich in die Quelle eingreifende. Analog sind die Hakenzahlen weniger als Ausdruck tatsächlicher Wirtschaftskraft denn relativer Kontributionspflicht zu lesen.2 Die Kirchspieleinteilungen und -Schreibweisen folgen der Quelle. ter

fürstliche Güter

Kirchspiel

Anzahl

adlige Güter

Hakenzahl

Anzahl

Hakenzahl

6

1 11/12

43

19 3/8

SEMGALLEN

Oberhauptmannschaft Seiburg Seiburg

20

14 5/16

Dünaburg-Überlautz -

-

1 Vgl. Hupel, Nachrichten von Kurland, S. 110f., 159f. 2 Zum Haken/der Hakenzahl vgl. oben, S. 76, Anm. 250.

504

Anhang 3 adlige Güter

fürstliche Güter

Kirchspiel

Anzahl

Hakenzahl

Ascheraden Nerfft Summe

3 8

Seiburg

Anzahl

Hakenzahl

5

3

10

10 3/8

64

21

Oberhauptmannschaft Mitau Eckau

13

3 23/24

3

3 5/24

Neuguth

4

3 7/8

I

1/12

Baldohn

4

2 3/15

3

1/8

Bauske

27

17 47/48

24

15 43/48

Mitau

35

19 15/16

12

5 19/48

Doblen und Sessau

21

15 5/8

26

17 1/2

Grenzhoff

10

8 13/16

6 1/12 24

Neuenburg Summe Mitau

1/4

Summe Semgallen

135

27 9/16

101

871116

165

HO 25148

(Hakenzahl Semgallen total: 197 7/12) KURLAND

Oberhauptmannschaft Tuckum Autz

5

2 7/16

15

15 3/4

Tuckum

21

15 3/16

20

8 7/48

Kandau

3 3/8

32

24 5/16

Zabeln und Wahn

2 9/16

27

15 3/8

13/16

24

21 5/12

Talsen

3

Summe Tuckum

37

Goldingen

13

4 7/8

28

11 11/24

30

13 7/16

16

21 11/24

Hasenpoth

6

3 7/8

Grambsden

6

10 7/24

8

5 11/12

118

Oberhauptmannschaft Goldingen

Frauenburg u.

Windau

Essern

5

6 1/8

Adliger und fürstlicher Güterbesitz

505

1785

adlige Güter

fürstliche Güter Anzahl

Hakenzahl

Anzahl

Hakenzahl

Durben

4

19/24

39

27 21/24

Allschwangen

II

9 2/3

6

1 2/3

Grobin

9

9 13/16

5

8 1/24

Kirchspiel

Summe

Goldingen

Summe Kurtand

72

109

114

691112

232

1757112

(Hakenzahl Kurland total: 244 2/3) Summe Kurland u.

Semgallen

244

156 7148

297

286 5148

(45%)

(35%)

(55%)

(65%)

(Hakenzahl Kurland und Semgallen total: 442 1/4) PILTENSCHER KREIS

Hasenpoth

1

1/20

16

11

Pilten

1

o.A.

9

9 3/80

10

2 13/30

21

10 11/12

35

13 51/80

13

3 17/24

4

3 7/8

108

54 731120

Sackenhausen -

Neuhausen

1

-

1/4

Ambothen -

Erwählen

1

-

1/2

Dondangen -

Summe Pilten

4

-

(415)

(Hakenzahl Piltenscher Kreis total:

55

49/120)

506

Anhang 4

Anhang 4: Gütertransaktionen 1730-1850 Basis

Klopmann, Güter-Chroniken; [Arbusow], Kurländische Güter-Chroniken. Neue Folge. Die Aufnahme in diese Chroniken erfolgte alphabetisch, also im Grunde zufällig, so dass weder ein landschaftlicher noch ein GrößenBias eingebaut ist.

Auswertung Erfasst sind gut hundert Güter/Güterkomplexe, wobei Zusammenlegungen, Abtrennungen, Bestandsveränderungen eine Schätzung der relativen Bodenmobilisierung praktisch unmöglich machen. Nicht aufgenommen wurden Transaktionen zwischen Eltern und Kindern sowie zwischen Eheleuten, die Erlegung von Antrittsummen im Erbgang, Verpfändungen / Pfandeinlösungen ohne Erbpfandcharakter, Donationen der Krone, schließlich eklatant lückenhaft überlieferte Güter

(ca. 12).

Gütervertauschungen sowie unvollständige Angaben (vor allem ohne Preis) werden besonders ausgewiesen und sind in der Regel nicht in die Volumen- / Durchschnittspreisberechnung übernommen. Ansonsten sind alle Angaben umgesetzt in Rth. alb.,1 die Volumina und Durchschnittswerte auf Zehnerstellen gerundet. Zwölf Güter(komplexe) gehen in die Tabellen nicht ein, weil sie den Erbgang nie verlassen haben: Amboten (Gr.-) Bähten Bornsmünde Brücken

Dobelsberg Dondangen Dubenalken

1

Zu den

(v. Mirbach) (v. d. Osten-Sacken) (v. Schoeppingk) (v. Korff) (v. Kleist) (v. d. Osten-Sacken) (v. Fircks)

Umrechnungsannahmen s. Anh.

Dweeten-Janopol (v. Sieberg/ Plater-Sieberg) Preekuln Scheden

Sergemiten Zirau

11.

(v. (v. (v. (v.

Korff) Saß) Blomberg) Behr/v. Manteuffel)

507

Gütertransaktionen 1730-1850

Tab.: Gütertransaktionen 1731-1855

G c

11

C

s 3 a -

1 g


-o

5 .s

¿ i

0:

15 (+5)

Vol.: 197430 13160 0:

7

Vol.: 109230 15600 0: Vol.:

0: Vol.:

0: Vol.:

8(+D

0:

7

0:

Vol.:

(+2)

¡1

3 5

O S S,

Vol.: 160720 13390

12 (+1)

(+2)

£

3/2

49000 12250 92900 13270 59000 7 380

99670 14240

Vol.: 312000 0: 34670 Vol.: 217670 27210

8 (+4)

0:

7(+l)

0:

Vol.:

3

27 350

(+6)

(Vol.: 40670 0: 10170)2

7 (+5)

Vol.: 282530 0: 40360

13 (+2)

Vol.: 585930 0: 41850

4

2

191300

3/1

(1)'

Verzerrt durch den relativ hohen Anteil von Vertauschungen, deren Zuzahlungen erhebliche Volumina implizieren. Mit Wertangabe (100000 fl. alb. = 33333 Rth. alb.), deshalb in die Mittelwertbe-

rechnung eingeflossen.

508

Anhang 4 i

17961800

!

18011805

;

18061810

I

18111815

:

23 (+1)

18161820

15

(+2)

;

0:

18

(+2)

; ;

0:

10

I Vol.: ! 0: ; ;

Vol.: 741130

13

0:

57010

;

Vol.:

75010

;

0:

25000

;

Vol.: 218320

;

0:

i :

1826-

:

3(+l)

1830

18311835

:

18361840

:

18411845

:

1846-

:

8

(+2)

19

(+1)

14

(+1)

1850

20

|

Vol.: 787600 43760

:

16

7

lili

Vol.: 690070 46010

:

18211825

18511855

Vol.: 834070 0: 362604

:

l5

j

1

4

3

1

1

2

2

7

3

4

1

3:4/-

2

1

4/1"

2

;

9/2

228570

22860

27290

Vol.: 558130 29375

:

0:

;

|

Vol.: 326170 0: 23300

;

Vol.: 856720

:

0:

|

Vol.: 746140

;

0:

;

Vol.: 365060

:

0:

53550

!

8

1

1

5/-

1

!

2

j

!

1

i

1

i

i

1

4/-

1

21-

3/1

1

11/-

II-

1

37307

52150

j

8

12

1

3

Diese Tabelle lässt sich in die folgenden Diagramme umsetzen, wobei die 1730er Jahre fortgelassen sind, da die An- und Rückkaufpolitik Ernst Johann Birons einen kurzfristigen und sektoral eingeschränkten Sonderfaktor darstellt, der das Bild verzerrt.7 Die Varianten mögen den vorhandenen Interpretationsspielraum demonstrieren. Insofern stellen sie auch einen Kommentar zur Visualisierung historischer Argumente dar.

4 5

6 7

Bei extremer Varianz zwischen 900 und 140000 Rth. alb. Mit Wertangabe (30000 Rth. alb.), deshalb in Volumen und

Mittelwertberechnung eingeflossen. Eine Veräußerung sowie ihre Cession sind unklar, möglich also auch 6/2. Vgl. aber a. oben, S. 75 ff, 79, 123 f., zur Strukturbedingtheit der hier eskamotierten

Anomalie.

509

Gütertransaktionen 1730-1850

Diagr. A: Anzahl der Gütertransaktionen 1741-1850

801/1810

Amah! der Transaktio

1821/1830

1811/1820

davon ¡m

1841/1850

1831/1840

Erbpfandmodus

Konkur -

-

-

-

Diagr. B: Gütertransaktionen 1741-1850: Durchschnittlicher Kaufpreis

1741/1750

1751/1760

1761/1770

1771/1780

1781/1790

1791/

1801/1810

1811/1820

1821/1830

1831/1840

1841/1850

-Durchschnittspreis in Rih. alb.

Anhang 4

510

Diagr. C: Anzahl der Gütertransaktionen 1746-1855

1746/1755

1756/1765

1766/1775

1776/1785

1786/1795

1796/1805

1806/1815

davon im

Anzahl der Transaktionen -

1816/1825

1826/1835

1836/1845

1846/1855

Erbpfandmodus

.

Diagr. D: Gütertransaktionen 1746-1855 Durchschnittlicher Kaufpreis

174671755

1756/1765

1766/1775

1776/1785

1786/1795

1796/1805

1806/1815

1816/1825

1826/1835

-

1836/1845

1846/1855

Durchschnittspreis ¡n Rth. alb.

511

Gütertransaktionen 1730-1850

Diagr. E: Aggregiertes Gütertransaktionsvolumen 1741-1850

1741/1750

I7S1/1760

1761/1770

1771/1780

1781/1790

1791/1800

1801/1810

1821/1830

1811/1820

1831/1840

Aggregiertes Translations volumen

1841/1850

in Rth. alb

-

Diagr. F ; Aggregiertes Gütertransaktionsvolumen 1746-1855

S

1.000.000

1746/1755

1756/1765

1766/1775

1776/1785

1786/1795

1796/1805

1806/1815

1816/1825

1826/1835

1836/1845

-AggregiertesTransaktionsvolumen

in

1846/1855

Rth. alb.

512

Anhang 5

Anhang 5: Fideikommissstiftungen

1740-1850

Basis Kurland und seine Ritterschaft, S. 95 ff.

Auswertung Jahre

Anzahl

0 Antrittssumme (in Rth. alb.)'

bis 1739

5

(24400)

1740-1749

12

21 180

1750-1759

1

16810

1760-1769

I

16670

1770-1779

4

19170

1780-1789

4

20420

1790-1799

10

34180

1800-1809

6

71000

1810-1819

6

45480

1820-1829

4

32590

1830-1839

3

10130

1840-1849

3

6570

Zur Vergleichbarkeit teilweise

umgerechnet von Rbl. S., Kurse s. Anh.

11.

Güterbesitz, personenseitig (ca. 1730-1850)

513

Anhang 6:

Güterbesitz, personenseitig (ca. 1730-1850) Basis wie Anh. 1.

Auswertung Für den erweiterten Untersuchungszeitraum (ca. 1700-1850) enthält das Sample 626 männliche Individuen, von denen 476 für die Analyse verwertbar sind. Fortgelassen wurden diejenigen, deren unvollständige Geburts- oder Sterbedaten eine Zuordnung zu einer der Alterskohorten nicht zulassen; diejenigen, die bis einschließlich 1730 gestorben oder nach 1820 geboren sind; schließlich alle, die vor dem 35. Lebensjahr gestorben sind sie würden die Daten auf Besitzlosigkeit hin verzerren, da sie starben, bevor vielfach der Antritt des väterlichen Gutes oder der Erwerb eines eigenen erst erfolgte. Die Kohorten wiederum sind asymmetrisch gebildet, nämlich nach Maßgabe der Frage, welche Chancen sich unter bestimmten äußeren Umständen boten. Dabei wird unterstellt, dass der Gutserwerb zur Gründung einer Existenz und damit als biographisch relevant zwischen dem 30. oder 35. und dem 55. Lebensjahr erfolgen musste, früher erfolgen konnte. -

0. Kohorte 1. Kohorte 2. Kohorte

3. Kohorte

nach 1730, aber vor 1766 gestorben gibt den historischen Hintergrund als Referenzgröße geboren bis einschließlich 1730, gestorben nach 1765 gibt die Situation vor der Rückkehr Birons wieder geboren zwischen 1730 und 1761 gibt die Situation der späten Herzogszeit wieder geboren 1761 bis 1785 gibt die Situation nach dem Ausgang des Herzogtums, aber vor Einbruch der Wirtschaftskrise wieder geboren 1786 bis 1800 gibt die Situation während der Krise („Konkurszeit") wieder

-

-

-

-

4. Kohorte

-

514

Anhang 6

5. Kohorte

1801 bis 1820 erfasst die volle Wirkung der Krise (Erbfall) und einen Ausblick auf die Entwicklung nach 1830

geboren -

gibt

Die Einstufung als Klein-, Mittel- und Großbesitz erfolgt nach der Anzahl der besessenen Güter: Eines wird als kleiner, zwei als mittlerer, drei und mehr als großer Besitz gewertet. Dabei lässt sich weder die (sich verändernde) Größe der Güter ermitteln, noch wird durchgängig die allmähliche Zusammenfassung vormals eigenständig gelisteter Höfe unter dem Namen eines Haupthofs berücksichtigt. Eine stillschweigende Qualifizierung des Materials kann das Aussagepotential der Basis verbessern und auf sich gegenseitig neutralisierende Fehler hoffen, jedoch niemals ,harte' Validität beanspruchen: Die Tabelle liefert keinesfalls mehr als Indizien für Trends um so mehr, als die zugrundegelegten Handbücher nicht in jeder Hinsicht zuverlässig sind. Doch scheint der vergleichsweise krude Modus vorderhand die einzige Möglichkeit, überhaupt Aussagen in dieser Richtung zu treffen. Entsprechend sind die Prozentualangaben lediglich zur Orientierung gedacht und werden in zweierlei, feinerer und gröberer Rundung gebracht.1 -

Zeileninhalt: D

=

Gutsbesitz allein in Kurland

(auch im weiteren: inkl. Piltens)

(2 A, B, C) J K P

=

Q

=

R S

=

=

=

Gutsbesitz in Litauen (2 E, F, G, H, I) Gutsbesitz ausschließlich in Litauen (2 E, F, H) Kohortenstärke gesamt (2 D, J, L, M, N, O) in Kurland unbesitzlich (2 K, L, N, O) in Kurland und Litauen unbesitzlich (Q K) Besitzer von drei und mehr Gütern überhaupt (2 C, H, I, -

=

M,N) T

=

ggf. L,

Besitzer von zwei Gütern in Kurland und/oder Litauen (2 B, F,

G, ggf. L, M, N) U

=

Besitzer von einem Gut in Kurland oder Litauen

M, N)

(2 A, E, ggf. L,

Alle Prozentangaben für D-U beziehen sich auf die Kohortenstärke P. Die Angaben für V, W und X hingegen beziehen sich allein auf die Summe der überhaupt Besitzenden, also 2 S,T,U, bzw. P O. -

1

Dass daraus

Rundungsabweichungen entstehen, sei hier pauschal bemerkt.

515

Güterbesitz, personenseitig (ca. 1730-1850)

Tab. 1: Rundung auf Einerstellen Besitz

0. Kohorte

1. Kohorte

2. Kohorte

3. Kohorte

4. Kohorte

5. Kohorte

A

1 Gut in Kurland

16

16

30

23

19

11

B

2 Güter in Kurland

13

12

8

14

10

9

C

3 und mehr Güter in Kurland

15

12

22

9

13

10

D

nur

in Kurland Besitzliche gesamt

44(70%)

40(51%)

60(53%)

46(55%)

42(64%)

30(42%)

E

1 Gut in Litauen

5

6

5

2

5

7

F

2 Güter in Litauen

3

4

3

2

1

G

je

14

2

12

H

3 und mehr Güter in

2

3

2

I

1

6

8

6

11(18%)

20(26%)

20(18%)

14(17%)

6(9%)

11(15%)

6(7%)

5(8%)

9(13%)

1 Gut in Kurland und Litauen

Litauen I

3 und mehr Güter in Kurland u. Litauen

1

inLitauen

Besitzliche gesamt K

nurinLitauen Besitzliche gesamt

10(16%)

13(17%)

8(7%)

L

Gutsbesitz im sonst. Ausland

2

6

3

M

Gutsbesitz im sonst. Ausland und Kid.

1

N

Gutsbesitz in Estland/Livland

O

unbesitzlich

P

Summe

2

2

2

6(9%)

10(13%)

28(25%)

23(28%)

16(24%)

31(43%)

64

78

113

83

66

72

davon in Kurland unbesitzlich

18(29%)

31(40%)

41(36%)

29(35%)

21(32%)

40(56%)

abzgl. der in Litau-

8(13%)

18(23%)

33(29%)

23(28%)

16(24%)

31(43%)

(gesamt: 476) Q R

en

Besitzlichen

516

Anhang 6 Besitz

Großbesitzliche

S

0. Kohorte

1. Kohorte

2. Kohorte

3. Kohorte

4. Kohorte

5. Kohorte

21(33%)

22(28%)

32(28%)

17(21%)

13(20%)

11(15%)

16(25%)

20(26%)

16(14%)

18(22%)

13(20%)

12(17%)

21(33%)

26(33%)

37(33%)

25(30%)

24(36%)

18(25%)

gesamt2 T

Mittelbesitzliche

gesamt U

Kleinbesitzliche

gesamt V

Anteil Großbesitz an den Besitzlichen

36%

32%

38%

28%

26%

27%

W

Anteil Mittelbesitz an den Besitzlichen

28%

29%

19%

30%

26%

29%

X

Anteil Kleinbesitz an den Besitzlichen

36%

38%

44%

42%

48%

44%

Tab. 2:

Rundung aufFünferstellen

Besitz

0. Kohorte

1. Kohorte

2. Kohorte

3. Kohorte

4. Kohorte

5. Kohorte

A

1 Gut in Kurland

16

16

30

23

19

11

B

2 Guter in Kurland

13

12

8

14

10

9

C

3 und mehr Güter in Kurland

15

12

22

9

13

10

D

nur

in Kurland Besitzliche gesamt

44(70%)

40(50%)

60(55%)

46(55%)

42(65%)

30(40%)

E

1 Gut in Litauen

5

6

5

2

5

7

F

2 Güter in Litauen

3

4

3

2

I

G

je

14

2

12

2

I

1 Gut in Kurland

und Litauen H

3 und mehr Güter in Litauen

2

3

I

3 und mehr Güter in Kurland u. Litauen

1

6

8

6

2 Die Angaben weichen von der Summe für Kurland und Litauen ab, da der Besitz im Ausland berücksichtig ist.

517

Güterbesitz, personenseitig (ca. 1730-1850) Besitz

0. Kohorte

1. Kohorte

2. Kohorte

3. Kohorte

4. Kohorte

5. Kohorte

(25 %)

20(20%)

14(15%)

6(10%)

11(15%)

6(5%)

5(10%)

9(15%)

J

in Litauen Besitzliehe gesamt

11

K

nur

in Litauen Besitzliche gesamt

10(15%)

13(20%)

8(5%)

L

Gutsbesitz im sonst. Ausland

2

6

3

M

Gutsbesitz im sonst. Ausland und Kid.

I

N

Gutsbesitz in Estland/ Livland

O

unbesitzlich

P

Summe

(20 %)

20

2

2

2

6(10%)

10(15%)

28(25%)

23(30%)

16(25%)

31(45%)

64

78

113

83

66

72

(gesamt: 476) Q

davon in Kurland unbesitzlich

18(30%)

31(40%)

41(35%)

29(35%)

21(30%)

40(55%)

R

abzgl. der nur in

8(15%)

18(25%)

33(30%)

23(30%)

16(25%)

31(45%)

21(35%)

22(30%)

32(30%)

17(20%)

13(20%)

11(15%)

16(25%)

20(25%)

16(15%)

18(20%)

13(20%)

12(15%)

21(35%)

26(35%)

37(35%)

25(30%)

24(35%)

18(25%)

Anteil Großbesitz den Besitzlichen

35%

30%

40%

30%

25%

30%

Anteil Mittelbesitz den Besitzlichen

30%

30%

20%

30%

25%

30%

Anteil Kleinbesitz den Besitzlichen

35%

40%

45%

40%

50%

45%

Litauen Besitzlichen S

Großbesitzliche

gesamt' T

Mittelbesitzliche

gesamt U

Kleinbesitzliche

gesamt V

an

W

an

X

an

3

Die Angaben weichen von der Summe für Kurland und Litauen ab, da der Besitz im Ausland berücksichtig ist.

518

Anhang 7

Anhang 7:

Güterbesitzstruktur

[1826]

Basis Gouvernementsstatistik

[1826]: LVVA7363/3/241.

Die Aufstellung enthält Angaben zum rechtlichen Charakter der Güter, der Zahl der Wirte, Seelen, Krüge und Mühlen, zur Entfernung nach der Gouvernementsstadt und den Gerichten, zu den „Revisionswegen" (also privat zu unterhaltenden öffentlichen Straßen) sowie zu Besitzern und

Obereigentümern. Der Abgleich der Personennamen mit den biographischen Verzeichnissen ergibt als Erhebungszeitraum 1824/27, so dass sich die Seelenrevision 1826 als Basis vermuten lässt.

Auswertung In der Quelle 459 179 86 47 6 7 4 2 1

aufgeführt sind

Privatgüter1 Kronsgüter Pastorate Kronsforsteien

Ritterschaftsgüter Hauptmannswidmen3 Oberhauptmannswidmen4 Privatflecken (Neu-Subbath, Skrudalina) Privatbesitzlichkeit (Luisenhof)

1

Privatgelegenheit (Steguhlen)

1

Privatwidme (Secretorialswidme

Seiburg)

(Arme-Bauern-) Stiftung (Goldingen) 1 Kronswidme Fährenaufseher (Mitau)

1

1 2 3 4

„Fürst von Sackensche Besitzlichkeit" Bestenhof. „Amt" Bauske. Grobin, Frauenburg, Durben, Bauske, Doblen, Windau, Schrunden. Tuckum, Goldingen, Seiburg, Doblen-Mitau („hat keinen Hof). Inkl. Inkl.

Güterbesitzstruktur [1826] 1

Kronswildnisbereiterei (Talsen)

1

Superintendentenwidme (Superintendentenhof) Predigerwidme (Baumhof)

1 1 1

1

Küstorat (Nerft)

Lehrerrenteney (Frauenburg) Ritterschaftsforstei (Grendsen)

801

Besitzlichkeiten

Im weiteren 463 179 88 47

Privatgüter Kronsgüter

=

=

Pastorate Kronsforsteien

=

=

6

Ritterschaftsgüter

=

7

Hauptmannswidmen und Oberhauptmannswidmen Sonstige:5

=

4

7

I

zusammengefasst als

=

57,8% 22,3% 11,0% 5,9% 0,7% 1,4% 0,9%

Verteilung der Seelen und Wirte

Tab. 1 :

Verteilung allgemein Seelen

PrivatgUter5

217986

Wirte

=66.6%

!

15 192

=66,7%

6205

=27,2%

Kronsgüter'

90454

=27,6%

Pastorate8

7140

=2,2,%

498

=2,2%

Kronsforsteien

6240

=1,9%

486

=2,1%

5

6

7 8

1 (Arme-Bauern-) Stiftung mit 25 Seelen/4 Wirten, ohne Angabe zum Besitzer; 1 Kronswidme Fährenaufseher (51/2, O.A.), 1 Kronswildnisbereiterei (30/4, o.A.), 1 Küstorat (0/0, Küster J. Westermann), 1 Lehrerrenteney (24/2, O.A.), 1 private Secretorialswidme (7/1, Sekr. Blaese), 1 Ritterschaftsforstei (o.A./9, O.A.). Davon Neu-Rahden o.A. zu Seelen, aber mit 70 Wirten; die Privatflecken Neu-Subbath (o.A. zu Wirten und Leuten) und Skrudalina (216 Seelen, 18 Wirte) mit dem Vermerk, alle Leute seien (alt-)frei. Amt Bauske o.A. zu Seelen, aber 68 Wirte aufgeführt. Sieben davon o.A. zu Seelen, von denen wiederum zwei mit je drei Wirten.

520

Anhang 7 Seelen

Ritterschaftsguter

3753

Oberhauptmanns-

679

Wirte 251

=l,2