Modernisierung in der preußischen Provinz?: Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert 9783666370236, 9783525370230, 9783647370231

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Modernisierung in der preußischen Provinz?: Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert
 9783666370236, 9783525370230, 9783647370231

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Gunilla Budde, Dieter Gosewinkel, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Alexander Nützenadel, Hans-Peter Ullmann

Frühere Herausgeber Helmut Berding und Hans-Ulrich Wehler (1972–2011)

Band 201

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Dirk Mellies

Modernisierung in der preußischen Provinz? Der Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert

Vandenhoeck & Ruprecht © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Historischen Kommission für Pommern.

Mit 14 Diagrammen und 7 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-37023-0 ISBN 978-3-647-37023-1 (E-Book) Umschlagabbildung: »Kinderschutz auf dem Lande«. Der Wahre Jakob, Nr. 414, 3. Juni 1902. © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Die Hebung des Schulwesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.1 Die Schulwirklichkeit bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.1.1 Die Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.1.2 Reformansätze bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1.2 Die Schulpolitik in Preußen und Pommern im 19. Jahrhundert . . 51 1.2.1 Grundzüge der schulpolitischen Entwicklung von 1815–1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1.2.2 Akteure der Hebung des Schulwesens . . . . . . . . . . . . . 56 1.2.3 Entwicklungsziele der Hebung des Schulwesens nach 1815 . 57 1.3 Die Hebung des pommerschen Schulwesens im 19. Jahrhundert . . 58 1.3.1 Die Durchsetzung des Schulbesuchs auf dem platten Land 59 1.3.2 Die Durchsetzung des Schulbesuchs in den Städten . . . . . 75 1.3.3 Die Durchsetzung des Schulbesuchs in der Großstadt Stettin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 1.3.4 Der Ausbau des Schulwesens und die Ausdifferenzierung eines Schulsystems auf dem platten Land . . . . . . . . . . . 80 1.3.5 Der Ausbau des Schulwesens und die Ausdifferenzierung eines Schulsystems in den Städten . . . . . . . . . . . . . . . 83 1.3.6 Der Ausbau des Schulwesens und die Ausdifferenzierung eines Schulsystems in der Großstadt Stettin . . . . . . . . . 92 1.3.7 Die Verberuflichung des Lehrerstandes und die Hebung der Lehrergehälter auf dem platten Land . . . . 96 1.3.8 Die Verberuflichung des Lehrerstandes und die Hebung der Lehrergehälter in den Städten . . . . . . . . 113 1.3.9 Die Verberuflichung des Lehrerstandes und die Hebung der Lehrergehälter in der Großstadt Stettin . . 116 1.3.10 Die Ausweitung des Lehrinhalts auf dem platten Land . . . 119 1.3.11 Die Ausweitung des Lehrinhalts in den Städten . . . . . . . 126 1.3.12 Die Ausweitung des Lehrinhalts in der Großstadt Stettin . . 131 1.3.13 Zwischenergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

2. Der Ausbau der Infrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2.1 Die Verkehrsinfrastruktur bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2.1.1 Die Problemlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2.1.2 Reformansätze bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 2.2 Die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur in Preußen und Pommern im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2.2.1 Grundzüge der infrastrukturellen Entwicklung von 1815 bis 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2.2.2 Akteure des Ausbaus der Verkehrsinfrastruktur . . . . . . 155 2.2.3 Entwicklungsziele beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur nach 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 2.3 Der Ausbau der pommerschen Verkehrsinfrastrukturen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 2.3.1 Das platte Land und der Chausseebau . . . . . . . . . . . . . 158 2.3.2 Die Städte und der Chausseebau . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2.3.3 Die Großstadt Stettin und der Chausseebau . . . . . . . . . 184 2.3.4 Das platte Land und der Eisenbahnbau . . . . . . . . . . . . 188 2.3.5 Die Städte und der Eisenbahnbau . . . . . . . . . . . . . . . 202 2.3.6 Die Großstadt Stettin und der Eisenbahnbau . . . . . . . . 205 2.3.7 Zwischenergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3. Die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen . . . . . . . . . . . . 219 3.1 Die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 . . . . . . . . . . 219 3.1.1 Die Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3.1.2 Reformansätze bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 . . . . . . . . . . . . . . 221 3.2 Die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Preußen und Pommern im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.2.1 Grundzüge der zivilgesellschaftlichen Entwicklung von 1815 bis 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 3.2.2 Akteure der Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen . 235 3.2.3 Entwicklungsziele der Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen nach 1815 . . . . . . . . . 236 3.3 Die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Pommern . . 237 3.3.1 Die Ausbildung des Pressewesens auf dem platten Land . . 237 3.3.2 Die Ausbildung des Pressewesens in den Städten . . . . . . 247 3.3.3 Die Ausbildung des Pressewesens in der Großstadt Stettin . 250 3.3.4 Politische Partizipation, Vereinsbildung und Herausbildung der modernen Parteien auf dem platten Land . . . . . . . . 261 6 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

3.3.5 Politische Partizipation, Vereinsbildung und Herausbildung der modernen Parteien in den Städten . . . 301 3.3.6 Politische Partizipation, Vereinsbildung und Herausbildung der modernen Parteien in der Großstadt Stettin . . . . . . . 314 3.3.7 Zwischenergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373

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Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

Diagramme Diagramm 1: Analphabetenrate bei Rekrutenprüfungen (1836–1895) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Diagramm 2: Analphabetenrate der preußischen Gesamtbevölkerung (1871) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Diagramm 3: Kinderarbeit in Pommern auf dem Land (1896) . . . . . . 69 Diagramm 4: Kinderarbeit in Stettin (1893) . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Diagramm 5: Höhere Schulen in Pommern (1818–1900) . . . . . . . . . 91 Diagramm 6: Das Stettiner Schulwesen aufgeschlüsselt nach Schülern (1859) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Diagramm 7: Der Chausseebau im Kgr. Preußen und in Pommern (1823–1852) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Diagramm 8: Das preußische Chausseenetz anteilig in Kilometer (1816–1870) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Diagramm 9: Das preußische Eisenbahnnetz anteilig in Kilometer (1840–1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Diagramm 10: Realisierte Pressegründungen im Stettiner Bezirk (1821–1900) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Diagramm 11: Ergebnisse der Wahlen zur zweiten Kammer (Februar 1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Diagramm 12: Urwahlergebnisse zum Preuß. Abgeordnetenhaus im Stettiner Bezirk (1893) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

9 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

Diagramm 13: Stimmen für Kandidaten der SPD bei Reichstagswahlen (1871–1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Diagramm 14: Reichstagswahlergebnisse nach Milieus im Stettiner Bezirk (1871–1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Tabellen Tab. 1: Lehrgegenstände der Höheren Stadtschule von Demmin (1842) . 128 Tab. 2: Lehrgegenstände an der Allgemeinen Stadtschule von Demmin (1842) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Tab. 3: Lehrgegenstände an der Armenschule von Demmin (1842) . . . 130 Tab. 4: Nachweis der von der Stettiner Ober-Post-Direktion debitierten Zeitungen politischen Inhalts (1855–1869) . . . . . . . . . . . . . 240 Tab. 5: Protestsample preußischer Provinzen (1847–1849) . . . . . . . . . 270 Tab. 6: Sitzverteilung im Preußischen Abgeordnetenhaus (1867–1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Tab. 7: Verteilung der Reichstagswahlmandate in Pommern (1867–1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

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Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Jahr 2009 von der Philosophischen Fakultät der Universität Greifswald als Dissertation angenommen. Für die Druckfassung ist das Manuskript leicht gekürzt und überarbeitet worden. Prof. Dr. Thomas Stamm-Kuhlman gab mir den Anstoß zur Beschäftigung mit der preußischen Geschichte. Er hat die Arbeit mit zahlreichen hilfreichen An­ regungen begleitet. Hierfür gilt ihm mein größter Dank. Die mehr als sechs Jahre Tätigkeit in Forschung und Lehre als Assistent an seinem Lehrstuhl bewahre ich in bester Erinnerung. Prof. Dr. Patrick Wagner als Zweitgutachter, Prof. Dr. Helmut Berding, Prof. Dr. Paul Nolte und Prof. Dr. Jürgen Kocka als Herausgeber der Kritischen Studien lasen die Erstfassung der Dissertation. Sie gaben mir viele kritische Hinweise, die den Weg zum Buch ermöglichten. Der Abschluss meiner Dissertation leitete auch das Ende meines Lebensabschnitts in der beschaulichen vorpommerschen Universitätsstadt Greifswald ein. Meinen Freunden und Kollegen Knut Langewand, Niels Hegewisch, Thomas Lenz, Philipp Erbentraut und PD Dr. Frank Möller, mit denen ich mich in Greifswald fachlich und privat umfassend austauschen konnte, bin ich ebenfalls zu Dank verpflichtet. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Archive und Bibliotheken in Greifswald, Berlin und Stettin unterstützten mich bei meinen Recherchen. Ohne die kompetente Hilfe der Archivare des Archiwum Państwowe w Szczecinie hätte sich die Quellensuche als schwierig gestaltet. Die Drucklegung wurde durch einen finanziellen Zuschuss der Historischen Kommission für Pommern ge­ fördert. Auch hierfür bedanke ich mich herzlich. Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern Brigitte und Gerhard Mellies. Sie weckten in meiner Kindheit meine Begeisterung für geschichtliche Themen. Mein Vater hat die Entstehung der Arbeit stets mit großem Interesse verfolgt und half mir auch beim Lektorat. Dank für Vieles gilt zuletzt meiner Partnerin, die das Dissertationsvorhaben von seinem Beginn bis zu seinem Abschluss erduldet hat. Hamburg, im September 2011

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

Einleitung »Die Pommern sind treu und bieder, aber durch das Klima und Gewohnheiten und eine fast eiserne Anhänglichkeit an das Tun und Lassen ihrer Altvorderen nur durch äußere Aufregung zu Fortschritten zu vermögen, zu denen es ihnen sonst keineswegs an innerer Kraft und Geschick mangelt.«1

Dieser Kommentar aus der Feder Johann August Sacks, der von 1816 bis 1831 in der Provinz Pommern als Oberpräsident wirkte, gibt die Perspektive eines exponierten Vertreters der preußischen Reformbeamtenschaft2 wieder. Die Bewohner seines Verwaltungsbezirks erscheinen als träge, womöglich renitente Masse, die nur durch die »äußere Aufregung« der Verwaltung »zu Fortschritten« gebracht werden könne. Als Entwicklungsziel wird deshalb nicht nur der »Fortschritt«, als dessen Agent sich die Verwaltung selbstbewusst stilisiert, sondern auch die Entfesselung entsprechender zum Fortschritt führender Eigen­ initiativen der Verwalteten festgeschrieben. Zwar drückt sich in dem Ausspruch Sacks das zu diesem Zeitpunkt schon länger tradierte Stereotyp einer relativen Rückständigkeit Pommerns aus, jedoch lässt sich der hier aufgestellte Gegensatz zwischen aktiver Verwaltung auf der einen und den vermeintlich passiven Verwalteten auf der anderen Seite problemlos auf andere Regionen inner- und außerhalb Preußens übertragen. Die auch in diesem Zitat deutlich werdende aktionistische Sprache der preußischen Reformbeamten trug gemeinsam mit den von den Historikern3 verwendeten Materialien dazu bei, dass die Verwaltungs- und Politikgeschichte Preußens im 19. Jahrhundert über lange Zeit fast ausschließlich aus der Vogelperspektive behandelt wurde. Auf die Beispielregion Pommern bezogen wird Sack dementsprechend von der älteren Landesgeschichte bis heute als eine der maßgeblichen Heldenfiguren bemüht,4 welche die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der pommerschen Provinz bestimmten. Zwar wird auch diese Studie zeigen, dass der individuelle Anteil einzelner prominenter Akteure wie Sack in der Entwicklung nicht zu niedrig anzusetzen ist, allerdings vernachlässigt die Fokussierung auf die »großen Männer« einerseits die unteren Ebenen der Verwaltung und andererseits die Vielzahl lokaler auch außerhalb der Verwaltung stehender Akteure. 1 2 3 4

Kommentar Sacks aus dem Jahr 1823. Zit. nach: Wehrmann, Pommern, S. 290. Vgl. etwa die Charakterisierung Sacks bei Sösemann, Die preußischen Reformen, S. 22. Die hier verwendete männliche Form steht im Folgenden für beide Geschlechter. Vgl. exemplarisch Wehrmann, Pommern, S. 289–296 u. Weise, Sack, S. 77–89.

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Die Studie hat sich deshalb die Aufgabe gesetzt, anhand einer exemplarisch ausgewählten Region die innere Entwicklung Preußens im 19. Jahrhundert breiter und tiefer gehender zu analysieren. Unter der Prämisse der im Hegel’schen Sinne dichotomischen Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft soll untersucht werden, welchen Anteil die verschiedenen Akteure aus Staat und Gesellschaft an demjenigen Prozess hatten, der »partielle Modernisierung« Preußens genannt wird. Im Fokus der Arbeit steht deshalb nicht nur die Gruppe der Oberpräsidenten der untersuchten Provinz, sondern auch die der preußischen Fachminister bis hinauf zum Monarchen und die der Regierungs- und Landräte bis hinunter zum einzelnen Amtmann am Ort. Des Weiteren interessieren neben den zwischen der Sphäre des Staates und der Gesellschaft schwebenden Selbstverwaltungsorganen von Provinz, Kreis und Stadt die einzelnen Guts­besitzer, Städter, Bauern und Landarbeiter sowie sämtliche potentielle zivilgesellschaftliche Akteure. Inwieweit diese Impulsgeber von Modernisierung waren, fördernd, hemmend oder sogar verhindernd wirkten, soll dargestellt werden. Die Auseinandersetzung mit der preußischen Geschichte besitzt für den Zeitraum zwischen 1815 und 1947 einen vollkommen anders gelagerten Stellen­ wert als eine Beschäftigung mit der bayerischen, sächsischen oder hessischen Geschichte. Bei Fragestellungen der deutschen oder auch der europäischen Geschichte kommt die Geschichtswissenschaft nicht an Preußen vorbei. In den Worten des 1841 in Stettin geborenen Rechtshistorikers Otto Gierke wurde Preußen 1870/71 »Seele und Kern, das zentrale Lebensprinzip des neuen Reiches«.5 Und trotz des sukzessiven Aufgehens Preußens in Deutschland, das mit der zunehmenden Verflechtung preußischer und reichsdeutscher Institutionen markiert wurde, blieb die preußische Dominanz bis zum Ende der Monarchie und auch darüber hinaus erhalten.6 Preußische Geschichte des 19.  und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt daher immer auch deutsche Geschichte dar, genauso wie umgekehrt die deutsche Geschichte in dieser Zeit zu weiten Teilen eine preußische war. Indem die Studie ein preußisches Untersuchungsgebiet ausgewählt hat, können generelle Aussagen über die partielle Modernisierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts getätigt werden. Hierbei interessieren freilich abseits der Sonder­wegdebatten seit den sechziger Jahren7 insbesondere diejenigen ländlich-agrarisch geprägten Akteure, die inner- und außerhalb der preußischen Verwaltung durch eine Politik der »defensiven Modernisierung«8 ihre überkommene Machtstellung bis 1918 erfolgreich gegen eine Revolution von unten 5 Vgl. Gierke, S. 19. 6 Vgl. Clark, S. 635–639 u. Schulze, Preußen von 1850 bis 1871, S. 367–370. 7 Vgl. dazu Blackbourn u. Eley, passim u. Grebing, passim. 8 Vgl. zum Konzept der »defensiven Modernisierung« hier auf die preuß. Reformen bezogen Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.  1, S.  532–546. Bereits 1975 hat Wehler auf die grundsätzliche Anwendbarkeit des Konzeptes auf die Geschichte Preußens u. Japans im 19. u. 20. Jhdt. sowie auf die zeitgenössischen Entwicklungsländer hingewiesen. Vgl. Wehler, Modernisierungstheorie u. Geschichte, S. 68 f.

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verteidigt hatten. Gemeint sind hier die so genannten ostelbischen Junker, die auch noch nach der Novemberrevolution ihren Einfluss auf die deutsche Politik wahren konnten und denen zuletzt wieder Shelley O. Baranowski und ­Stephan Malinowski einen wesentlichen Anteil am späteren Aufstieg des Nationalsozialismus im ländlich-protestantischen Raum attestiert haben.9 In dieser Studie soll deshalb außerdem ermittelt werden, ob und wie sich die Akteure des ländlich-agrarischen Milieus Ostelbiens an der partiellen Modernisierung PreußenDeutschlands beteiligten und dabei gleichzeitig ihren politischen Einfluss zu sichern bemühten. Die Arbeit kann daher auch Erkenntnisse über die breitere Verankerung des politischen Konservativismus zu Tage fördern, dessen Re­ präsentanten ihre Hochburgen in den ostelbischen Gebieten hatten. Da für das Forschungsvorhaben mit dem pommerschen Regierungsbezirk Stettin ein Raum ausgewählt wurde, in dem das Kernpreußen dominierende ländlich-agrarische, protestantisch und konservativ geprägte Profil geradezu idealtypisch ausgeprägt war,10 bietet sich zuletzt die Möglichkeit, einerseits die Disparitäten zwischen städtischen und ländlichen Regionen innerhalb des Untersuchungsraums stellvertretend für das gesamte ostelbische Preußen aus­ zuloten und andererseits exemplarische Gegenüberstellungen zu anderen preußischen Gebieten vorzunehmen. Hierbei wird auch zu klären sein, wie sich das aufgrund seines besonderen Profils bereits zeitgenössisch als »rückständig« beschriebene Pommern im Vergleich zu den »fortschrittlicheren« westlichen Provinzen entwickelte. Zur Operationalisierung der hier skizzierten Aufgabenstellung sind weitere Eingrenzungen zeitlicher, räumlicher und inhaltlicher Natur erforderlich. Mit seiner Trilogie zur europäischen Geschichte von 1789 bis 1914 prägte Eric ­Hobsbawm den Begriff des langen 19. Jahrhunderts,11 der sich inzwischen von der National- bis auf die Ebene der Globalgeschichte als Folie für die Geschichte des 19. Jahrhunderts erfolgreich etabliert hat.12 Die Epoche des langen 19. Jahrhunderts wird in diesen Studien trotz aller Widersprüche als »Geburt der modernen Welt« begriffen, in der sich die Idee des Nationalstaats durchsetzte, Machtstrukturen zentralisiert wurden, eine Ausweitung von geschäftlichen und intellektuellen Verbindungen stattfand und sich die Industrialisierung sowie ein urbaner Lebensstil verbreitete, der letztlich zu einer sukzessiven äußerlichen

9 Vgl. Baranowski, passim. Siehe auch die differenzierte Darstellung von Malinowski, ­passim, der die zunehmende rechtsradikale Orientierung des ostelbischen Adels sowie dessen »maßlose Selbstüberschätzung und die fatale Unterschätzung der NS-Bewegung« thematisiert. Vgl. ebd., S.  600 f. Siehe auch die Zusammenfassung der älteren historischen Forschung nach 1945 zur Belastung, welche die Junker für die preußisch-deutsche Geschichte darstellte Schissler, S. 108–112. 10 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Einleitung, S. 8. 11 Vgl. Hobsbawm, The age of revolution, ders., The age of capital u. ders., The age of empire, passim. 12 Vgl. Blackbourn, passim, Kocka, Das lange 19. Jhdt., passim, Bauer, passim, Bayly, passim.

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Uniformierung bei gleichzeitig wachsender innerer Komplexität der Weltgesellschaften führte.13 Auf der Suche nach einem spezifischen Jahrhundertkern haben demgegenüber Jürgen Osterhammel14 und in dessen Gefolge jüngst Ewald Frie15 eine Einschränkung vorgenommen, die eine Art »kurzes 19. Jahrhundert«16 als Untersuchungsobjekt vorschlägt. Dieses erstrecke sich auf den Zeitraum von ca. 1830 bis 1890 und wird wiederum von einer ca. 1760 bis 1830 dauernden Übergangsund Sattelzeit der Revolutionen und einer ca. 1890 bis 1920 dauernden Phase der Krise und Selbstüberholung der Moderne abgegrenzt. Obwohl diese Studie weiterhin den Modernisierungs- und Transformationsprozess des 19. Jahrhunderts fokussiert, wird im Folgenden genau dieser Jahrhundert»kern« als Bearbeitungszeitraum festgelegt. Lediglich der Startpunkt ist aufgrund des für Europa und Preußen-Deutschland wichtigen Datums von 1815 leicht nach vorne ver­ lagert worden. Der gewählte Untersuchungszeitraum von 1815 bis 1890 bietet die Möglichkeit, einen rund fünfundsiebzigjährigen Längsschnitt durch die preußische Geschichte vorzunehmen, der sich von der Endphase der Napoleonischen Ära und der preußischen Reformzeit über die deutsche Doppelrevolution der vier­ ziger Jahre17 bis zum sukzessiven Aufgehen Preußens im Deutschen Reich nach 1870/71 erstreckt. Zur weiteren Eingrenzung wurde der Untersuchungsraum auf einen einzigen preußischen Regierungsbezirk beschränkt. Denn nur dieser mikrogeschicht­ liche Ansatz ermöglicht es, sich eingehender mit sämtlichen potentiellen Akteuren aus Verwaltung und Gesellschaft zu befassen. Dabei bietet sich die Ebene des Regierungsbezirks als Ausgangsbasis einer Expedition in die preußische Vergangenheit des 19. Jahrhunderts allein deshalb an, weil die Bezirke von ihrer Funktion her eine Mittlerrolle zwischen dem Staatsministerium in Berlin und den Strukturen am Ort einnahmen. Mit dem Regierungsbezirk Stettin wurde ein Untersuchungsraum ausgewählt, dessen ehemaliges Gebiet sich heute auf zwei Staaten verteilt. Der Bezirk wurde in der Mitte von der Dievenow und der Oder durchschnitten, an deren linkem Ufer das seit 1945 polnische Stettin liegt. Ebenfalls zu Polen gehören heute die früheren hinterpommerschen Kreise Cammin, Greifenberg, Greifen­hagen, Naugard, Pyritz, Regenwalde, Saatzig sowie die östliche Hälfte der Kreise Randow und Usedom-Wollin. Demgegenüber sind die früheren altvorpommerschen Kreise Demmin und Anklam sowie die westliche Hälfte Randows und Usedom-Wollins heute Teil  des deutschen Bundeslandes Mecklen-

13 Vgl. Bayly, S. 26. 14 Vgl. Osterhammel, 19th century, S. 9–28 u. ders., Die Verwandlung der Welt, S. 102 f. 15 Vgl. Frie, Adelsgeschichte des 19. Jhdt.?, S. 398–415. 16 Vgl. Osterhammel, 19th century, S. 16. 17 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 5.

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burg-Vorpommern.18 Die drei Verwaltungsdistrikte bildeten gemeinsam die bis 1938 ca. 30.121 qkm umfassende preußische Provinz Pommern. Der Stettiner Bezirk besaß im 19. Jahrhundert eine Fläche von 12.082 qkm, der Kösliner Bezirk eine von 14.036 qkm und der Stralsunder Bezirk eine von 4.013 qkm.19 1900 hatte die gesamte Provinz rund 1,6 Mio. Einwohner, wovon allein 830.709 im Regierungsbezirk Stettin, 587.783 im Regierungsbezirk Köslin und 216.340 im Regierungsbezirk Stralsund lebten. Ausgehend von 323.402 Ein­ wohnern im Jahr 1817 hatte sich die Bevölkerung des Stettiner Bezirks bis 1900 mehr als verdoppelt.20 Durch die hohe Bevölkerungszahl der Großstadt Stettin (1825: 25.449, 1847: 43.582, 1871: 72.276, 1900: 210.702 Einwohner) wurde die Bevölkerungsdichte von 68,78 Einwohner/qkm im Jahr 1900 noch nach oben verzerrt; in ganz Pommern betrug sie 1910 56,98 Einwohner/qkm.21 Neben Stettin zählten nach dem Zensus von 1871 im Bezirk lediglich die Städte Stargard (16.427), Anklam (10.532), Demmin (8.361), Pasewalk (7.358), Gollnow (7.241), Greifenhagen (6.608), Swinemünde (6.486), Treptow a.d. Rega (6.299) und Greiffenberg (5.359) mehr als fünftausend Einwohner.22 Ein erheblicher Teil der Bevölkerung des Stettiner Regierungsbezirks lebte mithin auf dem platten Land und war in der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt. 1882 betraf dies auf die gesamte Provinz bezogen 65,5 % aller Pommern.23 Noch 1939 wurden von den 1.087 Gemeinden des inzwischen mit dem früheren Stralsunder Verwaltungsdistrikt vereinigten Stettiner Regierungsbezirks allein 753 von weniger als 500 Personen bewohnt.24 Mit der Großstadt Stettin, einer Vielzahl kleinerer Städte und dem ausgeprägten agrarisch-ländlichen Milieu kann man die Provinz Pommern und den Regierungsbezirk Stettin deshalb stellvertretend für die protestantischen Gebiete des ostelbischen Kernpreußen betrachten. Die den späteren Kösliner und den Stettiner Bezirk umfassenden Teile Pommerns zählten spätestens seit dem Stockholmer Frieden von 1720 zum preußischen Staat. Bei weiten Teilen Hinterpommerns war das sogar schon seit 1653 der Fall. Dass zwischen 1786 und 1888 dem jeweiligen preußischen Kron­ prinzen bzw. Thronfolger vom Monarchen die symbolische Provinzstatthalterschaft verliehen wurde,25 betont die enge Bindung Pommerns an den Hohenzollernstaat. Der Stettiner Regierungsbezirk bietet sich daher im Gegensatz zum bis 1815 schwedischen Stralsunder Verwaltungsdistrikt aufgrund seiner langjährigen 18 Vgl. zum Verwaltungsaufbau Pommerns Stüttgen, passim. 19 Vgl. Wieden, S. 28. 20 Ebd., S. 92. 21 Ebd., S. 95. 22 Vgl. LAG, Rep. 60, Oberpräsident Pommern, Tit. 7, Nr. 1413, Auszug aus dem Verzeichnis der Deutschen Städte u. ihrer Einwohnerzahl nach der Volkszählung von 1871 [1871]. 23 Vgl. Fenske, S. 13. 24 Vgl. Stüttgen, S. 112 f. 25 Vgl. APS, NPPP, Nr. 566, Gutachten des Staatsarchivs über die pom. Statthalterschaft, Berlin 31.5.1902.

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preußischen Tradition als Untersuchungsraum an. Und anders als der hinter­ pommersche Kösliner Regierungsbezirk verfügte der Bezirk mit der Stadt Stettin zudem über das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Zentrum der Provinz. Dass die pommerschen Oberpräsidenten bis 1882 in Personalunion gleichzeitig das Amt des Stettiner Regierungspräsidenten ausübten, unterstreicht zuletzt die besondere Stellung des Bezirks im regionalen Verwaltungsgefüge. Nach der zeitlichen und räumlichen muss schließlich die inhaltliche Eingrenzung des Untersuchungsgebiets erfolgen. Es wurde schon vorn auf einige von Christopher A. Bayly als wesentlich herausgestellten Charakteristika des 19.  Jahrhunderts verwiesen. Typische Richtungsbegriffe der das 19.  Jahrhundert bearbeitenden Historiker sind nach Ewald Fries kritischer Einschätzung die Termini Parlamentarisierung, Demokratisierung, Urbanisierung, Mobi­ lisierung, Alphabetisierung, Technisierung, Säkularisierung, Rationalisierung und Bürokratisierung.26 Jürgen Osterhammel betont weiterhin die Bedeutung der Schaffung nationaler Kommunikationsnetzwerke als Projekt einer Modernisierung von oben. Und als ein Unterscheidungsmerkmal der verschiedenen Modernisierungsstrategien des 19.  Jahrhunderts weist er auf die unterschiedliche Förderung und Ausprägung von zivilgesellschaftlichen Elementen hin.27 In dieser Studie wurden aus dem vielfältigen Angebot an Untersuchungs­ optionen drei sich inhaltlich deutlich unterscheidende Problemkomplexe des Modernisierungsprozesses des 19.  Jahrhunderts herausgegriffen. Das anfangs vielversprechende Vorhaben zum Zwecke eines tieferen Verständnisses eventuell vorhandener modernisierungsskeptischer Mentalitäten die Medizinal- und Sanitätspolitik der pommerschen Verwaltung zu untersuchen, konnte angesichts der mangelhaften Quellenlage nicht umgesetzt werden.28 Stattdessen beginnt die Arbeit mit einer Analyse der Hebung des pommerschen Schulwesens (Kapitel 1), um ein Politikfeld zu bearbeiten, das ein möglichst breites Spek­ trum unterschiedlicher Akteure aus Verwaltung und Gesellschaft betraf. Von den vorne genannten Richtungsbegriffen des 19. Jahrhunderts werden in diesem Kapitel vor allem die Aspekte der Alphabetisierung, Differenzierung und der Säkularisierung von Belang sein. Im Rahmen einer geschichtswissenschaftlichen Analyse etwas exotischer stellt sich der zweite Problemkomplex dar, in dem der Ausbau der Infrastruktur anhand des Chaussee- und Eisenbahnbaus behandelt wird (Kapitel 2). Die Entwicklung von Verkehrsinfrastrukturen wird hier als wesentliche Voraussetzung gewerblicher und industrieller Entwicklung betrachtet. Wichtige Richtungs­ 26 Vgl. Frie, Adelsgeschichte des 19. Jhdts.?, S. 398. 27 Vgl. Osterhammel, 19th century, S. 18. 28 Zur Untersuchung modernisierungsskeptischer Mentalität weist Nils Freytag u. a. auf die kritische Auswertung von Quellen zur Medizinal- u. Sanitätspolitik hin. Vgl. Freytag, S. 295–311. Zwar konnten in dieser Studie die bei Freytag erwähnten amtlichen Zeitungsberichte vollständig ausgewertet werden. Bei der Archivrecherche ergab sich jedoch, dass der Bestand der Medizinal- u. Sanitätsberichte für den Regierungsbezirk Stettin nur lückenhaft überliefert ist.

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begriffe stellen hier die Aspekte der Ausweitung der Kommunikation, der Mobilisierung, der Technisierung und der Schaffung eines nationalen Kommunikationsnetzwerks dar. Bearbeiten die beiden ersten Kapitel typische Themen einer Modernisierung von oben, wurde zuletzt mit der Frage nach der Entfaltung zivilgesellschaft­ licher Strukturen ein Untersuchungsobjekt ausgewählt, welches sich mit Modernisierungsimpulsen von unten beschäftigt (Kapitel 3). Neben dem Aspekt der Schaffung eines nationalen Kommunikationsnetzwerks, rücken als Richtungsbegriffe hier vor allem die Aspekte der Partizipation, der Demokratisierung und auch der Parlamentarisierung in den Fokus. In allen drei Untersuchungs­ kapiteln soll zudem der Aspekt der Rationalisierung und der Bürokratisierung untersucht werden. Nach einer verbreiteten Definition von Zivilgesellschaft wird im dritten Kapitel die Herausbildung von »selbstorganisierten Initiativen, Zirkel[n], Vereine[n] und Organisationen […] zwischen Staat, Markt und Privatsphäre« in den Blick genommen.29 Die in dieser Arbeit gewählte Formulierung »Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen« betont, dass hier gesellschaftliche Ansätze und Erscheinungsformen untersucht werden, die sich selbst organisierten, im öffentlichen Raum ausgetragen wurden und auf gesellschaftliche wie politische Partizipation bedacht waren. Dabei fand bewusst der Terminus der »Zivil-« anstatt der »Bürgergesellschaft« Verwendung, denn letzterer impliziert eine zu starke Fokussierung auf das »Bürgertum« und droht nicht-bürgerliche Akteure zu vernachlässigen.30 Während spätestens seit den friedlichen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa von 1989/90 mit dem Begriff der Zivilgesellschaft auch auf bestimmte gesellschaftliche Handlungs- und Interaktionsformen verwiesen wird, die auf Zivilität beruhen,31 ist weiterhin zu unterstreichen, dass es hier nicht um die Untersuchung der Ausprägung eine solchen Typus sozialen Handelns geht, sondern darum, überhaupt erste organisatorische zivilgesellschaftliche Ansätze auszumachen. Da Öffentlichkeit eine der Grundbedingungen für die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen darstellt, soll in diesem Kapitel neben der Ausbildung des pommerschen Vereinswesens und der politischen Parteien auch die Entwicklung der pommerschen Presse analysiert werden. Die Darstellung aller drei Problemkomplexe folgt in dieser Studie einem standardisierten Muster. Jedes der drei Untersuchungskapitel beginnt mit einer 29 Vgl. Gosewinkel u. a., S. 11. 30 Vgl. zur Entwicklung der Begriffsterminologie von »Zivil-« und »Bürgergesellschaft« in Deutschland Hettling u. Foljanty-Jost, S. 16–22. Im Internationalen Graduiertenkolleg der Universität Halle-Wittenberg »Formenwandel der Bürgergesellschaft – Japan und Deutschland im Vergleich« wird indes der Terminus der »Bürgergesellschaft« als präziser präferiert, da dieser in Rückgriff auf Ralf Dahrendorf sowohl eine zu enge Bindung an den Begriff der »Bürgerlichkeit«, als auch eine künstliche Gegenüberstellung zum Staat vermeide (vgl. ebd., S. 22). 31 Gosewinkel u. a., S. 11 f. Vgl. auch den Artikel »Zivilgesellschaft«, in: Holtmann, S. 792.

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kurzen Übersicht über die Ausgangs- und Problemlage der drei Modernisierungsfelder zu Beginn des 19. Jahrhunderts sowie sich hierauf beziehende Reformbemühungen und Entwicklungstendenzen bis ca. 1815. Danach wird ein knapper Überblick über die geschichtliche Entwicklung der drei Problem­ komplexe im Untersuchungszeitraum gegeben. Das bedeutet, dass in aller Kürze der Forschungsstand zur allgemeinen Hebung des Schulwesens, zum Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen und zur Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen im 19. Jahrhundert skizziert wird. Nach dieser Einführung in die spezifische Materie des jeweiligen Unter­ suchungsfeldes werden die potentiellen Akteure und die sich auf die einzelnen Problemkomplexe beziehenden Entwicklungsziele umrissen. Erst danach folgt die eigentliche Untersuchung, in welcher in einer gemischten analytisch-­ chronologischen Darstellungsweise auf die Hebung des Schulwesens, den Ausbau der Verkehrsinfrastrukturen und die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen im Regierungsbezirk Stettin eingegangen wird. Auf dieser Ebene löst sich die Studie vom standardisierten Muster. Zur besseren Differenzierung des Untersuchungsraums wird jedoch immer eine Abgrenzung der drei ökonomisch und soziostrukturell zu unterscheidenden Räume des platten Landes, der pommerschen (Klein-)städte und der Großstadt Stettin vorgenommen. Die in Teilen durchaus »wilde« analytisch-chronologische Mischung der ­diversen Unterkapitel auf dieser vierten Gliederungsebene resultiert aus dem gewählten Untersuchungs- und Darstellungsverfahren der »dichten Beschreibung«. Angesichts der fernen und fremden Lebenswelten der Akteure des 19. Jahrhunderts und der gerade auch nach den weniger prominenten Akteuren fragenden Aufgabenstellung, stellt unter der Hinnahme der sich aus der lückenhaften Quellenlage ergebenden Einschränkungen die »dichte Beschreibung« ein Ertrag bringendes Verfahren dar. Denn Ziel dieser Methode ist es laut Clifford Geertz »[…] aus einzelnen, aber sehr dichten Tatsachen weitreichende Schlußfolgerungen zu ziehen und vermöge einer präzisen Charakterisierung dieser Tatsachen in ihrem jeweiligen Kontext zu generellen Einschätzungen […] zu gelangen.«32

Wo aussagefähiges Quellenmaterial zu finden war, wurde sich bemüht, die zum jeweiligen Untersuchungsfeld passenden Ereignisse und Tatsachen in aller Dichte und Breite zu rekonstruieren und hiermit individuelles Verhalten konkreter Akteure interpretierbar und in Teilen auch generalisierbar zu machen. Hierbei besteht freilich die Gefahr, in eine naiv narrative Darstellungsweise zu verfallen. Diese Studie schließt sich jedoch der Position von Manfred Gailus an, dass die Methode der »dichten Beschreibung« bzw. »eine diesem Verfahren verpflichtete historische Rekonstruktion« keinesfalls mit einer un­ reflektierten, theorielosen Erzählung gleichzusetzen sei, sondern analytisch 32 Vgl. Geertz, S. 40. Zum Verfahren der »dichten Beschreibung« vgl. insbesondere S. 35–41.

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und theorie­geleitet betrieben werden kann.33 Zur besseren Strukturierung der oft tatsächlich nur anekdotisch überlieferten, zu den Untersuchungsobjekten passenden Ereignisse und Tatsachen wurde jedoch immer dann, wenn entsprechendes Material vorlag, dieses auch statistisch und analytisch aufgearbeitet. Somit ergänzen sich im Folgenden mehrere in einer dichten Beschreibung aneinander gereihte Ereignisse und Tatsachen mit statistischen Materialien, die versuchen, auch Aussagen über die Entwicklungsprozesse längerer Zeiträume zu treffen. Am Ende der drei großen Untersuchungskapitel steht ein Zwischenresümee, in dem die gewonnenen Ergebnisse noch einmal detailliert mit den Leitfragen verknüpft werden. Abgeschlossen wird die Studie mit einer Schlussbetrachtung, welche die Ergebnisse des gesamten Forschungsvorhabens zusammenfasst. Hier erfolgt eine Bedeutungsgewichtung der verschiedenen Akteure des pommerschen Modernisierungsprozesses. Aus der äußerst lebendigen geistes- und kulturwissenschaftlichen Methoden- und Theoriedebatte der letzten Jahrzehnte ergaben sich für die Disziplin der Geschichtswissenschaft erhebliche Folgen. Es besteht hier nicht das Ziel, sich an diesen Debatten mit einem eigenen Beitrag zu beteiligen oder sich in einer der zum Teil noch in Entstehung begriffenen »neuen« Schulen und Richtungen34 einzurichten. Wenn man diese Studie trotzdem von ihrem Ansatz her näher einordnen möchte, ist diese am treffendsten als eine moderne Politikund Verwaltungsgeschichte zu klassifizieren. Insbesondere in den ersten beiden Untersuchungskapiteln stellen die Verwaltungsbehörden wesentliche Akteure dar. Modern gegenüber der traditionellen Politik- und Verwaltungsgeschichte ist diese Studie in dem Sinne, dass sie sich ausgiebig nicht nur mit den unteren Verwaltungsebenen, sondern auch mit den Verwaltungsadressaten aus­ einandersetzt. In der Untersuchung der Modernisierungsimpulse und Modernisierungsresistenzen der diversen gesellschaftlichen Akteure berücksichtigt die Arbeit Elemente der Gesellschafts- und Sozialgeschichte, die wiederum mit Bezügen zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte angereichert werden. Hierbei folgt diese Studie den in letzter Zeit vorgelegten Arbeiten von Joachim Eibach über das Verhältnis der badischen Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert, von Monika Wienfort über die Patrimonialgerichte in Preußen, von Patrick Wagner über die ostelbischen Landräte oder auch von Ewald Frie über Friedrich August Ludwig von der Marwitz, die alle ihr Forschungsobjekt in einen brei­teren sozialen und gesellschaftlichen Beziehungskontext gestellt haben.35 Ausgehend von ihrem geographischen Ansatz ist zudem die Schrift von Sabine

33 Vgl. Gailus, Straße u. Brot, S. 66 f. 34 Vgl. als ersten Überblick über die breite Facette an Schulen u. Richtungen innerhalb der Geschichtswissenschaft Eibach u. Lottes, passim. 35 Vgl. Eibach, passim, Wienfort, passim, Wagner, Bauern, Junker u. Beamte, passim u. Frie, von der Marwitz, passim.

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­Doering-Manteuffel über die ebenfalls von einer relativen Rückständigkeit geprägte Eifel als Anregung für diese Studie zu nennen.36 Das Quellenmaterial, das für diese Studie ausgewertet werden kann, ist im Prinzip unendlich. Hier wurde beschlossen, sich auf die regionale behörd­ liche Überlieferung im Archiwum Państwowe w Szczecinie zu konzentrieren sowie ergänzungsweise zum Forschungsvorhaben passende Bestände des Vor­ pommerschen Landesarchivs in Greifswald und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin einzusehen. Aufgrund des Untersuchungsraums des Regierungsbezirks Stettin interessierten in Stettin insbesondere die Bestände des Oberpräsidiums Pommern, der Regierung, der verschiedenen Landratsämter und Magistrate, des Provinzialschulkollegiums sowie von Vereinen und Organisationen. Da die Akten des Stettiner Staatsarchivs seit 1944 systematisch ausgelagert wurden, stellt sich insbesondere die Überlieferung der Bestände niederer Provenienz nur lückenhaft dar. Die polnischen Archivare bemühten sich zwar nach 1945, die alten Bestände wieder zusammenzuführen, jedoch konstatiert der 2004 verfasste Stettiner Archivführer teils erhebliche Verluste.37 Diese werden sich in dieser Studie etwa bei der Untersuchung des pommerschen Vereinsnetzes niederschlagen, über das lediglich Bestandsreste vorliegen.38 Weiterhin wurde die Untersuchung dadurch erschwert, dass die einzelnen Bestände durch die kriegsbedingte Verlagerung und die anschließende Teilung Pommerns in einen deutschen und einen polnischen Teil auseinander gerissen wurden. Bis heute befinden sich deshalb einige Archivalien der Provinz auch im Vorpommerschen Landesarchiv in Greifswald und im Geheimen Staatsarchiv in Berlin, wobei der Großteil der den alten Regierungsbezirk Stettin betreffenden Überlieferung in Stettin konzentriert ist. Die Bestandslücken stellten für die Bearbeitung dieser Studie indes nur eingeschränkt ein Problem dar. Denn mit Ausnahme der sich konkret auf Stettin beziehenden Abschnitte ging es schließlich nicht um die spezifische Geschichte der Stadt X oder des Dorfes Y. Stattdessen konnten thematisch relevante Bruchstücke aus allen Orten des Untersuchungsraumes Verwendung finden.39 Im Geheimen Staatsarchiv in Berlin wurden außer fachspezifischen Archivalien der Fachministerien zum pommerschen Chausseebau vollständig die so genannten »Zeitungsberichte« der Stettiner Regierung gesichtet. Bei dieser 36 Vgl. Doering-Manteuffel, passim. 37 Vgl. Gazinski u. a., passim. Hier werden die einzelnen Bestände ausführlich vorgestellt. 38 Im APS wurden die Archivalien der enstprechenden Einrichtungen Pommerns im Bestand »Vereine u. Organisationen  – Bestandsreste« zusammengefasst. Dieser umfasst bei einer Laufzeit von 1813–1944 82 Akteneinheiten. Auf niederer Ebene sind die Vereinsakten des Magistrats von Stargard (APS, AmSt) in einer größeren Dichte erhalten. Die 61 Akten­ einheiten zu Verbänden u. Vereinen (Laufzeit 1810–1935) enthalten aber zumeist nur wenige Informationen. 39 Die Studie folgt damit Darstellungen wie der von Pyta, passim, in der keine Mikro­geschichte geschrieben, sondern mehrere Untersuchungsobjekte zusammengefasst wurden.

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Quelle handelt es sich um regelmäßige, bis 1843 monatlich, dann zweimonatlich und ab 1867 dreimonatlich von der Regierung an den Monarchen adressierte Verwaltungsberichte. Aufgrund des standardisierten Berichtssystems, in dem nacheinander etwa auf die Witterung, die Mortalität, schädliche Natur­ ereignisse, den Wohlstand, die Landeskultur, den Gewerbebetrieb, die öffentliche Stimmung, die Wohltätigkeit, die Verbrechen, das Gemeinwesen, das Kirchen- und Schulwesen, die Polizei, die Gewerbepolizei, die öffentlichen Bauten, die Militärverhältnisse, die Abgaben, die Domänen und Forsten, die Verwaltungsorganisation und die Gesetzgebung eingegangen wurde, bieten die Zeitungsberichte eine fortlaufende Chronik des Regierungsbezirks, die gleichzeitig einen umfassenden Einblick in die Mentalität der örtlichen Verwaltung ermöglicht.40 Dass sämtliche gesichteten Bestände aus der Perspektive der Verwaltung verfasst wurden, ergibt für den Forschenden gleichermaßen Vorzüge und Nachteile. Zwar öffnen sich in einer intensiven Analyse des Verwaltungsschriftguts die schillernden Lebenswelten der jeweiligen Verwaltungsakteure, jedoch stimmt die durch die Brille der Verwaltung beschriebene Wirklichkeit nur zu einem geringen Umfang mit derjenigen überein, welche die einzelnen Städter, Bauern und Landarbeiter für sich selbst erlebt haben dürften. Umso wichtiger ist es, in den Archivalien nach ungefilterten Stimmen verwaltungsfremder Akteure zu suchen. Hier wird man etwa in den im Verwaltungsschriftgut hinterlassenen Beschwerden und Petitionen der einfachen Bevölkerung fündig. Indes hat in diesem Zusammenhang Patrick Wagner zu Recht die Bedenken geäußert, dass derartige Stimmen zumeist Konfliktsituationen fokussieren, die keineswegs repräsentativ sind.41 Auch deshalb greift diese Studie auf weitere Materialien zurück. Neben dem Stettiner Amtsblatt wurden etwa vollständig die Stettiner Börsennachrichten der Ostsee (bzw. nach der 1848 erfolgten Umbenennung: Ostseezeitung), die Königlich Privilegierte Stettiner Zeitung, die Norddeutsche Zeitung und die Bestandsreste weiterer Regional- und Lokalzeitungen durchgesehen. Ebenfalls wurden für das Kapitel über die Hebung des Schulwesens die Pommerschen Blätter für die Schule und ihre Freunde sowie generell für alle Untersuchungskapitel die gedruckten Verhandlungen des Pommerschen Provinziallandtags und des Altpommerschen Kommunallandtags, die Berichte des Provinzialausschusses und die inzwischen als Mikrofiche herausgegebenen Protokolle des Preußischen Staatsministeriums42 durchgegangen. Um eine möglichst multiperspektivische Darstellung zu ermöglichen, wurden nicht zuletzt auch lokal- und heimatge40 Vgl. dazu Mellies, Zeitungsberichte, passim. 41 Vgl. Wagner, Bauern, Junker u. Beamte, S. 29. 42 Vgl. Vhdl. des Provinzial-Landtags, 1–20 (1824–1873), Vhdl. des Kom.-Landtags, 1–47 (1829–1876), Berichte des Provinzialausschusses über die Verwaltung der Angelegenheiten des Provinzialverbandes von Pommern 1–41 (1877–1916/17) u. Berlin-Bbg. Akademie der Wissenschaften, passim, sowie die dazugehörigen Index-Bände 1–7.

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schichtliche Arbeiten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie in Einzelfällen autobiographische Materialien berücksichtigt. Mit der Verwendung des Begriffs der »partiellen Modernisierung« rekurriert diese Studie auch auf die in den fünfziger und sechziger Jahren des 20.  Jahr­ hunderts formulierten Modernisierungstheorien, die ihren Ursprung wiederum in dem sozialwissenschaftlichen Fortschrittsdenken von Autoren des 19. Jahrhunderts wie Friedrich Hegel, Karl Marx, Max Weber, Ferdinand Tönnies, Émile Durkheim und Georg Simmel hatten.43 Der Terminus »Modernisierung« wurde nach 1945, in der auf die Entwicklung der Länder der Dritten Welt bezogenen wissenschaftlichen Literatur des Westens gezielt als Euphemismus anstelle der diskriminierenden Begriffe »Zivilisierung«, »Verwestlichung« oder gar »Amerikanisierung« eingesetzt.44 In seiner einflussreichen Studie »The Stages of Economic Growth: A Non-communist Manifesto«45 aus dem Jahr 1960 ging der Wirtschaftswissenschaftler Walt W. Rostow wie selbstverständlich von einer standardisierten unilinearen Fortschrittsentwicklung aus. Der Politikwissenschaftler Seymour M. Lipset postulierte in seiner im selben Jahr veröffentlichten Arbeit »Political Man: The Social Bases of Politics« einen natürlichen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Demokratisierung.46 Vorbild und Modell dieser Studien waren in der vom Kalten Krieg geprägten Epoche die USA. Das offensichtliche Scheitern der westlichen Entwicklungsstrategien und das Aufkommen der Dependenztheorien Ende der sechziger Jahre legten zwar frühzeitig die Schwächen der unilinearen Modernisierungstheorien frei. Jedoch erfuhren diese in abgemilderter Form mit der erneuten Betonung auch endogener Gründe für die Unterentwicklung der Dritten Welt in den acht­ ziger Jahren47 und mit den nach 1989 erfolgenden Transformationsprozessen in Zentral- und Osteuropa48 eine Wiedergeburt. 1990 stand der deutsche Soziologentag unter der Überschrift »Die Modernisierung moderner Gesellschaften«.49 Zwei Jahre später erklärte der Politologe Francis Fukuyama selbstbewusst »Das Ende der Geschichte« sowie den Sieg der westlichen Modernisierungsstrategie in Form von Demokratie und Marktwirtschaft.50 Fukuyamas Buch wurde zwar von einer breiten Öffentlichkeit rezipiert, jedoch wies bereits 1996 ­Samuel ­Huntington wiederum darauf hin, dass man von einer globalen Durchsetzung 43 Vgl. hierzu ausführlich Loo u. Reijen, S. 14–18. 44 Vgl. Mergel, S. 205. Siehe auch Wehler, Modernisierungstheorie u. Geschichte, S. 17. 45 Vgl. Rostow, passim. 46 Vgl. Lipset, passim. 47 Vgl. etwa die Kritik an eindimensionalen Zentrum-Peripherie-Modellen u. die Betonung individueller historisch gewachsener Kontexte bei Senghaas u. Menzel, passim. 48 Vgl. Zapf, Modernisierung u. Modernisierungstheorien, S. 23 u. Chirot, Osteuropa, S. ­21–41. 49 Vgl. Zapf, Die Modernisierung moderner Gesellschaften, passim. Die Modernisierungsdebatte wurde hier indes um den Ansatz einer reflexiven Modernisierung ergänzt. Vgl. hierzu Beck, Der Konflikt um zwei Modernen, S. 40–53. 50 Vgl. Fukuyama, passim.

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des westlichen Modells weit entfernt stehe.51 Schließlich bereicherte in kritischer Auseinandersetzung mit Fukuyama und Huntington zuletzt Shmuel N. Eisenstadt die Modernisierungsdebatte. Angesichts der heterogenen Entwicklung moderner Gesellschaften »sogar innerhalb des Westens«, in Europa, den USA und Japan, plädiert er dafür, nicht nur auch multilineare Entwicklungspfade anzuerkennen, sondern sich gänzlich von einem universalen Modernisierungsmodell zu lösen. Stattdessen spricht Eisenstadt sowohl in Bezug auf die historische Erfahrung, als auch auf die zukünftige Entwicklung von einer »Vielfalt der Moderne«.52 Die weitere Entwicklung Chinas und etwa der Staaten der arabischen Welt wird in den nächsten Jahren zusätzlichen Input zur Über­ prüfung dieser These bieten. Die wechselhafte Geschichte der Modernisierungstheorien und die bis heute dem Begriff der Modernisierung inhärente Amorphität zwingen in jedem Fall zu einer Rechtfertigung ihrer Verwendung. Grundsätzlich ist festzustellen, dass wir uns heute in einem Zeitalter bewegen, dessen Protagonisten sich seit dem Ende des 18. und dem Beginn des frühen 19. Jahrhunderts zunehmend selbst als modern beschreiben.53 Nicht ohne Grund nehmen deshalb alle Modernisierungstheorien die dynamische Entwicklung des Okzidents im 18. und 19. Jahrhundert in ihren Fokus.54 Und für genau diesen Bearbeitungszeitraum bieten die Modernisierungstheorien ein breites Set von Erklärungsansätzen an. So wichtig das Erstellen von Strategien und Prognosen über die zukünftige Entwicklung heutiger Gesellschaften ist und so gerne man etwa die preußische Entwicklung im 19. Jahrhundert mit der derzeitigen in China vergleichen möchte, muss klargestellt werden, dass derartige Vorhaben nur bedingt in das Metier der Geschichtswissenschaft fallen. Stattdessen soll in dieser Studie eine spezifische Modernisierungstheorie ausschließlich zur Erklärung des hier vorgestellten Bearbeitungsraums angewandt werden. In seiner klassischen Definition von Modernisierung hat Reinhard Bendix eine Historisierung des Begriffes vorgenommen, in dem er diese an die In­ dustrielle Revolution in England und die politische Revolution in Frankreich koppelte. Er definierte weiter: »Modernisierung ist […] ein bestimmter Typus sozialen Wandels, der im 18.  Jahrhundert eingesetzt hat; er besteht im wirtschaftlichen und politischen Fortschritt einiger Pioniergesellschaften und den darauf folgenden Wandlungsprozessen der Nachzügler.«55 51 Vgl. Huntington, passim. 52 Vgl. Eisenstadt, S. 10 f. u. S. 245. 53 Vgl. Gumbrecht, S. 105–131. 54 Hans van der Loo u. Willem van Reijen sowie Richard Münch sehen die »Moderne« zwar schon im Spätmittelalter bzw. der Frühen Neuzeit entstehen, jedoch folgte erst im 18.  u. 19.  Jhdt. die entscheidende Beschleunigung. Vgl. Loo u. Reijen, S.  11, Anm.  1 u. Münch, S. 12–14. 55 Vgl. Bendix, S. 506.

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Bendix weist mit diesem Zitat darauf hin, dass Modernisierung immer einen Prozess darstellt. Die moderne oder auch die traditionale Gesellschaft per se gibt es also nicht, stattdessen entsteht die Klassifizierung einer modernen Pionieroder einer rückständigen Nachzüglergesellschaft durch eine gegenseitige Bezugnahme. Weiterhin bemerkt Bendix, dass die Nachzüglergesellschaften immer vor dem Problem ständen »ihre historisch überkommene Struktur und ihre typischen Spannungen (einschließlich des Impulses zur Modernisierung) mit den Einwirkungen der von außen kommenden Ideen und Techniken in einen Zusammenhang zu bringen.«56

Hiermit greift Bendix im Prinzip bereits die Ergänzung der ursprünglich unilinearen und universalen Modernisierungstheorien zugunsten einer multilinearen Entwicklung auf. Notwendigerweise führt der Zusammenprall von unterschiedlicher Tradition und Moderne zu individuellen und damit multilinearen Entwicklungen. Dietrich Rüschemeyer hat diese Erkenntnisse wiederum zu einem Konzept der »partiellen Modernisierung« verdichtet. Diese sei laut Rüschemeyer »[…] ein Prozeß sozialen Wandels, der zur Institutionalisierung relativ moderner Sozialformen neben erheblich weniger modernen Strukturen in ein und derselben Gesellschaft führt«.57 Als typische Beispiele gibt er für das 19. Jahrhundert die Fälle Japan und Preußen-Deutschland an, wo zwar einerseits eine Bürokratisierung, Industrialisierung und beispielsweise Reformierung des Schulwesens initiiert, andererseits jedoch gleichzeitig der Traditionalismus der Agrargebiete und die Bewahrung der überkommenen Machtverhältnisse befördert wurde. Partiell modernisiert waren Preußen-Deutschland und Japan laut Rüschemeyer demnach aufgrund ihrer relativen Rückständigkeit, bezogen auf einen zeitgenössischen Idealtypus von Modernisierung. Dass hiermit jeder reale Modernisierungsprozess als partiell deklariert wird, verinnerlicht auch diese Studie. Entscheidend ist daher immer die jeweilige Bezugnahme des Untersuchungsobjektes zu anderen Fällen, um das Besondere an der Partialität der untersuchten Modernisierung herauszuarbeiten. Weiterhin begreift diese Studie den Prozess der partiellen Modernisierung nicht nur auf der sachlich-thematischen Ebene, sondern auch auf der geographischen. Das Konzept der partiellen Modernisierung integriert daher auch die Existenz disparater Traditions- oder Modernisierungsinseln im gewählten Untersuchungsraum.58 Und wenn Rüschemeyer neben lokalen Modernisierungsagenten wie Kaufleuten, Verwaltungsbeamten, politischen Führern, Anwälten oder Lehrern die Rolle des Staates bzw. der traditionellen Eliten betont, wird zuletzt deutlich, 56 Ebd., S. 511. 57 Vgl. Rüschemeyer, S. 382. 58 Vgl. zum Aspekt der partiellen Modernisierung anhand des Kgr. Polens u. des Zarenreichs im 18. u. 19. Jhdt. Gebhard, Lublin 1815–1914, S. 217 bzw. grundsätzlich den Sammelband Goehrke u. Pietrow-Ennker, passim.

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dass im Terminus der partiellen Modernisierung auch derjenige einer instrumentellen »defensiven Modernisierung«59 angelegt ist: »Die wirtschaftliche Entwicklung und andere Formen der Modernisierung wurden also als Mittel zum Schutz und zur Steigerung der »nationalen Macht« eingesetzt. Gleichzeitig wurden Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der traditionalen Grund­ lagen der politischen Macht ergriffen.«60

Das Konzept der partiellen Modernisierung begreift daher genauso wie das der defensiven Modernisierung von oben initiierte Reformprozesse als mög­liche Abwehr einer Revolution von unten. Weiterhin wird auf die für diese Studie wichtige, nur vermeintlich paradoxe Erscheinung verwiesen, dass Modernisierungsstrategien tatsächliche oder konstruierte vormoderne Wertorientierungen wie den politischen Konservativismus verstärken können.61 Als Schlussfolgerung für diese Studie ergibt sich aus Rüschemeyers Konzept erstens, dass der hier untersuchte Modernisierungsprozess partiell gegenüber einem Idealtypus an Modernisierung stattfindet und immer in Relation zu anderen zeitgenös­ sischen Fällen betrachtet werden muss; zweitens, dass es möglicherweise er­ hebliche Disparitäten im Untersuchungsraum gibt; und drittens, dass der Modernisierungsprozess von oben auch mit einer defensiven Intention initiiert werden kann. Unklar ist indes geblieben, was konkret unter »modern« und »traditional« verstanden werden kann. Im Prinzip wurde das mit Verweis auf die heraus­ gestellten Kern- und Richtungsbegriffe des 19.  Jahrhunderts schon angesprochen. Hans-Ulrich Wehler hat zudem einmal versucht, ein umfangreiches Dicho­tomienalphabet aufzustellen, welches die multivariablen Erklärungsansätze der verschiedenen Modernisierungstheorien zusammenfasst.62 Andere Autoren, wie Frank-Michael Kuhlemann im Fall des preußischen Volksschulwesens, haben dieses noch für Einzelkomplexe erheblich erweitert.63 Im Kern geht es um Alphabetisierung, soziale Differenzierung, Mobilisierung, Konfliktinstitutionalisierung, Industrialisierung, Technisierung, Rationalisierung, Büro­k ratisierung, Urbanisierung, Säkularisierung, Ausweitung der Kommunikation, Globalisierung und Partizipation.

59 Wehler, der den Begriff der »defensiven Modernisierung« mit seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte in der Geschichtswissenschaft populär gemacht hat, sieht diesen gegenüber dem Begriff der »partiellen Modernisierung« als »nützlicher« an. Vgl. Wehler, Modernisierungstheorie u. Geschichte, S. 270, Anm. 11. In dieser Studie wird der Begriff der »partiellen Modernisierung« gerade wegen seiner größeren Anwendungsbreite verwendet. 60 Vgl. Rüschemeyer, S. 386. 61 Vgl. ebd. S. 384. Rüschemeyer greift hier den Ansatz Karl Mannheims auf, der den Konservativismus als Transformation traditionaler Orientierungsweisen begreift. Vgl. Mannheim, passim. 62 Vgl. Wehler, Modernisierungstheorie u. Geschichte, S. 20. 63 Vgl. Kuhlemann, S. 43 f.

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Die auch in diesen Schlagworten steckenden normativen Fallstricke werden dabei in dieser Studie dadurch abgemildert, dass zumindest die Entwicklungsziele in den Kapiteln über die Hebung des Schulwesens und den Ausbau der Infrastruktur von den meisten der betroffenen Akteure ähnlich definiert wurden und damit in diesen Fällen Modernisierung erfolgreich historisiert werden kann. Auch im Fall des Kapitels über die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen wurde dieses Entwicklungsziel immerhin schon von einigen zeitgenössischen Akteuren vertreten. Zudem wäre zu diskutieren, inwieweit die Gründung konservativer Vereine und Zeitungen nicht ebenso (wenn auch zugegebenermaßen aus liberaler Sicht pervertierter!) Ausdrucke zivilgesellschaft­ licher Bemühungen im Rahmen einer defensiven Modernisierung sind. Zumindest stellt sich die Frage, inwieweit diese Erscheinungen nicht Elemente eines für die ostelbischen Gebiete Preußens spezifischen Weges im Rahmen der »Vielfalt der Moderne« darstellen.64 Der Begriff der »Rückständigkeit« spielt in den Konzepten von Bendix, Rüsche­meyer und anderen Modernisierungstheoretikern eine zentrale Rolle. Dabei muss noch einmal betont werden, dass die relative Rückständigkeit eines Untersuchungsobjekts den Normalfall von Modernisierung darstellt. Im Rahmen einer Modernisierungstheorie hat sich Alexander Gerschenkron 1962 mit den Stufen relativer Rückständigkeit in Europa befasst. Gerschenkron konstatierte für die Mitte des 19.  Jahrhunderts ein ökonomisches West-Ost-Gefälle, dessen Start- und Endpunkte England und Russland bildeten, während sich die deutschen Staaten irgendwo dazwischen befänden.65 Die unterschiedliche Ausgangsbasis am Vorabend der Hochphase der Industrialisierung führte nach G ­ erschenkron auch in der weiteren Entwicklung zu erheblichen Differenzen. Während sich in Deutschland die relative Rückständigkeit als Vorteil erwies, man durch den Aufbau der deutschen Universalbanken rasch auf- und am Ende des 19.  Jahrhunderts England sogar überholte, sorgten Kapitalmangel, agra­rische Prägung und ein Mangel an urbaner Unabhängigkeit in Russland für eine Stagnation, deren Spannungen direkt in die Revolution von 1917 mündeten. Da sich Gerschenkron weniger für die unterschiedliche Entwicklung innerhalb der deutschen Staaten interessierte, wurde der hier behandelte regionale Untersuchungsraum nur selten thematisiert.66 Dagegen zählte das ostelbische Preußen im dem 1989 von Daniel Chirot herausgegebenen Band »The Origins of Backwardness in Eastern Europe« explizit zum Forschungsobjekt.67 Wieder wurde in diesem Band innerhalb des osteuropäischen Untersuchungs­gebiets 64 Eisenstadt verweist mehrfach auf das Paradoxon, dass scheinbar antimoderne Bewegungen sich immer wieder massiv moderner Methoden bedienen. Vgl. Eisenstadt, S. 181. 65 Vgl. Gerschenkron, Economic Backwardness, S. 44. 66 Übrigens ganz im Gegensatz zu Gerschenkrons 1943 veröffentlichter Studie über die Verantwortung der ostelbischen Junker für den Zusammenbruch der Weimarer Republik! Vgl. ders., Bread and Democracy, S. VII. 67 Vgl. Chirot, The origins of backwardness, passim.

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ein sich vom ostelbischen Preußen nach Russland erstreckendes West-OstGefälle konstatiert.68 Den entscheidenden Grund für die Rückständigkeit dieser Gebiete sahen die Autoren des Bandes erneut in der typischen Struktur der Gutswirtschaft69 und der fast ausschließlich agrarischen Prägung der dortigen Städte70 begründet. Die Rückständigkeit dieser landwirtschaftlichen Gebiete sei hierbei durch die sich seit dem 16.  Jahrhundert ergebende wirtschaft­liche Abhängigkeit des Ostens vom Westen konserviert und perpetuiert worden. Mit dem Hinweis auf den Osteuropa benachteiligenden Warenaustausch von osteuropäischem Getreide gegenüber den verarbeiteten Gütern Westeuropas wurde die relative Rückständigkeit des Ostens zudem mit den Argumenten der Dependenztheorie erklärt.71 Tatsächlich scheint die agrarische Prägung sowohl des platten Landes als auch des überwiegenden Teils der Städte72 ein wesentlicher Grund für die immer wieder konstatierte Rückständigkeit des pommerschen Untersuchungs­raumes gewesen zu sein. Vorn wurde bereits auf die hohe Zahl landwirtschaftlicher Beschäftigter in Pommern (1882: 65,5 %) und die niedrige Bevölkerungsdichte hingewiesen. 1816 und 1871 stand Pommern mit einer Bevölkerungsdichte von 22,66 bzw. 47,51 Einwohner/qkm im innerpreußischen Vergleich auf dem letzten Platz (preußischer Gesamtdurchschnitt 39,31 bzw. 70,79 Einwohner/qkm). Erst 1910 konnte die Provinz mit einer Bevölkerungsdichte von 56,98 Einwohner/qkm wenigstens knapp an Ostpreußen vorbeiziehen (preußischer Gesamtdurchschnitt 293 Einwohner/qkm).73 Auch andere Parameter, seien es die hier noch später thematisierte Entwicklung der pommerschen Infrastruktur oder auch die Entwicklung der Lehrergehälter, veranschaulichen die relative Rückständigkeit der Provinz gegenüber den westlichen preußischen Provinzen. Außer der agrarischen Prägung, dem dominierenden System der Guts­ wirtschaft, den seit dem Dreißigjährigen Krieg nachwirkenden Verwüstungen, dem den Überseehandel behindernden Sundzoll und der Schuldenlast der französischen Besatzungszeit brachte zudem das Fehlen von Bodenschätzen Pommern am Vorabend der Industriellen Revolution in eine ungünstige Ausgangslage. Mit Ausnahme von einigen Vorkommen an Raseneisenerz, Kalk, Mergel, Schwefelkies und Torf gab es in der Provinz keine bedeutenden Bodenschätze. Steinkohle, der für die Industrialisierung des 19. Jahrhunderts von Wirtschaftshistorikern ein zentraler Wert zugeschrieben wird,74 fehlte in Pommern ganz.

68 Vgl. ders., Causes and Consequences of Backwardness, S. 10. 69 Vgl. für Nordosteuropa Brenner, S. 15–52. 70 Vgl. Gunst, S. 58. 71 Vgl. Chirot, Causes and Consequences of backwardness, S. 7. 72 Vgl. zur soziostrukturellen Prägung der pom. Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. bzw. in den dreißiger Jahren des 20. Jhdts. das Kartenmaterial bei Stępiński, Auf dem Weg zur Moderne, S. 256 f. u. Landeszentrale für politische Bildung MV, S. 89. 73 Vgl. Kiesewetter, Industrialisierung u. ausgebliebene Industrialisierung, S. 248. 74 Vgl. ders., Region u. Industrie, S. 109–124.

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Abgesehen vom Aufbau einer kleinen Metallverarbeitenden Industrie in ­ eckermünde, Torgelow, Pasewalk und Stargard entwickelte sich lediglich die U verkehrstechnisch günstig gelegene alte Handelsstadt Stettin zu einem maßgeblichen industriellen Zentrum. Neben der 1857 gegründeten Vulkan AG siedelten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitere Industriebetriebe an.75 Stettin blieb indes im 19. Jahrhundert die einzige wirklich boomende pommersche Stadt, die wenigstens einen gewissen Teil  des erheblichen Bevölkerungswachstums der Provinz (1816 bis 1910 251,5 %) binden konnte. Da aber auf dem platten Land und in den 72 übrigen pommerschen Städten für die wachsende Provinzbevölkerung nur selten ein Auskommen zu finden war, suchten Zehntausende von Pommern ihr Heil in der Auswanderung. Allein zwischen 1847 und 1875 kam es zu einem Wanderungsverlust von 242.837 Personen.76 Ins­besondere das boomende Ruhrgebiet, Berlin, aber auch Nordamerika zählten zu den beliebtesten Auswanderungszielen. Es ist bemerkenswert, dass die hier in Ansätzen skizzierte relative Rückständigkeit Pommerns gegenüber den westlichen preußischen Provinzen, auch schon von den Zeitgenossen selbst registriert wurde. Häufig wurde diese Rückständigkeit mit Hinweis auf einen vermeintlich typischen pommerschen Volkscharakter erklärt. Bereits in den politischen Testamenten Friedrichs II. von 1752 und 1768 wurde den Pommern ein »schlichte[r] Sinn«, »Dickköpfigkeit« und eine »niedere Bildungsstufe« zugeschrieben. »Schlauheit«, »Verschmitztheit und Gerissenheit« lägen ihnen nicht, weshalb man sie am besten zum Kriegsdienst einsetzen könne. In dem Sinne seien sie freilich »ausgezeichnete Soldaten«.77 Die Studie wird auch darauf hinweisen, dass die pommersche Verwaltung diese stereotypen Bilder teilweise zum eigenen Nutzen weiter tradierte, bis sie von der pommerschen Bevölkerung selbst internalisiert wurden.78 Wer im 19. Jahrhundert aus politischen Gründen die Rückständigkeit Ostelbiens am Beispiel einer Region festmachen wollte, verwies immer wieder auf Pommern.79 Karl Marx sprach von der »pommerschen Mancha«,80 Franz Mehring von der »pommerschen Vendée«;81 nach der Jahrhundertwende wurde der Begriff »Puttkamerun« geprägt.82 75 Bis 1850 gab es in Stettin bereits zwei Zuckerraffinerien, mehrere Brauereien, sowie je eine Öl- u. Dampfmühle. In der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. siedelten sich neben der Vulkanwerft diverse Betriebe an, die sich auf Maschinenbau, Zement-, Papier-, Möbel- u. Textilproduktion sowie die chemische Industrie spezialisierten. Vgl. Włodarczyk, Wielki przemysł Szczecin, passim. 76 Vgl. Fenske, S. 11. Ausführlich Drewniak, passim. 77 Vgl. »Das Politische Testament von 1752« u. »Das politische Testament von 1768«. Gedr. in: Volz, S. 32 u. S. 188. 78 Bei Martin Wehrmann ist diese Internalisierung mehrfach festzustellen. Vgl. u. a. Wehrmann, Pommern, S. 279 u. S. 290. 79 Vgl. hierzu u. a. Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat, S. 61. 80 Vgl. Marx u. Engels, S. 184 bzw. Neue Rheinische Ztg., Nr. 252, 22.3.1849. 81 Vgl. Mehring, S. 371. 82 Vgl. Rehbein, S. 5.

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Tatsächlich kämpft die historische Region Pommern genauso wie das ebenfalls seit dem 19. Jahrhundert entsprechend gebrandmarkte Mecklenburg83 auch heute mit dem Faktum der relativen Rückständigkeit. Mit einer Bevölkerungsdichte von 72 Einwohner/qkm ist Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2008 das am dünnsten besiedelte Bundesland (deutscher Durchschnitt: 230 Ein­ wohner/qkm). Ebenfalls auf einem der hintersten Plätze steht MecklenburgVorpommern in der Höhe der Arbeitslosigkeit (2008: 14,1 % gegenüber 7,8 % im deutschen Durchschnitt), der Höhe des BIP je Einwohner (2008: 21.425 Euro gegenüber 30.310 Euro im deutschen Durchschnitt) und in den Ausgaben für den privaten Konsum (2006: 13.106 Euro je Einwohner gegenüber 16.481 Euro im deutschen Durchschnitt).84 Hierbei erscheinen die Strukturprobleme des öst­ lichen Landesteils Vorpommern zumeist noch gravierender als die des west­ lichen Landesteils Mecklenburg.85 Es ist deshalb wenig überraschend, dass die historische Region Pommern heute wie damals ein Abwanderungsgebiet darstellt, in dem lediglich auf polnischer Seite Stettin und auf deutscher Seite vielleicht noch die Universitätsstadt Greifswald das Potential besitzen, als Ausgangspunkt einer positiven wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung zu fungieren. Da hier in Teilen schon auf die für diese Studie relevante allgemeine Literatur eingegangen wurde und der sich auf die einzelnen Problemkomplexe der Hebung des Schulwesens, des Ausbaus der Infrastruktur und der Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen beziehende Forschungsstand gesondert skizziert wird, sollen kurz die wichtigsten Arbeiten vorgestellt werden, die das Bearbeitungsobjekt »Pommern im 19. Jahrhundert« betreffen. Infolge der Literaturund Archivrecherchen in Stettin, Berlin und Greifswald wurde grundsätzlich festgestellt, dass die das Forschungsobjekt betreffende archivalische Überlieferung bisher nur von einer überschaubaren Gruppe von Bearbeitern gesichtet und in entsprechende wissenschaftliche Darstellungen umgesetzt wurde. Diese Unberührtheit der pommerschen Quellen des 19. Jahrhunderts resultiert einerseits aus den bereits geschilderten kriegsbedingten Überlieferungsschwierigkeiten und anderseits aus dem bis 1989/90 erschwerten Archivzugang bundesdeutscher Forscher, dem von oben verordneten Desinteresse der Geschichtswissenschaft der DDR und dem fast völligen Neuanfang einer pol­nischen Pommernforschung nach 1945.86

83 Vgl. Rudert, S. 53 f. 84 Vgl. die Übersichten des Arbeitskreises »Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Länder« unter http://www.vgrdl.de/Arbeitskreis_VGR (eingesehen am 28.2.2009). Der Durchschnitt der Arbeitslosenzahlen 2008 wurde dem Statistikportal des Bundes u. der Länder unter der Adresse http://www.statistikportal.de/Statistik-Portal/de_jb02_jahrtab13.asp entnommen (eingesehen am 28.5.2009). 85 Vgl. Klüter, passim. 86 Vgl. Schoebel, S. 354, Fritze, S. 16 u. Stępiński, Die polnische Forschung, S. 94–99. Siehe ausführlich Inachin, Nationalstaat, S. 35–38.

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Während in der DDR die pommersche Geschichte des 19. Jahrhunderts mit Ausnahme der 1988 von Ilona Buchsteiner vorgelegten Habilitation über den pommerschen Großgrundbesitz87 ignoriert wurde, konzentrierte sich die 1951 wiederbegründete bundesdeutsche Historische Kommission für Pommern fast ausschließlich auf die Bearbeitung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Von den wenigen westdeutschen Arbeiten, die sich mit dem 19. Jahrhundert beschäftigten, erreichte wiederum nur eine geringe Zahl eine wissenschaftliche Reflektionsebene.88 Den meisten Studien aus den fünfziger und sechziger Jahren merkt man dagegen die Intention einer landsmannschaftlichen Traditionspflege an. Die einzige relevante wissenschaftliche Studie bundesdeutscher Provenienz, die noch vor 1989/90 auf Archivmaterial des Wojewodschaftsarchivs in Stettin zurückgreifen konnte, stellt die vorzügliche Dissertation Wolfgang Schwentkers über die Frühformen konservativer Parteibildung um 1848/49 dar.89 Dagegen gab auf polnischer Seite bereits 1959 und 1965 Alfred W ­ ielopolski Überblicksdarstellungen zur Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte Pommerns heraus.90 1966 folgte Boguslaw Drewniak mit einer demographiegeschicht­ lichen Darstellung der pommerschen Emigration.91 Seit 1969 entstand mit Gerard ­Labudas »Historia Pomorza« eine mehrbändige Geschichte Pommerns. Das historische Pommern wurde hier freilich im Rahmen des auch Westpreußen und Teile Ostpreußens integrierenden Konstrukts »Pomorze« behandelt.92 Allerdings wird im 1996 erschienenen dritten Band auch quellennah auf die Geschichte des preußischen Pommerns im 19. Jahrhundert eingegangen.93 Ansonsten haben sich in Polen seit den achtziger Jahren Włodzimierz Stępiński und Aneta Cizek mit Darstellungen zur liberalen und konservativen Bewegung sowie zum pommerschen Adel hervorgetan.94 Des Weiteren setzten sich ihr Stettiner Kollege Edward Włodarczyk und dessen Schüler, wie Andrzej ­Mielcarek, ausführlich mit der pommerschen Wirtschaftsgeschichte auseinander.95 Jüngst

87 Vgl. Buchsteiner, passim. 88 Vgl. hierzu Eggert, Städteordnung, passim, ders., Geschichte Pommerns, ders., Die Maßnahmen der preussischen Regierung, passim u. Strecker, passim. 89 Vgl. Schwentker, passim. 90 Vgl. Wielopolski, Gospodarka Pomorza Zachodniego, passim u. ders., Ustrój polityczny ­Pomorza Zachodniego, passim. 91 Vgl. Drewniak, passim. 92 Vgl. Hackmann, passim. 93 Vgl. Labuda, passim. 94 Vgl. u. a. Stępiński, Stowarzyszenia liberalne i demokratyczne, passim, ders., Senfft v. ­Pilsach, passim, ders., Modernisierungsstrategie, passim u. ders., Auf dem Weg zur Moderne. Siehe weiterhin Cizek, Szlachta na Pomorzu Zachodnim, passim u. dies., Grassmann ­passim. 95 Vgl. u. a. Włodarczyk, Wielki przemysł Szczecin, passim, ders., Der pommersche Wirtschaftsboom, passim u. Mielcarek, passim. Siehe auch die diversen wirtschafts- u. seewirtschaftsgeschichtlichen Aufsätze in der seit 1978 herausgegebenen Zeitschrift Studia Maritima. Zur polnischen Pommernforschung vgl. Stępiński, Die polnische Forschung, passim.

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veröffentlichte zudem Tomasz Ślepowroński eine Studie zur pommerschen Geschichtsforschung der Volksrepublik Polens und der DDR von 1945 bis 1970.96 Außerhalb Polens stand die pommersche Geschichte des 19.  Jahrhunderts nach 1989/90 insbesondere in den wissenschaftlichen Qualifikationsschriften von Rembert Unterstell, Hans Wolf von Koeller, Reimund Meffert, Kyra T. ­Inachin, Andreas Geißler, Theodor Wengler und Johannes F. Weise im Fokus. In der 1994 vorgelegten Dissertation »Klio in Pommern« befasste sich Unterstell historiographiegeschichtlich mit der Entwicklung der pommerschen Heimat- und Landesgeschichte bis 1945. Von Koeller beschäftigte sich 1999 mit der »Pommerschen Landwirtschaftskammer« bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Meffert 2000 mit der »Schulreform in Pommern, 1815–1933«. 2002 legte Kyra T. Inachin ihre Habilitationsschrift vor, in der sie die Konstruktion der pommerschen Identität im 19. Jahrhundert untersuchte. Andreas Geißler verglich 2004 den nichtstaatlichen Bahnbau in Westfalen und Pommern um 1900, und 2005 legten Theodor Wengler und Johannes F. Weise ihre Dissertationen über »Die Finanzwirtschaft des Provinzialverbandes Pommern« bzw. »Die Integration Schwedisch-Pommerns in den preußischen Staatsverband« vor.97 Neben diesen Arbeiten wertete unlängst Carl Wilhelm Reibel die pommerschen Archivbestände für sein Handbuch über die Reichstagswahlen aus.98 Gleiches gilt für die in jüngster Zeit veröffentlichten Studien Wolfgang Wilhelmus’ über die jüdische Geschichte Pommerns und Friedrich Stamps über die Geschichte des Metallarbeiterverbands in Mecklenburg-Vorpommern sowie Theodor ­Wenglers Handbuch über die Mitglieder des Pommerschen Provinzialverbands.99 Dagegen griffen die das 19. Jahrhundert behandelnden Beiträge von Thomas Stamm-Kuhlmann, Dietmar Lucht und Kyra T. Inachin im Pommernband der Reihe »Deutsche Geschichte im Osten Europas« von 1999 notwendigerweise noch in erster Linie auf gedruckte Quellen und Literatur zurück.100 Gleiches gilt in weiten Teilen für die beiden 2008 erschienenen populärwissenschaftlichen Darstellungen der Geschichte Pommerns bzw. Mecklenburg-Vorpommerns von Kyra T. Inachin und Michael North.101

96 Vgl. Ślepowroński, passim. 97 Vgl. Unterstell, passim, Koeller, passim, Meffert, passim, Inachin, Nationalstaat, Geißler, Nichtstaatlicher Bahnbau, passim, Wengler, Die Finanzwirtschaft des Provinzialverbandes, passim u. Weise, Die Integration Schwedisch-Pommerns, passim. 98 Vgl. Reibel, passim. Dagegen verzichtete noch Anfang der neunziger Jahre Thomas Kühne für sein Handbuch über die Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus auf die Recherche in den polnischen Archiven. Vgl. Kühne, Handbuch, S. 42, Anm. 98. 99 Vgl. Wilhelmus, passim, Stamp, passim u. Wengler, Der Provinzialverband Pommern, ­passim. 100 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Pommern 1815 bis 1875, passim, Lucht, passim u. Inachin, Die Entwicklung Pommerns, passim. 101 Vgl. Inachin, Geschichte Pommerns, passim u. North, passim. Zumindest Inachin konnte jedoch in Teilen auf eigene Forschungsarbeiten zurückgreifen.

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Alles in allem bleibt Pommern im 19. Jahrhundert bis heute ein nur unzu­ reichend erforschter Raum. Dieses wird nicht zuletzt daran deutlich, dass in den meisten Studien, welche die pommersche Geschichte behandeln, immer wieder auf die inzwischen fast einhundert Jahre alten Darstellungen des pommerschen Landeshistorikers Martin Wehrmann102 rekurriert werden muss. Insbesondere eine dem heutigen Stand der Geschichtswissenschaft angemessene umfassende wissenschaftliche Darstellung der Landesgeschichte Pommerns stellt daher ein Desiderat dar, welches freilich von dieser Studie nicht erfüllt werden kann und auch nicht werden will. Aufgrund der bisherigen Vernachlässigung Pommerns im 19.  Jahrhundert wurde deshalb der 2007 von Thomas Stamm-Kuhlmann herausgegebene Tagungsband »Pommern im 19.  Jahrhundert« von den Rezensenten positiv auf­ genommen.103 In 13 thematisch heterogen gewählten Beiträgen wurde hier eine erste Annäherung an die spezifische Entwicklung Pommerns im 19. Jahr­ hundert gesucht. Die Provinz interessierte dabei aufgrund der zeitgenössischen Identifizierung Pommerns als königstreue und im konservativen Sinn loyale Kernprovinz des »alten Preußens«, die freilich mit der zunehmenden wirtschaftlichen und demographischen Macht der Westprovinzen sukzessive an Bedeutung verlor.104 Auf dem Pfad, den dieser Tagungsband bereitet hat, möchte die vorliegende Studie fortschreiten.

102 Vgl. neben weiteren landesgeschichtlichen Veröffentlichungen Wehrmann, Pommern, passim u. ders., Stettin, passim. 103 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Pommern im 19. Jhdt., passim. Vgl. außerdem Schleinert, passim u. Sienell, passim. 104 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Einleitung, S. 7.

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1. Die Hebung des Schulwesens

1.1 Die Schulwirklichkeit bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 Bereits in der Begründung des Generallandschulreglements von Friedrich  II. aus dem Jahre 1763 wurde mit dem Ziel, »in den Schulen geschicktere und bessere Unterthanen bilden und erziehen zu können«, ein Programm formuliert, das neben der christlichen Sorgfaltspflicht des Landesherren die Hebung des materiellen Wohlstands und die politische Erziehung der Untertanen zur Durchsetzung der zentralen Staatsgewalt in den Mittelpunkt stellte.1 Diese bereits im 18. Jahrhundert formulierten Entwicklungsziele stießen jedoch auf eine Schulwirklichkeit, die kaum angemessen auf das umfassende Reformprogramm der Landesherren reagieren konnte. 1.1.1 Die Ausgangslage Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein gestaltete sich die Schulwirklichkeit als äußerst heterogen. Vergegenwärtigt man sich, dass die preußische Schul­statistik für das Jahr 1816 die Einschulungsquote von unterrichtspflichtigen Kindern auf lediglich 60,6 % bezifferte,2 ist für das 18. Jahrhundert eine Schulbesuchsquote von deutlich unter 50 % als realistisch anzunehmen.3 Hierbei lag Pommern 1816 mit 61,6 % immerhin deutlich zwischen den beiden Extremwerten der Provinzen Posen (21,7 %) und Sachsen (84,8 %) und entsprach damit in etwa dem Landesdurchschnitt.4 Während im 18.  Jahrhundert eine große Zahl von schulpflichtigen Kindern gar keinen Unterricht empfing, konnten auch die eine Schule besuchenden Kinder nicht mit vergleichbaren schulischen Verhältnissen rechnen. Für eine differenzierte Betrachtung ist es daher notwendig, die unterschiedliche ökonomische und soziale Struktur des platten Lands, der Kleinstädte und der aufstrebenden Großstädte zu beachten. Während man in Stettin Ende des 18. Jahrhunderts von der öffentlichen Freischule über diverse kleinere Winkel1 Vgl. das General-Land-Schulreglement vom 12.8.1763, Vorrede. Gedr. in: Schneider u. ­Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 674. 2 Vgl. Dieterici, S. 47. 3 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 287. 4 Vgl. Dieterici, S. 47.

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schulen die Wahl zwischen einklassiger Elementar- und mehrklassiger Bürgerschule städtischen wie auch königlichen Patronats hatte und bei entsprechendem Geldbeutel der Eltern einem auch das dortige Gymnasium offen stand,5 reduzierte sich das Angebot in den kleineren Städten auf die Elementar- oder eine einzige höhere Stadtschule. Diese als Mittel- oder auch Bürgerschulen bezeichneten Anstalten unterschieden sich von der Elementarschule dadurch, dass sie mehrklassig waren und in den höheren Klassen gegen ein höheres Schulgeld Latein- oder Französischunterricht angeboten wurde. In den Kleinstädten war der Erwerb höherer Bildung nur über den teuren Privatunterricht eines Hauslehrers möglich. So reduzierte sich das Schulangebot in den Kleinstädten ­Ueckermünde und Swinemünde bis weit in das 19. Jahrhundert hinein auf die Elementar- und einige Winkelschulen.6 Dagegen besuchten in der Großstadt Stettin 1811 von den erfassten 2.148 Schülern immerhin schon 11,4 % eine der so genannten Bürger- oder Mittelschulen, 5,7 % Spezialschulen (etwa die Steuer­ mannsschule) und 5,8 % das Gymnasium.7 Wenig überraschend ist der ungleiche Zugang der Geschlechter zur höheren Bildung. Mädchen blieb der Besuch höherer Schulen wie des Gymnasiums und der Realschule grundsätzlich verwehrt, und auch der Zugang zu der Mittelschule war nur schwer zu erreichen. Während der Anteil der Mädchen, die in den Kleinstädten einen über die Elementarbildung hinausgehenden Unterricht empfingen, um ein vielfaches niedriger ausfiel als bei den Jungen, ist für Stettin festzuhalten, dass hier Mädchen aus wohlhabendem Hause eine höhere Bildung eingeschränkt offen stand. Bereits um 1700 waren in Stettin sieben Winkelschulmeisterinnen konzessioniert.8 1811 lernten an sechs Privatschulen 126 Schülerinnen auf dem Niveau einer »Bürger- oder Mittelschule«.9 Problematisch blieb der zweifelhafte Ruf dieser Institutionen, denn diese wurden zumeist von Witwen oder wie im Fall der Stadt Usedom gar von einem Totengräber geleitet.10 Eine echte Akzeptanz des höheren Mädchenschulwesens wurde erst in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts mit der Etablierung spezieller städtischer Mädchenschulen erkämpft. In den Dörfern, wo der überwiegende Teil  der preußischen Bevölkerung lebte, war weder für Schülerinnen noch für Schüler an einen Unterricht in Realienfächern wie Geographie, Geschichte oder Naturkunde, geschweige denn in Fremdsprachen, zu denken. Und während in den mehrklassigen Stadtschulen in Ansätzen versucht wurde, wenigstens in den höheren Klassen eine Trennung 5 Vgl. den hier abgedruckten Bericht der Schulverwaltung über die Stettiner Schulen im Jahre 1811, in: Monatsbl., Jg. 23, 1909, S. 136–139. 6 Vgl. Vollmer, S. 110 f. 7 Vgl. den hier abgedruckten Bericht der Schulverwaltung über die Stettiner Schulen im Jahre 1811, in: Monatsbl., Jg. 23, 1909, S. 136–139. 8 Vgl. Strecker, S. 3. 9 Vgl. den hier abgedruckten Bericht der Schulverwaltung über die Stettiner Schulen im Jahre 1811, in: Monatsbl., Jg. 23, 1909, S. 137–138. 10 Vgl. Vollmer, S. 111.

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der beiden Geschlechter einzuführen,11 war für die unterrichtspflichtige sechsbis vierzehnjährige Dorfjugend die einklassige Schule der Regelfall.12 Die Gründe für das Daniederliegen des Schulwesens auf dem Land waren vielfältig. Beispielsweise war um 1800 für einen Großteil der nominell unterrichtspflichtigen Bevölkerung gar keine Schule in ausreichender Nähe vorhanden. In einer Übersicht der Schulversorgung für das Jahr 1805 kommt Wolfgang Neugebauer für Pommern zu dem Ergebnis, dass mit einem Personalbestand von 1.458 Kirchen- und Schuldienern bezogen auf 2.240 Dörfer lediglich eine Schuldichte von 65,1 % erreicht werden konnte.13 Wenn auch in der Mehrzahl der pommerschen Dörfer Schulen vorhanden waren, hieß das nicht, dass diese auch regelmäßig besucht wurden. Zwar forderte man schon im Generallandschulreglement von 1763 das Abhalten einer Sommerschule und die Anstellung von Viehhirten zur Verhinderung des Hütewesens,14 doch beklagte das Stettiner Konsistorium noch 1788, dass diese Vorschriften zwar in den Dörfern bekannt seien, »in den meisten aber nicht befolgt« würden.15 In der U ­ sedomer Synode, in welcher der Fischfang eine wichtige Rolle spielte, war die Unterrichtspflicht Ende des 18. Jahrhunderts selbst im Winter kaum durchzusetzen.16 Das Haupthindernis für eine weitere Entwicklung des Schulwesens bildete die schlechte materielle und soziale Lage der Lehrer. Zur besseren Differenzierung der das Lehramt ausübenden Personen im 18. und frühen 19. Jahrhundert von den mehrheitlich am Seminar gebildeten Lehrern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte bei ersteren die Bezeichnung des Lehrers zugunsten der Bezeichnung des Schulmeisters vermieden werden. Zwar wurden im Laufe des 18.  Jahrhunderts in Königsberg (1701), ­Stettin (1732) und Berlin (1748) Lehrerseminare eingerichtet,17 doch konnten die Schulstellen königlichen Patronats in der Kurmark sowie den Konsistorialbezirken Stettin und Köslin erst 1750/52 mit Seminaristen besetzt werden.18 Obwohl diese Bestimmung 1753 auf das gesamte preußische Staatsgebiet ausgeweitet wurde, kann davon ausgegangen werden, dass die Entscheidung über die Anstellung eines Kandidaten Sache der örtlichen Gewalten (d. h. vor allem der 11 Vgl. den hier abgedruckten Bericht der Pom. Regierung u. des Pom. Konsistoriums in Stettin über die Verfassung der Schulanstalten im Hzgt. Pommern (1788), in: PBS, Jg. 28, 1904, S. 43. 12 Vgl. das General-Land-Schulreglement vom 12.8.1763, § 1. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 674. Laut des Reglements sollten die Kinder frühestens mit fünf Jahren eingeschult u. im dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahr entlassen werden. 13 Vgl. Neugebauer, Absolutistischer Staat, S. 277. 14 Vgl. das General-Land-Schulreglement vom 12.8.1763, §§ 4 u. 5.  Gedr. in: Schneider u. ­Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S.675. 15 Vgl. den hier abgedruckten Bericht der Pom. Reg. u. des Pom. Konsistoriums in Stettin über die Verfassung der Schulanstalten im Hzgt. Pommern (1788), in: PBS, Jg. 28, 1904, S. 45. 16 Vgl. Vollmer, S. 258. 17 Vgl. Sauer, Volksschullehrerbildung, S. 276–278. 18 Vgl. Vollmer, S. 24.

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Gutsbesitzer) blieb und die staatlichen Konsistorialbehörden hierauf keinen merkbaren Einfluss gewinnen konnten.19 Der Anteil der am Seminar ausgebildeten Lehrer dürfte daher auf dem Land vorerst im einstelligen Prozentbereich geblieben sein. Für Pommern kam als weiteres Problem hinzu, dass das Stettiner Seminar aufgrund des Vorwurfs ­pietistischer Umtriebe Ende der dreißiger Jahre einging und erst 1783/89 in der unter königlichem Patronat stehenden Ministerial- und Lastadischen Schule einen Neuanfang suchte. Ab 1789 wurden dort jährlich 18 Seminaristen im Schulunterricht sowie im praktischen Obst- und Seidenanbau ausgebildet.20 Der überwiegende Anteil der Landschullehrer übte das Lehramt also weiterhin ohne jegliche Vorbildung aus. Wenn man sich auch von der Vorstellung lösen muss, dass vor allem ehemalige Unteroffiziere und altgediente Invaliden das Schulamt als Versorgungsposten zugewiesen bekamen, scheint ihre Zahl in Pommern trotzdem hoch gewesen zu sein. Wurden im gesamten preußischen Staatsgebiet 1779 von 3.443 erfassten Invaliden des Siebenjährigen Krieges nur 79 als zum Schulmeisteramt fähig betrachtet, wird im selben Jahr der Bestand der Invaliden in der Synode Naugard mit immerhin sieben angegeben.21 Neben den letztlich nicht allzu stark ins Gewicht fallenden Invaliden stellten Kleinhandwerker wie Schneider, Garnweber und Schuster, aber auch ­Fischer und Kuhhirten den typischen Schulmeister des 18. Jahrhunderts. Welche Konsequenzen das für die Schulwirklichkeit hatte, zeigt die Wahl des Webers Jakob Maehl auf die Schulstelle eines pommerschen Dorfes im Jahr 1729. Dieser setzte sich mit folgendem Zeugnis gegenüber seinen vier Mitkonkurrenten, einem Schuster, Schneider, Kesselflicker und Unteroffizier, durch: »2) Jakob Maehl, Weber aus D., hat die Fünfzig hinter sich, hat gesungen: a) O Mensch, bewein dein etc.; b)  Zeuch ein zu deinen Thoren etc.; c)  Wer nur den lieben Gott läßt etc. Doch Melodie ging ab in viele andere Lieder; Stimme sollte stärker sein, quekte mehrmalen, so doch nicht sein muß. Gelesen Josua 19, 1–7 mit 10 Lesefehlern; buchstabirte Josua 18, 23–26 ohne Fehler. Dreierlei Handschriften gelesen – schwach und mit Stocken; drei Fragen aus dem Verstand, hierin gab er Satisfaction. Aus dem ­Catech, den Decalog und die 41. Frage recitirt ohne Fehler; dictando drei Reihen geschrieben – fünf Fehler; des Rechnens auch nicht kundig.«22

Deutlich wird, dass die örtlichen Gewalten die religiös-moralischen Kompetenzen des Schulmeisters höher bewerteten als seine Fähigkeit zu lesen, zu schreiben und zu rechnen. Da die Land- und auch viele der Stadtschullehrerstellen mit kirchlichen Nebenämtern wie dem Küsteramt verbunden waren,23 wird diese 19 Vgl. Sauer, Volksschullehrerbildung, S. 13. 20 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 369 u. S. 488 sowie Sauer, Aus dem Leben, S. 126. 21 Vgl. Vollmer, S. 220–223. 22 Vgl. Fischer, Volksschullehrerstand, Bd.  1, S.  238 f. Die Verortung auf Pommern ist nicht ganz klar, da Fischer keine Quellenangaben macht. Die Stelle wird ebenfalls bei Lewin, S. 47, Sauer, Volksschullehrerbildung, S. 12 f. u. Bölling, S. 53 zitiert. 23 Vgl. Heyden, Kirchengeschichte Pommerns, S. 167.

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Bewertungsgrundlage freilich sowohl aus der Sicht des Predigers als auch der künftigen Gemeinde nachvollziehbar. Warum sich überhaupt eine größere Zahl von Bewerbern für eine Schulstelle im 18. Jahrhundert fand, wird in der Lektüre der die Armut der Landschullehrer betonenden, aus der Lehrerbewegung des 19. und 20. Jahrhundert stammenden Literatur kaum plausibel. Wenn Friedrich Vollmer das typische Bargehalt von 500 der ca. 1.200–1.400 pommerschen Schullehrer Ende des 18. Jahr­hunderts auf 5–10 Taler taxiert,24 erscheinen diese Stellen keinesfalls als attraktive Versorgungsmöglichkeiten. Zumal mit Ausnahme der 85 pommerschen Gnadenschulen, die mit Unterstützung aus Staatsfonds immerhin ein Höchstgehalt von ca. 80 Talern erzielen konnten,25 die meisten Gehälter in Naturalleistungen gezahlt wurden. Der Schulmeister, Küster, Organist und Glocksanter Emanuel ­Jacob Dettmer wies etwa 1776 für seine Stelle im Kirchspiel Behlkow bei Greiffenberg ein Jahreseinkommen aus, das bei »freye[r] Wohnung« Barmittel von lediglich ca. 12 Reichstalern umfasste.26 Trotz der Proteste des Konsistoriums hielt sich zudem in einigen Land­ synoden bis über den Jahrhundertwechsel hinaus das Institut der so genannten »Gangschule«. Hier »ging« der Schulmeister, zumeist der nur im Winter beschäftigte Dorfhirte, im Dorf reihum und hielt den Unterricht in den einzelnen Bauernstuben gegen freie Verköstigung und einen kleinen Barbetrag.27 Diese Einrichtung weist auf das vielfache Fehlen von Schulbauten hin. Ein Problem, das nicht nur in den genannten Synoden, sondern besonders in den 1720 von Schweden erworbenen Gebieten Vorpommerns wie der Insel Usedom akut war. Ende des 18. Jahrhunderts kam dort eine Revision zum Ergebnis, dass die meisten baufällig seien.28 Kommt man auf die Frage zurück, weshalb sich trotz der ungünstigen Zustände im Landschulwesen überhaupt jemand für das Schulmeisteramt entschied, ist auf die generelle Landarmut zu verweisen. Vergegenwärtigt man sich allerdings, dass sich vielerorts regelrechte Lehrerdynastien entwickelten29 oder das Schulamt inklusive der zusätzlichen Einnahmen weiterverkauft wurde,30 24 Vgl. Vollmer, S.  167. Wolfgang Neugebauer schätzt die Zahl der pom. Kirchen- u. Schul­ diener im Jahr 1805 auf 1.458. Vgl. ders., Absolutistischer Staat, S. 277. 25 Vgl. Vollmer, S. 166 f. 26 Vorkriegsabschrift von Ingeborg Kolb, vermutlich aus den Beständen des Pom. u. Camminschen Konsistoriums im Staatsarchiv Stettin. Gedr. in: Bahl, S. 54. 27 Vgl. den hier abgedruckten Bericht der Pom. Reg. u. des Pom. Konsistoriums in Stettin über die Verfassung der Schulanstalten im Hzgt. Pommern (1788), in: PBS, Jg. 28, 1904, S. 44. 28 Vgl. Vollmer, S. 112. 29 Vgl. die Liste der Küster u. Lehrer in Fritzow, wo es 1620–1868 10 Mitglieder der Familie Voigt-Ca[r]sten-Steffen gab, bzw. die Geschichte der Lehrerfamilien Fetting u. Dettmer/ Dittmer im 18. u. 19. Jhdt., in: Monatsbl., Jg. 18, 1909, S. 4–8 u. S. 17–23, Sauer, Aus dem Leben, passim u. Bahl, S. 7. Siehe auch die Liste der 66 Franzburger Seminaristen der Jg. 1793–1806, von denen 23 Küster- bzw. Schulhaltersöhne waren, bei Heyden, Pommersche Landschullehrer, S. 6. 30 Vgl. einen Fall in Demmin betreffend bei Vollmer, S. 75.

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war dieses also doch durchaus attraktiv. Tatsächlich übten viele verhältnismäßig arme Schneider31 und Weber das Schulamt mit Unterstützung ihrer Ehefrauen parallel zu ihrer eigentlichen Profession aus. Das Schulgeld stellte somit ein willkommenes Zubrot dar. Weiterhin ist zu bedenken, dass die vielfach überlieferten Klagen über die eigene Armut wenigstens zu einem gewissen Teil darauf zurückzuführen sind, dass innerhalb des Dorfes die Schulmeister diejenigen Personen waren, die am ehesten zu schriftlichen Beschwerden fähig waren und in den Aufsicht führenden Konsistorien zugleich ihre Verbündeten vermuteten. Dennoch ist festzuhalten, dass eine bedeutende Zahl der Schulmeister des 18. Jahrhunderts an Armut litt, die zur »beruflichen« Resignation führen konnte. Die in den Visitationsberichten immer wiederkehrenden Klagen über die Trunksucht der Lehrer werden hierin oft ihre Wurzeln gefunden haben.32 Insbesondere aus den Konflikten um die gerechte Erfüllung der dörflichen und gutsherrlichen Leistungen wird deutlich, dass viele Schulmeister unter zahlungsrenitenten oder ihre Machtstellung ausnutzenden Dorfschulzen und Gutsherren litten. Da der Arm der Aufsicht führenden Konsistorien im 18. Jahrhundert nicht weit genug reichte, um für die Erfüllung der Gemeindepflichten zu sorgen, waren die Schulmeister oft auf das Mittel des Bittstellens gegenüber der Dorfgewalt und den höheren Behörden angewiesen. Die Schulmeister befanden sich hierbei in der schwierigen Lage, dass zu viele Beschwerden und das strikte Eintreiben des Schulgeldes zur Isolation in der kleinen, geschlossenen Lebenswelt der Dorfgemeinschaft führen konnten. In dem zeitgenössischen pommerschen Knittelvers »Das arme Dorfschulmeisterlein, das isst und trinkt und steckt auch ein« wie auch in den Bezeichnungen »Bibelknecht«, »­Katechismuswallach« und »Vaterunserkrämer« drücken sich jedenfalls einige Befindlichkeiten der Landbevölkerung gegenüber den Schulmeistern aus.33 In der Lebensgeschichte des um 1800 in Marwitz und Fiddichow lehrenden Schulmeisters Johann Friedrich Fetting wird exemplarisch deutlich, wie über mehr als 20 Jahre die Marwitzer Dorfgemeinschaft versucht hatte, ihren Lehrer auszubooten. Als Anlass zum Streit diente bereits im Jahr seiner Anstellung die finanzielle Mehrbelastung der Gemeinde durch die vom Gartzer Magistrat als notwendig erachtete Erweiterung der Wohnstube des Schulmeisters. Weitere Konflikte ergaben sich im zeitweiligen Zahlungsstopp des Holz- und Schulgelds. Unter der Führung ihres Schulzen wurde der Lehrer in einer regen Korrespondenz mit dem Magistrat und dem Konsistorium nicht nur angeschwärzt, seine Gemeindeabgaben nicht zu zahlen, sondern auch wahlweise beschuldigt, die Rechenkunst nicht zu beherrschen, die Schüler und seine Ehefrau zu misshandeln sowie nicht 31 Vgl. hierzu die Angaben in der Lebensgeschichte eines pom. Landschullehrers Ende des 18. Jhdts. bei Scheibert, Martins, des Schneiders, Küsters u. Schulmeister Leben, S. 148. 32 Vgl. den so gelagerten Fall der Lehrers u. Küsters Daniel Gutbiers nach Urteil einer Schulvisitation in Pölitz (1794). Gedr. in: Monatsbl., Jg. 25, 1919, S. 111–120. Probleme der Trunksucht von Schulmeistern werden auch an anderer Stelle häufig betont. 33 Vgl. Monatsbl., Jg. 4, 1890, S. 72 f.

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­ordentlich geprüft worden zu sein.34 Es wäre freilich hier wie auch in ähnlich gelagerten Fällen falsch, den Gemeinden kein Interesse am Schulwesen zu unterstellen. Aus der Perspektive der Dorfgemeinschaften wurde die Schule vielfach als Belastung empfunden, die viel Geld kostete, einem die Arbeitskraft der Kinder entzog und letztlich keine Verbesserung der sozialen Lage der Bauern zur Folge hatte.35 Der erwähnte Fall weist schließlich auf das letzte große Problem der Schulwirklichkeit des 18. Jahrhunderts hin. Zumindest aus der Perspektive der Behörden wurde der Landbevölkerung eine rückständige Mentalität attestiert, die jeder Neuerung und insbesondere jeder finanziellen Mehrbelastung skeptisch gegenübertrat. Das Stettiner Konsistorium kritisierte exemplarisch 1788, dass »der pommersche Bürger und Bauer nichts übrig hat, um noch mehr, als bis jetzt geschehen, zum Schulwesen beizutragen.« Pommern stände diesbezüglich gegenüber den anderen preußischen Provinzen zurück, denn ein »Hauptzug der Pommerschen Denkungsart« sei die »Abneigung gegen alle Veränderung.« Nur »äußerlicher Zwang« könne daher die Pommern zu Neuerungen motivieren.36 1.1.2 Reformansätze bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 Staatliche Zwangsmittel, die sich an ihrer tatsächlichen Umsetzung messen lassen müssen, kennzeichneten tatsächlich die schulischen Reformversuche des 18. und 19. Jahrhunderts. Zwar wurden in Preußen und speziell auch in Pommern schon nach der Reformation erste die Schule betreffende Bestimmungen in den Kirchenordnungen erlassen und etwa die Superintendenten mit der Visitation der örtlichen Schulen betraut,37 der Grundstein für ein modernes Schulwesen ist aber frühestens mit der deklaratorischen Einführung der eingeschränkten Schulpflicht von 1717 gelegt worden. Hier wurde verordnet, dass nunmehr »künftighin an allen Orten, wo Schulen sind, die Eltern bei nachdrücklicher Strafe gehalten sein sollen, ihre Kinder […] im Winter täglich und im Sommer […] zum wenigsten ein- oder zweimal die Woche […] in die Schule zu schicken.«38

Diese Bestimmung wurde 1763 im bereits erwähnten Generallandschulreglement spezifiziert. Die Kinder hatten nun nach der frühestens im fünften Lebensjahr erfolgten Einschulung so lange in der Schule zu verbleiben, 34 Vgl. Sauer, Aus dem Leben, S. 55–102. 35 Vgl. hierzu auch Leschinsky u. Roeder, S. 106 u. S. 110. 36 Vgl. den hier abgedruckten Bericht der Pom. Reg. u. des Pom. Konsistoriums in Stettin über die Verfassung der Schulanstalten im Hzgt. Pommern (1788), in: PBS, Jg. 28, 1904, S. 27 u. S. 33. 37 Vgl. Bülow, passim. 38 Vgl. die Verordnung vom 28.9.1717. Gedr. in: Rönne, S. 60.

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»bis sie nicht nur das Nöthigste vom Christenthum gefasset haben und fertig lesen und schreiben, sondern auch vom demjenigen Red und Antwort geben können, was ihnen nach den […] Lehrbüchern beygebracht werden soll.«39

Dieser Zeitpunkt sollte nach dem beigefügten Musterlehrplan (§§ 17–21) im dreizehnten oder vierzehnten Lebensjahr gekommen sein. Hier sieht man deutlich, dass nicht mehr die christliche, sondern die Erziehung zu »geschicktere[n] und bessere[n] Unterthanen« sowie die Bekämpfung von »Unwissenheit und Dummheit« in den Mittelpunkt rückte. Abgesehen von der Unterrichtspflicht fehlte es auch nicht an klaren Bestimmungen zur Einführung der Sommerschule (§§ 4–5), zum Schulgeld (§§ 7–9), zur Disziplin (§§ 10 und 22) und zur Heran­bildung besserer Schulmeister (§§ 12–16). Interessant sind neben dem einfachen Appell an die örtlichen Schulpatrone, für ihre Schulen gut zu sorgen, besonders diejenigen Bestimmungen, die versuchten, das Schulwesen deut­licher unter staatliche Kontrolle zu stellen. Zwar wurde in § 13 das Recht der Patrone bestätigt, die Schulmeister eigenverantwortlich einzustellen, dafür erhielten die »Superintendenten, Inspectores, Praepositos und Erzpriester« das Recht, die Kandidaten zu examinieren (§ 14) und »untüchtige« Schulmeister zu entlassen (§ 13). Zudem hob § 14 das bereits in den Amtsdörfern angegangene Verfahren, nur Seminaristen als neue Schulmeister einzustellen, als vorbildlich hervor. Mit der Forderung nach einer jährlichen Schulinspektion durch einen Visitor, dem wöchentlichen Besuch des Predigers, der Einführung von Versäumnisstrafen (§ 10) und der Nutzung von Schultabellen (§ 11) wurde zuletzt der Grundstein für eine langfristige Kontrolle der Entwicklung des Schulwesens gelegt. Es ist hinlänglich bekannt, dass sowohl der Erlass von 1717 als auch das Reglement von 1763 einen weitestgehend proklamatorischen Charakter behielten. Die teilweise identischen Bestimmungen des ALR von 1794, weisen darauf hin, dass die entsprechenden Erlasse weitgehend wirkungslos verpufft waren und deshalb ständig wiederholt werden mussten.40 Die kritische Schulforschung des 20. Jahrhunderts hob früh hervor, dass nach ihrem Erlass »im wesentlichen alles beim alten blieb«.41 Die angenommene preußische Schulpflicht des 18. Jahrhunderts war lediglich ein Mythos borussophiler Geschichtswissenschaft.42 Vor allem die umfangreichen Forderungen gegenüber den Gemeinden und die kaum vorhandene Bereitschaft des Staates, sich abseits seines Reform­anspruches auch an den resultierenden Kosten zu beteiligen, verhinderten ihre Umsetzung. Zwar stieß der absolutistische Staat auch an seine finanziellen Grenzen, daneben werden an der mangelnden Befolgung solcher Erlasse exemplarisch die administrativen Machtgrenzen des frühmodernen Staates aufgezeigt. Wichtiger als die kurzfristige Erfüllung des »für die damalige Zeit […] mustergültige[n] 39 General-Land-Schulreglement vom 12.8.1763, § 1. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 674. 40 Vgl. Leschinsky u. Roeder, S. 79. 41 Vgl. Vollmer, S. 56 u. etwas weniger drastisch Lewin, S. 92. 42 Vgl. Neugebauer, Absolutistischer Staat, passim u. ders., Niedere Schulen, S. 226 u. S. 237.

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Gesetz[es]«43 ist indes, dass mit dem Wortlaut des Generallandschulreglements erstmals von höchster Stelle Zielvorstellungen ausgesprochen wurden, die bis weit in das 19. Jahrhundert, zumindest aber bis zum Erlass des ALR, die Grundlage der Reform des preußischen Schulwesens darstellten.44 Abseits der nur auf dem Papier bestehenden Reformen des Generallandschulreglements gab es jedoch tatsächlich kleine Reformschritte. Außer der sukzessive ansteigenden Schulbesuchsquote, mehreren Schulneugründungen und der Ausbreitung der reduzierten Sommerschule auf dem Land ist hierzu die Errichtung der Lehrerseminare und die staatliche Bezuschussung von Gnadenschulen zu zählen. Diese ermöglichten zumindest einem Bruchteil der Schulmeister eine bessere »fachliche« Bildung und die Sicherung der eigenen Subsistenz. Für den Ausbau des ostpreußischen Schulwesens ist etwa die königliche Stiftung »Mons Pietatis« aus dem Jahre 1737 zu nennen, die 50.000 Taler zum Ausbau des Schulwesens zur Verfügung stellte. Bis zum Tode Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1740 wurden angeblich allein in Ostpreußen und Litauen bis zu 1.160 neue Schulen gegründet.45 Trotz dieser imponierenden Zahl kam die ostpreußische Schuldichte bis zum Jahre 1805 nicht über einen Wert von 28 % hinaus.46 Zudem relativiert sich die Summe von 50.000 Talern gegenüber den geschätzten ca. 9,5 Mio. Talern, die Friedrich Wilhelm I. in das allgemeine Retablissement Litauens und Ostpreußens gesteckt hat.47 Auch in Pommern bat das Stettiner Konsistorium zur Umsetzung des Generallandschulreglements 1768 um eine größere Summe staatlicher Mittel.48 Nachdem der Chefpräsident des Geistlichen Departements Ernst Friedemann von Münchhausen auf der Grundlage der aus diesem Jahr stammenden Revisionsberichte der Konsistorien zum Schluss gekommen war, dass das pommersche Schulwesen im Vergleich aller Provinzen am rückständigsten sei,49 wurden in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts tatsächlich Staatsfonds freigegeben. Die Mittel stammten aus der Verpflichtung des pommerschen Adels, von den bewilligten 250.000 Talern staatlicher Meliorationsmittel Zinsen in der Höhe von 2 % an die Schulkassen abzuführen. Damit konnten seit 1777 rund 80, ab 1786 85, d. h. ca. 7 % der pommerschen Landschullehrer mit jeweils 40 Talern bezuschusst werden.50 Ein weiterer Impuls zur Förderung des Schulwesens auf provinzieller Ebene erfolgte 1783/84 mittels der Übernahme der Verwaltung der kirchlichen und schulischen Angelegenheiten Pommerns durch den späteren Minister Julius 43 Vgl. Lewin, S. 92. 44 Vgl. Vormbaum, S. 539. Vgl. auch Mächler, S. 225. 45 Vgl. Lewin, S. 52 f. Friedrich Vollmer geht dagegen von lediglich 600 Neugründungen aus den Stiftermitteln aus. Vgl. Vollmer, S. 113 f. 46 Vgl. Neugebauer, Absolutistischer Staat, S. 235. 47 Vgl. Leschinsky u. Roeder, S. 87. 48 Vgl. Vollmer, S. 114. 49 Vgl. ebd., S. 129. 50 Vgl. ebd., S. 166 f.

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von Massow und des Stettiner Seminars durch den Generalsuperintendenten Friedrich Christian Göring.51 Verwaltungsintern wandte sich Massow gegen das schulische Desinteresse der Ortsgeistlichen. Konkret sollten sich die Geistlichen der Einführung der Sommerschule und dem Neubau von Schulhäusern widmen. Als Druckmittel zur Bekämpfung der Schulversäumnisse wurde angemahnt, Kindern renitenter Eltern die Einsegnung zu verweigern.52 In seinen »Ideen zur Verbesserung des öffentlichen Schul- und Erziehungswesens mit besonderer Rücksicht auf die Provinz Pommern« forderte Massow 1800 in den Annalen des Preußischen Schul- und Kirchenwesens des Bildungsreformers Friedrich Gedike ein differenziertes Schulsystem, welches die unterschied­lichen Bedürfnisse von Stadt- und Landbevölkerung berücksichtigen sollte. Auf dem Land sollte der Unterrichtsstoff zwar erweitert werden, der später körperlich arbeitende Teil der Bevölkerung jedoch zu seinen eigenem Gunsten von schweren »Kopfarbeiten« verschont bleiben. Allgemein hätte das Gebot der Praxisnähe im Mittelpunkt zu stehen. Daher forderte Massow etwa die Ablösung der Universitäten durch reine Fachakademien. Sinnvoll erschien ihm weiterhin die Einbeziehung gewöhnlicher Gemeindemitglieder in die Schulverwaltung. Obwohl er »bei dem geringen Grade der Kultur der mehrsten Pommerschen Land- und kleinen Stadtgemeinden« kaum einen tatsächlichen Nutzen erwartete, hoffte er, dass diese »bloß der Form wegen Willfährigkeit« gegenüber den Anordnungen der Schulbehörden erzeugen würden.53 Um die Aufsicht über das gesamte preußische Schulwesen von den Universitäten bis hin zu den Landschulen zu vereinheitlichen, erfolgte 1787 die Gründung eines Ober­ schulkollegiums.54 Noch bedeutsamer war jedoch der 1794 erfolgte Erlass des ALR, das mangels der Verabschiedung eines allgemeinen preußischen Unterrichtsgesetzes bis ins 20. Jahrhundert hinein den gesetzlichen Rahmen des Schulwesens formulierte. Im 12. Titel des Teils II führte das ALR im § 1 aus, dass »Schulen und Universitäten […] Veranstaltungen des Staates [seien]«. Legte diese Bestimmung nach heutiger Lesart die grundsätzliche Verstaatlichung des preußischen Schulwesens nahe, wurde in den §§ 2 und 9 deutlich, dass hiermit wieder nur eine Oberaufsicht des Staates gewährleistet werden sollte. Letztlich unterstanden die gemeinen Schulen weiterhin den lokalen Obrigkeiten, welche aufgefordert wurden, in ihrer Verwaltungstätigkeit die Geistlichkeit hinzuziehen (§ 12). Insbesondere die Neugründung einer Schule sollte ausschließlich durch die Genehmigung der staatlichen Behörden ermöglicht werden (§ 2). Des Weiteren wurden mehrere Bestimmungen des Generallandschulreglements, wie etwa die Pflichten und die Regelung der Bestellung der Schulmeister (§§ 22–28), Fragen der Schulzucht (§§ 50–53) und die Aufsichtspflichten der Ortsobrigkeit sowie 51 Vgl. ebd., S. 261. 52 Vgl. ebd., S. 258. 53 Vgl. Massow, S. 76–143, S. 181–260 u. S. 361–395. 54 Vgl. die Instruktion für das Ober-Schul-Kollegium (1787). Gedr. in: Rönne, S. 76 f.

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der Prediger (§§ 47–49) konkretisiert. Ansonsten war die Regelung vieler Einzelfragen, wie die genaue Verteilung der Schullasten (§ 29–38) oder auch die präzise Regelung des Schulentlassungsjahrs, eher unklar gehalten. § 43 führte zwar aus, dass »jeder Einwohner, welcher den nöthigen Unterricht für seine Kinder in seinem Hause nicht besorgen kann oder will, […] schuldig [sei], dieselben nach zurückgelegtem fünften Lebensjahr zur Schule zu schicken,«55 die Entlassung aus der Schule bzw. dem Privatunterricht sollte aber nach § 46 erst dann erteilt werden »bis ein Kind, nach dem Befunde seines Seelsorgers, die einem jeden vernünftigen Menschen seines Standes nothwendigen Kenntnisse gefaßt [habe].«56 Abgesehen davon, dass hier deutlich wird, dass das ALR noch immer eine nach Ständen differenzierte Unterrichts- und keine allgemeine Schulpflicht forderte,57 zeigt die vage Formulierung des § 46, wie stark die Entlassung aus der Schule in Zukunft von der jeweils gängigen Verwaltungspraxis abhängen würde und welche Konflikte sich daraus zwischen Schulbehörde, Eltern und Seelsorgern entwickeln konnten. Während noch im ersten Entwurf des ALR die Schullasten ähnlich der Armenfürsorge den Städten und Landgemeinden übertragen werden sollten, wurden diese Kosten durch die §§ 29–38 nun den so genannten Hausvätern und im geringeren Maße den Schulpatronen aufgebürdet. Konkret entwickelten sich aus dieser Verfahrensweise Schulbezirke, die entweder aus einer oder mehreren politischen Gemeinden, mehreren Gemeinden und Gutsbezirken sowie einem oder mehreren Gutsbezirken bestehen konnten. Die Hausväter, die laut § 29 anteilig nach ihrem Vermögensstand die Mittel für die Unterhaltung der Lehrer und Schulen aufzubringen hatten, umfassten sämtliche physische Personen, die im Schulbezirk wohnten und wirtschaftlich selbstständig waren. Somit galten auch unverheiratete kinderlose, aber wirtschaftlich selbstständige Frauen als Hausväter im Sinne des ALR.58 Der Gutsherr eines Gutsbezirks zählte dagegen nicht zu den Hausvätern. Jedoch musste er genauso wie eine als Schulpatron fungierende Stadt, Verarmte »nach Nothdurft […] unterstützen« (§ 32) und zusätzlich laut § 36 »bei Bauen und Reparaturen der Schulgebäude […], die auf dem Gute oder KämmereiEigenthume, wo die Schule sich befindet, gewachsenen oder gewonnenen Materialien, so weit solche hinreichend vorhanden, und zum Baue nothwendig sind, unentgeltlich verabfolgen.«59

Auch dieses komplizierte Verfahren stellte bis zur sukzessiven Übernahme der Schullasten durch die politischen Gemeinden, beginnend in der zweiten Hälfte 55 Vgl. ALR, Theil II, Titel 12, § 43. 56 Ebd., § 46. 57 Vgl. Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 142. 58 Vgl. die Sammlung von Entscheidungen der preuß. Kultusminister zur Mitgliedschaft in den Schulbezirken bei Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 2, S. 26–29. 59 ALR, Theil II, Titel 12, §§ 36.

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des 19.  Jahrhunderts, teilweise noch bis 1918 die Schulwirklichkeit Preußens dar. Zur praktischen Verwaltung des Schulwesens am Ort galten ansonsten subsidiär die Bestimmungen für die Kirchenverwaltung (II, Tit. 11 § 193 ff.), was konkret zur Einführung ehrenamtlicher Schulvorstände führen sollte.60 Wichtig für die Frage nach den späteren Verantwortlichen der Förderung des Schulwesens ist, dass im ALR mit der Benennung der Aufsichtsführenden und den Trägern der Schullasten erstmals kodifiziert wurde, wer alles als Akteur des Schulwesens im 19. Jahrhundert zu benennen ist. So wurde außer der Rolle der staatlichen Aufsicht, der Prediger, Gutsherren und Magistrate auch ausführlich die Bedeutung der einfachen Bevölkerung wie der Hausväter, Eltern und Dorfschulzen aufgezeigt, ohne deren Mitwirkung in jedem Fall keine Hebung des Schulwesens möglich werden würde. Obwohl bereits zwischen 1797 und 1806 von den Ministern Zedlitz und ­Massow sowie im Oberschulkollegium weitergehende Konzepte zur Hebung des Schulwesens entwickelt wurden, war vor dem preußischen Zusammenbruch von 1806/07 an eine Realisierung der im ALR formulierten Grundsätze kaum zu denken. Erst die Herausforderung durch die napoleonische Bedrohung erzeugte ein Klima, das sich Bildungsfragen zuwandte.61 Mit den preußischen Reformen entstanden die verwaltungstechnischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die eine weitere Hebung des Schul­ wesens ermöglichen sollten. Mit der Verwaltungsreform vom 28.  Dezember 1808 wurde eine anfangs noch dem Innenministerium unterstellte eigene Abteilung für den Kultus und das gesamte Unterrichtswesen eingerichtet. Diese bis 1810 von Wilhelm von Humboldt geführte Sektion wurde 1817 zu einem eigenen Ministerium aufgewertet.62 Die für die Verwaltung des Schulwesens wichtigen institutionellen Veränderungen fanden auf der Provinzialebene ihren vorläufigen Abschluss in der Einführung des Oberpräsidentenamtes (1815), der Gründung von Provinzialschulkollegien für die Verwaltung des höheren Schulwesens (1825)63 und die 1817 bzw. 1825 erfolgte Unterstellung der Elementarschulen unter die in den neuen Regierungsbezirken eingerichteten Abteilungen für das Kirchen- und Schulwesen.64 Tatsächlich rückten die Schulabteilungen der Bezirksregierungen, obwohl nominell dem Regierungspräsidenten und dem Kultusministerium unterstellt, im 19. Jahrhundert zur eigentlichen Oberinstanz der Verwaltung des Schulwesens auf.65

60 Vgl. Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 2, S. 56–59. 61 Vgl. Jeismann, Schulpolitik, Schulverwaltung, Schulgesetzgebung, S. 107 f. 62 Vgl. KO vom 3.11.1817. Gedr. in: Rönne, S. 250 f. 63 Vgl. KO vom 31.12.1825, die Abänderung der bisherigen Organisation der Provinzialbehörden betr. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 1, S. 14. 64 Vgl. die Geschäftsinstruktion für die Reg., 23.10.1817 u. die KO vom 31.12.1825, einige Abänderungen in der bisherigen Organisation der Provinzial-Verwaltungsbehörden betr. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 1, S. 21–26. 65 Vgl. Loening, S. 77 f.

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Mit dem Martini-Edikt von 1807 und der Städteordnung von 1808 schufen die Reformer die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die einfache städtische und ländliche Bevölkerung noch deutlicher in das Schulwesen einzu­ binden,66 als das schon in Folge des ALR in Aussicht gestellt worden war. In einer für alle preußischen Regierungen gültigen »Instruction über die Zusammensetzung und Geschäftsführung der städtischen Schuldeputationen«67 und einem die Landschulen betreffenden Reskript des Unterrichtsdepartements68 wurden 1811/12 Bestimmungen zur Errichtung von Schulvorständen erlassen. Bezüglich der Städte legten diese fest, dass eine Stadtschuldeputation aus jeweils ein bis drei Mitgliedern des Magistrats, Vertretern der Stadtverordnetenversammlung und einer Anzahl »einem bis drei Mitgliedern des Magistrats, ebenso vielen Deputirten des Stadtverordneten-Kollegii, einer gleichen Anzahl des Schul- und Erziehungswesen kundiger Männer, und einem besonderen Vertreter derjenigen Schulen, welche, ohngeachtet sie nicht städtischen Patronats sind, den Schuldeputationen werden untergeordnet werden, [bestehen soll].«69

Für die sachkundigen Bürger sollten die Deputationsmitglieder des Magistratsund der Stadtverordnetenversammlung je drei Personen benennen, welche die Bezirksregierung dann endgültig auszuwählen und für eine sechsjährige Amtszeit zu bestätigen hatte. Sofern der lokale Superintendent nicht Mitglied der Deputation war, gestand man ihm ebenfalls das Stimmrecht zu. Zwar beschnitt diese Bestimmung die bisherige Dominanz der Geistlichkeit, jedoch mahnte der Wortlaut der Instruktion an, dass unter den Sachverständigen möglichst viele Geistliche sein sollten. Zudem wurde die »Spezialaufsicht, welche Prediger und Schulvorsteher außer den Schuldeputationen ausüben«, ausdrücklich bestätigt (§ 9). Die Stadtschuldeputationen nahmen nunmehr eine eigentüm­ liche Zwitterstellung ein. Sofern sie die äußerlichen Angelegenheiten (Schulbau und Unterhalt) der Schulen zu verwalten hatten, fungierten sie als dem Ma­gistrat untergeordnete, vom zentralstaatlichen Einfluss verhältnismäßig unabhängige kommunale Behörde. Sobald es jedoch um die inneren Angelegenheiten (Unterrichtsstoff, Schulbesuch, Disziplin) ging, waren die Deputationen reine Exeku­tionsorgane der Regierung.70 Neben der Umsetzung der Verwaltungsvorschriften bzw. der mehr oder weniger eigenständigen Verwaltung des 66 Vgl. Thilo, S. 78 f. 67 Vgl. die Instruktion vom 26.6.1811, welche als Anlage zu dem nachstehenden Reskript veröffentlicht worden ist. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 1, S. 83–86. 68 Vgl. das Reskript des Departements für den Kultus u. den öffentlichen Unterricht vom 28.10.1812 an sämtliche Geistliche- u. Schuldeputationen der Reg., betr. die Anordnung von Schulvorständen für die Landschulen. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 1, S. 103–105. 69 Vgl. die Instruktion vom 26.6.1811, welche als Anlage zu dem nachstehenden Reskript veröffentlicht worden ist. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 1, S. 83. 70 Vgl. Loening, S. 83.

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Schulwesens sollten die Deputationen mit jährlichen Berichten der Bezirks­ regierung die Kontrolle erleichtern. Die Schulvorstände auf dem Land waren in ihren Rechten und im Mitbestimmungspotential der einfachen Bevölkerung eingeschränkter. Gemäß dem Reskript sollten sich die Vorstände in Schulbezirken privaten Patronats aus dem Gutsherren bzw. einem Vertreter des Magistrats, dem Ortsgeistlichen und zwei bis vier interessierten Familienvätern rekrutieren. Im Falle königlichen Patro­ nats sollte kein Vertreter benannt werden. Die Schulvorsteher wurden mit Ausnahme des Predigers und des Patronatsvertreters auf sechs Jahre von der Dorfgemeinschaft gewählt und mussten ebenfalls bestätigt werden. Unter ihnen hatte sich möglichst der Dorfschulze zu befinden. Der Prediger fungierte gleichzeitig als Hilfsbeamter der Bezirksregierung und war allein für die inneren Angelegenheiten der Schule zuständig. Die übrigen Schulvorsteher hatten sich um die äußere Verwaltung zu kümmern. Bei den monatlichen Treffen konnte der Lehrer eingeladen werden, sonst war dieser dem Schulvorstand untergeordnet. Als Mittler zwischen Schulvorstand und Bezirksregierung fungierte neben dem Ortsschulinspektor im Regelfall auch der Superintendent in seiner Rolle als Kreisschulinspektor. Dieser hatte im Auftrag der Regierung für eine regel­ mäßige Visitation der Schulen seines Amtsbezirks zu sorgen. Zwar wird deutlich, dass gerade auf dem Land die Geistlichkeit der bestimmende Akteur der Schulverwaltung blieb, doch ist hervorzuheben, dass man kaum fünf Jahre nach dem Erlass des Martiniedikts selbst in den Gutsbezirken darauf drang, Vertreter der Schulgemeinde in die Verwaltung des Schulwesens einzubinden. Gleiches galt für das städtische Schulwesen, in dessen Stadtschuldeputationen die Geistlichkeit mehr und mehr auf eine nur noch beratende Funktion zurückgedrängt wurde. Obwohl immer noch keine vollständige Verstaatlichung erfolgte, standen die lokalen Schulträger nun verbindlich unter der Oberaufsicht des Staates. Neben den verwaltungstechnischen Reformen sind für die weitere Hebung des Schulwesens die pädagogischen Impulse der Reformzeit nicht zu unterschätzen. Zwar konnten die hochgesteckten Pläne Humboldts, dass »auch der Aermste […] eine vollständige Menschenbildung erhalten soll«,71 im preußischen Schulwesen nie umgesetzt werden, doch griffen die Schulreformer viele Elemente der zur Selbsthilfe erziehenden Pädagogik des Schweizers J­ohann Heinrich Pestalozzi auf. Sowohl Johann Gottlieb Fichtes Konzept einer »Nationalerziehung«72 als auch das Programm der preußischen Schulbeamten Nicolovius, Süvern und Humboldt sah hierin die Möglichkeit, Preußen aus der Krise des Zusammenbruchs zu führen. Auch Freiherr vom und zum Stein zog in seiner Märzdenkschrift von 1810 die Verbindung zwischen der Pestalozzischen Methode und

71 Vgl. etwa die Konkretisierung seines Bildungsideals im anvisierten dreigliedrigen Schul­ system des Königsberger Schulplans vom 27.9.1809. Gedr. in: Humboldt, S. 175. 72 Vgl. zur Rezeption Pestalozzis bei Fichte Hinz, S. 342–353.

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einer daraus resultierenden Erweckung eines staatsbürgerlichen und kriege­ rischen Geistes für die zukünftige Generation.73 Schon 1809 hatte Johann Wilhelm Süvern mehrere junge Leute aus Preußen zur Ausbildung an das Pestalozzische Institut nach Yverdon geschickt.74 Unter den ausgesandten Eleven waren auch drei Personen, die für die Verbreitung der Pestalozzischen Methode in Pommern Bedeutung erlangten. Johann Wilhelm Mathias Henning (1783–1868) stand von 1827 bis 1851 dem Lehrer­ seminar in Köslin vor und bildete über 24 Jahre die hinterpommersche Lehrerschaft aus.75 Karl August Gottlieb Dreist (1784–1836) stieg 1827 als Nachfolger Beckedorffs zum Referenten des Kultusministeriums für die Seminar- und Volksschul­angelegenheiten auf. Von 1834 bis zu seinem zwei Jahre später erfolgten Tod arbeitete er als Schulrat im Stettiner Regierungsbezirk.76 Hier trat auch seit 1815 Bernhardt (gestorben 1831 an der Choleraepidemie) erst als Assessor und bald als Schulrat hervor. Bernhardts »Anweisung für evangelische Schullehrer und Küster auf dem Lande über ihr Amt und Leben« wurden 1826 als Leitbild für die Volksschullehrer ganz Preußens in Ludolph von Beckedorffs Jahrbücher für das Preußische Volksschulwesen aufgenommen.77 In der Schulabteilung des Regierungsbezirks Stettin standen Dreist und Bernhardt wiederum mit Heinrich Gotthülf Friedrich Graßmann (1784–1866) in Beziehung, der als der erste Absolvent des Seminars für gelehrte Schulen in Stettin 1815 zum Seminardirektor ernannt wurde und als Schulrat bis zu seinem Tod maßgebenden Einfluss auf das Schulwesen des Stettiner Bezirks gewann.78 Die über ein halbes Jahrhundert währende Tätigkeit im Kirchen- und Schul­ wesen brachte ihm offenbar von Zeitgenossen die Ehrenbezeichnung »Pommerscher Pestalozzi« ein.79 Zu der wichtigsten Personalie, welche die Voraussetzung für ein Fortschreiten des Schulwesens im 19.  Jahrhundert schuf, zählte schließlich die 1816 erfolgte Berufung Sacks zum Oberpräsidenten. Ähnlich wie schon Massow 1783 zeigte sich auch Sack in seinen ersten Eindrücken über den Zustand des pommerschen Schulwesens schockiert. In Briefen an Stein und Gneisenau äußerte er sich despektierlich über die »Verwahrlosung« des Erziehungswesens, dessen mangelnde Förderung er dem Desinteresse seines Vorgängers Karl Heinrich 73 Denkschrift Steins, Brünn vom März 1810 u. im ähnlichen Wortlaut die Denkschrift Steins über den Finanzplan Hardenbergs vom 12./13.9.1810. Gedr. in: Stein, Amtliche Schriften u. Briefe, Bd. 3, S. 297 bzw. S. 406. Vgl. zur Rezeption Pestalozzis durch Stein Hinz, S. 172–182. 74 Vgl. Gebhardt, Die Einführung der Pestalozzischen Methode, S. 30, S. 36 u. S. 38. 75 Vgl. PBS, Jg. 7, 1883, S. 370–376. 76 Vgl. den Artikel »Karl August Gottlieb Dreist«, in: ADB, Bd. 5, S. 394–395. Zu Henning, Bernhardt u. Dreist vgl. auch den Artikel »Johann Wilhelm Süvern«, in ADB, Bd.  37, S. ­224–228. Siehe ausführlich Meffert, S. 136–140. 77 Vgl. die Anweisung für evangelische Schullehrer u. Küster auf dem Lande über ihr Amt u. Leben. Gedr. in: Jb. für das Preuß. Volksschulwesen, Jg. 4, 1826, S. 142–154. 78 Vgl. Scheibert, Geschichte des Geschlechts Graßmann, S. 93–97. 79 Vgl. Fenske, S. 100.

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von Ingersleben anlastete.80 Auch Sack war vom Humboldtschen Konzept einer umfassenden Nationalerziehung geprägt. In der Gewährung einer umfassenden Elementarbildung, die insbesondere auch eine gleichwertige Förderung des »weiblichen Geschlechts« ermöglichen sollte,81 sah Sack eines der Haupt­mittel, mittelfristig die pommersche Bevölkerung zu einer »größere[n] Thätigkeit« zu bewegen.82 Zur Finanzierung dieses Projektes erwog Sack, sogar »die reichlich dotirte Universität zu Greifswalde einzuziehen und die bedeutenden Fonds zur Verbesserung der Elementarschulen in Neuvorpommern und selbst in Altpommern zu verwenden.«83 Zwar wurde dieses durch den Bestandshaltungsschutz des preußisch-schwedischen Übergabevertrags verhindert,84 in der festen Überzeugung, dass »die niederen Klassen […] unstreitig den größten Theil der Nation ausmacht[en]«, zeigte Sack allerdings auch später immer eine deutliche Präferenz für die Finanzierung der »bisher so wenig beachtete[n] schlecht eingerichtete[n] und doch so nothwendige[n] Elementarschule.«85 Schon im ersten Jahr seiner Oberpräsidentschaft bemühte er sich, mittels einer Inspektionsreise einen präziseren Überblick über das pommersche Schulwesen zu gewinnen und hierbei die lokalen Schulverwaltungen zu Reformen zu motivieren.86 In einem Brief an Stein hob Sack die Bedeutung des bald zum Schulrat beförderten Assessors und Pestalozzischülers Bernhardt hervor. Im selben Jahr wurde als erster Schritt in Stettin eine weitere Elementarschule87 und 1817 eine be­sondere Töchterschule eingerichtet.88 Daneben schafften die Schulbehörden 1818 die letzten Gangschulen in den Kreisen Cammin und Greifenberg ab89 und unternahmen massive Anstrengungen zum Bau oder zur Reparatur von Schulhäusern. Im gesamten Stettiner Regierungsbezirk veranlasste man allein von 1816 bis 1822 den Bau oder die Erweiterung von 147 Schulhäusern.90 Während zur Behebung der größten Missstände in der Ausbildung der Landschullehrer nunmehr unter der Leitung von Graßmann jährlich stattfindende Sommerfortbildungskurse eingerichtet werden konnten, begann man in den kleinen Städten nach 1820 sukzessive »die verschiedenen Schulen eines Ortes durch zweckmäßige Stufenfolge zu einem Ganzen zu verbinden«, also zu einem Schul80 Vgl. Sack an Stein (28.8.1816) u. Sack an Gneisenau (28.8.1816). In: Steffens, S. 132–138. 81 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16015, Ztgsb. Nov. 1816, Stettin 3.12.1816. 82 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16016, Ztgsb. Jan. 1817, Stettin 3.2.1817. 83 Vgl. ebd., Ztgsb. Okt. 1816, Stettin 3.11.1816. 84 Vgl. Art.  IX des Abtretungsvertrags Schwedisch-Vorpommerns an Preußen (1815). Zit. nach: Sonnenschmidt, S. 343. 85 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16017, Ztgsb. Feb. 1818, Stettin 4.3.1818. 86 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16016, Ztgsb. Jan. 1817, Stettin 3.2.1817. 87 Vgl. Sack an Stein (6.7.1817). Gedr. in: Steffens, S. 142. 88 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16016, Ztgsb. April 1817, Stettin 3.5.1817. 89 Vgl. ebd., Ztgsb. Nov. 1818, Stettin 4.12.1818. 90 Vgl. ebd., Ztgsb. Dez. 1822, Stettin 4.1.1823.

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system auszudifferenzieren.91 Auf Sacks wiederholte Forderung nach Genehmigung einer Pommerschen Schulordnung ging das Staatsministerium freilich nicht ein.92 Es erscheint daher sinnvoll in den institutionellen Veränderungen und päd­ agogischen Impulsen der preußischen Reformzeit bis in die zweite Dekade des 19. Jahrhunderts eine wichtige Zäsur zu sehen. Wenn auch die Schulwirklichkeit des 18. Jahrhunderts in Preußen allgemein und in Pommern speziell zu Beginn des 20.  Jahrhunderts vom pommerschen Historiker Martin ­Wehrmann aus zeitgenössischer Perspektive nur als »jämmerlich« bezeichnet wurde, konnte auch er nicht verhehlen, dass sich das Schulwesen seit 1700 »trotz der großen Schwierigkeiten, die namentlich von Seiten der Bevölkerung erwuchsen, langsam, aber stetig« entwickelt habe und der »Grund […] zu einer allgemeinen Volksschule gelegt« worden sei.93

1.2 Die Schulpolitik in Preußen und Pommern im 19. Jahrhundert Wenn man sich in der Historiographie des Volksschulwesens noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts an einer dynastischen Gliederung orientiert hatte,94 versucht die moderne Geschichtswissenschaft heute zumeist eine Ordnung nach dem inhaltlichen Gehalt der Schulpolitik vorzunehmen.95 Obwohl sich diese Arbeit auf keine inhaltlich-chronologische Gliederung festlegen will, ist es sinnvoll, einen kurzen Überblick über die Grundzüge der schulpolitischen Entwicklung nach 1815 zu geben. 1.2.1 Grundzüge der schulpolitischen Entwicklung von 1815–1890 Nachdem in den Jahren 1806/07 bis 1819 die von Humboldt, Süvern und anderen angeregten Bildungsreformen noch als wesentliche Elemente des preußischen Reformprojekts zur Reorganisierung des Staates akzeptiert worden waren,96 gab man mit der Ablehnung des Süvernschen Unterrichtsgesetzentwurfs durch den konservativen Kultusbeamten von Beckedorff das Ideal einer allgemeinen 91 Vgl. ebd., Ztgsb. Jan. 1821, Stettin 5.2.1821. 92 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16017, 16020, 16024, Ztgsb. Nov. 1818, Jan. 1821, Dez. 1823, Stettin 4.12.1818, 5.2.1821 u. 4.1.1824. 93 Vgl. Wehrmann, Landschulwesen, S. 122. Vgl. ähnlich ders., Schulgeschichte, S. 2–4. 94 Vgl. etwa Vollmer, passim u. Lewin, passim. 95 Vgl. etwa die Gliederung in den Kapiteln III u. V bei Herrlitz u. a., passim. Siehe ähnlich Sauer, Volksschullehrerbildung, passim. 96 Vgl. Mast, S. 227.

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Menschenbildung auf.97 Eine erste abzugrenzende Phase nach der Reformzeit stellt also im Prinzip die lange Zeit des Vormärz dar. Zwar ist zu betonen, dass dieser Abschnitt von einer allgemeinen politischen Reaktion geprägt war, das Bildungswesen dennoch große Fortschritte zu erreichen vermochte.98 Gerade im Vergleich der europäischen Konkurrenz wurden hier die Leistungen des preußischen Schulwesens deutlich,99 die man auch zeitgenössisch registrierte. Die Edinburgh Review führte etwa 1833 aus: »The English people are the lowest, the German people the highest in the scale of knowledge.«100 Obwohl sich zunehmend die Vertreter einer konservativen Schulpolitik durchsetzten101 und exponierte liberale Seminardirektoren wie Adolph Diesterweg gemaßregelt oder entlassen wurden,102 rekrutierte sich weiterhin ein großer Teil der Schulbeamten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus derjenigen Generation, die in der Reformära in ihr Amt getreten war. Die Karriere des pommerschen Schulbeamten Graßmann ist hierfür als Beispiel zu nennen. Da sich zudem Dreist und selbst Beckedorff weiterhin als Anhänger der Pestalozzischen Lehrmethode zu verstehen gaben,103 erlosch auch in der bis 1840 von Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein und danach von Johann Albrecht Friedrich Eichhorn geführten Behörde das Interesse an einer weiteren Hebung des Schulwesens nicht. Hinzu kam, dass das Fehlen allgemeiner schulischer Bestimmungen nach dem Scheitern des Unterrichtsgesetzentwurfs von Süvern die mit Reformbeamten besetzten Abteilungen der Bezirksregierungen zu den entscheidenden Akteuren der praktischen Schulpolitik aufwertete.104 Lediglich in der Provinz Preußen wurde noch 1845 eine die äußerlichen Angelegenheiten betreffende Ordnung für Elementarschulen verabschiedet.105 In allen anderen Provinzen und damit auch in Pommern bestimmten dagegen viele kleinere das ALR spezifizierende Regelungen auf Provinz- und Regierungsebene die Verwaltungswirklichkeit.106 Ein zweiter Abschnitt beginnt mit den Revolutionsjahren 1848/49, in deren Folge nach den mehrheitlich gescheiterten Reformbestrebungen aus der Lehrerschaft in der Revolutionsphase107 immerhin das Schulwesen betreffende Artikel in die preußische Verfassung vom 31. Januar 1850 aufgenommen wurden. Über den Wortlaut des ALR hinaus ging insbesondere der Artikel 25. Dieser be 97 Vgl. Herrlitz u. a., S. 47–51 u. Lundgreen, S. 56–64. 98 Vgl. Leschinsky u. Roeder, S. 429, Lundgreen, S. 93 u. Kuhlemann, S. 108. 99 Vgl. François, S. 756. François gibt an, dass Frankreich gegenüber Preußen im gesamten 19. Jhdt. einen Bildungsrückstand von einer Generation hatte. 100 Vgl. Kuhlemann, S. 133. 101 Vgl. dazu allg. Hattermann, passim. 102 Vgl. etwa zur Maßregelung Adolph Diesterwegs u. Karl Friedrich Wilhelm Wanders sowie zur Schließung des Breslauer Seminars Fischer, Volksschullehrerstand, Bd. 2, S. 241–246. 103 Vgl. Sauer, Volksschullehrerbildung, S. 23 f. u. Lewin, S. 212. 104 Vgl. Loening, S. 77. 105 Vgl. Schulordnung für die Elementarschulen der Prov. Preußen. Gedr. in: Lewin, S. ­230–243. 106 Vgl. etwa den Prov.-Landtagsabschied für Pommern vom 23.5.1835 betr. die Schulver­ säumnisstrafen. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 60–62. 107 Vgl. Appens, passim.

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stimmte, dass »die Mittel zur Errichtung, Unterhaltung und Erweiterung der öffentlichen Volksschulen […] im Falle nachgewiesenen Unvermögens ergänzungsweise vom Staat aufgebracht [werden].« Weiterhin sollte der Staat »den Volksschullehrern ein festes den Lokalverhältnissen angemessenes Einkommen [gewährleisten].« Da der Artikel 26 wiederum auf das niemals verabschiedete Unterrichtsgesetz verwies und die Übergangsbestimmungen im Artikel 112 besagten, dass man es bis zum Erlass desselben »hinsichtlich des Schul- und Unterrichtswesens bei den jetzt geltenden gesetzlichen Bestimmungen«108 bewenden lassen sollte, behielten die alten Regelungen des ALR in seinem Geltungsbereich neben den diversen lokalen Erlassen jedoch ihre Gültigkeit. Zumindest signalisierte der Staat mit dem Wortlaut der Verfassung erstmals die Bereitschaft, sich an den finanziellen Lasten des Schulwesens zu beteiligen. Als Instrument gegen die durch Kinderarbeit verursachten Schulversäumnisse wurde 1853 ein Gesetz erlassen, das die Kinderschutzbestimmungen von 1839 erweiterte und Fabrikarbeit erst mit dem erreichten zwölften Lebensjahr sowie nur noch in Ausnahmefällen erlaubte. Trotz dieser Schutzbestimmungen blieb die Kinderarbeit außerhalb der Fabriken ein weit verbreitetes und im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts sogar wachsendes Phänomen.109 Immerhin verpflichtete man in mehreren Bestimmungen die Arbeitgeber, auch arbeitenden Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen. In der Reichsgewerbeordnung von 1883 wurde zudem neben einer gesetzlichen Ruhezeit von sieben Stunden auch die wöchentliche Unterrichtspflicht auf mindestens zwölf Schulstunden festgelegt.110 Einen festeren Rahmen erhielten Lehrerausbildung und Elementarschulwesen mit den so genannten Stiehlschen Regulativen von 1854. Nachdem bereits 1849 Friedrich Wilhelm IV. die Volksschullehrer und Seminardirektoren als »Schuldige« der Revolution ausgemacht und eine Verlagerung der Seminare aufs platte Land gefordert hatte,111 stellten die Regulative des Geheimrats Stiehl die Kodifizierung der reaktionären Wende in der Schulpolitik dar. Kern der Bestimmungen war die Rückführung der Seminarausbildung und des Elementarschulwesens auf ein Minimalprogramm. Die Seminare sollten reine Erziehungsanstalten zur Ausbildung der Landschullehrer für die einklassige evangelische Elementarschule. Ansätze einer wissenschaftlichen, abstrakten Bildung wurden zugunsten des praktischen Schulehaltens »in der Religion, im Lesen und in der Muttersprache, im Schreiben, Rechnen, Singen, in der Vaterlandsund der Naturkunde« aufgegeben.112 Deshalb rückte die religiös-moralische Er108 Vgl. die Verfassung vom 31.1.1850, Art. 25. Gedr. in: Rönne, S. 251. 109 Vgl. Kuhlemann, S. 113. 110 Vgl. Beschluss des Bundesrats vom 23.4.1879 betr. des § 139a der Reichsgewerbeordnung. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 82. 111 Vgl. die Ansprache an die Seminarlehrer (1849). Gedr. in: Michael u. Schepp, S. 167 f. 112 Vgl. das Regulativ für den Unterricht in den evangelischen Schullehrerseminaren der ­Monarchie vom 1.10.1854. Gedr. in: Krueger, S. 237–301, hier S. 240.

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ziehung sowohl der Seminaristen als auch der Schüler der Elementarschulen in den Mittelpunkt des Lehrplans. Die Diskussion um die Regulative lud sich zeitgenössisch schnell politisch auf. Während sich die Kreuzzeitung und ein konservativer Theoretiker wie Friedrich Julius Stahl ihrer Verteidigung annahmen, versuchten Liberale wie Friedrich Harkort und Adolph Diesterweg dagegen anzugehen.113 Auch ein Schulspezialist wie Ludwig von Rönne, der 1855 eine Übersicht der Gesetze des preußischen Schulwesens herausgab, kritisierte die zunehmende Instrumentalisierung der preußischen Schule durch Kirche und Staat sowie die Abwendung von den Pestalozzischen Prinzipien.114 Es ist aufschlussreich, dass die Regulative heute differenzierter interpretiert werden. Beispielsweise hebt die Schulforschung inzwischen hervor, dass das Diktum der einklassigen preußischen Elementarschule lediglich der Schulwirklichkeit und ihren zeitgenössischen Bedürfnissen entsprochen habe.115 Selbst 1882, als man schon längst wieder die mehrklassige Schule anstrebte, waren schließlich immer noch 80,3 % der pommerschen Schulen einklassig.116 Auch die vermeintliche Revision der Seminarausbildung betraf lediglich einige Seminare. Für Stettin führt Karl Supprian aus, dass hier nur das obligatorisch gemacht wurde, »was man daselbst schon seit einem Jahrzehnt erstrebt und versucht hatte.«117 Auch der häufige Vorwurf, dass die Lektüre der deutschen Klassiker an den Seminaren verboten worden sei, lässt sich am Wortlaut des I.  Regulativs nicht nachweisen.118 Dass die Regulative bei ihrem Erlass sogar eher eine vermittelnde Position ausübten, zeigte sich etwa darin, dass sich ultrakonservative Stimmen meldeten, denen die Bestimmungen nicht weit genug reichten. In der Evangelischen Kirchenzeitung forderte der Camminer Seminardirektor Wangemann etwa die vollständige Auflösung der Seminare und ihre Zergliederung in kleine von Geistlichen geleitete Institute.119 Dass in jedem Fall die Volksschulbildung keinen Rückschritt vollzog, erkennt man nicht zuletzt daran, dass in Pommern 1871 die Analphabetenrate in der allgemeinen Bevölkerung nur noch bei 13,3 % (Regierungsbezirk Stettin: 9,7 %) lag120 und die Zahl der illiteraten Rekruten des Regierungsbezirks Stettin kaum messbare 0,86 % umfasste.121 Prägend für diese Phase ist also eine zunehmende staatliche Reglementierung des Schulwesens, die, obwohl sie nominell einem konservativen Erziehungsideal folgte, mittelfristig eine weitere Hebung bewirkte. 113 Vgl. zur zeitgenössischen Diskussion Krueger, S. 107–117 u. Lewin, S. 292–298. 114 Vgl. Rönne, S. 895. 115 Vgl. Krueger, S. 107–117, Meyer, S. 38, Sauer, Volksschullehrerbildung, S. 57–62 u. Kuhlemann, S. 276. 116 Vgl. Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 367. 117 Vgl. Supprian, S. 72. 118 Vgl. Sauer, Volksschullehrerbildung, S. 60. 119 Vgl. Bloth, Die Kirche in Pommern, S. 81. 120 Vgl. François, S. 758. 121 Vgl. den Artikel »Die Analphabeten der Provinz Pommern«, in: PBS, Jg. 16, 1892, S. 333.

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Eine dritte Phase umfassen letztlich die Jahre nach dem Erlass der Allgemeinen Bestimmungen des liberalen Kultusministers Adalbert Falk. Die Bestimmungen von 1872 erkannten die mehrklassige Volksschule an und schwächten den Religionsunterricht zugunsten der Realienfächer Geographie, Geschichte und Naturkunde. Weiterhin wurden der Turnunterricht und das weibliche Handarbeiten gestärkt.122 Wichtig ist auch, dass der Staat erstmals bereit war, den aus der Verfassungsurkunde von 1850 abgeleiteten finanziellen Absichtserklärungen Taten folgen zu lassen. Von 1871 bis 1877 verfünffachten sich unter Ausnutzung der französischen Reparationszahlungen die Aufwendungen für Volksschulen von 1,4 Mio. auf 6,5 Mio. Taler. 1905 umfasste der staatliche Anteil bereits 77,2 Mio. Mark,123 was zum Teil auch der 1884/89 eingeführten Schulgeldfreiheit geschuldet war. Auch die Lehrergehälter erhöhten sich sukzessive. 1885 verabschiedete das Abgeordnetenhaus ein Pensions- und 1897 ein allgemeines Diensteinkommensgesetz. Gemeinsam mit der spätestens seit 1872 erfolgenden Selbstorganisation der preußischen Lehrerschaft124 fand in dieser letzten Phase eine allgemeine Verberuflichung und erste Professionalisierung des Lehrerstandes statt. Spätestens für die achtziger Jahre kann man zudem von einer vollständigen Schulbesuchsquote sprechen. 1891 versäumten im Stettiner Bezirk lediglich 1,1 % der schulpflichtigen Kinder den Unterricht. Rechnet man zudem heraus, dass bei 1.355 dieser Kinder eine Ausnahmegenehmigung vorlag und 44 wegen Überfüllung der Klassen nicht aufgenommen werden konnten, ist bei 17 verbleibenden Personen (0,01 %) eine vollständige Schul­ besuchsquote zu konstatieren.125 Obwohl weiterhin kein allgemeines Unterrichtsgesetz in Preußen verabschiedet wurde, zeichnet sich somit die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts durch eine zunehmende Vereinheitlichung und damit auch vollendete Verstaatlichung des Schulwesens aus. Nur die Volksschullehrer, die Ende des 19. Jahrhunderts rechtlich mehr oder minder den mittleren Staatsbeamten gleichgestellt waren, fühlten sich hinsichtlich ihres Gehalts noch bis in die Zeit der Weimarer Republik hinein diskriminiert.126

122 Vgl. die Allg. Verfügung betr. Einrichtung, Aufgabe u. Ziel der preußischen Volksschule vom 15.10.1872. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 396–409. 123 Vgl. Lewin, S. 359 u. S. 440. 124 Vgl. Fischer, Volksschullehrerstand, Bd. 2, S. 438–440. 125 Vgl. die Tabelle Schulpflichtigkeit, Schulgebäude, Klassenräume, Lehrerwohnungen u. Landdotation der öffentlichen Volksschulen. Gedr. in: Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen, 1891, Theil II. 126 Vgl. Bölling, S. 75 f. u. S. 117 f. Siehe auch zum Vergleich der Lehrergehälter mit denen mittlerer Staatsbeamter Deppisch u. Meisinger, S. 257–261.

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1.2.2 Akteure der Hebung des Schulwesens In den Bestimmungen des ALR zur Organisation der Schulverwaltung auf dem Land und in den Städten wurden bereits sämtliche Akteure benannt, die für die Hebung des Schulwesens im 19. Jahrhundert wichtig waren. Da die Bestimmungen des ALR im Wesentlichen ihre Gültigkeit behielten, sind für diesen Prozess immer eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure von den einfachen Hausvätern als Mitglieder der Schulsozietäten über die Gutsherren bzw. Magistraten als Patrone und die Geistlichen in ihrer Rolle als Orts- und Kreisschulinspektoren bis zu den Beamten in den Bezirksregierungen und im Kultusministerium anzuführen. Die Aufzählung der Akteure ist dabei noch um die Landräte und den Oberpräsidenten zu ergänzen, da diese zum einen als Impulsgeber fungieren konnten, zum anderen aber auch als Beschwerdeinstanzen genutzt wurden, bzw. die Landräte in ihrer Zwitterrolle als Exekutionsorgan der Regierungen und als Vertreter der Kreisinteressen tätig waren. Zuletzt ist auf die Bedeutung der mit der Bildungspolitik in der Berliner Zentrale betrauten Persönlichkeiten zu verweisen. Neuerungen im Verhältnis zum ALR ergaben sich insbesondere in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. Während nach dem ALR die Gutsherren als Überbleibsel ihrer ehemaligen obrigkeitlichen Macht verpflichtet waren, Materialien für den Schulbau zu stellen und subsidiär die Gehaltszahlungen an die Lehrer zu unterstützen, wurde diese Bestimmung 1886 durch einen Ministerialerlass Bismarcks abgeschafft. Statt der Gutsherren hatte nunmehr der Staat die entsprechenden Mittel aufzubringen.127 Eine weitere allmähliche Veränderung in der Verteilung der Schullasten vollzog sich durch deren zunehmende Übernahme durch die politischen Gemeinden. Hierdurch entfiel insbesondere das komplizierte Erhebungsverfahren durch die Schulsozietäten. Stattdessen wurden die Schullasten neben den staatlichen Unterstützungen mehr und mehr aus den Gemeindeetats finanziert. 1906 hatten im Geltungsbereich des ALR bereits 76 % der Stadt- und immerhin 66,1 % der Landgemeinden die Schullasten von den Hausvätern über­ nommen.128 Umstellungen in der Verwaltung des städtischen Schulwesens ergaben sich zusätzlich nach 1853 mit der Einführung des Dreiklassenwahlrechts in den Kommunen. Die Folge dieser Neuerung war, dass der bisherige Einfluss der unteren Schichten nicht nur in den Stadtverordnetenversammlungen, sondern auch in den Schuldeputationen gegenüber dem Besitzbürgertum schwand.129 Nominell wurde nach dem Erlass des Schulaufsichtsgesetzes von 1872 die Bedeutung der Geistlichkeit in ihrer Rolle als Kreis- und Ortsschulinspektoren beschnitten. Insbesondere in zweisprachigen und gemischtkonfessionel127 Vgl. APS, NPPP, Nr. 7325, Ministerial-Reskript vom 31.3.1886. 128 Vgl. Loening, S. 84. 129 Vgl. Anderson, S. 1373 u. Fenske, S. 56.

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len Gegenden wurden zunehmend säkulare Kreisschulinspektoren eingestellt. 1891 wies die preußische Schulstatistik schon 254 der 960 Kreisschulinspektoren als solche aus. Allerdings galt für die drei protestantisch geprägten pommerschen Regierungsbezirke, dass hier weiterhin alle 95 Kreisschulinspektoren ihre Tätigkeit nur nebenamtlich zu ihren kirchlichen Ämtern ausübten.130 Da die Ortsschulinspektoren in der Regel weiterhin mit Pfarrern besetzt wurden, erhielt sich zumindest auf dem platten Lande die Machtstellung der Geistlichkeit bis ins 20. Jahrhundert. Trotz der bleibenden Bedeutung der Geistlichkeit ist außer der Rolle der einfachen Bevölkerung sowie der städtischen Magistrate und Stadtverordnetenversammlungen die Bedeutung der Bezirksregierungen zu betonen. Diese erhielten in der Schulverwaltung »eine Zuständigkeit zu selbständiger Ordnung der Rechtsverhältnisse […] in einem Umfange«, wie auf keinem anderen Gebiete.131 Aus diesem Spielraum leiteten sich die Verdienste der preußischen Bürokratie zum Aufbau eines funktionierenden Volksschulwesens ab. Zuletzt sollte freilich auch nicht die Rolle der »vierten Gewalt«, der im gesamten Verlauf des 19. Jahrhunderts sich in politischen und gesellschaftlichen Fragen auch in Pommern Stellung beziehenden Presse außer Acht gelassen werden. 1.2.3 Entwicklungsziele der Hebung des Schulwesens nach 1815 Die Entwicklungsziele der Hebung des Schulwesens im 19. Jahrhundert ergeben sich aus den einzelnen Bestimmungen und Verordnungen in den entsprechenden Sammlungen zum Unterrichtswesen des preußischen Staates, aus den Akten zur Hebung des Schulwesens in den Beständen der einzelnen Regierungen, den Forderungen der Lehrerbewegung und allgemein aus der Problemlage der zeitgenössischen Schulwirklichkeit. Als wichtigste Indikatoren für den Erfolg des niederen Schulwesens galten im 18. und 19. Jahrhundert die Analphabetenrate und die Schulbesuchsquote. In der Schilderung der Schulwirklichkeit des 18. Jahrhunderts wurde gezeigt, dass der Schulbesuch vor 1800 mangelhaft war. Dementsprechend bemühten sich die Bezirksregierungen und die Schulvorstände einen höheren sowie regelmäßigeren Schulbesuch zu erwirken und über diesen Hebel die Analphabetenrate zu senken. Ein zweites wichtiges Ziel war der Ausbau des Schulwesens und die sukzessive Ausdifferenzierung eines Schulsystems. Nicht mehr ausschließlich die ein-, sondern spätestens nach den Allgemeinen Bestimmungen von 1872 die mehrklassige Volksschule bildete das Entwicklungsziel. Dazu wurde im Laufe 130 Vgl. die Tabelle »Die Schulaufsichtsbezirke im preußischen Staate im Jahre 1892«. Gedr. in: Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen, 1891, Theil 1. 131 Vgl. Loening, S. 77 f. u. S. 80.

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des 19.  Jahrhunderts eine Hebung der Stadtschulen zu mittleren und höheren Bürgerschulen angestrebt, so dass sich im Laufe des 19.  Jahrhunderts zumindest in den Städten in Ansätzen ein dreigliedriges Schulsystem entwickeln konnte. Eine zunehmende Verberuflichung des Lehrerstandes und damit einher­ gehend eine Steigerung der Lehrergehälter blieb nicht nur bis in das 20. Jahrhundert hinein eine beständige Forderung der Lehrerbewegung, sondern auch des Kultusministeriums und der Regierungen. In der bereits von Friedrich II. 1768 geäußerten Vorstellung, dass höher bezahlte Lehrer auch bessere Lehrer seien,132 wurde somit über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg ein Kampf um die materielle Besserstellung geführt. Dass gerade in der Erfüllung dieses Entwicklungsziels Widerstände der einfachen Bevölkerung als Träger der Schul­ lasten zu erwarten waren, liegt auf der Hand. Als weiteres Entwicklungsziel wurde trotz zwischenzeitlicher politisch motivierter Stagnation zumindest mittelfristig eine Ausweitung des Lehrstoffs angestrebt. Spätestens nach dem Erlass der Allgemeinen Bestimmungen sollte der Unterricht nicht mehr nur der Elementarbildung in Religion, Lesen, Schreiben und Rechnen dienen, sondern auch Kenntnisse in Realienfächern wie Geo­ graphie, Geschichte und Naturkunde vermitteln. Zur Umsetzung dieser Entwicklungsziele war die aktive Mitwirkung der einfachen Bevölkerung in ihrer Rolle als Mitglieder der Schuldeputationen, aber auch als Erziehungspflichtige von entscheidender Bedeutung. Deshalb gehörte zuletzt auch das Entfachen eines größeren Engagements der Gemeinde zumindest indirekt zu den erklärten Zielen einer staatlich geförderten Bildungs­politik. Wichtig ist freilich, dass in den Augen des Staates und seiner Beamten bei der Weckung dieses Engagements niemals der Boden der Treue zu »Gott, König und Vaterland« verlassen werden sollte, d. h. die Hebung des Schulwesens immer nur als defensive Modernisierung zum Besseren der preußischen Monarchie verstanden wurde.

1.3 Die Hebung des pommerschen Schulwesens im 19. Jahrhundert Wie diese konkreten Entwicklungsziele im 19. Jahrhundert von den vorn aufgeführten Akteuren auf dem platten Land, den Klein- bzw. Mittelstädten und der Großstadt Stettin im Stettiner Regierungsbezirk angegangen worden sind und welche Widerstände und Schwierigkeiten auftraten, soll im Folgenden gezeigt werden.

132 Vgl. »Das Politische Testament von 1768«. Gedr. in: Volz, S.141.

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1.3.1 Die Durchsetzung des Schulbesuchs auf dem platten Land Der Erfolg bei der Hebung des preußischen Schulwesens wird am deutlichsten durch die Steigerung der Schulbesuchsquote und den Rückgang der Analphabetenrate markiert. Zur Untersuchung der Analphabetenrate im Preußen des 19. Jahrhunderts liegen abgesehen von den Volkszählungsergebnissen des Jahres 1871, Aufzeichnungen der Standesämter über die Signierfähigkeit der Eheleute aus dem Jahr 1882 und diversen Einzelerhebungen zur Lese- und Schreibfähigkeit von Strafgefangenen umfangreiche Daten zum Analphabetenanteil der jeweiligen Rekrutenjahrgänge des preußischen Militärs vor.133 Da diese Rekruten in der Regel erst wenige Jahre zuvor die Schule verlassen hatten, geben die Zahlen zumindest einen indirekten Aufschluss über den tatsächlichen Schulbesuch bzw. die Qualität des Unterrichts wieder. Die entsprechende Graphik zeigt deutlich den Trend zu einem massiven Rückgang der Analphabetenrate (vgl. Diagramm 1). Diagramm 1: Analphabetenrate bei Rekrutenprüfungen (1836–1895) 12,0 10,0

in Prozent

8,0 6,0 4,0 2,0 0,0

Preußen (alte Provinzen)

Pommern

Zusammengestellt nach: Block, S. 181–185.

133 Vgl. Block, S. 18 f.

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Während die Quote der illiteraten Rekruten in Preußen 1836 noch bei über 10 % lag, ging diese zur Jahrhundertwende auf unter 1 % zurück. Pommern und dort der Regierungsbezirk Stettin schneiden dabei dauerhaft besser als der Gesamtdurchschnitt ab. Schon in den zwanziger Jahren pendelte der Anteil der Analphabeten unter den pommerschen Rekruten lediglich zwischen 1–2 %. 1891/92 wurden von den 6.602 Rekruten nur 21, davon im Stettiner Bezirk marginale zwei (0,06 %), als Analphabeten ausgewiesen.134 Auch in den Angaben über die Analphabetenzahlen der Gesamtbevölkerung nach dem Zensus von 1871 (vgl. Diagramm 2) lag Pommern mit 13,3 % leicht unter dem preußischen Gesamtdurchschnitt (13,7 %). Allerdings war der Abstand hier deutlich geringer als bei der Rekrutenstatistik ausgeprägt. Es ist auffallend, dass von den drei pommerschen Regierungsbezirken erneut der Stettiner Bezirk als Bester abschneidet. Etienne François hat anhand der Zahlen dieses Zensus die These »zweier Preußen« aufgestellt. Tatsächlich lässt sich auf der Grundlage der Analphabeten­ daten der einzelnen preußischen Regierungsbezirke eine Linie von Nord nach Süd über die Bezirke Stralsund, Stettin und Frankfurt an der Oder ziehen. Während die Quoten aller Bezirke östlich dieser Linie zum Teil  um oder deutlich über 10 % liegen, finden sich im westlichen Staatsgebiet lediglich in den Bezirken Aachen (13,6 %) und Hildesheim (10,7 %) Werte, die ansatzweise dem Niveau des östlichen Staatsgebiets entsprechen. François erklärt die Daten etwa aus dem konfessionellen Gegensatz zwischen katholischen und protestantischen Gebieten. Tendenziell wiesen die eher katholisch dominierten Gebiete verhältnis­mäßig schlechtere Zahlen auf als die protestantischen. Da dieser konfessionelle Gegensatz im protestantischen Pommern nicht greift, misst François diesem Faktor allein keine alles erklärende Bedeutung bei. Wichtiger als die Konfession betont er den Einfluss der deutschen Sprachkenntnisse für die Höhe der Analphabeten­ rate. So fällt auf, dass die Provinzen mit den größten polnischen Bevölkerungsanteilen (Schlesien, Posen und Preußen), auch die höchsten Analphabetenraten aufweisen. Weil in Pommern lediglich im Regierungsbezirk Köslin mit 0,7 % ein nennenswerter nichtdeutscher Anteil an der Bevölkerung vorhanden war, lässt sich jedoch auch dieser Erklärungsansatz hier nicht anwenden. Aus diesem Grund führt François für die Ostprovinzen mit der niedrigen Bevölkerungsdichte, dem Zahlenverhältnis zwischen Stadt- und Land­bevölkerung sowie dem hohen Anteil von Gutsbezirken zusätzliche Faktoren ein, die einer höheren Analphabetenquote förderlich gewesen seien.135 Dass im von der Großstadt Stettin städtisch geprägten Stettiner Bezirk die Analphabetenrate niedriger ausfällt als im agrarisch dominierten Kösliner bzw. Stralsunder Bezirk, bestätigt die Re­ levanz dieser Faktoren. Vergegenwärtigt man sich, dass Pommern weder durch konfessionelle noch durch sprachliche Minderheiten belastet war, stellen die Angaben des Zensus 134 Vgl. PBS, Jg. 16, 1892, S. 332. 135 Vgl. François, S. 758–763.

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Diagramm 2: Analphabetenrate der preußischen Gesamtbevölkerung (1871) 40,0 35,0

in Prozent

30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 0,0

Zusammengestellt nach: François, S. 758.

von 1871 der pommerschen Schulbildung ein eher schlechtes Zeugnis aus. Deshalb sind die Daten der Rekrutenerhebungen umso bemerkenswerter, denn sie widersprechen dieser Analyse deutlich. Tatsächlich konkurriert Pommern sogar gemeinsam mit den Provinzen Sachsen, Westfalen und Brandenburg um die Spitzenposition im preußischen Staat.136 Die unterschiedlichen Zahlen lassen deshalb zwei Interpretationen zu: Zum einen ist es möglich, dass die statistischen Erhebungsmethoden bzw. die Beurteilungsmaßstäbe gegenüber dem Phänomen Analphabetismus bei den verschiedenen Studien in den Provinzen unterschiedlich gehandhabt worden sind. Da die preußische Statistik auf die subjektiven Einschätzungen der Erfassenden angewiesen war, ist dieser Faktor nicht zu niedrig anzusetzen. Zum anderen ist die Lesart möglich, dass die pommersche Gesamtbevölkerung zwar einen ­hohen Analphabetenanteil aufwies, der illiterate Anteil der Rekruten, also derjenigen Personen, die gerade erst aus der Schule entlassen worden waren, deshalb so niedrig ausfiel, weil die Hebung des pommerschen Schulwesens verhältnismäßig positiv voranschritt. Mit einer solchen Interpretation wäre die hohe Analphabetenrate von 1871 als ein Phänomen der älteren, teilweise noch ohne jeden Schulbesuch aufgewachsenen Bevölkerung zu bewerten. Beide Interpretationsmuster bleiben freilich vorerst Spekulation. Es ist hervorzuheben, dass die 136 Vgl. Block, S. 194.

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Zahlen der Rekrutenprüfungen jedenfalls nicht mit dem häufig gepflegten Bild eines mangelhaften pommerschen Schulwesens übereinstimmen.137 Wenn sowohl das genaue Ausmaß als auch die Bewertung der pommerschen Daten im Vergleich mit den anderen preußischen Provinzen nicht präzise er­ folgen kann, sind doch einige wichtige Trends hervorzuheben. Die Rekrutenstatistik zeigt, dass die wichtigsten Erfolge im Kampf für die Alphabetisierung in der ersten Jahrhunderthälfte und nach dem Erlass der Allgemeinen Bestimmungen von 1872 erzielt worden sind. Außerdem hatten die unruhige Zeit der Revolution von 1848/49 und die restaurative Wende nach den Stiehlschen Regulativen keine allzu großen negativen Auswirkungen auf die Analphabetenquote. Zwar sank die schon niedrige Rate nicht weiter ab, sie blieb aber zumindest konstant. Bemerkenswert für den Reformwillen der Stettiner Regierung in den vier­ ziger Jahren ist in jedem Fall, dass sie sich der weitaus schlechteren Rahmenbedingungen, wie etwa des hohen Fremdsprachenanteils, anderer Bezirke durchaus bewusst war und deshalb selbst die Erscheinung, dass bei den Rekruten »von 100 mehr als Einer ohne alle Schulbildung befunden ist,« als bedenklich einstufte und die Landräte dazu aufforderte, »alles auf[zu]bieten […] einem jeden vernünftigen Menschen nöthige Schulbildung zu einem Gemeingut zu machen.«138 Neben den verschiedenen Möglichkeiten, Aussagen über die Literalität zu treffen, gibt die preußische Statistik Angaben zum Schulbesuch schulpflichtiger Kinder. Ähnlich den Daten zur Analphabetenrate geben die Angaben der offiziellen Schulstatistiken den Trend wieder, dass die entscheidenden Fortschritte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemacht worden sind. Wieder folgen die pommerschen Daten und speziell des Regierungsbezirks Stettin ziemlich genau dem gesamtpreußischen Durchschnitt. Die Zahlen machen allerdings deutlich, dass die Schulbesuchsquote zu Beginn des Jahrhunderts niedrig war (1816 in Preußen: 60 %, Pommern: 62 %) und erst in den achtziger Jahren die allgemeine Schulpflicht tatsächlich verbindlich gemacht werden konnte.139 Da die ersten preußischen Verordnungen in den Jahren 1717 und 1763 ergangen waren, dauerte es demnach mehr als ein Jahrhundert, diese Bestimmungen erfolgreich umzusetzen. In der schulgeschichtlichen Literatur werden die Daten oft unkritisch übernommen.140 Hierbei wird oft übersehen, dass die preußischen Statistiker ihren 137 Vgl. ebd., S. 152. 138 Vgl. APS, SPSz, Nr. 663, Reskript der Reg. St. an alle Landräte, Stettin 4.12.1843. 139 In Gesamtpreußen stieg die Quote 1840 auf 81 %, 1871 auf 92 % sowie 1890 auf 99,8 % und in Pommern 1840 auf 76 %, 1864 auf 86 % und 1890 auf 99,5 %. 1840 ist festzustellen, dass der Bezirk Stettin mit einer Schulbesuchsquote von 80,6 % die Bezirke Köslin (72,9 %) und Stralsund (66,2 %) wieder deutlich hinter sich ließ. Vgl. eigene Berechnungen auf der Grundlage von Lewin, S.  213 u. S.  313, Block, S.  198, Statistische Bureau, passim, ­Leschinsky, S. 144. 140 Vgl. Kuhlemann, S. 107 u. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 478.

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eigenen Zahlen kaum trauten und wesentlich höhere Schulbesuchsquoten schätzten. Beispielsweise ging der Leiter des preußischen Statistikamts Hoffmann bereits 1840 von einer tatsächlichen Schulbesuchsquote von über 90 % statt der nach den offiziellen Tabellen nachzuweisenden ca. 80 % aus.141 Selbst wenn diese Schätzungen eventuell etwas zu hoch gegriffen wären, ist demnach schon für die Mitte des 19.  Jahrhunderts von einer Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht auszugehen. Entscheidender für die Untersuchung des Erfolgs der preußischen Schul­ verwaltung sind allerdings nicht die Angaben, wie viele Kinder, statistisch betrachtet, eine Schule besuchten, sondern Daten, inwieweit die namentlich in den Schultabellen aufgeführten Kinder, überhaupt regelmäßig zur Schule gingen. Genau diese Frage stand spätestens seit den dreißiger Jahren im Mittelpunkt der Tätigkeit der preußischen Schulverwaltung. Insbesondere der letztlich auch von der Schulverwaltung akzeptierte Arbeitseinsatz der Kinder in den Erntemonaten, aber auch die langen Schulwege auf dem Land und die gewerbliche Kinderarbeit in den Städten verhinderten einen regelmäßigen Schulbesuch und damit einen effizienten Unterricht. Um ein Instrument zum Vorgehen gegen die Schulversäumnisse in Pommern zu schaffen, wurde auf dem Provinziallandtag von 1834 im breiten Konsens eine weitgehende Bestimmung verabschiedet.142 Man reagierte auf das als erfolglos geltende Verfahren, welches bereits 1829 Strafen von einem Pfennig pro versäumten Tag vorgesehen hatte.143 Grundsätzlich wurde festgelegt, dass die Einhaltung eines regelmäßigen Schulbesuchs »zunächst Sache der Gemeinde« sei. Zur Kontrolle hatte der Lehrer dafür zu sorgen, den Schulvorstehern mindestens alle drei Monate ein Verzeichnis der Versäumnisse einzureichen. Daraufhin sollten die betreffenden Eltern und Vormünder vom Schulvorstand vorgeladen und entsprechend belehrt werden. Auf dem Land war vorgesehen, den Prediger und die Ortsobrigkeit, etwa den Gutsherren, hinzuzuziehen. Erst bei der Wiederholung eines unerlaubten Versäumnisses konnten die Ortspolizei­ behörden Strafen in der Höhe von ein bis 20 Silbergroschen bzw. im Falle des Unvermögens auch Gefängnisstrafen verhängen. Die Höhe einer Gesamtstrafe war hierbei auf einen Taler und 20 Silbergroschen bzw. im Fall des Unvermögens auf 24 Stunden Gefängnis beschränkt. Die Gefängnisstrafen sollten in den Städten vom Magistrat und auf dem Land vom Landrat vollstreckt werden. Dieser hatte zudem mindestens halbjährlich Berichte der Ortsgeistlichen über die Höhe der Schulversäumnisse entgegenzunehmen. Die Strafgelder sollten den Schulkassen zufließen. Das Einlegen von Rechtsmitteln gegen eine Strafverfügung war nicht gestattet, lediglich der Beschwerdeweg gegenüber den Landräten 141 Vgl. Hoffmann, S. 162. 142 Vgl. APS, NPPP, Nr. 281, Prot. der 16ten u. 17ten Sitzung, 21. bzw. 22.1.1834. 143 Vgl. APS, NPPP, Nr. 281, Prot. der 11ten Sitzung, 6.3.1829. Es hatte bereits vor 1829 nominell Strafbestimmungen gegeben, die aber kaum durchgesetzt wurden. Vgl. Petition der Stände vom 15.2.1827. Gedr. in: Vhdl. des Prov.-Landtages, Bd. 2, 1827, S. 21 f.

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stand den betroffenen Eltern offen. Zudem wurde ein Katalog von genehmigten Versäumnissen verabschiedet. Zu den tolerierten Versäumnissen gehörten demnach  – ähnlich wie heute  – die Krankheit des Kindes, die Pflege von erkrankten Angehörigen, Todesfälle in der Familie und eine »stürmische Witterung«. Daneben konnten die Schulvorstände auch Ausnahmegenehmigungen etwa bei »Reisen der Eltern, Gebrauch des Kindes bei nothwendigen Ernte-Arbeiten, zur Wartung kleiner Geschwister, und zu vorübergehenden dringenden häuslichen Geschäften«144 erteilen. Bemerkenswert ist die Vielzahl der unterschiedlichen Akteure, die in der Verordnung benannt werden. Tatsächlich finden sich von den Schülern über deren Eltern, die Lehrer, die Schulvorsteher, die Prediger, die Schulzen, den Magistrat und den Landrat alle Instanzen, die für die Hebung des Schulwesens entscheidend waren. Zugleich wird anhand der Vielzahl dieser Personen deutlich, wie sehr die Umsetzung des Landtagsabschieds vom Zusammenspiel der diversen Instanzen abhing, bzw. wie schwierig sich letztlich eine Umsetzung ergeben würde. Die ungenauen Bestimmungen der bedingt erlaubten Versäumnisse und ihre Genehmigung durch die lokalen Schulvorstände weisen zudem darauf hin, wie weit die Durchsetzung eines regelmäßigen Schulbesuchs vom Durchsetzungswillen der örtlichen Gewalten abhängen sollte. Die Regelung des Landtagsabschieds von 1835 blieb während des gesamten 19. Jahrhunderts verbindlich, denn ein für den gesamten Staat geltendes Gesetz zur Behandlung der Schulversäumnisse konnte nie umgesetzt werden.145 Lediglich die Höhe der Geldstrafen wurde zeitgemäß angepasst. Beispielsweise setzte die Stadt Stettin 1875 den Höchstwert der Strafgelder auf zehn Mark fest.146 1887 ersetzte eine Anpassung des Landtagsabschieds den Ortsprediger durch den Ortsschulinspektor, was folgenlos blieb, weil auf dem Land beide Ämter bis 1918 in Personalunion geführt wurden.147 Obwohl die entsprechende Verfügung 1835 in einer Auflage von 1.500 Stück an sämtliche Unterbehörden der Schulverwaltung des Regierungsbezirks ging und in den nächsten Jahren mehrfach im Stettiner Amtsblatt und im Schriftverkehr der Regierung wiederholt wurde, ergaben sich in der Umsetzung diverse Schwierigkeiten. Zwar bewerteten die Landräte in einer ersten Evaluation 1836 das neue Verfahren als zweckmäßig, jedoch regte sich auf den unteren Ebenen der Schulverwaltung Protest. Auf dem Land verhinderten die Schulvorsteher und Dorfschulzen ein strenges Vorgehen. Im ersten Jahr der Verordnung ent144 Vgl. den Prov.-Landtagsabschied für Pommern vom 28.5.1835, in: Vhdl. des Prov.-Land­ tages, Bd. 5, 1834, S. 38–41. 145 Vgl. den Vorbericht zum 1883 vorgelegten Gesetzesentwurfs. Zit. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 41–44. 146 Vgl. APS, RSz, II, Nr.  7148, Anfrage der Stadtschuldeputation bei der Reg. St., Stettin 1.10.1875 u. Genehmigung des Kultusministeriums, Berlin 28.12.1875. 147 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 7147, Entwurf zur Anweisung für die Behandlung der Schulversäumnisse, Stettin 12.3.1887.

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schuldigte etwa der Amtsintendant von Swinemünde das mangelnde Engagement der lokalen Obrigkeiten mit dem Hinweis, dass auf der Insel Usedom »die Mehrzahl der Schulzen aus Leuten [bestehe], welche in ihrer Jugend wenig oder gar keinen Schul-Unterricht genossen haben und deshalb auf denselben nicht den gehörigen Werth legen […].«148 Als allein im Anklamer Kreis zwischen 1835 und 1839 in 37 nachzuweisenden Monaten 6.059 Kinder erfasst wurden, die innerhalb eines Monats mehr als acht Tage unentschuldigt gefehlt hatten, forderte die dortige Kreispolizeibehörde eine Vereinfachung des Verfahrens. Wie in eigentlich allen Beschwerdefällen wich die Regierung in diesem Fall allerdings nicht vom Wortlaut der Bestimmung ab.149 Man kann sagen, dass sich die höhere Verwaltung zwar nach den erlassenen Vorschriften richtete. Entscheidend für die Verwaltungsrealität war aber, inwieweit die ausführende untere Ebene diese dann umsetzte. Die Landräte bekundeten ebenfalls ein relativ großes Interesse für die Verfolgung der Schulversäumnisse. Ihr Handlungsspielraum beschränkte sich jedoch dadurch, dass sie auf die eingehenden Berichte der Ortsgeistlichen in ihrer Funktion als Schulinspektoren angewiesen waren. Bis weit in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts finden sich in den Akten die Klagen der Landräte, dass die meisten Pfarrer dieser Vorschrift gar nicht oder nur nach mehrfacher Beschwerde und Maßregelung nachkamen. Als 1842 die Regierung in einem Reskript konstatieren musste, dass viele der Schulinspektoren in der Berichtspflicht »nur eine nutzlose Förmlichkeit« sähen, griff jene zwischenzeitlich sogar zur Androhung von Ordnungsstrafen.150 Regierung und Landräte setzten sich in der Maßregelung der betreffenden Geistlichen freilich Schranken, denn sie wollten aufgrund von ordnungspolitischen Motiven nicht das Ansehen der Pastoren in der Gemeinde schädigen. Nachdem etwa der Landrat von Ueckermünde 1855 im Kreisamtsblatt das Reskript von 1842 öffentlich bekannt gemacht hatte, protestierte sofort das Konsistorium, was eine Rüge des Landrats durch die Regierung zur Folge hatte.151 Mit solchen Rücksichtsnahmen konnte die Berichtspflicht der Pastoren freilich nicht durchgesetzt werden, hatten die Maßregelungen doch ohne öffentlichen Druck im Stillen zu erfolgen. Gerade die Sorge um ihre »seelsorgerische Wirksamkeit und Autorität« inner­halb der Schulgemeinde veranlasste die Pastoren, ihr Engagement in der Verfolgung von Schulversäumnissen merkbar zu drosseln.152 Auch die mangelnde Befolgung der Bestimmungen durch die Lehrer und die Schulvorstände bzw. der Ortspolizeibehörden war zumeist der Angst vor einer drohenden Isolierung in der Gemeinde geschuldet. Zwar reagierten die Schulvorstände nach 148 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 7146, Schreiben an Reg. St., Swinemünde 7.10.1835. 149 Vgl. ebd., Polizei-Behörde an Reg. St., Anklam 19.10.1839. 150 Vgl. ebd., Verordnung der Reg. St., Stettin 6.1.1842. 151 Vgl. ebd., Schreiben der Reg. St. an den Landrat des Ueckermünder Kreises Balke, Stettin 13.4.1855. 152 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 7148, Reg. St. an Superintendent Lengerich von Demmin über den Fall des Pastors Berger, Stettin 20.10.1868.

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höherer Ermahnung den Vorschriften entsprechend, jedoch setzten sie ihr »­lästiges Geschäft, mit dem sie nicht gern etwas zu thun haben […], weil es ihnen Zeit raubt und nichts einbringt, ihnen Aerger und Feindschaft bereitet […]« zumeist schnell wieder aus.153 Um die Dorfschulzen in der Exekution der Schulstrafen zu motivieren, genehmigte die Regierung 1862 in der Parochie Zirchow auf der Insel Usedom deshalb zwischenzeitlich sogar die extraordinäre Betei­ ligung der Vorstände in der Höhe von 2 % der erbrachten Strafgelder. Vergeblich hatten die Schulräte in diesem Fall im Vorfeld den ehrenamtlichen Charakter des Schulvorstands unterstrichen.154 Im Vergleich zu den einfachen Gemeindemitgliedern waren die Pastoren und Lehrer freilich noch am ehesten dazu bereit, die Versäumnislisten zu führen. Letztlich scheiterte das Verfahren dann oft an den Schulvorständen und Polizeibehörden, die diese Listen nicht weiter zur Kenntnis nahmen. Weil zuverlässige Daten über das Ausmaß der Versäumnisse nur dann vor­ liegen, wenn die vielfachen Instanzen auch tatsächlich im Interesse einer Hebung des Schulwesens zusammengearbeitet haben, sind Aussagen über die ganze Dramatik dieses Phänomens nur exemplarisch zu geben. Außer den vielfachen in den Akten unsystematisch archivierten Versäumnistabellen finden sich etwa Angaben über den tatsächlichen Schulbesuch in den Visitationsberichten der einzelnen Synoden des Stettiner Bezirks. In den Berichten der Super­ intendenten Klamroth und Fischer der Synode Pasewalk wird beispielsweise für die Jahre 1840 bis 1852 deutlich, dass selbst im Winter jeweils 15–35 % der Schüler den Unterricht versäumten. Bei den im Sommerhalbjahr stattfindenden Visitationen fehlte in Einzelfällen bis zur Hälfte der Schüler.155 Wie in anderen ländlichen Gebieten Preußens156 wuchs insbesondere im Zusammenhang mit den Unruhen der Jahre 1847 bis 1849 die Zahl der Schulversäumnisse. Im Juli 1848 berichtete der Superintendent Klamroth nach der Visitation der Schulen der Parochie Ferdinandshof, dass der Schulbesuch »seit den Märztagen sehr vernachlässigt [werde], da die Behörde nicht mehr den Muth zu haben scheint, das Gesetz zu handhaben.«157 Im folgenden Jahr beklagte er sich desillusioniert, wie unter solchen Verhältnissen »die Volksschule die Jugend zur konstitutionellpolitischen Reife heran bilden soll.«158 Es verwundert daher nicht, dass das schulische Interesse der Bewohner in den Visitationsberichten dieser Jahre äußerst negativ bewertet wurde. »Gemeinde ist ziemlich gleichgültig«, »zeigt nur ein geringes Interesse«, »beweist wenig Theilnahme«, »hat noch kein entschiedenes sittliches Interesse an der Schule«, »sittlich sehr verwildert und 153 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 7146, Ortsgeistlicher an Reg. St., Brünken 25.10.1859. 154 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 5919, Reg. St. an Domainenamt Zirchow, Stettin 22.9.1862. 155 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 3777, passim, Schulvisitationsberichte der Synode Pasewalk, 1840–1868. 156 Vgl. Rummel, S. 125 f. 157 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 3777, Bericht des Superintendenten Klamroth an Reg. St., Pasewalk 26.7.1848. 158 Vgl. ebd., Bericht des Superintendenten Klamroth an Reg. St., Pasewalk 11.9.1849.

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ermangelt daher auch im Allgemeinen des rechten Sinnes für die Schule« stellen repräsentative Äußerungen dar.159 Auch die Visitationsberichte anderer Synoden geben ein ähnliches Bild wieder. In den Inseldörfern der Synode Usedom konkurrierte der Einsatz der Kinder zur Erntearbeit mit Hilfsdiensten in der Fischerei. Dazu stießen als beson­ deres Problem des entstehenden sommerlichen Badetourismus die Bedienung der Badegäste, das Betteln und das Sammeln von Waldbeeren.160 Bei den Schulvisiten der Landschulen im Demminer Bereich der Jahre 1843 bis 1858 findet sich zwar zumeist eine recht positive Bewertung des winterlichen Schulbesuchs. Die verkürzte Sommerschule, beurteilte der zuständige Superintendent Lengerich indes ebenfalls als »mangelhaft«. Die Versäumnislisten würden entweder gar nicht erst verfasst oder einfach ignoriert. Hierfür machte der Superintendent die Gleichgültigkeit des sich häufig aus Tagelöhnern rekrutierenden Schulvorstands verantwortlich. Dazu hob Lengerich die Scheu der Vorstände, sich »mit den betroffenen Familien zu verfeinden,« hervor.161 Das Problem blieb auch in den sechziger und siebziger Jahre virulent. Insbesondere die Dörfer der Stettiner Landgemeinde sind als drastische Fälle anzuführen. Nachdem im Schuljahr 1866/67 bei den 5.288 Schülern der Stettiner Landgemeinde über 127.059 versäumte Unterrichtstage festgestellt worden waren,162 tolerierte die Schulabteilung sogar eine kurzzeitige Aussetzung der Schulstrafen. Die Regierung ging in diesem Fall davon aus, dass die verarmte Bevölkerung die entsprechenden Lasten sowieso nicht aufbringen könne.163 Im exemplarisch ausgewählten Dorf Unterbredow wurden noch in den Jahren 1876 bis 1882 jeden Monat 15–25 % der Schüler eines unerlaubten Schulversäumnisses überführt. Im Schuljahr 1876/77 versäumten die dortigen 590 Schüler insgesamt 18.824 Schultage, woraus sich Strafen in der Höhe von 1.702 Mark und 15.142 Stunden Gefängnis ergaben.164 Ein letzter Fall illustriert, dass diese Versäumnisse durchaus dem direkten Zwang der Arbeitgeber vor Ort geschuldet sein konnten. 1884 beschwerte sich der Ortsschulinspektor Pastor Tannenbaum über die Schulverhältnisse auf den im Besitz der Gräflich von Arminschen Familie befindlichen Gütern Böck und Nassenheide bei Grambow. Laut dem Bericht des Pastors übte der dortige Amtsvorsteher und gleichzeitige Patronatsvertreter gemeinsam mit seinen Inspektoren eine regelrechte Zwangsherrschaft über die Tagelöhnerfamilien aus. Diese würden vom Amtsvorsteher, der »hier auftritt als wäre er der Grundherr selbst«, 159 Vgl. ebd., Visitationsberichte mit Bewertung des Gemeindeengagements, 1840–1852. 160 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 5919, Bericht des Superintendenten Hildebrandt an Reg. St., Usedom 10.8.1861. 161 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 792, Schulvisitationen der Synode Demmin, 1843–1858. 162 Vgl. APS, RSz, II, Nr.  7148, Übersicht der Schulversäumnisse in den Schulen der Land­ gemeinde Stettin, Stettin 20.10.1867. 163 Vgl. ebd., Reg. St. an Domainen-Amt Bredow, Stettin 4.2.1868. 164 Vgl. APS, SPSz, Nr. 666, Schulversäumnislisten diverser Gemeinden des Kreises Randow für die Jahre 1876–1882.

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unter der Androhung von Geldstrafen und Schlägen dazu gezwungen werden, ihre Kinder vom Schulbesuch abzuhalten. Stattdessen müssten die Tagelöhnerfamilien auch des Sonntags und »selbst am Buß- und Himmelfahrtstag« arbeiten. Die meisten Schüler hätten deshalb in den letzten fünf Jahren monatlich mehr als 20 Tage gefehlt. Manche der Tagelöhnerkinder seien seit über einem Jahr nicht mehr in der Schule erschienen. Der Lehrer hatte es offensichtlich über Jahre nicht gewagt, diese Missstände anzuzeigen, da ihm die sofortige Ent­ lassung angedroht worden sei.165 Auf dem platten Land konnte deshalb von einem regelmäßigen Schulbesuch kaum die Rede sein. Erst in den achtziger Jahren besserten sich die Zustände. Extreme Fälle wurden nunmehr auch von der Verwaltung als Ausnahme gekennzeichnet. Die Klagen in den Akten der Schulbehörden verstummten sukzessive. Im Rahmen seiner 1892 erstellten Studie über die »Verhältnisse der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland« urteilte schließlich auch Max ­Weber, dass in den Regierungsbezirken Stettin und Stralsund nunmehr die »Schulversäumnisse […] eine weniger regelmäßige Erscheinung zu sein [scheinen]« als in den übrigen östlichen Provinzen.166 Das größte Hemmnis in der Umsetzung der Schulpflicht auf dem platten Land stellte die Kinderarbeit dar. Insbesondere in den ärmsten Gemeinden der Provinz konnte dieser mit dem offiziellen Strafkatalog nicht effektiv begegnet werden. Da ein Kind immer mehr Geld verdiente, als die Eltern an Strafgeldern aufzubringen hatten, blieb die Kinderarbeit selbst bei der auf dem Lande selten genug erfolgten Exekution der Schulstrafen eine wichtige Ergänzung des Familienetats. Die Gefängnisstrafen verfehlten erst Recht ihre Abschreckungskraft, denn sie konnten des Nachts abgesessen werden und umfassten pro Delinquenten zumeist nur wenige Stunden. Ein Domainenverwalter berichtete 1855, dass er »mehr als ein Mal, […] aus dem Mund dieser Querulanten gehört [habe], daß die Gefängnisstrafen eine Wohltat für sie seien, weil sie im Gefängnisse verpflegt, außer demselben aber hungern müssten.«167 Im welchen Maß die pommerschen Schüler noch Ende des 19. Jahrhunderts landwirtschaftliche Arbeiten durchführten, belegt eine Umfrage des Organs des Pommerschen Lehrervereins aus dem Jahr 1896 (vgl. Diagramm 3). Auf der Grundlage der Daten von 250 Landschullehrern, die Auskünfte über ihre 271 Schulklassen bzw. 15.441 Schüler gegeben hatten, waren zu diesem Zeitpunkt rund 22,5 % aller pommerschen Schüler regelmäßig in der Landwirtschaft beschäftigt. Dieses entsprach in etwa dem preußischen Durchschnitt.168 Allerdings geben auch diese Daten nur bruchstückhaft die Schulwirklichkeit wieder, denn ein Großteil der Lehrer hatte sich entweder aus Gleichgültigkeit, in einem 165 Vgl. ebd., Pastor Tannenbaum an Reg. St., Böck bei Grambow 24.10.1884. 166 Vgl. Weber, S. 334. 167 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 7148, Schreiben eines Domainenverwalters an Reg. St., 29.3.1855. 168 Nach einer Umfrage aus dem Jahr 1903 waren zu diesem Zeitpunkt 19,8 % der preußischen Schüler auf dem Land gegen Lohn beschäftigt. Vgl. Simon, S. 5–31.

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Diagramm 3: Kinderarbeit in Pommern auf dem Land (1896) gewerbl. Arbeiten 1% Tabakaufziehen 1%

versch. Arbeiten 16% Kartoffelernte 40%

Jagdtreiber 1% Forstkultur 1% Kornhacken 2% Torf- u. Gartenarbeit 3% Rübenarbeit 4% Heu- u. Kornernte 5%

Hüten 17%

Hüten u. Kartoffelernte 9%

Zusammengestellt nach: PBS, Jg. 20, 1896, S. 194–196, S. 202–204 u. S. 210–212.

Fall jedoch explizit aus Angst gegenüber der Reaktion der Ortsobrigkeit nicht an der Umfrage beteiligt. Aufschlussreich ist die Betrachtung der jeweiligen Beschäftigung. Hier wird deutlich, dass das Viehhüten und die diversen Erntearbeiten zur häufigsten Beschäftigungsart von Schülern gehörten. Dabei illustrieren einige anonymisierte Einzelbeispiele die strukturellen Unterschiede der verschiedenen pommerschen Landesteile. Während mancherorts gar keine bezahlte Kinderarbeit existierte, gab es einige Schulklassen, in denen über 75 % der Schüler mit dem Vieh­hüten, Erntearbeiten und anderen Tätigkeiten belastet wurden. Nach Angaben der Lehrer war ungefähr die Hälfte der Familien arbeitender Kinder auf diesen Zusatzverdienst angewiesen,169 wobei hier zu berücksichtigen ist, dass die Zahlen von 1896 sicherlich um einiges niedriger ausfielen, als noch in der Mitte des Jahrhunderts. Zur Bekämpfung der der Kinderarbeit geschuldeten Schulversäumnisse war die Schulverwaltung gezwungen, pragmatisch Kompromisse mit der länd­lichen 169 Vgl. den Artikel »Die Lohnarbeit schulpflichtiger Kinder im landwirtschaftlichen Betriebe der Provinz Pommern«, in: PBS, Jg. 20, 1896, S. 194–196, S. 202–204 u. S. 210–212. Ausführlich ausgewertet auch bei Meffert, S. 85–87.

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Tradition einzugehen. Die Einrichtung flexibler Ferien in der Erntezeit diente hierzu als ein probates Mittel. Während in den Städten nach einer Bestimmung von 1870 neben den kirchlichen Feiertagen Weihnachten (bis einschließlich Neujahr), Ostern und Pfingsten fünf Wochen und zwei Tage beliebig auf die Ernte- und Michaelisferien sowie die städtischen Jahrmärkte und Feste verteilt werden konnten,170 wurde auf dem Land 1875 eine Gesamtzahl von vier Wochen für die Ernte- und Michaelisferien festgelegt. Indes zeigte sich auch hier schnell, dass insbesondere die für die Einbringung der Kartoffelernte notwendigen Michaelisferien von kaum einem Kreisschulinspektor durchzusetzen waren und deshalb ständig Streitigkeiten zwischen den Ortsschulinspektoren und den Gemeinden ausbrachen. Aus diesem Grund wurden die Ferien auf dem Land 1885 auf insgesamt sechs Wochen ausgedehnt.171 Daneben reagierte die Verwaltung auch bei schlechter Witterung pragmatisch und genehmigte kurzfristig Ausnahmen und Verlängerungen der Ferienzeiten.172 Zwar mag diese Flexibilität bzw. dieses Zugehen der Regierung auf die Bedürfnisse der Landwirtschaft und damit der Gutsbesitzer als »rückständig«, »zynisch« oder als »absichtliches Programm der Bildungsbeschränkung« erscheinen,173 jedoch sollte der Verwaltungswille zu einer schrittweise und pragmatisch durchgeführten Hebung des Schulwesens nicht unterbewertet werden. Dieser Pragmatismus zeigte sich schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der sukzessiven Einrichtung der Sommerschule. Da die meisten Schulen während der Sommermonate unbesucht blieben, hatte die Schulabteilung die Landgemeinden seit 1819 dazu gedrängt, ein entsprechendes Institut einzuführen. In jedem Dorf sollte ein Schulunterricht von wenigstens zwölf Wochenstunden garantiert werden. In Rücksicht auf die ländliche Tradition räumte die Regierung in ihrer Argumentation zwar den wünschenswerten Nutzen einer Gewöhnung der Kinder an die landwirtschaftliche Arbeit ein. Zudem wurde es den Schulvorständen freigestellt, den älteren Schülern lediglich einen sechsstün­ digen Lehrkursus anzubieten. Sie wies die unteren Behörden jedoch ausdrücklich dazu an, dem trotz dieser Zugeständnisse an die Tradition zu erwartenden Widerstand mit »rücksichtsloser Strenge« zu begegnen.174 Schließlich verordnete die Regierung 1856 auch für die älteren Schüler eine Mindestzahl von zwölf Wochenstunden. Weiterhin legte sie fest, dass der Sommerlehrplan erst am 1. Mai statt am 1. April zu beginnen hatte und höchstens bis zum 31. Oktober dauern durfte.175 Wieder ist hervorzuheben, dass diese be170 Vgl. APS, SPSz, Nr. 664, Reskript der Reg. St., Stettin 23.2.1870. 171 Vgl. APS, SPSt, Nr. 542, Reg. St. an alle Kreisschulinspektoren, Stettin 30.1.1885. 172 Vgl. APS, SPŁ, Nr. 688, Reg. St. an alle Landräte, Stettin 13.10.1902. 173 Vgl. etwa zu dieser Bewertung des ländlichen Volksschulwesens in Preußen im 19. Jhdt. insbesondere bezogen auf die Kinderarbeit u. die Schulfinanzierung Berg, S. 385–406. 174 Vgl. APS, SPSz, Nr. 663, Reg. St. an alle Landräte, Kreisbehörden, Domainenämter u. Magistrate, Stettin 21. u. 22.3.1819. 175 Vgl. Amtsbl. Stettin, Nr. 11, 14.3.1856, S. 72–74.

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scheidene Unterrichtsausweitung in der reaktionären Phase der Stiehlschen Regulative angestrebt wurde. Obwohl die im Pommerschen Lehrerverein organisierten Landschullehrer in den siebziger Jahren verstärkt für die Abschaffung der Sommerschule und die Ausweitung des Unterrichts auf das normale Niveau von bis zu 30 Wochenstunden plädierten,176 blieb es in den meisten Landgemeinden während des gesamten 19.  Jahrhunderts bei dieser Behelfseinrichtung. Insbesondere die ablehnenden Stimmen der Kirchenvertreter, Landgemeinden und Gutsbesitzer verhinderten ein weiteres Vorgehen der Regierung. Der ehemalige Superintendent Hildebrandt begründete etwa seine öffentliche Ablehnung der Abschaffung der Sommerschule mit dem Argument, dass es sinnvoll sei, die Kinder früh »dienend und lernend zum künftigen Beruf« vorzubilden, zumal auch das notdürftig erlernte Kochen der Knaben eine wichtige Vorbereitung auf das Soldatenleben sei.177 Selbst bei dieser in den Pommerschen Blättern für die Schule deutlich als Minderheitenmeinung gekennzeichneten Äußerung drückt sich freilich kein zynisches Konzept zur Ausbeutung der Kinder der unterbürger­ lichen Schichten aus, sondern die ultrakonservative Einstellung eines zu diesem Zeitpunkt bereits im Ruhestand stehenden Superintendenten, der im gleichen Artikel darauf verwies, seinen eigenen Sohn auf die Elementarschule geschickt zu haben. Immerhin ging in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Anteil der eingeschränkten Halbtags- zu Gunsten der mehrstündigen Ganztagsschulen zurück. Von 1.090 Schulen des Stettiner Bezirks waren 1882 nur noch 52 als Halbtagsschulen organisiert. Damit unterschritt der Stettiner Regierungsbezirk den preußischen Landesdurchschnitt mit 4,8 % um mehr als die Hälfte. Der hohe Anteil von Halbtagsschulen im gesamtpreußischen Durchschnitt (9,1 %) resultierte allerdings aus den desolaten Verhältnissen in den Bezirken mit einem hohen katholischen bzw. polnischen Bevölkerungsanteil (Anteil der Halbtagsschulen im Bezirk Breslau 41,3 %, in Posen 19 %, in Minden 42,9 %, dagegen etwa in Düsseldorf 0,8 %).178 Sonst ging die Verwaltung zur Förderung des Schulbesuchs gegen den über die Erntezeiten hinausgehenden Arbeitseinsatz vor. Wenn auch die Aussage Frank-Michael Kuhlemanns, dass die Frage der Kinderarbeit auf dem Lande »völlig ungeregelt« blieb,179 nicht in ihrer Absolutheit zu halten ist, muss doch darauf hingewiesen, dass sie im Gegensatz zur gewerblichen Kinderarbeit lediglich den unteren und mittleren Verwaltungsbehörden zur Regelung überlassen wurde. Hieran trug auch die Stettiner Regierung eine Mitverantwortung, in 176 Vgl. etwa derartige Forderungen in den Artikeln »Die Sommerschule«, in: PBS, Jg. 1, 1877, S. 49–52 u. »Die Halbtagsschule«, in: PBS, Jg. 1, 1877, S. 113–117. 177 Vgl. den Gastartikel des ehemaligen Superintendenten Hildebrandt »Die Sommerschule«, in: PBS, Jg. 3, 1879, S. 305–311. 178 Vgl. Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 367 f. 179 Vgl. Kuhlemann, S. 124.

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dem sie 1847 eine Anfrage des Kultusministers Eichhorn, inwieweit eine gesetzliche Reaktion auf die ländliche Kinderarbeit erforderlich sei, mit der Aussage, dass im hiesigen Bezirk keine Ausnutzung von Schülern vorkäme, negativ beschied.180 Allerdings verbot die Stettiner Regierung früher als in den anderen östlichen Bezirken Preußens181 den Einsatz von Hütejungen vor der erfolgten Konfirmation. Außerdem wurden 1852 Strafgelder in der Höhe von zehn Talern gegen diejenigen Arbeitgeber festgesetzt, die Kinder während der Schulzeit in Arbeit nahmen.182 Da die Verordnung von 1844 gegen die Verwendung von Hüte­ jungen nur mangelhaft umgesetzt wurde, ersetzte man diese 1878 durch eine lockere Bestimmung. Demnach galt ein Einsatz von Schülern als Hütejungen als erlaubt, wenn diese das elfte Lebensjahr erreicht hatten und bereits »fertig lesen und schreiben« konnten. Schüler, »welche im letzten Jahr vor der Konfirmation stehen« sowie »diejenigen, welche bereits im Jahr vorher im Viehhütedienst gestanden und die Schule nicht regelmäßig besucht haben,« durften dagegen unter Strafandrohung nicht zur Arbeit eingesetzt werden. Zudem wurden die Arbeitgeber verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die betroffenen Kinder wenigstens am frühen Morgen zwei Stunden täglich die Schule besuchten.183 Sowohl die Tatsache, dass gleich für dieses Jahr eine Ausnahmegenehmigung getroffen wurde, als auch die vorn zitierten Umfrageergebnisse zur Kinderarbeit belegen jedoch, dass das Problem weiterhin akut blieb. Während die Lehrerbewegung in den siebziger Jahren gegen das Problem der Kinderarbeit auf dem Land anschrieb,184 unterwarfen sich Regierung, Landräte und Geistlichkeit zumeist der ländlichen Tradition bzw. den tatsächlichen und vermeintlichen ökonomischen Zwangslagen. Weiterhin wird deutlich, dass im Fall der Kinderarbeit häufiger die Sorge um die sittlichen Gefahren der Schüler als um den Bildungsstand im Mittelpunkt stand. Nach den zur Studie des Vereins für Socialpolitik eingereichten Generalberichten wurde ein nachteiliger Einfluss der Kinderarbeit von den Gutsbesitzern bestritten und nur auf die Gefahr einer Verwilderung hingewiesen.185 Auch der bereits zitierte Superintendent Hildebrandt forderte 1879, dass die Hirtenjungen statt der Schulmaterialien Strickzeug mitführen sollten. Dieses lenke die Kinder von einer sittlichen Gefährdung ab und bringe zudem den Familien einen zusätzlichen ökonomischen Gewinn 180 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 7146, Reg. St. an Minister Eichhorn, Stettin 22.6.1847. 181 Vgl. Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 73–79. 182 Vgl. Amtsbl. Stettin, 12.11.1852, S. 389 f. 183 Vgl. APS, SPSz, Nr. 664, Verordnung der Reg. St. betr. des Schulbesuchs der Hütekinder, Stettin 28.3 1878. 184 Vgl. etwa den Artikel »Kommt bei uns auf dem Lande eine übermäßige, die Gesundheit u. Erziehung schädigende Ausnutzung schulpflichtiger Kinder zu landwirtschaftlichen Arbeiten vor? Wenn ja, welche Veranstaltungen können von Seiten der Schule getroffen werden, um den gedachten Nachteilen zu begegnen, bezw. dieselben zu verhindern?«, in: PBS, Jg. 11, 1887, S. 102–106. 185 Vgl. Weber, S. 335.

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ein.186 Wenn man eine solche Forderung auch zeitgenössisch als Ausnahme zu bewerten hat, ist darauf hinzuweisen, dass die Frage der »sittlichen Verwahr­ losung« der Schuljugend immer ein beliebtes Beschwerdethema der Schulverwaltung des 19. Jahrhunderts war. Verhielt sich die Schulabteilung in der Regel kompromissbereit, griff sie immer dann ein, wenn der Schulbetrieb für Teile der Gemeinde ganz zu erlöschen drohte. Dieses war etwa 1855 im Kirchspiel Sophienhof in der Nähe Demmins der Fall, als mehrere Bauern bei den dortigen Schulbehörden anfragten, ob die Hütejungen nicht vollständig freigestellt werden könnten. In seinem Gutachten für den Kreisschulinspektor wies der dortige Pastor Sonntag an­gesichts des Widerspruchs gegenüber der Bestimmung von 1844, wonach Unkonfirmierten die Beschäftigung als Hütejungen untersagt sei, darauf hin, dass es mit dieser Bestimmung, »wie mit andern auf dem Gebiet der Kirche und der Schule erlassenen Verordnungen so [sei], daß die ausführenden Beamten auf große Schwierigkeiten stoße[n]« würden.187 Nach einer kurzen Erörterung des Für und Wider der vorgeschlagenen Neuregelung lehnte der Pastor den Vorschlag ab, denn er wolle keine »Pariahs«, die »von Kirche und Schule ausgeschlossen« sein. Auch den Hinweis der Bauern, dass durch ein solches Verfahren der Schulbesuch der übrigen Kinder gesteigert werden könne, tat er als »Kriegslist« ab.188 Die auf Vorschlag der Gemeinde erfolgte Verlegung des sonntäglichen Gottesdienstes auf eine frühere Uhrzeit habe schließlich ebenfalls nicht den versprochenen zahlreicheren Kirchenbesuch erbracht. Nachdem sich auch der Superintendent Lengerich diesem Urteil mit dem einschränkenden Hinweis, dass eine vollständige Exekution der Vorschriften die Inspektoren in Konflikt mit der Gemeinde bringe, angeschlossen hatte, lehnte der Schulrat Graßmann das Vorhaben ab. In seinem Antwortbescheid appellierte er auch an die Menschenfreundlichkeit der dortigen Gutsbesitzer.189 Freilich reichte dieser Appell nicht aus, um das Problem der Schulversäumnisse zu lösen. Bei der nächsten Visitation im Jahre 1857 erschienen in einer der betroffenen Schulen erneut 32 von 81 Schülern nicht zum Visitationstermin.190 Hieran ist zu erkennen, dass Fälle, die bis auf die Ebene der Regierung stießen, zwar von dieser den Vorschriften entsprechend beschieden wurden, die Schulräte jedoch vor drakonischen Zwangsmitteln zurückschreckten und somit häufig vergeblich auf den guten Willen aller Beteiligten vertrauten. Langfristig betrachtet war ein solches Vorgehen jedoch pragmatischer und damit ertragreicher als ein konfliktreiches konfrontatives Vorgehen, denn ein solches System berücksichtigte mit Ausnahme der Hütejungen die Interessen aller Beteiligten. 186 Vgl. den Artikel »Die Sommerschule«, in: PBS, Jg. 3, 1879, S. 305–311. 187 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 792, Gutachten des Pfarrers Sonntag, Hohenbolltin 27.8.1855, Schulrat Graßmann an Demminer Superintendenten Lengerich, Stettin 29.9.1844. 188 Ebd. 189 Ebd. 190 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 792, Visitationsbericht des Superintendenten Lengerichs, Demmin 11.11.1857.

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Außer der materiellen Argumentation einer der ländlichen Armut geschuldeten Kinderarbeit findet sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Anführung religiöser Gründe eine immaterielle Argumentation für Schulversäumnisse, in der sich auch der Aspekt der Säkularisierung widerspiegelt. Infolge der Separation von der protestantischen Landeskirche weigerten sich in den dreißiger und vierziger Jahren viele Eltern, ihre Kinder in die Dorfschulen zu schicken.191 Solange keine eigenen altlutherischen Gemeindeschulen errichtet und von der Regierung bestätigt worden waren, ahndeten die Behörden zumindest nominell diese Versäumnisse genauso wie die gewöhnlichen. Dabei hielt sich die Schulverwaltung an die vom Kultusministerium vorgegebene Linie, dass der Separatismus »als etwas ganz Abnormes zu betrachten ist, und es sich hoffen läßt, daß derselbe in seiner jetzigen Gestaltung sich auf die Dauer nicht erhalten […] werde.«192 Auch der Oberpräsident der Provinz Pommern, von Bonin, mischte sich 1839 in seiner Funktion als Vorsteher der Stettiner Regierung in die Diskussion um die Bestrafung der Schulversäumnisse von Separatisten ein. Aus der Besorgnis heraus, Präzedenzfälle zu schaffen,193 sah er es als unabdinglich an, die entsprechenden Versäumnisstrafen zu exekutieren. Zugleich verlangte von Bonin jedoch »eine wohlwollende Nachsicht«. Es sei die »Pflicht der Behörde, nicht nur den Dissidenten gegenüber jeden Schein der Parthei­ lichkeit sorgfältig zu verhindern, sondern auch die gesetzlichen Strafen nicht ein­ treten zu lassen, ohne daß vorher eine vollständige wohlmeinende Belehrung vorausgegangen [sei].«194

Diese Vorschrift war nicht nur ein Ausdruck des grundsätzlich ausgleichenden Moments der höheren pommerschen Verwaltung, sondern vermutlich auch der guten Kenntnisse der örtlichen Befindlichkeiten, die von Bonin als Vertreter der dortigen Ritterschaft, früherer Vizepräsident des Stettiner Bezirks und als Regierungspräsident der Separatistenhochburg Köslin hatte.195 Zudem muss generell bedacht werden, dass separatistische Gedanken inzwischen auch in der pommerschen Provinzialverwaltung Anhänger gefunden hatten. Mit dem ­Stettiner Dirigenten für Kirchen- und Schulangelegenheiten von Mittelstaedt war beispielsweise, vom preußischen Staatsministerium toleriert, ein früherer Konventikelgänger an führender Stelle im pommerschen Schulwesen tätig.196 Ein auf Ausgleich bemühtes Vorgehen der Verwaltung gegenüber den Alt­ lutheranern zeigte sich auch in der Behandlung der häufigen Beschwerden der Separatisten gegen in ihren Augen unchristlich auftretende Lehrer und Ins191 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16036, Ztgsb. Mai 1837, Stettin 6.6.1837 u. Nr. 16038, Ztgsb. März 1839, Stettin 5.4.1839. Siehe auch den Kreis Cammin betr. APS, RSz, II, Nr. 7146, Bericht des Landrats Voeltz, 23.6.1840. 192 APS, RSz, II, Nr. 7146, Kultusminister von Altenstein an Reg. St., Berlin 9.3.1840. 193 Ebd., Oberpräsident v. Bonin an Camminer Landrat Voeltz, Stettin 4.6.1839. 194 Ebd. 195 Vgl. zur Oberpräsidentschaft v. Bonins allg. Branig, S. 96 f. 196 Vgl. zu diesem Fall Rathgeber, S. 8 f.

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pektoren. Um etwa den fehlenden Schulbesuch einiger separatistischer Familien im mehrheitlich von Altlutheranern bewohnten Amt Stepenitz im Kreis Cammin zu rechtfertigen, erhob der dortige altlutherische Pfarrer Odebrecht schwere Vorwürfe gegen den Dorflehrer. Dieser sei das »unwürdigste Mitglied der Preußischen Landeskirche« und sei mehrfach mit Ehebruch, Schlägereien und diversen Betrügereien aufgefallen. Obwohl laut der Regierung der damit angesprochene Lehrer Wergien nur einmal wegen »unzüchtigen Zumuthungen gegen die Ehefrau eines Matrosen« behördlich angezeigt, von den Vorwürfen aber freigesprochen worden war, entließ ihn die Regierung kurzerhand. Zugleich wies der Kultusminister Eichhorn, der inzwischen ebenfalls in den Fall eingeschaltet worden war, die Regierung an, Odebrecht wiederum aufgrund der Verleumdung der Bezirksbehörden gerichtlich zu belangen.197 Kultusministerium und Regierung urteilten also salomonisch, wobei der Lehrer mit seiner Entlassung sicherlich am härtesten getroffen wurde. Das Problem der Separatisten er­übrigte sich schließlich nach 1845, als die lutherischen Gemeinden von der Regierung anerkannt wurden und danach auch eigene Bekenntnisschulen eingerichtet werden konnten.198 1.3.2 Die Durchsetzung des Schulbesuchs in den Städten Auch in den mehrheitlich agrarisch geprägten199 Klein- und Mittelstädten des Bezirks musste noch bis weit in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts gegen das Problem der Schulversäumnisse angekämpft werden. Hier lässt sich die R ­ egel aufstellen: Je kleiner und landwirtschaftlicher eine Stadt geprägt war, desto zahlreicher waren auch die Versäumnisse. Anders als die Schulvorstände der ländlichen Gemeinden waren die Stadtschuldeputationen jedoch grundsätzlich eher dazu bereit, in einem größeren Maße gegen die Schulversäumnisse vorzugehen. Vergleichbar mit dem platten Land stellte sich das Problem der Schul­ versäumnisse in Kleinstädten wie Jarmen (Einwohnerzahl nach dem Zensus von 1871: 1.655) oder Plathe (2.090) dar. Beide Städte konnten nur je eine einzelne nicht über das Elementarschulwesen hinausgehende Schule anbieten. Da Kinder aus armen Familien arbeiten oder betteln gehen mussten, hatten die Regierung und die Schulinspektoren bis weit in die siebziger Jahre hinein, eine hohe Zahl an Schulversäumnissen zu tadeln. Aufgrund der Armut der Bevölkerung wurden zwar regelmäßig Strafgelder angesetzt, jedoch erst seit den sech197 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 7149, gesamter Vorgang u. a. mit dem Schreiben des Kultusministers Eichhorn an den Pastor Odebrecht, Berlin 23.2.1848. 198 Vgl. die entsprechenden Nachrichten im Amtsbl. Stettin in den Jahren 1847–1853. 199 Vgl. die in Karten dargestellte soziostrukturelle Prägung der pom. Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. bzw. in den dreißiger Jahren des 20. Jhdts. bei Stępiński, Auf dem Weg zur Moderne, S. 256 f. u. Landeszentrale für politische Bildung MV, S. 89.

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ziger Jahren auch tatsächlich eingezogen. Die Stadt Plathe verzichtete aufgrund der hohen Kosten für den Stadthaushalt sogar grundsätzlich auf die Vollziehung von Gefängnisstrafen.200 Das Reformbestreben der Schulinspektoren wurde zudem dadurch konterkariert, dass auch Magistratsmitglieder Hütejungen beschäftigten.201 Aufgrund des geringen Schulbesuchs unterstellten die Inspektoren in J­ armen der Gemeinde »keine Erkenntniß von dem Werthe und der Wichtigkeit der Schule« zu besitzen202 bzw. diese nur »als eine Last« zu empfinden.203 Immerhin gründeten Jarmener Bürger einen Verein zur Unterstützung bettelnder Kinder, der seit 1855 dieser Erscheinung zu begegnen versuchte.204 Das Problem der Hütekinder in Plathe besserte sich erst, nachdem die Regierung 1858 die Einrichtung einer Armenklasse durchgesetzt hatte und die Stadt zum Aufspüren säumiger Kinder einen Schuldiener anstellte, wodurch erstmals die Schul­strafen exekutiert werden konnten.205 Auch in den mittelgroßen Städten wie Gollnow (Zensus von 1871: 7.241 Einwohner), Greifenhagen (6.608), Demmin (8.361), Anklam (10.532) und Stargard (16.427) blieb das Problem der Schulversäumnisse, des Bettelns und der Kinderarbeit virulent. Da in diesen Städten aber das Schulsystem früh ausdifferenziert worden war, reduzierte sich das Problem der Schulversäumnisse auf die so genannten Frei-, Armen- bzw. Nebenschulen. Obwohl man an diesen unteren Schultypen wie auf dem Land einen reduzierten Sommerunterricht anbot, verharrte der Besuch dort ebenfalls bis in die siebziger Jahre hinein auf einem unregelmäßigen niedrigen Niveau. Kinder wurden hier nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der gewerblichen Arbeit eingesetzt. Mit der Gründung von Sonntagsschulen garantierte man in Stargard und Demmin seit den vierziger Jahren arbeitenden Kindern wenigstens einen rudimentären Unterricht. In Demmin wurde diese Schule mittels eines besonderen Schulgeldes und der eingehenden Strafgelder finanziert.206 Die in Stargard gegründete Lehrlingsschule ließ 1844 bereits 150 Lehrlinge des Sonntags in fünf Klassen von Lehrern der Stadtschule unterrichten. Während die Stadt die Heizkosten aufbrachte, bezahlte ein gemein­ nütziger Verein die Lehrerhonorare.207 Ähnliche Sonntags- und Abendschulen

200 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 2113, Magistrat der Stadt Plathe an Reg. St., Plathe 4.2.1863. 201 Vgl. ebd., Schulinspektor Wetzel an Reg. St., Plathe 16.6.1857 bzw. 16.9.1862. 202 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 946, Visitation der Stadtschule Jarmen, 29.10.1856. 203 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 2113, Visitation der Stadtschule Plathe, 6.7.1852. 204 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 946, Bericht der Stadtschuldeputation pro Michaelis 1852/57, Jarmen 6.3.1855. 205 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 2113, Berichte des Magistrats u. der Stadtschuldeputation an Reg. St., Plathe 4./5.2. u. 17.6.1863. 206 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 850, Demminer Magistrat an Reg. St., Demmin 21.6.1842. 207 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16042, Ztgsb. Jan. u. Feb. 1844, 6.3.1844.

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rief man auch anderenorts ins Leben. Die Regierung unterstützte diese Gründungen, wenn immer es möglich war. In den wirtschaftlichen Krisenjahren der späten vierziger Jahre machten die Schulbehörden auf das Problem aufmerksam, dass verarmte Eltern ihre Kinder zum Betteln einsetzten. 1847 wurden die ländlichen Güter und Bauerndörfer im Umkreis von Demmin offenbar in einem solchen Umfang durch »herum­lungernde und bettelnde« Stadtkinder behelligt, dass die betroffenen Gutsbesitzer bei der Regierung Protest einlegten. Zu diesem Zeitpunkt stand das Schulwesen nach der Aussage des Kreisschulinspektors angeblich kurz vor der Auflösung.208 Allerdings besserte sich auch dieses Problem nach 1849. Außer der Regierung, den Schulinspektoren und zunehmend auch den Stadtschullehrern setzten sich in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts auch die Magistrate und Stadtschuldeputationen für einen regelmäßigen Schulbesuch ein. Zwar standen hinter der Einstellung von Schuldienern und der Exekution der Schulstrafen weiterhin die Initiativen der Schulräte, Inspektoren und Rektoren, jedoch zeigt die Aktenlage, dass zumindest in den späten siebziger Jahren die Höhe der Schulversäumnisse vom Massen- zum Randphänomen herabsank. Auch in einigen pommerschen Städten resultierten Schulversäumnisse aus religiösen Gründen. Von 1839 bis 1842 verweigerten separatistische Gemeindemitglieder aus Cammin und Gollnow ihren Kindern den Schulbesuch. Hier wurden ebenfalls schwere Anschuldigungen gegenüber Lehrern, Schulinspektoren und Schulvorstehern vorgebracht. Angeblich diffamiere ein Lehrer die Propheten als »dumme verrückte Kerle« und lehre, »welches die schönsten Mädchen in der Stadt« seien und »wie die Kuh Kinder und Kälber kriegt«. Deshalb wolle man lieber »Maater und Qual leiden« als die eigenen Kindern »solcher Lehre preißgeben«.209 Während der Magistrat auf die Anschuldigungen sichtlich verärgert reagierte und die Vorwürfe lediglich als »gewöhnliche Redensarten der Separatisten« abtat,210 reagierten Regierung und Landratsamt auf Neutralität bedacht. Der Schulrat Graßmann wies zwar die Beschwerdeführer darauf hin, dass sie selbst dann verpflichtet seien, ihre Kinder in die Schule zu schicken, wenn die Beschwerden zutreffend wären, zugleich gab er jedoch an, die Vorwürfe gewissenhaft zu prüfen.211 In der anschließenden zweijährigen Ermittlung konnten diese freilich nicht bestätigt werden. Unter dem nach Milde strebenden Hinweis des Landrats, dass er nicht glaube, »daß allen diesen An­ gaben Bosheit zu Grunde liegt«, sah die Verwaltung jedoch von Verleumdungsklagen gegen die Beschwerdeführer ab. Ansonsten reagierte das Landratsamt mehr oder weniger resigniert.212 208 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 850, Superintendent Lengerich an Reg. St., Demmin 18.10.1847. 209 APS, RSz, II, Nr. 1652, Beschwerdeschreiben separatistischer Gemeindemitglieder an Reg. St., Gollnow 23.11.1839. 210 Vgl. ebd., Magistrat an Reg. St., Gollnow 30.11.1839. 211 Vgl. ebd., Reg. St. an Kürschnermeister Albrecht, Stettin 5.5.1840. 212 Vgl. ebd., Landratsamt an Reg. St., 23.5.1840.

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Nachdem die Verwaltung mehrfach versucht hatte, den Konflikt zu beruhigen, ebbten die Proteste schließlich ab. So gab der Zeitungsbericht für den Monat Oktober 1842 an, dass die meisten Separatisten von Gollnow und Umgebung ihre Kinder wieder zur Schule schickten.213 Auf die Exekution von Strafgeldern wurde offensichtlich verzichtet. Die Behörden beharrten demnach im Falle der Versäumnisse von Altlutheranern grundsätzlich auf der Durchsetzung der Schulpflicht, bei der Festsetzung von Strafen gingen sie jedoch verhältnismäßig zurückhaltend und auf Ausgleich bedacht vor. 1.3.3 Die Durchsetzung des Schulbesuchs in der Großstadt Stettin In Stettin erreichten die Schulversäumnisse in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts dramatische Ausmaße. Noch in den zwanziger Jahren wurden deshalb nur diejenigen Eltern ermahnt, deren Kinder mehr als 20 Tage im Quartal fehlten.214 Angesichts der über 3.000 zu beaufsichtigenden Schüler sah sich die Stadtschuldeputation nach dem Erlass der Bestimmungen des Allgemeinen Provinziallandtagsabschieds von 1835 sichtlich überfordert. Die städtische Schulverwaltung lehnte insbesondere die Vorladung der renitenten Eltern als zu aufwändig und nutzlos ab. Stattdessen sollten die Strafen sofort durch den Magistrat erhoben werden.215 Obwohl noch 1835 die ausbleibende Erhebung von Strafgeldern gegenüber der Regierung entschuldigt werden musste, meldete die Stadtschuldeputation für das zweite Quartal 1836 über 300 erfolgte Verurteilungen.216 Die Schul­ abteilung der Regierung genehmigte das verkürzte Verfahren und wies sogar darauf hin, dass eine »buchstäblich[e]« Befolgung des Wortlauts der Straf­ bestimmungen auf Schwierigkeiten stoßen müsse. Um »dem Wesen der Sache« zu genügen, sollten säumigen Schülern Verwarnungszettel für die Eltern mitgegeben werden.217 Als Folge dieses Verfahrens summierten sich die Schulstrafen bereits 1840 auf mehr als 100 Taler jährlich, die der Armenkasse zuflossen. Die Gesamtzahl der verhängten Gefängnisstrafen war um ein Vielfaches höher.218 Da auch die Einwohnerschaft Stettins in den dreißiger Jahren zumindest noch in Teilen agrarisch geprägt war, versuchte die Stadtschuldeputation die Schulversäumnisse u. a. mittels einer Ausweitung der Ernteferien zu verringern.219 Zur Durchsetzung der Schulpflicht auch gegenüber den in den Fabriken beschäftigten Kindern errichtete die Stadt bereits 1829 eine Fabrikschule, 213 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16041, Ztgsb. Okt., 6.11.1842. 214 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 4957, Stadtschuldeputation an Reg. St., Stettin 23.11.1827. 215 Ebd., Stadtschuldeputation an Reg. St., Stettin 3.6.1836. 216 Vgl. ebd., Magistrat an Reg. St., Stettin 3.9.1836. 217 Vgl. ebd., Reg. St. an Magistrat, Stettin 22.9.1836. 218 Vgl. APS, RSz, II, Nr.  5090, Jahresbericht der Stadtschuldeputation von 1840, Stettin 3.2.1841. 219 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 4957, Reg. St. an Stadtschuldeputation, Stettin 11.7.1839.

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die einen wöchentlichen Unterricht von acht Stunden ermöglichte. 1855 erweiterte der Magistrat diese in eine Zwangseinrichtung für verwahrloste Kinder und junge Erwachsene.220 Tatsächlich besserte sich der Schulbesuch nach einem kurzen Einbruch in den Jahren 1847/48 wesentlich. 1849 beurteilte der Stadtschulinspektor Mehring die Versäumnisse als »immer noch nicht zufriedenstellend, aber im Verhältniß zu den der früheren Jahre vollkommen befriedigend.«221 Trotz der positiven Entwicklung beklagte die Schuldeputation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fortlaufend, dass sich ein Restbestand der Schulversäumnisse nicht beseitigen lasse. Da bereits 1858 Kinder mit einem Tageslohn von acht Silbergroschen ein Vielfaches der potentiellen Schulstrafe verdienten, sah sich die städtische Schulbehörde in diesem Jahr dazu genötigt, einige besonders auf­ fallende Schüler gänzlich der Erziehungsgewalt der Eltern zu entziehen. Diese drakonische Maßnahme wurde vom städtischen Schulrat Alberti mit Verweis auf die schlechte Vorbildwirkung und die drohende Verwahrlosung gerechtfertigt.222 Nachdem der potentielle Tageslohn 1875 auf eine Höhe von 1,50–2 Mark gestiegen war, erwirkte die Stadtschuldeputation zudem beim Kultusministerium die Erlaubnis, die Versäumnisstrafen auf zehn Mark zu erhöhen.223 Diese Initiativen aus den Reihen der städtischen Selbstverwaltung und Teilen der lokalen Lehrerschaft stellen gegenüber den Schulbehörden der kleineren Städte und dem platten Land eine Besonderheit dar. Daher reduzierte sich die Rolle der Regierung und der geistlichen Schulinspektoren in der Großstadt mehr und mehr auf die eines zustimmenden Beobachters, während sie auf dem Land als die eigentlich treibenden Kräfte in der Bekämpfung der Schulversäumnisse zu charakterisieren sind. Durch Kinderarbeit bedingte Schulversäumnisse blieben bis zum Ende des 19.  Jahrhunderts durchaus ein Problem. Allerdings belegt eine Umfrage zur städtischen Kinderarbeit aus dem Jahre 1893 (vgl. Diagramm 4), dass mit einem Anteil von 547 von 11.113 schulpflichtigen Kindern (4,9 %) in Stettin eine weitaus geringere Zahl arbeitete als etwa in Berlin. Dort lag der Anteil arbeitender Kinder 1898 mit 12,8 % mehr als doppelt so hoch.224 Im Gegensatz zur Kritik der Pommerschen Blätter für die Schule am über­ mäßigen Arbeitseinsatz von Kindern in der Landwirtschaft, fiel die Bewertung dieser Zahlen recht positiv aus. Der Artikel hob lobend hervor, dass die Lehrer bei 55,3 % der arbeitenden Schüler keinen nachteiligen Einfluss auf das Unterrichtsverhalten festgestellt hätten. Dass um vier Uhr morgens einsetzende Zeitungsaustragen sei im Übrigen für den »kindlichen Frohsinn« ungefährlich 220 Vgl. ebd., Magistrat an Reg. St., Stettin 8.5.1855. 221 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 4957, Stadtschulinspektor Mehring an Reg. St., Stettin 30.10.1849. 222 Vgl. ebd., Jahresbericht über das städtische Schulwesen von 1857, Stettin 20.5.1858. 223 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 7148, Stadtschuldeputation an Reg. St., Stettin 1.10.1875 u. Reskript des Kultusministeriums, Berlin 28.12.1875. 224 Vgl. Feldenkirchen, S. 42.

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Diagramm 4: Kinderarbeit in Stettin (1893) Blumenhandel Kegelaufsetzen 1% Garten- oder Feldarbeit 6%

Sonstiges 5%

4%

Laufburschen bzw. Laufmädchen 18%

Aufwartung bzw. Kinderpflege 23%

Austräger von Zeitungen, Milchu. Backwaren 43%

Zusammengestellt nach: PBS, Jg. 17, 1893, S. 266 f.

und die nachmittägliche Arbeit beuge dem »Umherstrolchen« vor. Lediglich das nächtliche Kegelaufsetzen und den Blumenhandel lehnte der Verfasser als Quelle sittlicher Gefährdung ab.225 1.3.4 Der Ausbau des Schulwesens und die Ausdifferenzierung eines Schulsystems auf dem platten Land Spätestens seit Julius von Massows Wirken226 wurde in der pommerschen Schulverwaltung eine näher auf die Bedürfnisse der Schüler eingehende Ausdifferenzierung des provinzialen Schulwesens diskutiert. Noch in den zwanziger Jahren erachtete man in den meisten Landkreisen freilich erst einmal den Neubau weiterer Schulgebäude als Voraussetzung halbwegs den didaktischen Anforderungen entsprechender Bedingungen als Hauptproblem. Bevor das Schulwesen ausdifferenziert werden konnte, mussten also erst Schulgebäude finanziert werden, die menschenwürdige Lern- und Lehrbedingungen ermöglichten. 225 Vgl. den Artikel »Gewerbliche Nebenbeschäftigung schulpflichtiger Kinder in Stettin«, in: PBS, Jg. 17, 1893, S. 266 f. Ausführlich ausgewertet bei Meffert, S. 84 f. 226 Vgl. Massow, S. 76–143, S. 181–260 u. S. 361–395.

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Wenn auch die umfangreichen Baumaßnahmen nach Sacks Antritt als Oberpräsident in dieser Hinsicht die größten Übel beseitigten, hatten im Stettiner Regierungsbezirk selbst 1891 noch von 1.840 ländlichen Gemeinden und Gutsbezirken 813 keine eigenen Schulen vorzuweisen. Mit einer tatsächlichen Schuldichte von 56 % lag der Bezirk knapp auf dem Niveau des preußischen Gesamtdurchschnitts (58 %) und damit deutlich vor dem Stralsunder (39 %) aber eindeutig hinter dem Münsteraner Bezirk (199 %).227 Bevor die in der Regel einklassigen von einem Lehrer geführten Landschulen mit weiteren Klassen und Lehrern erweitert werden konnten, floss ein Großteil der finanziellen Mittel der Verpflichteten in den Neubau und die Reparatur der Schulstuben. Allein zwischen 1819 und 1823 wurden im Stettiner Bezirk der Bau oder die Reparatur von 147 Schulen angegangen.228 Dabei wehrten sich die Gemeinden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufig gegen den Bau neuer Schulen.229 Infolgedessen beklagte sich exemplarisch noch 1850 der Superintendent, dass in einer Schule seines Bezirks die 75 Schüler »in einem kellerartigen dumpf und widrig riechenden Gemach wie die Neger auf dem Sklavenschiffe zusammengedrängt sitzen« müssten.230 Da der Staat erst Ende des 19.  Jahrhunderts bereit war, größere Summen in das Volksschulwesen zu investieren, waren die Gemeinden auf die Unter­ stützung von Gutsbesitzern in ihrer Funktion als Patrone und die Spenden privater Personen angewiesen. Die Schulabteilung der Regierung versuchte, ein solches freiwilliges Engagement zu unterstützen, indem sie entsprechende Spenden im Stettiner Amtsblatt erwähnte und zur Nachahmung empfahl. Zudem führte eine positive Erwähnung in den amtlichen Zeitungsberichten in Einzelfällen zu einer Belobigung aus Berlin. Zwar finden sich über das gesamte 19.  Jahrhundert hinweg immer wieder Beispiele, in denen Gutsbesitzer mehr Mittel zur Ver­fügung stellten, als ihnen durch das ALR auferlegt waren, doch zeigen die stetigen Appelle und wiederholten Klagen in den Visitationsberichten, dass dies eher die Ausnahme als die Regel bildete. Nach Ausweis der im Amtsblatt abgedruckten Schenkungslisten für das Kirchen- und Schulwesen im Regierungsbezirk Stettin suchten die einfachen Gemeindemitglieder ihr Seelenheil weniger über den Umweg der Förderung des Schulwesens, als über den Kauf von Kerzen, Kreuzen und Altardecken für die Kirchen. Die mangelnde finanzielle Förderung legte das ländliche Schulwesen bis weit in das 20.  Jahrhundert hinein auf die einklassige Landschule fest. Von einer Ausdifferenzierung des Schulwesens kann man auf dem platten Land deshalb 227 Vgl. Tabelle »Die Ausstattung der Gemeindeeinheiten mit Volksschulen 1882, 1886 u. 1891«. In: Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen 1891, Theil I. 228 Vgl. GStAPK, I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkab., j.P, Nr. 16021, Ztgsb. Dez. 1822, 4.1.1823. 229 Vgl. die negativ beschiedene Petition der Stände der Provinz Pommern, dass nicht mehr die Kirchen- u. Schulabteilung der Stettiner Regierung alleine über den Neubau von Schulen zu entscheiden habe. In: Vhdl. des Prov.-Landtags, Bd. 6, 1837, S. 86–98. 230 APS, RSz, II, Nr. 792, Bericht des Superintendenten Lengerichs an die Reg. St., Demmin 10.8.1850.

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kaum sprechen. Der 1848 kurzzeitig in den liberalen Börsennachrichten an­ geregte Vorschlag, die Landschulen wenigstens den in der Regel mehrklassigen städtischen Elementarschulen gleichzustellen, fand keinen Niederschlag, zumal der Autor des entsprechenden Artikels selbst darauf hinwies, dass »Vielen dies als eine vielleicht noch für Jahrzehnte unmögliche Forderung erscheinen wird«.231 Tatsächlich gab noch die Schulstatistik der achtziger und neunziger Jahre an, dass 84,5 % der 1.090 Schulen des Regierungsbezirks als einklassige Ganztags- oder zweiklassige Halbtagsschulen von nur einer einzigen Lehrkraft geführt wurden. Die Quote lag deutlich über dem gesamtpreußischen Durchschnitt von 69,8 % und spiegelte die ländlich geprägte Schulwirklichkeit wider.232 Immerhin stieg der Anteil der Klassen, in denen eine »normale« Schülerfrequenz von weniger als 80 Kindern erreicht wurde, zwischen 1882 und 1891 von 59,8 % auf 70,1 % an.233 Dass diese Zahl über dem preußischen Gesamtdurchschnitt (51,2–65 %) lag, unterstreicht ebenfalls die ländliche Struktur. Allein 36 Schulen des Regierungsbezirks wurden sogar von weniger als 20 Kindern besucht.234 Zur Frage der Ausdifferenzierung auf dem Land ist als Erfolg der Schulverwaltung höchstens auf die Durchsetzung der Sommerschule und in Teilen der Halbtagsschule zu verweisen. Ermöglichten diese beiden abgespeckten Formen zumindest eine deutlichere Orientierung an den Bedürfnissen zweier verschiedener Altersabteilungen, konterkarierte der reduzierte Unterricht freilich diese positive Errungenschaft. Die genannten Zahlen belegen allerdings, dass die klare Orientierung der Lehrerausbildung in den Stiehlschen Regulativen auf die einklassige Landschule nicht nur einem konservativen Bildungsprogramm folgte, sondern der Schulwirklichkeit der Zeit entsprach. Noch 1882 wurde mehr als die Hälfte aller Lehrer des Stettiner Regierungsbezirks an einklassigen Schulen eingesetzt. Dabei war der Anteil der an fünf- und mehrklassigen Stadtschulen unterrichtenden Lehrer bis zu diesem Zeitpunkt immerhin auf 34,2 % gestiegen.235 Auch wenn man zuletzt nach zeitgenössischen Maßstäben die Trennung der Geschlechter als Form einer Ausdifferenzierung des Schulwesens auffasst, konnten in dieser Frage auf dem Land kaum Fortschritte erzielt werden. 1891 231 Vgl. den Artikel, »Die Volkserziehung u. die Volksschule. Besonders in nationalökono­ mischer Hinsicht«, in: Bn, Nr. 20, 10.3.1848. 232 Vgl. die Tabelle »Gliederung der Schulen nach der Zahl der Schulklassen, 1882«. In: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 367. Die Zahlen bestätigen sich bei einem minimalen Aufwärtstrend auch in den Tabellen der Preußischen Volksschulstatistik. In: Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen 1891, Theil II. 233 Vgl. die Tabelle »Normale Frequenzverhältnisse in den öffentlichen Volksschulen der einzelnen Regierungsbezirke 1882, 1886 u. 1891«. In: Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen 1891, Theil I. 234 Vgl. Bremen u. Schneider, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 397. 235 Vgl. die Tabelle »Lehrkräfte an den Volksschulen in den einzelnen Regierungsbezirken, 1882«. In: Bremen u. Schneider, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 368.

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wurden von den 81.761 Landschülern des Stettiner Bezirks noch 77.282 (94,5 %) koedukativ unterrichtet. In den Städten lag diese Quote zu diesem Zeitpunkt lediglich bei 16,4 %.236 Nur in einigen Gutsbezirken ermöglichten wohltätige am Schulwesen interessierte Gutsfrauen einen zusätzlichen Unterricht für ausgewählte Mädchen. Hier wurde der Schwerpunkt freilich auf den Erwerb hauswirtschaftlicher Kompetenzen sowie die christlich-moralische Erziehung und weniger auf die Vermittlung von allgemeiner Bildung gelegt.237 1.3.5 Der Ausbau des Schulwesens und die Ausdifferenzierung eines Schulsystems in den Städten Wenn die geringen finanziellen Mittel der Verpflichteten und eine zu geringe Schülerzahl eine Ausdifferenzierung des ländlichen Schulwesens verhinderte, waren die Rahmenbedingungen für den Ausbau des städtischen Schulwesens ungleich günstiger. Bereits kurz nach dem Amtsantritt von Oberpräsident Sack wurden Mitglieder des Konsistoriums in die einzelnen Städte geschickt, um dort mit den Magistraten und Stadtverordnetenversammlungen in Verhandlungen über eine Erweiterung des Schulwesens zu treten.238 Bemerkenswert ist, dass sich Oberpräsidium und Regierung zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch grundsätzlich einer breiten Förderung der unteren Volksschichten öffneten und eine spezifische Förderung des höheren Schulwesens und der Universitäten ablehnten. Die Schulabteilung begründete 1818 die Konzentration ihrer Reformtätigkeit auf die städtischen und ländlichen Elementarschulen mit dem Programm einer allgemeinen Nationalerziehung.239 Nach den ersten Visitationen und Konsultationen mit den Stadtvertretern legte die Regierung in den zwanziger Jahren deshalb ihren Schwerpunkt darauf, »die verschiedenen Schulen eines Ortes durch zweckmäßige Stufenfolge zu einem Ganzen zu verbinden« und »in den oberen Klassen die Knaben und Mädchen zu trennen.« Die Einrichtung eigener Klassen für Mädchen wurde pragmatisch damit begründet, dass »die Bildung der niederen Volksklasse in der Regel von den Müttern ausgeht, und diese in Pommern vorzüglich des Unterrichts und der besseren Bildung bedürfen.«240 236 Vgl. die Tabelle »Die Schulkinder nach Geschlechtern«. In: Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen 1891, Theil II. 237 Vgl. APS, RSz, II, Nr.  792, Visitationsbericht des Superintendenten Lengerich, Demmin 9.8.1851. Hier stellt Lengerich die Einrichtung einer solchen Hilfsschule durch die Baronin von Sobern-Zarrenthin als positiv für die Schülerinnen der umliegenden Güter heraus. 238 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16017, Ztgsb. Jan. 1818, Stettin 4.2.1818. 239 Ebd., Ztgsb. Feb. 1818, Stettin 4.3.1818. 240 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16020, Ztgsb. Jan. 1821, Stettin 5.2.1821.

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1829 trat der Schulrat Bernhardt mit einem umfassenden Schulentwicklungsplan an die Öffentlichkeit. Je nach Stadtgröße sollten eine oder mehrere Vor- und Stadtschulen errichtet werden. Für die größeren forderte er zudem den schnellen Aufbau Höherer Bürgerschulen, die für den Übergang in die Tertia eines Gymnasiums geeignet seien. Auch Bernhardt wandte sich gegen ein Übermaß an Abiturienten. Um die »Studirsucht« einzuschränken, schlug er für das Gymnasien ein hohes Schulgeld vor. Als vorbildhaft für die Landeswohlfahrt sah er die von Sack anvisierte Gründung der Stettiner Gewerbeschule an.241 Auch die Börsennachrichten vertraten diese Haltung. Das Er­lernen »todter Sprachen«, die Finanzierung von Gymnasien sowie das Einschlagen einer »Gelehrten- und Beamtenlaufbahn« verurteilte die Zeitung ihrem politischen Programm entsprechend als Vergeudung von Ressourcen und Talenten.242 »Leute, die im alten Rom und Athen mehr, als in ihrem eigenen Vaterlande zu Hause sind« seien schließlich im »kommerzielle[n] Kampf, den die Nationen gegeneinander führen,« unbrauchbar.243 Aufgrund der strukturellen Disparitäten im Bezirk musste die Schulabteilung ihr Entwicklungsprogramm für jede einzelne Stadt spezifizieren. Nimmt man sich wieder die Kleinstädte Plathe und Jarmen als Beispiel, um die Verhältnisse der kleinsten Städte im Bezirk zu illustrieren, fällt auf, dass im gesamten 19. Jahrhundert die Regierung die treibende Kraft im Ausbau des Schulwesens darstellte. Obwohl beide Städte durch Schulneubauten der dreißiger Jahre hoch verschuldet waren, wiesen die Schulräte, unterstützt von den Schulinspektoren, immer wieder auf die Notwendigkeit der Errichtung weiterer Schulklassen hin. Sowohl Plathe als auch Jarmen boten in den dreißiger Jahren nur eine einzige dreistufige Stadtschule an. Die Forderung nach einer Erweiterung wurde bis in die vierziger Jahre hinein nur von der Minderheit einiger Kaufleute vertreten.244 Auf zwei gemischte Grundklassen folgte je eine höhere Knaben- bzw. Mädchenklasse. Nachdem die Schulen in den vierziger Jahren anfangs nur horizontal gewachsen waren, erfolgte Ende der vierziger Jahre eine vertikale Erweiterung. 1845 führte man in Jarmen ein fünf Klassen umfassendes dreistufiges System ein, das bis in die sechziger Jahre auf sechs Klassen bzw. vier Stufen erweitert wurde. Allerdings blieb auch dieses System ineffizient. Der Stadtschulinspektor Pastor Nobiling beschwerte sich etwa 1865, dass in der einzigen höheren Klasse eine Anzahl begabter Schüler bis zu vier Jahre säße, ohne etwas dazuzulernen, während in der oberen Grundklasse neun- bis vierzehnjährige 241 Vgl. Bernhardt, S. 16–21. 242 Vgl. etwa die Artikel »Unterrichtswesen der industriellen Klassen. Höhere Bürgerschulen«, in: Bn, Nr.  9, 29.1.1838, »Über die geringe Zahl der höheren Lernanstalten in der Provinz Pommern«, in: Bn, Nr. 13, 13.2.1846 u. »Höhere Bürger- u. Realschulen«, in: Bn, Nr. 59.14.5.1847. 243 Vgl. den Artikel »Über die industrielle Erziehung unserer Zeit, im Gegensatz zur klassischen«, in: Bn, Nr. 38, 14.5.1839. 244 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 792, Superintendent Lengerich an Reg. St., Demmin 25.10.1843.

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Kinder gemeinsam unterrichtet würden.245 Hier waren es der Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung, die das Geschilderte »nicht als einen bedeutenden Uebelstand erkennen« konnten,246 und einen weiteren Ausbau des Schulwesens hintertrieben. Erst 1872 wurde mit der Errichtung einer Freischule für verarmte Kinder das Schulwesen der Stadt ergänzt. Dadurch konnte für die Hauptschule das Schulgeld erhöht und die schulische Einrichtung verbessert werden. Nachdem etwa Regierung und Stadtschulinspektoren über Jahre hinweg vergeblich für die Einstellung neuer Lehrer und die Anschaffung von Subsellien (Schulbänken) für Kleinkinder plädiert hatten, konnten diese Forderungen nunmehr umgesetzt werden. Diese Förderung ging jedoch zu Lasten der Freischüler der Nebenschule, die im Urteil des Schulinspektors Giese sogar unter das Niveau einer Landschule herabsank.247 Deshalb mahnte die Regierung letztendlich eine erneute Verschmelzung der beiden Schulen an. Obwohl sich der Magistrat hiergegen anfangs mit dem Verweis auf das »schlechte Beispiel« und die »Unreinlichkeit« der Freischüler verwandt hatte, stimmte er 1880 der Aufhebung der Nebenschule zu.248 In Plathe erfolgte ebenfalls in den vierziger und fünfziger Jahren eine Er­ weiterung der Schule auf vier Stufen. Auch hier versuchte der Magistrat, sich der ärmeren Kinder zu entledigen. Nachdem Regierung und Kultusministerium die Einführung einer einklassigen Nebenschule und die Bezahlung derselben aus Staatsfonds abgelehnt hatten,249 prüfte er die Errichtung einer gesonderten Armenklasse. Da das Kultusministerium allerdings auch für diese mindestens einen dreißigstündigen Unterricht sowie Schulgeldfreiheit verlangte,250 blieb es in Plathe bei dem eingliedrigen Schulsystem. Zudem blockierten in der Mitte der sechziger Jahre parteipolitische Streitereien zwischen Liberalen und Konservativen die Arbeit der Schuldeputation und verhinderten somit eine weitere Hebung.251 Eine höhere Schulbildung war deshalb bis aufs Weitere nur über die Inanspruchnahme eines Privatunterrichts möglich. Anders als in den Kleinstädten warb die Regierung in den mittelgroßen Städten wie Gollnow, Demmin und Greifenhagen für die Errichtung von Frei­ schulen. Hierbei verwies die Schulabteilung auf das Vorbild der Stadt Anklam, wo bereits in den zwanziger Jahren über 20.000 Taler städtischer Gelder in den Bau einer neuen Elementarschule, die Errichtung einer Höheren Bürgerschule und die Abspaltung einer Freischule investiert worden waren.252 In den vierziger Jahren erfolgten sowohl in Stargard als auch in Demmin, Ueckermünde, 245 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 946, Pastor Nobiling an Reg. St., Jarmen 30.5.1865. 246 Vgl. ebd., Magistrat u. Stadtverordnetenversammlung an Reg. St., Jarmen 4.8.1865. 247 Vgl. ebd., Stadtschulinspektor Giese an Reg. St., Jarmen Okt. 1875. 248 Vgl. ebd., Magistrat an Reg. St., Jarmen 20.1. u. 2.8.1880. 249 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 2113, Entscheidung des Kultusministeriums, Berlin 2.2.1866. 250 Vgl. ebd., Entscheidung des Kultusministeriums, Berlin 7.6.1866. 251 Vgl. ebd., Stadtschulinspektor Wetzel an Reg. St., Plathe 16.9.1862. 252 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j.P, Nr. 16025 u. 16026, Ztgsb. April 1826 bzw. Nov. 1827, Stettin 6.5.1826 bzw. 4.12.1827.

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Gollnow und Treptow a.d. Rega die Gründungen von Frei- sowie von Höheren Bürger- bzw. Töchterschulen. In Demmin regte die Regierung schon 1840 den Aufbau eines dreigliedrigen Schulsystems an. Nachdem die Schulabteilung gegenüber dem Magistrat in langwierigen Verhandlungen eine Anstellung von drei zusätzlichen Lehrern für die Nebenschule durchgesetzt und darüber eine allzu große Benachteiligung der Nebenschule abgewendet hatte, wurde das neue System 1844 umgesetzt. Die drei Schulen boten einen nach Ständen bzw. Klassen gegliederten Unterricht an. Nach der Festlegung einer Konferenz der Stettiner Schulräte mit der Demminer Stadtschuldeputation wurde folgendes Schulprofil angestrebt: »Die Höhere Stadtschule ist für die Kinder der Wohlhabenden und Bemittelten, für welche das gewöhnliche mittlere Maaß der Schulbildung nicht als genügend betrachtet werden kann und deren Eltern zur Erhöhung desselben noch einige Opfer dar­zubringen vermögen. – Die Allgemeine Stadtschule ist für Kinder des gewerbetreibenden Bürgerstandes. – Die Nebenschule ist für Kinder und Eltern aus der dienenden Klasse.«253

Die Höhere Stadtschule gliederte sich in vier gemischte Unterklassen sowie vier höhere Knaben- bzw. drei Mädchenklassen. Sowohl der Besuch der Höheren als auch der Allgemeinen Stadtschule erforderte ein Schulgeld, während die Armenschule kostenlos war. Im Gegensatz zu Anklam, wo die höheren Schulen fast ausschließlich mit dem Schulgeld finanziert wurden, beabsichtigte die Stadt Demmin ihre Schulen mit einem Zuschuss aus der Stadtkasse zu subventionieren. Die in den Akten immer wiederkehrende Ablehnung der von der Regierung geforderten Schulgelderhöhungen durch die Stadtverordnetenversammlung war Ausdruck der von Koselleck so bezeichneten »Demokratie der kleinen Leute.«254 Tatsächlich ist davon auszugehen, dass vor dem Erlass des Drei­ klassenwahlrechts in den Kommunalwahlen nach 1853 auch die Stadtverordnetenversammlungen des Stettiner Bezirks kleinbürgerlicher geprägt waren als später.255 Mit der Ablehnung eines höheren Schulgelds sowie höherer städtischer Aufwendungen für eine Ausweitung des Schulwesens wurde ein die kleinbürgerlichen Interessen bedienendes Schulsystem konserviert, das wegen des geringen Schulgeldes der höheren Klassen sowohl die Ärmsten benachteiligte als auch den von den reicheren Bürgern geforderten weiteren Ausbau des Schulwesens verhinderte. Wie sich auf dieser Grundlage die Kritik einzelner Bevölkerungskreise artikulierte, zeigt ein 1843 verfasstes Schreiben der Demminer Stadtverordnetenversammlung an den Stettiner Schulrat Graßmann. Diese lehnte die vom Stadtschulinspektor und der großbürgerlich geprägten Stadtschuldeputation vorgeschlagene Erhöhung des Schulgelds sowie die Anstellung einer Franzö­ 253 APS, RSz, II. Nr. 850, Konferenzbeschluss, Demmin 24.5.1842. 254 Vgl. Koselleck, S. 572. 255 Vgl. Fenske, S. 56.

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sischlehrerin und eines Literaten ab. Das erhöhte Schulgeld stelle eine zu »große Bürde dar«, die damit finanzierten Besserungen seien außerdem lediglich »zu Gunsten des Höheren Standes getroffen«, dabei solle die Lehranstalt doch »nicht einem Stande, etwa dem Vornehmen zu Gute kommen, sondern durchaus eine Bürgerschule werde[n]«.256 Die Regierung stand hier vor der Aufgabe, zwischen den verschiedenen Interessen der Demminer Kommune zu vermitteln. Sie wies in ihrem Antwortschreiben darauf hin, dass die Verbesserung des Schulwesens selbstverständlich den Kindern aller Stände dienen solle. Allerdings machte sie darauf aufmerksam, dass das höhere Schulgeld im Vergleich zu den anderen pommerschen Städten immer noch niedrig sei und außerdem die »Verschiedenheit der Stände […] in der göttlichen Ordnung der weltlichen Dinge begründet« liege und »nothwendig eine Verschiedenheit in dem Bildungsgange der Kinder mit sich [führe]«.257 Ob diese Klarstellung oder der erneute Verweis auf das positive Beispiel der Nachbarstadt Anklam den Widerstand brach, lässt sich aus den Akten nicht mehr rekonstruieren. In jedem Fall legte sich der Konflikt im Laufe des nächsten Jahres. Bemerkenswert ist allerdings, dass Stadtschuldeputation, Kreisschulinspektor und Regierung schon Ende der vierziger Jahre die nächste Aus­ baustufe in Angriff nahmen. In einem Bericht der Stadtschuldeputation spielte wieder der Verweis auf die Konkurrenz in Anklam und den anderen pommerschen Städten eine wichtige Rolle. Obwohl nach den Zahlen von 1843 Demmin mit 6.825 Einwohnern die neuntgrößte Stadt Pommerns wäre und alle acht größeren Orte Gymnasien oder Höhere Bürgerschulen aufwiesen, käme Demmins höchste Schule immer noch nicht über das Niveau einer höheren Stadtschule hinaus. Da sogar inzwischen Kleinstädte wie Treptow a. d. Rega und Neu­stettin Höhere Bürgerschulen eingerichtet hätten, müsse nun auch Demmin unbedingt nachziehen.258 Weil trotz einer positiven Absichtserklärung der Stadtverordnetenversammlung aus dem Jahre 1851 in den nächsten zwei Jahren in dieser Hinsicht nichts geschah, richtete die städtische Schulverwaltung in ihren Berichten gegenüber der Stettiner Regierung ihre Hoffnung auf die neue unter den Bedingungen des Dreiklassenwahlrechts gewählte Versammlung.259 Diese Hoffnung wurde auch nicht enttäuscht. Schon 1857 erweiterte man mit der Unterstellung der ehemaligen Höheren Stadtschule unter das Provinzialschulkollegium diese zum Progymnasium. Zudem richtete die Stadt eine Höhere Töchterschule ein.260 256 APS, RSz, II, Nr. 850, Stadtverordnetenversammlung an den Schulrat Graßmann, Demmin 28.9.1843. 257 Ebd., Reg. St. an Stadtverordnetenversammlung, Stettin 23.10.1843. 258 Vgl. ebd., Vorschläge des Superintendenten Lengerich u. der Stadtschuldeputation gerichtet an die Stadtverordnetenversammlung, Demmin 19.6.1850. 259 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 851, Schulbericht des Superintendenten Lengerichs u. der Stadtschuldeputation über die Schulen in Demmin pro Michaelis 1851/53, Demmin 20.10.1853. 260 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16044, Ztgsb. März u. April 1857, ­Stettin 7.5.1857.

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Allerdings hing Demmin zu diesem Zeitpunkt erneut hinter der Entwicklung vergleichbarer Städte zurück: Zur gleichen Zeit weihte Treptow a. d. Rega ein Gymnasium ein, während die Gymnasien in Stargard (1820), Anklam (1847) und Greifenberg (1853) sogar noch eher errichtet worden waren. Generell sind jedoch in den mittelgroßen Städten die Probleme in der Hebung des Schul­ wesens und das darauf eingehende Vorgehen der Regierung miteinander vergleichbar. Auch in Gollnow schlug die Regierung bereits 1836 eine Ausdifferenzierung nach »dem Vorbilde Anclams« vor. Hier wurde bis 1840 das Schulwesen in eine Höhere Stadtschule, eine Freischule und eine Töchterschule ausdifferenziert. Bei der Gründung der Freischule finden sich in den Akten auch Proteste der örtlichen Geistlichkeit. So betrachteten zwei Ortsgeistliche »die Absonderung der Kinder der Armen von denen der Wohlhabenden« als nicht »mit den Grund­sätzen allgemeiner Menschenliebe« und den Lehren der Bibel übereinstimmend. Da indes bei der Trennung der Stadtschule von der Freischule ein Rückgang der Schulversäumnisse und somit eine allgemeine Hebung des Schulwesens zu erwarten sei, verteidigte die Schulabteilung die Vorteile eines zweibis dreigliedrigen Schulsystems.261 Ein kurzer Blick auf die Entwicklung des Schulwesens in Greifenhagen soll zuletzt noch einmal die potentiellen Konflikte zwischen Regierung, Ma­gistrat, Stadtverordnetenversammlung und einfacher Bevölkerung aufzeigen. In Greifenhagen setzte 1856 eine Diskussion um die Hebung des Schulwesens ein, als die Schulabteilung eine Erweiterung des bisherigen zweigliedrigen Systems (Haupt- und Nebenschule) zu einem dreigliedrigen (Höhere- und Allgemeine Stadtschule, Nebenschule)  vorschlug.262 Die Stadtschuldeputation sprach sich darauf im Antwortschreiben gegen eine weitere finanzielle Belastung der Kommune aus und machte deutlich, dass es den wohlhabenden Bürgern vor allem auf die Befähigung der Schüler zum »Einjährigen«, also dem verkürzten Militärdienst, ankam.263 Dieses Ansinnen tat die Stettiner Regierung aufgrund der mangelnden Ausstattung der Stadtschule als illusorisch ab. Zur gleichen Zeit brach zwischen dem Magistrat und der Stadtverordnetenversammlung ein Konflikt über die Frage aus, inwieweit es legitim sei, Lehrer für die höheren Klassen aus der Stadtkasse zu bezahlen und dafür am Schulgeld zu sparen. In diesem Fall plädierten wie schon in Demmin die Stadtverordneten für geringere Schulgelder, während der Magistrat dieses unter Verweis auf die Benachteiligung Ärmerer ablehnte. Die Pläne eines im Wesentlichen auf den Rücken der ganzen Gemeinde verteilten Ausbaus des Schulwesens stießen jetzt freilich auf den umfangreichen Protest der einfachen Bevölkerung Greifenhagens. 1857 wandten sich über 180 zumeist dem niederen Handwerk und einer land261 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 1652, Gutachten des Schulrats Graßmann, Stettin 3.10.1836. 262 Vgl. APS, RSz, II, Nr.  2257, Schulrat Graßmann an Stadtschuldeputation von Greifen­ hagen, Stettin 1.3.1856. 263 Vgl. ebd., Stadtschuldeputation an Reg. St., Greifenhagen 28.3.1856.

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wirtschaftlichen Betätigung zuzuordnenden Bewohner Greifenhagens in einer ­Petition gegen die finanzielle Mehrbelastung. Die Unterzeichner forderten entweder die Rückführung des Schulwesens auf seinen alten niedrigeren Standpunkt oder eine stärkere Interessensberücksichtigung der einfachen Bevölkerung. Insbesondere die Einführung des Latein- und Französischunterrichts sei »für den Bürgerstand und für die allergrößte Mehrheit der Stadt […] von gar keinem Nutzen«. Es erscheine zudem »ungerecht […], daß wir zum Vortheil sehr weniger Familien das Schulgeld aufbringen müssen.«264 Die auf Ausgleich bedachte Regierung reagierte hierauf erneut salomonisch. Zum einen lehnte sie die geforderte Schulgeldfreiheit ab, zum anderen empfahl sie eine Staffelung nach dem Stufenprinzip, »daß diejenigen Eltern, welche ihren Kindern eine umfassendere Ausbildung zu geben gewilligt und vermögend sind, dafür auch […] Opfer bringen.«265 Die Stadtverordnetenversammlung unterwarf sich jedoch den Empfehlungen der Regierung nicht. Stattdessen entschied sie sich für die Beibehaltung eines zweigliedrigen Schulsystems mit der Einrichtung eines fakultativen Fremdsprachenunterrichts im Lateinischen und Französischen, der kostenlos bleiben sollte. In der Verteidigung der Schulgeldfreiheit argumentierte sie hierbei scheinheilig, dass alle fähigen Kinder an diesem Unterricht partizipieren könnten und eine Nichtteilnahme in keinem Falle eine Beschwerde aufgrund höherer Schullasten rechtfertige.266 In Opposition zum Magistrat und zur Regierung ging die Stadtverordnetenversammlung entgegen dem Protest des Stadtschulinspektors ein Jahr später sogar soweit, das gesamte Schulgeld abzuschaffen und die Kosten vollständig der Gemeindekasse aufzubürden.267 In Sorge, dass damit einem weiteren Ausbau des städtischen Schulwesens die Grundlage entzogen würde, griff die Regierung endgültig ein und erklärte die Stadtverordnetenversammlung in der Frage der Schulgeldfreiheit für nicht zuständig.268 Es wurde also weiterhin ein Schulgeld erhoben. Bis 1877 blieb es in Greifenhagen beim zweigliedrigen Schulsystem. Erst dann beschloss die Stadt eine Erweiterung auf drei Säulen. Statt der inzwischen vierstufigen Nebenschule wurde eine nur noch zweistufige Freischule für die »allerärmsten Kinder« eingerichtet. Dazu wandelte man die Stadtschule in eine Allgemeine Volksschule um und gründete eine Höhere Stadtschule als Vor­bereitungseinrichtung für den Besuch einer Gymnasial- bzw. Realanstalt.269 Auch diese mit zusätzlichen Kosten verbundene Hebung des Schulwesens stieß auf Protest. Da in den Augen einer von 53 Bürgern unterschriebenen Petition 264 Ebd., Gesuch einiger Bürger um Aufhebung des neu eingeführten Schulgeldes, Greifen­ hagen 1.4.1857. 265 Vgl. ebd., Reg. St. an die Verfasser der Petition bzw. an den Magistrat u. die Stadtverordnetenversammlung, Stettin 22. bzw. 12.5.1857. 266 Vgl. ebd., Gutachten der Stadtschuldeputation, Greifenhagen 26.2.1858. 267 Vgl. ebd., Magistrat an Reg. St., Greifenhagen 20.10.1859. 268 Vgl. ebd., Entscheidung der Reg. St., Stettin 18.11.1858. 269 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 2258, Stadtschuldeputation an Reg. St., Greifenhagen 10.5.1877.

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die Reform die Kosten für die Einrichtung der Höheren Stadtschule der »arbeitenden Klassen und der Handwerker« aufbürdete, forderte man die Beibehaltung der alten Nebenschule sowie ihrer niedrigen Schulgeldsätze.270 Die Regierung war zwar durchaus bereit, zu ermitteln, inwieweit die er­ hobenen Vorwürfe berechtigt waren. Nachdem man jedoch festgestellt hatte, dass die Schulgeldsätze weit unter denen anderer Städte des Bezirks lagen, wurde die Beschwerde als unberechtigt zurückgewiesen. Als nach einigen Ermittlungen des Magistrats und des Landratsamts der Armenschullehrer als Verfasser der Petition ausgemacht worden war, legte die Regierung ihm wegen »sozialdemokratischen« Verhaltens eine Ordnungsstrafe von 20 Mark auf.271 Immerhin konnte der Lehrer in seinem Amt verbleiben, denn er verteidigte sich damit, dass er das Schreiben nicht aus politischen Gründen, sondern lediglich auf Bitten der Unterzeichner verfasst hätte. An den Auseinandersetzungen in Greifenhagen ist hervorzuheben, dass der ärmere Bevölkerungsteil aufgrund der zu erwartenden höheren Kosten häufig deutlich gegen eine für ihn als nutzlos erkannte Erweiterung des Schulsystems Stellung bezog. Solange das Schulwesen nicht aus Staatsmitteln finanziert und die höhere Schule gesamtgesellschaftlich als Selbstrekrutierungsinstitution der wohlhabenden Bevölkerungsschichten betrachtet wurde, stand den Unterschichten das finanzielle Risiko des Besuchs einer höheren Schule außerhalb jeder Erörterung.272 Dagegen drückte sich in den verschiedenen Versuchen der nach der Einführung des Dreiklassenwahlrechts von wohlhabenden Bürgern dominierten Stadtverordnetenversammlung, die Kosten der höheren Schulen auf den Gemeindeetat abzuwälzen, eine zum Teil rücksichtslose Klientel­politik aus. Diese Politik erkannte den Nutzen des Besuchs höherer Schulen für ihre Kinder, sah jedoch den erhöhten Kostenaufwand nur bedingt ein. Die Regierung stellte in diesen Auseinandersetzungen ein ausgleichendes Moment dar, das zwar immer mittelfristig eine Erweiterung des Schulwesens anstrebte, aber vor allzu großer Unruhe in der Stadtbevölkerung zurückschreckte. Mit dieser Einstellung konnte die Regierung sowohl die in ihren Augen »gottgewollte Ordnung« bewahren als auch eine zu große finanzielle Belastung der Ärmeren abwenden. Politisch als sozialkonservativ einzuschätzende Prinzipien finden sich also auch in der konkreten defensiven Modernisierungspolitik vor Ort. Wirft man zuletzt einen vergleichenden Blick auf die Erweiterung des höheren Schulwesens in Pommern, bestätigt sich für das 19. Jahrhundert der Eindruck einer quantitativen wie auch qualitativen Steigerung. Während in ganz Preußen von 1830 bis 1866/67 allein die Zahl der gymnasialen Anstalten um 32,6 % (von 132 auf 175) anstieg, wuchs die Zahl der pommerschen bis zum gleichen Zeitpunkt um mehr als das Doppelte und bis 1880 sogar um mehr als das

270 Ebd., Petition mehrerer Einwohner an Reg. St., Greifenhagen 12.1.1878. 271 Vgl. ebd., Entscheidung der Reg. St., Stettin 9.3.1878. 272 Vgl. Lundgreen u. a., S. 88–90.

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Diagramm 5: Höhere Schulen in Pommern (1818–1900) 35 30

Zahl der Schulen

25 20 15 10 5 0 1818

1835

1845

1864

1869

1874

1880

1885

1890

1895

Gymnasien

Progymnasien

Realprogymnasien

Realgymnasien

Realschulen (I./II.)

Höhere Bürgerschulen

1900

Zusammengestellt nach: Meffert, S. 177.

Dreifache (von 6 auf 14 bzw. 20).273 Eine Aufschlüsselung von Raimund Meffert über die verschiedenen Schultypen bestätigt sowohl den quantitativen Ausbau in den vierziger bis siebziger Jahren als auch die qualitative Hebung der einzelnen Schultypen (vgl. Diagramm 5). Kritischer ist die verhältnismäßig späte Förderung der Höheren Bürger­ schulen bzw. der Realschulen zu beurteilen. So konnten die Börsennachrichten noch 1846 konstatieren, dass im Regierungsbezirk Stettin außer den drei bestehenden weitere fünf gebaut werden müssten, um das gleiche Verhältnis der Zahl der Realschulen pro Kopf wie etwa im Bezirk Magdeburg zu erreichen.274 Die hohe Dominanz der Gymnasien spiegelt sich hierbei auch in den Schülerzahlen der einzelnen Schultypen wider. 1882 besuchten 4.903 pommersche Schüler ein Gymnasium und nur 2.469 eine andere höhere Schule.275 Eine Ausdifferenzierung des Schulwesens erfolgte schließlich auch durch die seit den zwanziger Jahren bereits von Sack propagierte Förderung des Mädchen273 Vgl. Müller u. Zymek, S.  191. In Pommern fand der entscheidende Sprung zwischen 1855/56 und 1860/61 von 9 auf 14 Gymnasien statt. In den achtziger und neunziger Jahren stagnierte die Zahl bei 21 bzw. 22 gymnasialen Anstalten. In Preußen stieg die Zahl mit der Reichgründung auf 233 und bis 1900/01 auf 341 Gymnasien. 274 Vgl. den Artikel »Die Kreisschule«, in: Bn, Nr. 25, 27.3.1846. 275 Vgl. Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 351.

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schulwesens. Obwohl immer darauf hingewiesen wurde, dass an diesen Schulen keinesfalls dem Stand gymnasialer Anstalten nachgeeifert und etwa »Wissenschaftlichkeit« vermittelt werden dürfe,276 weisen die vielfachen Forderungen zur inhaltlichen Beschränkung des Mädchenschulwesens auf ihr Fortschreiten hin. Im Regierungsbezirk Stettin wurden 1886 schon an zehn Mädchenschulen 1.691 Schülerinnen in 67 Klassen unterrichtet. Wenn man den Anteil der Schülerinnen der Mädchenschulen auf die Gesamtbevölkerung umrechnet, ist festzustellen, dass der Bezirk in dieser Hinsicht mit 2,26‰ sowohl deutlich über den Regierungsbezirken Köslin (0,68‰) und Stralsund (1,14‰), als auch über dem Gesamtdurchschnitt des preußischen Staates (1,43‰) lag.277 1.3.6 Der Ausbau des Schulwesens und die Ausdifferenzierung eines Schulsystems in der Großstadt Stettin Stettin konnte als einzige pommersche Großstadt schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein diversifiziertes Schulsystem anbieten. 1811 existierten im Ganzen zehn öffentliche Elementarschulen, die 987 Schülern einen Schulunterricht ermöglichten. Die wichtigste stellte zu diesem Zeitpunkt die unter könig­lichem Patronat stehende Ministerial- und die Lastadische (308 bzw. 254 Schüler) Schule dar. Daneben existierten acht konzessionierte und drei tolerierte private Elementarschulen, die von weiteren 669 Schülern besucht wurden. Das mittlere Schulwesen befand sich noch ausschließlich in privater Hand. Insgesamt 13 von Geistlichen oder auch Schulräten geleitete Schulen konkurrierten 1811 um 249 Schüler, darunter befanden sich 111 Mädchen. Das seit 1805 vereinigte Königliche- und Stadtgymnasium umfasste 165 Schüler.278 Mit der im gleichen Jahr erfolgten Gründung der Stadtschuldeputation wurde die Basis für den folgenden weithin von städtischen Akteuren allein geprägten Ausbau des Schulwesens gelegt. Zwar überwachten das Provinzialschulkol­ legium und die Regierung die Entwicklung des höheren Schulwesens, jedoch waren städtische Schulräte für die konkrete Planung und praktische Umsetzung vor Ort verantwortlich. Auch die sich nominell aus dem ALR ergebende Aufsicht des geistlichen Kreisschulinspektors reduzierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf sporadische, symbolische Kurzvisiten des städtischen Religionsunterrichts.279 Bereits 1818 versprach der Stettiner Magistrat, 2.440 Taler für den Bau einer weiteren Elementarschule im Stadtteil Neu-Torney und für die Einrichtung 276 Vgl. APS, NPPP, Nr. 4043, Kultusministerium an Reg. St., Berlin 9.7.1885. 277 Vgl. die kumulierten Daten aus der »Statistischen Übersicht über die in Preußen vorhandenen öffentlichen höheren Mädchenschulen (1886)«. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 578–597 u. den Bevölkerungszahlen des Zensus von 1890. In: Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen 1891, Theil I, S. 216. 278 Vgl. den Artikel »Die Stettiner Schulen 1811«, in: Monatsbl., Jg. 23, 1909, S. 136–139. 279 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 4860, Magistrat an Reg. St., Stettin 16.1.1886.

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einer öffentlichen Bürgerschule, bereitzustellen.280 1824 beschloss die Stadtverordnetenversammlung zudem anlässlich der Jubiläumsfeiern der Christianisierung Pommerns die Errichtung der so genannten Ottoschule, in der bereits 1835 an die 1.000 Kinder unentgeltlich unterrichtet wurden.281 Im gleichen Jahr verabschiedete man die ersten Pläne zum Aufbau einer Höheren Bürgerschule. 1841 konnte die für 20.000 Taler errichtete Friedrich-Wilhelm-Schule als erste Realschule des Regierungsbezirks ihren Betrieb aufnehmen. Diese hatte ganz im Sinne der liberal geprägten Kaufmannschaft und der Börsennachrichten282 mit den Schwerpunkten des Erlernens neuer Sprachen und Naturwissenschaften eine Bildung im Auge, »welche vom Stande der Kaufleute, Oekonomen, Mechaniker, Bauhandwerker, Feldmesser […] verlangt« wurde.283 In die gleiche Richtung zielte die 1834/35 erfolgte, bereits von Sack betriebene Gründung der Provinzial-Gewerbeschule. Auch hier sollte der Lateinunterricht zugunsten einer lebenden Sprache aufgegeben werden. Als Unterrichtsfächer waren Maschinenzeichnen, Modellieren, Geometrie, Architektur, Mathematik und Warenkunde vorgesehen. Zur Förderung von Gewerbe und Industrie hing die Aufnahme ausschließlich von der Begabung der Bewerber ab, außerdem wurde kein Schulgeld erhoben.284 Die Regierung warb in den folgenden Jahren intensiv für den Besuch des ­Instituts. Für den besten Absolventen schrieb der Oberpräsident ein 300 Taler umfassendes jährliches Stipendium für den zweijährigen Besuch des Gewerbe­ instituts in Berlin aus.285 Spätestens nachdem der Handelsminister von der Heydt die Gewerbeschulen vor der Einführung eines Religionsunterrichts bewahrt hatte,286 begannen diese zu florieren. 1870 existierten in ganz Preußen schon 26 solcher Einrichtungen, darunter mit je einer in Stralsund und Stettin gleich zwei in der Provinz Pommern. Aufgrund des Andrangs wurde die Schulgeldfreiheit bald nur noch auf die ärmeren Bewerber beschränkt und das jährliche Stipendium für den besten Absolventen auf 200 Taler reduziert. Die Gewerbeschule blieb jedoch eine der wenigen Institutionen, in denen ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich war.287 280 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16017, Ztgsb. Dez. 1818, Stettin 4.1.1819. 281 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16034, Ztgsb. Okt. 1835, Stettin 3.11.1835. 282 Vgl. den Artikel »Höhere Bürger- u. Realschulen«, in: Bn, Nr. 6, 21.1.1839. 283 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16039, Ztgsb. Juli 1840, Stettin 6.8.1840. 284 Vgl. APS, NPPP, Nr. 4147, beigeheftete Broschüre über das Gewerbeinstitut [1834]. 285 Vgl. etwa Amtsbl. Stettin, Nr. 37, 18.8.1836. Gleichlautende Bekanntmachungen wurden auch in den folgenden Jahren erlassen. 286 Vgl. APS, NPPP, Nr. 4147, v.d. Heydt an alle Regierungen, Berlin 4.5.1854. 287 Vgl. z. B. die Karriere des aus dem Kreis Naugard stammenden Bauernsohns und Absolventen der Gewerbschule Friedrich Lenz, dessen Firma Lenz & Co im Deutschen Reich zum führenden Kleinbahnunternehmen aufstieg.

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Auch das gewöhnliche Schulwesen Stettins wurde in Folge des raschen Bevölkerungswachstums weiter ausgebaut. Um den Privatunterricht einzudämmen, gründete die Stadtverwaltung 1843 eine erste öffentliche Vorbereitungsschule für den Besuch eines Gymnasiums. Mittels einer Klassenstärke von 22 bis 30 Kindern und eines Schulgelds von einem Taler pro Monat sollte die ­äußere Qualität und die gesellschaftliche Exklusivität der Schule gewahrt werden.288 Auch die Eröffnung einer Höheren Töchterschule fiel in dieses Jahr. Hier war es der Regierungsschulrat Ulrich, der eine Initiative Stettiner Eltern aufnahm und die vorhandenen Befindlichkeiten in der Stadtverordnetenversammlung mit dem Argument der Bekämpfung des Privatunterrichts und dem Verweis auf einen potentiellen Bedarf von 400 bis 500 Schülerinnen ausräumte.289 Ulrich sicherte sich nicht nur die Unterstützung der Stadtverordnetenversammlung, sondern auch die des Oberpräsidenten von Bonin.290 1859 verteilten sich die 7.312 Stettiner Schüler auf 18 öffentliche sowie einige kleinere Privatschulen. Während die Bürger- und Töchterschulen bereits einen sechsstufigen Unterricht anboten, wurde der Unterricht an den Elementarschulen in der Regel in zwei Stufen untergliedert (vgl. Diagramm 6).291 Ähnlich der mittelgroßen Städte gingen die höheren Schulen Stettins zumeist aus niedriger stehenden Schulen hervor. Als in den sechziger Jahren die Zahlen für die beiden höheren Schulen, das Gymnasium und die Friedrich-WilhelmSchule inklusive ihrer beiden Vorschulen, auf mehr als 1.500 Schüler gestiegen waren, betrieb Provinzialschulrat Wehrmann die Gründung eines zweiten städtischen Gymnasiums. Hierzu schlug er mit Unterstützung des Kultus­ ministeriums, des Magistrats und der Regierung als Vertreter des ­vereinigten Patronats von Stadt und Marienstift die Wiederauflösung der 1805 erfolgten Fusion der älteren Gymnasien vor. In seiner Argumentation verwies Wehrmann auf die Verhältnisse in anderen preußischen Großstädten. Obwohl Stettin mit 72.800 Einwohnern die sechstgrößte preußische Stadt sei, liege sie mit zwei höheren Schulen nicht nur hinter Berlin (450.000 Einwohner/12 höhere Schulen), Breslau (120.000/6), Köln (100.000/4), Königsberg (80.000/5) und Magdeburg (76.000/3), sondern selbst hinter Städten mit geringerer Einwohnerzahl wie Danzig (65.000/3) oder Posen (44.000/3) zurück.292 Auch Teile des Magistrats unterstützten bald unter Verweis auf die mögliche Benachteiligung der städtischen Gymnasiasten die Forderung nach der Wiedereinrichtung des zweiten Gymnasiums.293 288 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 5060, Magistrat an Reg. St., Stettin 3.4.1841. 289 Vgl. Strecker, S. 28 f. 290 Vgl. APS, NPPP, Nr. 4141, Oberpräsident v. Bonin an Schulrat Ulrich, Stettin 15.12.1840. 291 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 4957, Nachweis über den gegenwärtigen Bestand der Schulanstalten in der Stadt Stettin [1859]. 292 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 5041, Provinzialschulrat Wehrmann an das vereinigte Patronat des Gymnasiums, Stettin 11.8.1860. 293 Vgl. ebd., Petition von fünf Magistratsmitgliedern an den Stettiner Magistrat u. den Oberpräsidenten v. Senfft-Pilsach, Stettin 28.9. bzw. 8.10.1863.

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Diagramm 6: Das Stettiner Schulwesen aufgeschlüsselt nach Schülern (1859) Privatschulen; 737 Gewerbeschule (1); 58

Gymnasium (1); 512 Realschule (1); 808

Armenschulen (2); 1129

Bürgerschulen (4); 1321

Elementarschulen (7); 2070 Töchterschulen (2); 677 Zusammengestellt nach: APS, RSz, II, Nr. 4957, Nachweis über den ggw. Bestand der Schulanstalten in der Stadt Stettin [1859].

Bis jedoch die Finanzierung des zweiten Gymnasiums geklärt war, sollten noch mehrere Jahre vergehen. Erst 1869 verständigten sich unter Vermittlung des Kultusministeriums der Magistrat und die Regierung darauf, dass die Stadt aus dem Patronat des alten Mariengymnasiums ausschied. Dafür verpflichtete sich diese, nicht nur die gesamten Kosten für das Stadtgymnasium aufzubringen, sondern auch die Friedrich-Wilhelm-Schule allein zu finanzieren.294 Nachdem schon 1868 die ersten Schüler im Stadtgymnasium den Unterricht aufgenommen hatten, wurde es 1870 offiziell eröffnet. Nach dem Mariengymnasium und den Anstalten in Pyritz, Stargard, Anklam, Greifenberg und Treptow a. d. Rega weihte man das siebte Gymnasium des Stettiner Regierungsbezirks ein. Dass Stettin nunmehr bereit war, umfangreichere Zahlungsverpflichtungen zu übernehmen, belegt den weiteren Bedeutungszuwachs der Kommunen für den Ausbau des Schulwesens. Nachdem das Provinzialschulkollegium die Verhandlungen über die Übergabe des Patronats der Lastadischen Schule noch 1854 aufgrund der zu hohen finanziellen Forderungen des Magistrats abgelehnt 294 Vgl. ebd., Vertragsentwurf [1869].

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hatte,295 erlosch mit der Verlegung des Seminars nach Pölitz das letzte könig­ liche Patronat einer größeren Stettiner Stadtschule. 1866 stellte das Kultus­ ministerium aufgrund allgemeiner Sparmaßnahmen die staatlichen Zuwendungen für diese Schule ein.296 Gab Stettin 1885 jährlich 603.300 Mark für den Unterhalt ihrer Volksschulen aus, stiegen die städtischen Kosten zehn Jahre später auf 1,1 Mio. Mark an. Mit 79,35 Mark pro Volksschüler wandte Stettin 1895 mehr als doppelt so viel Geld auf wie Stralsund (37,74 Mark), Stolp (36,13 Mark) und Stargard (32,62 Mark).297 Dabei ist es bemerkenswert, dass die Stadt den stetigen Bevölkerungszuwachs (1900 mehr als 200.000 Einwohner) und die damit einhergehenden hohen Schülerzahlen zu bewältigen verstand. Da Stettin von einer jungen Bevölkerung geprägt war und die Schülerzahl schneller als die Bevölkerung wuchs, musste die Stadt fortlaufend in die schulische Infrastruktur investieren. Allein 1892 wurde der Bau zweier neuer Elementarschulen, einer Mittelschule und einer weiteren Töchterschule beschlossen.298 Von den 3,4 Mio. Mark an Baukosten, welche die Stadt für das Haushaltsjahr 1900 bewilligt hatte, veranschlagte man über 1,1 Mio. Mark für den Bau weiterer Schulhäuser.299 Die Ausgaben belegen gemeinsam mit dem Engagement der Stadtverordneten in der Schuldeputation300 nicht nur die größeren finanziellen Ressourcen der Großstadt, sondern auch die unter allen pommerschen Städten stärkste Bereitschaft, eigenständig für den Ausbau des örtlichen Schulwesens zu sorgen. Die schon 1846 von den Börsennachrichten geäußerte Erkenntnis, dass »Ausgaben für die Schulen […] eigentlich die Production befördernde Ausgaben« seien und daher für »Bildung und Erziehung des Volks […] kein Opfer zu groß erachtet werden [könne]«,301 schlug sich im liberal geprägten städtischen Klima Stettins bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nieder. 1.3.7 Die Verberuflichung des Lehrerstandes und die Hebung der Lehrergehälter auf dem platten Land Oberpräsident Sack und die Stettiner Regierung wiesen frühzeitig darauf hin, dass eine Hebung des Schulwesens von einer besseren Besoldung der Landschullehrer und einem weiteren Ausbau des Seminarwesens abhing. Beim Amts­ 295 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 4997, Provinzialschulkollegium an Reg. St., Stettin 12.7.1854. 296 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 4998, Entscheidung des Kultusministeriums, Berlin 18.7.1866. 297 Vgl. den Artikel »Die Leistungen der kreisfreien Städte Pommerns für ihre Volksschulen«, in: PBS, Jg. 33, 1909, S. 144. 298 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Feb., März u. April 1892, Stettin 19.5.1892. 299 Vgl. ebd., Ztgsb. Feb., März u. April 1900, Stettin 15.5.1900. 300 Noch 1910 tagte die Stadtschuldeputation von allen städtischen Deputationen am häufigsten. Vgl. Włodarczyk, Selbstverwaltung, S. 152. 301 Vgl. den Artikel »Die materielle Bedrängniß des Lehrstandes«, in: Bn, Nr. 92, 16.11.1846.

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antritt des Oberpräsidenten war die Lehrerbildung in der Provinz noch auf ein einziges an der Lastadischen- bzw. der Ministerialschule in Stettin angegliedertes Seminar beschränkt. Da dieses nur rund 30 Zöglingen Platz bot, beantragten Provinzial- und Bezirksverwaltung wiederholt die Einrichtung eines zweiten Seminars in Cammin. Um wenigstens dem größten Lehrermangel zu begegnen, verpflichtete die Regierung in den zwanziger Jahren zudem jährlich 30 bis 50  ausgewählte Stadt- und Landschullehrer zu einem vier- bis fünfwöchigen Fortbildungskursus. In diesem wurden die Aspiranten im »Gebrauch der Bibel, des Katechismus, im Singen üblicher Kirchen-Melodien, und anderer nothwendiger Gegenstände des Volks-Schulen-Unterrichts unterwiesen«.302 Nachdem Sack noch 1818 in einem Schreiben an den Kultusminister dargelegt hatte, dass der Staat finanziell das pommersche gegenüber dem märkischen und schlesischen Schulwesen »stiefmütterlich behandelt[e]«,303 wurden 1821 Gelder zum Aufbau des Seminars in Cammin bewilligt.304 Des Weiteren sollten die Einkünfte des alten Domstifts für das Seminar verwendet werden. Da sich allerdings vorerst Widerstand aus der Provinz mehrte, der sich in diversen Petitionen zur Wiedererrichtung des Domstifts artikulierte, dauerte es bis zum Landtagsabschied von 1830, bis die Erweiterung des Seminarwesens verabschiedet werden konnte. Neben dem sich auf die Ausbildung von Stadtschullehrern konzentrierenden Seminar in Stettin sollten nunmehr zwei weitere Haupt­ seminare in Cammin und Köslin »die erforderliche Zahl von anstellungsfähigen Schul-Amts-Kandidaten« ausbilden.305 Noch vorhandene Nebenseminare, wie auch das in Greifswald, waren mittelfristig aufzulösen. Alles in allem gewährte der preußische Staat außer einer Summe von 3.736 Talern für die höheren Schulen der Provinz 5.000 Taler für den Auf- und Ausbau der Seminare. In diese Summe mit eingestellt waren auch 150 bis 200 Taler zur Bezahlung eines Gärtners, der am Stettiner Seminar die Lehrer im Obstbau anleiten sollte.306 Mit dem vorläufigem Abschluss des Ausbaus des pommerschen Seminarwesens schuf man die notwendigen Kapazitäten, um die Schulmeister der Provinz sukzessive mit am Seminar gebildeten Lehrern zu ersetzen. Von 1826 an sollten die Schulstellen nur noch mit Lehrern besetzt werden, die ein am Seminar erworbenes Abschlusszeugnis vorweisen konnten. Die Lehrer mit der Note I (vorzüglich) wurden sofort eingestellt, die mit den Noten II (gut) und III (genügend)  mussten nach dreijähriger Unterrichtspraxis eine zweite Prüfung absolvieren.307 302 GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16017, Ztgsb. Nov. 1818, Stettin 4.12.1818. Siehe auch den Artikel »Beitrag zur Geschichte des pommerschen Lehrerstandes«, in: PBS, Jg. 20, 1896, S. 114. 303 Vgl. APS, NPPP, Nr. 4274, Oberpräsident von Sack an Kultusministerium, Stettin 17.2.1818. 304 Vgl. ebd., Staatsminister von Altenstein an Oberpräsident von Sack, Berlin 8.11.1821. 305 Ebd., Staatsminister von Altenstein an Oberpräsident von Sack, Berlin 18.6.1830. 306 Vgl. ebd. 307 Vgl. Reskript die Schullehrer-Seminarien u. Prüfung der künftigen Schullehrer betr., Berlin 1.6.1826. Gedr. in: Jb. für das Preuß. Volksschulwesen, Jg. 4, 1826, S. 154–162.

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Inhaltlich konzentrierte sich die Seminarausbildung darauf, den Lehrern die Methodik des Schweizer Reformpädagogen Pestalozzi beizubringen. Diese Orientierung wurde auch 1818 im Schulentwicklungsplan der Provinz festgeschrieben.308 Der erste Seminardirektor Köslins, Henning, war noch direkt bei Pestalozzi in die Lehre gegangen, und auch der langjährige Stettiner Seminardirektor Graßmann hatte durch seine Stettiner Kollegen Dreist und Bernhardt eine Prägung im Pestalozzischen Sinne erfahren. Trotz einer besseren Ausbildung in der Pädagogik war sich die Seminarausbildung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterhin der gewöhnlichen Doppelfunktion des Landschullehrers als Hilfsdiener der Kirche im Nebenamt bewusst. Deshalb müsse es »immer und überall […] sein höchstes und letztes Ziel seyn und bleiben, daß Gottes Name geheiligt werde«, legte 1826 eine entsprechende Anweisung fest. Außer dem ­Appell, einen sittlichen, bescheidenen Lebenswandel zu führen, sich mit ganzer Kraft der Schulbildung der ihm anvertrauten Herde zu widmen und ein Leben lang zu lernen, habe sich der Lehrer folgsam »gegen seinen Herren Patron, den Herrn Pfarrer und die übrigen Mitglieder des Schulvorstands« zu benehmen.309 Anhand eines solchen Programms, dem das Ministerium mit der Veröffentlichung in den Jahrbüchern für das Preußische Volksschulwesen eine Vorbildfunktion für das gesamte preußische Staatsgebiet zuerkannte, wird die fortwährende Dominanz der Kirche für Erziehungsfragen deutlich. Außerdem zeigt sich, dass die Seminarbildung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Lehrer kaum zu einer größeren Selbstständigkeit und Unabhängigkeit erzog. Auch die im Zuge der Reaktionszeit erfolgte Auflösung der ersten zaghaften Organisationsbestrebungen der preußischen Lehrerschaft verhinderte ein wachsendes Selbstbewusstsein und eine stärkere Verberuflichung der Volksschullehrer. Immerhin wurden die entsprechenden Verbote von 1841 aufgrund der Anzeige der Regierungen in Stettin und Köslin, dass sich dort »öffentliche Umtriebe, wie sie in anderen Provinzen des Staats bemerkbar geworden, nicht vorgekommen [seien]«, per Erlass des Kultusministers Eichhorn in Pommern nicht angewandt.310 Dieser Einspruch belegt einerseits die Tendenz der Bezirksverwaltungen, eine schützende Hand über die eigene Region zu halten, andererseits jedoch auch die Tatsache, dass die pommersche Lehrerschaft zu diesem Zeitpunkt kein politisches Selbstbewusstsein wie andernorts geäußert hatte. Außerdem wollten sich die christlich-konservativ geprägten Beamten der Schulverwaltung das Mittel der lockeren lokalen Lehrervereinigungen und Schulkonferenzen nicht als Instrument der pädagogischen Förderung und Instruierung von oben entziehen lassen. 308 Vgl. APS, NPPP, Nr. 4035, Nachweisung über die Einrichtung der allg. Elementarschulen, [1818]. 309 Anweisung für evang. Schullehrer u. Küster auf dem Lande über ihr Amt u. Leben. Gedr. in: Jahrb. für das Preuß. Volksschulwesen, Jg. 4, 1826, S. 142–154. 310 Vgl. APS, NPPP, Nr.  4035, Kultusminister Eichhorn an Oberpräsident v. Bonin, Berlin 19.2.1843.

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Die Einstellung von am Seminar ausgebildeten Lehrern veränderte im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr das Profil der pommerschen Lehrerschaft. Während in der Synode Treptow a.d. Tollense noch 1837 der Anteil am Seminar gebildeter Lehrer ähnlich wie in ganz Preußen bei weniger als der Hälfte,311 nämlich bei 35,6 % gelegen hatte, stieg dieser bis 1848 auf 53,7 % und bis 1858 auf 60 % an.312 In der Synode Ueckermünde wuchs der Anteil zwischen 1844 und 1854 von 52,9 % auf 73,5 %313 und in der Synode Gartz zwischen 1839 und 1850 von 58 % auf 87,5 %.314 Fast alle der am Seminar gebildeten Lehrer des Bezirks wiesen ein Abschlusszeugnis des Stettiner Seminars vor. Nur in Ausnahmefällen hatten einige Lehrer ihre Ausbildung an den kleineren Seminaren der Provinz wie etwa in Cammin erhalten. Auswärtige zog es offensichtlich nicht nach Pommern. Während in der Mitte des Jahrhunderts der Anteil der fachlich ausgebildeten Lehrer überall die 50 %-Marke überschritt, wiesen in den sechziger Jahren schon mehr als Dreiviertel der Landschullehrer des Stettiner Bezirks eine Seminarausbildung vor. Wer keine ordentliche Ausbildung genossen hatte, nahm zumindest an Fortbildungskursen des Seminars teil oder wurde sukzessive emeritiert. Da die Emeritierten in der Regel mit einem Drittel des regulären Stelleneinkommens weiter bezahlt wurden, zog sich der Austausch des Lehrpersonals allerdings in den ärmeren Gemeinden oft über Jahre hin. In der exemplarisch ausgewerteten Zusammensetzung der Lehrerschaft der Landsynode von Demmin, ist festzustellen, dass in den vierziger Jahren zwar noch einige seit mehr als 30 oder 40 Jahren im Amt stehende, ungeprüfte und im Nebenberuf als Schneider oder Schmied tätige Schulmeister zu finden waren. Diese an die Verhältnisse des 18.  Jahrhunderts erinnernden Idealtypen eines Schulmeisters wurden jedoch spätestens in den fünfziger Jahren durch jüngere Lehrer ersetzt.315 Vorn wurde bereits gezeigt, dass die Bestimmungen des Stiehlschen Seminar­ regulativs für Pommern keine wesentliche Umstellung der Ausbildung implizierte.316 Die 1862 erfolgte durchaus politisch motivierte Verlegung des Stettiner Seminars in die Kleinstadt Pölitz ist somit noch als schwerwiegendste lokale Spätfolge der Reaktionszeit zu bewerten. Ähnlich wie die meisten anderen Provinzialschulkollegien begrüßte die pommersche Schulverwaltung das Regulativ.317 Lediglich der ultrakonservative Camminer Seminardirektor Wangemann forderte eine weitere Verkleinerung der Seminare sowie ihre stärkere Anbin311 Vgl. Fischer, Volksschullehrerstand, Bd. 2, S. 175. 312 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 5663, Revisionsbericht der Synode Treptow, Stettin 15.8.1848 u. Revisionsbericht der Synode Treptow, Stettin 20.9.1858. 313 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 6191, Revisionsbericht der Synode Ueckermünde, Stettin 4.8.1854. 314 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 1321, Revisionsbericht der Synode Gartz Randow, Stettin 3.7.1850. 315 Eigene Analyse der Alterstruktur der Lehrerschaft der Demminer Landsynode auf Grundlage der Visitationsberichte von 1843–1858 (vgl. APS, RSz, II, Nr. 792, passim). Nach dem Erlass der Stiehlschen Regulative stagnierte die Einstellung jüngerer Lehrer. 316 Vgl. Supprian, S. 72. 317 Vgl. Sauer, Volksschullehrerbildung, S. 61.

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dung an die Kirche.318 Da nach Angaben eines Autors in den Pommerschen Blättern für die Schule, dessen Vater von 1841 bis 1843 das Camminer Seminar besucht hatte, zu diesem Zeitpunkt der Deutschunterricht nur aus der Wiedergabe des sonntäglichen Gebets bestanden habe und noch nicht einmal Mathematik gelehrt worden sei, stellte das Regulativ dort sogar einen Fortschritt dar.319 Das Camminer Lehrangebot aus dem Jahr 1865 war dagegen differenzierter. Zwar behielt der Religionsunterricht seine wichtige Stellung bei, allerdings wurde mit der Aufnahme von Rechnen, Zeichnen, Raumlehre, Naturkunde und Geschichte den Realienfächern mehr Platz eingeräumt.320 Aus dem Vergleich mit dem 1866 im Centralblatt für die gesammte Unterrichts-Verwaltung veröffentlichten Kursplan des Seminars in Preußisch Friedland ergibt sich, dass die pommerschen Seminare lediglich im Angebot des Turnunterrichts etwas hinterherhinkten.321 Auf der anderen Seite wird jedoch deutlich, dass weiterhin keine wissenschaftliche, zur Reflexion anregende Allgemein-, sondern die praktische Berufsausbildung im Mittelpunkt stand. Hierauf verweist die umfangreiche musikalische Schulung (u. a. Singen, Orgelspiel, Violinspiel) die den hohen Bedarf mit Kirchenämtern verbundener Lehrerstellen sichern sollte. Eine deutliche Stärkung der Seminarbildung erfolgte schließlich seit 1872 mit dem Erlass der Allgemeinen Bestimmungen. Zur Verbesserung des Lehrstandards wurde eine schärfere Eingangsprüfung in Religion, Sprache, Rechnen und Raumlehre, Musik, sowie Realien und Geschichte eingeführt. Sofern der Kandidat in einem der Bereiche ein »ungenügend« erhielt, verwehrte man ihm den Abschluss. Trotz dieser strikteren Regel diente das erste Jahr des dreijährigen Lehrkurses der Schaffung gleicher Voraussetzungen für die nächstfolgenden Lehrstufen. Der Unterrichtsplan reduzierte die religiöse Bildung weiter und erhöhte insbesondere den Anteil der Pädagogik und der Realienfächer (Raumlehre, Naturbeschreibung, Geographie, Geschichte). Neu waren auch die Erteilung eines Fremdsprachenunterrichts und der auf eine eigenständige Weiterbildung angelegte gestufte Einsatz der Seminaristen in den Übungsklassen.322 Bedeutsam erscheint zuletzt, dass nicht mehr die einklassige Landschule als Regelfall galt und den Seminaristen in der Ausbildungszeit außer dem Besuch einer einklassigen auch der Besuch einer mehrklassigen Schule ermöglicht werden musste. Den praktischen Bezug erhielten die Allgemeinen Bestimmungen im Übrigen mit der Maßgabe, möglichst weiterhin die Obstbaumzucht und den Seidenanbau zu lehren. 318 Vgl. ebd., S. 59 f. 319 Vgl. den Artikel »Seminarverhältnisse in der Mitte des vorigen Jahrhunderts«, in: PBS, Jg. 46, 1922, S. 488 f. 320 Vgl. LAG, Rep. 62, Provinzialschulkollegium, Nr. 1726, Stundenplan des Camminer Seminars für das Wintersemester 1865/66, Pyritz 28.9.1865. 321 Vgl. Centralbl., Jg. 8, 1866, S. 497. Zit. nach: Sauer, Volksschullehrerbildung, S. 57. 322 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 7297, Allg. Bestimmungen des Preuß. Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 15.10.1872 betr. das Volksschul-, Präparanden- und Seminarwesen, Stettin 1872.

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Die höher gesetzten Hürden der Zugangsprüfungen hatten einen weiteren Ausbau des Präparandenwesens zur Folge. Während vor 1872 die meisten Lehrer noch als Jugendliche bei Pfarrern privat vorgebildet worden waren und wegen des Lehrermangels ihre ersten Unterrichtserfahrungen häufig ohne weitere Ausbildung sammeln mussten, entstanden mehr und mehr private sowie halbstaatliche Institute. Im Regierungsbezirk Stettin wurde 1868 eine Prä­ parandenanstalt in der Stadt Plathe eingerichtet, 1875 und 1902 folgten weitere in Massow und Anklam. Zudem wurden die privat ausgebildeten Präparanden enger durch die Kreisschulinspektoren und das Provinzial-Schul-Kollegium betreut.323 Wenn anzumerken ist, dass eine sukzessive Verberuflichung des Lehrer­ standes anhand seines Ausbildungsgrads erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgestellt werden kann, gilt gleiches für die Selbstorganisierung der pommerschen Lehrerschaft, welche als Kriterium einer sich andeutenden Professionalisierung anzusetzen ist.324 Erste Organisationsbemühungen der Volksschullehrer gab es zwar schon in den dreißiger und vierziger Jahren, allerdings waren die entscheidenden Akteure unter den Schulräten und Seminardirektoren der Provinz zu suchen. Der Kösliner Seminardirektor Henning gründete 1829 nicht nur einen »freiwilligen« Lehrerverein, sondern 1835 auch ein Monatsblatt für Pommerns Volksschullehrer zur Förderung wahrer Geistes- und Herzenseinigung in christlicher Führung des Schulamts. Sowohl das Verhalten Hennings während der Revolution von 1848/49, in der er zur Abwehr von demokratischen Unruhen die Kösliner Seminaristen als königstreue Bürgerwehr ausstatten ließ,325 als auch die zeitgenössische Charakterisierung seiner pädagogischen Zeitschrift als »Äußerste Rechte«326 belegen jedoch, dass es nicht um eine berufliche Interessenvereinigung von unten handelte. Dass die pommerschen Lehrerkonferenzen und -vereine des Vormärz nicht als eigenständige Unternehmungen, sondern als Instrumente der Anleitung von oben der staatlichen

323 Vgl. LAG, Rep. 62, Provinzialschulkollegium, Nr. 1807, Lehrpläne u. Zusammenstellungen von Listen der Präparanden in den einzelnen pom. Synoden mit Empfehlungen der Kreisschulinspektoren/Superintendenten aus den Jahren 1878 bis 1908. 324 Frank-Michael Kuhlemann lehnt die Anwendung des Professionalierungskonzepts für die Entwicklung des Volksschullehrerstandes im 19.  Jhdt. ab u. spricht dagegen von einer »Verberuflichung«. Erst wenn die Verberuflichung, die sich durch eine geregelte Lehrerausbildung, materielle Absicherung, Institutionalisierung des Erziehungsraums Schule u. kollektive Organisierung der Lehrerschaft auszeichne, abgeschlossen sei, könne der Übergang zur Profession erfolgen. Indes weist Kuhlemann ebenfalls darauf hin, dass auch bei den Volksschullehrern »professionelle Strategien der Standesorganisation u. Interessensvertretung immer wichtiger wurden.« Vgl. Kuhlemann, S.  256–262. Das Konzept einer einheitlichen jedoch Phasenverschobenen Professionalisierung im ausgehenden 19.  u. 20. Jhdt. wird bei Keiner u. Tenorth, S. 198–202 vertreten. 325 Vgl. den Artikel »Henning«, in: PBS, Jg. 7, 1883, S. 375. 326 Vgl. so die Charakterisierung der Zeitschrift im Jg. 1849 des Pädagogischen Jahresberichts von Karl Nacke. Zit. nach der Jubiläumsausgabe der PBS, Jg. 46, 1922.

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Schulverwaltung fungierten, stellte den maßgeblichen Grund dar, weshalb sie nicht verboten wurden.327 Auch die Revolution von 1848/49 diente nicht unbedingt als Katalysator eines größeren autonomen Engagements der pommerschen Landschullehrer. Zwar wurden wie überall in Preußen kurzfristig Lehrerversammlungen anberaumt, die in Stettin versammelte Konferenz stritt sich jedoch mit dem Schulrat Graßmann offenbar intensiver um die Bezahlung der Reisediäten als um inhaltliche Fragen.328 Der Korrespondent der Ostseezeitung machte sich über das Chaos der Abschlusssitzung der Pommerschen Provinzialschulsynode und ihrer sich widersprechenden Beschlüsse lustig.329 Dem verabschiedeten Programm einer weiteren Abtrennung der Volksschule von der geistlichen Aufsicht folgten nach der Ausschaltung der gesamtpreußischen Lehrerbewegung im weiteren Revolutionsverlauf keine Konsequenzen. Zudem wurden bereits 1848 unter den pommerschen Landschullehrern Stimmen laut, welche etwa die reformorientierten Tivoliforderungen der Allgemeinen Lehrerversammlung in Berlin kritisierten. So richteten die sieben Lehrer der Kirchengemeinde von Colzow auf der Insel Usedom mit Unterstützung sämtlicher Schulzen und Schulvorsteher eine Petition an die preußische Lehrerversammlung, in welcher sie sich gegen die Ablösung der Kirchenaufsicht aussprachen.330 Aufgrund derartiger Wortmeldungen und des generell vermeintlich ruhigen Revolutionsverlaufs in Pommern, wird in der Literatur der Provinzbevölkerung im Allgemeinen und den Lehrern im Besonderen jegliches revolutionäre Engagement abgesprochen. Auch in den ersten Visitationsberichten der Landsynoden des Stettiner Bezirks betonten die Superintendenten einhellig, dass sich die pommerschen Landschullehrer »von dem wühlerischen Treiben jener Jahre fern gehalten und eine ehrenhafte Stellung bewahrt [haben].«331 Lediglich im Hinblick auf die jüngeren Lehrer äußerte man sich besorgt, dass sich diese nun »durch schlechte Wahl ihres Umganges auf gefährliche Abwege verlieren könnten.«332 Immerhin finden sich in den einzelnen Berichten einige namentlich benannte Landschullehrer, die als Sympathisanten der Revolution von 1848/49 identifizierbar sind. In der Landsynode von Demmin wurden zwei der rund 40 Lehrer als Personen gekennzeichnet, die »sich in den Zeiten der politischen Aufregung […] von der Betheiligung an demokratischen Wüthereien nicht ganz frei 327 Vgl. APS, NPPP, Nr.  4035, Kultusminister Eichhorn an Oberpräsident v. Bonin, Berlin 19.2.1843. 328 Vgl. Appens, S. 139 u. APS, NPPP, Nr. 4039, Briefwechsel u. Prot. zu den Kreislehrerkon­ ferenzen der Jahre 1848/49. 329 Vgl. den Artikel »Zur Beurtheilung der Pommerschen Provinzialschulsynode«, in: Bn, Nr. 147, 8.9.1848. 330 Vgl. Appens, S. 140 u. Hendel, S. 46 f. 331 Vgl. z. B. APS, RSz, II, Nr.  6191, Visitationsbericht des Superintendenten von Ueckermünde, Stettin 4.8.1854. Ähnliche Berichte kamen auch aus den anderen Synoden. 332 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 1321, Visitationsbericht des Schulrats Graßmann, Stettin 3.7.1850.

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erhalten [hätten]«. Beiden Lehrern attestierte der Kreisschulinspektor jedoch, dass sie ihre »Thorheit« bzw. ihre »Irrwege« erkannt hätten und nunmehr von den »königlich gesinnten« Pastoren auf den rechten Weg geführt würden.333 Noch 1856 sah sich jedoch etwa der Demminer Superintendent dazu bemüßigt, dem Lehrer des Dorfes Zettemin zu bescheinigen, dass »er mit seinem Herz nicht in der Bibel lebe« und das Vertrauen zum Schulpatron Baron von Maltzahn-Zettemin seit 1848 zerbrochen sei.334 Indes fällt auf, dass sowohl der dortige Superintendent als auch die Regierung trotz anders lautender Vorgaben der Staatsregierung335 ihre schützende Hand über den Lehrer hielten. Hier drückt sich zum einen das christlich-konservative Weltbild der Schulverwaltung aus, das sich von einem explizit parteipolitischen Konservativismus darin unterschied, dass man im Vertrauen auf die Überlegenheit der eigenen Überzeugungen von einer politischen Verfolgung absah. Zum anderen zeigt sich hier die in den fünfziger Jahren vorherrschende patriarchalische Amtsführung der Schulverwaltung, welche das politisch missliebige Verhalten eines Landschullehrers nicht für voll nehmen konnte und ein solches als jugendliche Verirrung abtat. Angesichts der relativ geringen Zahl von 500 Disziplinarverfahren auf die Menge von 30.000 preußischen Volksschullehrern muss freilich auch für die anderen Gebiete der Monarchie konstatiert werden, dass das politische Engagement der Lehrer vergleichsweise zurückhaltend verfolgt wurde.336 Spätestens nach der berüchtigten Rede Friedrich Wilhelm IV. auf einer Konferenz der preußischen Seminardirektoren widmete die Behörden den Volksschullehrern allerdings ein besonderes Augenmerk. Ein öffentliches Engagement wurde ihnen seit 1851 untersagt, stattdessen wandten sich die Regierungen in sich wiederholenden explizit christlich-konservativen Grundsatzbelehrungen an die Lehrerschaft. In einer 1858 an alle Landschullehrer des Stettiner Bezirks adressierten Erklärung legte die Regierung fest, dass es die zentrale Aufgabe der Schule sei, die »tieferen Schäden des Volkslebens«, die 1848/49 fast in den »grauenhaften Abgrund« geführt hätten, zu heilen. Als »Bildungsstätte eines neuen heranwachsenden Geschlechts« solle sie »Gottesfurcht und wahre Frömmigkeit« sowie die »in solcher Gesinnung wurzelnde […] Liebe gegen den König des Vaterlands und die von Gott verordnete Obrigkeit« lehren.337 Entsprechend diesem Programm wurde 1864 erstmals ein Lehrerbund auf Provinzebene ins Leben gerufen. Die Namen des ersten Vorstands, dem außer dem schon mehrfach erwähnten Camminer Seminardirektor Wangemann, vier 333 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 792, Schulvisitationsprot. des Kirchspiels Wolkwitz des Superintendenten Lengerich, Demmin 22.7.1852 bzw. des Kirchspiels Zettemin, Demmin 4.9.1856. 334 Vgl. ebd., Schulvisitationsprot. des Kirchspiels Zettemin des Superintendenten Lengerich, Demmin 29.7.1851, bzw. 4.9.1856. 335 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, Preuß. Staatsministerium, j.R., B III 2b, Nr.  6, Bd.  66, Bl. 37v-39, Prot. des Preuß. Staatsministeriums, 1.9.1853. 336 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 397. 337 APS, RSz, II, Nr. 5663, Revisionsbericht der Reg. St. über die Synode Treptow a. d. Tollense, Stettin 20.9.1858.

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Pastoren und dem Stettiner Konsul Quistorp nur drei Lehrer angehörten, unterstreichen, dass es sich bei der Gründung um eine von oben initiierte Ver­ einigung handelte.338 Die 1865 mehr als 800 Lehrer organisierende Vereinigung Pomerania stellte sich dann auch klar auf den Boden eines christlichen Konservativismus. Immerhin sprach sich der Vereinsvorsitzende jedoch gegen eine allzu enge Bindung an den parteipolitischen Konservativismus aus. In einem Artikel im Lieben Pommernland wandte er sich gegen die Zielsetzungen der in der Kreuzzeitung angekündigten Gründung eines Christlich-Konservativen Lehrerbundes. Zwar billigte er das private konservative Parteistreben von Lehrern und Pastoren in entsprechenden Vereinen, ein parteipolitisches Verbandswesen lehnte er jedoch ab. Stattdessen forderte er konkrete Verbesserungen im Schulwesen wie eine höhere Besoldung der Lehrer und eine bessere Versorgung der Schulmeisterwitwen.339 Mitte der sechziger Jahre traten schließlich die ersten eigenständigen Organisierungsbemühungen von unten in Erscheinung. Auf Provinzebene schlossen sich kurz nach dem Erlass der Allgemeinen Bestimmungen 13 kleinere Lehrervereine zum Pommerschen Lehrerverein zusammen. Die Gründung erfolgte aus den Kreisen einiger sich linksliberal positionierender Stettiner Lehrer. Bereits auf der Gründungsversammlung wurde jedoch eine zu starke politische Ausrichtung durch Angehörige der älteren Lehrergeneration verhindert. So lehnte man die Aufnahme des Präfixes »Frei« in den Verbandsnamen ab. Trotzdem spitzten sich die Forderungen des Lehrervereins in den nächsten Jahren zu. Unter seinem Vorsitzenden Juds plädierte der Verband in den achtziger Jahren für den vollständigen Abbau der personell immer noch gegebenen geistlichen Schulaufsicht. Insbesondere die Orts- und die Kreisschulinspektoren wandten sich daraufhin häufig gegen ein Engagement »ihrer« Lehrer im Verband. Dementsprechend berichtet die Jubiläumsausgabe der Pommerschen Blätter für die Schule aus dem Jahre 1922 von vielfältigen Konflikten mit den Vertretern des geistlichen Stands, während interessanterweise den Bezirks­ regierungen ein durchaus positives Zeugnis ausgestellt wurde. Hier bahnte sich in den letzten Jahren des 19.  Jahrhunderts verwaltungsintern eine deutliche Neupositionierung der Schulräte gegenüber der Kirche an, die einer zunehmenden Selbstständigkeit der Lehrer immer offener gegenüberstanden.340 Während der Anteil der im Pommerschen Lehrerverein organisierten Lehrer in den siebziger Jahren nur langsam anstieg, erfolgte Mitte der achtziger Jahre, als Bezirks-, Provinzial- und Staatsregierung dazu übergingen, diesen auch mit Staatsmitteln zu fördern, ein Durchbruch. Während 1878 lediglich 338 Vgl. den Aufruf »An sämmtliche Volksschullehrer«. In: Das liebe Pommernland, Jg. 2, 1865, S. 43–47 u. diverse Flugblätter des Vereins Pomerania aus den Jahren 1864–1866 unter APS, NPPP, Nr. 3659. 339 Vgl. Artikel »Der »christlich-conservative« u. der pommersche Lehrerbund«. In: Das liebe Pommernland, Jg. 2, 1865, S. 259–263. 340 Vgl. Jubiläumsausgabe der PBS, Jg. 46, 1922.

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20,5 % der pommerschen Lehrer im Verein organisiert waren, stieg der Anteil bis 1891 auf 57,6 % und bis 1901 auf 89,2 % an.341 Hierfür verantwortlich war etwa die zunehmende Popularität der Pommerschen Blätter für die Schule, die 1887 als offizielles Vereinsblatt anerkannt wurden. Das Blatt wurde 1877 vom Camminer Seminardirektor Hausse gegründet und richtete sich anfangs noch wie Hennings Organ sowohl an die Lehrerschaft als auch an die Geistlichkeit. Dementsprechend hielt sich die Zeitschrift in den ersten Jahren ihres Bestehens mit allzu großer Kritik an der Schulwirklichkeit zurück. In der ersten Ausgabe stellte sich der Herausgeber deutlich hinter die gerade erlassenen Allgemeinen Bestimmungen und lehnte jeden religiös oder politisch motivierten Parteienstreit in der Zeitschrift ab. Zugleich forderte aber auch er einen weiteren Ausbau des Lehrplans und die bessere Bezahlung sowie damit einhergehend die gesellschaftliche Hebung des Lehrerstandes.342 In den nächsten zehn Jahren diente das Blatt sowohl den Akteuren der Schulverwaltung als auch den Volksschullehrern als Forum, um sich über die Probleme des Schulwesens auszutauschen. Hierbei wurden rückwärtsgewandte Positionen wie die bereits an anderer Stelle zitierten Forderungen der Beibehaltung der Sommer- und der Halbtagsschule vom Herausgeber allgemein ablehnend beurteilt. Sonst lag die Zeitschrift in den meisten diskutierten Fragen auf der Linie der Bezirksregierung, was sich auch darin widerspiegelte, dass diese die Anschaffung des Blattes auf Kosten der Schulkassen genehmigte.343 Radikaler positionierte sich die Zeitschrift erst, nachdem sie offiziell als Organ des Pommerschen Lehrervereins anerkannt worden war. Insbesondere die Forderungen nach dem Erlass eines Unterrichtsgesetzes, der Hebung der Lehrer­ gehälter und der Versorgungsansprüche der Lehrerwitwen bildeten immer häufiger den Schwerpunkt der Berichterstattung. Auch in der sozialen Struktur der Autoren ergaben sich Veränderungen. Während in den ersten Jahren Schulräte, Superintendenten und Seminardirektoren das Blatt dominiert hatten, wurden diese sukzessive von einfachen Lehrern verdrängt. Auffallend ist auch das zunehmende Selbstbewusstsein, das sich inhaltlich artikulierte. 1887 kritisierte ein namentlich genannter Lehrer in deutlichen Worten Gutsbesitzer, die sich über die Bestimmungen der Bezirksregierungen hinwegsetzten, sowie geistliche Schulinspektoren wie Schulvorstände, die nicht wagten, Einspruch gegen eine solche Praxis zu erheben.344 Ein erfrischender Beleg für das wachsende Selbstbewusstsein findet sich außerdem in der Kommentierung einer gegen einen Lehrer gerichteten Eingabe eines pommerschen 341 Vgl. PBS, Jg. 54, 1930, S. 32. 342 Vgl. den Artikel »Was wir wollen«, in: PBS, Jg. 1, 1877, S. 1–5. 343 Vgl. Jubiläumsausgabe der PBS, Jg. 46, 1922. 344 Vgl. den Artikel »Kommt bei uns auf dem Lande eine übermäßige, die Gesundheit u. Erziehung schädigende Ausnutzung schulpflichtiger Kinder zu landwirtschaftlichen Arbeiten vor? Wenn ja, welche Veranstaltungen können von Seiten der Schule getroffen werden, um den gedachten Nachteilen zu begegnen, bezw. dieselben zu verhindern?«, in: PBS, Jg. 11, 1887, S. 102–106.

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Schulvorstands.345 Indem sich die Zeitschrift über die orthographisch fehlerhafte Beschwerde lustig machte, demonstrierte sie ein Verhalten, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für einen Schulmeister öffentlich unmöglich gewesen wäre. Anhand solcher Fälle wird deutlich, wie wichtig die zunehmende Ver­netzung und Organisierung der Lehrer für ihr eigenes berufliches Selbstverständnis, aber auch für die weitere Hebung des Schulwesens waren. Erschien die Förderung des Schulwesens noch bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein auf das ausschließliche Engagement der Bezirksregierung und die Unterstützung der anderen Akteure der Schulverwaltung angewiesen, gesellte sich spätestens seit den achtziger Jahren eine immer lauter und selbstbewusster auftretende Lehrerbewegung hinzu. Anhand des Erfolgs der Lehrervereine lässt sich die Relevanz wichtiger Richtungsbegriffe des Modernisierungsprozesses des 19. Jahrhunderts wie Säkularisierung, Zentralisierung, soziale Differenzierung und Partizipation aufzeigen. Für die gesellschaftliche Hebung des Lehrerberufs war außer der zunehmenden Seminarbildung und den wachsenden Organisationsbemühungen die bessere Bezahlung der Lehrerschaft bedeutsam. Die immer wieder in den amt­ lichen Zeitungsberichten auftauchenden Klagen der Regierung, nicht genügend »brauchbare Lehrer« einstellen zu können, wurde noch bis in die sechziger und siebziger Jahre hinein damit begründet, »daß das Einkommen der Lehrer nicht mit den Anstrengungen in Verhältniß stand, welche der mühselige Beruf des Elementarlehrers erfordert.« Gleiches gelte für das Verhältnis mit dem Einkommen anderer gleichrangiger Berufe.346 Besonders die Landschullehrer blieben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf diverse Zusatzeinkünfte angewiesen. Von den 1818 erhobenen Landschullehrern königlichen Patronats verdienten beispielsweise weniger als die Hälfte mehr als 40 Taler an jährlichen Barmitteln. Acht Lehrer mussten sich sogar mit dem minimalen Zuschuss von 2 Talern begnügen.347 Aufgrund des niedrigen Gehalts waren die Landschullehrer noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein vom Schulgeld, den Gebühren für die kirchlichen Nebenämter und den Naturalleistungen, also den Erträgen der eigenen Garten- und Ackerflächen abhängig. In der Landsynode Pasewalk wurde 1846 etwa in der Parochie Stolzenburg das Gehalt der vier Lehrerstellen zwar auf durchschnittlich 154 Taler taxiert. Von diesen entfielen jedoch nur knapp 16 Taler auf Barmittel, 88 Taler auf das Schulgeld und 39 Taler auf den Naturalertrag. Die beiden Lehrer, die im Nebenerwerb als Küster beschäftigt waren, verdienten sich zudem jährlich rund 10 bzw. 25 Taler an Gebühren hinzu.348 345 Vgl. PBS, Jg. 16, 1892, S. 14 f. 346 GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16046, Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1867/68, Stettin 26.2.1868. 347 Vgl. APS, NPPP, Nr. 4274, Klassificationstableau der Landschulen Königlichen Patronats in Pommern [1818]. 348 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 3777, Bericht über die in der Parochie Stolzenburg gehaltene Schulvisitation, Pasewalk 16.11.1846.

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Auch in den anderen Landsynoden waren die Küstergebühren oder der Neben­erwerb in der Bienenzucht, im Seiden- und Obstbau erforderlich, um den Lehrern ein auch nur halbwegs erträgliches Einkommen zu gewähren. Die Stettiner Regierung unterstützte deshalb zeitweise mit Prämien die Züchtung von Obstbäumen und über die Vergabe von Maulbeerbäumen die Seidenproduktion.349 Das mit großen Erwartungen gestartete Seidenprojekt wurde freilich aufgrund mangelnder Erfolge schon nach einigen Jahren wieder eingestellt.350 Auch versuchte die Regierung die Schulen in den zwanziger Jahren, bei den einsetzenden Regulierungen und Separationen zu bedenken. Im Bericht der Königlichen Generalkommission von 1838 wurde vorläufig festgehalten, dass bis dahin in Pommern insgesamt 95 Schulämter mit 857 Morgen Land, 34 ½ Talern und Hüteberechtigungen für 48 Kühe dotiert worden seien.351 Da man außerdem davon ausging, dass die Separationen mittelfristig den Wohlstand der Dorfgemeinden steigerten, erhoffte sich die Bezirksregierung hierüber auch eine indirekte Förderung des Schulwesens.352 Obwohl die Schulverwaltung frühzeitig erkannt hatte, dass das am Seminar Erlernte bald infolge der Nebenerwerbstätigkeit der Lehrer verloren zu gehen drohte,353 verbesserte sich das Los der Landschullehrer nur in kleinen Schritten. Insbesondere die Lehrer in Schulen privaten Patronats waren in ihrer Besoldung mehr oder weniger der Willkür ihrer Schulherren ausgeliefert. Zwar finden sich in den Akten der Schulverwaltung und dem Amtsblatt Stettin Beispiele, in denen einzelne Gutsbesitzer Gehaltssteigerungen der Lehrer ermöglichten, die meisten dieser Lehrer gehörten allerdings zu den am geringsten bezahlten des Bezirks. In den Fällen, in denen die Gutsbesitzer Zuschüsse ermöglichten, steigerten diese zudem die Abhängigkeit der Lehrer. Im Fall der notwendigen Emeritierung des Dorfschullehrers von Utzedel in der Landsynode von Demmin war etwa der dortige Patron, Baron von Maltzahn, nur bereit, einen neu einzustellenden Lehrer zu unterstützen, wenn dieser gleichzeitig als sein Hilfs­ sekretär arbeiten würde. Zwar verweigerte die Regierung die offizielle Verbindung der Tätigkeit des Hilfslehrers mit dem Sekretärsamt, jedoch hielt sie den Kreisschulinspektor pragmatisch dazu an, sich der auf diese Weise ermöglichten finanziellen Hebung der Stelle nicht entgegenzustellen.354 Immerhin lohnte sich die Doppeltätigkeit für den neuen Lehrer. Von den 1852 nachgewiesenen 245 Talern Einnahmen entsprangen 150 Taler seiner Stelle als Sekretär.355 349 Vgl. Amtsbl. Stettin, Nr. 41, 9.10.1835, S. 217, Verordnung der Reg. St., Stettin 26.9.1835. 350 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16037, Ztgsb. Juni 1838, Stettin 4.7.1838, Ztgsb. Juli 1838, Stettin 4.8.1838 u. Ztgsb. Okt. 1838, Stettin 5.11.1838. 351 Vgl. Amtsbl. Stettin, Nr. 14, 6.4.1838, S. 71 f. 352 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16021, Ztgsb. Dez. 1822, Stettin 4.1.1823. 353 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16018, Ztgsb. Nov. 1819, Stettin 4.12.1819. 354 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 792, Schulvisitationsprot. des Kirchspiels Sanzkow, Demmin 20.8.1845. 355 Vgl. ebd., Schulvisitationsprot. des Kirchspiels Sanzkow, Demmin 16.11.1852.

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Um die privaten Patrone zu Gehaltssteigerungen zu bewegen, verwies die Regierung sonst auf die Vorbildfunktion der Stellen königlichen Patronats. Nachdem man 1827 festgestellt hatte, dass von diesen mehr als die Hälfte ein Einkommen von weniger als 40 Taler besaß, setzte die Regierung ihr Mindestgehalt exklusive Feuerung, Wohnung und Weidefläche auf 60 Taler fest und erhoffte sich davon eine Signalwirkung für den Bezirk.356 Danach tat sich allerdings erst einmal nicht mehr viel hinsichtlich der Lehrerbesoldung. Wenn ein Lehrer ein höheres Gehalt anstrebte, war er in den folgenden Jahren in der Regel auf das persönliche Bittstellen bei der Schulverwaltung angewiesen. Öffentlich plädierten lediglich die Börsennachrichten sporadisch für eine Hebung der Landschullehrergehälter.357 Angesichts der Tatsache, dass die Lehrerbesoldung zwar durchschnittlich die Hälfte der eines Tagelöhners übersteige, oft genug aber darunter liege, stellte ein Redakteur im 1848 die Forderung auf, dass »jeder Weiterbildung der Lehrer […] zunächst eine Verbesserung des Einkommens der Stellen vorangehen [müsse].«358 Erst in den fünfziger Jahren betrieb die Regierung systematisch die Er­höhung der Volksschullehrergehälter. Da schon während der unruhigen Jahre von 1847 bis 1849 die Erhebung der Schulgelder auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen war, ist es nicht verwunderlich, dass dieses Engagement auf Proteste der Bevölkerung stieß. Von allen staatlichen Abgaben waren offenbar gerade zusätz­ liche Ausgaben für die Lehrergehälter nur schwer durchsetzbar.359 1855 meldete die Regierung beispielsweise, dass die Landschullehrer in vielen Gemeinden »Widerwillen« und »Feindschaft« auf sich zögen.360 1856 boykottierten zwei Gemeinden aus dem Kreis Saatzig aus Protest gegen die Erhöhung der dortigen Lehrergehälter sogar für einige Zeit den Kirchenbesuch. Erst der Eingriff durch Polizei und Staatsanwalt gegen den Rädelsführer dieses »Streiks« brachte die Proteste zum Verstummen.361 Dieser Vorfall macht im Übrigen deutlich, dass in den Augen der einfachen Bevölkerung Schule und Kirche noch als Einheit betrachtet wurden. Trotz des Widerstands der ärmeren Landgemeinden konnte die Regierung in den fünfziger und sechziger Jahren erhebliche Erfolge in der Erhöhung der Gehälter vermelden. Zwischen 1852 und 1859 wurde allein die Besoldung der Landschullehrer des Stettiner Bezirks um mehr als 10.462 Taler erhöht.362 Rech356 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16032, Ztgsb. Dez., Stettin 3.1.1834. 357 Vgl. etwa die Artikel »Die humanistische und die industrielle Bildung«, in: Bn, Nr.  90, 11.11.1839 u. »Die materielle Bedrängniß des Lehrstandes«, in: Bn, Nr. 92 16.11.1846. 358 Vgl. den Artikel »Elementarschulen u. politische Bildung«, in: Bn, Nr. 62, 24.5.1848. 359 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16044, Ztgsb. der Monate Jan. u. Feb. 1853, Stettin 5.3.1853, Sept. u. Okt. 1853, Stettin 7.11.1853 sowie März u. April 1855, Stettin 5.5.1855. 360 Vgl. ebd., Ztgsb. Juli u. Aug. 1855, Stettin 6.9.1855. 361 Vgl. ebd., Ztgsb. März u. April 1856, Stettin 6.5.1856. 362 Vgl. Amtsbl. Stettin, Nr. 19, 8.5.1857, S. 159, Nr. 22, 28.5.1858, S. 161 f., Nr. 38, 23.9.1859, S. 310 u. Nr. 34, 24.8.1860, S. 169.

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net man Stadt- und Landschullehrer zusammen, steigerten sich die Zahlungen bis 1866 sogar um mehr als 39.345 Taler. Da im gesamten preußischen Staat rund 8 % der Gehaltssteigerungen dieser Jahre vom Staat aufgebracht wurden, macht der geringe staatliche Anteil von 2,4 % im Stettiner Bezirk den Widerstand der Gemeinden verständlich.363 Der geringe Staatsanteil an diesen Leistungen wird auch daran deutlich, dass 1861 von der Gesamtsumme der Landschulgehälter in der Provinz Pommern (367.876 Taler) nur 3,2 % durch Staatsfonds aufgebracht wurden. Die Gemeinden trugen zu diesem Zeitpunkt 59,4 % der Beträge, das Schulgeld deckte immerhin noch 37,4 % ab.364 Trotzdem legten die Schulabteilung, wie die Staatsregierung, die vermehrt das dringende Bedürfnis einer höheren Besoldung anmerkte,365 den Gemeinden in den sechziger Jahren eine weitere Erhöhung der Lehrergehälter auf. Nachdem 1867 festgestellt worden war, dass von den 1.055 Landschullehrern des Bezirks inklusive der diversen Natural- und Küsterleistungen immer noch 341 weniger als 120 Taler verdienten, verordnete man, diese summarisch auf den entsprechenden Betrag anzuheben. Obwohl der Handelsminister 1866 für einfache Landschullehrer einen jährlichen Bedarf von 180 Talern in den Ostprovinzen (gegenüber 150 Talern einer Tagelöhnerfamilie)  und 200 Talern in den Westprovinzen schätzte,366 erhob sich nun selbst bei den Landräten des Stet­tiner Bezirks Protest. Unter der Führung des älteren Bruders des preußischen Ministerpräsidenten, des Naugarder Landrats Bernhard von Bismarck, beschwerten sich diese beim Oberpräsidenten von Münchhausen, dass die Regierung falsch handle und unrechtmäßig in die finanziellen Verhältnisse der Schulsozietäten eingreife. Außerdem warfen sie der Regierung vor, die Erhöhung nur als »Nachgiebigkeit gegen gewisse Zeitströmungen« und »manchmal sogar gegen den Wunsch des Lehrers vorgeschrieben« zu haben.367 Allerdings verteidigte der Oberpräsident unter Verweis auf den zunehmenden Lehrer­ mangel des Bezirks die Steigerung und forderte die Landräte auf, sich in ihren Kreisen für die Gehaltserhöhungen stark zu machen.368 Erst nach dem erfolgreichen Ende des Deutsch-Französischen Kriegs stellte das preußische Finanzministerium erhebliche öffentliche Mittel zur Erhöhung der Elementarschullehrergehälter bereit. Mit der Begründung, dass »die Dotirung der Elementarlehrer […] von politischer Bedeutung [sei], indem die Unzufriedenheit dieser einflußreichen Klasse nachttheilig wirke,« überzeugte Bis-

363 Vgl. Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 383. 364 Vgl. Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen 1886, Tab. 3. 365 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, Staatsministerium, j.R., B III 2b, Nr. 6, Bd. 78, Bl. 130–134, Prot. des Preuß. Staatsministeriums, 31.10.1866. 366 Vgl. ebd., Bl. 133v., Prot. des Preuß. Staatsministeriums, 31.10.1866. 367 Vgl. APS, RSz, II, Nr.  7325, Denkschrift der Landräte des Regierungsbezirks Stettin, Naugard 28.10.1868 an Oberpräsident von Münchhausen zum angedachten Verfahren der Hebung der Lehrergehälter der Reg. St. 368 Vgl. ebd., Antwortschreiben an Landrat v. Bismarck, Stettin 16.1.1869.

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marck das Staatsministerium, ein Mindestgehalt von 200 Talern jährlich zu gewährleisten.369 Die Übersicht über die Entwicklung der Landschullehrergehälter im 19. Jahrhundert zeigt schließlich, dass die Lehrerbesoldung in den achtziger Jahren mit der Ablösung der Schulgeldzahlungen durch Staatsbeihilfen eine weitere Erhöhung erfuhr. Diese fand in Folge der Diskussion um den Erlass eines neuen Pensions- und Besoldungsgesetzes statt. Hieran beteiligten sich auch die Landschullehrer des Stettiner Bezirks. Nicht nur ihnen war aufgefallen, dass die Lehrer der Provinz Pommern und des Stettiner Bezirks immer noch schlechter abschnitten als die der anderen Provinzen. Zwar hatte sich das pommersche Gehaltsniveau von 1820 bis 1870 von 60,7 %, auf 77,9 % gegenüber dem gesamtpreußischen Durchschnitt gesteigert, in den achtziger und neunziger Jahren verharrte es jedoch bei ca. 90 %.370 1891 folgte der Beschwerde einiger Landschullehrer des Randower Kreises, dass die Teuerungsrate auf dem Land in vielen Gebieten der in den Städten entspräche, eine Konferenz der Oberpräsidenten der vier Ostprovinzen. Die Oberpräsidenten verständigten sich dort, die Gehälter der Landschullehrer einheitlich anzuheben, »um ein Fluktuiren der Lehrer nach Möglichkeit zu vermeiden«.371 Die Absichtserklärung führte freilich vom Standpunkt der Landschullehrer zu keiner Erleichterung. Noch 1890 kam die Regierung in einem Reskript an sämtliche Landräte des Bezirks zum Ergebnis, dass ein Gesamteinkommen von 750  Mark einem Landschullehrer ein »auskömmliches, wenn auch knappes« Einkommen verschaffe.372 1896 nahm ein Lehrer zum Problem der Landflucht pommerscher Landschullehrer in den Pommerschen Blättern für die Schule Stellung und beschwerte sich über das große Missverhältnis zwischen dem Gehalt eines Landpastors und dem eines Landschullehrers. Während ein Lehrer zwischen 900 und m ­ aximal 1.500 Mark im Jahr verdiene, werde ein Pastor auf den Land gewöhnlich mit mehr als dem Vierfachen dotiert. In deutlichen Worten beschrieb er die Arbeit eines Landschullehrers als ständigen »Kampf ums Dasein«, dessen viele Nebenbeschäftigungen den »Lehrer oft so schwer drücken, wie den Sclaven seine Ketten«.373 Darauf begann der Pommersche Lehrerverein das Einkommen seiner Mitglieder zusammenzutragen und veröffentlichte die eingehenden Listen

369 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90, Staatsministerium, j.R., B III 2b, Nr. 6, Bd. 83, Bl. 260–261, Prot. des Preuß. Staatsministeriums, 17.11.1871. 370 Eigene Berechnung auf Grundlage der PBS, Jg. 13, 1889, S. 348 f., Jg. 17, 1893, S. 18, Jg. 20, 1896, S. 386, Lewin, S. 214 f., S. 300, S. 314; Schneider u. Bremen 1887, S. 386 f. und Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen 1891, Theil II, passim. 371 Vgl. APS, SPSz, Nr. 664, Abschrift der Ergebnisse über die Conferenz zur Angleichung der Lehrergehälter in Pommern, Stettin 7.12.1891. 372 Vgl. APS, SPSt, Nr. 541, Reskript der Reg. St. an alle Landräte, Stettin 14.9.1891. 373 Vgl. den Artikel »Was veranlaßt die Lehrer, vom Land in die Stadt zu ziehen?«, in: PBS, Jg. 20, 1896, S. 330 f.

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in den Pommerschen Blättern für die Schule.374 In mehreren Artikeln wurden diese Daten mit den höheren Gehaltslisten mittlerer Reichsbeamter oder den Kirchen- und Missionsspenden einzelner Gemeinden verglichen, um so auf die Ungerechtigkeit der schlechten Besoldung hinzuweisen.375 Als schließlich 1897 im neu erlassenen Besoldungsgesetz Pommern mit den östlichen Provinzen des Staates gleichgesetzt wurde, was konkret gegenüber den Landschullehrern der Rheinprovinz wieder eine Gehaltsminderung von 110 bis 520  Mark entsprach,376 regte sich in der Provinz erneut lautstarker Protest. Mehrere pommersche Landschullehrer wandten sich mit einem Aufruf gegen die geringere Besoldung im Ostteil Preußens und forderten wenigstens die Gleichstellung mit den pommerschen Stadtschullehrern.377 Auch andere Artikel wiesen darauf hin, dass das Leben auf dem Land etwa wegen der Vervollkommnung des »Verkehrsstraßennetz« schon längst keine »Schlaraffen-Preise« mehr biete und allein deshalb die geringere Bezahlung nicht gerechtfertigt sei.378 An anderer Stelle machte man darauf aufmerksam, dass die pommerschen Lehrer in der Steigerung ihrer Gehälter seit Jahren gegenüber den Lehrern anderer Provinzen benachteiligt worden seien. Wären in Pommern die Landschullehrergehälter von 1897 aus betrachtet in den letzten fünf Jahren nur um durchschnittlich 31 Mark gestiegen, liege die Durchschnittssumme im gesamten Staat bei 98 Mark. Nach Ansicht der Redaktion der Pommerschen Blätter seien diese Zahlen für den zunehmenden Lehrermangel verantwortlich. Außerdem gäben »diese […] kein erfreuliches Bild von der Fürsorge für die Bildung des Volkes in Pommern und deren Bevölkerung [ab]«.379 Die Gehaltsklassen wurden indes nicht weiter angetastet, was sicherlich auch dem finanziellen Leistungsvermögen der Provinz entsprach. Daher waren die pommerschen Landschullehrer noch bis in das 20. Jahrhundert hinein auf die Einkünfte aus kirchlichen Nebenämtern angewiesen. Von den 1.232 protestantischen Landschullehrerstellen der Provinz im Jahr 1891 führten noch 736 (59,7 %) eine kirchliche Nebenbeschäftigung aus. Dieses entsprach durchschnittlichen Zusatzeinnahmen von 219 Mark, die in die Gesamtbesoldung mit eingerechnet wurden.380 Dass in einer Aufstellung aus dem Jahr 1901 374 Vgl. etwa den Artikel »Einkommensnachweisung von Landlehrerstellen in Pommern«, in: PBS, Jg. 20, 1896, S. 6. Dass nur rund die Hälfte der pom. Landschullehrer ihr Einkommen meldete, erklärte der Verfasser u. a. mit der Furcht der Lehrer vor ihren Vorgesetzten. 375 Vgl. etwa den Artikel »Die ungleiche Verteilung der Volksschullehrer«, in: PBS, Jg. 21, 1897, S. 90 f. u. die Zusammenstellung der Gehaltslisten, in: PBS, Jg. 20, 1896, S. 386 f. 376 Vgl. die entsprechenden Gehaltstabelle, in: PBS, Jg. 21, 1897, S. 283. Beispielweise wurde in der Gehaltsklasse IV für Pommern ein Gesamtgehalt von 1.350 Mark gegenüber 1.460 Mark in der Rheinprovinz angeben. Als Maximalgehalt für die Klasse I standen 1.800 Mark in Pommern 2.320 Mark in der Rheinprovinz gegenüber. 377 Vgl. den Text des Aufrufs, in: PBS, Jg. 21, 1897, S. 338. 378 Vgl. den Artikel »Ein Volksschullehrerstand oder eine Volksschullehrerklasse I u. Ia?«, in: PBS, Jg. 21, 1897, S. 338 f. 379 Vgl. den Artikel »Lehrermangel in Pommern«, in: PBS, Jg. 22, 1898, S. 384 f. 380 Vgl. Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen 1891, Theil I.

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nur 19 % aller 76.333 preußischen Volksschullehrer ein kirchliches Nebenamt ausübten,381 unterstreicht erneut die relative Rückständigkeit Pommerns gegenüber den westlichen Provinzen der Monarchie. Wenn auch bis zur Jahrhundertwende die pommerschen Landschullehrer weiterhin geringer als ihre Pastoren, etwa vergleichsweise wie die Briefträger der Staatspost, besoldet wurden, rückten sie dennoch im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts deutlich in der Einkommensverteilung nach vorne. Mit einer durchschnittlichen Gesamtbesoldung von 900 bis 1.200 Mark382 ließen sie 1895 bereits mehr als 75 % der besteuerungsfähigen Bevölkerung Preußens hinter sich.383 Insgesamt schaltete sich der Staat im Vergleich zu den früheren Angaben über die Finanzierung der Schullasten am Ende des 19. Jahrhunderts mehr und mehr in das Schulwesen ein. Das zunehmende öffentliche Engagement machte die höhere Finanzierung der Landschullehrergehälter überhaupt erst möglich. Nach der Schulgeldbefreiung von 1884 wurden etwa 1891 von den über 4,6  Mio. Mark umfassenden Aufwendungen für das Schulwesen der Provinz schon 57,6 % aus Staatsfonds bestritten. Die restliche Summe ergab sich aus den Mitteln der Verpflichteten. Lediglich 7.487 Mark wurden noch durch Schulgeld aufgebracht, das jetzt nur noch mittels einer Ausnahmegenehmigung erhoben werden durfte.384 Dass im gesamtpreußischen Durchschnitt das Verhältnis von Staatsausgaben und den Mitteln der Verpflichteten umgekehrt ausfiel, demonstriert einerseits die zunehmende Bedeutung des staatlichen Anteils an der Hebung des Schul­ wesens, andererseits aber auch die relative Armut der Provinz, welche der Staat keinen höheren privaten Anteil zumuten wollte. Trotz dieses Belegs für die finanzielle Schwäche der Provinz lagen die Bezirke Stettin, Stralsund und Köslin 1891 in den Aufwendungen für das öffentliche Volksschulwesen mit Beträgen von auf dem Land 3,78 bzw. 3,65 und 4,48 Mark vor den östlichen Bezirken im preußischen Mittelfeld.385 Hiermit hatten sich die Ausgaben für das Volksschulwesen Dank des gestiegenen staatlichen Anteils seit 1861 immerhin verdreifacht.

381 Vgl. Kuhlemann, S. 258. 382 Vgl. PBS, Jg. 20, 1896, S. 6. 383 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd.  3, S.  710, Übersicht 100: Nominal­ einkommen in Preußen, 1985–1912. Die Zensitenzahl der Einkommenssteuerklasse  I umfasste nach Wehler 8,5 Mio. Preußen mit einem Jahreseinkommen von weniger als 900  Mark. Demgegenüber standen 3,1 Mio. Preußen, die aufgegliedert in 14 weiteren Steuer­k lassen mehr als 900 Mark verdienten. 384 Vgl. Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen 1891, Theil I. 385 Vgl. ebd., S. 177.

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1.3.8 Die Verberuflichung des Lehrerstandes und die Hebung der Lehrergehälter in den Städten In den Klein- und Mittelstädten fiel sowohl der Ausbildungsstand als auch die Bezahlung der Lehrerstellen und schließlich die Belastung durch die kirch­ lichen Nebenämter weniger gravierend als auf dem platten Land aus. Selbst in den sonst so häufig als Problemfälle ausgewiesenen Kleinstädten Plathe und Jarmen kann man seit den zwanziger Jahren am Stettiner Seminar ausgebildete Lehrer nachweisen. Für die größeren Städte galt das im gleichen Maß. Das Lehramt an den Gymnasien und die Oberlehrerstellen der höheren Schulen waren bereits nach dem 1810 in Preußen eingeführten Examen pro facultate docendi auf einem hohen Niveau professionalisiert worden. Lediglich an höheren Schulen, die Elementarklassen mit einschlossen, waren in Ausnahmefällen noch Lehrkräfte ohne einen entsprechenden Befähigungsnachweis oder eine ­Seminarausbildung tätig. Am heterogensten blieben die Kollegien an den höheren Töchterschulen aufgestellt. In einer Übersicht von 1886 teilten sich die 94 Lehrkräfte der zehn höheren Mädchenschulen des Stettiner Bezirks vergleichbar mit den gesamtpreußischen Zahlen in eine kleine Gruppe Gymnasiallehrer (16) sowie eine größere Gruppe am Seminar gebildeter Personen (26) auf. Danach folgten in der schulinternen Hierarchie zehn »anderweitig gebildete« Lehrer vor den 42 Lehrerinnen.386 Mit Blick auf die Stadtschullehrergehälter ist festzustellen, dass schon 1820/21 die Besoldung in den Städten drei- bis viermal so hoch ausfiel wie auf dem platten Land. Da die Stadtschullehrer zumeist keine Garten- und Ackerflächen besaßen und häufig keine freie Wohnung zur Verfügung gestellt bekamen, relativiert sich freilich der Gehaltsabstand. Spätestens als mit der Verteuerung der Lebenshaltungskosten in den vierziger und fünfziger Jahren die Lage der Stadtschullehrer drückender wurde, bemühte sich die Regierung auch die Klein- und Mittelstädte zu Gehaltssteigerungen zu motivieren. Als ein spezielles Problem der Stadtschullehrer sah die Regierung den wachsenden sozialen Status der Lehrer an. So führte die Stettiner Bezirksregierung in ihrem Zeitungsbericht aus dem Jahr 1853 aus, dass es die Stadtlehrer »ihrem Stande schuldig [seien] mancherlei äußerliche Rücksichten zu beobachten – sie sollen reinlich gekleidet erscheinen, dürfen keine Nebenbeschäftigung betreiben, die zu ihrem Amte nicht passen, und können sich keiner Tagelöhnerarbeit hingeben.«387

Infolge dieser Repräsentationspflicht als Vertreter von Kirche und Staat seien die Stadtlehrer nach ihrem Selbstverständnis mithin verpflichtet, eher am Hungertuch zu nagen, als im zerrissenen Rock die Schule zu besuchen. 386 Vgl. APS, NPPP, Nr. 4043, Auszug aus der Statistischen Übersicht über die in Preußen vorhandenen höheren Mädchenschulen. Separatdruck aus dem Centralbl. für die gesammte Unterrichtsverwaltung, Berlin 1886. 387 GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16044, Ztgsb. Juli u. Aug. 1855, Stettin 6.9.1855.

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Wie bei allen finanziellen Angelegenheiten stieß die Erhöhung der Lehrergehälter natürlich auch in den Städten auf Widerstand. Hierbei wurde um die kleinsten Beträge gerungen. Im Fall eines Lehrers in Demmin, dem 1842 auferlegt worden war, 40 Wochenstunden in einer Klasse mit 130 Schülern zu unterrichten, musste der Schulrat Graßmann mehrfach bei der Stadtverordnetenversammlung intervenieren, als diese dem Lehrer einen Gehaltsaufschlag von sechs Talern verweigerte.388 Auch der Widerstand, das städtische Schulwesen weiter auszudifferenzieren, entzündete sich zumeist konkret an den hierzu notwendigen höheren Gehältern für studierte Lehrer. Nachdem 1856 die Regierung einem nicht studierten Lehrer die Anerkennung als Rektor der Schule von Greifen­hagen verweigert hatte, eskalierte zwischen Magistrat, Stadtverordnetenversammlung, Schuldeputation, Landrat und Regierung ein Konflikt, der in dieser Stadt über mehrere Jahre die Einstellung höher bezahlter studierter Lehrer verhinderte. Grundlage der Auseinandersetzung war, dass der Greifenhagener Magistrat ursprünglich nur 400 Taler für die Rektorenstelle bewilligt hatte. Da für diesen Betrag kein einziger ausreichend qualifizierter Lehrer gefunden werden konnte, hatte die Stadt einfach einen gewöhnlichen Lehrer eingestellt.389 Wie auf dem Land forderte die Bezirksregierung auf Anweisung des Kultus­ ministeriums auch in den Städten seit den fünfziger Jahren summarische Erhöhungen der Lehrergehälter. Während die ersten Steigerungen zur Schaffung eines Mindestgehaltsniveaus von 180 Talern zu Beginn der fünfziger Jahre in Städten wie Stargard,390 Anklam und Pyritz391 ohne größeren Widerstand durchgesetzt worden waren, stießen die bereits wenige Jahre später folgenden neuen Forderungen selbst in der Musterstadt Anklam auf Unverständnis. In diesem Falle setzte sich sogar die Bezirksregierung beim Ministerium dafür ein, vorerst von einer weiteren Erhöhung abzusehen, denn die Stadt habe ja bisher immer »guten Willen« gezeigt. Obwohl letztlich noch der Oberpräsident von Senfft-Pilsach eingeschaltet worden war, rückte das Ministerium jedoch nicht von seinem Standpunkt ab.392 Auch im Fall der Erhöhung der Lehrergehälter in Jarmen musste der Oberpräsident als schlichtende Instanz angerufen werden. Der Magistrat kritisierte, dass die Lehrer (Besoldungen in der Höhe von 120 bis 200 Talern) beinahe mit den Gehaltsstufen des städtisch besoldeten Bürgermeisters (290 Taler) und Kämmerers (200 Taler) gleichzögen.393 Da auch hier die Regierung nicht von ihrem Standpunkt einer gemäßigten Hebung abwich,

388 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 850, Reg. St. an Demminer Magistrat, Stettin 10.11.1842. 389 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 2757, Reg. St. an Greifenhagener Magistrat u. Stadtverordnetenversammlung, Stettin 12.5.1857. 390 Vgl. Amtsbl. Stettin, Nr. 2, 23.2.1855, S. 8. Vgl. auch GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16044, Ztgsb. Nov. u. Dez. 1854, Stettin 6.1.1855. 391 Vgl. Amtsbl. Stettin, Nr. 44, 29.10.1852, S. 372. 392 Vgl. APS, NPPP, Nr. 4054, Oberpräsident v. Senfft-Pilsach an Anklamer Magistrat, Stettin 16.8.1858. 393 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 946, Magistrat an Reg. St., Jarmen 12.11.1856.

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versuchte der Magistrat, sein Finanzierungsproblem in den nächsten Jahren dadurch zu lösen, dass er für auswärtige Kinder das Schulgeld von einem Taler und sieben Silbergroschen um 25 Silbergroschen fast verdoppelte. Während die Regierung in diesem Fall die Erhebung eines Schulgelds für die städtischen Schüler als sinnvoll beurteilte, lehnte sie nach der Beschwerde eines Dorfschulzens die zusätzliche Belastung der auswärtigen Schüler ab.394 Die Stadtgemeinde hatte die Hebung der Lehrergehälter selber zu tragen. Trotz der vielfältigen Proteste der Stadtvertreter und auch einfacher Ein­ wohner des Regierungsbezirks konnte das Stettiner Amtsblatt in den Jahren 1852 bis 1859 Gehaltssteigerungen der städtischen Lehrer in der Summe von 11.897 Talern vermelden.395 Wie bei den Landschullehrern muss freilich konstatiert werden, dass der Staat zwar diese umfangreichen Gehaltssteigerungen verordnet hatte, sich dann jedoch weitgehend aus der Finanzierung heraushielt. Weniger als 5 % dieser Summe wurden aus Staatsfonds aufgebracht. Auch in den siebziger und achtziger Jahren bemühte sich die Regierung, weitere Gehalts­ steigerungen durchzusetzen. Da die Schaffung neuer Stellen von der Genehmigung der Regierung abhing, machte sie bei den Neueinstellungen häufig Vorgaben, die sich dann auf das gesamte Kollegium auswirkten. Wie weit in den Gehaltsfragen die Vorstellungen von Kommunen und der Regierung auseinander liegen konnten, zeigt ein Fall in Jarmen aus dem Jahr 1879. Als die Stadt eine Stelle mit der Besoldung von 570 Mark schaffen wollte, forderte die Regierung unter Verweis auf die veränderten Lebensbedingungen in der Provinz die Kommune auf, diese auf 750 Mark anzusetzen und gleichzeitig die Besoldung der ersten Lehrerstelle auf 1.520 Mark zu erhöhen.396 Trotz dieser Bemühungen der Regierung blieben auch die Durchschnittsgehälter der Stadtschullehrer hinter denen Gesamtpreußens zurück. Zwischen 1860 und 1880 lag das pommersche Gehaltsniveau zwischen 90 % und 95 % des gesamtpreußischen Durchschnitts. Eine Angabe von 1891 beziffert das Niveau des Stettiner Bezirks sogar lediglich bei 79,9 % (1.095 Mark versus 1.370 Mark).397 Lediglich bei den mittleren Knaben- und den höheren Mädchenschulen lagen die Gehälter Ende des 19. Jahrhunderts mit durchschnittlich 2.176 Mark in der Nähe des preußischen Besoldungsdurchschnitts (2.353 Mark).398 Diese gegenüber den Landschul- und einfachen Stadtschullehrern besser bezahlten Lehrer gehörten 1895 mit ihrem Einkommen der 7., 8. und 9. Einkommensteuerklasse an und ließen bereits über 90 % der steuerfähigen Bevölkerung Preußens hinter 394 Vgl. ebd., Reg. St. an Magistrat von Jarmen, Stettin 28.5.1859. 395 Vgl. Amtsbl. Stettin, Nr.  19, 8.5.1857, S.  159, Nr.  22, 28.5.1858, S.  161 f., Nr.  38, 3.9.1859, S. 310 u. Nr. 34, 24.8.1860, S. 169. 396 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 946, Schulrat Schumann an Magistrat von Jarmen, Stettin 25.6.1879. 397 Eigene Berechnungen auf Grundlage der PBS, Jg. 13, 1889, S. 348 f., Jg. 17, 1893, S. 18, Jg. 20, 1896, S. 386, Lewin, S. 214 f., S. 300 u. S. 314, Schneider u. Bremen 1887, S. 386 f., Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen 1891, Theil II, passim. 398 Vgl. Statistische Bureau, Das gesammte Volksschulwesen 1891, Theil I, S. 255.

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sich.399 Hinzu kam, dass die Lehrer von verschiedenen zusätzlichen Kosten wie Eisenbahn- und Chausseebauabgaben verschont blieben. Nimmt man zuletzt wieder das eigenständige Engagement der Lehrer als einen wichtigen Faktor für die Hebung des Schulwesens an, lässt sich ein solches Engagement an den Stadtschulen weitaus eher feststellen als an den Landschulen. Da selbst eine kleine Stadtschule wie die in Jarmen bereits in den vierziger Jahren drei Lehrer angestellt hatte, erklärt es sich von selbst, dass ein solches Kollegium selbstbewusster gegenüber Eltern, Stadtverwaltung, Schulinspektor und Regierung auftrat als der häufig auf sich allein gestellte Landschullehrer. Insbesondere in den Mittelstädten, wo zudem besser ausgebildete Lehrer die Rektorenstellen besetzten, war die Lehrerschaft als an der Hebung des Schulwesens entscheidend beteiligter Akteur nicht wegzudenken. Dabei traten die Stadtschullehrer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts offensiv als Verfechter einer Durchsetzung der Schulpflicht und einer weiteren Hebung des Schulwesens auf. Wo dieses größere Engagement auf Sanktionen der Stadt stieß, konnten die Lehrer in der Regel mit der Unterstützung der Bezirksverwaltung rechnen. Wenn beispielsweise in Jarmen 1870 kurzzeitig dem Lehrerkollegium mit Ausnahme eines Lehrers, der mit einem Mitglied der Schuldeputation verwandt war, die Gehälter gekürzt wurden,400 spornten solche Berichte die Schulräte eher dazu an, der Stadt eine weitere Hebung des Schul­ wesens anzuempfehlen. 1.3.9 Die Verberuflichung des Lehrerstandes und die Hebung der Lehrergehälter in der Großstadt Stettin Das wachsende Selbstbewusstsein sowohl eines aufstrebenden Stadtbürgertums als auch einer sich verbürgerlichenden Stadtlehrerschaft zeigte sich vor allem in der Großstadt Stettin. Als intellektuelle Köpfe Stettins engagierten sich besonders die Lehrer des Gymnasiums und der Realschule frühzeitig. 1848/49 waren in den städtischen Kollegien alle politischen Richtungen vertreten. Mit Karl Ludwig Stahr, Theodor Schmidt, Wilhelm Kleinsorge und dem jungen Hilfslehrer Carl Brunnemann lehrten in Stettin mehrere Personen, die sich führend in den demokratischen Assoziationen der Stadt, dem Volksverein und dem Con­stitutionellen Club, betätigten. Brunnemann war angeblich sogar derjenige, der im März 1848 nach dem Besuch Berlins im Stettiner Bahnhof vom Dach eines Eisenbahnwagons die Neuigkeit der Revolution verkündete.401 Der Direktor Hasselbach, der bereits 1847 von einem Kollegen der Gottlosigkeit bezichtigt worden war, trat 1848 mit der Forderung der endgültigen Trennung

399 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 710. 400 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 946, Visitationsbericht des Kreisschulinspektors, Demmin 12.8.1870. 401 Vgl. Steffen, S. 19 u. S. 98.

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von Schule und Kirche an die Öffentlichkeit,402 und selbst einige Oberschüler bildeten demokratische Schülerklubs.403 Mit Ludwig Giesebrecht vertrat in der Frankfurter Nationalversammlung ein Gymnasiallehrer die Stettiner Interessen, der sich der Casino-Fraktion anschloss.404 Das konservative Lager der Stettiner Lehrerschaft repräsentierte der Direktor der Friedrich-Wilhelm-Realschule, Karl Gottfried Scheibert. Der Sohn eines Dorfschneiders, Schulmeisters und Küsters aus Stargard wurde 1848 Vorsitzender des gemäßigt konservativen Konstitutionellen Vereins und 1850 als städtischer Vertreter in das Erfurter Unionsparlament gewählt.405 Wie das politische Kräftemessen in der Lehrerschaft Stettins nach dem Ende der Revolution von 1848/49 vorerst ausging, zeigt die erfolgreiche Karriere Scheiberts, der 1855 zum Schulrat in Breslau aufstieg, während sich Stahr, Hasselbach und Giesebrecht in die innere Emigration zurückzogen. Brunnemann wurde sogar in Abwesenheit aus dem Schuldienst entlassen, nachdem er sich in Folge der Reichsverfassungskampagne am Badischen Aufstand beteiligt hatte. Zwar mahnte die Provinzialschulabteilung in den fünfziger Jahren regelmäßig politischen Gehorsam an und behielt politisch auffallende Lehrer im Auge, vergleichbar wie bei den Landschullehrern hielt die örtliche Verwaltung jedoch über ihre Lehrer eine schützende Hand. Als Minister Ladenburg 1849 per Reskript die Provinzialschulabteilung aufforderte, Namenslisten mit sich politisch exponierenden Gymnasiallehrern aufzustellen,406 antwortete diese, dass es in der gesamten Provinz neben Brunnemann nur noch einen Stralsunder Lehrer gegeben habe, der politisch aufgefallen sei und deshalb eine Festungsstrafe zu verbüßen habe.407 Als Ende der fünfziger Jahre das städtische Klima erneut vom Liberalismus beherrscht wurde, politisierte sich auch die Stettiner Lehrerschaft wieder. Von 1867 bis 1887 vertrat der in Stargard geborene schon 1848/49 in Erscheinung getretene linksliberale Oberlehrer Theodor Schmidt den Stettiner Wahlkreis im Preußischen Abgeordnetenhaus und zwischen 1871 und 1878 auch im Reichstag.408 Das politische Engagement der höheren Stadtlehrer von Stettin färbte spätestens zu Beginn der siebziger Jahre auf die einfachen Stadtschullehrer ab. 1872 waren es linksliberal bewegte Stettiner Lehrer, die den Pommerschen Lehrerverein begründeten. In der Regel waren es Stettiner Lehrer, welche die Spitzenpositionen des Verbandes innehatten.409 Wie anderswo im Deutschen Reich 402 Vgl. Hasselbach, passim. 403 Vgl. Steffen, S. 21. 404 Vgl. Schwarz, S. 31. Siehe auch Steffen, S. 62. 405 Vgl. Artikel »Carl Gottfried Scheibert«, in: Wendt, S. 409–411. 406 Vgl. APS, Provinzialschulkollegium, Nr. 100, Reskript des Ministers Ladenburg gegen Untergrabung der Staatsgewalt/Handhabung der Disziplin gegen die Lehrer, Berlin 26.7.1849. 407 Vgl. ebd., Schulrat Graßmann an preußische Innenministerium, Stettin 21.8.1849. 408 Vgl. Haunfelder, Eintrag Nr.  2037 u. Wehrmann, Stettin, S.  477 u. S.  481. Schmidt war nacheinander Fraktionsmitglied der DFP, der Liberalen Vereinigung u. schließlich der Deutsch-Freisinnigen Partei. 409 Vgl. Jubiläumsausgabe der PBS, Jg. 46, 1922, unpaginiert.

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waren jedoch nicht alle Stettiner Lehrer dem Linksliberalismus zuzuordnen. Ende des 19. Jahrhunderts fanden bald sämtliche politische Richtungen unter den deutschen Lehrern Anhänger.410 Die Organisierungsbemühungen der Lehrer trafen in Stettin auf bessere Voraussetzungen als in anderen Teilen Pommerns. Nicht nur bot das liberale, an Bildung interessierte Klima der Großstadt den Lehrern eine höhere gesellschaftliche Anerkennung, auch hinsichtlich des Ausbildungsstands und der Bezahlung waren die Stadtlehrer im Vorteil. Während selbst in den Kleinstädten noch bis zur Mitte des Jahrhunderts Schulmeister ohne Seminarbildung an den niederen Schulen tätig waren, führte das in Stettin ansässige Lehrerseminar dazu, dass selbst die einfachsten Stadtschulen mit am Seminar gebildeten Lehrern besetzt wurden. Wenn schon darauf hingewiesen wurde, dass sich die Stadt in der Finan­ zierung der Schulbauten positiv hervortat, galt gleiches für die Finanzierung der Lehrergehälter. Insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts berichteten die Behörden regelmäßig von einer erfolgreichen Hebung der Lehrergehälter städtischen Patronats, so dass sich die Lehrkräfte der königlich Las­ tadischen Schule bald zurückgesetzt fühlten und ebenfalls Gehaltssteigerungen zur »Abhülfe ihrer immer drückender werdenden Noth« einforderten. Tatsächlich musste die Schulabteilung des Stettiner Bezirks 1853 in einem Schreiben an Minister Raumer »nicht ohne eine gewisse Beschämung« einräumen, »daß die Schullehrerstellen königlichen Patronats keineswegs so dotirt sind, daß sie den Stellen Privatpatronats als Vorbilder […] ausgestellt werden [können]«, zumal der Behörde in Stettin vorgehalten werde, »daß diese Stellen die am schwächsten dotirten in der ganzen Stadt« seien.411 Während an den städtischen Elementarschulen die Gehälter der 61 männlichen Lehrer durchschnittlich 314 Taler betrugen,412 mussten sich die Lehrer der Lastadischen Schule mit Eingangsgehältern von 120 bis 130 Talern begnügen.413 Auch der Hinweis auf diese Gehaltsunterschiede führte 1861 zur Übergabe der Lastadischen Schule in städtischen Besitz. Ähnlich wie die anderen deutschen Großstädte wurde Stettin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgrund der teilweise mehr als doppelt so hohen Gehälter wie auf dem Land ein Zuwanderungsziel für Landschullehrer. Da die Bewerberzahl in den Städten die Zahl der zu besetzenden Stellen bei weitem überschritt,414 ist davon auszugehen, dass sich zwischen Stadt und Land zunehmend eine Bildungsschere öffnete. Während die fähigsten Lehrer in die Stadt strebten, herrschte auf dem platten Land ein Lehrermangel, so dass zuweilen 410 Vgl. Bölling, S. 89–91. 411 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 4997, Reg. St. an Kultusminister Raumer, Stettin 17.5.1853. 412 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 5058, Etat für die Elementarschulen Stettins für das Jahr 1856, Stettin 29.11.1856. Selbst die 10 Lehrerinnen erhielten immerhin noch zwischen 25 u. 150 Taler im Jahr. 413 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 4997, Reg. St. an Kultusminister Raumer, Stettin 17.5.1853. 414 Vgl. etwa die Klagen eines Landschullehrers, in: PBS, Jg. 21, 1897, 1, S. 90 f.

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einige Stellen unbesetzt blieben.415 Die Regierung versuchte dieses Problem zu lösen, indem alle Absolventen der pommerschen Lehrerseminare eine Einstellungsgarantie hatten. Hierfür mussten die Absolventen freilich jede in den ersten drei Jahren nach der Prüfung angebotene Stelle definitiv annehmen. 1.3.10 Die Ausweitung des Lehrinhalts auf dem platten Land Obgleich Johann Wilhelm Süverns Unterrichtsentwurf von 1817, in den Volksschulen ein breites Bildungsangebot von Religion, Deutsch, Form-, Maß- sowie Zahlenlehre, Naturkunde, Erbeschreibung, Geschichte, Gesang, Schönschreiben, Leibesübungen, einfaches Handarbeiten und Landwirtschaftliche Belehrungen zu unterrichten,416 auch in der Provinz Pommern diskutiert wurde,417 reduzierte sich das preußische Unterrichtsprogramm nach Süverns Tod bis zum Erlass der Allgemeinen Bestimmungen von 1872 weitgehend auf ein christliches Erziehungsprogramm der Treue zu »Gott, König und Vaterland«. Bis zum Erlass der Stiehlschen Regulative von 1854 finden sich lediglich auf der Ebene der örtlichen Schulbehörden Lehrplanvorgaben.418 In ihrer Sammlung von Instruktionen und Verordnungen zur Geschichte des preußischen Volksschulwesens können Schneider und Bremen für die Zeit vor 1854 nur den Lehrplan der Potsdamer Seminarschule als überregional anerkanntes Vorbild anführen. In den dortigen drei Klassen wurden die Realienfächer Geschichte, Naturbeschreibung und Geographie ausschließlich in der Abteilung der älteren Schüler gelehrt. In den beiden unteren Abteilungen dominierte dagegen der Religionsunterricht. Zwar wurde dieser nominell nur auf vier Stunden die Woche festgelegt, weil die Bibel aber neben dem Lese- und Gesangbuch als wichtigstes Unterrichtsmedium galt, kann man die sechs Stunden Lesen, sechs Stunden Deutsch, drei Stunden Schreiben und zwei Stunden Gesang ebenfalls in Teilen dem Religionsunterricht zuordnen. Zudem sollten auch die Realienfächer der Oberklasse zum besseren Verständnis der Bibel verwendet werden.419 Auch die Aufklärung über einfache Naturphänomene, die der Schüler in der eigenen Heimat erleben konnte, diente letztlich der »Verbannung vom Aberglauben […] und [zur] Liebe Gottes«.420 Die preußische Volksschule war dementsprechend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die Vermittlung einer Grund­bildung in Lesen, Schreiben und Rechnen sowie einer religiös-moralischen Erziehung 415 Vgl. PBS, Jg. 22, 1898, S. 384 f. 416 Vgl. den Entwurf eines Allg. Gesetzes über die Verfassung des Schulwesens im Preußischen Staate, § 11. Gedr. in: Lewin, S. 207 f. 417 Vgl. APS, NPPP, Nr. 4035, Nachweisung über die Einrichtung der allg. Elementarschulen [1818]. 418 Vgl. Friedrich, S. 133. 419 Vgl. Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 286. 420 Vgl. so in einer Instruktion für die Landschullehrer der Reg. Gumbinnen, Gumbinnen 18.11.1829. Zit. nach Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 286–288.

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zuständig. Außerdem erfuhr der Religionsunterricht eine zusätzliche Aufwertung durch das amtsgebundene Interesse der geistlichen Schulinspektoren. An den Visitationsberichten des Stettiner Bezirks ist abzulesen, dass sich eine Schulkontrolle fast ausschließlich dem Abfragen religiöser Inhalte widmete. In den vierziger Jahren lief der Besuch eines Superintendenten in etwa folgendermaßen ab: Die Visitation begann durch die Begrüßung des Kontrolleurs mit einem christlichen Lied. Daraufhin mussten einzeln aufgerufene Schüler dem Superintendenten Rede und Antwort zur Bibel und zum Katechismus stehen. Danach folgten eine gemeinsame Bibellektüre sowie ein Diktat des Super­ intendenten. Weiterhin fanden Übungen im Rechnen, der Handschrift und endlich eine Runde mit einfachen Fragen zur Naturgeschichte und Geographie statt. Die Visitation endete schließlich erneut mit dem gemeinsamen Singen christlicher Lieder und einem Gebet.421 Nach Lage der Akten stand in der Beurteilung und Belehrung des Lehrers ebenfalls die Kenntnis der Bibel und des Katechismus im Mittelpunkt. Entsprechende Unkenntnis führte zu deutlichen Ermahnungen. Geographie, Geschichte und Vaterlandskunde bezogen die Kontrolleure dagegen kaum in die Bewertung mit ein. Der Demminer Superintendent Lengerich hat in den fünfziger Jahren lediglich in einem einzigen Fall den wegen seines politischen En­ gagements von 1848/49 aufgefallenen Lehrer gesondert in Vaterlandskunde prüfen lassen.422 Auch die anderen Realienfächer fanden bei Lengerich kein größeres Interesse. Im ungewöhnlichen Fall eines studierten Landschullehrers, der nebenbei die Dorfapotheke führte und physikalische Experimente betrieb, überwog die persönliche Skepsis. In seiner Beurteilung kam der Superintendent gar zu dem Ergebnis, dass dem betreffenden Lehrer »der rechte Volksschulgeist« fehle. Nicht ohne Verachtung urteilte er, dass man sich bei »ihm kaum verständlich machen [könne], da er offenbar zu gelehrt dazu [sei]«.423 Immerhin sprach sich Lengerich aber auch für die Emeritierung vergreister Schulmeister aus, die den Schülern ausschließlich die Prinzipien der alten Landschule »lesen und beten« vermittelten.424 Trotz des religiös-moralischen Schwerpunkts steigerte sich daher die Unterrichtsqualität in Folge der zunehmenden Ablösung der alten Schulmeister durch am Seminar gebildete Lehrer. Anmerkungen zur Didaktik oder auch Ermahnungen, die Schüler nicht körperlich zu züchtigen, sind zwar vereinzelt nachzuweisen, allerdings gab es keine systematischen Standards zur Überprüfung der didaktischen Kompetenz eines Landschullehrers. Lediglich in der ca. alle zehn Jahre stattfindenden Revision durch die Schulräte des Bezirks wurden außer den religiösen Kenntnissen auch die didaktische Methodik der Lehrer evaluiert und die Einrichtung bzw. der 421 Vgl. etwa APS, RSz, II, Nr. 792, passim, das ab 1843 greifende Muster der Visitationen des Superintendenten Lengerich von Demmin. 422 Vgl. ebd., Superintendent Lengerich an Reg. St., Demmin 22.7.1852. 423 Vgl. ebd., Superintendent Lengerich an Reg. St., Demmin 4.9.1856. 424 Vgl. ebd., Superintendent Lengerich an Reg. St., Demmin 29.10.1845.

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Besuch von regionalen Lehrerkonferenzen angemahnt. Hinsichtlich der Gewichtung der Realien- und Grundfächer sprachen sich freilich auch die Schulräte für eine deutliche Dominanz des Religions- und Deutschunterrichts aus. Im Fazit seines Besuchs einer Schule in der Synode Garz brachte 1850 der Schulrat Graßmann seine Skepsis gegenüber dem in der allgemeinen Wertschätzung im Ansehen gestiegenen Realienunterricht zu Papier. Zwar könne man die Vermittlung »gemeinnütziger Kenntnisse in einem für die beschränkten Verhältnisse des Landwesens abgeprägten Umfange […] keineswegs missbilligen«, jedoch dürfe »es nie auf Kosten der Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens und der religiösen Herausbildung der Jugend geschehen«.425 Die 1854 erlassenen Regulative implizierten für den Unterricht der pommerschen Landschulen letztlich keine Beschränkung des Lehrstoffes. Stattdessen stellten sie eine Normierung des zeitgenössischen Standards dar und hatten in manchen Schulen sogar eine Hebung des Unterrichts zur Folge. In den Stiehlschen Regulativen wurde allerdings die christliche Erziehung als Fundament der ländlichen Volksschule umfassend bestätigt. Der möglichst dreißigstündige Unterricht sollte sechs Stunden Religion (Biblische Geschichte, Katechismus, Perikopen), zwölf Stunden Deutsch, fünf Stunden Rechnen, drei Stunden Gesang, sowie nach Möglichkeit für die Abteilung der älteren Schüler eine Stunde praktisches Zeichnen und drei Stunden Realienunterricht umfassen.426 Neben der buchstabentreuen Übernahme der Regulative findet sich im 1860 versandten Zehnjahresrevisionsbescheid der Schulabteilung erstmals eine didaktische Kritik der bisherigen allzu »mechanischen Lehrverfahren«. So beklagte man, dass die Schüler bei den Visitationen nur mit Mühe zum Sprechen gebracht werden könnten, weil die Lehrer selbst zu viel redeten. Insbesondere solle das im Chor erfolgende Auswendiglernen eingeschränkter eingesetzt, und die Schüler sollten angehalten werden, in ganzen Sätzen zu antworten. Das Rechnen habe zudem mittels Einbau praktischer Beispiele anschaulicher zu erfolgen. Wichtig sei zudem, dass sich die Lehrer nicht scheuen dürften, ihre Aufmerksamkeit der jüngeren Abteilung der Schule zu widmen, während man die ältere selbstständiger lassen sein könne. Zuletzt regte die Regierung an, die häufig mit Abbildungen und Karten versehenen Schreibhefte der Schüler in den Unterricht einzubauen, wobei die Lehrer die Frage der Sittlichkeit der entsprechenden Abbildungen im Vorfeld zu prüfen hätten.427 Alles in allem ist in diesem Programm außer dem bleibenden christlich-konservativen Korsett der Versuch der Regierung zu erkennen, ein mit Mängeln behaftetes Bildungs­ system möglichst effizient auszubauen. Tatsächlich finden sich sogar die ersten 425 APS, RSz, II, Nr. 1321, Visitationsbericht des Schulrats Graßmann an Superintendent der Synode Garz, Stettin 3.7.1850. 426 Vgl. die Grundzüge, betr. Einrichtung u. Unterricht der evangelischen einklassigen Volksschule (3.10.1854). Zit. nach.: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. ­288–292. 427 Vgl. etwa APS, RSz, II, Nr. 1431, Revisionsbescheid der Schulvisitation der Synode Gartz durch den Schulrat Graßmann, Stettin 19.9.1860.

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Ansätze zur Reduzierung eines zu umfassenden Frontalunterrichts und einer wachsenden Teilnahme der Schüler am Unterrichtsgeschehen. Bis zum Erlass der Allgemeinen Bestimmungen des Jahres 1872 folgten nur kleinere Lehrstofferweiterungen. Insbesondere bemühte man sich auch auf dem platten Land, das weibliche Handarbeiten und für die männliche Jugend den Turnunterricht einzuführen. Daneben versuchten die Schulräte, beim Lesen statt der althergebrachten Buchstabier- die neue Lautiermethode durchzusetzen. Bekamen die Schüler bei der Buchstabiermethode zuerst das Lesen mithilfe einfacher zusammengesetzter Buchstaben gelehrt, wurde bei der Lautier­methode das Lesen und Schreiben parallel erlernt, indem von den Lauten ausgegangen wurde.428 Während sich die Lautiermethode in den meisten Teilen Deutschlands bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann, ging die Ablösung der Buchstabiermethode auf dem platten Land des Stettiner Bezirks schwieriger von statten. Nach den Visitationsberichten des Usedomer Superintendenten Hildebrandts stieß die Umstellung auf die Lautiermethode insbesondere in den Gemeinden der Insel Usedom auf Widerstand der Bevölkerung. Nachdem in der Gemeinde Koserow eine Schülerin im Fieber Lernverse phantasiert hatte, äußerte man dort die Befürchtung, dass »in der Lautirmethode etwas dämonisches« liege. Erst eine Probestunde räumte offenbar diesen Verdacht aus. Auch in der Nachbargemeinde Ueckeritz half nach Aussage von Hildebrandt nur das ruhige und bestimmende Wesen des Pastors, die neue Methode durchzusetzen. Dass sich dieser Gegensatz der Dorfbewohner zu den Zielen der Schulbehörde auch aus dem altlutherischen Separatismus speiste, wird daran deutlich, dass in Ueckeritz selbst »das vermeintlich gottlose Singen eines guten vaterländischen Liedes« für einen Gemeindetumult sorgte.429 In Benz waren diese christlich-fundamentalistischen Kräfte so stark, dass Hildebrandt hier ganz von einer Abkehr von der Buchstabiermethode abriet. Hierbei ist bemerkenswert, wie der Superintendent dieses eigentlich den Zielen der Regierung widerstrebende Verhalten des Dorfes bewertete. Hildebrandt rügte zwar die vorurteilsbeladene Haltung der Benzer Dorfgemeinschaft, jedoch lobte er die darin liegende wohlgesinnte »conservative Haltung«, die ihm als schonenswert erschien.430 Anhand dieses Beispiels konkretisieren sich die Widersprüche eines defensiven Modernisierungsmodells, indem bei allen Fortschritten in der Bildung, sowie im Abbau von Aberglauben und »Beschränktheit« auch eine christlich-konservative Haltung bewahrt werden sollte. Ebenso gestaltete sich die Einführung eines Turn-, Zeichnen- und Hand­ arbeitsunterrichts auf dem Land als problematisch. Trotz einer auf dem 9. Pommerschen Provinziallandtag von 1845 einstimmig verabschiedeten ­ Petition zur Einführung des Turnunterrichts »als Vorschule für die militärische Aus­

428 Vgl. den Artikel »Lesen«. In: Meyers Konversationslexikon (1885–1892), Bd. 717, S. 441 f. 429 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 5919, Superintendent Hildebrandt an Reg. St., Usedom 23.2.1862. 430 Ebd., Superintendent Hildebrandt an Reg. St., Usedom 10.8.1861.

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bildung«,431 stieß die in den sechziger Jahren verordnete Durchsetzung vielfach auf Unverständnis und Ablehnung. Am Beispiel der Synode Usedom resümierte Superintendent Hildebrandt Mitte der sechziger Jahre immerhin, dass nunmehr in fast allen dortigen Gemeinden ein Anfang gemacht worden sei.432 Jedoch musste die Regierung weiterhin mit Verordnungen und Rundschreiben an die Landräte darauf drängen, die »gerade [in] der ländlichen Bevölkerung vielfach fehlende Gewandtheit des Körpers« mittels der Erteilung des Turnunterrichts anzutrainieren. Mit Verweis auf die Bedeutung einer vormilitärischen Ertüchtigung empfahl die Schulabteilung etwaigem Widerstand in Absprache mit den Gutsbesitzern zu begegnen.433 Es ist trotzdem davon auszugehen, dass das 1885 getroffene Urteil des Kultusministeriums, dass der Turnunterricht »auf dem flachen Lande vielfach [nur] auf dem Papier« stehe, zu diesem Zeitpunkt zutraf.434 Obwohl weiterhin schon in den vierziger und fünfziger Jahren von der Schulabteilung auf die Bedeutung des Handarbeitsunterrichts hingewiesen wurde, ergaben sich durch die zusätzlichen Kosten der anzustellenden Lehrerinnen ebenfalls große Probleme. Deshalb verzichtete die Schulbehörde auf Zwangsmaßnahmen und hoffte, dass die für die Familien entstehenden ökonomischen Vorteile des Handarbeitsunterrichts zu einem Einsehen führen würden.435 Diese auf Freiwilligkeit beruhenden Bemühungen zeigten aber keinen Erfolg. 1864 musste Superintendent Hildebrandt der Schulabteilung vermelden, dass bisher an keiner einzigen Schule seiner Synode das Handarbeiten oder selbst das Zeichnen Einzug gehalten habe.436 Noch Ende der siebziger Jahre beschwerte sich die Schulabteilung in einem Rundschreiben an alle Landräte des Bezirks über den »ungenügenden Erfolg« bei der Einführung des Handarbeitsunterrichts und hob hervor, dass der »diesseitige Regierungsbezirk […] hinter den anderen, ins Besondere auch den benachbarten, Regierungsbezirken hierin erheblich zurückgeblieben [sei]«.437 Anfang der achtziger Jahre verordnete die Regierung schließlich Zwangsmaßnahmen, wobei sie bei den Landräten dafür warb, Ehefrauen und Töchter der Gutsbesitzer und Pastoren zu finden, die den Unterricht unentgeltlich übernehmen würden. In diesem Mittel sah die Schulbehörde nicht nur eine Möglichkeit, die hauptsächlich auf finanziellen 431 Vgl. die Petition wegen Einführung des Turnwesens bei den Schulen des platten Landes u. der kleinen Städte, Stettin 5.3.1845. In: Vhdl. des Prov.-Landtages, Bd. 9, 1845, S. 55. 432 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 5919, Bericht des Superintendenten Hildebrandt an Reg. St., Usedom 30.3.1864. 433 Vgl. APS, SPSz, Nr. 663, Reskript der Reg. St. an alle Landräte u. Superintendenten, Stettin 6.2.1867. 434 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, Staatsministerium, j.R., B III 2b, Nr. 6, Bd. 97, Bl. 113, Prot. des Preuß. Staatsministeriums 10.6.1885. 435 Vgl. APS, SPSz, Nr. 663, Reskript der Reg. St. an alle Landräte u. Superintendenten, Stettin 5.1.1861. 436 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 5919, Bericht des Superintendenten Hildebrandt an Reg. St., Usedom 30.3.1864. 437 Vgl. APS, SPSz, Nr. 663, Reskript der Reg. St. an alle Landräte, Stettin 26.10.1879.

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Gründen beruhenden Widerstände in den Schulgemeinden zu neutralisieren, sondern prognostizierte auch die »Folge, daß das Band des Vertrauens, welches die höher Gestellten mit den niedriger Stehenden, bzw. Untergebenen verbinden soll, sich mehr und mehr befestigt[e].«438 Die sozialdisziplinatorische Argumentation fruchtete offensichtlich, denn zumindest der Landrat des Randower Kreises reagierte begeistert. Erst mit den Allgemeinen Bestimmungen von 1872 erhielt die Ausweitung des Volksschulunterrichts in ganz Preußen eine rechtliche Grundlage. Mit der Kürzung des Religions-, Rechnen- und Gesangsunterrichts um je eine Stunde sowie des Deutschunterrichts um zwei Stunden konnte der Unterricht der Realienfächer auf sechs Stunden erweitert und ein geregelter Turnunterricht von zwei Stunden garantiert werden. Ähnlich wie im Seminarunterricht für die Lehramtskandidaten reduzierte man auch den religiösen Kanon. So wurde die Zahl der auswendig zu lernenden Kirchenlieder von 30 auf 20 heruntergesetzt und Perikopen mussten gar nicht mehr memoriert werden. Überhaupt wandte man sich in allen Fächern gegen das »mechanische Einlernen« von Geschichts-, Maß- und Verhältniszahlen. Zuletzt wurde zudem eine Trennung einklassiger Schulen nach drei Altersabteilungen empfohlen und die mehrklassige Schule erneut anerkannt.439 In den die Allgemeinen Bestimmungen vorbereitenden Konferenzen setzten sich die moderaten konservativen Kräfte durch, wozu auch der anwesende Stettiner Schulrat Wetzel gehörte. Während etwa die beiden Landtagsabgeordneten der NLP Techow aus Berlin und Richter aus Mariendorf, der Fortschrittler Paur aus Görlitz sowie der Berliner Schulvorsteher Bohm angesichts der »das ganze Leben umgestaltende[n] Fortschritte« der letzten Jahre für eine weitere Schwächung des Religions- zugunsten des naturwissenschaftlichen Unterrichts plädierten, wandte sich Wetzel gemeinsam mit dem Führer der Altkonservativen im preußischen Herrenhaus, Hans Hugo von Kleist-Retzow, und den meisten anderen Schulräten dagegen, die Volksschule »auf einen blos realen Boden hinabzudrücken«.440 Andererseits forderte Wetzel gemeinsam mit Richter und dem Oberregierungsrat Stiehl zum Zwecke der Gewerbeförderung eine Stärkung der Raumlehre, der Mathematik und des Zeichnens. Weiterhin räumte Wetzel ein, dass im Stettiner Bezirk tatsächlich der »Religionsunterricht […] viel Krankhaftes« an sich trage, da sowohl Lehrer als auch Schulinspektoren viel zu viel Wert auf das förmliche Auswendiglernen von Teilen der Bibel legten, als 438 Ebd., Reskript der Reg. St. an alle Landräte, Stettin 17.3.1882. 439 Vgl. von Mühler, Denkschrift, betr. das Verhältniß der Allg. Verfügung vom 15.10.1872 zu dem Regulativ vom 3.10.1854. Zit. nach: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 326–337. 440 Vgl. Auszug aus den Prot. über die im Juni 1872 im Unterrichts-Ministerium gepflogenen, das Volksschulwesen betr. Verhandlungen., Berlin 15.6.1872. Zit. nach: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 318. Zur polit. Einschätzung der Mitglieder der Unterrichtskommission vgl. Haunfelder, Nr. 1873, 1711 u. 2314 sowie Spenkuch, S. 494–496.

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etwa auf den religiösen und ethischen Wert dessen einzugehen.441 Hier zeigte sich die Stettiner Schulbehörde reformbereit. Dass sich letztlich beim Erlass der Allgemeinen Bestimmungen eher ein moderates Reformprogramm durchsetzte, spiegelte sich in den Lehrplanvorgaben für die Realienfächer wider. Statt etwa wie in den umfangreichen Bestimmungen der Schulbehörden von Bromberg (1865) und Liegnitz (1869) einen detaillierten Lehrkanon der Geschichte »von den alten Ägyptern bis zu den Römern, den Sitten und Gebräuchen der Bewohner des Erdglobus« sowie einen Überblick über die Tierwelt »einschließlich des Orang-Utans, Elefanten, Nilpferds und Rentiers« aufzustellen, orientierten sich die Allgemeinen Bestimmungen offenbar auch an dem 1870 erlassenen deutlich abgespeckten Rahmenlehrplan für die Provinz Pommern. Hier wurde der Ansatz, vom Näheren zum Ferneren und vom Leichteren zum Schwereren fortzuschreiten zum obersten Prinzip erhoben und sich weitestgehend auf den praktischen Nutzen in der Lehre beschränkt.442 Trotz dieses verhaltenen Reformprogramms stießen die durch eine Verordnung der Regierung bekannt gegebenen Neuerungen bei den geistlichen Kreisund Ortsschulinspektoren auf Widerstand. Nach einem Bericht des Superintendenten der Synode Colbatz, Zietlow, lehnten die dortigen Ortsschulinspektoren sämtliche Reformvorhaben ab. Die Einführung dreier Altersstufen beurteilten diese angesichts der fast zu 90 % nur von einem Lehrer geführten Schulen der Synode als unpraktisch, die dem Konzept inne wohnende Reduzierung des Unter­richts der jüngeren Abteilung auf 20 Wochenstunden als bedenklich und die Ausweitung der Realien zugunsten des Religions-, Sprach- und Rechnenunterrichts als ohne »Werth für die eigentliche geistige Ausbildung«. Stattdessen forderten die Pastoren gemeinsam mit dem Kreisschulinspektor eine Reduzierung der Realien auf vier Stunden bei gleichzeitiger Ausweitung der Bibellesestunden. In der Begründung verwies der Superintendent nicht nur wiederholt auf die vermeintlich niedrige Bedeutung des positiven »Vielwissens« für die Landjugend, stattdessen bediente er sich auch einer rationalen »modernen« Argumentation, indem er die Bedeutung der Lesekompetenz als »Grundlage der Weiterbildung […] unserer gesammten Volksbildung« herausstellte und mit plastischen Beispielen die Überforderung der einfachen Landschullehrer und Schüler schilderte. Als Folge der »Verwirrungen der Zeit auf ein ungründliches Vielwissen loszusteuern«, müsse er sich bei Visitationen immer häufiger »haarsträubende Dinge« anhören. Exemplarisch sei ihm kürzlich bei einer Visitation vorgetragen worden, 441 Vgl. Auszug aus den Prot. über die im Juni 1872 im Unterrichts-Ministerium gepflogenen, das Volksschulwesen betr. Verhandlungen, Berlin 17.6.1872. Zit. nach: Schneider u. ­Bremen, Das Volksschulwesen, Bd. 3, S. 320 u. S. 322. 442 Vgl. die Gegenüberstellung der Bestimmungen zu dem Realienunterricht in einklas­ sigen Volksschulen in Bromberg (1865), Liegnitz (1869), Pommern (1870) und den Allg. Bestimmungen von 1872. Gedr. in: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd.  3, S. 333–337.

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»daß Karl der Große in Hermann von Armin (Arminius) einen treuen Bundesgenossen im Kampf gegen den Papst gehabt und daß schließlich Hermann von Armin den Papst (die römischen Legionäre) total niedergeschlagen habe.«443

Der Bericht schloss mit dem Appell, die Beschwerden in Stettin wohlwollend zu berücksichtigen, damit die Landjugend zukünftig nur dasjenige aus den »Schulen mitnehmen möge, was sie wirklich für ihr Leben gebraucht und was ihr wirklich frommt.«444 Dass die Schulabteilung der Regierung auf diese Vorschläge nicht einging und zudem in anderen Synoden die Ortsschulinspektoren durchaus an einem weiteren Ausbau des Lehrinhalts interessiert waren, wird daran deutlich, dass in den siebziger und achtziger Jahren auch auf dem Land differenzierte Lehrpläne einschließlich der Realienfächer445 genehmigt wurden. Es fand demnach gerade im letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts eine von der Schulbehörde unter zähen Widerständen durchgesetzte Ausweitung des Lehrstoffes statt. Zuletzt muss betont werden, dass die Ausweitung des Geschichts- und Geographieunterrichts nicht unbedingt einem aufklärerischen Interesse geschuldet war. Kurz nach der Inthronisierung Wilhelms II. eröffnete dieser 1889 dem versammelten Kabinett, dass nicht etwa Zwangsgesetze, sondern der Volksschulunterricht in der vaterländischen und insbesondere der neueren Geschichte das beste Mittel sei, die neue Gefahr der Sozialdemokratie zu bekämpfen. Unter der Parole, auf dem »Hauptkampfplatz Schule« einen »politisch monarchischen Katechismus« zu liefern, diskutierte das Staatsministerium ausführlich die potentielle erzieherische Wirkung einer schulischen Staatsbürgerkunde.446 1.3.11 Die Ausweitung des Lehrinhalts in den Städten Selbst in den unteren Schultypen der Klein- und Mittelstädte hatte der Unterricht einen höheren Standard als auf dem Land. Allerdings stößt man wieder auf die Erscheinung, dass gerade die Schulen in Kleinstädten wie Jarmen und Plathe bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts kaum über das Niveau einer Landschule hinausgingen. Zwar wies die Schule von Jarmen bereits 1865 fünf Lehrer und fünf Klassenstufen auf, doch wurde in den unteren vier Grundklassen weiterhin nur Religion, Lesen, Schreiben und Rechnen gelehrt.447 In diesem Fall war es der Ortsschulinspektor Pastor Nobiling, der gemeinsam mit dem Kreis443 APS, RSz, II, Nr. 2988, Gehorsamter Bericht über Modifikationen der unter dem 30.8.1873 genehmigten Lehrpläne für die Schulen der Synode Colbatz, Neumark 26.7.1875. 444 Ebd. 445 Vgl. etwa die Lehrpläne für eine zweiklassigen Schule mit zwei Lehrern von 1885. Gedr. in: APS, RSz, II, Nr. 1431, Reg. St. an Ortsschulinspektor Brede von Güstow, Stettin 23.5.1885. 446 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, Staatsministerium, j.R., B III 2b, Nr. 6, Bd. 4, Bl. 159–169 v., Prot. des Preuß. Staatsministeriums, Berlin 30.4.1889. 447 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 946, Ortsschulinspektor Nobiling an Reg. St., Jarmen 30.5.1865.

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schulinspektor Lengerich und der Regierung beim Magistrat eine Ausweitung des Unterrichts durchsetzte, zu der etwa auch die 1869 erfolgte Anstellung einer Lehrerin für das weibliche Handarbeiten gehörte.448 In den finanziell besser ausgestatteten Städten konnte dagegen nicht nur in den Frei- und Armenschulen früher mit dem Handarbeitsunterricht angefangen werden,449 stattdessen wurde auch der allgemeine Unterrichtsstoff in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts erheblich ausgeweitet. Die Übersicht der Lehrpläne für das dreigliedrige Schulwesen in Demmin von 1842 zeigt exemplarisch (vgl. Tab. 1–3), dass die Ausdifferenzierung des städtischen Schulsystems für die höheren Schultypen eine Erweiterung der Lehrgegenstände zur Folge hatte und auch in der Allgemeinen Stadtschule ein umfassender Realienunterricht Einzug hielt. Während im Gesamtkonzept der Stadtschuldeputation vorgesehen war, dass die Absolventen der Höheren Stadtschule direkt zu einem Wechsel in die Sekunda eines Gymnasiums befähigt würden, sollten die Schüler der Allgemeinen Stadtschule »ohne wissenschaftliche Begründung« für ein bürgerliches Leben vorbereitet werden. Wenn schließlich in der Armenschule neben der »religiösen Erkenntniß« nur das »Allernöthigste aus dem Geschäfte, Geographie, Raum- und Naturlehre« etwa zum Zwecke eines späteren Dienstbotendaseins gelehrt wurde,450 stellte selbst dieses eingeschränkte Programm gegenüber dem Unterricht an einer Landschule einen erheblichen Fortschritt dar. Auch im zumeist in den vierziger Jahren eingeführten Turnunterricht ergab sich oft ein erheblicher time-lag zwischen Stadt und Land.451 Konnten die Städte nicht selbst für die Erweiterung des naturwissenschaftlichen Lehrgehalts aufkommen, unterstützte die Regierung jene bisweilen auch mit finanziellen Hilfen, etwa für die Anschaffung physikalischer Apparate.452 Überhaupt investierten die Städte viel früher in entsprechende pädagogische Hilfsmittel wie Wandkarten und Globen als die Hausväter der Landgemeinden. Bereits vorne wurde deutlich, dass sich die unteren Bevölkerungsschichten häufig gegen die finanzielle Mehrbelastung des Lateinunterrichts wandten, denn dieser kam nur den Familien zu Gute, deren Kinder einmal das Gymnasium besuchen würden. Derartige Proteste verzögerten zwar teilweise über 448 Vgl. ebd., Ortsschulinspektor Giese an Reg. St., Jarmen 24.9.1869. 449 Vgl. zur Einführung des weiblichen Handarbeitens in der Armen- u. Freischule von Gollnow GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16039, Ztgsb. Okt. 1840, Stettin 6.11.1840. 450 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 850, Bericht der Stadtschuldeputation für die Jahre Michaelis 1845/47, Demmin 1.10.1847. 451 In Demmin wurde etwa 1846 ein Turnplatz errichtet u. ein entsprechender Lehrer eingestellt. Vgl. APS, RSz, II, Nr. 850, Magistrats an Reg. St., Demmin 17.2.1846. 452 Vgl. etwa den derartig gelagerten Fall von Demmin, APS, RSz, II, Nr. 850, Schulrat Graßmann an Demminer Magistrat, Stettin 19.12.1842. In Gollnow kam der Magistrat dagegen eigenständig für die Anschaffung auf. Vgl. APS, RSz, II, Nr. 1652, Magistrat an Reg. St., Gollnow 24.2.1852.

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Tab. 1: Lehrgegenstände der Höheren Stadtschule von Demmin (1842) Knaben (Oberklasse)

Mädchen (Oberkl.)

Grundklasse

Fächer

I

II

III

IV

I

II

III

I

II

Religion

2

2

2

2

2

2

2

4

2

Mathematik/ Raumlehre

4

4

2

3







2

2

Rechnen

2

2

3

4

2

2

2

4

4

Geschichte

2

2

2

2

2

2

2





Geographie

2

2

2

2

2

2

2





Naturgeschichte/ Realien

2

2

2

2

2

2







Physik

2

2















Lesen







2





2

6

14

Schreiben





3

4

2

2

2

6

Latein

4 (6)

4 (6)

5

4











Französisch

4

4

3



4

4

4





(Griechisch)

(4)

(4)















Zeichnen

2

2

2

2











Singen

2

2

2

2

2

2

2





Deutsch

4

4

4

3











Weibl. Handarbeiten









6

6

4





Denk-/ Schreibübungen















3

3

Wochenspruch















1

1

Summa

32

32

32

32

30

30

28

26

26

Zusammengestellt nach: APS, RSz, II, Nr. 850, Demminer Schulübersicht, Demmin 24.5.1842.

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Tab. 2: Lehrgegenstände an der Allgemeinen Stadtschule von Demmin (1842) Knaben (Oberkl.)

Mädchen (Oberkl.)

Grundklasse

Fächer

I

II

III

I

II

I

II

III

Religion

4

4

4

4

4

4

4

4

Deutsch

4

4

4

4

2







Lesen

3

4

4

3

4

5

6

14

Schreiben

3

4

4

2

3

5

6

Rechnen

4

4

4

3

3

4

4

5

Geschichte

2





2









Geographie

2

2

2

2

2







Realien

2

2

2

2

2







Raumlehre

2

2

2





2

2



Zeichnen

2

2

2





Gesang

2

2

2

2

2

2





Orthographie











1





Denk-/Schreibübungen











2

3

2

Weibl. Handarbeiten







6

6







Wochenspruch











1

1

1

Summa

30

30

30

30

30

30

26

26



Zusammengestellt nach: APS, RSz, II, Nr. 850, Demminer Schulübersicht, Demmin 24.5.1842.

mehrere Jahre die Anstellung befähigter Lehrer, verhinderten jedoch mittelfristig nicht die Erweiterung des städtischen Lehrkanons. Da die Stiehlschen Regulative die Stadtschulen nominell nicht betrafen, erfolgte auch in dieser Zeit weniger ein Ab- als ein weiterer sukzessiver Ausbau des Lehrplans. In den Konferenzen vor dem Erlass der Allgemeinen Bestimmungen von 1872 wurde anerkannt, dass die so genannten »Mittelschulen« der Städte ein eigenes für den Gewerbebetrieb vorbereitendes Profil benötigten. Insbesondere die naturwissenschaftlichen Fächer erweiterte man entsprechend und erklärte den Erwerb mindestens einer zusätzlichen lebenden Fremd129 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

Tab. 3: Lehrgegenstände an der Armenschule von Demmin (1842) Sommersemester Fächer

Wintersemester

Oberkl.

I

II

Oberkl.

I

II

Religion

4

4

4

4

4

4

Lesen

3

9

14

5

9

14

Schreiben

3

3

3

3

Rechnen

2

4

4

4

4

4

Denk-/ Schreibübungen



2

3



2

3

Raumlehre/ Zeichnen

1





2





Deutsche Sprache

2





2





Singen

1

1

1

2

1



Wochenspruch









1

1

Summa

16

24

26

24

24

26

Zusammengestellt nach: APS, RSz, II, Nr. 850, Demminer Schulübersicht, Demmin 24.5.1842.

sprache als verpflichtend.453 Zudem wurde die Möglichkeit eingeräumt, dass auch mehrklassige Volksschulen auf dem Land nach dem Lehrplan einer Mittelschule unterrichtet werden konnten. Da die Teilnehmer der Kommissionen für die Mittelschulen bereits im Vorfeld der Konferenz erklärt hatten, dass »für eine Ackerstadt in der Provinz Pommern andere Bedürfnisse vorwalten, als für die Distrikte der Eisen- oder Baumwollenindustrie«,454 wurde es ermöglicht, im Ermessen der »localen Verhältnisse eine besondere Berücksichtigung des Ackerbaus, Fabrikwesens, Bergbaus, Handels oder der Schiffahrt in dem Lehrplane« einzubringen.455 Wenn man durchaus eine allgemeine Hebung der Qualität der Stadtschulen beschloss, war dieses Entgegenkommen nicht dazu geeignet, lang453 Vgl. Auszug aus den Prot. über die im Juni 1872 im Unterrichts-Ministerium gepflogenen, das Volksschulwesen betr. Verhandlungen, Berlin 18.6.1872. Zit. nach: Schneider u. Bremen, Das Volksschulwesen, Bd.  3, S.  323–326. Vgl. auch den in Folge des Erlass der Allg. Bestimmungen verabschiedeten Lehrplan für die Mittelschule, Berlin 15.10.1872. Zit. nach: Ebd., S. 554–558. 454 Vgl. Auszug aus den Prot. über die im Juni 1872 im Unterrichts-Ministerium gepflogenen, das Volksschulwesen betr. Verhandlungen, Berlin 11.6.1872. Zit. nach: Ebd., S. 310. 455 Vgl. die Prot. über die Mittelschule, Berlin 15.10.1872. Zit. nach: Ebd., S. 554.

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fristig die einseitige agrarische Struktur der Provinz und der meisten Teile des Stettiner Regierungsbezirks zu durchbrechen. Betrachtet man noch kurz die zumindest in Städten wie Demmin, Anklam, Stargard, Greifenberg, Swinemünde und Treptow a.d. Rega befindlichen oder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehenden Realanstalten und Gymnasien, ist darauf zu verweisen, dass eine Ausweitung der Lehrpläne dort parallel zu den Schulen im übrigen preußischen Staat stattfand. 1832 wurde mit der Abschlussprüfung in Französisch, Latein, Naturwissenschaften und Mathematik der Realschulunterricht standardisiert. 1859 erfolgte zwar eine weitere Unterteilung in Realschulen I. und II. Ordnung,456 das änderte jedoch nichts an dem realistischen Schwerpunkt gegenüber den humanistisch ausgerichteten Gymnasien. 1.3.12 Die Ausweitung des Lehrinhalts in der Großstadt Stettin Die relative Schulvielfalt, die bessere finanzielle Lage der Großstadt, die größere Eigenverantwortung und das daraus resultierende höhere Verantwortungsgefühl der kommunalen Vertreter ermöglichte in Stettin früher als in den anderen Städten eine Verbesserung der Lehrmethoden sowie eine Ausweitung der Lehrgegenstände. In den regelmäßigen Visitationsberichten des städtischen Schulwesens fällt bereits in den vierziger Jahren auf, dass die Schulinspektoren besonders auf die pädagogischen Kompetenzen der Lehrer Wert legten, körperliche Züchtigungen untersagten und gegenüber dem »Hersagen von Namen« eine »lebendige Anschauung« des Unterrichts einforderten.457 Schon 1817 hatte der Magistrat unter dem Eindruck der Befreiungskriege einen Turnplatz eingerichtet.458 Zwar wurde mit der Entlassung des als demokratisch geltenden Turnlehrers der Betrieb bereits 1819 unterbunden, die Stettiner Regierung hob das Verbot jedoch 1833 auf, so dass für die beiden höheren Schulen eine eigene Turnhalle gebaut werden konnte.459 Der Turnunterricht hielt daher in Stettin sogar elf Jahre vor dem allgemeinen Unterrichtserlass des preußischen Kultusministeriums Einzug. Indes stieß die Einführung des Turnunterrichts auch in der Großstadt nicht auf uneingeschränkte Akzeptanz. Als auch die Stettiner Elementarschulen Anfang der fünfziger Jahre dazu übergingen, Turnen auf den Lehrplan zu setzen und ein gesondertes Turngeld in Höhe von 10 Silbergroschen zu erheben, weigerten sich mehrere Eltern, diese zu zahlen. Offensichtlich spielten im geäußerten Ressentiment außer der finan­ziellen 456 Vgl. Jeismann, Das höhere Knabenschulwesen, S. 161 f. 457 Vgl. etwa APS, RSz, II, Nr. 4997, Visitationsbericht Schulinspektor Mehring über die Ottoschule an Reg. St., Stettin 10.12.1845. 458 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 4978, Planungen zum Bau einer Turnanstalt. 459 Vgl. Steffen, S. 219 f.

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Mehrbelastung auch die Sorge um die Gesundheit der eigenen Kinder sowie Vorbehalte gegenüber einem weiteren erzieherischen Eingriff des Staates eine Rolle.460 Ähnlich wie im Umgang mit den gewöhnlichen Schulversäumnissen blieb der Magistrat in diesen Fällen standhaft. Und auch die Regierung verwies immer wieder auf die verbindlichen Bestimmungen des Reskripts von 1844 und machte lediglich auf die Möglichkeit aufmerksam, bei körperlichen Gebrechen Schüler vom Unterricht dispensieren zu lassen.461 Dass sich das höhere Bürgertum dieser Möglichkeit der Befreiung vom Turnunterricht bediente, ist dadurch zu belegen, dass 1872 von 500 Stettiner Gymnasiasten alleine 81 Schüler ärzt­ liche Atteste vorweisen konnten. Offensichtlich verweigerten sich vor allem die Oberprimaner mehrheitlich diesem Unterricht.462 Möglicherweise bestand hier die Auffassung, dass man sich als potentiell Einjährig-Freiwilliger des zur vormilitärischen Erziehung gedachten Turnunterrichts sparen könne. Trotz dieses gerade im höheren Bürgertum verankerten Widerstands investierte die Stadt in den achtziger Jahren weitere Gelder in den Bau von Turnhallen.463 Im Fall der Realienfächer artikulierte sich frühzeitig das städtische Interesse, den zeitgenössischen Erfordernissen für Handel, Handwerk und Gewerbe entgegenzukommen. Bereits in den dreißiger Jahren setzten sich die in Stettin beheimateten Börsennachrichten aus volkswirtschaftlichen Gründen gegen das Programm des humanistischen Gymnasiums für die an der gewerblichen Praxis orientierten Realanstalten ein.464 Der vom Magistrat ausgearbeitete Lehrplan der 1840 begründeten Friedrich-Wilhelm-Realschule kam diesen Forderungen nahe. Hiernach solle die neue Schule »die nöthige Unterweisung in der deutschen, französischen, englischen und lateinischen Sprache, in der Mathematik, Physik, Naturgeschichte, Geographie und Geschichte, so wie im Schreiben, Rechnen und Zeichnen gewähren und dabei die allgemeine Bildung im Auge haben, welche vom Stande der Kaufleute, Oekonomen, Mechaniker, Bauhandwerker, Feldmesser etc. nach den jetzigen Culturverhältnissen verlangt wird.«465

Die Gleichung, dass je stärker sich die Interessen des Handels artikulierten, desto höher der Anteil der Realienfächer im schulischen Unterricht ausfiel, zeigt sich auch im Lehrplan der Stettiner Provinzial-Gewerbeschule. Während jedoch 460 Vgl. beispielsweise die Beschwerde eines Stettiner Gastwirts, in: APS, RSz, II, Nr.  5090, Schreiben des Gastwirts Chinow an Reg. St., Stettin 8.8.1851. 461 Vgl. ebd., Bescheid der Reg. St. an Gastwirt Chinow, Stettin 14.10.1851. 462 Vgl. Steffen, S. 221. 463 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Aug., Sept. u. Okt. 1885, Stettin 27.11.1885 u. Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1885/86, Stettin 23.2.1886. 464 Vgl. etwa die Artikel, »Über die industrielle Erziehung unserer Zeit im Gegensatz zur klassischen«, in: Bn, Nr. 38, 13.5.1839 u. »Die humanistische u. die industrielle Bildung«, in: Bn, Nr. 90, 11.11.1839. 465 GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16039, Ztgsb. Juli 1840, Stettin 6.8.1840.

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die Gründung der Friedrich-Wilhelm-Schule vom Magistrat betrieben wurde, resultierte die Gewerbeschule noch aus den Reformplänen des Oberpräsidenten Sack. Mit der Anstellung aus der Praxis kommender Lehrkräfte, der Abwehr eines Religionsunterrichts und einem Fächerkanon, der sich 1870 über den Unterricht in Deutsch, Englisch, Französisch, Geographie, Geschichte, Zeichnen, Mathematik, Physik, Chemie, Mineralogie, Mechanik, Feldmessen, Modellieren, Maschinenlehre, Comptoirlehre, Baukonstruktionslehre usw. erstreckte,466 sollte die Schule dem wirtschaftlichen Fortkommen der Region dienen. Fand im Lehrplan der Gewerbeschule im Laufe des 19.  Jahrhunderts eine fortgehende Spezialisierung statt,467 blieben die Lehrgegenstände an den Gymnasien dem humanistischen Bildungsideal verhaftet. Obligatorische Fächer waren Latein, Griechisch, Deutsch, Religion und Geschichte. Dazu wurden jedoch auch Französisch, Mathematik, Physik, Naturgeschichte, Zeichnen und Gesang als Pflichtfächer unterrichtet. Als Wahlfächer wurden Hebräisch und Englisch angeboten. Einzelne Lehrer unterrichteten im Privatunterricht Chaldäisch, Italienisch und Spanisch.468 1.3.13 Zwischenergebnisse Die schulische Entwicklung der Provinz Pommern zeichnete sich im 19. Jahrhundert ohne Zweifel durch einen erheblichen Transformations- und Modernisierungsprozess aus. Die Analphabetenrate ging zurück, und während die Schulbesuchsquote gegen Vollständigkeit strebte, sank im letzten Drittel des Jahrhunderts die Zahl der Schulversäumnisse rapide. Zugleich wurde das pommersche Schulsystem weiter ausdifferenziert. In den Städten gründeten die Magistrate, unterstützt von der Schulabteilung der Bezirksregierung, Höhere Bürgerschulen, Realschulen und Gymnasien. Wenn auch schleppend, wurden auf dem platten Land die ersten mehrklassigen Schulen eingerichtet. Gleichermaßen fand spätestens seit dem Erlass der Allgemeinen Bestimmungen von 1872 eine Ausweitung des Lehrplans statt. An den Elementarschulen wurden nun Realienfächer unterrichtet. Dagegen sank die Bedeutung des Religionsunterrichts. Zumindest in den Städten wurde das Schulwesen säkularisiert. Über die Stärkung der Realienfächer und der Vereinheitlichung sowie Ausdifferenzierung der Lehrpläne trug das Schulwesen außerdem wesentlich zur Konstituierung eines gemeinsamen zuerst regionalen pommersch-preußischen und später dann nationalen preußisch-deutschen Kommunikationsraums bei. 466 Vgl. APS, NPPP, Nr. 4174, Verordnungen über die Umgestaltung der bestehenden u. die Errichtung neuer Gewerbeschulen in Preußen, Minister für Handel u. Gewerbe Graf von Itzenplitz, Berlin 21.3.1870. 467 Der Lehrplanentwurf von 1834 sah gegenüber 1870 noch keinen Fremdsprachenunterricht vor. Vgl. APS, NPPP, Nr. 4174, Broschüre über das Köngliche Gewerbeinstitut [1834]. 468 Vgl. Steffen, S. 169–222.

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Auch das Ausbildungsniveau der Lehrer besserte sich. In den Landschul­ lehrerseminaren legte man nach 1872 ebenfalls größeren Wert auf die Vermittlung von Kenntnissen in den Realienfächern sowie in der Didaktik. Der Typus des nicht am Seminar gebildeten Schulmeisters verschwand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Stattdessen wurde die Verberuflichung des Schulpersonals in Gang gesetzt. Diese schlug sich etwa in einer sukzessiven Steigerung der Lehrergehälter und in einem zunehmenden Selbstbewusstsein des Lehrerstandes nieder, der mehr und mehr auf gesellschaftliche wie politische Partizipation drang. Die wichtigsten Akteure dieses Prozesses blieben für eine lange Zeit die Beamten der Bezirks- und Provinzialverwaltung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts legte der zweite Oberpräsident der Provinz Pommern, Sack, mit seinen Schulvisitationen und dem gegenüber Magistraten, Patronen und Beamten erzeugten Druck den Grundstein für eine weitere Entwicklung des städtischen wie ländlichen Schulwesens. Nach Sacks Tod übernahmen die Beamten der Schulabteilung der Stettiner Regierung die Funktion des Modernisierungsmotors. Einzelne Schulräte wie der 60 Jahre im Dienst stehende Heinrich Graßmann setzten sich pragmatisch, aber bestimmt für einen stetigen Ausbau des städtischen und ländlichen Schulwesens ein. Vor allem der Oberpräsident Sack und die Mitarbeiter der Schulabteilung unterstrichen in ihrer öffentlichen Argumentation immer wieder die Bedeutung einer schulischen Reform für den gesamten materiellen wie geistigen Entwicklungsprozess der Provinz. Auch die Akteure der Berliner Zentrale, das heißt die jeweiligen Kultus­ minister und der Monarch, übten einen Einfluss auf die schulische Entwicklung der Provinz aus. Dieser ergab sich jedoch nur indirekt aus den Leitlinien der jeweils offiziellen Schulpolitik. Eine pommernspezifische Schulpolitik des preußischen Staatsministeriums konnte dagegen nicht nachgewiesen werden. Stattdessen war festzustellen, dass in einzelnen Sachfragen wie der Behandlung der Lehrergehälter Pommern gegen den Widerstand der örtlichen Akteure als eine der östlichen und damit zweitrangigen Provinzen behandelt wurde. Die Landräte wiederum zeichneten sich nicht durch eine besondere Aktivität aus. Die ihnen anvertrauten Überwachungs- und Exekutionsaufgaben im Rahmen der Schulpolitik wurden zumeist ohne ein besonderes Engagement durchgeführt. Der 1868 erfolgte vereinte Protest gegen die erneute verordnete Erhöhung der Lehrergehälter belegt, dass sich die preußischen Landräte eben nicht nur als ausführende Staatsorgane, sondern auch immer als Interessensverwalter der Kreise betrachteten. Die lokalen Akteure positionierten sich dagegen unterschiedlich. Auf dem platten Land hing der Stand der schulischen Entwicklung vom Interesse und Leistungsvermögen der Schulgemeinde bzw. des Patrons ab. Wenn dieses vorhanden waren, konnten die Schulgebäude modernisiert und am Seminar gebildete Lehrer eingestellt werden. War kein solches Interesse vorhanden bzw. die Schulgemeinde zu arm, wirkte sich das direkt auf den Ausbildungsstand des Lehrers und die Zahl der Schulversäumnisse aus. Aus der Perspektive der Kreis134 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

schulinspektoren ergaben die ländlichen Visitationen, die auch das lokale Interesse am Schulwesen bewerteten, im Fall der Schulpatrone ein heterogenes Bild, während im Fall der Dorfgemeinschaft negative Urteile überwogen. Dieses mangelnde Engagement der Hausväter resultierte jedoch kaum aus einer grundsätzlich modernisierungsskeptischen Mentalität, sondern aus der länd­ lichen Armut, welche die Schüler zur Arbeit zwang. Dazu trat die Perspektivlosigkeit, die aus einer beschränkten ländlichen Sicht heraus im Schulwesen oft keinen praktischen Nutzen, sondern lediglich eine zeitliche und finanzielle Belastung sah. Nur in den zeitweiligen religiös motivierten Schulversäumnissen und den zum Teil religiös motivierten Fällen von Skepsis gegenüber Neuerungen wie der Lautiermethode finden sich Beispiele, bei denen eine modernisierungsskeptische Mentalität als Reaktion auf die zunehmende Säkularisierung des Schulwesens explizit festzustellen ist. Die Orts- und Kreisschulinspektoren, die in Pommern immer geistlicher Provenienz blieben, übten ihr Amt in paternalistischen Manier aus. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren viele Pastoren aus Rücksicht auf ihr dörfliches Ansehen nur eingeschränkt bereit, die Schulpflicht durchzusetzen. Andererseits überwiegen diejenigen Quellen, in denen sich die Ortsgeistlichen an einer Hebung des Schulwesens interessiert zeigten. Freilich wurde dieser Prozess spätestens nach dem Erlass der Allgemeinen Bestimmungen von 1872 von Pastoren in Frage gestellt, die sich gegen den Bedeutungsverlust des religiös-moralischen Gehalts des Unterrichts und moderne »Vielwisserei« wendeten. Diese Befürchtung hegten auch viele Kreisschulinspektoren. Sonst stellten diese jedoch zusammen mit der Bezirksregierung bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts die wesentlichen Akteure in der Modernisierung des pommerschen Schulwesens dar. In den Städten hing die schulische Entwicklung noch deutlicher von der wirtschaftlichen Kraft der lokalen Akteure ab. In vielen landwirtschaftlich geprägten Kleinstädten verharrte das Schulwesen bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein auf dem Niveau einer Landschule. Je wohlhabender die Stadtbevölkerung strukturiert war, umso eher fanden sich in den Magistraten auch Personen, die sich für eine Hebung des Schulwesens einsetzten. Jedoch ergaben sich gerade beim Aufbau höherer Schulen vielerorts erhebliche Konflikte. Da in den Magistraten und nach dem 1850 eingeführten Dreiklassenwahlrecht auch in den Stadtverordnetenversammlungen der wohlhabende Teil der städtischen Bevölkerung dominierte, wurden diese Mehrheiten häufig dazu verwendet, eine Hebung des Schulwesens auf Kosten der Allgemeinheit durchzuführen. Wie das angeführte Beispiel von Greifenhagen zeigt, musste sich deshalb der ärmere Teil der Stadtbevölkerung oft gegen eine weitere Differenzierung zur Wehr setzen. Dieser Protest ergab sich aus der rationalen Argumentation, dass höhere Schulen nur den Interessen der Kinder wohlhabender Eltern nutzten und diese die entstehenden Kosten dann auch selber tragen sollten. Die Schulräte standen hier vor der schwierigen Aufgabe, vermittelnd tätig zu sein. Das hieß, einerseits für eine weitere Hebung des Schulwesens zu sorgen, andererseits aber die Kosten sozial und gerecht zu verteilen. 135 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

Während die Konflikte umso größer wurden, je weniger die städtischen Ressourcen vorhanden waren, wirkten sich der relative Wohlstand der Großstadt Stettin und die daraus resultierende Ausdifferenzierung des dortigen Schul­ wesens konflikthemmend aus. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird deutlich, dass die städtischen Akteure den Ausbau des Schulwesens zunehmend ohne weitere Anstöße der Regierung in die eigene Hand nahmen. Das Gewicht, das der schulischen Entwicklung in der Stettiner Öffentlichkeit beigemessen wurde, wird auch daran deutlich, dass die Stadtschuldeputation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer der kommunalen Kommissionen aufstieg, die am häufigsten tagte. Betrachtet man zuletzt die Lehrerschaft als schulischen Entwicklungs­a kteur, ist ein stetiger Bedeutungszuwachs dieses Standes zu erkennen. Insbesondere in der Revolution von 1848/49 traten städtische Lehrer als politische Akteure auf. Mit der zunehmenden Durchsetzung der Seminarbildung und der seit 1873 beginnenden Selbstorganisierung der pommerschen Lehrerschaft entwickelten auch die Landschullehrer ein größeres Selbstbewusstsein, das sich etwa in den kritischen Artikeln in den Pommerschen Blättern für die Schule und ihre Freunde niederschlug. Waren die Landschullehrer bis in die siebziger Jahre diejenigen, die passiv der Anleitung ihrer Pastoren bedurften, mischten sie sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mehr und mehr aktiv in die Schulpolitik ein. Insbesondere in den Städten wurde die Funktion des Modernisierungsmotors bei der Hebung des Schulwesens nun von den Lehrern selbst ausgefüllt. Der Modernisierungsprozess des Schulwesens im Regierungsbezirk Stettin stellt sich freilich in vieler Hinsicht als ein partieller dar. Erstens bleibt zu konstatieren, dass die schulische Entwicklung Pommerns im Vergleich zu der vieler anderer preußischer Provinzen rückständig blieb. Zwar entsprach der sich in der Analphabetenrate, der Zahl höherer Schulen und der Bezahlung der Lehrer manifestierende Entwicklungsstand dem gesamtpreußischen Durchschnitt. Damit lag Pommern freilich fast immer deutlich hinter dem Stand der westlichen Provinzen zurück, obwohl diese zu Beginn des 19.  Jahrhunderts teilweise sogar eine ungünstigere Ausgangslage aufwiesen. Die im schulischen Bereich extrem rückständigen Verhältnisse in den Provinzen Posen, West- und Ostpreußen wurden dagegen von den pommerschen Akteuren als Vergleichsmaßstab abgelehnt und sind im Fall des Schulwesens aufgrund des hohen polnischsprachigen und katholischen Bevölkerungsanteils auch kaum mit Pommern vergleichbar. Die Partialität des Modernisierungsprozesses drückt sich zweitens in den erheblichen Disparitäten im Untersuchungsraum aus. Alle wichtigen Parameter der schulischen Entwicklung des Regierungsbezirks zeigten ein grundsätz­ liches Stadt-Land-Gefälle. Allerdings ergaben sich erhebliche Unterschiede zwischen den Städten und den Landgemeinden. Die Bezirksverwaltung bediente sich zwar des Hinweises auf die relative Rückständigkeit gegenüber vergleich­ baren Gebieten zur Motivierung einer weiteren Hebung. Mangelnde Ressourcen 136 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

und zum Teil auch religiös bedingte fortschrittsskeptische Mentalitäten behinderten indes häufig eine weitergehende Entwicklung am Ort. Drittens stand der Modernisierungsprozess in weiten Teilen unter der Zielrichtung einer defensiven Modernisierung. Wenn sich die Schulabteilung der Stettiner Bezirksregierung mit aller Macht für einen Anstieg der Schulbesuchsquote, eine Ausweitung des Unterrichts und eine generelle Hebung und Ausdifferenzierung des Schulwesens einsetzte, wurde aus ihrer Perspektive nie das offizielle Erziehungsprogramm der Treue zu »Gott, König und Vaterland« in Frage gestellt. Ganz im Gegenteil erhofften sich das preußische Staatsministerium auf zentraler und die Schulverwaltung auf lokaler Ebene durch die Hebung des Schulwesens außer der grundsätzlichen Nutzbarmachung der Gesellschaft für den preußischen Staat insbesondere nach 1848/49 die Förderung eines Preußenpatriotismus und die Konservierung einer monarchischen Gesinnung. Seit den siebziger und achtziger Jahren wurde zudem die Abwehr sozialdemokratischer Gedanken als wesentlicher Programmpunkt des modernisierten Elementarschulwesens verankert. Auch unter diesem Aspekt lässt sich die Modernisierung des pommerschen Schulwesens als partiell kennzeichnen.

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2. Der Ausbau der Infrastruktur

2.1 Die Verkehrsinfrastruktur bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 Dass eine schnellere, billigere und transportintensivere Kommunikation Handel und Gewerbe befördert, wurde in Mitteleuropa noch unter dem Paradigma einer merkantilistisch-kameralistischen Wirtschaftspolitik bereits im 17.  und 18.  Jahrhundert erkannt. In der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts identi­ fizierte der Eisenbahnpionier Friedrich List zudem die politisch-gesellschaftliche Dimension von Verkehrsprojekten, die bei ihm auch immer dem »Nation-building« dienen sollten.1 Die Bedeutung von Verkehrsinfrastrukturen für die Schaffung von nationalen Kommunikationsräumen und die verwaltungstechnische Durchdringung eines Landes wird seit rund 30 Jahren in der Geschichtswissenschaft diskutiert.2 Vergleichbar der Hebung des Schulwesens diente die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur nie ausschließlich der Weckung des wirtschaftlichen Potentials von Land und Bevölkerung, sondern auch der Durchsetzung von Staatlichkeit.3 Um dieses Programm in Preußen um­zusetzen, bedurfte es freilich umfassender staatlicher wie gesellschaftlicher Investitionen. 2.1.1 Die Problemlage Für Hans-Ulrich Wehler stellten die verkehrsinfrastrukturellen Mängel im Alten Reich eines der wesentlichen Hemmnisse für die Entwicklung leistungs­ fähiger marktwirtschaftlicher Strukturen dar. Hierbei betont er die strukturellen Defizite der deutschen Kleinstaaterei, die wegen hoher Zölle und 1 Vgl. List, Das deutsche Eisenbahnsystem, S. 331. 2 Vgl. allg. Kaschuba, S.  75–85 u. am Beispiel Frankreichs Léon, S.  177–184. Zum Straßenbau vgl. Helmedach, Grundsatzentscheidungen, S.  26 f. Laak, S.  367–393, betont u. a. die Bedeutung von Infrastrukturen für die Herausbildung einer staatlichen Interventionspolitik im wirtschaftlichen u. sozialen Sektor im 19. u. 20. Jhdt. Vgl. für Preußen grundsätzlich auch die Beiträge des Sammelbandes Pröve u. Winnige, passim. Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 1020–1029 hebt neben der Bedeutung für die Schaffung nationaler Kommunikationsräume auch den globalisierenden Aspekt der infrastrukturellen Innovationen des 19. Jhdts. hervor. 3 Vgl. auf den Straßenbau bezogen etwa Wiener u. Simonett, passim, Brandes, passim u. Helme­dach, Verkehrssystem, S. 70–72.

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Wegeabgaben, unterschiedlicher Münzsysteme sowie einer fehlenden überregionalen Verkehrskonzeption den Fernhandel behinderten.4 Tatsächlich dienten Verkehrsprojekte in der Frühen Neuzeit in erster Linie der eigenen Fiskalpolitik. Verbesserungen im Wegenetz zielten häufig darauf hin, den Verkehr aus den Nachbarstaaten auf das eigene Gebiet zu lenken.5 Im mitteleuropäischen Vergleich schnitt Preußen im 18.  und beginnenden 19. Jahrhundert im Straßenbauwesen schlecht ab. Während in Frankreich, England und selbst in den habsburgischen Territorien erste Chausseen entstanden,6 mussten sich Handel, Verwaltung und Militär Preußens weitestgehend auf unbefestigten Landstraßen fortbewegen. Selbst im Vergleich mit dem Zustand der Wege in den süddeutschen Staaten wurde in der vielfältigen Reiseliteratur der Sattelzeit die Rückständigkeit Preußens thematisiert.7 Zwar hält sich bis heute in der Geschichtsschreibung die Vorstellung, dass sich Friedrich II. aus der Befürchtung, gegnerische Truppen könnten Chausseen zur Invasion nutzen, gegen den Straßenbau wandte,8 jedoch legen etwa Oliver Sander und Uwe Müller nahe, dass finanzielle Gründe, Materialmängel, das Fehlen von Wegefrondienstverpflichtungen sowie grundsätzlich anders gelagerte politische Zielsetzungen für den preußischen Rückstand verantwortlich waren.9 Aufgrund der vielen schiffbaren Flussläufe im brandenbur­gischen Kernland konzen­ trierte man sich außerdem stärker auf den Aufbau eines Wasserstraßennetzes. Bis 1785 umfasste dieses immerhin die Länge von 856 km schiffbaren Flüssen und Kanälen.10 Die wenigen Kilometer chaussierter Wege verdankten dagegen ihre Entstehung wie im Falle der 1788 bis 1793 errichteten Chaussee zwischen Potsdam und Berlin Repräsentationszwecken11 oder wie in der Grafschaft Berg unter dem Kammerdirektor und späteren Minister Freiherr vom Stein und im Herzogtum Magdeburg unter den dortigen Baubeamten Bendix und Stegemann vereinzelter lokaler Initiative.12 Aufschlussreich ist die Finanzierung der Steinschen Straßenprojekte, denn sie verweist auf ein wesentliches Hindernis bei dem Neubau und der Wartung von Chausseen im 18. Jahrhundert. Aufgrund des Widerstands der einheimischen Bevölkerung bevorschusste Stein diese aus seinem eigenen Vermögen.13 4 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 120 f. 5 Vgl. etwa zur Konkurrenz der hannoverschen u. braunschweigischen Verkehrsprojekte in der zweiten Hälfte des 18. Jhdts. bis in das 19. Jhdt. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 113 f. 6 Vgl. Helmedach, Grundsatzentscheidungen, S. 15–37. 7 Vgl. hierzu ausführlich Beyrer, S. 42–46 u. Roth, S. 14–16. 8 Vgl. Schulze, General-Chausseebau-Departement, S. 161, Gador, S. 13 u. Henning, S. 221. 9 Vgl. Sander, S. 206 f. u. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 109 f. 10 Vgl. umfassend Henning, S. 212–218. 11 Vgl. Liman, S. 15–19. 12 Vgl. dazu die Denkschrift Steins, Über die Instandsetzung der Haupt-Commercialstraßen u. der zur inneren Communication nötigen Straßen der Grafschaft Mark. Gedr. in: Stein, Briefe u. amtliche Schriften, Bd. 1, S. 232–235. Siehe auch Sander, S. 211 f. u. Gador, S. 14 f. 13 Vgl. Gador, S. 15.

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Den nachvollziehbaren Widerwillen der ansässigen preußischen Bevölkerung, dem Staat Chausseebaubeiträge zu zahlen, hat bereits Wolfgang Neugebauer skizziert.14 Die sich aus den jeweiligen Wegerechten ergebende Wartungspflicht der Landstraßen durch die lokalen Adjazenten wurde ebenfalls ungern umgesetzt, zumal sie in der Regel auf den wenig effizienten Frondienst abhängiger Bauern umgelegt wurde.15 Gemeinsam mit der Bestellung eines sich aus invaliden Veteranen zusammengesetzten Chausseewärterpersonal16 trug die Verantwortlichkeit für die Pflege der Straßen wenig zur Erhaltung derselben bei. Der verkehrstechnische Rückstand in Preußen drückte sich für die Reisenden in einer geringen Geschwindigkeit, physischen Unannehmlichkeiten und hohen Kosten aus. Trotz der seit 1722 begonnenen Kooperation der staatlichen preußischen Post mit dem Haus Taxis, der Etablierung eines strukturierten, sämtliche deutschen Territorien erfassenden Fahrnetzes,17 und der Verwendung technischer Innovationen wie der stahlgefederten »Berline« erreichten die Postkutschen im 18. Jahrhundert nur eine durchschnittliche Reisegeschwindigkeit von 5–7 km/h.18 Bei schlechter Witterung blieben die Kutschen bisweilen wortwörtlich im Schlamm stecken. Wie beschwerlich eine Reise in den nördlichen Teilen Preußens ausfallen konnte, schildert etwa der schwedische Dichter Per Daniel Amadeus Atterbom. Seine im Juli 1817 von Greifswald über Anklam, Pasewalk, Prenzlau, Templin und Oranienburg nach Berlin führende Postkutschenfahrt über fast ausschließlich unchaussierte Wege nahm zweieinhalb Tage Fahrtzeit in Anspruch. Abgesehen von den stationsweise wechselnden Mitreisenden, darunter einem »gellend schreiende[n] Schulmeister«, der dem Schweden ein umfassendes schulisches Reformprogramm ausbreitete, einer Gruppe Stettiner Soldaten sowie einigen »der niedrigsten Handwerkerklasse« angehörenden »Frauenzimmern«, bot die Reise keinen Unterhaltungswert. Dagegen widmete seine Darstellung den Unannehmlichkeiten viel Raum. Die Pferde seien »Schritt für Schritt durch den schwellenden Sand« gewatet und auf der Landstraße hätten große Feldsteine gelegen, »den aus dem Weg zu räumen sich niemand die Mühe« gebe. Überhaupt sei der Postillion in seiner Fahrweise rücksichtslos, die Fahrzeuge über­laden, die Gasthöfe schlecht und die Kosten aufgrund der regional schwankenden Wechselkurse intransparent gewesen. Als Atterbom nach zweiter Nachtfahrt ohne Schlaf zerstoßen, fiebrig und übermüdet das Oranienburger Tor durchfuhr, ist den Zeilen die Erleichterung zu entnehmen, dass die Strapazen überstanden waren.19 14 Vgl. Neugebauer, Die Stände, S. 189. 15 Auch Koselleck, S. 139 f. weist auf diese systembedingte Ineffizienz der bäuerlichen Zwangsdienste gegenüber Herrschaft u. Staat hin. 16 Vgl. Schulze, General-Chausseebau-Departement, S. 160. 17 Vgl. Beyrer, S. 41. 18 Vgl. Roth, S. 16. 19 Vgl. Atterbom, S. 33–45.

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Wenn auch Atterbom nur einen Teil  Pommerns bzw. des Regierungsbezirks Stettins durchreist hatte, dürften die Straßen- und Verkehrsverhältnisse in den übrigen Gebieten der Provinz ähnlich verheerend gewesen sein. Während in Folge des Gebietsgewinns des Wiener Kongresses Preußen mit einem Mal über ein Gesamtchausseenetz von 419,75 preußischen Meilen (= 3.161,6 km) Länge verfügte, wiesen die Ostprovinzen lediglich einige wenige auf den lokalen Bedarf ausgerichtete Chausseen auf. In Pommern existierte bis dahin nur ein 2.453 Ruten (= 9.262,5 m) langer Steindamm zwischen Stettin und Damm.20 Die für den Fernverkehr wesentlichen Verbindungen Stettin – Schwedt – Berlin, Stettin – Anklam, Stettin – Gollnow – Naugard – Hinterpommern, Stettin –  Prenzlau, und die »Königsstraße« von Berlin über Stargard nach Danzig waren alle noch unchaussiert und in einem schlechten Zustand.21 Was dieses für den pommerschen Handel, aber auch für die reisende Verwaltung bedeutete, ist dem Bericht Atterboms zu entnehmen. Die naturräumlichen Gegebenheiten der Provinz erschwerten die verkehrstechnische Erschließung Pommerns. Zwar gibt es kaum größere Hügelketten, das flache Landschaftsprofil verhindert jedoch vielerorts eine natürliche Entwässerung. Noch um 1900 bestand trotz der jahrzehntelang durchgeführten Meliorationsarbeiten ein Zehntel der Provinzfläche aus verkehrstechnisch schwer zu bewältigendem Moorboden. Auch die vielen kleinen Flüsse und Seen (Anteil ca. 6 %) konnten im Gegensatz zu den brandenburgischen und mecklenbur­ gischen Wasserwegen kaum für den Verkehr nutzbar gemacht werden. Peene, Uecker und Randow in Vorpommern sowie Ihna, Rega, Persante, Grabow, Wipper, Stolpe und Leba in Hinterpommern waren für den gewerbsmäßigen Verkehr nicht befahrbar, mussten jedoch beim Straßen- und späteren Eisenbahnbau unter hohen Kosten überbrückt werden.22 Nur die den Regierungsbezirk Stettin bei seiner Hauptstadt von Süd nach Nord durchschneidende Oder stellte insbesondere nach ihrer Begradigung, der Abschaffung der städtischen Stapelrechte und der Wiederherstellung des Finowkanals Mitte des 18. Jahrhunderts eine bedeutende, den Stettiner Handel befördernde Wasserstraße dar. Dagegen konnte die lange Küstenlinie wegen der geringen Seetiefe kaum für eine weitere wirtschaftliche Erschließung der Uferorte genutzt werden. Lediglich Stettin partizipierte über die bis 1747 vertiefte Swine und den entstehenden Hafen Swinemünde wesentlich am Seehandel. Zwar wurde dieser weiterhin durch den dänischen Sundzoll belastet,23 man war aber nicht mehr auf die sich noch bis 1815 in schwedischer Hand befindende Hafenstadt Wolgast angewiesen. Obwohl Stettin somit über die Ostsee bzw. das Haff und die Oder ausreichend an den Seehandel und das brandenburgische Kernland angebunden 20 Vgl. Schmidt, unpaginiert. Der Damm selbst wurde vermutlich 1299 angelegt. 21 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 93 B, Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Nr. 33307, Memoire von Sack, Stettin 9.8.1816. 22 Vgl. Fenske, S. 2 f. 23 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 378–381. Der Sundzoll wurde 1857 abgeschafft.

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war, fehlte es an die Provinz quer von West nach Ost durchlaufenden Verbindungen. Weil Pommern, gemessen an Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft, eine Vielzahl von weniger bedeutenden Kleinstädten aufwies, die zudem relativ gleichmäßig auf großer Fläche verteilt lagen, musste eine gerechte, allen Interessen entgegenkommende Infrastrukturpolitik immer mit erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden werden. Die Summe von 4.000 Talern, die hierfür bis 1816 zur Unterhaltung der pommerschen Wege, Brücken, Kanäle und Schleusen im Staatshaushalt veranschlagt war,24 bot freilich bei einem durchschnittlichen Kostenaufwand von rund 20.000–60.000 Talern je preußischer Chausseemeile25 einer der infrastrukturellen Entwicklung zugutekommenden Investitionspolitik keinen Spielraum. Weil staatliche Mittel ausfielen, hatte sich die Provinz eigener Mittel zu bedienen. Dem stand die Praxis des pommerschen Wegerechts von 1752 entgegen, das ähnlich wie in den anderen Landesteilen die Wegebaulasten den Adjazenten auflastete. Zeigte sich dieses Verfahren schon vor den preußischen Reformen als ineffektiv, stellte es nach der Aufhebung der bäuerlichen Spann- und Handdienste und den sich hieraus ergebenden Zuständigkeitsreibereien ein zusätzliches Hindernis dar.26 Eine Förderung des pommerschen Verkehrswesens bedurfte deshalb umfassender Finanzmittel, rechtlicher Reformen und der Kooperation von staatlichen, provinzialen sowie lokalen Entscheidungsträgern. Trotzdem war absehbar, dass selbst unter günstigen Bedingungen eine infrastrukturelle Entwicklung der Provinz nur schrittweise erfolgen konnte und eine hieraus folgende Schwerpunktförderung die Vernachlässigung einzelner Landesteile geradezu in Kauf nehmen musste. 2.1.2 Reformansätze bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 Während Frankreich schon 1747 eine staatliche »École des Ponts et ­Chaussées« einrichtete, fand der Straßenbau noch im politischen Testament Friedrichs II. von 1768 keine direkte Erwähnung. Lediglich die Brücken sollten gepflegt und im Postwesen der Status quo aufrechterhalten bleiben.27 Erst unter seinem Nachfolger, Friedrich Wilhelm II., wurde mit der 1791 eingerichteten Chausseebauintendantur, die unter der Führung des früher in französischen Diensten stehenden Obersts Hans Moritz Graf von Brühl stand, eine zentrale Planungsbehörde für den Straßenbau geschaffen. Ohne größere eigene Sachkenntnisse und 24 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 93 B, Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Nr. 33307, Memoire von Sack, Stettin 9.8.1816. 25 Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 353. Die Höhe hing vom Terrain, der Zahl der zu bauenden Brücken u. der Qualität der Chausseen ab. 26 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 93 B, Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Nr. 33308, Sack an Minister für Handel u. Gewerbe v. Bülow, Stettin 15.12.1823. 27 Vgl. »Das politische Testament von 1768«. Gedr. in: Volz, S. 192 u, S. 123 bzw. S. 141.

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Finanzmittel ausgestattet28 sowie wegen ständiger Reibereien mit den Etats­ ministern der jeweiligen Landesteile konnte die Behörde keine wirksame Dynamik entfalten. Nachdem die Zuständigkeit des Departements zunächst auf die Kurmark und Pommern beschränkt worden war, löste man die Einrichtung 1808 ganz auf.29 Auch die neuen Wegerechtsbestimmungen des 1794 erlassenen ALR30 wirkten sich kaum auf den Bau neuer Chausseen aus. Zwar wurde der Staat laut § 11 verpflichtet, für »Unterhaltung, […] Sicherheit und Bequemlichkeit derselben zu sorgen«, die §§ 13–14 übertrugen jedoch die Pflege unter Verweis auf die bestehende Rechtskräftigkeit der älteren lokalen Wegeordnungen weiterhin den Adjazenten. Auch im Fall des Neubaus von »Dammstraßen« (= Chausseen) wurde ausdrücklich darauf verwiesen, dass »die zur Wegearbeit verpflichteten Einwohner nur nach dem Maaße zu helfen schuldig [seien], nach welchem sie bey Anlegung einer gewöhnlichen Landstraße Dienste thun müssten.« (II, Titel 15, § 17). Immerhin wurden in das ALR Bestimmungen zur kostenlosen Übertragung eventuell vorhandener Baumaterialien und Regelungen zum Expropriationsverfahren aufgenommen (II, Titel 15, §§ 18–22). Beides betraf Punkte, die zukünftig für Streitereien sorgen sollten. Weniger aufgrund zentralstaat­ licher Reformansätze als wegen diverser lokaler Initiativen wuchs das preußische Chausseenetz gleichwohl bis zum preußischen Zusammenbruch von 1806 auf eine Länge von 119,75 Meilen an. Mit der Reorganisation der Staatsbehörden wurde der preußische Chausseebau von 1808 bis 1814 zunächst dem Innenministerium unterstellt. 1817 fiel der Aufgabenbereich in das Ressort des Ministeriums für Finanzen und Handel sowie nach dessen Aufspaltung an den Minister für Handel und Gewerbe Hans Graf von Bülow.31 Auf Grund der kriegerischen Auseinandersetzungen und der Finanznot infolge der französischen Kontributionen kam der Chausseebau aber bis 1816 vorerst zum Stillstand. Im Regierungsbezirk Stettin beschränkte sich die Verwaltung in dieser Phase darauf, Substanz erhaltende Reparaturen der Landstraßen vorzunehmen. 1810 setzte zudem, unterstützt von einigen wohlhabenden Kreisen und Magistraten wie der Stadt Anklam, eine umfassende Kampagne zur Bepflanzung der Wege ein. Bäume dienten hierbei zum einen dem Schutz vor Witterungseinflüssen sowie als Wegweiser für die Nacht und bei Schneefall. Zum anderen versprach man sich in der Anpflanzung von Obst- und Maulbeerbäumen eine zusätzliche Hebung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Bis zum Jahresende 1811 wurden deshalb allein im Stettiner Bezirk 580.000 Bäume gepflanzt. Eine im Winter erfolgte Revision ergab unterdessen, dass auf Grund der sommerlichen Dürre und wegen Vandalismus rund ein Drittel der Bäume wieder eingegangen sei. In 28 Vgl. Schulze, General-Chausseebau-Departement, S. 154–161. 29 Vgl. Sander, S. 210 f. 30 Vgl. ALR, Theil II, Titel 15, §§ 11–37. 31 Vgl. Gador, S. 17 f.

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Absprache mit den Schulbehörden äußerte man aber die Hoffnung, dem Problem der mutwilligen Zerstörungen durch Aufklärungstätigkeit im Unterricht entgegen steuern zu können.32 Des Weiteren wurde die Wegeaufsicht 1815 der Gendarmerie übertragen.33 Mit der Übernahme der mehr als 300 Meilen umfassenden Chausseelinien in den bis 1816 dazu gewonnenen rheinischen, westfälischen und sächsischen Gebieten stand der preußische Staat vor der Aufgabe, diese Strecken zu einem funktionsfähigen Gesamtnetz zu verbinden. Mit dem Gebietszuwachs im Westen ergab sich ein besonderes Interesse, von West nach Ost verlaufende Querverbindungen mit dem Berliner Zentrum herzustellen. Schließlich galt es nicht nur, die verwaltungstechnische Integration der neuen Gebiete und das dort aufstrebende Gewerbe zu befördern, sondern auch eine militärischen Zwecken dienende Infrastruktur von der Hauptstadt bis zum Rhein zu errichten.34 Da weiterhin einige der noch unter der Verwaltungshoheit der ehemaligen napoleonischen Vasallenstaaten in Gang gesetzten Chausseelinien erst in einem halbfertigen Zustand an Preußen übergeben worden waren35 und andere Teilstrecken durch die Armeetransporte der vergangenen Kriegsjahre gelitten hatten,36 war es aus der Sicht der Verwaltung eine rationale Entscheidung, zuerst staatliche Mittel für die Reparatur und die Fertigstellung dieser Chausseen zu bewilligen. Uwe Müller konnte aufzeigen, dass sich diese für die Ostprovinzen fatal auswirkende Ausrichtung auf die Förderung des Straßenbaus in der Rhein­provinz, in Westfalen und in Sachsen innerhalb weniger Monate des Jahres 1816 herausbildete. Da in den ostelbischen Gebieten »weit weniger Kunststraßen« als im Westen vorhanden seien, hatte der Gewerbeminister von Bülow noch zu Jahresbeginn für eine umfangreiche Förderung des östlichen Teils der Monarchie plädiert. In einem ersten Schritt hatten die Strecken Berlin – Magdeburg, Berlin – Wittenberg, Berlin – Breslau, Frankfurt – Posen, Küstrin – Marienwerder – Königsberg, Halle – Naumburg und Egeln – Atzendorf errichtet werden sollen. In einem zweiten Schritt sollten schließlich die Provinzen Pommern und Preußen über die Verbindungslinien Berlin – Stettin – Stralsund und Marienburg – Danzig – Dirschau zum Zuge kommen.37 Bereits einen Monat später strich Friedrich Wilhelm III. jedoch die Strecken Halle – Naumburg und Frankfurt – Posen aus dem Chausseebauplan. Stattdessen räumte man seit 1817 32 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16008, Ztgsb. April 1810, Stettin 13.5.1810 u. Aug. 1810, Stettin 7.9.1810, sowie GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16009, Ztgsb. Dez. 1811, Stettin 4.1.1812. 33 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16014, Ztgsb. Dez. 1815, Stettin 1.1.1816. 34 Vgl. Bremm, Von der Chaussee zur Schiene, S. 8. Bremm gibt an, dass sich die Marschgeschwindigkeit der preuß. Armee zwischen Elbe u. Rhein in den 1830er Jahren tatsächlich steigerte. Er führt das jedoch auf Verbesserungen in der militärischen Logistik zurück. 35 Vgl. Schubert, S. 301 f. 36 Vgl. etwa zu den Auswirkungen der Armeetransporte im mitteldeutschen Raum Sander, S. 21. 37 Vgl. Müller, Chausseebaupolitik u. Herrschaft, S. 195.

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der Herstellung der Ost-West-Verbindung Halle – Heiligenstadt – Kassel – Brilon – Arnsberg sowie der Linie Minden – Iserlohn und einigen kleineren Anschlussstrecken in Sachsen und Westfalen Priorität ein.38 Die pommersche Provinzialverwaltung nahm die Zurückstellung des Baus der Stettiner Chaussee nicht widerspruchslos hin. Den Zeitungsberichten der Regierungen und den Brandbriefen des Oberpräsidenten Sack an den Minister von Bülow ist der Ärger über die Benachteiligung zu entnehmen. Als 1817 in der Presse über die mögliche Bereitstellung zusätzlicher Straßenbaumittel für die Provinz Preußen berichtet wurde, versuchte die Stettiner Regierung mit der gegenüber Berlin geäußerten Befürchtung einer »Verbreitung der […] Klage, daß Pommern schon jetzt wieder leer ausgehe und zurückgesetzt werde, da es sich doch bey der Erfüllung seiner Verpflichtung stets unter den Ersten befunden habe,« finanzielle Zuwendungen zu erwirken.39 Man setzte die pommersche Treue zur Monarchie als Verhandlungsmittel ein und drohte indirekt mit der Abnahme. Die Berliner Zentrale ließ sich jedoch auf keine Diskussion ein. Das Antwortschreiben wies darauf hin, dass in der Provinz Preußen noch schlechtere Verhältnisse herrschten. Zudem wurde signalisierte, dass immerhin der Hafenausbau von Swinemünde bewilligt worden sei und auch bald auf den Chausseebau nach Stettin Rücksicht genommen werde.40 Während der Hafenausbau von Swinemünde tatsächlich in den Jahren 1818 bis 1823 umgesetzt wurde,41 musste mit der 1819 erfolgten Reduzierung des gesamtpreußischen Etats für den Straßenbau von 500.000 auf 300.000 Talern der Bau vollends eingestellt werden.42 Die Konsequenz des im folgenden Jahr er­lassenen Staatsschuldengesetzes, zur Verhinderung einer »reichsständischen Versammlung« auf zusätzliche Schulden zu verzichten, beraubte den preußischen Staat weiteren finanziellen und damit auch infrastrukturpolitischen Spielraumes.43 1820 waren die Chausseen nach Schlesien und Preußen noch gar nicht in Angriff genommen worden, die Straße nach Stettin bestand lediglich aus Erdarbeiten auf der Länge von einer Viertelmeile.44 Der Oberpräsident und die Stettiner Regierung reagierten auf den Stillstand in einer Mischung von Resignation und weiteren Appellen an die Staatsregierung. Mit der trotzigen Begründung, dass er vergängliche Reparaturen als Verschwendung ansähe, rief Sack in den Jahren 1821/22 die für den Bezirk zur Verfügung gestellten Mittel von 3.291 Talern erst gar nicht ab.45 Zugleich 38 Vgl. ebd, S. 195 f. 39 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16015, Ztgsb. Dez. 1816, Stettin 3.1.1817. 40 Vgl. ebd., beigelegtes Schreiben an Reg. St., Berlin 16.1.1817. 41 Vgl. Weise, Sack, S. 82 f. 42 Vgl. Müller, Chausseebaupolitik u. Herrschaft, S. 196. 43 Vgl. Tilly, Die politische Ökonomie der Finanzpolitik, S. 57 f. 44 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16019, Ztgsb. April 1820, Stettin 4.5.1820. 45 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 93 B, Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Nr. 33308, an Minister für Handel u. Gewerbe v. Bülow, Stettin 15.12.1823.

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forderten Oberpräsident und Regierung neben der Freigabe zusätzlicher Mittel von 100.000 Talern jährlich46 wiederholt die Ersetzung des pommerschen Wegereglements von 1752.47 Außerdem wiesen die Stettiner Zeitungsberichte mehrfach auf die schlechten persönlichen Erfahrungen des Kronprinzen und einiger königlicher Minister auf ihren Reisen durch Pommern hin.48 Die Appelle verpufften angesichts der innenpolitisch motivierten Sparmaßnahmen des preußischen Staates. Die Verabschiedung eines neuen Wegerechts wurde ebenfalls abgelehnt. Erst seit den dreißiger Jahren setzte der Staat bei Bau, Unterhalt und Chausseegeldtarif über die Bestimmungen des ALR hinaus reichende Standards.49 Nicht vor dem Jahr 1823 regte sich nach der Bewilligung extraordinärer Zuschüsse in Pommern eine erneute Bautätigkeit. Bis zum 1. Dezember wurden die ersten 1 ¾ Meilen pommerscher Chaussee zwischen Stettin und Kolbitzow dem öffentlichen Verkehr übergeben. Im selben Monat beschloss das Handelsministerium den Weiterbau bis nach Berlin.50 Als im Januar 1824 die Preußische Seehandlung unter Christian Rother den Auftrag bekam, unter Umgehung des Staatsschuldengesetzes als »Entrepreneur im Staatsauftrag« 124 ¼ Meilen Chausseen zu errichten, wurde unter den zu bauenden Linien auch die Fertigstellung der Verbindung Berlin – Stettin festgelegt.51 Mit mehr als 400 beschäftigten Arbeitern schritt der Bau derart rasch voran, dass die Chaussee im September 1825 die kurmärkische Grenze erreichte.52 Noch im selben Jahr fand daher auch Stettin Anschluss an das preußische Schnellpostnetz. Die Reisezeit zwischen Stettin und Berlin verkürzte sich auf sensationelle 15–16 Stunden.53 Verglichen mit der Reisegeschwindigkeit Atterboms aus dem Jahr 1817 hatte sich diese mehr als verdoppelt. Zwar partizipierten die pommersche Hauptstadt Stettin sowie die Orte Gartz und Damm damit an der Revolutionierung des Personen- und Gütertransports der zwanziger Jahre,54 wegen der pommerschen Topographie, die einem »zersauste[n] Schmetterling« gleicht,55 war das vor- und hinterpommersche Hinterland indes immer noch von den 46 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16019, Ztgsb. Aug. 1820, Stettin 5.9.1820. 47 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 93 B, Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Nr. 33308, Sack an Minister für Handel u. Gewerbe v. Bülow, Stettin 15.12.1823. Die Reg. St. u. Sack hatten diese Forderungen bereits am 1.4.1826, 17.8.1816 und 31.12.1816 gestellt. 48 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16019, Ztgsb. Juni 1820, Stettin 4.7.1820. 49 Vgl. Müller, Chausseebaupolitik u. Herrschaft, S. 205. 50 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16021 bzw. Nr. 16022, Ztgsb. Nov. 1823, Stettin 4.12.1823 bzw. Ztgsb. Dez. 1823, Stettin 4.1.1824. 51 Vgl. Müller, Chausseebaupolitik u. Herrschaft, S. 197. 52 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16023 bzw. Nr. 16024, Ztgsb. März 1824, Stettin 5.4.1823 bzw. Ztgsb. Sept. 1825, Stettin 5.10.1824. 53 Vgl. den Fahrplan der 6 wöchentlichen Schnellposten zwischen Stettin u. Berlin. In: Amtsbl. Stettin, Nr. 18, 29.4.1836, S. 100 f. Allg. zur pom. Postgeschichte vgl. Neumann, passim. 54 Vgl. Koselleck, S.  615. Koselleck verweist hier u. a. auf die Verzehnfachung des Personen­ verkehrs in der dritten Dekade des 19. Jhdts. von 60.000 auf rund 600.000 Reisende. 55 Vgl. diese Metapher wählend Eggert, Geschichte Pommerns, S. 7.

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Haupt­verkehrsadern Preußens abgeschnitten. Selbst im Regierungsbezirk Stettin durchschnitt die Chaussee, sofern man den Stettiner Stadtkreis mitzählt, lediglich drei von 13 Kreisen. Letztlich hatte somit die als Folge der hohen Altschulden und des Staatsschuldengesetzes von 1820 zu begreifende restriktive preußische Haushaltspolitik im ersten Quartal des 19. Jahrhunderts infrastrukturelle Tatsachen geschaffen, die sich für Pommern noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts negativ auswirken sollten. Ironischerweise schadete man hiermit einer Provinz, die bis zum Ende der Monarchie als eine ihrer größten Stützen begriffen wurde.

2.2 Die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur in Preußen und Pommern im 19. Jahrhundert Die Geschichte der preußischen Verkehrsinfrastruktur nach 1815 lässt sich sowohl im Fall des Chaussee- als auch beim Eisenbahnbau in drei zeitliche Abschnitte gliedern. Abgrenzungsgründe bilden technische Entwicklungen, politische Zäsuren und die zumindest teilweise hieraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Kurswechsel des Staates. 2.2.1 Grundzüge der infrastrukturellen Entwicklung von 1815 bis 1890 Die erste Phase wird spätestens mit der Revolution von 1848/49 abgeschlossen. Im Straßenbau tritt hier der Staat als Förderer auf. Dem schon erwähnten Engagement der Seehandlung 1824 folgten weitere Darlehen zur Förderung des Straßenbaus. Eine detaillierte Aufschlüsselung der regulären und extraordinä­ ren Ausgaben des Staates für den Unterhalt und den Straßenneubau ist dabei schwer zu geben. Regulär veranschlagte der Staat bis 1845 jährlich 500.000 Taler für den Chausseeneubau, dazu wurden aber weit über diese Zahl hinausgehende extraordinäre Zuschüsse bewilligt. Insgesamt brachte der preußische Staat gemeinsam mit den Mitteln der Seehandlung und anderen Staatsfonds zwischen 1816 und 1846 rund 35 Mio. Taler für den Chausseeneubau auf.56 Hiermit wurde das Netz der Staatschausseen bis 1846 um knapp 7.900 km auf eine Länge von 11.045 km erweitert.57 Dass diese Investitionen für Preußen ein probates Druckmittel darstellten, die mitteldeutschen Staaten in den Zollverein zu drängen, liegt auf der Hand.58 Für Pommern stellte diese Praxis insofern ein Problem dar, weil die staatlichen Chausseebaumittel auch in den dreißiger 56 Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 368 f. 57 Vgl. Gador, S. 62 u. S. 68. 58 Vgl. zum Straßenbau in der Entstehungszeit des Zollvereins Thimme, passim.

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Jahren weiterhin eher in die westlichen Provinzen flossen als in das von den beiden Mecklenburger Staaten nach Westen hin abgeschlossene Pommern. Der Provinzial-, Kreis-, Gemeinde- und Privatstraßenbau spielte in dieser Phase keine große Rolle. Das Nichtstaatschausseennetz Preußens umfasste 1846 erst 2.363 km, wovon mehr als die Hälfte (1.370 km) auf die Rheinprovinz entfiel. Dessen Bezirksstraßennetz bestand im Kern aus den 385 km Länge um­ fassenden von den Franzosen hinterlassenen Chausseelinien.59 Erst die 1843 einsetzende staatliche Prämienzahlung von 3.000 Talern je gebauter Meile unter dem Finanzminister von Alvensleben führte sukzessive zu einem höheren Anteil von Nichtstaatschausseen.60 Alles in allem umfasste das preußische Chaussee­netz 1848 eine Länge von 14.989 km. Rechnet man die Gesamtlänge des pommerschen Chausseenetzes von 955 km/1.000 qkm Fläche um, fanden sich die drei Regierungsbezirke Stettin (32,18 km), Stralsund (29,46 km) und Köslin (26,22 km) im hinteren Drittel unter den anderen östlichen Bezirken wieder. Spitzenreiter, bezogen auf die Netzdichte, war der Regierungsbezirk Düsseldorf mit einer Zahl von 193,97 km, der gesamtpreußische Durchschnitt lag bei 52,08 km/1.000 qkm.61 Im innerdeutschen Vergleich lag Preußen hierbei weit zurück. Kleinere Staaten wie Braunschweig, Hessen und Sachsen kamen 1852 auf Netzdichten von 477, 229 bzw. 228 km/1.000 qkm.62 Der Eisenbahnbau entwickelte sich bis 1848 von einem rein privaten Unternehmen hin zum so genannten »gemischten System«.63 Trotz der publizis­ tischen Tätigkeit bekannter Namen aus dem Wirtschaftsbürgertum wie Friedrich Harkort, David Hansemann, Ludolf Camphausen und Friedrich List sowie der erfolgreichen Erstellung erster Linien in England, den USA und Belgien lehnte der preußische Staat bis zum Erlass des Eisenbahngesetzes von 1838 finanzielle Hilfe für den Eisenbahnbau ab. Die Gründe sind hierfür nicht in obskuren medizinischen oder mentalen Befindlichkeiten zu suchen,64 stattdessen waren diese pragmatischer wie machtpolitischer Natur. Tatsächlich stand die Ablehnung eines staatlichen Engagements mit den hohen Summen in Zusammenhang, die der Staat in den dreißiger Jahren für den Chausseeneubau aufwandte. Als 1835 Friedrich Wilhelm III. den Chef der Seehandlung, Christian von Rother, den General-Postmeister, Karl Ferdinand Friedrich von Nagler und Peter Beuth aus dem Finanzministerium dazu aufforderte, zur Eisenbahnfrage Stellung zu beziehen, fiel ihr Urteil über die Brauchbarkeit der Eisenbahn negativ aus. Von Nagler sah in den privaten Eisenbahnen eine Konkurrenz zum staatlich bzw. über die Seehandlung finanzierten Chausseenetz. Beuth führte aus, dass die industrielle Entwicklung Preußens noch nicht weit genug 59 Vgl. Gador, S. 78 f. 60 Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 375 f. 61 Vgl. ebd., S. 454 u. S. 462. 62 Vgl. Borchard, S. 274. 63 Vgl. Brophy, Eisenbahnbau als Modernisierungsstrategie?, S. 253–272 u. S. 256. 64 Vgl. Roth, S. 50.

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gediehen sei, und Rother zweifelte grundsätzlich den Nutzen von Eisenbahnen an. Chausseen und Kanäle seien schließlich ebenso effektiv und zudem weitaus billiger. Außerdem fürchtete er die Konkurrenz zusätzlicher Eisenbahnanleihen auf dem Finanzmarkt. Sein Gutachten endete mit der Empfehlung, eine Oberaufsicht des Staates über den privaten Eisenbahnbau und die Möglichkeit eines späteren Erwerbs der Bahnen durch den Staat festzulegen.65 Auch das Militär bewahrte gegenüber den Eisenbahnen in den dreißiger Jahren eine pragmatische Skepsis. Der preußische Generalstabschef General von Krauseneck warnte in einer Stellungnahme von 1834 vor der Verschwendung staatlicher Mittel, die seiner Meinung nach zielgerichteter zur Vervollständigung des erprobten und den Aufmarschplänen der Armee zugrunde liegenden Chausseenetzes eingesetzt werden könnten.66 Vor allem kann man aber in den finanzpolitischen Folgen des Staatsschuldengesetzes von 1820 den entscheidenden Grund für das fehlende staatliche Engagement sehen. Da Friedrich Wilhelm III. mit gutem Grund befürchtete, dass mit dem Zusammentritt einer »reichsständischen Versammlung« eine schleichende Konstitutionalisierung oder sogar Parlamentarisierung der Politik drohte, berief er diese nicht zusammen.67 Stattdessen folgte man 1838 bei der Verabschiedung des Eisenbahngesetzes der Linie Rothers, Finanzierung und Bau Privatunternehmern zu überlassen, während der Staat ein weitgehendes Kontroll- und nach Ablauf von 30 Betriebsjahren ein Erwerbsrecht erhielt.68 Als Folge dieser restriktiven Bestimmungen wurde bis 1838 lediglich die kleine Berlin – Potsdamer Bahn errichtet, während die anderen bisher konzessionierten Projekte an den Börsen in eine Finanzkrise taumelten. Der Bau der Berlin – Stettiner Eisenbahn konnte nur mittels Hilfe des Pommerschen Provinziallandtags begonnen werden, bei der Berlin – Anhalter Bahn sprang wieder einmal die Seehandlung ein.69 Erst die über Hansemann eingefädelte Beteiligung Belgiens an der Rheinischen Eisenbahn bewog die preußische Regierung 1842 zu einem Umsteuern. Friedrich Wilhelm IV., der sich trotz seiner Begeisterung für das Mittelalter immer auch als Freund und Förderer der Eisenbahn erwies,70 versuchte sich an einer Aushebelung des Staatsschuldengesetzes, indem er 1842 nicht einen »landesweite Ständeversammlung«, sondern die »Vereinigten Ausschüsse«, bestehend aus Deputierten der einzelnen Provinzial­ vertretungen, ins Leben rief. Da die Liberalen trotz entschiedener Proteste 65 Vgl. hierzu ausführlich Brophy, Capitalism, politics, and railroads in Prussia, S. 30–33. 66 Vgl. den Artikel »Die Entwicklung des Militäreisenbahnwesens vor Moltke«. In: MilitärWochenblatt 5/1, 1902, S. 238. Zit. nach: Bremm, Von der Chaussee zur Schiene, S. 9. 67 Vgl. hierzu allg. Stamm-Kuhlmann, Friedrich Wilhelm III., S. 458 f. Zur Bedeutung für den Eisenbahnbau Brophy, Capitalism, politics, and railroads in Prussia, S. 33. Für die staatliche Interventionspolitik vgl. allg. Tilly, Die politische Ökonomie der Finanzpolitik, S. 62. 68 Vgl. Bracht, S. 20–23. 69 Vgl. Brophy, Capitalism, politics, and railroads in Prussia, S. 37. 70 Vgl. Barclay, S. 175, Paul, S. 263–270, Brophy, Capitalism, politics, and railroads in Prussia, S. 107 u. Rathgeber, S. 23–25.

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gegen dieses Vorgehen einer staatlichen Förderung des Eisenbahnbaus ihre Zustimmung nicht versagen wollten, fand hiermit das »gemischte System« seine Einführung. Statt direkte Schulden aufzunehmen, versprach der preußische Staat Zinsgarantien, die durch eine Erhöhung der Salzsteuer und die Verwendung laufender Haushaltsmittel beglichen werden sollten. 1843 legte eine Kabinettsorder fest, dass hierzu jährlich bis zu 2 Mio. Taler verwendet werden konnten, zudem wurde aus den Haushaltsüberschüssen des Jahres 1842 ein gesonderter Eisenbahnfonds in der Höhe von 6 Mio. Talern aufgelegt.71 Konkret lagen die Dividenden bei der konzessionierten Oberschlesischen, der Niederschlesisch – Märkischen und der Bergisch – Märkischen Bahn zwischen 3,5 und 4 %. Dazu verpflichtete sich der Staat zwischen 1⁄7 und 25 % der ausgegebenen Aktien zu zeichnen.72 Dank dieser Förderung wuchs das preußische Eisenbahnnetz bis 1848 auf eine Streckenlänge von 3.144 km an, das entweder vollständig privat oder unter den Bedingungen des Eisenbahngesetzes von 1843 er­richtet worden war. Wie im Straßenverkehr stand Pommern mit den lediglich 108 km Gleis­ anlagen der Berlin – Stettiner Eisenbahn im preußischen Vergleich wieder auf den hintersten Plätzen.73 Mit der vermehrten Einbeziehung von Eisenbahn­ linien in das taktische Kalkül des preußischen Militärs und dem daraus hervorgehenden Staatsinteresse, die so genannte Ostbahn von Berlin über die Festungen Küstrin und Thorn nach Königsberg zu bauen,74 wurde das Ende der ersten Phase des preußischen Eisenbahnbaus eingeleitet. Die preußische Regierung sah sich dazu gezwungen, den Bau über Staatsanleihen zu finanzieren, denn für die wenig lukrative Strecke fanden sich keine Privatunternehmer. Wenn auch verspätet, platzte »Hardenbergs Zeitbombe«75 daher doch noch. Der hierfür einberufene Vereinigte Landtag lehnte die Ostbahnanleihe mit überwältigender Mehrheit ab. Die auf dem Landtag mit Vehemenz öffentlich gemachten Forderungen der Liberalen und die Verweigerung der Staatsregierung, hierauf mit Zugeständnissen zu reagieren, hatten maßgeblichen Anteil an dem politischen Klima, das die Revolution von 1848/49 hervorrufen würde.76 Die 1849 erfolgte Bewilligung der Eisenbahnanleihen durch die erstmals unter den Bedingungen des Dreiklassenwahlrechts gewählte preußische Nationalversammlung markiert schließlich den Beginn der zweiten Phase des Eisenbahnbaus in Preußen. Die zweite Phase der infrastrukturellen Entwicklung Preußens setzte mit dem Ende der Revolution ein. In der Behandlung des Chausseebaus wurde vorn darauf hingewiesen, dass man seit 1843 mit dem Prämienbau den Übergang zum nichtstaatlichen Straßenbau eingeleitet hatte. Zwischen 1848 und 1870 71 Vgl. Bracht, S. 81–87. 72 Vgl. ebd., S. 88 f. 73 Vgl. Lenschau, S. 184. 74 Vgl. Bremm, Von der Chaussee zur Schiene, S. 25. 75 Vgl. die sehr plastische Überschrift bei Clark, S. 525. 76 Vgl. Obenaus, S. 710 u. Valentin, S. 80–82.

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wuchs die Länge der Nichtstaatschausseen von 3.137 km auf 20.643 km an, während sich das Staatschausseenetz von 11.851 km auf 14.344 km vergrößerte.77 Von 1853 bis 1873 wandten die beiden Handelsminister August von der Heydt und Heinrich Graf von Itzenplitz rund 58,8 Mio. Taler für den Unterhalt und 26,4 Mio. Taler für den Chausseeneubau auf. Darunter fielen 16,6 Mio. Taler auf den Prämienbau der Nichtstaatschausseen.78 Pommern wurde hierbei gleichauf mit Posen hinter den beiden anderen Ostprovinzen Preußen und Schlesien mit Zuwendungen von 2,67 Mio. Talern höher als die Westprovinzen bedacht.79 Zwar kann man am Prämienaufwand erkennen, dass sowohl der Staat als auch die lokalen Akteure der bisher weniger entwickelten Gebiete versuchten, den Rückstand zu den westlichen Provinzen aufzuholen, betrachtet man freilich die relative Entwicklung der Netzdichte, ist festzustellen, dass Pommern gegenüber dem Stand von 1848 vom drittletzten nun sogar auf den letzten Platz zurückfiel. Während der gesamtpreußische Durchschnitt 1875 bei 128,96 km/1.000 qkm stand, lag er in Pommern nur bei 90,76 km. Eine Übersicht der Netzdichte der einzelnen Regierungsbezirke weist von allen preußischen Verwaltungseinheiten den Stettiner Bezirk mit einer Dichte von 77,1 km nur knapp vor dem Frankfurter Bezirk an vorletzter Stelle auf.80 Jedoch ist hier zu bedenken, dass sowohl Frankfurt als auch Stettin verkehrstechnisch zusätzlich von der Wasserstraße Oder profitierten. 1862 lag die Wasserstraßendichte im Regierungsbezirk Stettin mit 37,49 km/1.000 qkm deutlich über dem preu­ ßischen Durchschnitt (21,57 km), während sie in den Bezirken Köslin (0 km) und Stralsund (9,56 km) darunter lag.81 Die Zäsur des Jahres 1875 ergibt sich aus der Übergabe der preußischen Staatschausseen an die untergeordneten Provinzialverbände. Hier wird der Funktionswandel der Chausseen deutlich, der sich in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts ergab. Waren die Chausseen bis 1848/49 als Hauptverkehrsadern konzipiert worden, dienten sie nun dem Lokalverkehr und der An­bindung an die Orte, die bereits mit Eisenbahnhöfen ausgestattet waren. Mit der Entwicklung zum Verfassungsstaat sah man vorerst keine Gründe mehr, auf einen schuldenfinanzierten Eisenbahnbau zu verzichten. Unter von der Heydt garantierte der preußische Staat von 1852 bis 1860 mit 140 Mio. Talern Aktienkapital die Renditen der privaten Anleger. Das preußische Eisenbahnnetz verdoppelte sich in dieser Zeitspanne. Zugleich trat der Staat verstärkt selbst als Unternehmer auf und hielt sich in der Konzessionierung privater Linien zurück. 1860 kontrollierte er mit 5.674 km Streckenlänge rund die Hälfte des preußischen Eisenbahnnetzes. Letztlich ist diese Politik mit James 77 Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 457 u. S. 460. 78 Vgl. Gador, S. 137. 79 Vgl. ebd., S. 140. 80 Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 456 u. S. 462. Die Angaben der Bezirke beziehen sich auf 1870, die der Provinzen auf 1875. 81 Vgl. ebd., S. 464.

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M. Brophy als schleichende Verstaatlichung zu charakterisieren.82 Inwieweit diese interventionistische Politik zum wirtschaftlichen »Take-off« Preußens beigetragen oder diesem sogar geschadet hat, bleibt weiterhin umstritten. In jedem Fall muss festgehalten werden, dass Pommern erneut von diesem staatlichen Engagement vorerst nicht profitieren konnte. Bis 1858 blieb es bei den 108 km Schienenwegen der Berlin – Stettiner Bahn. Die Analyse Dieter Zieglers, dass die preußische Eisenbahnpolitik von der Heydts den Gegensatz zwischen entwickelten und unterentwickelten Gegenden weiter verschärfte,83 traf auf das pommersche Hinterland jedenfalls in den fünfziger Jahren zu. Mit dem Amtsantritt von Heinrich Graf von Itzenplitz liberalisierte sich kurzzeitig die preußische Eisenbahnpolitik. Bis zur Reichsgründung wurden 64 private Konzessionen vergeben. Um im Verfassungskonflikt von 1862 bis 1866 finanziell handlungsfähig zu bleiben, verkaufte der Staat sogar wieder Eisenbahnanteile an private Unternehmer.84 Die Zäsur der zweiten Phase wurde mit der Reichsgründung 1870/71 ein­ geleitet. Nachdem Bismarck schon Ende der sechziger Jahre eine Verstaatlichung der preußischen Eisenbahnen anvisiert hatte, schufen die Eisenbahnskandale der Gründerzeit und die Gewinneinbrüche ein Klima, das bis 1879 im Zuge der so genannten »zweiten Reichsgründung« die Verstaatlichung der preußischen Eisenbahnen ermöglichte.85 Zu diesem Zeitpunkt umfasste das preußische Streckennetz schon 18.186 km, die pommerschen Linien hatten sich hierbei in den zehn Jahren zwischen 1868 und 1878 von 458 km auf 1.064 km verdoppelt.86 Mit den Verwaltungsreformen der siebziger Jahre (Kreisordnung von 1872, Provinzialordnung von 1875) und der daraus folgenden 1875/76 erfolgten Übergabe der Staatschausseen an die Provinzialverbände wurde im Straßenbau der dritte Abschnitt eingeleitet. In Pommern delegierte der 2.  Provinziallandtag 1876 nach § 18 Absatz 3 des Dotationsgesetzes die Straßenverwaltung an die Kreise.87 Zwar zog sich der Staat hiermit aus der Lenkung des nur noch dem Lokal­verkehr dienenden Straßenbaus zurück, über die Gewährung umfassender Dotationen bewahrte er sich jedoch ein Mittel regionaler Strukturförderung. Hierbei setzte die preußische Regierung gegen den Widerstand von Abgeordneten aus den westlichen Provinzen schon im Dotationsgesetz von 1873 einen Verteilungsschlüssel fest, der nach Bevölkerungszahl und Fläche berechnet die spärlich besiedelten Ostprovinzen bevorteilte. Für die Geschichte der deutschen Finanzpolitik sind die Dotationsgesetze von 1873 und das noch deutlicher auf die Ostprovinzen zugeschnittene Gesetz von 1902 insofern von größerem Interesse, weil sie das Prinzip des regionalen Finanzausgleichs begründe82 Vgl. Brophy, Eisenbahnbau als Modernisierungsstrategie?, S. 263–267. 83 Vgl. Ziegler, S. 300 f. 84 Vgl. Brophy, Eisenbahnbau als Modernisierungsstrategie?, S. 269. 85 Vgl. Ziegler, S. 188–228. 86 Vgl. Lenschau, S. 184. 87 Vgl. Landeshauptmann der Provinz Pommern, S. 20 f.

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ten.88 Zum einen aufgrund dieser staatlichen Umverteilungspolitik, zum anderen aufgrund der Auswirkungen der so genannten lex Huene, das von 1886 bis 1896 die Verteilung aller Zolleinnahmen über der Höhe von 15 Mio. Mark an die Kreise vorschrieb, verfügten die Kreise jedenfalls Ende des 19. Jahrhunderts über einen umfassenden infrastrukturpolitischen Spielraum. Da das Eisenbahnwesen inzwischen verstaatlicht war, äußerte sich dieser Spielraum beim ebenfalls von den Kreisen und Provinzialverbänden, aber auch vom Staat massiv subventionierten Sekundär- und Kleinbahnenbau. Vergleicht man die Summen der Streckenlänge der Haupt- und Nebenbahnen aus den Jahren 1883 und 1913, ist festzustellen, dass in dieser Zeit die östlichen Provinzen ihren Rückstand gegenüber den westlichen Provinzen endgültig aufholten. So verdreifachte sich die Netzdichte in den Ostprovinzen (inklusive Brandenburgs) von durchschnittlich 34,4 km/1.000 qkm auf 95 km, während sie sich in den übrigen Provinzen von 49,8 km auf 107,5 km verdoppelte.89 Pommern schnitt zwar mit 78,1 km von allen Provinzen am schlechtesten ab, summiert man aber die 2.352,4 km langen Haupt- und Nebenbahnen mit den rund 1.660 km langen Kleinbahnstrecken, stand die Provinz mit einer Streckendichte von 175,6 km/1.000 qkm sogar an der Spitze des preußischen Staates.90 Gerade hierbei sind die erheblichen Eigenmittel der Provinz nicht zu unterschätzen, wobei anzumerken ist, dass die den »neuen Eliten« zumindest in Ansätzen mehr Partizipation zubilligenden Verwaltungsreformen der siebziger Jahre sicherlich die Investitionsbereitschaft der Kreis- und Provinzvertretungen befördert haben.91 Fasst man die Infrastrukturentwicklung Preußens im 19.  Jahrhundert zusammen, ist die große Bedeutung des Staates zu unterstreichen, die jedoch wegen der Bestimmungen des Staatsschuldengesetzes von 1820 nicht vor den vierziger Jahren und vollends erst nach der Revolution von 1848/49 zum Tragen kam. Sonst ist hervorzuheben, dass gerade beim Eisenbahnbau anfangs eher private Unternehmer die volle Bedeutung der neuen Technologie erkannten. Aufgrund des hohen Finanzbedarfs und der mangelnden Bereitschaft des Staates hier auszuhelfen, kam der Netzausbau nur schleppend und wenn überhaupt dann eher in den westlichen Provinzen voran. Bemerkenswert ist auch der große infrastrukturelle Rückstand der Ostprovinzen, dem erst am Ende der wirtschaftlichen »Take-off«-Phase Preußens in den sechziger Jahren begegnet wurde. Die umfassende staatliche wie auch provinziale und lokale Förderung der Verkehrsinfrastruktur, welche die Ostprovinzen seit den siebziger Jahren erfuhren, stellte freilich eine entwicklungspolitische Leistung Preußens dar, die zumindest ansatzweise dazu beitrug, regionale Disparitäten zu verringern.

88 Vgl. Abelshauser, S. 50–52. 89 Vgl. ebd., S. 20. 90 Vgl. Geißler, Der Bau regionaler Bahnen, S. 292. 91 Auf diese Folge weist Wagner, Lokale Herrschaft u. Partizipation, S. 141 f. hin.

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2.2.2 Akteure des Ausbaus der Verkehrsinfrastruktur Die Akteure, welche für die preußische Verkehrspolitik relevant erscheinen, sind ebenso vielschichtig wie bei der Hebung des Schulwesens. Aus der angeführten Wichtigkeit staatlicher Zuwendungen für die Infrastrukturpolitik erklärt sich die Bedeutung der verantwortlichen Minister in der Berliner Zentrale. Hier ist zu prüfen, inwieweit einzelne Minister ein pommernspezifisches Entwicklungsinteresse zeigten. Da die Eisenbahnbegeisterung Friedrich Wilhelms IV. bekannt ist, muss auch dessen Einfluss auf die Verkehrspolitik in Pommern berücksichtigt werden. Wesentlicher als im Fall der Hebung des Schulwesens ist die Bedeutung der Oberpräsidenten einzuschätzen. Fragen der Landeskommunikation fielen bis 1875 grundsätzlich in deren Ressort, denn sie sollten alle Angelegenheiten übernehmen, welche die Grenzen eines Regierungsbezirks überschritten.92 Die einzelnen Regierungen hatten deshalb nur Zuarbeiten zu liefern. In der landesgeschichtlichen Forschung wird die Bedeutung einzelner Oberpräsidenten hervorgehoben. Neben Sack, dessen infrastrukturpolitisches Engagement schon mehrfach gewürdigt wurde,93 wies Hans Branig auf die Leistungen des Freiherrn von Senfft-Pilsach für den pommerschen Eisenbahnbau hin, was Bärbel Holtz mit einem Hinweis auf die Förderung des Chausseebaus ergänzte.94 Ende des 19. Jahrhunderts unterstützte zudem Ulrich Graf von Behr-Negendank den Kleinbahnbau und das Telegraphenwesen.95 Als Mittler zwischen der zentralstaatlichen Ebene und der Region konnte sich ein starker Oberpräsident offenbar wirkungsvoll für die Interessen seiner Provinz stark machen. Auf der unteren Ebene der Verwaltung erlangten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Landräte eine hohe Bedeutung. Aus der zunehmenden Abwälzung der finanziellen Lasten von Chausseebauten auf die Kreisbehörden erwuchs dem Landrat die Verantwortung, die unterschiedlichen und im Fall der Streckenführung häufig entgegengesetzten Kreisinteressen auszubalancieren. Die Zahl der gebauten Straßenkilometer gehörte in den sechziger und siebziger Jahren außerdem zu den wichtigsten Kennzahlen des persönlichen Verwaltungserfolgs eines Landrats, die dessen bürokratische Qualifikation unter Beweis stellten.96 War ein Landrat an einem Fortschreiten seiner Karriere interessiert, kam er nicht umhin, ein besonderes Interesse für den Chausseebau zu entwickeln. Die Relevanz der Landräte beim Chausseebau weist deutlich auf die Bedeutung sonstiger gesellschaftlicher Akteure in der Verkehrspolitik hin. Mit der Übergabe der Zuständigkeit für das Straßenwesen vom Oberpräsidenten an 92 Vgl. GS 1825, S. 1–5. 93 Vgl. Branig, S. 95, Weise, Sack, S. 82 f. u. Holtz, S. 41. 94 Vgl. Branig, S. 99 u. Holtz, S. 55. 95 Vgl. Branig, S. 101. 96 Vgl. Wagner, Zum Wandel der »Basisposten«, S. 267.

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den neu gegründeten Provinzialverband im Jahr 187597 wurden lokale Akteure in ihrer Bedeutung gestärkt. Die zahlenmäßige Dominanz der Rittergutsbesitzer in den Provinzial- und Kommunallandtagen sowie den Kreistagen unterstreicht deren politisches Gewicht. Dennoch traten hier auch die Vertreter der Landgemeinden und Städte als politische Akteure auf. Da wegen der Finanzierungskonzeptionen im Straßen- und Eisenbahnbau allerdings auch sonstigen Interessenten eine wesentliche Rolle zugeschrieben wurde, ist das private Engagement der städtischen Magistrate, Korporationen wie der Stettiner Kaufmannschaft und das Interesse einzelner Unternehmer nicht zu unterschätzen. Gerade auf Aktienbasis zu bauende Großunternehmungen wie die Eisenbahnen bedurften außer der Förderung des Staates, der Kommunallandtage, des Provinzialverbands oder der Kreise eines hohen Einsatzes privaten Kapitals. Hier war es wichtig, genügend kapitalreiche Förderer zu finden, die nicht nur an einer hohen Dividende, sondern auch am Gedeihen des regionalen Verkehrs interessiert waren. Zuletzt ist das generelle Gewicht der Bevölkerung Pommerns bzw. der regionalen öffentlichen Meinung zu unterstreichen. Das pommersche Publikum konnte sich vielfältig mittels Petitionen oder Presseartikeln in die Diskussion um geplante Verkehrsvorhaben einbringen und hierüber Zustimmung oder Missfallen bekunden. Erneut wird hier die Positionierung der städtischen Presse von Interesse sein. Wenn es um konkrete Streckenführungen ging, war die Bereitschaft der betroffenen Grundbesitzer, dem Expropriationsverfahren keine größeren Widerstände entgegenzubringen, für eine zügige Umsetzung der Bauvorhaben entscheidend. Zudem war es von Vorteil, wenn in der Bevölkerung, die zumeist über Kreisumlagen an der Finanzierung von Straßenbauprojekten beteiligt wurde, Zustimmung zum Sinn und Zweck der Belastungen vorhanden war. 2.2.3 Entwicklungsziele beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur nach 1815 Es wurde bereits vorn angedeutet, dass mit dem Bau von Verkehrsprojekten unterschiedliche Ziele verbunden waren. Diese konnten wie im Falle des Nationbuilding-Konzeptes rein politischer, aber auch militärischer und wirtschaftlicher Natur sein. Auf einen kleinen Untersuchungsraum wie Pommern bzw. den Regierungsbezirk Stettin bezogen erscheint die Bedeutung abstrakter machtpolitischer Zielvorstellungen kaum relevant. Hinsichtlich militärischer Argumentationen hat bereits Uwe Müller darauf hingewiesen, dass diese immer mitberücksichtigt, aber in der Regel wirtschaftlichen Überlegungen hinten angestellt wurden.98

97 Vgl. GS 1875, S. 335 ff. 98 Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 236.

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Die Ostbahn stellt hier eine wesentliche Ausnahme dar.99 Sonst ist lediglich die Prioritätensetzung in der Bewilligung staatlicher Mittel zumeist mit militä­ rischen oder sonstigen politischen Erörterungen zu erklären. Die Entscheidungsfindung der Kapitalgeber wurde dagegen von wirtschaftlichen Argumenten dominiert. Auf privater Seite hing der Kapitaleinsatz weitgehend von Lukrativitätserwägungen ab. Hierbei war man entweder generell an einer möglichst hohen Rendite interessiert oder man erhoffte sich mittels der neuen Verkehrsverbindungen schneller und billiger, eigene Güter zu den Absatzmärkten zu transportieren. Gerade der letzte Gedanke ist als Motiv lokaler Gutsbesitzer beim Bau weniger lukrativer lokaler Verkehrsverbindungen wie den späteren Kleinbahnen nicht zu unterschätzen. Öffentliche Geldgeber konnten eine Vielzahl von Zielen mit dem Bau von Verkehrsprojekten verbinden. Insbesondere lokale Institutionen wie die Städte, Kreise oder auch der Provinzialverband sahen in ihrem Engagement ein Instrument der regionalen Wirtschafts- und Strukturförderung. Dazu konnten Verkehrsprojekte punktuell als Mittel antizyklischer Wirtschaftspolitik und als Arbeits­beschaffungsprogramm in Krisenzeiten genutzt werden. Generell ist festzuhalten, dass in der Regel eine wirtschaftspolitische Zielsetzung deutlich überwog. Eine programmatische Gliederung nach einzelnen Zielsetzungen ist daher nicht sinnvoll. Eigentlich ging es im gesamten 19. Jahrhundert allen Akteuren darum, quantitativ und qualitativ eine Verbesserung der Kommunikationswege zu bewerkstelligen. Kennzahl des Modernisierungsprozess war somit in allen Sektoren die Summe der Streckenkilometer und die Qualität der Netzdichte.

2.3 Der Ausbau der pommerschen Verkehrsinfrastrukturen im 19. Jahrhundert Die Erfolge und Misserfolge beim Ausbau der pommerschen Verkehrsinfrastrukturen werden im Folgenden nach einer sektoralen Gliederung ihrer Entwicklung dargestellt. Dabei wird wieder versucht, diese Entwicklung in den drei zu unterscheidenden soziostrukturellen Großräumen des platten Landes, der pommerschen Städte sowie der Großstadt Stettin im Besonderen auszudifferenzieren, wobei allgemeine Tendenzen in den jeweiligen Kapiteln über das platte Land thematisiert werden.

99 Vgl. Bremm, Von der Chaussee zur Schiene, S. 25. Bremm betont, dass im Fall der Ostbahn das Kriegsministerium die Eisenbahn erstmals in eine offensiv ausgerichtete Militärstrategie einband.

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2.3.1 Das platte Land und der Chausseebau Straßen dienen sowohl der Verbindung zentraler Orte als auch der Erschließung des »platten Landes«. Es liegt auf der Hand, dass die Städte als natürliche Start- und Zielpunkte einer Chaussee immer ein großes Interesse und eine Bereitschaft zur Finanzierung solcher Vorhaben bekundeten. Für Pommern bestand das Problem freilich darin, dass hier nur wenige über Kapital verfügende Städte vorhanden waren und zwischen diesen lange Strecken zu durchqueren waren, die von etwaigen Interessenten des platten Landes mitfinanziert werden mussten. Da städtische Akteure in den politischen Gremien der Provinz, von den Kreistagen (zumindest bis 1872) über den Kommunal- bis hin zum Provinziallandtag, gegenüber den Rittergutsbesitzern und eingeschränkt auch gegenüber den Vertretern der Landgemeinden deutlich in der Minderheit standen, entschieden dort weitgehend am eigenen privaten Nutzen orientierte und an einer Finanzierung lange Zeit desinteressierte Personen über den Chausseebau. In einer Provinz, die hinsichtlich ihres Streckennetzes bei null beginnen musste, ist es nahe liegend, dass nicht jedes Gut und Dorf mit einer Chaussee in Verbindung gesetzt werden konnte. Weil aber ein Gutsbesitzer oder auch ein Dorfschulze das partikulare Interesse der Förderung seines eigenen Umfeldes im Auge hatte, ist es nachvollziehbar, dass schon strukturell bedingt, ein rascher Ausbau der Verkehrswege beschwerlich in Gang zu setzen war. Während in der Diskussion um die Streckenführung der in den zwanziger Jahren nach Hinterpommern projektierten Chausseelinie der Wortführer altständischer Interessen in Pommern, Ernst von Bülow-Cummerow, aus strukturpolitischen Gründen die Anlegung einer neuen Trasse von Naugard über Regenwalde nach Köslin erwog,100 protestierten mehrere Gutsbesitzer gegen dieses Vorhaben und plädierten stattdessen für die Chaussierung der alten Poststraße von Naugard über Plathe nach Köslin. Die dortigen Gutsbesitzer zeigten sich in ihrer Argumentation weniger an strukturpolitischen Erwägungen interessiert als an der Wahrung althergebrachter Rechte und Pflichten. Schließlich breche der Wegfall der Vorteile, welche den Orten durch den Verkehr der alten Poststraße eventuell entzogen würden, mit dem Prinzip, das »sich in unserem Staate […] unter allen Umständen stets der größten Berücksichtigung hat erfreuen dürfen.«101 Hinter diesem politisch konservativen Statement verbargen sich selbstverständlich auch handfeste ökonomische Motive der in der betroffenen Region begüterten Petenten. Die auch in diesem Fall geförderte Rücksichtnahme Friedrich Wilhelms III. und seines Sohnes auf alte Streckenführungen102 100 Vgl. Schmidt, unpaginiert. 101 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1942, Ansichten der Gutsbesitzer über die Anlage der Chaussee zwischen Naugard u. Cöslin, Plathe 20.2.1827. 102 Vgl. ebd., Innenminister an Regenwalder Magistrat, Berlin 27.6.1827. Der Finanzminister von Bodelschwingh befürwortete zudem noch in einem Schreiben an die Reg. St. vom 19.5.1842 die Chaussierung bereits bestehender Wege aus dem pragmatischen Grund, Expropriationsprozesse zu vermeiden (vgl. APS, RSz, I, Nr. 4997).

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behinderte aber in Allianz mit anderen Verfechtern »alter« Rechte die Umsetzung einer rationalen Verkehrskonzeption. Tatsächlich war die pommersche Verkehrspolitik bis weit in die siebziger Jahre hinein von teils heftigen Auseinandersetzungen über die jeweilige Strecken­führung und Finanzierung geprägt, die immer wieder zu längeren Stillstandsperioden in der Verkehrsentwicklung führten. Die Bereitschaft auch solidarisch Kosten für Projekte zu bewilligen, die nicht die unmittelbare Umgegend beförderten, wuchs nur langsam. Statt den Ausgleich der verschiedenen Partikularinteressen zugunsten des jeweiligen Kreises oder sogar der gesamten Provinz zu suchen und ein mit eigenen Mitteln finanziertes Streckennetz zu entwerfen, riefen gerade die Akteure des platten Landes immer wieder lautstark nach staatlicher Hilfe. Als natürliche Mittler der Interessen der Eingesessenen gegenüber der Berliner Zentrale waren daher die Oberpräsidenten in den verkehrspolitischen Auseinandersetzungen involviert. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass insbesondere Sack die Berliner Zentrale regelmäßig auf die wenig förderlichen rechtlichen Rahmenbedingungen, die unzureichenden finanziellen Ressourcen und den generellen Rückstand der Provinz aufmerksam machte.103 Sack war es auch, der als erster pommerscher Oberpräsident den seitdem in der Provinzverwaltung immer wieder verwandten Topos der Ungerechtigkeit begründete, dass Pommern als eine der treuesten Provinzen der Monarchie gegenüber den anderen Regionen benachteiligt werde.104 Zwar scheiterte Sack mit seinen Forderungen nach staatlicher Förderung eines größeren Streckennetzes.105 Seine ständigen Appelle führten aber zu einem Teilerfolg, da auch endlich aus Kreisen des pommerschen Rittergutsbesitzes Impulse zur Förderung des Chausseebaus wahrzunehmen waren. In enger Absprache mit dem Rittergutsbesitzer von Bülow-Rieth, den preußischen Ministern von Schuckmann und von Lottum sowie in direkter Konsultation mit Friedrich Wilhelm III. wurde mit der 1824 zur Förderung der pommerschen Gutsbesitzer gegründeten Ritterschaftlichen Privatbank über die Fortführung des Chausseebaus verhandelt. Obwohl das Finanzministerium bereit war, der Bank Fonds in der Höhe von 2,2 Mio. Talern für den Bau von 100 Meilen Chausseen zu bewilligen,106 scheiterte das Vorhaben vorerst an der Uneinigkeit und dem mangelnden Kapitaleinsatz der Gutsbesitzer.107 Erst nachdem 103 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 93 B, Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Nr. 33308, Sack an Minister für Handel u. Gewerbe v. Bülow, Stettin 15.12.1823. 104 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16015, Ztgsb. Dez. 1816, Stettin 3.1.1817. 105 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1942, Innenministerium an Sack, Berlin 20.4.1827. 106 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 28843, Gutachten des Staatsministers von Schuckmann, Berlin 20.4.1826 u. Regulativ wegen der Maßgabe zur Aufhülfe der Provinz Alt-Pommern [1826]. 107 Vgl. ebd., Pro Memoria des Finanzministers von Motz über den Chausseebau in Pommern, Berlin 30.6.1827.

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das Staatsministerium 1827 signalisiert hatte, dass es bereit sei, auch den Betrag von 1 Mio. Talern zum Bau von ca. 45 Meilen zur Verfügung zu stellen – wobei eventuelle Überschüsse in den pommerschen Meliorationsfonds fließen sollten108 – genehmigte die Aktionärsversammlung im Oktober 1828 den Vertrag.109 Zwar begannen die Arbeiten für die beiden die Provinz quer durchlaufenden Verbindungslinien von Stettin nach Anklam und von Stettin nun definitiv über Gollnow, Naugard, Plathe und Köslin nach Danzig vielversprechend, ein Jahr nach Baubeginn kam es aber zum Eklat. Außer den hinlänglich in der Literatur geschilderten Finanzierungsproblemen der Bank110 stellte sich heraus, dass die Kosten von je 22.000 Talern pro Meile zu niedrig angesetzt waren. Auf sich zusätzlich ergebende Mittel für den pommerschen Meliorationsfonds war nicht mehr zu hoffen.111 Als Sündenböcke für dieses Desaster erkor sich darauf von Bülow-Rieth den zur Kontrolle des Baus berufenen Landrat des Pyritzer Kreises von Schöning sowie den Bau-Inspektor der Provinz Friedrich Neuhaus. Die General-Versammlung der Aktionäre der Ritterschaftlichen Privatbank beantragte auf dessen Vorschlag 1829 die Ersetzung von Schönings durch Sack selbst. Um eine Verbilligung der Kosten zu ermöglichen, forderte man zudem eine Reduzierung der Steindecke, der zu pflanzenden Alleebäume sowie der Chausseehäuser.112 Zwar wurden Neuhaus und Schöning im Amt belassen, die Qualitätsanforderungen der Chausseen nicht abgesenkt und von Bülow-Rieth vom Staatsministerium zurechtgewiesen,113 der Bau selbst geriet aber nun vollends ins Stocken. Obwohl noch im Winter 1830/31 über 3.000 Menschen beim pommerschen Chausseebau beschäftigt waren,114 konnten bis zum Frühjahr 1833 erst 30 Meilen abgenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt war »der Bau in einem so chaotischen Zustande, daß die fernere Ausführung der Bank ab­ genommen wurde« und stattdessen von Schöning gänzlich unterstellt wurde. Erst mit weiteren Finanzspritzen des Staates konnten die projektierten Strecken bis zum Frühjahr 1837 erfolgreich beendet werden.115 Das Prinzip, den ständischen Akteuren die Hebung der Verkehrsinfrastrukturen in Eigenverantwortung zu überlassen, war mit der Übergabe an von Schöning indes gescheitert. 108 Vgl. ebd., Staatsminister Schuckmann an Friedrich Wilhelm III., Karlsbad u. Berlin 6.7.1827. 109 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16027, Ztgsb. April, Juni u. Okt. 1828, Stettin 5.5., 4.7. bzw. 4.11.1828. 110 Vgl. Poschinger, S. 241–254. 111 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 28844, Sack an Friedrich Wilhelm III., Stettin 29.12.1829. 112 Vgl. ebd., Beschluss der General-Versammlung, Stettin 30.10.1820 sowie Staatsminister v. Schuckmann an Friedrich Wilhelm III., Berlin 17.3.1830. 113 Vgl. ebd., Staatsministers v. Schuckmann an Friedrich Wilhelm III., Berlin 18.10.1830. 114 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16029, Ztgsb. Dez. 1830, Stettin 4.1.1831. 115 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 28858, Pro Memoria des Landrats von Schöning über die Leitung des Chaussee-Baus in Pommern, seit 1828, Stettin 26.3.1837.

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Auch sonst blieben die pommerschen Gutsbesitzer Anfang der dreißiger Jahre in ihrem Engagement zurückhaltend. Zwar meldeten einzelne von ihnen beim Oberpräsidenten und in Berlin weitere Streckenwünsche an,116 in den entscheidenden politischen Gremien erklärte sich jedoch die Mehrheit der Vertreter des platten Landes im Fall der von den Städten vorgetragenen Chaussee­ bauproblematik als nicht zuständig.117 Auch auf Ebene der gesamten Provinz dauerte es bis 1837, bis zum ersten Mal eine »Petition zur Fortsetzung des Chausseebaus in Pommern« nicht nur ausschließlich von Stadtvertretern, sondern auch mit der Unterstützung der Kreisbehörden eingebracht wurde.118 Anlass für diese Petition war, dass der preußische Finanzminister mit Ausnahme der Vollfinanzierung kleinerer Stichstrecken, wie der Verbindung der Stadt Anklam mit dem mecklenburgischen Ort Friedland, nur noch einen staatlichen Zuschuss in der Höhe von maximal 3.000 Talern je Chausseemeile in Aussicht gestellt hatte. Die Befürchtung im gesamtpreußischen Vergleich noch weiter zurückzufallen, vereinte deshalb erstmals alle Akteure der Provinz, einen umfassenden Protest nach Berlin zu senden. Die Regierung in Stettin, die sich ansonsten in Fragen des Verkehrs eher als Sachwalter der Interessen der Berliner Zentrale verstand, wies bereits im Dezember 1836 auf die Ungerechtigkeit eines solchen Beschlusses gegenüber den anderen Regionen der Monarchie hin. Des Weiteren wurden die hohen aus der französischen Besatzungszeit resultierenden Belastungen des Stettiner Bezirks thematisiert.119 Der pommersche Provinziallandtag sekundierte mit konkretem Datenmaterial zur Zahl der bisher gebauten Chausseen. Der Landtagsmarschall Malte Fürst zu Putbus hob hervor, dass allein von 1817 bis 1828 21,6 Mio. Taler für den Chausseebau in den anderen preußischen Provinzen verwendet worden seien, während Pommern mit dem Einfrieren weiterer Hilfen leer ausgehe. Da die bisher vorhandenen Linien parallel zur Küste verliefen, dienten diese außerdem nicht der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes, sondern seien lediglich einer schnellen Durchquerung der Provinz der Post und dem Reiseverkehr von Nutzen. Zuletzt unterstrich der Provinziallandtag, dass man neben der unmöglichen Finanzierung des Baus auch in der späteren Verpflichtung, den Unterhalt der Chausseen zu übernehmen, eine Bedingung sah, »deren Erfüllung für uns unmöglich ist«.120 Das pommersche Wehklagen machte in Berlin Eindruck. Infolge des Landtagsabschieds bewilligte das Finanzministerium eine Summe von 500.000 Ta116 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1939–1943, passim. Siehe hier die diversen Gesuche von Gutsbesitzern zur Anlegung von Chausseen (1826–1841). 117 Vgl. etwa die Begründungen für die Abweisung den Chausseebau betr. Anträge im Altpom. Kom.-Landtag. Siehe Vhdl. des Kom.-Landtags, Bd. 1–9, 1827–1837. 118 Vgl. die 5. Petition zur Fortsetzung des Chausseebaus in Pommern. In: Vhdl. des Prov.Landtages, Bd. 6, 1837, S. 86–89. 119 APS, NPPP, Nr. 1943, Reg. St. an Staatsminister v. Rother, Stettin 28.12.1836. 120 Vgl. ebd., Entschluss des Prov.-Landtags im Schreiben des Landtagsmarschalls Malte Fürst zu Putbus an den Oberpräsidenten v. Bonin, Putbus 25.3.1837.

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lern explizit zur Förderung des pommerschen Chausseebaus. Ab 1839 sollten jährlich 50.000 Taler zum Bau von jeweils fünf Meilen Chaussee freigestellt werden. In Einklang mit der Forderung Friedrich Wilhelms IV., dass nun aber auch von den »betheiligten Grundbesitzer[n] und Gemeinden im geeigneten Maßen dazu thätig mitgewirkt wird«, bestand man freilich darauf, dass der Unterhalt von den Eingesessenen selbst übernommen werden sollte.121 Das Entgegenkommen auf halbem Weg bewirkte beim Oberpräsidenten von Bonin hektische Betriebsamkeit. In einem Pro Memoria fasste er noch einmal die pommerschen Defizite zusammen, die in der mangelnden Verbreitung von Kapital, der Bevölkerungsverteilung auf großer Fläche und der damit einher­ gehenden geringen Leistungsfähigkeit der Provinz zu suchen seien. Eine Ausführung des Baus sei demnach nur dann möglich, wenn die Chausseen ausschließlich nach rein ökonomischen Kriterien projektiert, die Kosten gegenüber den früheren Staatschausseen deutlich minimiert und zusätzlich die Unterstützung weiterer staatlicher Mittel beantragt würden.122 Gemeinsam mit dem Oberwegeinspekteur Neuhaus erhoffte sich der Oberpräsident in einer Reduzierung der Breite und Dicke der Steinbahn, im ausschließlichen Bau von Holzbrücken, in einer geringeren Anstellung von Aufsichtspersonal und in einer Beschränkung der Reparaturfrequenz weitere Ersparnisse. Trotzdem schätzte Neuhaus die zu erwartenden Kosten pro Chausseemeile noch auf eine Summe von 20.485 bis 26.343 Talern.123 Schon im nächsten Jahr stellte sich heraus, dass der erhofften Anteil der von den Interessenten selbst aufzubringenden Mittel und die Kooperationsbereitschaft der örtlichen Akteure noch immer zu hoch angesetzt worden war. Lediglich die Finanzierung der ⅓ Meile langen Chaussee von Greifswald nach Eldena war zu diesem Zeitpunkt gesichert. Ansonsten verhinderten die gegensätzlichen Interessen bei der Streckenführung Finanzierung und Bau. Während sich die Vertreter des Bauernstandes in den Auseinandersetzungen bis zur Mitte des Jahrhunderts gewöhnlich passiv verhielten, setzten sich die Rittergutsbesitzer wie die städtischen Vertreter jeweils für eine Streckenführung ein, die das eigene Gut bzw. den eigenen Ort bevorteilte.124 Somit fanden sich aber fast nie genügend Interessenten, welche die Finanzierung des Baus hätten übernehmen können. Das Finanzministerium musste deshalb einräumen, dass das Vorhaben, diejenigen Projekte zu befördern, die zuerst in der Finanzierung abgesichert waren und darüber eine »gegenseitige[] Anregung« und einen »Wettlaufe« in der Provinz zu entfachen, gescheitert war.125 Wettbewerb als 121 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1955, Finanzministerium an Oberpräsident v. Bonin, Berlin 24.4.1838. 122 Vgl. ebd., Pro Memoria des Oberpräsidenten v. Bonin [1838]. 123 Vgl. ebd., Oberwegeinspekteur Neuhaus an v. Bonin, Stargard 16.5.1838. 124 So resümierend Schmidt 1853, unpaginiert, in seiner 1853 getroffenen Rückschau über die Verhandlungen des pom. Chausseebaus. 125 Vgl. APS, NPPP, Nr.  1955, Pro Memoria des Ministeriums des Innern u. der Finanzen [1839].

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Mittel der infrastrukturellen Modernisierung fiel demnach im vormärzlichen Pommern aus. Erst nach einem an die pommerschen Stände gerichteten Aufruf, die Interessen der Provinz auszusöhnen sowie unter der implizierten Drohung, die Mittel des Fonds verfallen zu lassen, einigten sich die Kommunallandtage von Neuvorpommern und Altpommern schließlich auf die Verteilung der 50 Chaussee­ meilen nach einem Schlüssel, der Seelenzahl und Oberfläche gleichermaßen berücksichtigte. Auf Altpommern entfielen 42 Meilen bzw. 420.000 Taler. Um zu einem Konsens zu finden und für den Fall des potentiellen Scheiterns einzelner Projekte, legte der Altpommersche Kommunallandtag nach intensiven Debatten nun gleich 13 zu fördernde Chausseelinien mit einer Gesamtlänge von 71 ¼ Meilen fest. Die Entscheidung, welche dieser Linien zuerst gebaut werden sollten, übergab man zur weiteren Konfliktvermeidung den königlichen Behörden. Zugleich bat man um Verständnis, dass Streckenführung, Unterhalt und Finanzierung in der Provinz kontrovers diskutiert würden, was aber in keinem Fall darin begründet lege, dass man den Wert der Chausseen für »die fernere industrielle Entwicklung der Provinz nicht gehörig zu schätzen wisse.« Gleichwohl wurde wiederum die Bitte formuliert, dass der künftige Unterhalt der Chausseen vom Staat übernommen werde und generell zur Kostensenkung die Qualität eingeschränkt werden dürfe.126 Erneut ging das Finanzministerium bemerkenswerterweise auf die Forderungen ein, und wieder passierte nichts. Daher stellte der 12. Kommunallandtag 1840 weitere Forderungen: Die Staatsprämie solle von 10.000 auf 13.000 Taler erhöht werden; zudem beschloss man auf Antrag diverser Rittergutsbesitzer gegen die Stimmen der Stadtvertreter die Beantragung einer zusätzlichen Provinzialprämie von 2.000 Talern pro Meile, welche die einzelnen lokalen Behörden umgelegt auf die Einwohnerzahl aufbringen sollten. Zuletzt bat man darum, das Bedürfnis auf die Förderung weiterer 79 Meilen Chausseelinien anzuerkennen und diesen ebenfalls einen staatlichen Zuschuss von 13.000 Talern zu gewähren.127 Diese Forderung ging zwar dem Finanzminister von Alvensleben zu weit,128 nachdem sich jedoch Stadtvertreter und Gutsbesitzer während der Verhandlungen des 13. Kommunallandtags auf ein gemischtes System zur Finanzierung einer solchen Provinzumlage einigen konnten, genehmigten Innen- und Finanzministerium 1842 wenigstens die Erhebung eines besonderen Provinzdarlehens von 300.000 Talern, welche eine zusätzliche provinziale Förderung des Chausseebaus in der Höhe von 5.000 Talern je Meile ermög­ lichen sollte. Des Weiteren wurden die Kreise ermächtigt, fehlende Restbeträge über entsprechende Kreisumlagen aufzubringen.129 Alle Chausseeprojekte, die 126 Vgl. Vhdl. des Kom.-Landtags, Bd. 11, 1839, S. 40–46. 127 Vgl. ebd., Bd. 12, 1840, S. 42 f. 128 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1955, Finanzminister v. Alvensleben an v. Bonin, Berlin 15.5.1841. 129 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1956, Innenministerium u. Finanzministerium an v. Bonin, Berlin 31.8.1842.

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im Netzentwurf von 1839 enthalten waren, konnten daher eine staatliche Förderung von 10.000 Talern, alle übrigen von 8.000 Talern (3.000 Taler obligato­ rischer Staatszuschuss, 5.000 Taler Provinzialzuschuss aus dem Provinzial­ chausseebaufonds) erwarten. Zugleich führte der neue Bauinspektor Döhring die Berechnungen seines Vorgängers zur Minimierung der Kosten fort. Das Finanzministerium signalisierte in Einzelfällen die ausnahmsweise zu genehmigende mietsweise Unterbringung der Straßenzöllner, ein um zwei Zoll höheres Gefälle pro Rute als auf gewöhnlichen preußischen Chausseen, die Reduzierung der Steinbahn von 14 auf 10 Fuß Breite und einige andere Kosten senkende qualitative Einschränkungen.130 Von Bonin gingen selbst diese Zugeständnisse nicht weit genug, und er drängte auf weitere die Provinz Pommern bevorzugende Vergünstigungen. Hierbei wurde um jeden noch so kleinen Kostenvorteil gerungen. So forderte er etwa, dass die Chausseebreite inklusive der erforderlichen Bordsteine berechnet werden sollte. Zwar verbat sich der Finanzminister von Bodelschwingh vorerst eine solche Änderung mit dem Hinweis, dass die genehmigte Breite exklusive der Bordsteine definitiv das zulässige geringste Maß sei und die hierfür erfolgte Bewilligung staatlicher Zuschüsse »eine besondere Begünstigung der dortigen Provinz gegen die übrigen Provinzen« darstelle,131 nach einem persönlichen Gespräch in Berlin gab er aber selbst dieses Zugeständnis.132 Im Prinzip war die vom Oberpräsidenten und den ständischen Vertretern Pommerns gewählte Strategie, per Salamitaktik immer wieder neue Forderungen an die Berliner Zentralgewalt zu stellen, von Erfolg gekrönt. Mit der Pommern extraordinär genehmigten Förderung in Form von Staatsbeihilfen und den diversen die Kosten, aber damit auch die Qualität mindernden Zugeständnissen konnte zwischen 1843 und 1849 ein zweiter Bauschub in Gang gesetzt werden (vgl. Diagramm 7). Freilich muss konstatiert werden, dass der bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte Chausseebau die Disparitäten innerhalb der Provinz wie auch innerhalb des Stettiner Bezirks weiter verschärfte. So konnte der Regierungsbezirk bis 1846 mit einer Netzdichte von 26,87 km/1.000 qkm seine Spitzenstellung gegenüber dem Kösliner (17,64 km) und Stralsunder Bezirk (17,52 km) verteidigen, wobei der gesamtpreußische Durchschnitt von 38,37 km/1.000 qkm weiterhin nicht erreicht wurde.133 1848 hatte das pommersche Chausseenetz eine Länge von 955 km, womit die Provinz bei der Streckenlänge in der gesamten Monarchie an vorletzter und bei der Netzdichte an drittletzter Stelle lag.134 Da ein Grundstock eigener Mit130 Vgl. ebd., Bauinspektor Döhring an v. Bonin, Stettin 31.5.1843 u. Finanzminister v. Bodelschwingh an v. Bonin, Berlin 13.7.1843. Siehe auch APS, RSz, I, Nr. 5744, Reg. St. an Bau­ inspektor Döhring, Stettin 19.1.1843. 131 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1957, Finanzminister v. Bodelschwingh an v. Bonin, Berlin 22.10.1843. 132 Vgl. ebd., Finanzminister v. Bodelschwingh an v. Bonin, Berlin 5.1.1844. 133 Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 459. 134 Vgl. ebd., S. 454 u. S. 462.

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1.800

160

1.600

140

1.400

120

1.200

100

1.000

80

800

60

600

40

400

Chausseemeilen (Pommern)

Chausseemeilen (Kgr. Preußen)

Diagramm 7: Der Chausseebau im Kgr. Preußen und in Pommern (1823–1852)

20

200 0

0 1823

1826

1829

1832

1835

1838

Kgr. Preußen

1841

1844

1847

1850

Pommern

Zusammengestellt nach: GSTA PK, I. HA, Rep. 77, Ministerium des Innern, Tit. 79, Nr.  98, Übersicht der gebauten Chausseen in Meilen, 10.2.1853.

tel weiterhin für die Bewilligung der Provinzialprämie erforderlich war, half die Regelung den ärmeren Regionen wenig. Vor allem in den Kreisen Naugard, Usedom-Wollin, Cammin und Ueckermünde wurden bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts kaum öffentliche Fördergelder noch höhere Summen privaten Kapitals für den Chausseebau aufgebracht.135 Da außerdem mit dem Beschluss des 13. Altpommerschen Landtags das platte Land der Bezirke Stettin und Köslin allein 19.358 Taler der jährlich 25.000 Taler umfassenden Provinzialprämie repräsentativ nach der Bevölkerungszahl aufzubringen hatte,136 kam es in den­ jenigen Kreisen zu Protest, die nur geringe oder gar keinerlei Prämien bewilligt bekommen hatten. Auf den folgenden Landtagen forderten deshalb einzelne Rittergutsbesitzer, dass die Provinzial- und Staatsbauprämien gleichmäßig oder in Höhe der auf135 Vgl. APS, NPPP, Nr.  1957, Nachweisung der im Regierungsbezirk Stettin 1815–1852 auf den Neubau von Chausseen, Dämmen, Hafen u. Schiffahrtsanlagen aus Kreis- resp. Kommunal- resp. oder Privatmitteln verwandten Kosten [1853] u. Nr. 2005, Subrepartition der Kreise [1842]. 136 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2005, Subrepartition des Beitrags der Kreise exclusus Städte, nach der Seelenzahl der Bewohner des platten Landes zum Chaussee-Bau, Stettin 11.11.1842 bzw. Köslin 12.11.1842.

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gebrachten Steuern auf die jeweiligen Kreise verteilt werden sollten.137 Insbesondere die Landräte von der Marwitz (Greifenberg) sowie Ferno (UsedomWollin)138 beantragten unverdrossen, jedoch erfolglos die Bewilligung zusätzlicher Staatsmittel. Womöglich hätte die Umsetzung des Vorschlags der hinterpommerschen landwirtschaftlichen Interessensvereinigung, der Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft, mit der Ausgabe von 1 Mio. Talern Papiergeld weitere Chausseebauprojekte zu unterstützen, in diesen Kreisen Investitionen ausgelöst. Da der innovative Vorschlag im Pommerschen Provinziallandtag indes keine Mehrheit fand, konnte das Experiment nicht umgesetzt werden.139 In den Akten finden sich aus dieser Zeit vermehrt Stimmen der einfacheren Landbevölkerung, denn die Erhebung der Gelder für die Provinzialprämie belastete tendenziell eher die ländliche Unter- und Mittelschicht. Zwar gab es auch einige Kreise, in denen ausschließlich der Grundbesitz zur Finanzierung herangezogen wurde, in der Regel orientierte man sich aber an der Klassensteuer, wobei zumeist die drei untersten Stufen ganz oder zumindest teilweise nicht veranlagt wurden.140 Im fast vollständig chausseefreien Kreis Ueckermünde, in dem lediglich die 12. Stufe von den Beträgen freigestellt war, baten 1843 die Schulzen von gleich 13  Ortschaften um eine Ermäßigung der Lasten. Da die meisten Chaussee­ bauprojekte in Altpommern den hinterpommerschen Landesteil beträfen, sahen sie die Gelder für »immer verloren«, zudem überstiegen die Beiträge grundsätzlich ihre Kräfte.141 Es verwundert daher nicht, dass die Verwaltung in den folgenden Jahren häufig zu konstatieren hatte, dass die Chausseebaubeiträge zusammen mit den Schulgeldern die Abgaben waren, die am widerwilligsten entrichtet wurden. Gerade in den Jahren 1848/49 stockte ihre Erhebung vielerorts vollständig.142 Nach der Genehmigung, Kreisobligationen als weitere Finanzierungsmöglichkeit zum Chausseebau zu emittieren, bemühten sich auch die Landräte der ärmeren Kreise, hierüber eine Erweiterung der Netzdichte im Kreis zu be­ fördern. Zwar wurde bis 1855 für die Kreise der Bezirke Stettin und Köslin die potentielle Summe von über 1,5 Mio. Talern bewilligt. Die zumeist mit 3,5 bis 5 % Zins angebotenen Papiere verkauften sich jedoch nur bedingt. Während 137 Vgl. etwa die Forderungen der Ritterschaft von Lauenburg-Bütow auf dem 16. Kom.-Landtag. Siehe Vhdl. des Kom.-Landtags, Bd. 16, 1845, S. 79 f. 138 APS, NPPP, Nr. 2024, Landrat Ferno an Oberpräsident v. Bonin, Swinemünde 10.1.1843. 139 Vgl. die Kommentierung der Vhdl. des 9. Prov.-Landtags, in: Bn, Nr. 29, 11.4.1845. 140 Nipperdey, Bürgerwelt u. starker Staat, S. 50 weist im Fall der preuß. Klassensteuer auf die tendenziell stärkere Belastung der Armen gegenüber den Wohlhabenderen hin. 141 APS, NPPP, Nr. 1981, Petition der entsprechenden Schulzen an Finanzministerium, Blumenthal 8.6.1843. Vgl. dazu auch den ablehnenden Bescheid des Finanzministers, Berlin 31.8.1843. 142 Vgl. GSTAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Nov. u. Dez. 1848, Stettin 6.1.1849. Vgl. etwa auch APS, RSz, I, Nr. 10423, Landrat des Ueckermünder Kreises an Reg. St., Ueckermünde 3.5.1848.

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etwa der Kreis Saatzig allein Obligationen in der Höhe von 136.000 Talern absetzte, konnte der Kreis Ueckermünde von den bewilligten 27.000 Talern nur 17.650 Taler emittieren, der Kreis Greifenberg von 128.000 Talern sogar nur 3.000 Taler.143 Es gab in diesen Kreisen einfach zu wenig lokale Interessenten, die bereit waren, ihr Geld in Infrastrukturprojekte zu investieren. Da das Handelsministerium zudem eine Platzierung der Papiere an der Berliner Börse ablehnte,144 blieb der potentielle Gläubigerkreis auf den offenbar wenig inter­ essierten wohlhabenden Teil der pommerschen Bevölkerung eingeengt. Das Auslaufen der meisten Bauprojekte und die zunehmende Not der einfachen Bevölkerung hob die Chausseebauproblematik seit 1847 wiederholt auf die politische Agenda der Landräte. Nachdem schon unter Sack das Argument vorgebracht worden war, Infrastrukturprojekte auch unter dem Aspekt der staatlichen Arbeitsbeschaffung zu fördern,145 rückten derartig gelagerte Begründungen seit dem Krisenjahr 1847 vermehrt in den Mittelpunkt der von den Provinzialbehörden nach Berlin gesandten Bittbriefe.146 Das Szenario schildernd, dass bald »mehr als 5.000 Arbeiter plötzlich außer Thätigkeit gesetzt und brodlos das Land durchziehen werden«, bat der 19. Altpommersche Kommunallandtag 1848 einstimmig um die Bewilligung einer staatlichen Anleihe in der Höhe von 100.000 Talern.147 Zwar stieß dieses noch auf Ablehnung, spätestens mit der Wiederaufnahme der dänischen Handelsblockade im April 1849 wuchs beim preußischen Handelsministerium aber die Bereitschaft, zumindest kleinere Bauprojekte mit zusätzlichen Staatsmitteln zu bezuschussen. Im Stettiner Bezirk wurden deshalb Mittel zur Beschäftigung Arbeitsloser in Wollin, Swinemünde und Cammin bereitgestellt, die eine Chausseeverbindung Stettins mit der als Kriegshafen auszubauenden Stadt Swinemünde herstellen sollten.148 Als nach dem preußischen Sonderfrieden Minister von der Heydt die staatliche Förderung wieder einstellen wollte, zeigte sich, dass auch die einfachere Bevölkerung nunmehr bereit war, sich als politischer Akteur zu artikulieren. Außer der Stadtbevölkerung von Wollin unterzeichneten am 14. August 1849 die 300 beim dortigen Chausseebau beschäftigten Arbeiter eine Petition, die zur Fortsetzung aufrief.149 Zwar wurde der Weiterbau auf Staatskosten erst seit 1855 143 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1959, Zusammenstellung der bis 1853 von der Provinz Pommern resp. von den einzelnen Kreisen derselben zum Zweck des Chausseebaus hergegebenen Geldmittel u. contrahirten Schulden, Stettin 2.7.1855. 144 Vgl. ebd., Handelsminister v. d. Heydt an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Berlin 10.7.1855. 145 Vgl. etwa die Argumentation in GSTAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16027 u. Nr. 16034, Ztgsb. Feb. 1828 u. Mai 1835, Stettin 5.3.1828 bzw. 3.4.1835. 146 Vgl. erstmals deutlich in GSTAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Mai u. Juni 1847, Stettin 6.7.1847. 147 Vgl. Vhdl. des Kom.-Landtags, Bd. 19, 1848, S. 77 f. 148 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2027, Handelsminister v. d. Heydt an Oberpräsident v. Bonin, Berlin 23.5.1849. Zum Bau der Chaussee nach Swinemünde vgl. auch Hendel, S. 3–6. 149 Vgl. ebd., Petition an den Minister v. d. Heydt, Dargebanz bei Wollin 14.8.1849.

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erneut bewilligt,150 trotzdem fällt auf, dass nach 1848/49 nun grundsätzlich ein Interesse auch einfacher Bewohner des platten Landes am Chausseebau nachzulesen ist. Während im Allgemeinen Pommerschen Volksblatt und den Stettiner Börsennachrichten noch 1846 kritisch vermerkt worden war, dass sich auf dem platten Land Stimmen fänden, die öffentlich aussprächen, »daß Chausseen ein Unglück für das Land, wie für den Kreis seyn, daß sie nur dazu dienen, Bettler und Gesindel in’s Land zu ziehen u.s.w.«,151 offerierten bei den von 1852 bis 1855 stattfindenden Chausseebauten im Kreis Randow sogar die Bewohner kleinerer Gemeinden freiwillige Zuzahlungen. Im Dorf Stolzenhagen stellten etwa 30 Einwohner unterschiedlichster sozialer Stellung 1.708 Taler in Aussicht, in Duchow 400 Taler und in Neuendorf 1.450 Taler. Es ist bemerkenswert, dass unter den Zeichnern nicht nur die dörfliche Oberschicht der Schulzen und Müller zu finden war. Zwar stellte der Mühlenbesitzer von Duchow mit 150 Talern die höchste Teilsumme in Aussicht, in Neuendorf bezeugten jedoch sogar drei illiterate Männer, die stolze Summe von 100 Talern zahlen zu wollen.152 Da die Bewilligung der Gelder an die Bedingung geknüpft war, dass die Chaussee durch das jeweilige Dorf führen sollte, ging zwar letztlich nur ein Bruchteil der erhofften Summen tatsächlich ein,153 trotz allem zeigt sich hier überhaupt erstmals ein größeres freiwilliges Engagement dörflicher Akteure. Dass nunmehr alle Schichten der pommerschen Bevölkerung zunehmend am Chausseebau interessiert waren, legen auch die Protokolle der Kommunal- und Provinziallandtage offen. Während noch in den dreißiger Jahren einzelne Magistrate Anträge zum Chausseebau eingebracht hatten, wurde das Thema seit 1848 von allen Seiten aufgegriffen. Dieses hatte zur Folge, dass beim 19.  Altpommerschen Kommunallandtag mehr als 50 Tagesordnungspunkte zum Chausseebau verhandelt wurden. Beim 10. Pommerschen Provinziallandtag gingen 21 Petitionen ein, die sich für die Förderung des Verkehrswesens einsetzten. Die 12. Petition, die vom Abgeordneten der Ritterschaft von Blanckenburg eingereicht wurde, ragt hinsichtlich des Umfangs der Unterstützerlisten heraus. 839 Pommern, darunter zu rund 40 % Gutsbesitzer und -pächter, zu 40 % Städter, aber auch wie im Falle einer Liste aus dem Kreis Regenwalde ganze Dorfgemeinschaften, vertreten durch ihre Schulzen, bezeugten mit ihrer Unterschrift den Wunsch nach zusätzlicher staatlicher Förderung des Verkehrswesens. Obwohl »genügende[] Communicationsmittel […] die einzige zuverlässige Grundlage und Grundbedingung des wahren und dauernden Wohlstandes eines Landstriches« seien, bemängelten die Petenten, dass Pommern in der ver150 Vgl. ebd., Nr. 2027, Pro Memoria der Reg. St., Stettin 11.1.1858. 151 Vgl. den Artikel »Den Chausseebau in Pommern betreffend«, in: Bn, Nr.  24, 23.3.1846 (Nachdruck eines Artikels des Allg. Pom. Volksbl.). 152 Vgl. APS, SPSz, Nr. 804, Bericht der Kommission für die Chausseebauten im Randower Kreis, Stettin 21.2.1852. 153 Vgl. APS, NPPP, Nr.  2029, General- u. Schlußbericht über die Ausführung der mittelst des Kreistags-Beschlusses vom 10.  März beschlossenen Kreis-Chaussee-Bauten, Stettin 1.3.1857.

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kehrstechnischen Erschließung hinter Schlesien, Sachsen, Brandenburg, Westfalen und dem Rheinland zurückgesetzt sei. Insbesondere die Situation in Hinterpommern sei schlecht. Von den bisher gebauten Eisenbahnstrecken würden nur Stargard und die nähere Umgebung profitieren, die beiden parallel von West nach Ost führenden Chausseelinien hätten »ihre Haupt-Bestimmung außerhalb der Provinz«. Die nördliche ziehe sich zudem durch die »unfruchtbarsten und ödesten Gebiete«. Um das Gewerbe östlich der Oder zu befördern, müssten indes neben der Errichtung eines für den lokalen Bedarf ausgerichteten Chausseenetzes auch eine Chaussee- und eine Eisenbahnlinie nach Kolberg gebaut sowie allgemein die Häfen ausgebaut werden.154 Sowohl der zuständige Ausschuss als auch das Plenum des Provinziallandtages nahmen die Petition einstimmig an. Konkret wurde beschlossen, der Berliner Zentralregierung zu empfehlen, in der gesamten Monarchie Staatsprämien für Chausseen gleichmäßig nach der Zahl der steuerpflichtigen Einwohner pro Quadratmeile zu verteilen sowie in besonders armen Gebieten die Finanzierung vollständig zu übernehmen.155 Das große Interesse der pommerschen Bevölkerung resultierte in diesem Fall aus der schlichten Tatsache, dass der Chausseebau seit 1848 mit Ausnahme der kleineren, der Arbeitsbeschaffung dienenden Projekte wieder ruhte. Dazu war das Gerücht aufgekommen, dass im Handelsministerium die Einstellung der Staatsprämien erwogen wurde. Unter dem Druck der ständischen Vertreter tat sich im Folgenden der neue pommersche Oberpräsident, von Senfft-Pilsach, als entschiedener Verfechter der Förderung des pommerschen Chausseewesens hervor. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt 1852 ließ er von seiner Verwaltung statistisches Material über den Chausseebau der letzten 50 Jahre zusammentragen. Unter Missachtung des Dienstweges nutzte von Senfft-Pilsach seine persönlichen Kanäle156 zum früheren Statthalter Pommerns, Friedrich Wilhelm IV.,157 um im Februar 1853 eine Immediat-Beschwerde über die »unglaubliche Vernachlässigung« Pommerns, »welche jeden Freund der Provinz tief betrüben muss«, vorzutragen. In gleich mehreren tabellarischen Beigaben wies der Oberpräsident auf die etatmäßige Ungleichbehandlung Pommerns hin. Wie alle Ostprovinzen habe Pommern zwar nach 1816 bezogen auf die direkten Steuereinnahmen proportional mehr Gelder für den Chaussee-, Wege- und Wasserstraßenbau erhalten, auf die 154 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2028, Wortlaut der 12. Petition an den 10. Pom. Prov.-Landtag inkl. der 839 handschriftlichen Unterschriften vom 13.9.1851. 155 Vgl. ebd., Prot. der Sitzung des 3. Ausschusses des 10. Pom. Prov.-Landtags betr. die Petitionen 12, 15, 18, 21 u. 22, Stettin 17.9.1851 u. Extrakt aus dem 3. Plenarsitzungs-Prot. des 10ten Prov.-Landtags, Stettin 20.10.1851. 156 Vgl. zur persönlichen Beziehung v. Senfft-Pilsachs zu Friedrich Wilhelm IV. etwa Gerlach, Bd. 1, S. 525, S. 542 u. Bd. 2, S. 107, S. 169, S. 171 u. S. 177. Vgl. zu dessen Stellung in der Kamarilla auch verschiedene Stellen bei Barclay, S. 250 ff. 157 Vgl. Holtz, S.  53–56. Holtz betont ebenfalls die freundschaftliche Beziehung zwischen Friedrich Wilhelm IV. u. v. Senfft-Pilsach. Zudem geht sie kurz auf den Streit um den Chausseebau ein.

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Fläche und die Einwohnerzahl umgerechnet jedoch deutlich zu wenig. Als verhältnismäßig »gerechtes Maß« zum innerstaatlichen Strukturausgleich stellte von Senfft-Pilsach dem den gemittelten Wert aus Einwohnerzahl, Steuereinnahmen und Fläche den erhaltenen Staatsbeihilfen gegenüber. Auch hiernach seien alle Ostprovinzen erheblich gegenüber den westlichen Landesteilen benachteiligt worden. Statt der investierten 9,7 Mio. Taler hätte Pommern nach diesem Schlüssel 11,1 Mio. Taler erhalten müssen. Würde man die Investitionen im Chausseebau von der Zeit vor 1816 mit einkalkulieren, besäße die Provinz in der Argumentation des Oberpräsidenten sogar einen legitimen Anspruch auf 15,9 Mio. Taler. Wie der Provinziallandtag beschwerte sich von SenfftPilsach, dass auch der Eisenbahnbau kaum voranschreite. Die staatlich finanzierte Ostbahn sei vielmehr »mit bedeutendem Kostenaufwand und großem Umwege so geleitet […], dass sie Pommern künstlich umgehen musste«. Unter dem persönlichen Vorwurf, dass der Gewerbeminister von der Heydt nicht am Gedeihen der Provinz interessiert sei, warnte von Senfft-Pilsach davor, dass Pommern bei mangelnder Förderung noch deutlicher hinter den wirtschaftlich blühenden Provinzen zurückfallen würde. Wie seine Vorgänger wies der Oberpräsident abschließend auf den pommerschen Volkscharakter hin, der sich durch Sparsamkeit und eine besondere Treue zur Monarchie auszeichne. Bemerkenswert an der Argumentation des Oberpräsidenten war indes, dass er zumindest rhetorisch zu erkennen gab, dass die ständige Repetition des Topos von der pommerschen Treue negative Folgen für die Bewilligung staatlicher Mittel hatte. Andererseits setzte der Oberpräsident wie 40 Jahre zuvor Sack die »pommersche Treue« als Verhandlungsmittel ein und wies darauf hin, dass diese ohne entsprechende Gegenleistung eben nicht als selbstverständlich voraus­ gesetzt werden dürfe: »Die Ueberzeugung, daß Pommern in hohem Grade zurückgesetzt wird, ist in der ganzen Provinz verbreitet, und sie trübt die Stimmung allerdings! Aber noch ungleich verderblicher wirkt die leider mehr und mehr um sich greifende Ansicht, daß Pommern darum vernachlässigt werde, weil man dessen ungeachtet unbedingt auf seine Treue bauen könne! Neben dem dringenden Bedürfnisse materieller Aufhülfe macht sich daher auch die Nothwendigkeit geltend, daß jenes unglückselige, so entsittlichend wirkende Vorurtheil durch redende Thatsachen ausgerottet werde.«158

Angesichts des persönlichen Vorwurfs gegenüber von der Heydt setzte mit dieser Beschwerde eine rund fünf Jahre währende Auseinandersetzung zwischen dem pommerschen Oberpräsidenten und dem Staatsministerium ein, die exemplarisch die politischen Spielräume eines Oberpräsidenten in der Vertretung 158 GStAPK, I. HA, Rep. 77, Ministerium des Innern, Tit. 79, Nr. 98, Immediat-Beschwerde Oberpräsident v. Senfft-Pilsach an Friedrich Wilhelm IV., Stettin 10.2.1853. Vgl. auch GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab. j. P., Nr. 28852 u. GStAPK, VI. HA, Nl Markus v. Niebuhr, VIII, Nr. 7. Statistisches Material u. Pro Memoriae des Oberpräsidenten zu dem Vorgang sind auch unter APS, NPPP, Nr. 1959 zu finden.

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von Provinzialinteressen beleuchtet sowie generell einen Einblick in die Funk­ tionsweise der praktischen preußischen Innenpolitik der letzten Regierungsjahre von Friedrich Wilhelm IV. gibt. Als von der Heydt vom Monarchen um Stellungnahme gebeten wurde, reagierte der Minister verständlicherweise pikiert. Geschickt wies von der Heydt lediglich im Einleitungssatz seines Schreibens an die anderen Vertreter des Staatsministeriums auf »die wenig angemessene Schreibart« und die Frag­ würdigkeit des immediaten Übermittlungswegs der Beschwerde hin, um dann konkret auf der sachlichen Ebene weiter zu argumentieren. So verwehrte sich von der Heydt gegen die Unterstellung, dass er die Provinz Pommern bewusst benachteilige. Der Vorsprung der westlichen Landesteile sei vielmehr zum einen in den Baumaßnahmen aus vorpreußischer Zeit zu suchen. Zum anderen hob er hervor, dass von Seiten des Staates eigentlich nur Hauptverbindungslinien gefördert würden, Chausseen des lokalen Bedarfs jedoch von »der Provinz, den Kreisen und Privaten selbst unternommen werden« müssten. Hierzu bedürfe es bei den ständischen Akteuren allerdings einer gewissen unternehmerischen Mentalität, die in der Provinz Pommern nur rückständig ausgebildet sei: »Pommern steht darin weiter hinter den übrigen Provinzen des Staates – mit Ausnahme der Provinz Preußen  – zurück, denn erst in der neuesten Zeit hat sich die ­Ueberzeugung Bahn gebrochen, daß man nicht Alles vom Staate verlangen dürfe, sondern bei der Verbesserung des Verkehrs selbstthätig mitzuwirken habe.«159

Da sich nun endlich die Kreise selbst um die Finanzierung von Verkehrsprojekten bemühten, versuche er diesen »lebendigen Eifer […] durch die Zusage verhältnismäßig sehr hoher Staatsprämien zu heben und anzuspornen.«160 Von der Heydt befürwortete eine stärkere Förderung der Provinz Pommern, eine vollständige Finanzierung durch den Staat lehnte er jedoch aus erzieherischen Gründen ab, um die ständigen Bittgesuche nach Staatshilfen abzustellen und die »Selbstthätigkeit« der Provinzeingesessenen zu entfesseln. Trotz der Ausführungen des Gewerbeministers entschied Friedrich Wilhelm IV. im Juli 1853, dass Pommern eine zusätzliche Förderung erhalten solle. Zwar sei die Beschwerde des Oberpräsidenten nicht in jeder Hinsicht gerechtfertigt, die Provinz benötige aber gerade im hinterpommerschen Landesteil ein System von Querchausseen, das sowohl eine Anbindung an die Seeorte als auch an die Ostbahn gewährleistet. Dieses sei nur über die Förderung mit Staatsmitteln möglich.161 In der Befürchtung, einen Präzedenzfall zu schaffen,162 protestierte das Staatsministerium mit einer zwölf Seiten umfassenden, von allen Ministern 159 GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 28852, Votum v. d. Heydt, Berlin 2.5.1853. 160 Ebd. 161 Vgl. GStAPK, VI. HA, Nl Markus von Niebuhr, VIII, Nr.  7, KO Friedrich Wilhelm IV., Sanssouci 29.7.1853. 162 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, B III 2b, Nr. 6, Bd. 65, Bl. 1, Prot. der Sitzung des Preuß. Staatsministeriums, Berlin 4.7.1853.

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unterzeichneten Denkschrift gegen diese Entscheidung. Wieder wurde betont, dass man mit Ausnahme der Provinz Preußen alle anderen Provinzen schon längst mit Erfolg »auf ihre eigene Kräfte verwiesen« habe. Eine Bevorzugung Pommerns sei ungerechtfertigt und schlichtweg nicht nachvollziehbar, denn der hinterpommersche Landesteil habe »für die öffentliche Communication Pommerns bisher kaum Nennenswerthes geleistet«. Zudem wurde darauf hingewiesen, dass Pommern gegenüber den anderen Landesteilen durchschnittlich höhere Staatsprämien erhalte. Des Weiteren hob der Finanzminister hervor, dass für eine noch höhere Förderung keinerlei Staatsfonds vorhanden seien.163 Noch blieb Friedrich Wilhelm IV. standhaft. Allerdings gab auch das Staatsministerium nach der Bestätigung der königlichen Order seinen Widerstand nicht auf. Da eine Finanzierung praktisch unmöglich sei und eine Umsetzung auf Jahre nicht erfüllt werden könne, setzte das Staatsministerium eine neue Order auf, in welcher der König anordnen solle, »daß mit des Königs Schreiben nur gemeint war, daß das Ministerium für öffentliche Arbeiten nur dafür Sorge zu tragen hat, daß der Chausseebau in der Provinz zu fördern sei, so es die disponiblen Mittel gestatten, aber in keinem Fall eine Änderung der Grundsätze des Chausseebaus in Pommern gemeint ist.«164

Dazu bat von der Heydt um eine Aussprache mit dem Monarchen, falls dieser ebenfalls den Eindruck habe, dass das Ministerium Pommern zurücksetze. Mit der Begründung, dass die früheren Verwaltungen offensichtlich auf eine an­ gemessene Hilfe verzichtet hätten, beharrte Friedrich Wilhelm IV. darauf, dass Pommern zusätzlicher Hilfe bedürfe. Den bisher nur allgemeinen Grundsatz, die infrastrukturelle Entwicklung zu fördern, konkretisierte der Monarch dahingehend, eine Anzahl bereits projektierter Kreischausseen auszuwählen, um diese als Staatsstraßen zu bauen. Außerdem forderte er, den Bau der hinter­ pommerschen Eisenbahn von Stargard nach Köslin und Kolberg in Angriff zu nehmen.165 Obwohl Friedrich Wilhelm IV. seine Forderungen präzisiert hatte, waren diese immer noch so allgemein formuliert, dass sie dem Staatsministerium die Möglichkeit boten, diese nur halbherzig umzusetzen. 1854 kam es erneut zum Eklat, als der Wunsch des Oberpräsidenten auf Vorauszahlung der Staats­ prämien vom Gewerbeministerium abschlägig beschieden wurde. Wieder setzte von Senfft-Pilsach seine Freundschaft zum Monarchen für die Wahrung der pommerschen Interessen ein. Mit dem Hinweis, dass das Ministerium grundsätzlich die höchst mögliche Prämie von 10.000 Talern für die pommerschen Chausseen bewillige und zudem die Finanzierung über Kreisobligationen sukzessive zu greifen begänne, beließ es Friedrich Wilhelm IV. nach 1854 bei rheto­ 163 Vgl. GSTAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 28852, Denkschrift des Staatsministeriums an Friedrich Wilhelm IV., Berlin 8.10.1853. 164 Ebd., Staatsministerium an Friedrich Wilhelm IV., Berlin 19.10.1853. 165 Vgl. ebd., KO Friedrich Wilhelm IV., Potsdam 7.12.1853.

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rischen Appellen zur weiteren Förderung Pommerns. Grund hierfür war laut der Mitteilung Markus von Niebuhrs an von Senfft-Pilsach, dass es der Monarch wegen der pommerschen Verkehrsfrage nicht zu einem vollkommenen Bruch mit von der Heydt kommen lassen wolle.166 Nachdem der Minister noch einmal die Bitte geäußert hatte, »den Verdächtigungen, welche darauf abzielen, die Meinung von einer absichtlichen Zurücksetzung der genannten Provinz in Betreff der Chausseebauten zu erwecken, kein Gehör zu leisten«,167 wäre dieser bei einem weiteren Dissens zwischen Monarch und Minister wohl tatsächlich zu erwarten gewesen. Die trotz alledem wiederholt vorgetragenen Wünsche des Pommerschen Provinziallandtags wurden dementsprechend abgelehnt und die Stände aufgefordert, in stärkerem Maße selbsttätig zu agieren.168 Was brachte zusammengefasst dieser für einen Oberpräsidenten aus der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts ungewöhnlich konfrontative169 Einsatz? Vergleicht man die Streckenlänge der pommerschen Staatschausseen aus den Jahren 1852 mit denen des Jahres 1859, sind lediglich geringe Erweiterungen zu verzeichnen. Im Bezirk Stralsund kam es zu einem Zuwachs von 0,7 km, in Köslin und Stettin von 46 bzw. 47,4 km. Angesichts eines pommerschen Gesamtchausseenetzes von 2.076 km im Jahr 1859 (davon 792,4 km im Stettiner Bezirk)170 waren diese aus der Fürsprache Friedrich Wilhelms IV. resultierenden Linien nur von marginaler Bedeutung. Weitaus ertragreicher gestaltete sich dagegen für die Provinz die bis in die siebziger Jahre mehr oder weniger zur Regel erhobene Praxis, im Fall pommerscher Chausseebauprojekte den Maximalbetrag an Staatsprämien zu bewilligen.171 Weiterhin wurde zwischen 1853 und 1857 die Projektierung der Hinterpommerschen Eisenbahn vorangetrieben und zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht. Dass Pommern nicht weniger, sondern eher höher als die anderen Provinzen mit Staatshilfen berücksichtigt wurde, musste von Senfft-Pilsach schließlich auch in den Verhandlungen über seinen 1858 letztmalig erfolgten Versuch, mittels direkter Konsultation bei Friedrich Wilhelm IV. weitere Hilfen zu erlangen, feststellen. Da statt des schwer angeschlagen Königs dessen Bruder Wilhelm entschied, dass eine Förderung zwar wünschenswert, hierzu jedoch keinerlei Fonds vorhanden seien,172 konnte von der Heydt diesen Antrag mit Unterstützung des Thronfolgers ablehnen. Dabei ließ er es sich nicht nehmen, darauf hinzuweisen, dass nun selbst von 166 Vgl. GSTAPK, VI. HA, Nl Markus von Niebuhr, VIII, Nr. 7, Markus v. Niebuhr an v. SenfftPilsach, Charlottenburg 23.4.1854. 167 Vgl. ebd., Minister v. d. Heydt an Friedrich Wilhelm IV., Berlin 13.4.1854. 168 Vgl. Landtagsabschied zum 13.  Prov.-Landtag von 1856, Sanssouci 23.10.1856. In: Vhdl. des Prov.-Landtages, Jg. 13, 1856, S. 9 f. 169 Vgl. Schütz, S. 76. Siehe auch Holtz, S. 56. 170 Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 457 u. S. 460. 171 Vgl. hierzu die Unterlagen zu diversen auch kleinen Chausseebauprojekten der sechziger u. siebziger Jahre im GSTAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 28854–28855, passim. 172 Vgl. GSTAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 28853, KO des Prinzen Wilhelm von Preußen, Berlin 8.3.1858.

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Senfft-Pilsach anerkenne, dass er »des Königs Intentionen entsprechend« gehandelt habe.173 Zusammengefasst wurde also das ungewöhnliche Engagement des Oberpräsidenten dank der Fürsprache Friedrich Wilhelms IV. mit einer vergleichsweise hohen staatlichen Förderung für die Provinz belohnt.174 Mit einer mindestens ebenso bemerkenswert strategischen Hinhaltetaktik konnte das Staatsministerium aber allzu überzogene Forderungen abwehren. Aus der Perspektive von der Heydts ist es schließlich als Erfolg zu werten, dass über die Durchsetzung des Prämiensystems die pommerschen Akteure dazu bewogen wurden, sich endlich selbst aus ihrer relativen Rückständigkeit zu befreien. Pommern musste sich in den sechziger Jahren auf das Prämienchausseebauwesen einlassen, denn die Zeiten des Staatschausseebaus waren in Preußen definitiv vorbei. Zwischen 1859 und 1870 wuchs die Streckenlänge der Staatschausseen im Stettiner Bezirk lediglich um 28,6 km und im Stralsunder Bezirk sogar nur noch um 3 km. Lediglich im Kösliner Bezirk errichtete man aus strukturpolitischen Gründen noch weitere 97,1 km auf Staatskosten.175 Dagegen wurden im gleichen Zeitraum im Stettiner Bezirk 247 km Nichtstaatschausseen, im Stralsunder Bezirk 112,2 km und im Kösliner Bezirk 405,2 km gebaut. Die Gesamtlänge des pommerschen Chausseenetzes betrug 1870 4.171,1 km, davon galten 2.840,3 km (ca. 68 %) als Nichtstaatschausseen. Im Stettiner Bezirk war das Verhältnis mit einer Gesamtzahl von 1.577,9 km bzw. 1.039,4 km (ca. 65 %) Nichtstaatschausseen ähnlich gelagert. Im gesamtpreußischen Durchschnitt (alte Provinzen) betrug der Anteil der Nichtstaatschausseen sogar rund 71 %.176 Im Gegensatz zu den anderen alten Provinzen wurden die Nichtstaatschausseen in Pommern fast alle ausschließlich auf Kosten der Kreise, im geringeren Maße auch von einzelnen Kommunen errichtet. Unternehmerische Aktivitäten wie die der Pasewalk-Strasburger Chausseebau AG,177 einzelner Gutsbesitzer178 oder Privatunternehmen wie der Stettiner Vulkan AG179 waren angesichts ihres geringen Umfangs de facto von keinerlei Bedeutung. Bis 1876 wurden in Pommern ganze zwei Kilometer Straße von Aktiengesellschaften und 13 km von Gutsbesitzern errichtet. In den alten preußischen Provinzen betrug 173 Vgl. ebd., v. d. Heydt an Friedrich Wilhelm IV., Berlin 14.6.1858. 174 Vgl. Gador, S. 140. 175 Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 457. 176 Vgl. ebd., S. 457 u. S. 460. 177 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1959. Hier geht aus einer Nachweisung des Jahres 1856 hervor, dass auf Kosten der Aktiengesellschaft auf pom. Gebiet 592 Ruten Chaussee errichtet wurden. Nach einem Artikel in den Bn, Nr. 12, 9.2.1846 wurden die meisten Aktien allerdings von der mecklenburgischen Stadt Strasburg gezeichnet. 178 Vgl. GSTAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 28852. V. d. Heydt bestätigt hier in einer Entscheidung vom 12.8.1852 die Förderung einer 1 Meile langen Privatchaussee des Gutsbesitzers Oppenfeld, da dieses »der erste Fall ist, daß ein Privatmann in dem älteren Theile der Provinz Pommern einen Chausseebau auf eigene Rechnung unternimmt.« Ähnlich gelagerte Fälle sind den Akten nur selten zu entnehmen. 179 Vgl. APS, Starostwo Powiatowe w Szczecinie, Nr. 879 u. Nr. 880, Materialien zu den Straßenbaumaßnahmen u. a. auf dem Gelände der Stettiner Vulkanwerft.

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die Strecken­summe privater Bauherren dagegen 6.290 km. Pommern lag hier im gesamtpreußischen Vergleich selbst hinter den anderen östlichen Provinzen erneut an letzter Stelle.180 Unternehmerische Initiative entwickelte sich demnach im pommerschen Straßenbau zu keiner Zeit. Allerdings begannen seit 1853 mit Hilfe der Staats- und Provinzialprämien nun auch Nachzügler wie die Kreise Usedom-Wollin und Cammin, ihr Chausseenetz auszubauen. Ärmere Kreise wie Ueckermünde und Greifenhagen blieben jedoch weiter hinter der durchschnittlichen Entwicklung des Stettiner Bezirks zurück.181 Da sich im Kreis Saatzig »der ganze Bauernstand und von da abwärts« sowie immer noch ein Großteil der Gutsbesitzer einer Verpflichtung zum Chausseebau entzog, ermöglichte dort erst der vierjährige Einsatz des Landrats von Waldow und des Oberpräsidenten von Senfft-Pilsach 1864 einen Mehrheitsbeschluss von 39:18 Stimmen für die notwendigen Kreisinvestitionen. Die Vertreter der Landgemeinden stimmten in diesem Fall geschlossen gegen die Baumaßnahmen.182 Die Förderpraxis, jede Chausseemeile mit 5.000 Talern Provinzialprämie zu unterstützen, war rasch so begehrt, dass die seit 1842 jährlich für die Prämienzahlung und zur Amortisierung der aufgenommenen Anleihen zur Verfügung gestellten 25.000 Taler 1858 auf 40.000 Taler und mit Beschluss des 32.  Kommunallandtags von 1861 sogar auf 55.000 Taler aufgestockt werden mussten.183 Der Posten für den Chausseebau stellte daher bald die wichtigste Position im Etat des Kommunallandtags dar. Die wegen der hohen Verschuldung gestiegenen Chausseeabgaben stießen zwar immer wieder auf Protest aus den ärmeren Kreisen,184 trotzdem wurde diese Art der Förderung bis zur Über­ tragung der Zuständigkeit auf den neuen Provinzialverband im Jahr 1875 beibehalten. Wenn man auch feststellen kann, dass Pommern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über den Prämienchausseebau große Fortschritte machte, schritt die Entwicklung der anderen östlichen Provinzen noch schneller voran (vgl. Diagramm 8). Bei der Netzdichte pro Einwohner lag Pommern 1870 im gesamtpreußischen Vergleich zwar über dem Durchschnitt (2,1 bzw. 1,9 km/1.000 Einwohner), teilte sich jedoch bezogen auf die Fläche mit Brandenburg und Preußen die letzten Plätze (10,3 bzw. 9,7 und 10,5 km/100 qkm). Die ersten beiden nahmen 180 Vgl. Gador, S. 91. 181 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1959, Nachweisung der im Regierungsbezirk Stettin 1853–1859 auf den Neubau von Chausseen, Dämmen, Hafen u. Schiffahrtsanlagen aus Kreis- resp. Kommunal- resp. oder Privatmitteln verwandten Kosten [1860] u. Nr. 2005, Subrepartition der Kreise [1865]. 182 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2013, Pro Memoria von v. Senfft-Pilsach [1860] mit der Beschreibung der Fraktionen im Kreis. Siehe außerdem die Benachrichtigung von v. Senfft-Pilsachs über den positiven Beschluss durch das Landratsamt, Stargard 8.7.1864. 183 Vgl. Vhdl. des Kom.-Landtags, Bd. 32, 1861, S. 84 f. 184 Vgl. etwa die Proteste der Stände des Ueckermünder Kreises gegen die abermalige Er­ höhung der Chausseegelder in den Vhdl. des Kom.-Landtags, Bd. 34, 1863, S. 75 f.

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Diagramm 8: Das preußische Chausseenetz anteilig in Kilometer (1816–1870) 100% 90% 80% 70%

8,5 716,8 209 476

60% 50%

738,2

40%

685,2 207,9

1404,7 642,5

1411,7

2380,2

825,5

1501,1

1073,5

1885,3

1256,7

2454,7

2876,5 2030,6 3818,6 2779,9 3043,7 3681,8

30% 20%

1559,1

10% 0%

0 1816

5581,2 2899 4786,6 3561,2 3943,8 4526,7

3765,9

5631,1

6840,7

97,2

955

2075,8

2840,3

1831

1848

1859

1870

2160,4

Pommern

Rheinprovinz

Westfalen

Sachsen

Brandenburg

Schlesien

Posen

Preußen

Zusammengestellt nach: Müller, Infrastrukturpolitik, S. 454, S. 457 u. S. 460.

wenig überraschend die Rheinprovinz und Westfalen ein (28,4 bzw. 26,2 km/ 100 qkm).185 Das Ergebnis wiederholt der Blick auf die Platzierung der einzelnen Regierungsbezirke. 1870 lagen die Bezirke Frankfurt, Stettin und Königsberg hinsichtlich der Netzdichte pro Fläche an letzter Stelle.186 Die im gesamtpreußischen Vergleich zu konstatierende Rückständigkeit Pommerns im Straßenbau konnte auch nach der vollständigen Übertragung der pommerschen Chausseen in die Hand des neu geschaffenen Provinzialverbands nicht mehr wettgemacht werden. Zwar wurden von 1875 bis zur Jahrhundertwende regelmäßig 500.000 bis zu 1 Mio. Mark für den Unterhalt der Provinzial­ chausseen aufgebracht und Neubauten jährlich mit einigen zehntausend Mark zu rund einem Drittel der Gesamtkosten bezuschusst,187 die Ende der sieb­ ziger Jahre um sich greifende Begeisterung für den Sekundär- und Kleinbahnbau verhinderte jedoch eine schnelle Komplettierung und Vollendung des Straßen­netzes. 185 Vgl. Gador, S. 362. 186 Vgl. Müller, Infrastrukturpolitik, S. 462. 187 Vgl. die jährlichen Ausweisungen des Etats des Pom. Provinzialverbands von 1877–1900 u. fortfolgend in den Berichten des Provinzialausschusses über die Verwaltung der Angelegenheiten des Provinzialverbandes von Pommern, Bd. 1- 41, 1877–1916/17.

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Lediglich die Regierung in Stettin warnte in dieser Situation in ihren nach Berlin gesandten Berichten, dass ein solches Kleinbahnsystem erst dann für den lokalen Verkehr sinnvoll und rentabel würde, wenn ein ausreichendes Straßennetz zur Anbindung vorhanden sei. Dem lakonischen und modernisierungsskeptischen Tonfall dieser Warnungen ist freilich zu entnehmen, dass Ober­ präsident und Regierung in den siebziger Jahren des 19.  Jahrhunderts nicht mehr die entscheidenden Akteure der pommerschen Infrastrukturentwicklung darstellten, sondern dass diese Aufgabe nunmehr von den lokalen Vertretern der Provinz übernommen wurde.188 Letztlich gewannen in der Frage des Baus von Kleinbahnen somit die Interessen wohlhabender Gutsbesitzer Oberhand, denn diese waren die einzigen, die mittelfristig von den mit Geldern des Provinzialverbands bezuschussten Kleinbahnlinien wesentlich profitierten. Alles in allem setzte sich die Initiative, Chausseen eigenständig zu errichten, bei den ländlichen Akteuren Pommerns nur langsam durch. Gutsbesitzer, die ein Interesse entwickelten, ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse schnell und günstig überregionalen städtischen Märkten zuzuführen, wollten dagegen den Ausbau des pommerschen Straßennetzes beschleunigt sehen. Einerseits be­ hinderte aber das Interesse, das jeweilige eigene Gut an das Chausseenetz anzubinden, erheblich eine schnelle vom Konsens geprägte Entschlussbildung und andererseits betrachtete die Mehrheit der Gutsbesitzer die Finanzierung des Chausseebaus viel zu lange als alleinige Aufgabe des preußischen Staates. Bei der Finanzierung der seit dem Ende der vierziger Jahre errichteten Nichtstaatschausseen wurden die Kosten in großem Maße auf die einfache Be­ völkerung des platten Landes umgelegt. Außer den Schulabgaben stellten die Chausseegelder deshalb eine Belastung dar, welche die Vorteile einer besseren Kommunikation aus der Sicht vieler Landbewohner keinesfalls aufwog. Widersetzlichkeit und Unverständnis gegenüber den teuren Chausseeanlagen sind deshalb wiederholt und fortlaufend bis zum Ende des 19.  Jahrhunderts feststellbar. Wie im Fall der Schulversäumnisstrafen meldeten die unteren Behörden in den unruhigen Jahren von 1847 bis 1849 bei der Erhebung der Chausseegelder Probleme.189 In den polizeilichen Untersuchungsakten der Landräte finden sich außerdem im gesamten Bearbeitungszeitraum Dutzende von Fällen, in denen die Zahlung der Chausseegelder oder die Expropriation verweigert wurde.190 Dazu kommen Hunderte von Verfahren, in denen gegen den so 188 APS, NPPP Nr. 3006, Ztgsb. Aug., Sept. u. Okt. 1878, Stettin 10.12.1878. 189 Vgl. APS, SPUe, Nr.  1, Ueckermünder Landrat an Reg. St., Ueckermünde 3.5.1848 u. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. April 1848, Stettin 8.5.1848. Ähnliche Probleme ergaben sich auch in den anderen ländlich geprägten Gebieten Preußens. Vgl. etwa Rummel, S. 126 für die Rheinprovinz. 190 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2029, General- u. Schlußbericht über die Ausführung der mittelst des Kreistags-Beschlusses vom 10.3.1852 beschlossenen Kreis-Chaussee-Bauten Kreis Randow, Stettin 1.3.1857. Hier wird im Falle der 1855/56 gebauten Kreischausseen allein auf 44 geführte Prozesse hingewiesen. Davon wurden aus der Sicht der Baukommission 26 teilweise oder ganz gewonnen, 17 verloren u. 1 sei unentschieden ausgegangen.

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genannten »Baumfrevel«, also die mutwillige Zerstörung der Alleebäume, ermittelt wurde.191 Am stärksten zeigt sich dörfliche Resistenz gegen die teure Verbesserung der Verkehrsverbindungen im lokalen Wegebau. Denn hier hatten auch noch in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ausschließlich die Gemeinden für die Finanzierung aufzukommen. Außerdem stellte das Gewerbeministerium für den gesamten Stettiner Bezirk lediglich einen Subventionsfonds von rund 12.000 Mark hierfür zur Verfügung. Als etwa der Greifenberger Landrat Hermann von der Marwitz gemeinsam mit der Regierung 1874/75 die Gemeinde des Badeortes Deep dazu aufforderte, die 866 m lange Dorfstraße mit einer Lehm- und Steinschicht zu erneuern und hierfür eine Förderung von 5.000 Mark bei zu erwartenden Kosten von insgesamt 18.400 Mark in Aussicht stellte, stieß dieses auf eine breite Front der Ablehnung. In der Reaktion der Dorfbewohner spiegeln sich eine grundsätzliche Skepsis gegenüber den Vertretern der preußischen Staatlichkeit, eigene Armut, gegensätzliche Interessen der einzelnen sozialen Gruppen des Dorfes sowie ein generelles aus den genannten Punkten resultierendes Desinteresse an einem selbsttätigen Engagement wider. Da nach dem alten Wegerecht die Pflege der Dorfstraße den Kossäten oblag, verweigerte sich die Gruppe der Büdner geschlossen der Finanzierung. Weil aber die dörfliche Oberschicht aus Kossäten bestand, welche die Kosten nicht alleine tragen wollten, fand der Landrat keine lokalen Befürworter der Baumaßnahme. Einig waren sich Büdner und Kossäten indes in der Auffassung, dass der Staat den gesamten Bau finanzieren solle. Schließlich errichte der Staat Chausseen ja auch auf eigene Kosten. Angeblich, da sie sich »schon vorher vorgenommen [hatten], Nichts zu unterschreiben«, verweigerten beide Gruppen sogar die Unterschrift unter dem Protokoll der vom Landrat persönlich zusammen­gerufenen Dorfversammlung.192 Die Folge der Auseinandersetzung war, dass die in Aussicht gestellten Mittel an andere Dörfer verteilt wurden. Man kann, wie es der Landrat von der Marwitz in seinen Berichten getan hat, mangelndes ökonomisches Denken und bloße bäuerliche »Dummheit« als Gründe für die Ablehnung durch die Dorfgemeinschaft heranziehen. Ein solcher durch die Brille der Bürokratie vorgetragener Ansatz greift jedoch nicht tief genug. Von welchen schlechten Erfahrungen mit der preußischen Bürokratie müssen die Dorfbewohner in Deep noch im Jahr 1875 geprägt gewesen sein, dass sie selbst ein vom Landrat erstelltes Verhandlungsprotokoll nicht unterzeichnen wollten? Wie hoch mag die Summe der erbrachten Chausseegelder der gesamten Dorfgemeinde bis zu diesem Zeitpunkt ausgefallen sein und wie wenig hatte die nähere Umgebung bis dahin von öffentlich geförderten Infrastrukturmaßnahmen profitiert, dass man selbst die anvisierte staatliche Förderung 191 Vgl. etwa die Untersuchungsakten der Landräte der Kreise Randow u. Swinemünde mit umfassenden Materialien unter APS, SPSz, Nr. 176 u. APS, SPŚw, Nr. 178. 192 APS, RSz, I, Nr.  5748, Prot. der Verhandlung mit der Dorfgemeinde von Deep, Deep 29.6.1875.

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in der Höhe von 5.000 Mark als ungerecht empfand? Auch wird wieder nicht klar, inwieweit die Gemeinde zu arm war, um die erforderlichen Leistungen begleichen zu können und der in Aussicht gestellte Zuwachs an Badegästen wirklich die zu erwartenden Kosten aufwiegen würde. Dieses am konkreten Einzelfall geschilderte dörfliche Resistenzverhalten belegt einmal mehr, dass teure Modernisierungsprojekte am Ort durchaus mit einer eigenen Zweckrationalität abgelehnt werden konnte. 2.3.2 Die Städte und der Chausseebau Anders als auf dem platten Land mussten die politischen Vertreter der pommerschen Städte nicht erst von den Vorteilen des Chausseebaus überzeugt werden. Jede Stadt war daran interessiert, ihren Status als Handelsplatz auszubauen oder zumindest zu verteidigen. Hierfür waren die Pflege und die Erweiterung des regionalen Verkehrsnetzes von entscheidender Bedeutung. Nicht zuletzt die Konkurrenz der Kleinstädte untereinander tat ihr Übriges dazu, die Investi­ tionsbereitschaft der jeweiligen Magistrate bei der Neuanlage von Verkehrs­ wegen zu fördern. Die Bedeutung des mehr oder weniger freiwilligen Engagements verhältnismäßig wohlhabender Städte für die umfassenden Bepflanzungsmaßnahmen der Landstraßen zu Beginn des 19.  Jahrhunderts wurde schon betont.193 Mit der Wiederaufnahme des pommerschen Chausseebaus seit dem Ende der zwanziger Jahre setzten sich städtische Vertreter mit aller Macht für ihre Anbindung an das entstehende Chausseenetz ein. In den Akten des Oberpräsidenten finden sich aus dieser Zeit Dutzende von Magistratseingaben, die sich für die Förderung einzelner, freilich immer nur die eigenen Interessen bedienender Chausseebauprojekte stark machten.194 Als die Bautätigkeit der Ritterschaftlichen Privatbank ins Stocken geriet, waren es städtische Abgeordnete, die bei den Verhandlungen des Kommunal- und des Provinziallandtags den Chausseebau immer wieder aufs Neue auf die Tagesordnung brachten.195 Zwar wurden diese Anträge regelmäßig aus formalen Gründen abgelehnt, der zunehmende öffentliche Druck der Städte bewirkte aber beim 6. Provinziallandtag 1837 nicht nur erstmals eine Solidarisierung der Kreisbehörden,196 sondern infolge des positiven Landtagsabschieds auch die Freigabe der 500.000 Taler extraordinärer 193 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16008, Ztgsb. April 1810, Stettin 13.5.1810. 194 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1942 u. Nr. 1943, Gesuche der Behörden u. Privatpersonen betr. Anlegung von Chausseen in der Provinz Pommern, 1826–1841, passim. 195 Vgl. etwa die Anträge der Städte Bahn, Polzin, Treptow a.d. Rega u. Jarmen aus den Jahren 1832, 1834 u. 1838. Siehe auch die Vhdl. des Kom.-Landtags, Bd. 4, 1832, S. 40, Bd. 6, 1834, S. 43 u. Bd. 10, 1838, S. 41. 196 Vgl. die 5. Petition zur Fortsetzung des Chausseebaus in Pommern. In: Vhdl. des Prov.Landtages, Bd. 6, 1837, S. 86–89.

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Staatsfonds für den pommerschen Chausseebau. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass trotz der in Aussicht gestellten Staatshilfen weitere Strecken nicht zu finanzieren waren, stimmten die städtischen Vertreter gemeinsam mit den anderen Abgeordneten für die Bewilligung einer Provinzialbauprämie. Als diese mit dem Landtagsabschied vom 7. Provinziallandtag gewährt wurde, ver­ abschiedete zu ihrer Aufbringung eine Mehrheit der städtischen Vertreter des 13. Altpommerschen Kommunallandtags einen tendenziell eher zu Lasten der Städte gehenden Verteilungsschlüssel. Bei insgesamt zwölf städtischen gegenüber 26 übrigen Abgeordneten197 fand der Antrag, die nach Seelenzahl zu erfolgende Repartition mit einem Rabatt von 20 % zugunsten der Städte zu modifizieren, nur vier Unterstützer, dagegen einigte man sich mehrheitlich auf einen Kompromissrabatt von nur 10 %.198 Eine grundsätzlich stärkere Belastung des Grundbesitzes zugunsten der »ärmeren Classen«, die von 26 Städten gefordert worden war,199 scheiterte am Widerstand der Rittergutsbesitzer. Von den 25.000  Talern jährlich aufzubringender Mittel fielen 1842 5.640 Taler auf die altpommerschen Städte (Bezirk Stettin: 4.108 Taler, Bezirk Köslin: 1.532 Taler) und 19.360 Taler auf das platte Land (Bezirk Stettin: 10.495 Taler, Bezirk Köslin: 8.863 Taler).200 Die Repartition des städtischen Beitrags erfolgte hierbei nach einem besonderen Verteilungsschlüssel, der sich zu gleichen Teilen aus der Bevölkerungszahl und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gemessen am Gewerbesteueraufkommen des Ortes zusammensetzte. Daher reduzierten sich die Beiträge vergleichsweise armer Kleinstädte wie Fiddichow und Plathe erheblich, während mittelgroße Städte wie Stargard, Anklam, Pasewalk und die Großstadt Stettin höhere Summen aufzubringen hatten. Infolge der fortschreitenden Urbanisierung stieg in den nächsten Jahren der städtische Anteil im Vergleich zum ländlichen kontinuierlich an. Trotz mehrerer Beispiele für kooperatives Verhalten unter den Stadtvertretern waren gerade die zwanziger und dreißiger Jahre von einem massiven Konkurrenzkampf der Magistrate um die schmalen Chausseebauressourcen der Provinz geprägt. Mit dem Bekanntwerden der ersten Gerüchte, dass nach dem Bau der Stettin – Berliner Chaussee eine Verbindung der Provinzhauptstadt mit Gollnow, Köslin und Danzig geplant sei, bemühte sich der Stargarder Magistrat um eine Verlegung der wahrscheinlichen Route. Obwohl eine alternative Chausseelinie über Stargard länger und teurer wäre, sei diese nach Ansicht des Magistrats zur Anbindung der »wohl gewerbthätigsten Stadt in Hinterpommern« unbedingt erforderlich. Eine Chaussee nach Gollnow biete dieser wirtschaftlich wenig entwickelten Stadt weder Vorteil noch Gewinn, während 197 Vgl. Inachin, Nationalstaat, S. 151. 198 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1956, Prot. der 8. Sitzung des Altpom. Kom.-Landtags, 25.11.1841. 199 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1955, Petition der Vertreter von 26 Städten an den Oberpräsidenten v. Bonin, Stettin 6.12.1840. 200 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2005, Repartition des von den Städten Alt-Pommerns aufzubringenden Beitrags zu dem Provinzial-Zuschuß für die auszuführenden Prämien-Chaussee Bauten, Rechnungskontrolle, Stettin 1.12.1842.

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die Einwohner von Stargard den Bau als »strafende Zurücksetzung« wahrnähmen.201 Auch in den folgenden Jahren ließen Magistrat und Stadtverordnetenversammlung nicht locker und petitionierten eifrig beim Oberpräsidenten, beim Gewerbeministerium und direkt beim Monarchen.202 Obwohl die hinterpommersche Chaussee schließlich doch über Gollnow nach Danzig geführt wurde, sicherte sich Stargard durch dieses Engagement seit 1828 die Unterstützung der Provinzialbehörden.203 Nach einer notdürftigen Sanierung der alten Landstraße204 konnte in den Jahren 1834 bis 1836 eine gesonderte 3 ½ Meilen lange Stichchaussee nach Damm unter Verwendung erheblicher Eigenmittel Stargards fertiggestellt werden.205 Ähnlich vehement setzten sich  – selbst unter der Verwendung falscher Entfernungsangaben – die Magistrate von Regenwalde, Belgard Greifenberg, Treptow a.d. Rega, Kolberg und Rügenwalde für eine Verlegung der projektierten hinterpommerschen Chaussee über Stargard und dann jeweils durch ihr eigenes Stadtgebiet ein. Entsprechende Entwürfe wurden jedoch von den Verwaltungsbehörden negativ beschieden. Stattdessen empfahl man, die genannten Orte erst später über Nebenlinien mit der Hauptstraße zu verbinden.206 Thomas Schmidt wies hierbei bereits 1853 in seiner kurzen Studie über den pommerschen Chausseebau auf den nach einer Ablehnung fast identisch wiederkehrenden, zumeist erfolglosen Strategiewechsel in der Argumentation der Magistrate hin: »Kam es darauf an, die Staats-Regierung für den Bau einer Strecke […] zu erwärmen, so legte man poetisch-romantische Schilderungen von dem Reichthum der Gegend, der Rührigkeit ihrer Bewohner vor. Unterwarf die Regierung dann diese Darstellungen einer nüchternen Betrachtung, wurden die Gesuche abgelehnt, dann folgte im Contraste zur ersten Begründung eine die Gegend mit düstern Farben schildernde Beschreibung, die, zu schwach, um sich selber zu helfen, dann die Hülfe des Staates beanspruchte.«207

Dieses Schema ist tatsächlich nachzuweisen, was Schmidt süffisant mit dem Bonmot kommentierte: »Je mehr der moderne Staat dem Saturne gleicht, der 201 Vgl. APS, NPPP, Nr.  1939, Magistrat von Stargard an Oberpräsident Sack, Stargard 15.7.1825. 202 Vgl. ebd., Magistrat von Stargard an Oberpräsident Sack, Stargard 29.4.1828. 203 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16027 bzw. Nr. 16028, Ztgsb. April 1828 bzw. den Monat Dez. 1829, Stettin 5.5.1828 bzw. 4.1.1830. 204 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 93 B, Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Nr. 33309, Ministerium des Innern an Reg. St., Berlin 26.3.1831. Da die Adjazenten die Sanierungskosten nicht schultern konnten, wurden hierfür immerhin 400 Taler aus dem Wegebaufonds bewilligt. 205 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16031, Ztgsb. Dez., Stettin 3.1.1833. 206 Vgl. APS, NPPP, Nr.  1942, Innenministerium an Oberpräsident Sack, Berlin 20.4.1827 u. Gutachten der Reg. St., Stettin 18.5.1827. Im Schreiben des Innenministeriums vom 27.6.1827 an den Magistrat von Regenwalde wird die Verwendung falscher Entfernungs­ angaben aufgedeckt. 207 Schmidt, unpaginiert.

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seine eigenen Kinder vernichtet, umso weniger darf man sich wundern, daß an die Allmacht des Staates appellirt wird.«208 Bei den städtischen Akteuren war grundsätzlich der ähnliche Hang wie auf dem platten Land nachweisbar, jeweils unabhängig voneinander auf die Hilfe des Staates zu setzen. Dagegen kooperierten die Städte nur in den Zeiten miteinander, in denen keine staatlichen Mittel vorhanden waren. Sobald jedoch welche in Aussicht standen, versuchte wieder jeder Magistrat, die eigenen Interessen, auf Kosten der anderen Städte durchzusetzen. Dieses Phänomen zeigte sich auch in Folge der Bewilligung des pommerschen Prämienbaufonds. 1839 lagen für die zwei vom Oberpräsidenten von Bonin als dringend erachteten Chaussee­ routen von Neustettin nach Bromberg und von Stargard durch den Pyritzer Kreis allein 15 unterschiedliche Streckenpläne verschiedener Magistrate, der betroffenen Kreistage und Landräte vor.209 Aus Angst ins Hintertreffen zu geraten, beteiligten sich die städtischen Vertreter gemeinsam mit den Rittergutsbesitzern am für alle Beteiligten kontraproduktiven Spiel, immer wieder neue Chausseebauprojekte zu skizzieren, die freilich aufgrund der mangelnden Kooperation mit den Nachbarorten keine realistische Aussicht hatten, Mehrheiten zu finden. Wie bereits ausgeführt, kamen die politischen Akteure der Provinz erst dann zu einem Arrangement, als das Finanzministerium mit der Rückkehr zur alten Förderungspraxis und dem Verfall des zusätzlich bewilligten Chausseebaufonds drohte.210 Nachdem das beim 12.  Altpommerschen Kommunallandtag beschlossene Chausseenetz für das nächste Jahrzehnt eine gewisse Planungssicherheit ge­ geben hatte, richteten sich die pommerschen Städte auf die vorgegebenen Rahmenbedingungen ein. Die von den projektierten Linien begünstigten Städte unterstützten diese in der Regel mit gesonderten finanziellen Zuschüssen. Des Weiteren übernahm man häufig die Expropriationskosten für diejenigen Grundstücke, die auf städtischem Gebiet lagen. Mit dem Auslaufen der Mittel des staatlichen Chausseebaufonds Ende der vierziger Jahre und den zunehmenden Auswirkungen der politischen und wirtschaftlichen Krise von 1847 bis 1849 traten die Magistrate dann erneut als lautstarke Verfechter eines umfassenden Ausbaus des Chausseenetzes auf. Besonders die bisher nicht bedachten Städte wie Ueckermünde, Neuwarp, Cammin, Swinemünde, Wollin, Usedom und generell die Orte Hinterpommerns setzten sich für die Bewilligung weiterer staatlicher Mittel ein. Nachdem etwa der Magistrat von Ueckermünde bereits 1842/43 in einer 16 Seiten langen Petition erfolglos darauf hingewiesen hatte, dass der Ort, »von der Natur stiefmütterlich behandelt« und »mitten in einem meilenlangen tiefen 208 Ebd. 209 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1955, Übersicht von der beantragten Kommunal-Chaussee in Pommern, Stettin 26.11.1839. 210 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1943, Beschluss des 12. Altpom. Kom.-Landtags mit Übersicht der zu bauenden Kommunalchaussee sowie der 71 ¼ Meilen Reservestrecken, Stettin 10.4.1841.

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Sandmeer« liegend,211 unbedingt eine Anbindung an die Stettin – Stralsunder Chaussee benötige, ermöglichten 1847/48 staatliche Mittel zur Arbeitsbeschaffung die Fertigstellung der Stichstraße.212 Weitere Versuche, Ueckermünde und Neuwarp direkt mit Stettin zu verbinden, scheiterten indes noch Ende der sechziger Jahre an der »dürftigen Lage des Ueckermünder Kreises«.213 Aber auch bei den anderen aus Arbeitsbeschaffungsprogrammen resultierenden Chaussee­ bauprojekten zur Erschließung der Orte Cammin, Wollin, Swinemünde und Usedom waren die Magistrate und besonders deren Bürgermeister die entscheidenden um Wahrnehmung bemühten Akteure.214 Unter den insgesamt 21 Petitionen, die auf dem 10. Provinziallandtag verhandelt wurden und die Förderung des pommerschen Verkehrswesens zum Thema hatten, dominierten trotz des erkennbar stärkeren Interesses der Rittergutsbesitzer und sogar der einfachen Landbevölkerung weiterhin städtische Vertreter. Bei der bereits erwähnten 12. Petition zur besonderen Förderung Hinterpommerns trugen allein jeweils rund 90 Einwohner der Städte Plathe und Regenwalde ihre Unterschriften in die entsprechenden Listen ein. Diese wurden von den Angehörigen des jeweiligen Magistrats und weiterer städtischer Funktionseliten angeführt, danach folgten Kaufleute und auch eine Vielzahl einfacher Handwerker und Ackerbürger.215 Der langsame Ausbau des Chausseenetzes wirkte sich auf die wirtschaft­ liche Entwicklung der vielen pommerschen Kleinstädte insgesamt betrachtet negativ aus. Verbindet man die diversen Einzelprojekte miteinander, ist festzustellen, dass es bis in die achtziger Jahre gedauert hat, bis ein halbwegs dichtes, alle Städte umfassendes Straßennetz entstanden war. Eine rasche Schließung der Lücken wurde durch die starke Förderung der neuen infrastrukturellen Konkurrenz, den Kleinbahnen, behindert. Allein zwischen 1900 und 1912 bestand offensichtlich noch ein so großer Erweiterungsbedarf, dass das pommersche Gesamtnetz nur in dieser Phase noch einmal um 25 % erweitert wurde.216 Außerdem benachteiligte die anteilige Finanzierung durch die Interessenten vor Ort die kleineren Städte. Während die wichtigsten Orte der Provinz bereits in den dreißiger Jahren auf Staatskosten durch die Berlin – Stettin – Danziger und die Berlin – Stralsunder bzw. Stettin – Pasewalker Straße an das preußische Fernverbindungsnetz angeschlossen wurden, mussten diejenigen Orte, die abseits dieser Hauptstrecken lagen, mit erheblichen Eigenmitteln für ihre Anbindung sorgen. 211 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1981, Petition des Magistrats von Ueckermünde an Oberpräsident v. Bonin, Ueckermünde 24.8.1842 u. dsgl., Ueckermünde 15.6.1843. 212 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Nov. u. Dez. 1847, Stettin 6.1.1848. 213 APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1867/68, Stettin 26.2.1868. 214 Vgl. die diversen Bemühungen der entsprechenden Magistrate in den Jahren 1847–1850 unter APS, NPPP, Nr. 1996 u. Nr. 2024, passim. 215 Vgl. die entsprechenden Unterschriftenlisten unter APS, NPPP, Nr. 2028, passim. 216 Das pom. Chausseenetz betrug 1900 5.220 km u. wurde bis 1912 auf 6.526 km erweitert. Vgl. Mielcarek, S. 27.

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Hierbei kamen die städtischen Vertreter nicht umhin, in den entsprechenden Gremien einen Konsens mit den Vertretern des platten Landes zu suchen, die nicht nur in den Kreistagen, sondern auch im Kommunal- und Provinziallandtag eine strukturelle Mehrheit besaßen. Dass das oft genug nicht im Einklang mit den städtischen Interessen funktionierte, belegen vielfältige Klagen. Besonders in Hinterpommern nutzten die Gutsbesitzer die Mehrheitsverhältnisse bei der Festlegung der Streckenführung aus. 1857 meldete etwa der Camminer Kreisbaumeister Tessel dem dortigen Landrat, dass er eine große »Aufregung und Unzufriedenheit mit dem Chausseebau« wahrnehme, da »vielfach die Behauptung aufgestellt [werde], daß die Chausseen nur dem Interesse einzelner Gutsbesitzer dienten.«217 Als 1869 endlich eine Chausseeverbindung der Nachbarstädte Stargard und Pyritz anvisiert wurde, stimmte im Pyritzer Kreistag eine Mehrheit der Rittergutsbesitzer für eine ungerade Linie, die über mehrere kleinere Güter führen sollte.218 Dem lebhaften Widerspruch des Pyritzer Magistrats gegen diesen Beschluss folgte eine intensive Debatte, in der auch das Regierungspräsidium und das Gewerbeministerium Stellung bezogen.219 Die wichtigste Folge der Aus­einandersetzung war, dass der Chausseebau erst 1881 aufgenommen werden konnte. Nur ein Jahr später wurde auch die Kleinbahnstrecke zwischen den beiden Orten fertiggestellt.220 War der Weg zwischen Stargard und Pyritz bis dahin regelmäßig »Monate lang unpassierbar« gewesen,221 hatten die Reisenden seit 1882 die Wahl zwischen gleich zwei Verkehrswegen. Immerhin zeigt das Beispiel des Pyritzer Kreises, dass die Schwächung der Machtstellung der Rittergutsbesitzer in den Kreistagen infolge der Reform der Kreisordnung von 1872, ein entschlussfreudigeres Klima zugunsten von Infrastrukturprojekten zuließ. 2.3.3 Die Großstadt Stettin und der Chausseebau Aufgrund der großen Bedeutung als Handelsplatz und Festung stellte Stettin bereits im 18. Jahrhundert einen wichtigen Knotenpunkt im Netz der preußischen Landstraßen dar. Die unchaussierten Hauptstraßen Stettin – Prenzlau (und weiter nach Berlin), Stettin – Pasewalk – Anklam, Stettin – Gollnow – Naugard (und weiter nach Hinterpommern) wurden deshalb aus militärischen Gründen in den Jahren 1816 bis 1820 unter Verpflichtung der Adjazenten und mit Mitteln des pommerschen Wegebaufonds von Grund auf saniert.222 Da die Provinz­ 217 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1996, Kreisbaumeister Tessel an Camminer Landrat, Cammin 11.8.1857. 218 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Feb., März u. April 1870, Stettin 14.5.1870. 219 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Feb., März u. April 1870, Stettin 14.5.1870. 220 Vgl. ebd., Ztgsb. Feb., März u. April 1882, Stettin 22.5.1882. 221 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Aug., Sept. u. Okt. 1878, Stettin 10.12.1878. 222 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 93 B, Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Nr. 33307, Pro Memoire des Oberpräsidenten Sack, Stettin 9.8.1816 u. Order des Finanzministers v. Bülow an sämtliche Regierungen, Berlin 20.11.1819.

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verwaltung erhebliche Probleme bei der Heranziehung der Adjazenten konstatieren musste und generell einen baldigen Anschluss an das preußische Chausseenetz wünschte, setzte sich Sack intensiv dafür ein, die staatliche Finanzierung der schon 1816 in Aussicht gestellten Chaussierung der Straße von Berlin nach Stettin genehmigt zu bekommen. In den Jahren 1820 bis 1823 wurde dieses wichtige Etappenziel erreicht. Auch die nächsten beiden großen staat­ lichen Chausseebauprojekte der Ritterschaftlichen Privatbank gingen von Stettin aus. So wurden etwa von 1830 bis 1835 die hinterpommersche Chaussee nach Danzig und die vorpommersche Chaussee nach Stralsund errichtet. Nachdem bereits der Bau dieser Chausseen auf das lebhafte Interesse der Stettiner Bevölkerung gestoßen war,223 entwickelten sich die in Stettin ansässigen Börsennachrichten mit Beginn der dreißiger Jahre zum vehementesten Verfechter des Chausseebaus. Wie in allen liberalen Blättern des Vormärz wurde die Berichterstattung über infrastrukturelle Neuerungen zwar von der Eisenbahn dominiert, in einer Provinz, in der es an Chausseen fast vollständig fehlte, rückte jedoch auch der Straßenbau in den Fokus. Hierbei bediente man sich zumeist einer nationalbewegten volkswirtschaftlichen Argumentation. Beispielsweise wurde im ersten Jahrgang 1835 eine Meldung über den englischen Vorsprung in der Schnelligkeit des Straßentransportwesens mit einer generellen Kritik an den Verhältnissen in den deutschen Staaten verbunden.224 1838 verwies man auf die erfolgreiche Entwicklung des Aktienchausseebaus in den USA und in England, um gleichzeitig die restriktive preußische Praxis gegenüber Aktienvereinen zu kritisieren.225 Und 1842 widmete man sich sogar in einer kurzen Meldung englischen Experimenten mit Dampfkraftwagen, die auf Chausseen eingesetzt werden könnten. Da ihnen wenig Erfolg in Aussicht gestellt wurde, argumentierte man in diesem Fall für eine weitere Förderung des Eisenbahnwesens.226 Als 1839 der pommersche Chausseebaufonds bewilligt wurde, urteilten die Börsennachrichten, dass falls »Hinterpommern zu Nordamerika [gehörte] man schon vor 20 Jahren damit umgegangen sey.« Weiter kommentierte der Redakteur, dass das Schicksal Pommern wohl generell dazu verurteilt habe, 40 bis 50 Jahre gegenüber anderen Gegenden und Ländern zurückzubleiben.227 Als sich in den Verhandlungen um das pommersche Chausseenetz wieder einmal Schwierigkeiten zeigten, einen allgemeinen Konsens zu finden, plädierte die Zeitung zur Vermeidung weiterer Streitigkeiten für eine Übernahme der Kosten durch die gesamte Provinz.228 Zudem beteiligten sich die Börsennachrichten an den Diskussionen über das Streckennetz, wobei sie sich zustimmend gegen223 Vgl. Schmidt, unpaginiert. 224 Vgl. den Artikel »Schnelligkeit der gewöhnlichen Postkutschen in England«, in: Bn, Nr. 11, 18.9.1835. 225 Vgl. den Artikel »Chausseebau auf Aktien«, in: Bn, Nr. 95, 26.11.1838. 226 Vgl. den Artikel »Dampfwagen auf Chausseen«, in: Bn, Nr. 43, 30.5.1842. 227 Vgl. den Artikel »Der Chausseebau in Hinterpommern u. die Berlin-Stettiner Eisenbahn«, in: Bn, Nr. 6, 20.1.1840. 228 Vgl. den Artikel »Über Chausseebau in Pommern«, in: Bn, Nr. 14, 17.2.1840.

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über den an ökonomischen Maßstäben orientierten Konzepten der Regierung gegen die Sonderinteressen einzelner Gutsbesitzer und Magistrate äußerten.229 Die Kritik an dem langsamen Fortgang des Chausseebaus mischte sich in den vierziger Jahren zunehmend mit vorsichtig formulierter Opposition gegenüber der ständischen Gesellschaftsordnung. In Pommern ginge alles grundsätzlich »schleppend und langsam« zu, da man sich »theils vor vielen althergebrachten Formalien, woran man mit Starrsinn festhält, theils vor lauter Gemächlichkeit und gemüthlicher Ruhe, viel zu wenig zeitgemäß zu rühren weiß,«230 kommentierte ein Beiträger 1845. Als wenige Wochen später der Vorschlag der Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft, mittels der Ausgabe der Summe von 1 Mio. Talern Papiergeld den Chausseebau zu fördern, im 9. Provinziallandtag keine Mehrheit fand, wurde auf das für die pommersche Entwicklung kontraproduktive Stereotyp hingewiesen, dass die Provinz als loyale Stütze der preußischen Monarchie gelte: »Wenn auch Pommern häufig mit einem alten Stamme in der Krone Preußens verglichen wird, der deswegen keiner Pflege bedarf, weil er schon sicher steht und keine Auswüchse mehr treiben kann, so ist […] dies doch nicht ganz richtig. Das Alter bedarf sicher ebenso sehr der Pflege, wie die Jugend, damit es nicht vergehe, geschweige dessen, daß schon Pietät allein die Pflege des Alters zur Pflicht macht.«231

Verurteilt wurde nicht zuletzt auch die von den meisten Kreistagen beschlossene an der Klassensteuer orientierte Erhebung der Provinzialchausseebau­ prämie. Dieses aus »Partei- und Sonderinteressen« geborene Prinzip verletze »die Pflichten der Humanität gegen die weniger bemittelten und ärmeren Einwohner« und belaste zudem die Städte. Wegen der Vorteile für die Gutsbesitzer solidarisierten sich die Börsennachrichten mit einem Artikel in der Vossischen Zeitung, in dem vorgeschlagen worden war, die Lasten des Chausseebaus dem Grundbesitz und damit den Gutsbesitzern aufzubürden.232 Eine schärfere Kritik an den ständischen Verhältnissen wagten die Börsennachrichten vor 1848 nur indirekt, etwa in der gewollten Gegenüberstellung mit der vermeintlich positiveren Entwicklung des Chausseebaus in dem als ultrakonservativ geltenden Mecklenburg. Hier wird auch deutlich, dass sich eine am Fortschritt orientierte »Intelligenz« durchaus als natürlicher Verbündeter einer rational handelnden Verwaltung sah, die in gemeinsamer Front gegen eventuelle Widerstände der »Feudalstände« vorzugehen hätten: 229 Vgl. die Artikel »Die Berlin-Stettiner Eisenbahn u. die Chausseen in Hinterpommern«, in: Bn, Nr. 16, 22.1.1841 u. »Bemerkungen über den projektierten Bau von Chausseen in einigen Kreisen Hinterpommerns«, in: Bn, Nr. 1, 1.1.1843. 230 Vgl. den entsprechenden Artikel, in: Bn, Nr. 25, 22.3.1845. 231 Vgl. die Kommentierung der Vhdl. des 9.  Prov.-Landtags von Pommern, in: Bn, Nr.  29, 11.4.1845. 232 Vgl. Artikel »Die Aufbringung der Kreis-Kommunal- u. Chausseebau-Beiträge«, in: Bn, Nr. 78, 28.9.1846.

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»Die am Althergebrachten hängenden konservativen Stände Mecklenburgs, die alles Neue mit Misstrauen aufnehmen, opponirten, als die Regierung, die diesen Feudalständen gegenüber die Intelligenz und den Fortschritt repräsentiert und Gemeinwohl vertritt, vor ca. 20 Jahren auf Erbauung von Chausseen bedacht war. Der beschränkte Gesichtskreis der am Alten, am Herkommen klebenden Stände verweigerte die Beihülfe aus öffentlichen Kassen, weil Mecklenburg kein Land für Chausseen sei […]. Indeß die Intelligenz und der Einfluß der Regierung wusste glücklicherweise den Widerwillen der Stände gegen diese neue Einrichtung zu überwinden, den Starrsinn der Stände zu brechen und Chausseebaupläne durchzuführen.«233

Nicht alle Stettiner Bürger teilten die sich in diesen Äußerungen widerspiegelnde liberale Grundgesinnung. Dass die Chausseebauproblematik aber auch noch 1848/49 bei den Versammlungen der demokratischen Vereine Stettins eine wichtige lokalpolitische Rolle spielte, darauf wies schon Martin Wehrmann in seinen die Revolution im Ganzen eher diskreditierenden Ausführungen seiner »Geschichte von Pommern« hin.234 Nach der Revolution mäßigte sich zwar in der ausdifferenzierten liberalen Stettiner Presse der scharfe Tonfall, und auch das Thema des Chausseebaus nahm nun in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinen großen Raum mehr ein, allerdings zeigten sich die 1848 zur Ostseezeitung unbenannten Börsennachrichten weiterhin an einer Förderung des Chausseebaus interessiert. In den fünfziger Jahren forderte etwa die Redaktion eine Abkehr von der etablierten Praxis, auf Staatshilfen zu warten, zugunsten eines stärkeren privaten Engagements der Interessenten,235 und auch die neu gegründete konservative Norddeutsche Zeitung plädierte für einen weiteren Ausbau des Chausseenetzes.236 Auch der Stettiner Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung zeigten sich am Ausbau des lokalen und überregionalen Straßennetzes interessiert. Die nach der französischen Besatzungszeit zerrütteten Stadtfinanzen wurden bis zum Beginn der dreißiger Jahre saniert. Mahl- und Schlachtsteuer garantierten der Stadt stetige Einnahmenzuwächse.237 Aufgrund der bis 1918 dauernden Dominanz des Magistrats durch Kaufleute, Fabrikanten und andere Vertreter des Großbürgertums238 fanden sich in diesem Gremium immer genügend Unterstützer für die Kommunikation fördernde Infrastrukturprojekte. Daneben investierte der Magistrat erhebliche Mittel in den lokalen Chausseebau des um­ liegenden Randower Kreises. Zwischen 1815 und 1852 stellte der Magistrat mehr als 190.000 Taler für den Chaussee- und Wegebau zur Verfügung.239 Als der 233 Vgl. die entsprechende Passage in: Bn, Nr. 6, 20.1.1845. 234 Vgl. Wehrmann, Pommern, S. 299. 235 Vgl. die entsprechende Anm. der Redaktion zu einem Artikel über den Chausseebau in Hinterpommern in: OZ, Nr. 43, 1.2.1852. 236 Vgl. den entsprechenden Artikel in: Ndt. Ztg., Nr. 121, 13.3.1850. 237 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 445–448. 238 Vgl. Włodarczyk, Selbstverwaltung, S. 152–154. 239 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1957, Nachweisung der im Regierungsbezirk Stettin verwandten Kosten [1853].

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Kreistag 1852 den Bau dreier Kreischausseen von Stettin nach Pölitz, von Tantow nach Pencun und von Radrennsee nach Kolbitzow beschloss, einigte man sich darauf, dass die Stadt Stettin 40 % der zu Lasten des Kreises gehenden Kosten übernehmen solle. Weiterhin bewilligte der Magistrat 4.000 Taler aus Kämmereimitteln als freiwilligen Zuschuss. Stadtrat Hessenland, der gemeinsam mit dem langjährigen Oberregierungsrat Heegewaldt der Baukommission vorstand, stellte mit 32 anderen Stettiner Bürgern weitere privat aufgebrachte 585 Taler in Aussicht. Das Interesse an einer Finanzierung der Chaussee nach Pölitz resultierte dabei nicht nur aus Gründen der Anbindung der Fabriken im Norden der Stadt (u. a. der Vulkan AG), sondern diente auch explizit dem schnelleren Erreichen der umliegenden Erholungsgebiete sowie der Arbeits­beschaffung für das Stettiner Proletariat.240 Welche Bedeutung die Finanzkraft der Stadt Stettin generell für den Chausseebau der gesamten Provinz hatte, lässt sich schließlich mit Blick auf den Stettiner Anteil der aufzubringenden Mittel für den pommerschen Chausseebaufonds illustrieren. Da die Stadt über 40 % des Gewerbesteueraufkommens der gesamten Provinz erzeugte, ergab sich ein entsprechender Anteil bei den von den Städten zu zahlenden Chausseebaubeiträgen.241 2.3.4 Das platte Land und der Eisenbahnbau Inspiriert von den ersten erfolgreichen Eisenbahnbauten in den Zwanzigern und zu Beginn der dreißiger Jahre, fanden sich auch in Pommern Unterstützer von Eisenbahnprojekten. Noch stärker als bei den Chausseebauten kamen diese aus den Städten und besonders aus der Provinzhauptstadt Stettin. Publizistisch von den Börsennachrichten gefördert, fand sich hier bereits 1836 ein Eisenbahnkomitee, das den Bau einer Linie von Stettin nach Berlin befördern wollte.242 Das Komitee, welches im Wesentlichen vom Stettiner Großbürgertum dominiert war, suchte frühzeitig die Nähe zum Oberpräsidenten von Bonin. Da man trotz diverser Einsparungsbemühungen Kosten in der Höhe von rund 2,2 bis 2,7 Mio. Talern erwartete, war das Komitee angesichts des generellen Einbruchs der deutschen Eisenbahnaktien Ende der dreißiger Jahre243 auf Werbemaßnahmen zur Gewinnung weiterer Kapitalzeichner angewiesen. Zwar hatten bis 1837 schon Aktienzeichnungen in der Höhe von 3,5 Mio. Talern vorgelegen, bei näherer Prüfung der Solidität der Interessenten reduzierte sich die als gesichert erscheinende Kapitalmenge jedoch um mehr als 2 Mio. Taler.244 Von Bonin 240 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2029, General- u. Schlußbericht über die Ausführung der mittelst des Kreistags-Beschlusses vom 10.3.1852 beschlossenen Kreis-Chaussee-Bauten Kreis Randow, Stettin 1.3.1857. 241 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2005, Notiz der Regierungshauptkasse, Stettin 23.1.1844. 242 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 455. 243 Vgl. Brophy, Capitalism, politics, and railroads in Prussia, S. 36. 244 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2045, Eisenbahncomité an Oberpräsident v. Bonin, Stettin 5.3.1837.

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bemühte sich deshalb, die Landräte der Provinz zur Werbung vertrauenswürdiger Zeichner aus der Region einzusetzen. Deren Engagement traf nur auf ein geringes Gegeninteresse. In den fern von der Trasse liegenden Kreisen Hinterpommerns erfolgten entweder gar keine oder äußerst geringe Zeichnungen.245 Lediglich im Kreis Randow wurden auf dem platten Land Aktienzeichnungen in Höhe von 10.900 Talern in Aussicht gestellt. Jedoch musste auch hier der Landrat konstatieren, dass die »Eisenbahn-Angelegenheit im Allgemeinen bei den Einsaßen des diesseitigen Kreises, selbst bei den begüterten desselben, leider wenig Anklang gefunden« habe.246 Letztlich sprangen in den Jahren 1838/39 mehr Interessenten ab, als neue gewonnen werden konnten. Insbesondere das Berliner Kapital zog sich aus dem Vorhaben zurück. Die Berliner Stadtverordnetenversammlung versagte dem Vorhaben gänzlich ihre Unterstützung.247 Als im Herbst 1839 bei einer Summe von nur noch knapp 1 Mio. Talern gesicherter Zeichnungen das gesamte Projekt vor der Einstellung stand, zogen Komitee und Oberpräsident die Notbremse und wandten sich zur Bewilligung zusätzlicher Hilfen an den Altpommerschen Kommunallandtag. Um einen möglichst einstimmigen Beschluss des Kommunallandtags zu gewährleisten, wurde die Versammlung generalstabsmäßig vorbereitet. Am 17. November 1839 lud der Oberpräsident den Kommandierenden General des II. Armee-Korps von Dohna, den Oberlandesgerichtspräsidenten Bötticher, fünf Landräte, die Bürgermeister der Städte Stettin und Treptow a.d. Rega sowie den Polizeidirektor von Köslin zur näheren Absprache ins Stettiner Schloss ein. Auf der Versammlung beschloss man, zum einen auf dem Kommunallandtag eine Provinzialprämie in der Höhe von 10 % der noch fehlenden Kapitalsumme durchzubringen und zum anderen eine Zinsgarantie für die privaten Zeichner auszusprechen.248 Durch geschickte Auswahl der Mitglieder des entsprechenden Landtagsausschusses wurde der Antrag tatsächlich beschlossen. Der Strategie von Bonins, ausgewählte Meinungsführer der Provinz vorab für das Projekt zu gewinnen, war also Erfolg beschieden worden. Nachdem Friedrich Wilhelm III. seine Zustimmung signalisiert hatte, bewilligte der 11. Altpommersche Kommunallandtag einstimmig eine Provinzialprämie von 170.000 Talern sowie eine auf sechs Jahre auszusprechende Zinsgarantie zu 4 %.249 Aufgrund der Zinsgarantie waren die Bahnanleihen in kürzester Zeit überzeichnet. Schon im Mai 1840 war abzusehen, dass die Provinzial­ prämie gar nicht erst in Anspruch genommen werden musste. Im August 1840 konnte daher der erste Spatenstich gesetzt werden, drei Jahre später wurde die Linie feierlich in Stettin eingeweiht, seit dem 17. August 1843 rollten die Züge. 245 Vgl. ebd., Berichte der Landräte der Kreise Naugard (600 Taler) u. Schievelbein (keine Zeichnungen), 18.9.1839 u. 8.7.1839. 246 Vgl. ebd., Landrats des Randower Kreises an Oberpräsident v. Bonin, Stettin 10.6.1839. 247 Vgl. den Artikel »Blicke auf das Stadtverordnetenwesen mit Bezug auf die Berlin-Stettiner Eisenbahn«, in: Bn, Nr. 52, 1.7.1839. 248 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2045, Prot. der Konferenz, Stettin 17.11.1839. 249 Vgl. ebd., Conclusum des 11. Altpom. Kom.-Landtags, Stettin 12.12.1839.

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Der Bau war zuvor durch die notwendigen Expropriationen etwas verzögert worden. Alles in allem mussten über 912 Morgen Land gekauft oder enteignet werden. Hierfür wandte die Berliner – Stettiner Eisenbahngesellschaft 176.982 Taler auf.250 Insgesamt verlief die Expropriation aber reibungslos. Die Beschwerde eines von Baumaßnahmen betroffenen Gutsbesitzers beim Chef der Seehandlung von Rother, dass man als Anlieger von den Eisenbahnen im Gegensatz zu den Chausseen gar nicht profitiere und stattdessen Viehwirtschaft und Jagd gestört würden,251 blieb eine der wenigen konservativ-kritischen Stimmen. Die hinterlassenen Akten zu den Dutzenden sonstiger Expropriationen sind verhältnismäßig dünn und geben ein standardisiertes, weitgehend konfliktfreies Vorgehen wieder.252 Kleinere Probleme ergaben sich kurz nach dem Bau der Berlin – Stettiner Bahn lediglich durch das Unverständnis einzelner Landbewohner, etwa gegenüber der neuen Einrichtung beschrankter Bahnübergänge. Diese unterschieden sich aber, vergleichbar mit dem wiederholt angezeigten Vandalismus von Kindern, die Steine und andere Gegenstände auf die Schienen legten,253 kaum von heutigen Vorgängen. Negative Befindlich­keiten der Landbevölkerung gegenüber dem modernen Verkehrsträger Eisenbahn sind aus diesen Einzelfällen keinesfalls abzuleiten. Trotz der vielfach geäußerten Befürchtung, dass die Bahn nicht rentabel sein werde, erwirtschaftete man schon im ersten Geschäftsjahr einen Gewinn. 1844 wurden bereits 272.584 Personen und 1,64 Mio. Zentner Ware befördert,254 weshalb im gleichen Jahr beschlossen wurde, eine Querverbindung über die Oder nach Stargard zu finanzieren. Dass die Generalversammlung nunmehr vom wirtschaftlichen Erfolg überzeugt war, bezeugt das eindeutige Abstimmungsergebnis von 299:41 Stimmen.255 Die Anbindung nach Stargard wurde am 1. Mai 1845 freigegeben, wodurch ein Anschluss an die Stargard – Posener Bahn gewährleistet wurde, die wiederum 1848 vollständig fertiggestellt war. Ungeachtet der zusätzlichen Investitionen erwirtschaftete die Berlin – Stettiner Bahn im Folgenden grundsätzlich eine über dem Garantiezins von 4 % liegende Jahresdividende.256 Trotz der späteren Netzerweiterung lag diese bis zur 250 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2046, 2. Jahresbericht der Berlin-Stettiner Eisenbahngesellschaft pro 1842, Stettin 26.5.1842. 251 Vgl. APS, RSz, I, Nr.  5237, Gutsbesitzer v. Voss an den Chef der Seehandlung Ritter v. ­Rother, Berlin 2.9.1836. 252 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 5335–5398, passim. 253 Vgl. die diversen Fälle, bei denen trotz geschlossener Schranke die Schienen überquert wurden etc. unter APS, SPSz, Nr. 955 u. Nr. 956. Ähnliche Vorgänge auf der Stargard-Posener Bahn sind in den Archivalien des Landratsamt Saatzig (APS, SPSt, Nr. 175, passim) dokumentiert. 254 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2047, Jahresbericht des Direktoriums der Berlin-Stettiner Eisenbahngesellschaft für die am 28.5.1845 zusammentretende Generalversammlung. 255 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16042, Ztgsb. Mai u. Juni 1843, ­Stettin 6.7.1843. 256 Vgl. APS, RSz, I, Nr.  5242 u. Nr.  5243, Jahresberichte der Berlin-Stettiner Eisenbahn ­1849–1861, passim.

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1879 erfolgten Verstaatlichung bei durchschnittlich 6,6 %.257 Der Kommunallandtag musste demnach keine zusätzlichen Mittel zur Finanzierung des Garantiezinses aufbringen. Der Erfolg des Unternehmens resultierte aus dem bis zur Mitte der siebziger Jahre stetig wachsenden Verkehrsaufkommen zwischen Stettin und Berlin. 1860 wurden schon mehr als 500.000 Personen befördert, 1866 mehr als 1 Mio., und seit 1873 verkehrten über 2 Mio. Fahrgäste auf der Strecke.258 Mit dem Erfolg der Berlin – Stettiner Eisenbahn wuchs in der Provinz das Interesse am Bau weiterer Eisenbahnlinien. Hoffnungen verband man in den vierziger Jahren mit den staatlichen Überlegungen zum Bau der so genannten Ostbahn. In Reaktion auf ähnlich lautende Entschlüsse in den anderen östlichen Provinzen wurde auf dem 9. Pommerschen Provinziallandtag eine Petition »wegen Berücksichtigung der Provinz Pommern bei der der großen östlichen Eisenbahn zu gebenden Richtung« beschlossen.259 Als 1845 im Preußischen Staatsministerium über die konkrete Streckenführung debattiert wurde, bestand tatsächlich noch Hoffnung, dass die Ostbahn nicht über Berlin – Küstrin – Landsberg – Schneidemühl – Konitz – Dirschau nach Königsberg geführt würde, sondern über die vorgeschlagene »Pommersche Linie« von Stargard über Konitz nach Königsberg. Bereits in den 1845 erfolgten Verhandlungen tendierte das Staatsministerium jedoch zu der kürzeren direkten Verbindung von Berlin nach Königsberg.260 1847 kam die pommersche Linie zwar erneut zur Sprache, allerdings plädierte lediglich der Staatsminister von Thile vorbehaltlos aus strukturpolitischen Gründen für Pommern. Die anderen Minister betonten außer militärischen Argumenten das langfristige Interesse an einer direkten und damit effizienteren Linie. Staatsminister Uhden sah zwar die Führung über Stargard als sinnvoll an, hoffte jedoch, dass die Linie über Küstrin und Schneidemühl am ehesten eine Mehrheit im oppositionell gesinnten Vereinigten Landtag erzielen könne.261 Das Staats­ministerium diskutierte also durchaus die sichtbare infrastrukturelle Zurück­setzung Pommerns, entschied sich aber aus gesamtwirtschaftlichen, militärischen und machtpolitischen Gründen gegen eine partikulare Förderung Pommerns. Es ist bekannt, dass die Finanzierungsvorlage aus politischen Gründen im Vereinigten Landtag von 1847 scheiterte. Aber auch der 1849 vom Handelsminister von der Heydt eingebrachte Plan sah definitiv die direkte Linie vor. Nachdem 1846 auch das kurzzeitig erwogene Konzept einer von Stargard nach Kolberg führenden, Kosten senkenden Pferdebahn gescheitert war,262 ent257 Vgl. Küll, S. 37. 258 Vgl. Übersicht bei Mielcarek, S. 131. 259 Vgl. Vhdl. des Prov.-Landtages, Bd. 9, 1845, S.76. 260 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, B III 2b Nr. 6, Bd. 52, Bl. 296–323, Prot. des Preuß. Staatsministeriums, Berlin 9.11.1847. 261 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, B III 2b, Nr. 6, Bd. 56, Bl. 69–74v, Prot. des Preuß. Staats­ ministeriums, Berlin 9.11.1847. 262 Vgl. APS, NPPP, Nr.  2060, Bericht des Finanzministers v. Flottwell an Oberpräsident v. ­Bonin über die entsprechenden Beratungen, Berlin 26.2.1846.

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zündete sich unter den hinterpommerschen Ständen das Interesse, diese Gebiete zur wirtschaftlichen Förderung nicht nur mit Chausseen, sondern auch mit Eisenbahnlinien zu versehen. Noch während der Revolutionsjahre richteten die Kreisstände von Stolp vergeblich eine Petition zur Förderung des pommerschen Eisenbahnbaus an die beiden preußischen Kammern. Als 1851 längst mit dem Bau der Ostbahn begonnen worden war, folgte endlich auch der Pommersche Provinziallandtag. Unter den bereits vorn erwähnten 21 Petitionen, die Infrastrukturprojekte für Pommern einforderten, waren mehrere, die außer den Chausseen die Errichtung von Eisenbahnstrecken zum Thema hatten. Dabei einte die hinterpommerschen Akteure der Wunsch zur Errichtung einer Eisen­ bahnlinie von Stargard in Richtung auf Kolberg, Köslin, Belgard, Stolp und Danzig.263 Sowohl Friedrich Wilhelm IV. als auch von der Heydt lehnten dieses Vorhaben indes vorerst ab. Von der Heydt argumentierte in seinem ablehnenden Votum nüchtern, dass eine Bahn durch Hinterpommern nicht dem überregionalen Verkehr, sondern lediglich lokalen Interessen diene und aus diesem Grund nicht gefördert werden könne.264 Wie bereits im Kapitel über den Chausseebau geschildert, richtete daraufhin der neue Oberpräsident von Senfft-Pilsach an Friedrich Wilhelm IV. eine Immediateingabe, die sich in schärfster Tonart gegen die vermeintliche Vernachlässigung der Provinz durch das Staatsministerium wandte: Wenn Pommern schon im Chausseebau benachteiligt worden sei, treffe gleiches umso mehr auf den Eisenbahnbau zu. Von den über 38,2 Mio. Talern, die der Staat bisher für das preußische Eisenbahnwesen aufgebracht habe, seien lediglich umgerechnet 180.000 Taler durch die staatliche Übernahme eines Anteils der Stargard –  Posener Bahn nach Pommern geflossen. Im »Widerspruch mit Ew. Königlichen Majestät Allerhöchsteigenen Überzeugung, wie auch im Widerspruch mit der Natur der Sache« sei zudem die Ostbahn »nicht in grader Richtung von Stargard nach Dirschau geführt, vielmehr mit bedeutendem Kostenaufwand und großem Umwege so geleitet […], daß sie Pommern künstlich umgehen musste.«265 Der persönliche Zugang des Oberpräsidenten zum Monarchen bewirkte auch im Eisenbahnbau zusätzliche Staatsmittel. Reduzierte sich die Förderung des Chausseebaus auf einige kleinere Linien in Hinterpommern sowie die freigiebige Gewährung von Prämienleistungen, stellte sich der Bau der hinterpommerschen Eisenbahn von Stargard nach Köslin bzw. einer Zweigbahn von Belgard nach Kolberg und der vorpommerschen Eisenbahn als unmittelbare Folge der Intervention Friedrich Wilhelms IV dar.266 Nach mehreren Briefwechseln zwischen Monarch, Oberpräsident und Staatsministerium wurde 1854 eine 263 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2028, Wortlaut u. a. der 12., 15., 18., 21. u. 22. Petition. 264 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab. j.P, Nr.  28852, Votum v. d. Heydt, Berlin 22.8.1852. 265 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 77, Ministerium des Innern, Tit. 79, Nr.  98, Oberpräsident v. Senfft-Pilsach an Friedrich Wilhelm IV., Stettin 10.2.1853. 266 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2060, KO Friedrich Wilhelm IV., Sanssouci 29.7.1853.

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endgültige Genehmigung beider Linien erteilt.267 Aufgrund des besonderen Einsatzes der hinterpommerschen Akteure nahm man zuerst das hinterpommersche Eisenbahnprojekt in Angriff. Nach zähen Verhandlungen einigten sich unter der Moderation des Oberpräsidenten die Direktorien der Berlin – Stettiner Eisenbahn und des Königlichen Eisenbahn-Kommissariats im Dezember 1855 auf eine staatliche Zinsgarantie. Lag die Rendite unterhalb 4 % sollten der Staat und die Berlin – Stettiner Muttergesellschaft einen Zuschuss von bis zu 3,5 % bzw. 0,5 % gewährleisten. Zudem wurde ein Übernahmerecht des Staates vereinbart.268 Da der Vertrag sowohl vom Preußischen Herrenhaus als auch von der Generalversammlung der Eisenbahngesellschaft ratifiziert werden musste, war wiederum das strategische Geschick des Oberpräsidenten gefordert. Während von Senfft-Pilsach einerseits wieder über den direkten Kontakt zu Friedrich Wilhelm IV. auf eine Beschleunigung des weiteren Verfahrens im Finanzministerium drängte,269 betrieb er andererseits die Organisierung der pommerschen Lobby in der Generalversammlung der Berlin – Stettiner Eisenbahn und im Preußischen Herrenhaus. Von Senfft-Pilsach setzte sämtliche der pommerschen Verwaltung zur Verfügung stehenden Mittel zur Herstellung eines posi­ tiven Abstimmungsergebnisses ein, denn er befürchtete, dass nichtpommersche Aktieninhaber aus Renditeerwägungen auf der Generalversammlung gegen den Bau der hinterpommerschen Bahn stimmen und damit die notwendige Zweidrittelmehrheit verhindern würden. Hierbei bemühte er sich in enger Absprache mit der Kösliner Regierung, den Landräten Hinterpommerns und den Magistraten Belgards und Kolbergs zum einen, sämtliche pommerschen Aktionäre zu bewegen, persönlich zur Generalversammlung zu erscheinen, und zum anderen ging man sogar so weit, die Aktien in Anteile von je 1.000 Talern derartig zu stückeln, dass eine höchstmögliche Stimmzahl erzielt werde. Das Engagement des Oberpräsidenten traf in Hinterpommern auf frucht­ baren Boden. Der Kösliner Regierungspräsident meldete, dass die Landräte Knebel, von Busse, von Puttkamer-Rummelsburg und von Kleist definitiv persönlich erschienen, zudem versicherte er, dass sich »sämmtliche Landräthe des Departements […] bemühen, recht viele Actionäre aufzutreiben« und er selber auch kommen wolle.270 Der Magistrat von Kolberg signalisierte seine Zustimmung zur Stückelung der vorhandenen Aktien und schlug vor, dass die Aktien verhinderter Aktionäre treuhänderisch verteilt werden sollten.271 Der gut nach 267 Vgl. GStAPK, VI. HA, Nl Markus v. Niebuhr, VIII, Nr. 7, v. d. Heydt an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Berlin 28.4.1854. 268 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2063, Vertrag zwischen der Stettin-Berliner Eisenbahngesellschaft u. dem Königlichen Eisenbahn-Comissariat, Stettin 27.12.1855. 269 Vgl. APS, NPPP, Nr.  2062, Oberpräsident v. Senfft-Pilsach an Friedrich Wilhelm IV., ­Stettin 23.1.1856. 270 Vgl. ebd., Regierungspräsident Schüler v. Senden an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Köslin 23.2.1856. 271 Vgl. ebd., Kolberger Magistrat an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Kolberg 8.2.1856.

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Berlin vernetzte Naugarder Landrat Bernhard von Bismarck, dem ebenfalls die Warnung ereilt hatte, dass die dortigen »Capitalisten« gegen den Bau der hinterpommerschen Bahn seien, berichtete, dass aus seinem Kreis mindestens 19 vertrauenswürdige Gutsbesitzer zur Generalversammlung reisten. Er habe außerdem Aktien im Wert von 15.000 Talern, die ihm hierfür vom Oberpräsidenten zur Verfügung gestellt worden sind, auf die Namen der Gutsbesitzer abgestempelt und verteilt.272 Parallel nahm der Oberpräsident auf die Entscheidung des Herrenhauses Einfluss. Nachdem sich bereits Anfang April 1856 der entsprechende Ausschuss einstimmig für die staatliche Zinsgarantie der hinterpommerschen Bahn ausgesprochen hatte, telegraphierte von Senfft-Pilsach am Vorabend der entscheidenden Abstimmung im Herrenhaus an den hochkonservativen Präsidenten des Hauses, Eberhard Graf zu Stolberg-Wernigerode »dringend dafür zu sorgen, daß die Vorlage der Regierung wegen der Hinterpommerschen Eisenbahn in ihrer ursprünglichen Fassung […] angenommen werde.« Ähnlich wurden die Abgeordneten Alfred Freiherr von Buddenbrock und der Eisenbahninteressierte Heinrich Graf von Itzenplitz instruiert.273 Tatsächlich passierte die Vorlage ohne weitere Änderungen das Herrenhaus. Weil auch in der Generalversammlung endgültig im November 1856 mit 323:69 Stimmen die erforder­liche Zweidrittelmehrheit erzielt werden konnte,274 kann man in diesem Fall von einer äußert erfolgreichen Verknüpfung der pommerschen und überregionalen politischen Netzwerke des Oberpräsidenten zugunsten der Provinz sprechen. Obwohl die Zusammenarbeit der verschiedenen pommerschen Akteure in der Genehmigung des Baus der hinterpommerschen Eisenbahn weitgehende Einmütigkeit suggeriert, ergaben sich parallel zu diesen Verhandlungen heftige Auseinandersetzungen über den konkreten Streckenverlauf. Nachdem sich abgezeichnet hatte, dass die projektierte hinterpommersche Linie den Camminer, Greifenberger und Naugarder Kreis von einer Anbindung ausschließen würde, bemühte sich der Greifenberger Landrat von der Marwitz bei den örtlichen Rittergutsbesitzern um Zustimmung für eine so weit wie möglich nach Norden verschobene Verbindung.275 In enger Absprache mit dem Naugarder Landrat von Bismarck argumentierte er sowohl aus strukturpolitischen als auch aus militärstrategischen Gründen für eine Verbindung von Damm über Massow, Daber und Labes unter Umgebung Belgards direkt nach Kolberg.276 Da sich der Oberpräsident aber vorerst gegen jede direkte Verbindung mit Kolberg aussprach und weiter eine Linie von Stargard nach Köslin mit einer Zweigbahn 272 Ebd., Landrat v. Bismarck an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Naugard 20.2.1856. 273 Vgl. ebd., Bericht an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Berlin 22.4.1856. 274 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2063, Prot. der Generalversammlung der Berlin-Stettiner Eisenbahn, Stettin 5.11.1856. 275 Vgl. APS, SPGryf, Nr. 394, Landrat v. d. Marwitz an die Rittergutsbesitzer der Kreise Cammin, Greifenberg u. Naugard, Greifenberg 8.1.1854. 276 Vgl. ebd., Landrat v. Bismarck an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Naugard 26.6.1854.

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von Belgard nach Kolberg wünschte,277 beantragte von Bismarck 1854 auf dem Pommerschen Provinziallandtag, dass sich die Provinz wenigstens für eine Linie von Damm über Massow, Daber und Labes nach Belgard einsetze.278 Unter Verweis auf die daraus resultierende Verzögerung des Projektes wurde diese Petition jedoch mit einer überwältigenden Mehrheit abgelehnt.279 Mussten diese Projekte allein schon aufgrund mangelnder Rentabilitätsberechnungen und wenig konkreter Angaben zur technischen Streckenführung scheitern, nutzten die Landräte von der Marwitz und von Bismarck im Frühjahr 1855 das im Zuge der sich anbahnenden Ratifizierung wachsende überregionale Interesse für die hinterpommersche Eisenbahn, um erneut eine Verlegung der Strecke ins Gespräch zu bringen. Durch Vermittlung des Oberpräsidenten konnten von der Marwitz und von Bismarck gemeinsam mit anderen Mitgliedern der Kreisdeputationen von Naugard und Greifenberg in einer Privataudienz bei Friedrich Wilhelm IV. und dem Staatsministerium eine weitere Alternativlinie von Stargard über Massow, Naugard, Greifenberg und Treptow a.d. Rega nach Kolberg vorstellen.280 Da die Berlin – Stettiner Bahn die hinterpommersche Linie nur bei kosten­loser Übertragung des erforderlichen Grund und Bodens durch die betroffenen Kreise bauen wollte, überzeugten die beiden Landräte außerdem den Naugarder und den Greifenberger Kreistag, durch entsprechende Beschlüsse die Entscheidungsträger positiv zu beeinflussen. Wie verzweifelt der Naugarder Kreis auf eine Berücksichtigung bei der Eisenbahnlinie drängte, zeigte sich im mit 25:10 Stimmen verabschiedeten Votum, im Fall der Bewilligung ihrer Strecken­f ührung zusätzliche 4.000 Taler für Expropriationskosten im benachbarten Saatziger Kreis aufzubringen.281 Die Aktivität von der Marwitz’ und von Bismarcks stieß in Berlin zumindest beim Kriegsminister Friedrich von Waldersee auf positive Resonanz. Da die Alternativstrecke den Weg zwischen den Festungen Damm und Kolberg um rund fünf Meilen verkürze, zog er diese aus militärischen Erwägungen vor. Allerdings legte sich das Staatsministerium aufgrund des Votums von der Heydts schließlich im Mai 1855 grundsätzlich auf die Stargard – Kösliner Linie mit einer Zweigbahn von Belgard nach Kolberg fest.282 Und auch als 1856 im Herrenhaus die gleichen militärischen Überlegungen erneut auf den Tisch kamen und sich sogar Friedrich Wilhelm IV. dazu bereit zeigte, eine weitere Kommis277 Vgl. ebd., Oberpräsident v. Senfft-Pilsach an Landrat v. Bismarck, Stettin 31.7.1854. 278 Vgl. ebd., Petition des Landrats v. Bismarck an Prov.-Landtag von Pommern u. Rügen betr. der Richtung der durch Hinterpommern zu bauenden Eisenbahn, Stettin 9.10.1854. 279 Vgl. ebd., Extrakt aus dem 7ten Plenar-Sitzungsprot. des 12ten Prov.-Landtags, Stettin 13.10.1854. 280 Vgl. ebd., Bericht des Landrats v. d. Marwitz an den Greifenberger Kreistag, Greifenberg 12.7.1855. 281 Vgl. ebd., Auszug aus den Vhdl. der Kreistage von Greifenberg u. Naugard, Greifenberg 6.8.1855 bzw. Naugard, 10.10.1855. 282 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, B III 2b, Nr. 6, Bd. 68, Bl. 31–32, Prot. der Sitzung des Preuß. Staatsministeriums, Berlin 11.6.1855.

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sion einzusetzen, überzeugte der eingeladene Oberpräsident den anwesenden Prinzen von Preußen und die Mitglieder des Staatsministeriums, hierauf nicht weiter einzugehen und das Verfahren endlich abzuschließen.283 Diesem Entschluss kam der Monarch kaum eine Woche später nach.284 Nachdem dann im Juni und Juli 1856 noch einmal kurzzeitig auf Anregung der Gebrüder Bismarck diskutiert worden war, ob die Teilstrecke von Stargard nach Labes statt über Freienwalde nicht doch wenigstens über das rund 14 km nördlich gelegene Daber gehen könne, der Handelsminister sich aus Kostengründen jedoch ausdrücklich noch einmal für Freienwalde entschied,285 konnte endgültig mit dem Bau begonnen werden. Der nicht uneigennützige Wunsch der Gebrüder Bismarck, die Bahnlinie einige Kilometer näher an die Familiengüter Külz, Jarchlin und Kniephof zu führen, war damit gescheitert. Sofern von einzelnen Rittergutsbesitzern Widerstand gegen die notwendige Herausgabe der zum Bahnbau erforderlichen Flächen geäußert wurde, konnte dieser in der Regel zügig durch die persönliche Vermittlung von Senfft-­Pilsachs behoben werden.286 Am 1. Juni 1859 wurde die hinterpommersche Linie schließlich dem Verkehr übergeben. Im Gegensatz zur Berlin – Stettiner Hauptstrecke fand die Stargard – Kösliner bzw. Belgard – Kösliner Linie freilich eine weitaus geringere Nachfrage. 1860 reisten auf der Trasse lediglich 130.752 Zivil- und 12.053 Militärpersonen. Mit Ausnahme von Getreide (193.923 Zentner), Bauholz (97.707 Zentner) und Spiritus (52.590 Zentner) wurden kaum andere Güter transportiert.287 Obwohl sich der Personenverkehr Mitte der siebziger Jahre auf rund 500.000 Fahrgäste im Jahr stabilisierte,288 hatte die öffentliche Hand bis 1877 diese allein mit 19,9 Mio. Mark bezuschussen müssen.289 Im Fall der vorpommerschen Bahn verzögerten ebenfalls kleinere Streitigkeiten über die konkrete Streckenführung wie auch um die Finanzierung einen schnellen Bau. Nachdem bereits 1853 sowohl die so genannte Nordbahn von Berlin über Neustrelitz nach Stralsund als auch die Strecke von Greifswald nach Passow (Uckermark) konzessioniert worden war, dauerte es noch bis Ende der fünfziger Jahre, bis sich die Stadt Stralsund ebenfalls für eine Anbindung an die vorpommersche Linie entschloss.290 Bereits 1856 hatte sich das Direktorium der 283 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, B III 2c, Nr. 3, Bd. 2, Bl. 201–202, Prot. der Sitzung des Conseils, Bellevue 9.5.1856. 284 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2063, KO Friedrich Wilhelm IV., Charlottenburg 15.5.1856. 285 Vgl. ebd., Handelsministerium an den Legationsrat u. Gesandten beim Bundestag, Otto v. Bismarck-Schönhausen, Berlin 28.7.1856. Vgl. auch Otto v. Bismarck an Bernhard v. ­Bismarck, Frankfurt 10.3.1855. In: Bismarck, Die Gesammelten Werke, Bd. 14/1, S. 391 f. 286 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2064, v. Senfft-Pilsach an den Rittergutsbesitzer u. gleichzeitiges Mitglied des Herrenhauses v. Waldow, Stettin 14.7.1857. 287 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 5243, Jahresbericht der Berlin-Stettiner Eisenbahn für das Jahr 1861, passim. 288 Vgl. Mielcarek, S. 131. 289 Vgl. Grusenick u. a., S. 13. 290 Vgl. ebd., S. 16–18.

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Berlin – Stettiner Eisenbahn vorgenommen, in jedem Fall eine direkte Zweigbahn von Stettin nach Pasewalk zu bauen.291 Ansonsten stand außer Frage, dass mit Greifswald, Anklam, Pasewalk und Prenzlau die wichtigsten Orte der Region in einer möglichst geraden Linie in Richtung auf Berlin miteinander verbunden werden sollten. Weitere Probleme ergaben sich im Folgenden durch den Widerwillen der Stände der Kreise Randow, Ueckermünde, Templin und Angermünde, den Grund und Boden für den Bahnbau unentgeltlich bereitzustellen. Offensichtlich ging man im Kreis Randow davon aus, dass die Bahn ja auch ohne eigene Unterstützung über Stettin geführt werde. Es bedurfte erst der Intervention des Oberpräsidenten, bis auch der Randower Kreis Geldmittel zur Verfügung stellte und auch die brandenburgischen Kreise ihren Widerstand aufgaben.292 Die Bewilligung des Baus wurde dann in den Jahren 1860/61 auf den Weg gebracht. Die Generalversammlung stimmte zu, da die Bau­kosten durch eine Zinsgarantie in der Höhe von 4,5 % abgesichert wurden. Staats­ ministerium, Monarch und Herrenhaus ließen struktur- und zollpolitische, aber auch militärstrategische Argumente gelten.293 Freilich wirtschaftete auch die vorpommersche Eisenbahn defizitär. Trotz eines Fahrgastaufkommens von rund 600.000 bis 900.000 Personen im Jahr294 musste die öffentliche Hand bis 1878 rund 14,8 Mio. Mark zuschießen.295 Ende der fünfziger Jahre wurde ein weiteres größeres Eisenbahnprojekt angedacht, welches über Jahre hinweg zu heftigen innerpommerschen Aus­ einandersetzungen führen sollte. Im Konkurrenzkampf der Berlin – Stettiner und der Oberschlesischen Eisenbahngesellschaft wurden 1858/59 erstmals zwei alternative Streckenkonzepte rechts der Oder zur Anbindung Ostswines an das bestehende Eisenbahnnetz vorgelegt. Während die betreffenden Landräte, die Stettiner Regierung und auch Minister von der Heydt eine Prüfung der beiden Strecken befürworteten, lehnte von Senfft-Pilsach dieses ab. Stattdessen lenkte er die Diskussion auf die Projektierung einer Linie von Stettin über Neuwarp, durch das Haff hindurch direkt nach Swinemünde. Dem Schriftverkehr ist zu entnehmen, dass der Oberpräsident von der Befürchtung getrieben wurde, dass andernfalls Stettin und Swinemünde nicht mehr am Fernhandel partizipieren würden, was dann zum Schaden der gesamten Provinz geführt hätte.296 Auch die seitens der vorpommerschen Kreisbehörden vorgebrachte Trasse von Swinemünde über Anklam mit Anschluss an die vorpommersche Eisenbahn lehnte 291 Vgl. APS, SPSz, Nr. 959, Bericht des Direktoriums der Berlin-Stettiner Eisenbahn an alle Landräte, Stettin 29.6.1856. 292 Vgl. Ueckermärkische Courier, 22.7.1857 sowie APS, RSz, I, Nr.  5243, Jahresbericht der Berlin-Stettiner Eisenbahn für das Jahr 1857 u. APS, SPSz, Nr.  959, Oberpräsident v. Senfft-Pilsach an Randower Landrat Ritter v. Ramin, 18.3.1857. 293 Vgl. Grusenick u. a., S. 18 f. 294 Vgl. Mielcarek, S. 131. 295 Vgl. Grusenick u. a., S. 13. 296 Vgl. APS, NPPP, Nr.  2070. Vgl. hier die entsprechenden Briefwechsel u. Handakten des Oberpräsidenten von April 1858 bis Okt. 1859.

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von Senfft-Pilsach aus gleichem Grund vorerst ab.297 Über zehn Jahre wurden die Argumente für und wider die verschiedenen Strecken erörtert. Dabei erreichte die Diskussion über die intensive Berichterstattung in der Presse eine breite Öffentlichkeit, zudem gingen die von englischen Bauexperten gefertigten Pläne von Viadukten und anderen Baumaßnahmen sogar über den Schreibtisch des interessierten preußischen Kronprinzen Friedrich.298 Erst die explodierenden Kostenkalkulationen führten seit 1868 unter dem neuen Oberpräsidenten von Münchhausen dazu, dass alle Akteure mehr und mehr von den technisch ambitionierten Projekten Abstand nahmen.299 1872 entschied man sich endgültig für die Verbindung Swinemündes über die Insel Usedom mit Anschluss an die vorpommersche Eisenbahn.300 Die bereits vier Jahre später in Betrieb genommene Trasse stellte sich für den Bäderverkehr als bedeutsam, ansonsten jedoch als wenig rentabel heraus. Auch die hinterpommersche Eisenbahn wurde 1869/70 trotz des Widerstands einiger Gutsbesitzer, die eher für einen weiteren Ausbau des Chausseenetzes plädierten, von Köslin weiter in Richtung Schlawe, Stolp und Danzig geführt.301 Weitere Eisenbahnprojekte konnte die Provinz vorerst nicht finanzieren. Zwar wurden gerade in den bisher noch unerschlossenen Gebieten weitere ­Strecken angedacht, und auch der 19. Provinziallandtag brachte nach dem Sieg über Frankreich 1871 die Forderung nach einem umfassenden staatlichen Unterstützungsprogramm vor,302 jedoch musste die Stettiner Regierung 1875 nach Berlin vermelden, dass »mit den Eisenbahnbauten […] der hiesige Bezirk wenig Glück [habe].«303 Tatsächlich übernahm der preußische Staat im gleichen Jahr die noch unvollendete von Berlin über Neubrandenburg, Neustrelitz und Demmin nach Stralsund führende Berliner Nordbahn aus finanziellen Gründen. Gleiches geschah mit der Pommerschen Zentraleisenbahn, welche den Raum zwischen der Hinterpommerschen Eisenbahn und der Ostbahn erschließen sollte.304 Obwohl die Ausführung der Berliner Nordbahn als lediglich einspurige Sekundärbahn bei der Bevölkerung des Demminer Kreises zunächst auf »große Mißstimmung« stieß,305 bewirkte der Bau der qualitativ eingeschränkten Nebenbahnen in den achtziger Jahren den Ausbau des Eisenbahnnetzes auf 297 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2071, v. Senfft-Pilsach an v. d. Heydt, Stettin 14.12.1861. 298 Vgl. APS, NPPP, Nr.  2072, Geh. Regierungsrat Duncker an v. Senfft-Pilsach, Berlin 16.1.1866. 299 Vgl. APS, NPPP, Nr.  2073, Berlin-Stettiner Eisenbahngesellschaft an Oberpräsident v. Münchhausen, Stettin 7.1.1868. 300 Vgl. ebd., Itzenplitz an v. Münchhausen, Berlin 31.10.1872. 301 Vgl. Fenske, S. 129 f. 302 Vgl. Vhdl. des Prov.-Landtages, Bd. 20, 1873, S. 9 f. 303 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1874/75, Stettin 28.2.1875. 304 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, B III 2b, Nr. 6, Bd. 87, Bl. 41v., Prot. der Sitzung des Preuß. Staatsministeriums, Berlin 21.2.1875. 305 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Mai, Juni u. Juli 1877, Stettin 15.9.1877.

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lokaler Ebene. Das erschien auch dringend notwendig, besaßen doch noch immer allein fünf Kreishauptstädte des Stettiner Bezirks keinen Eisenbahnanschluss. Obwohl sich die Stettiner Regierung anfangs gegenüber dem Sekundärbahnbau höchst skeptisch äußerte und auf einen stärkeren Ausbau des Chausseenetzes drängte,306 zeigte sie sich zu Beginn der achtziger Jahre über die »auf mehreren Punkten des Regierungsbezirks« in Bau oder in Planung begriffenen Sekundärbahnen zunehmend begeistert.307 Grundlage für die einsetzende Baukonjunktur war das neu entfachte Interesse des Pommerschen Provinziallandtags, der seit 1878 eine Förderung von über 1 Mio. Mark für den Bau zweier Linien bewilligte, welche die Kreishauptstädte Naugard und Greifenberg (über die Altdamm – Kolberger Eisenbahn) sowie Pyritz (über die Stargard – Küstriner Eisenbahn) an das pommersche Eisenbahnnetz anschließen konnten. Mit der umfassenden Bezuschussung und Gewährung von Zinsgarantien ging die Provinz im innerpreußischen Vergleich einen zunächst erfolgreichen Sonderweg. Die Einrichtung eines Förderfonds bedeutete für die pommersche Bevölkerung zwar die nicht unerhebliche Anhebung der Provinzialsteuern von jährlich 300.000 auf 450.000 Mark. Wegen der Beteiligung am wirtschaft­lichen Erfolg, konnte man jedoch schon nach zehn Jahren auf weitere Zuschüsse verzichten und weitere Projekte initiieren.308 Obwohl durch das Engagement der Provinz und lokaler Interessenten wie Kreisen und Kommunen in den achtziger Jahren 275,7 km neuer Eisenbahnstrecken errichtet werden konnten (vgl. Diagramm 9), fiel Pommern im innerpreußischen Vergleich weiter zurück. Während in Pommern 1890 die Netzdichte der gesamten Haupt- und Nebenlinien 47,2 km/1.000 qkm betrug, lag diese in Brandenburg bei 69,4 km und in der Rheinprovinz bei 126 km. Und während der Anteil der Nebenbahnen in Brandenburg 14,1 % und in der Rheinprovinz 30,5 % betrug, waren in Pommern 48,3 % aller Eisenbahnlinien lediglich als Nebenbahn projektiert worden.309 Trotz kleinerer Proteste des lokalen Transportgewerbes, das sich zunehmend in seiner Existenz bedroht fühlte,310 erfuhr das Interesse für den Kleinbahnenbau insbesondere mit der 1892 erfolgten Verabschiedung des preußischen Kleinbahngesetzes einen weiteren Höhepunkt. Da nunmehr fast alle Landräte des Bezirks gemeinsam mit den Kreisvertretern die Planung neuer Routen vorlegten, sah sich das Staatsministerium sogar zeitweilig dazu veranlasst, darauf hin zu verweisen, dass diese ihre »agitatorische Thätigkeit« einschränken sollten und »nicht ausschließlich vom Standpunkt der lokalen wirtschaftlichen Interessen 306 Vgl. ebd., Ztgsb. Aug., Sept. u. Okt. 1878, Stettin 10.12.1878. 307 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Feb., März u. April 1881, Stettin 4.6.1881. 308 Vgl. Geißler, Der Bau regionaler Bahnen, S. 280–285. 309 Vgl. Ziegler, S. 550 u. S. 556. 310 Vgl. APS, RSz, I, Nr.  5511, Auszug aus dem Ztgsb. des Landratsamts zu Ueckermünde, ­Ueckermünde 5.2.1886. In diesem Fall stellte sich der Landrat hinter die Forderung der Fuhrwerkbesitzer, »auf Jahre hinaus« zumindest vom Bau weiterer Waldbahnen Abstand zu nehmen.

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Diagramm 9: Das preußische Eisenbahnnetz anteilig in Kilometer (1840–1913) 100% 90%

26

80%

85 647

70% 60% 50%

643

1857

529

1136

1057

1551

2704

2885

3837

5172

1718

2069

2834

3402

4050

4778

2770

3458

4200

1329

685

1113

1941

2334

2763

2959

607

948

1962

2289

2563

3371

945

1590

2731

3402

3744

4749

110

282

580

1099

1422

1880

2353

1850

1860

1870

1881

1890

1900

1913

502

30%

2434

342

20% 10%

835

385

785

84

40%

455

22

0% 1840

321

Pommern

Rheinprovinz

Westfalen

Sachsen

Brandenburg

Schlesien

Posen

Preußen

Zusammengestellt nach: Ziegler, S. 551–558.

ihres Verwaltungsbezirks« urteilen sollten.311 Tatsächlich meldeten kurz nach dem Erlass des Kleinbahngesetzes allein 14 pommersche Landratsämter, darunter sechs Kreise des Stettiner Regierungsbezirks, Kleinbahnpläne an.312 Bereits 1892/93 bewilligte der Provinzialverband rund 1,74 Mio. Mark zum Bau von vier größeren Kleinbahnstrecken. In etwa die gleiche Summe brachten die betroffenen Kreise und das Stettiner Kleinbahnunternehmen Lenz & Co auf, so dass eine Drittelfinanzierung entstand.313 Der erforderliche Grund und Boden wurde im Idealfall von den Grundbesitzern unentgeltlich bereitgestellt, sofern dieses verweigert wurde, übernahmen die Kreise die Ankauf­kosten.314 Zugleich setzte sich die Pommersche Ökonomische Gesellschaft publizistisch für eine Unterstützung der Kleinbahnprojekte ein.315 Betrachtet man die Entwicklung des Streckennetzes, wurde das pommersche Förderungsmodell im innerpreußischen Vergleich in der Folgezeit von kei311 Vgl. ebd., Reskript der Minister für öffentliche Arbeiten, des Innern u. der Finanzen, Berlin 21.4.1891. 312 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2111, Vorlage des Landesdirektors, Stettin 23.11.1892. 313 Vgl. Bericht des Provinzialausschusses über die Verwaltung der Angelegenheiten des Provinzialverbandes von Pommern 1892/93, S. 55. 314 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 5511, Reg. St. an Oberpräsident v. Puttkamer, Stettin 23.5.1894. 315 Vgl. etwa Pommersche Ökonomische Gesellschaft, S. 14.

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ner anderen Provinz übertroffen. Das pommersche Kleinbahnnetz wuchs bis 1896 auf eine Länge von 675 km, bis 1900 auf 1.060 km und bis 1924 noch auf 1.600 km.316 Wenn man die Haupt- und Nebenbahnen mit den Kleinbahnen zusammenrechnet, schloss Pommern bis 1914 mit einer Gesamtschienenlänge von 4.012 km und einer Dichte von 133,3 km je 1.000 qkm nunmehr sogar theoretisch bis zu den industrialisierten Provinzen der preußischen Monarchie auf.317 Durch das dicht gewebte Netz wurde Pommerns Landwirtschaft ohne Zweifel gestärkt. Es bleibt indes zu konstatieren, dass die rund 60 Mio. Mark an öffentlichen Fördermitteln der Kreise, Kommunen und des Provinzialverbands fast ausschließlich den großen Gütern zu Gute kamen. Ohne dass die Guts­ besitzer maßgeblich an der Aufbringung dieser Summe beteiligt wurden, stellten die Fördermittel eine gewaltige Subvention dar, die von der Gesamtheit der Steuerpflichtigen der Provinz aufgebracht werden musste. Tatsächlich waren die Kleinbahnen nur allzu oft ausschließlich auf den Transport der landwirtschaftlichen Erzeugnisse der Großgüter ausgerichtet. Anstatt Start- und Zielorte in direkter Linie zu verbinden, mäandrierten die Trassen in weiten Bögen von einem Gut zum nächsten.318 Obwohl die Macht der alten begüterten Eliten in den Kreis- und Provinzvertretungen mit den Verwaltungsreformen der siebziger Jahre reduziert worden war, gestalteten sich die Mehrheitsverhältnisse in den lokalen Entscheidungsgremien immer noch derart, dass die bedeutenden weiterhin in den entsprechenden Gremien sitzenden Rittergutsbesitzer die Streckenführungen maßgeblich beeinflussen konnten. Letztlich musste deshalb bereits zur Jahrhundertwende festgestellt werden, dass die meisten der neu angelegten Bahnen nur einen geringen Personenverkehr anzogen, mit Ausnahme der Erntezeiten kaum profitabel wirtschafteten, im Winter häufig gänzlich ausfielen und anders als geplant die Zuschüsse des Provinzialverbands nicht wie in Aussicht gestellt reduziert, sondern erheblich ausgedehnt werden mussten. Mit der sukzessiven Übernahme sämtlicher Kleinbahnen seit 1910 lud sich der Provinzialverband zudem eine für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg als drückend erweisende Last auf, die mit der zunehmend aufkommenden Konkurrenz des Lastkraftwagentransports noch schwerer wog. Weil wegen der mangelnden Rentabilität die Instandhaltung der Kleinbahntrassen vernachlässigt werden musste319 und die überwiegende Zahl der Streckenkilometer lediglich schmalspurig errichtet worden war, täuschte die hohe Dichte des Eisenbahnnetzes letztlich über die tatsächliche Leistungsfähigkeit 316 Vgl. Ziegler, S.  557 f. u Landeshauptmann der Provinz Pommern, S.  23. Im Vergleich zu Pommern wuchs die Zahl der Kleinbahnkilometer von 1900–1913 in Schlesien von 0 auf 764 km, in Ostpreußen von 241 auf 834 km, in Westpreußen von 104 auf 605 km, in Posen von 340 auf 821 km, in Brandenburg von 318 auf 1.065 km, in Sachsen von 414 auf 844 km, in Westfalen von 119 auf 459 km und in der Rheinprovinz von 393 auf 801 km. 317 Vgl. Geißler, Der Bau regionaler Bahnen, S. 292. 318 Vgl. dazu etwa die Kleinbahnlinie von Naugard nach Daber, die u. a. zur Anbindung des Bismarckschen Gutes Jarchlin im Vergleich zur direkten Linie rund doppelt so lang wurde. 319 Vgl. Landeshauptmann der Provinz Pommern, S. 25 f.

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des Gesamtverkehrsnetzes hinweg. Bei der Netzdichte normalspuriger Bahnen stand Pommern von allen preußischen Provinzen weiterhin auf dem letzten Platz.320 Mit den bescheidenen Mitteln der Provinz war zwar Erhebliches geleistet worden, die relative Rückständigkeit zu den meisten der übrigen Provinzen konnte jedoch nicht entscheidend verringert werden. 2.3.5 Die Städte und der Eisenbahnbau Genauso wie im Fall des Chausseebaus waren die Kleinstädte daran interessiert, frühzeitig an das Eisenbahnnetz angeschlossen zu werden. Weil die Dichte des Verkehrsnetzes im Vergleich zu dem der Chausseen noch geringer ausfallen musste, tobte der Konkurrenzkampf der Städte bei den geplanten Trassen umso heftiger. In fast allen kleinen Städten entstanden bald Eisenbahnkomitees, deren Mitglieder sich aus den dortigen Eliten, d. h. Magistratsmitgliedern und Kaufleuten, rekrutierten. Außer dem grundsätzlichen Problem der mangelnden Kooperation zwischen den Eisenbahnkomitees der einzelnen Kommunen verhinderte der gravierende Kapitalmangel eine Umsetzung der diversen anvisierten Eisenbahnprojekte. Dieser Kapitalmangel resultierte in einem nicht unerheblichen Maß daraus, dass eine Stadt und ihre finanziellen Eliten, die vorerst nicht in ein geplantes Streckennetz einbezogen wurden, erst einmal kein Interesse entwickelten, eine die Nachbarstädte bevorteilende Linie mitzufinanzieren. Dieses zeigte sich bereits bei der Finanzierung der Berlin – Stettiner Eisen­bahn. Während Stettin selbst schon im Mai 1836 590.000 Taler in Aussicht stellte, umfasste die Summe sämtlicher übriger Städte der Provinz lediglich den Betrag von 80.000 Talern.321 Dabei ist von der wenig überraschenden Faustregel auszugehen, dass, je weiter eine Stadt vom Einzugsgebiet der projektierten Linie entfernt lag, desto geringer auch die in Aussicht gestellten Aktienzeichnungen ausfielen. Spätestens nachdem die Hauptlinie zwischen Berlin und Stettin fertig gestellt worden war, meldeten jedoch auch die vor- und hinterpommerschen Städte ihre Ansprüche auf den Bau von Querverbindungen an, welche die Provinz von West nach Ost erschließen sollten. Als Mitte der vierziger Jahre das Projekt zur Errichtung der Berliner Nordbahn über Neustrelitz nach Stralsund entstand, arbeiteten auch endlich die Magistrate von Anklam, Pasewalk, Prenzlau und Greifswald eng zusammen, um für den Bau einer Vorpommernbahn zu werben. Schon 1845 verabschiedete auf Anregung des Anklamer Bürgermeisters der Altpommersche Kommunallandtag eine entsprechende Resolution.322 Typisch ist erneut, dass eine größere und damit finanzkräftige Stadt wie Anklam als erste die Initiative übernahm. Nicht ungewöhnlich ist indes, dass eine 320 Vgl. Abelshauser, S. 20. 321 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 5237, Berlin-Stettiner Eisenbahn an Reg. St., Stettin 1.5.1836. 322 Vgl. Vhdl. des Kom.-Landtags, Bd. 17, 1845, S. 60 f.

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weitere wohlhabende Stadt wie das vorpommersche Stralsund sich diesem Vorhaben vorerst verschloss. Bei den bereits mehrfach zitierten, wiederholt im Provinzial- und Kommunallandtag vorgebrachten Petitionen Ende der vierziger und zu Beginn der fünfziger Jahre, die einerseits den Ausbau des Chausseenetzes, andererseits aber auch den Bau der Hinter- und Vorpommerschen Eisenbahn forderten, fungierten ebenfalls zumeist städtische Vertreter als die treibenden Kräfte. So waren unter den 839 Personen, die für den Bau einer direkten Eisenbahnlinie von Stargard nach Kolberg eintraten, zum großen Teil Einwohner der Städte Plathe, Regenwalde und Kolberg zu finden.323 Je nach diskutierter Streckenführung bildeten sich gerade im Fall der Hinterpommerschen Eisenbahn stetig neue städtische Allianzen, wobei insbesondere der Kolberger Magistrat immer wieder darauf drängte, nicht erst indirekt über eine Zweigbahn, sondern direkt an die Haupttrasse angeschlossen zu werden. Typisch für die jeweils eingereichten Standpunkte ist eine Petition, die 1855 von mehr als 30 Kolberger Kaufleuten an Friedrich Wilhelm IV. gerichtet wurde. Diese kaschierten die eigenen wirtschaftlichen Interessen etwa mit dem Vortrag vermeintlich militärischer Gründe.324 Die kleineren Orte stellten vergleichbar zu ihren früheren Petitionen zum Chausseebau ihre verhältnismäßige Armut in den Mittelpunkt der Forderungen.325 Bis zur Jahrhundertwende wurde auf die Belastungen der napoleonischen Kriege und auf die Folgen der Choleraepidemien der dreißiger und vierziger Jahre verwiesen. Obwohl seit der Mitte der fünfziger Jahre Städte wie Gollnow, Naugard, ­Plathe, Greifenberg und Treptow das Kolberger Vorhaben einer direkten Linie nach Kolberg unterstützten, konnte diese Trasse erst 1882 als Sekundärbahn errichtet werden. Bis dahin behinderte der fehlende Eisenbahnanschluss die weitere wirtschaftliche Entwicklung. 1873 beschwerten sich die Bürgermeister von Gollnow, Naugard, Plathe, Greifenberg und Treptow beim Oberpräsidenten, dass ihre Orte in den letzten drei Jahren einen Bevölkerungsrückgang von 904 Personen zu bedauern hätten, der als Folge der mangelnden Entwicklungsperspektiven der Region zu bewerten sei.326 Selbst die Stettiner Regierung brachte die Abwanderung aus den Kleinstädten mit den Eisenbahnbauten der benachbarten Kreise in Zusammenhang.327 Auch bei der Diskussion um die Anbindung Swinemündes entspannten sich unter den von den konkurrierenden Linien betroffenen Städten heftige Kon323 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2028, 12te Petition zum 10ten Prov.-Landtag sowie die beigefügten Unterschriftslisten. 324 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2061, Petition Kolberger Bürger an Friedrich Wilhelm IV., Kolberg 2.8.1855. 325 Vgl. etwa APS, NPPP, Nr. 2061d, Forderung der Stadt Freiyenwalde vom 25.6.1855 an v. Senfft-Pilsach. 326 Vgl. APS, SPGryf, Nr. 394, Petition der Bürgermeister von Gollnow, Naugard, Plathe, Greifenberg, Treptow u. Kolberg an v. Münchhausen, Kolberg 8.8.1873. 327 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Feb., März u. April 1872, Stettin 3.6.1873.

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troversen. Während der Swinemünder Magistrat grundsätzlich alle projektierten Strecken unterstützte und in der dortigen Bevölkerung gleich drei Petitionen zum Bau der Haffbahn bzw. für die beiden Alternativrouten verabschiedet wurden,328 plädierte die Kreishauptstadt Ueckermünde verständlicherweise für die Haffbahn.329 Die Petition für die Haffbahn in Swinemünde umfasste immerhin die eindrucksvolle Zahl von 189 Unterschriften, darunter waren neben den Stadtverordneten Kaufleute, aber auch die an einer Stärkung des dortigen Hafens interessierten Schiffer und Kapitäne zu finden.330 Dagegen wandten sich die vorpommerschen Städte mit aller Heftigkeit gegen das Projekt. Der Magistrat von Anklam verwies verbittert darauf, dass man »seit fast 20 Jahren […] unter nicht unerheblichen Opfern einzelner Communen die Eisenbahn nach Stralsund […] vergeblich angestrebt« habe. Es sei nicht nachvollziehbar, dass eine sich »nicht rentirende Bahn durch Hinterpommern und das EisenbahnProjekt durch unser schönes Binnen-Meer […] den Interessen des Landes« entsprechen solle. Als »natürlichste« Trasse sah dagegen das Magistratsgutachten die bereits vorhandene Telegraphenlinie von Anklam nach Swinemünde vor.331 Auch Demmin, Greifswald, Wolgast und Stralsund opponierten gegen die Umsetzung des Haffbahnprojektes.332 Die Einstellung des Projekts hatte schließlich zur Folge, dass etwa Ueckermünde erst 1884 im Zuge des Sekundär- und Kleinbahnenbaus an das pommersche Eisenbahnnetz angeschlossen werden konnte. Außerdem bewirkte die Notwendigkeit, mit den Akteuren des platten Landes einen Konsens in den Kreistagen zu finden, erhebliche Verzögerungen. Die größtmögliche Berücksichtigung aller Interessen hatte zudem oftmals ineffiziente »krumme« Trassenführungen zur Folge. Auch die Kreishauptstädte Cammin und Regenwalde sowie die Kleinstädte Wollin, Daber und Pölitz konnten nicht vor 1892/93 in das Eisenbahnnetz integriert werden. Neuwarp und Massow erhielten sogar erst nach der Jahrhundertwende einen Bahnanschluss.333 Nicht vor diesem Zeitpunkt konnte dort eine zaghafte Industrialisierung einsetzen. Sprichwörtlich ausgedrückt war freilich dann der Zug des industriellen Aufschwungs schon weitgehend abgefahren.

328 Vgl. die Berichterstattung der OZ, 19.3.1862. 329 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2071, Magistrat von Ueckermünde an v. Senfft-Pilsach, Ueckermünde 3.4.1862. 330 Vgl. ebd., Petition Swinemünder Bürger für die Haffbahn an v. Senfft-Pilsach, Swinemünde 23.3.1862. 331 Vgl. ebd., Gutachten des Magistrats der Stadt Anklam, Anklam 18.12.1859. 332 Vgl. ebd., Magistrat von Swinemünde an v. d. Heydt, Swinemünde 10.7.1860. 333 Vgl. Vollack, Karte 7.

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2.3.6 Die Großstadt Stettin und der Eisenbahnbau Die Initiative für eine Eisenbahnanbindung Pommerns entstand aus der Mitte des Stettiner Bürgertums. Eine entscheidende Rolle spielten die Börsennachrichten, deren Redakteur Altvater bereits in der Gründungsausgabe vom 1. August 1835 für den Bau von Eisenbahnen warb.334 Von nun ab wurde in fast jeder Zeitungsausgabe das Thema Eisenbahnen erörtert; zudem sprach sich Altvater insbesondere für eine Verbindung Stettins mit Berlin aus. Im Zusammenhang mit dem zunehmenden publizistischen Interesse für Eisenbahnen wurde auf Anregung des Stettiner Oberbürgermeisters Masche am 1.  März 1836 ein Berlin – Stettiner Eisenbahnkomitee gegründet. Von Anfang an dominierten hier bürgerliche Akteure aus Stettin. Darunter befanden sich außer Stettiner Ban­ kiers und Kaufleuten mehrere Beamte der Bezirksregierung. Die Berliner Beteiligung gestaltete sich dagegen eher zurückhaltend. Unter den wenigen sind etwa der damalige Oberregierungsrat und spätere Handelsminister von Itzenplitz sowie der Bankier Joseph Mendelsohn zu nennen. Itzenplitz stellte einen aus Stettiner Sicht wertvollen Partner dar, war er doch gerade erst aus der Stettiner Regierungsbehörde nach Berlin gewechselt. Da sowohl das Berliner Kapital als auch das Stettiner Umland anfangs höchst skeptisch auf das Eisenbahnprojekt reagierten, suchte das Stettiner Komitee frühzeitig den Kontakt zum Oberpräsidenten von Bonin.335 Dieser setzte sich gleich nach der Gründung des Komitees intensiv für die Werbung von Aktienzeichnern ein. Sowohl von Bonin als auch seine Nachfolger erkannten die Relevanz, die eine Förderung Stettins für die Entwicklung der gesamten Provinz besaß. Stettin konnte daher auf eine Unterstützung der städtischen Interessen durch die Provinzialregierung hoffen.336 In Zusammenarbeit mit den Provinzbehörden und besonders mit Hilfe des Oberwegebauinspekteurs Friedrich Neuhaus sowie der Expertise amerikanischer Eisenbahningenieure stellte das Komitee bereits zum Jahresbeginn 1837 ein ausgereiftes Streckenkonzept samt detaillierter Ein- und Ausgabenkalkulation vor. Angesichts einer bisherigen Reisedauer von Stettin nach Berlin, die im schnellsten Fall mit der Postkutsche 16 bis 24 Stunden betrug und nach einer Zählung des Jahres 1834 bereits von 26.000 bis 30.000 Personen jährlich auf sich genommen wurde, rechnete das Komitee mit einer schnellen Annahme der Eisen­bahn. Mit der Reduzierung der Reisezeit auf geschätzte viereinhalb Stunden und einer Halbierung der Reisekosten von vier bis sechs auf zwei bis drei Taler erhoffte man sich zuzüglich des vorsichtig geschätzten Güterverkehrs bereits bei rund 40.000 Passagieren jährlich einen lohnenswerten Gewinn.337 334 Vgl. den Artikel »Eisenbahnen«, in: Bn, Nr. 1, 14.8.1835. 335 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2045, Eisenbahnkomitee an v. Bonin, Stettiner 5.3.1837. 336 Dieses zeigte sich etwa im Einsatz v. Senfft-Pilsachs bei den Auseinandersetzungen um die Haffbahn. 337 Vgl. APS, NPPP, Nr.  2045, Bericht des Comités an die Actionairs der Berlin-Stettiner Eisen­bahn. Feb. 1837, Stettin 1837.

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Insbesondere die Börsennachrichten beförderten den öffentlichen Umlauf der Berechnungen.338 Die enge Verknüpfung zwischen dem Komitee und der Zeitung wurde daran deutlich, dass die Broschüre durch die Druckerei des Verlegers Hessenland vertrieben wurde. Ganz im Gegensatz zum konservativen Konkurrenzblatt, der Königlich Privilegirten Stettiner Zeitung, machten die Börsennachrichten auch in den folgenden Ausgaben in mehreren Einzelartikeln für die Argumente der Eisenbahnbefürworter Stimmung. Außer der Publizierung von Auszügen aus Lists Eisenbahnschriften, in denen die volkswirtschaftlichen und nationsbildenden Aspekte hervorgehoben wurden,339 ging die Zeitung auf die als unbegründet beurteilten Befürchtungen von Fuhrunternehmern340 und die Bedeutung des Eisenbahnbaus zur Bekämpfung des Pauperismus ein.341 Außerdem wurden Artikel anderer europäischer Zeitungen abgedruckt, welche die Eisenbahn als Metapher einer neuen, schnelleren, mobileren und somit generell besseren Zeit illustrierten.342 Erst die 1839 erfolgte Bewilligung einer Zinsgarantie durch den Altpommerschen Kommunallandtag sicherte den Absatz der Berlin – Stettiner Eisenbahnaktien. Durch den Abdruck des Garantiebeschlusses in allen pommerschen und den vier Berliner sowie der Magdeburger, Leipziger, Danziger, Frankfurter, Hamburger und Breslauer Zeitungen warb das Stettiner Eisenbahnkomitee für die Aktienzeichnung.343 Der Magistrat beteiligte sich zudem mit dem Kauf von Aktien im Wert von 590.000 Talern.344 Auch nachdem die Berlin – Stettiner Eisenbahn fertig gestellt worden war, stritten die Börsennachrichten weiter für eine Ausdehnung des Eisenbahnbaus. Insbesondere in den vierziger Jahren mischten sich hierbei in die Kritik an der mangelnden Förderung des Staates auch politische Forderungen nach größerer Partizipation. Verlief diese Argumentation vergleichsweise identisch zu den allgemeinen Forderungen des nationalbewegten liberalen Lagers des Vormärz,345 wandten sich die Börsennachrichten als maßgeblicher politischer Akteur der Provinz auch den Auseinandersetzungen zu, die Pommern selbst betrafen. Zum einen galt es schließlich, vor Ort weitere Partner für den Bau zusätzlicher Eisen­ bahnen zu finden. Und zum anderen wurde es in Konkurrenz zu den anderen preußischen Provinzen zunehmend wichtig, die pommerschen Interessen publizis­tisch zu verteidigen. Letzteres geschah, indem die Börsennachrichten 338 Vgl. Artikel »Eisenbahnen«, in: Bn, Nr. 19, 6.3.1837. 339 Vgl. Artikel »Deutschlands National-Transport System«, in: Bn, Nr. 25, Nr. 27 u. Nr. 31, 26.3., 2.4. u. 16.4.1838. 340 Vgl. Artikel »Eisenbahnen u. die Wirkung ders. auf Fuhrwerke«, in: Bn, Nr. 99, 10.12.1838. 341 Vgl. Artikel »Die Armuth, die Industrie u. die Eisenbahnen«, in: Bn, Nr. 85, 23.10.1839. 342 Vgl. Artikel »Die Eisenbahn und ihre Gegner«, in: Bn, Nr. 41, 22.5.1837. 343 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2046, Eisenbahnkomitee an v. Bonin, Stettin 3.3.1840. 344 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 5237, Eisenbahnkomitee an Reg. St., Stettin 1.5.1836. 345 Vgl. etwa die Artikel »Über die in Preußen durch Vermittlung des Staates zu errichtenden Eisen­bahnen« u. »Bescheidene Bitten u. ernste Wünsche an die ständischen Central-Ausschüsse«, in: Bn, Nr. 82, 14.10.1842.

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über Jahre hinweg in der Frage der Streckenführung der Ostbahn einen letztlich vergeblichen publizistischen Kampf für die pommersche Route gegen die Staatszeitung und die Vossische Zeitung führten.346 Ersteres leistete die Zeitung dadurch, dass sie nicht nur frühzeitig für einen Ausbau der Berlin – Stettiner Eisen­bahn bis nach Stargard warb,347 sondern auch versuchte, das Bedürfnis nach einem weiteren Ausbau des Chausseenetzes mit der Forderung nach einer Erweiterung des Eisenbahnnetzes zu verknüpfen.348 Damit legten die Börsennachrichten eine allen Provinzinteressen entgegenkommende Argumentation vor, die frühzeitig an ein gemeinsames und damit solidarisches Vorgehen der verschiedenen Akteure Pommerns appellierte. Jedoch stellte die Zeitung stets heraus, welche infrastrukturelle Technologie sie als zukunftsfähiger beurteilte. Bei den 1842 kursierenden Gerüchten über die Entwicklung von dampfbetriebenen Automobilen wies sie auf die Unwahrscheinlichkeit der technischen Realisierung349 und auf die geringere Unfallfrequenz der Eisenbahnen gegenüber Fuhrwerken hin.350 Außerdem unterstrich sie immer wieder die nationsbildende Bedeutung. Mehr als einmal drückten die Autoren der Börsennachrichten die Hoffnung aus, dass sich die Deutschen durch das vergünstigte Reisen besser kennen lernen und darüber zu einem gemeinsamen »wahrhaft geistigfreien« Volk zusammenwachsen würden.351 Derartig weit ausholende, dem Nation-building dienende Begründungen kamen dagegen in den Artikeln zum Chausseebau nicht zum Tragen. Dass die Eisenbahnverbindung nach Berlin für eine Erweiterung des »Ge­ sichtskreis[es] der Bewohner« Stettins sorgte und deshalb in der Stadt »ein neuer frischer Geist« zu wehen begann, darauf hat bereits Martin Wehrmann in seiner Stettiner Stadtgeschichte aufmerksam gemacht.352 Abgesehen vom stetig stei­genden Personenverkehr auf der Berlin – Stettiner Linie, der sich mit 272.000 Passagieren im Jahr 1844 auf 2,2 Mio. Passagiere im Jahr 1879 fast verachtfachte,353 wird dieser Eindruck in der Betrachtung der Rolle der Eisenbahn für die Revolution von 1848/49 bestätigt. Wie in anderen Städten354 stellte die Eisenbahn in Stettin sowohl ein bedeutendes Medium der Revolution als auch ein Instrument der Gegenrevolution dar. Mit den Zügen aus Berlin ver346 Vgl. etwa Bn, Nr. 87, 31.10.1842, Nr. 13, 20.2.1843, Nr. 20, 10.3.1845 u. Nr. 33, 23.4.1847. 347 Vgl. den Artikel »Anregung zur Anlage einer Eisenbahn zwischen Stettin u. Stargard«, in: Bn, Nr. 28, 8.4.1842. 348 Vgl. etwa den Artikel »Die Berlin-Stettiner Eisenbahn u. die Chausseen in Hinterpommern«, in: Bn, Nr. 16, 22.1.1841. 349 Vgl. den Artikel »Dampfwagen auf Chausseen«, in: Bn, Nr. 43, 30.5.1842. 350 Vgl. den Artikel »Unfälle von Eisenbahnen und Fuhrwerken im Vergleich«, in: Bn, Nr. 37, 9.5.1842. 351 Vgl. den Artikel »Welchen Einfluß werden die Eisenbahnen auf den Deutschen Charakter haben«, in: Bn, Nr. 44, 3.6.1842. 352 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 457. 353 Vgl. Mielcarek, S. 130. 354 Vgl. Schott, S. 35–54. Auf die zusätzliche Bedeutung der Eisenbahn für die Gegenrevolution weist auch Bremm, Die Eisenbahn in der Revolution 1848/49, S. 25–30 hin.

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breiteten sich die Nachrichten über die revolutionären Ereignisse nur wenige Stunden später nach Stettin. Als am 19. März die aktuellen Zeitungen aus Berlin ausblieben, druckten die Börsennachrichten am 20. März nach jedem ankommenden Zug ein Extrablatt, in denen die neuesten Gerüchte geschildert wurden.355 Auch in den folgenden Wochen beförderte die Eisenbahnverbindung mit Berlin das politische Leben der Stadt. Die Stettiner Regierung machte hierfür nicht ganz unwesentlich die schnelle Beförderung der Berliner Tagespresse durch die Eisenbahn verantwortlich.356 Mit der Eisenbahn integrierte sich zumindest Stettin in den sich ausbildenden gemeinsamen nationalen Kommunikationsraum. Die Attraktivität der Eisenbahn generell und speziell als Mittel zur politischen Demonstration zeigte sich nach der Fertigstellung der Stargard – Posener Bahn im August 1848. Motiviert durch den gerade erst niedergeworfenen polnischen Aufstand fuhren am 27. August mehr als 800 Stettiner Bürger zur Bekundung deutsch-nationaler Solidarität nach Posen. Von Seiten der deutschsprachigen Bevölkerung folgte am 3.  September ein mehr als tausend Köpfe zählender Gegenbesuch in Stettin.357 Auch die sich für die zweite Hälfte des 19.  und die erste Hälfte des 20.  Jahrhunderts herausstellende Bedeutung des Bahnhofs als Ort öffentlichkeitswirksamer Kundgebungen358 zeichnete sich in Stettin schon im Dezember 1848 ab. Als nach der Auflösung der preußischen Nationalversammlung der Radikaldemokrat Johann Jacoby über Stettin zurück in seine Heimatstadt Königsberg reiste, demonstrierte der demokratisch gesinnte Stettiner Volksverein öffentlich Solidarität und stand am Bahnhof Spalier.359 Auch in anderer Hinsicht beförderte die Eisenbahn Stettins Entwicklung. Allein in den ersten vier Jahren nach der Eröffnung der Berlin – Stettiner Linie stieg die Stadtbevölkerung von 37.142 im Jahr 1843 auf 43.582 im Jahr 1847 an. 1871 lag die Einwohnerzahl bereits bei 76.280, 1880 bei 92.000 und 1911 schließlich bei 233.484 Personen.360 Der Zuwachs resultierte nicht nur aus der hohen Geburtenrate der Stadtbevölkerung, sondern insbesondere aufgrund des stetigen Zuzugs vom platten Land. Aufgrund des Seehafens und des seit den sechziger Jahren ausgebauten Eisenbahnnetzes entwickelte sich Stettin zudem als bedeutender Sammelpunkt für potentielle Auswanderer. Zwischen 1870 und 1875 verkehrten regelmäßig zwei Dampfschiffe des Baltischen Lloyd zwischen Stettin bzw. Swinemünde und New York, 1881 nahm der neu gegründete 355 Vgl. Bn samt den Beilagen 1–3, Nr. 23, 20.3.1848. 356 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Sept. u. Okt. 1848, Stettin 6.11.1848. 357 Vgl. ebd., Ztgsb. Juli u. Aug. 1848, Stettin 6.9.1848. 358 Vgl. Wucherpfennig, S. 127 f. 359 Vgl. OZ, Nr. 231, 13.12.1848. 360 Vgl. die entsprechenden Angaben in den Zeitungsberichten der Reg. St., in: GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16042–16049, passim.

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S­ tettiner Lloyd die Direktfahrten wieder auf.361 Insbesondere die Hinterpommersche Eisen­bahn brachte einen stetigen Strom von Auswanderern nach Stettin, die entweder von dort aus die Dampfer nach New York bestiegen oder weiter nach Hamburg und Bremen reisten. Allein für das erste Quartal des Jahres 1884 berichtete die Stettiner Regierung von mehr als 6.000 Auswanderern aus Hinterpommern, die den Stettiner Bahnhof passierten, um sich in Hamburg und Bremen einzuschiffen. Mehrere hundert Personen wurden in diesem Zeitraum zudem direkt von Stettin in die USA befördert. Rund 4.700 der Auswanderer stammten aus den hinterpommerschen Kreisen des Regierungsbezirks Stettin.362 Zumindest in eine Richtung bildeten der Bahnhof und der Hafen Stettins somit ein Tor zur weiten Welt. Wie anderswo trug die Eisenbahn neben der technischen Mobilität erheblich zur gesellschaftlichen Mobilisierung bei. Die Stadt und das städtische Umfeld Stettins beförderten auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die pommersche Bereitschaft, neue Eisenbahnlinien zu errichten. Außer den Börsennachrichten setzten sich die nach der Revolution gegründeten Blätter wie die Stettiner Zeitung, die Neue Stettiner Zeitung und die konservative Norddeutsche Zeitung für weitere Eisenbahnprojekte ein.363 Die Stadtverordnetenversammlung bewilligte nicht nur städtebauliche Großprojekte wie den 1868 erfolgten Bau des Stettiner Güterbahnhofs und der mehr als 650 Meter langen eisernen Oderbrücke,364 sondern auch finanzielle Unterstützung für weitere pommersche Linien wie die Vorpommern-365 und die Haffbahn. Hierbei wurde allerdings am Beispiel der Haffbahn deutlich, dass die städtischen Akteure entsprechende Investitionen immer erst nach einer Kosten-Nutzen Erwägung beschlossen. Der Magistrat, die Berlin – Stettiner Eisenbahngesellschaft und die Stettiner Kaufmannschaft waren erst dann bereit, wenigstens die Summe von 2.500 Talern in die Projektierung der Haffbahn zu investieren,366 als sich abgezeichnet hatte, dass die beiden Alternativ­ routen sonst dem Stettiner Handel Schaden zufügen könnten. Nicht ohne Grund wurde deshalb in Swinemünde die Kritik geäußert, dass die Stettiner Akteure wie die dortige Kaufmannschaft und die Presse sich lediglich für die Haffbahn engagierten, um über die Agitation für ein technisch spektakuläres, aber nur 361 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Mai, Juni u. Juli 1871 bzw. Feb., März u. April 1875, Stettin 27.7.1871 bzw. 12.6.1875 u. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab. j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Mai, Juni u. Juli 1881, Stettin 22.8.1881. 362 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Feb., März u. April 1884, Stettin 21.5.1884. 363 Vgl. etwa in der Diskussion um die Finanzierung der Vorpommern Bahn die Berichterstattung in der Ndt. Ztg., 18.3.1857. 364 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Aug., Sept. u. Okt. 1868, Stettin 25.11.1868. 365 Vgl. APS, SPSz, Nr. 959 [1857]. Laut einer entsprechenden Notiz bewilligte die Stadt Stettin 15.000 Taler zum Landankauf. 366 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2071, Übersicht der Kosten für die Ausarbeitung des Projektes einer Eisen­bahn von hier nach Swinemünde durch das Haff, Stettin [1861]. Vgl. dazu auch das beiliegende Pro Memoria der Reg. St., Stettin 4.5.1860, in dem die verschiedenen Projekte mitsamt ihrer Vor- u. Nachteile für den Stettiner Handel aufgeführt wurden.

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beschwerlich umzusetzendes drittes Streckenkonzept die Anbindung Swinemündes an das pommersche Eisenbahnnetz zu verzögern oder gar gänzlich zu verhindern.367 Tatsächlich setzte sich die Stettiner Kaufmannschaft trotz stetig erhöhter Kostenvoranschläge und sich abzeichnendem Scheitern noch bis Mitte der sechziger Jahre für die Haffbahn ein.368 Auch beim öffentlichen Personennahverkehr nahm Stettin im innerpommerschen Vergleich eine Vorreiterrolle ein. 1878 unterzeichnete nach sechs­ jähriger Vorarbeit der Berliner Bauingenieur Büsing einen Vertrag zum Bau einer Pferdebahnlinie vom Stadtzentrum in die nördlichen Vororte.369 1897/98 wurde das bereits auf 35 km Länge erweiterte Netz mit Hilfe der AEG auf elektrischen Betrieb umgerüstet.370 2.3.7 Zwischenergebnisse Angesichts der schwierigen Ausgangslage zu Beginn des Untersuchungszeitraums verlief der Transformations- und Modernisierungsprozess in der infrastrukturellen Entwicklung der Provinz Pommern noch rasanter als im Fall der Hebung des Schulwesens. Zwar war insbesondere die Stadt Stettin schon immer durch die Oder an das brandenburgisch-preußische Zentrum angebunden gewesen, jedoch befanden sich die über das Land führenden Fernverbindungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einem äußerst schlechten Zustand. Seit dem Bau der Stettin – Berliner Chaussee im Jahr 1823 erlebten der Stettiner Bezirk und die Provinz Pommern gegenüber den verkehrstechnisch besser ausgestatteten westlichen Gebieten Preußens dagegen eine bemerkenswerte, in letzter Konsequenz jedoch gescheiterte Aufholjagd. Unterbrochen von mehreren Abschnitten des Stillstands und der Verzögerung wuchs das pommersche Chausseenetz bis zur Jahrhundertwende auf 5.220 km und das Eisenbahnnetz auf 1.880 km Länge an. Dazu kam das bis 1900 rund 1.060 km umfassende Kleinbahnliniennetz. Mit dem Ausbau der pommerschen Verkehrsinfrastruktur wurden nicht nur die Grundlagen einer weiteren wirtschaftlichen Entwicklung der Provinz gelegt, sondern auch die pommersche Peripherie enger an das preußische Zentrum gebunden. Berlin rückte zuerst durch die Einrichtung der Schnellposten und dann durch die Eisenbahn näher. Von der zunehmenden infrastrukturellen Durchdringung der Provinz profitierte nicht nur die Verwaltung. Insbesondere der Bau der Stettin – Berliner Eisenbahn ermöglichte gemeinsam mit dem Zugang zur Ostsee den ökonomischen Boom Stettins. 367 Vgl. die Berichterstattung der OZ, 19.3.1862. 368 Vgl. APS, NPPP, Nr. 2072, Kaufmannschaft an Reg. St., Stettin 11.3.1864. 369 Vgl. APS, SPSz, Nr. 879, Vertrag zwischen dem Ingenieur Büsing u. dem Kreis Randow, Stettin 11.10.1878. Vgl. auch: Kemmann, passim. 370 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16048, Ztgsb. Mai, Juni u. Juli 1897 bzw. Ztgsb. Feb., März u. April 1898, Stettin 25.8.1897 bzw. 27.5.1898.

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Außer wirtschaftlichen Innovationen beförderten die Verkehrsverbindungen indes in den Augen traditioneller Eliten auch die Verbreitung unerwünschter mentaler, sozialer und politischer Neuerungen der Zeit. So ist durchaus zu konstatieren, dass die Revolution von 1848/49 über die Eisenbahn nach Pommern getragen wurde und sich eine Generation später die oppositionelle Sozialdemokratie über die neuen Verkehrswege verbreitete. Über Chaussee und Eisen­bahn gelangten die Nachrichten über das Weltgeschehen nunmehr schneller in die Peripherie; zugleich verhalfen Chaussee und Eisenbahn der pommerschen Bevölkerung zu mehr Mobilität. Diese schlug sich nicht zuletzt in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts auch darin nieder, dass ein immer größer werdender Teil der pommerschen Landbevölkerung die Eisenbahn als Mittel zum Verlassen seiner Heimatprovinz nutzte und auswanderte. Aber auch zur Integration Pommerns in den nationalen Kommunikationsraum des Deutschen Bundes und dann des Deutschen Reiches bildeten das Chaussee- und das Eisenbahnnetz neben der Telegraphie371 die infrastrukturelle Grundlage. Gerade hier wird die enge Verflechtung der verschiedenen Aspekte des Modernisierungsprozesses wie Technisierung, Industrialisierung, Mobilisierung, Schaffung eines nationalen Kommunikationsraums und selbst Demokratisierung deutlich. Die maßgeblichen Propagandisten des Ausbaus der pommerschen Infrastruktur sind in den städtischen Vertretern des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums sowie in den Magistraten zu suchen. Insbesondere die Stettiner Börsennachrichten warben seit ihrem Erscheinungsbeginn stetig für eine Erweiterung der provinziellen Verkehrsadern. Hierbei ist im Kontext der Eisenbahnplanungen des Vormärz auffallend, wie sehr die wirtschaftliche Argumentation mit Argumenten des liberalen Nation-building angereichert wurde. Zudem wandten sich die Redakteure immer wieder gegen die tatsächliche, teilweise aber auch nur scheinbar vorhandene Fortschrittsskepsis des ländlichen Milieus. Zuletzt wiesen die Börsennachrichten stets auf die relative Rückständigkeit Pommerns im innerpreußischen Vergleich hin. Außer der Zeitungspresse, den Kaufmannschaften und den Magistraten zeichneten sich die pommerschen Oberpräsidenten als entscheidende Förderer der größeren Infrastrukturprojekte aus. Beginnend mit Sack, der schon kurz nach seinem Amtsantritt mit aller Macht den Bau von Chausseen zu befördern suchte, nahmen die Oberpräsidenten ihre Rolle als Moderatoren der divergierenden lokalen Interessen wahr. Insbesondere Sack, aber auch von Bonin und von Senfft-Pilsach bemühten sich, die an finanziellen Eigenleistungen wenig interessierten lokalen Akteure zu einem gemeinsamen Engagement zu motivieren und über ihre nach Berlin reichenden Kommunikationskanäle dort eine Beförderung der Provinzinteressen durchzusetzen. Während die Bemühungen zur Bündelung gemeinsamer Interessen im Chausseebau im Fall Sacks durch die mangelnde Finanzierungsbereitschaft der Anteilseigner der Ritterschaft­ 371 Zum Zusammenhang von Telegraphie und Nationsbildung vgl. Wobring, passim.

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lichen Privatbank behindert wurden, hatten von Bonin und von Senfft-­Pilsach mit der Entscheidungsschwäche der pommerschen Stände zu kämpfen, kooperierend und »selbstthätig« ein pommersches Chausseenetz zu konzipieren. Dagegen konnte von Bonin 1839 die politischen Meinungsführer der Provinz für eine Unterstützung der Berlin – Stettiner Eisenbahn gewinnen. Bemerkenswert ist zudem das strategische Geschick, mit dem von Senfft-Pilsach 1856 die notwendigen Mehrheiten für die Ausführung der Hinterpommerschen Eisenbahn organisierte. Im Fall der an die Berliner Zentrale gerichteten Bittschreiben um zusätzliche staatliche Förderung sind die Frequenz, der bei allen drei genannten Oberpräsidenten auffallend harsche Tonfall und die Ähnlichkeit der Argumentation hervorzuheben. In Dutzenden von Eingaben beschwerten sich die betreffenden Oberpräsidenten über die schlechte infrastrukturelle Ausstattung der Provinz. Sack, seine Nachfolger und selbst noch der Oberpräsident von Münchhausen in den siebziger und achtziger Jahren beklagten sich immer wieder über die gegenüber den westlichen Provinzen zu konstatierende »Zurücksetzung« Pommerns. Hierbei betonten alle Oberpräsidenten den Widerspruch, dass gerade die treueste Provinz der Monarchie vernachlässigt werde. Von Senfft-Pilsach schreckte zudem nicht davor zurück, bei Friedrich Wilhelm  IV. persönlich vorstellig zu werden und dem Gewerbeminister von der Heydt vorzuwerfen, dass dieser nicht an der Entwicklung Pommerns interessiert sei. Der Einsatz der Oberpräsidenten zeigte durchaus Erfolge. Schon die Stettin –  Berliner Chaussee wurde ausschließlich aus Staatsfonds errichtet. Die Ausweitung des Chausseenetzes durch die Ritterschaftliche Privatbank in den dreißiger Jahren wurde ebenfalls mit erheblichen staatlichen Mitteln gestützt. Für die nächste Erweiterungsphase in den vierziger Jahren erhielten die Stände einen explizit für die Förderung des pommerschen Chausseebaus zugewiesenen Etat. Zudem konnte von Bonin eine Kosten senkende Qualitätsminderung für Pommern durchsetzen. Auch wenn von Senfft-Pilsach in seinem konfliktreichen Streiten mit dem Gewerbeminister von der Heydt wohl mehrfach kurz davor war, den Bogen zu überspannen, verschaffte er der Provinz zumeist die potentiell größtmögliche Summe zusätzlicher Staatsprämien. Zuletzt flossen erheb­ liche staatliche Mittel in den Bau der Hinterpommerschen und der Vorpommerschen Eisenbahn. Anders als im Fall der Hebung des Schulwesens lässt sich durchaus eine pommernspezifische Infrastrukturpolitik der Berliner Zentrale nachweisen. Diese war zwar zum Bedauern der pommerschen Akteure bis in die zwanziger Jahre durch eine Haltung geprägt, die Pommern zugunsten der westlichen Provinzen jegliche staatliche Förderung verweigerte, jedoch profitierte die Provinz seit den dreißiger Jahren von besonderen pommernspezifischen Strukturförderungsmaßnahmen, die zusätzlich zu den allgemeinen Hilfen für die östlichen Provinzen gewährt wurden. Grenzen dieser von der Berliner Zentrale durchgeführten Förderung ergaben sich freilich dann, wenn, wie im Fall der Ostbahn, militärische und offensichtliche ökonomische Interessen des Gesamtstaats einer außer212 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

ordentlichen Förderung der Provinz widersprachen. Da weiterhin die zusätzlichen Staatsmittel immer als Hilfe zur Selbsthilfe konzipiert wurden, war die Abrufung der Mittel von dem Eigenanteil der zögerlichen pommerschen Akteure abhängig. Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass sich auch die bemerkenswerte Solidarisierung Friedrich Wilhelms IV. (abgesehen vom Fall der Hinterpommerschen Eisenbahn) größtenteils doch nur in rhetorischen Eingriffen in die Politik des Handels- und Gewerbeministeriums erschöpfte, was im Übrigen auch die Grenzen königlicher Macht im preußischen Regierungssystem der Reaktionszeit aufzeigt. Während anders als beim Schulwesen die Stettiner Regierung als eigener Akteur unerheblich erscheint, ist auf Seiten der Verwaltung bei der infrastrukturellen Entwicklung der Provinz den Landräten ein erheblicher Anteil zu­ zuschreiben. Angesichts der zunehmenden Bedeutung des Eigenanteils lokaler Akteure fiel diesen spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und dann nach der Reform der Kreis- und Provinzialordnung in den siebziger Jahren die moderierende Rolle zu, die anfangs noch die Oberpräsidenten zu übernehmen hatten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Zahl der gebauten Chausseekilometer zu einem der maßgeblichen Indikatoren des Verwaltungserfolges eines Landrats. Gleiches gilt für den Sekundär- und Kleinbahnbau seit den achtziger Jahren. Dass der Landrat bei den Eisenbahnplanungen als Moderator und Meinungsführer örtlicher Interessen eine gewichtige Rolle spielte, zeigt sich in der Teilnahme diverser Landräte an den offiziellen, aber auch an den informellen Bemühungen von Bonins und von Senfft-Pilsachs um den Bau der Berlin – Stettiner bzw. der Hinterpommerschen Eisenbahn. Insbesondere der aufgezeigte Aktivismus des Greifenberger Landrats von der Marwitz und des Naugarder Landrats von Bismarck demonstrieren eindrucksvoll, mit welchem Engagement örtliche (und persönliche!) Interessen vertreten wurden. Zugleich weist die Niederlage der beiden Landräte in der Diskussion um die Streckenführung der Hinterpommerschen Eisenbahn auf die Grenzen des politischen Einflusses zweier prominenter Landräte gegenüber den pragmatischen Erwägungen der anderen pommerschen Akteure inklusive des Oberpräsidenten hin. Bei der Bewertung der lokalen Akteure ist deutlich zwischen dem städtischen Engagement, dem der Gutsbesitzer und dem der einfachen Landbevölkerung zu unterscheiden. In den Selbstverwaltungsorganen der Provinz setzten sich in den zwanziger und dreißiger Jahren als erste die städtischen Vertreter für den Ausbau der pommerschen Infrastruktur ein. Grundsätzlich zeigten sich somit die Magistrate sowie der politisch aktive Teil der Stadtbevölkerung an den infrastrukturellen Neuerungen der Zeit interessiert. Lediglich die divergierenden Streckenplanungen der verschiedenen Städte unterbanden teilweise bis in die siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein die schnelle Ausführung neuer Verkehrsrouten. Da unterhalb der pommerschen Großstadt Stettin eine Vielzahl von hinsichtlich Bevölkerungszahl und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit mehr oder weniger gleichberechtigten Kleinstädten existierte, erschwerte dieses 213 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

Strukturmerkmal der Provinz in den dreißiger und vierziger Jahren eine rationale Netzkonzeption. Die Gruppe der Gutsbesitzer zeigte sich zwar ebenfalls mehrheitlich an neuen Verkehrsverbindungen interessiert, jedoch ergab sich hier wie bei den Städten das Problem, dass man sich – mit Ausnahme des Engagements der in der ­Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft vereinten Akteure  – fast immer vor dem Kreis- oder Provinzinteresse zuerst am eigenen Wohlergehen orientierte. Das hatte aber ebenfalls zur Folge, dass eine frühzeitig in Gang kommende rationale Streckenplanung in den Ausschüssen der Selbstverwaltungsgremien unterbunden wurde. Der Ende der fünfziger Jahre einsetzende Boom von Nichtstaatschausseen, die auf Kosten der Kreise und gefördert durch Provinzialprämien sowie extraordinäre Staatshilfen errichtet wurden, resultierte auch aus der Erfahrung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der die Berliner Zentrale teilweise unter der Androhung der Rücknahme der Staatsfonds immer wieder auf die Notwendigkeit von in Kooperation vorgetragenen Eigen­ initiativen der Provinz verwiesen hatte. Gleiches gilt für den in den achtziger Jahren einsetzenden Sekundär- und Kleinbahnenbau, bei dem die bereits in den Jahren zuvor ausprobierten Finanzierungsmodelle der lokalen Akteure erfolgreich ausgebaut wurden. Die veränderten Machtverhältnisse in den Kreistagen und im neu gebildeten Provinziallandtag nach den Reformen von 1872 und 1875, die den Einfluss der Rittergutsbesitzer einschränkten, begünstigten zudem Wege der Kompromissfindung zwischen den divergierenden örtlichen Interessen. Ist an den vielfältigen Problemen beim Ausbau der pommerschen Infrastruktur eine modernisierungsskeptische Mentalität feststellbar? Diese wurde immerhin in der liberalen Publizistik wie etwa in den Börsennachrichten häufig genug angeführt. Modernisierungsskeptisch zeigten sich viele Gutsbesitzer und auch in Teilen die Magistrate darin, dass sie die Zeichen der Zeit zu spät erkannten und ihre partikularen Interessen nicht zugunsten einer frühzeitigeren, in Kooperation vollzogenen infrastrukturellen Entwicklung der Provinz auf­ gaben. Das Handels- und Gewerbeministerium konstatierte in Pommern gegenüber den westlichen Provinzen stets einen grundsätzlichen Mangel an Unternehmertum und Innovationsbereitschaft. Statt den Ausbau der Infrastruktur selbstständig voranzutreiben, sei in Pommern bis in die fünfziger Jahre hinein die Auffassung vertreten worden, dass das Aufgabe des Staates sei. Der tatsächlich belegbare Gehalt dieser Beobachtung resultierte freilich nicht nur aus einer unmodernen, innovationsfeindlichen Mentalität der pommerschen Akteure, stattdessen waren für diese zögerliche Entwicklungsbereitschaft vor allem auch die mangelnden finanziellen Ressourcen der dünn besiedelten Provinz verantwortlich. Die finanzielle Belastung bildete auch das Hauptmotiv der einfachen Landbevölkerung für ihre Ablehnung eines weiteren Ausbaus der pommerschen Infrastruktur. Die Chausseegelder waren in den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren immer diejenigen Abgaben, die von der einfachen Landbevölkerung 214 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

am widerwilligsten entrichtet wurden. 1848/49 stockte die Erhebung dieser Gelder in weiten Teilen der Provinz wie auch in anderen Gebieten Preußens. Und gerade beim lokalen Wegebau, der wesentlich von den Anliegern geschultert werden musste, verweigerten sich verarmte Dorfgemeinschaften oft den Anordnungen der Verwaltung. Immer wieder waren zudem Chausseen und Eisenbahnen einem zumeist jugendlichen Vandalismus ausgeliefert. Zugleich markieren jedoch gerade die Jahre 1847 bis 1850 die Schwelle, bei der die Bedeutung der Verkehrsinfrastrukturen auch erstmals von der einfachen Bevölkerung anerkannt wurde. Überwogen in diesem Zusammenhang anfangs konkret die Forderungen, Infrastrukturprojekte als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zu initiieren, finden sich nach 1850 unter den verkehrspolitischen Petitionen immer häufiger die Namen einfacher Städter und auch Landbewohner. Die infrastrukturelle Modernisierung Pommerns stellte sich in vieler Hinsicht wieder als eine partielle dar. Trotz der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten provinzeigenen Finanzierungsmodelle und der zusätz­ lichen staatlichen Förderung konnte Pommern den infrastrukturellen Abstand zu den westlichen Provinzen Preußens nur zu einem geringen Maß aufholen. Sowohl bei der Chaussee- als auch der Eisenbahndichte blieben Pommern und der Stettiner Regierungsbezirk auf den hintersten Plätzen der Monarchie. Diese Rückständigkeit wurde von den pommerschen wie auch von den Berliner Akteuren wahrgenommen und thematisiert. Während die pommerschen Akteure dieses Faktum als argumentative Grundlage für ihre nach Berlin gerichteten Bittbriefe verwendeten, wiesen das Handels- und Gewerbeministerium sowie die liberale Publizistik darauf hin, dass diese Rückständigkeit auch selbstverschuldet sei. Lediglich beim Kleinbahnbau zeigte die Provinz eine erstaunliche Leistungsbereitschaft, die dazu beitrug, dass Pommern bis zur Jahrhundertwende das längste und dichteste Kleinbahnnetz aller preußischen Provinzen aufwies. Indes ist auch dieser Entwicklungserfolg in seinen Folgen ambivalent zu betrachten. Zwar hatten sich die großen Güter mittels des Kleinbahnnetzes erfolgreich modernisiert, doch bürdete sich der Provinzialverband hierfür einerseits erhebliche Schulden auf, andererseits wurden die für Ostelbien typischen landwirtschaftlichen Strukturen konserviert. Die Modernisierung der Landwirtschaft wurde dementsprechend auch auf Kosten einer Industrialisierung durchgeführt.372 Inwieweit die durchaus vorhandenen pommerschen Gelder373 freilich zu diesem Zeitpunkt für andere Entwicklungsprojekte hätten ausgegeben werden können, bleibt mangels plausibler zeitgenössischer Alternativen spekulativ. Problematischer für die Entwicklung der Provinz war in jedem Fall, dass die intelligenten Finanzierungsmodelle, die man beim späten Chaussee- und Klein372 Vgl. Kiesewetter, Industrialisierung u. ausgebliebene Industrialisierung, S. 246. 373 Ebd., S. 242. Kiesewetter führt hier bezogen auf das Ende des 19. u. beginnende 20. Jhdt. aus, dass »die [pom.] Verschuldung nicht so hoch gewesen zu sein [schien], dass sie nötige Investitionen verhindert hätte.«

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bahnbau anwandte, viel zu spät und nicht konsequent genug initiiert wurden. Bei einer größeren Finanzierungsbereitschaft der lokalen Akteure am Vorabend der Industriellen Revolution in den dreißiger und vierziger Jahren wäre der Provinz dagegen sicherlich eine günstigere Ausgangslage verschafft worden, welche die Standortnachteile der meisten Gebiete Pommerns möglicherweise nivelliert hätte. Somit konnte im Prinzip nur das gut über die Oder und die Ostsee (bzw. das Haff) sowie schließlich über die Chaussee und die Eisenbahn angebundene Stettin bei der industriellen Entwicklung Preußens an vorderer Stelle Schritt halten. Der infrastrukturelle Modernisierungsprozess Pommerns ist deshalb auch in dem Sinne ein partieller, weil er wie im Bereich der Hebung des Schulwesens von erheblichen Disparitäten innerhalb der Provinz geprägt war. Während Stettin seit 1823 mit einer Chaussee-, seit 1843 mit einer Eisenbahn- und seit 1849 mit einer Telegraphenverbindung näher an Berlin rückte und bei der sukzes­ siven Ausbildung der jeweiligen pommerschen Kommunikationsnetze stets den Mittelpunkt bildete, konnten weite Teile der Provinz lange Zeit noch nicht von diesen kommunikationstechnischen Neuerungen profitieren. Viele der pommerschen Kleinstädte wurden erst in den vierziger Jahren mit einer Chaussee verbunden, ein halbwegs geschlossenes Netz war erst in den achtziger Jahren vorhanden. Und im Fall der Eisenbahnverbindungen konnten im Regierungsbezirk Stettin selbst Kreishauptstädte wie Cammin und Regenwalde nicht vor den neunziger Jahren mit einem Bahnanschluss versorgt werden. Es ist nicht überraschend, dass gerade diese von der weiten Welt zwar nicht abgeschnittenen, jedoch verhältnismäßig schwer zu erreichenden Orte nur in Ansätzen an der industriellen bzw. gewerblichen und auch gesellschaftlich-politischen Entwicklung des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts teilnahmen. Zuletzt zeichnet sich die infrastrukturelle Entwicklung Pommerns auch durch Elemente einer defensiven Modernisierung aus. Dieser Zusammenhang ergibt sich nicht zuletzt dadurch, dass zwischen 1852 und 1866 der ultrakonservative Oberpräsident von Senfft-Pilsach einen der wichtigsten Modernisierer der pommerschen Verkehrsinfrastrukturen darstellte. Eine explizit defensive Motivation äußert sich zudem im Kontext der seit 1847 diskutierten Infrastrukturprojekte. Seitdem spielte das Argument der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Neutralisierung des Aufruhrpotentials verarmter Schichten immer eine wesentliche Rolle. Die staatlicherseits eingeführten restriktiven Bestimmungen sowohl gegenüber den Chaussee- und Eisenbahnarbeitern als auch später beim Betriebspersonal waren ebenfalls von dem Motiv geprägt, oppositionelles Gedankengut zu bekämpfen. Implizit zeigen sich Elemente einer defensiven Modernisierungsstrategie jedoch in den vielfältigen Zugeständnissen an das agrarische Milieu der Gutsbesitzer. Insbesondere die Streckenplanungen des Kreischausseebaus und der späteren Kleinbahnen förderten in der Regel die größeren Güter und stabilisierten damit die Machtbasis des agrarisch-konservativen Milieus. Außerdem wird sowohl bei den Akteuren der pommerschen Verwaltung als auch in geringerem Maß bei den Akteuren der Berliner Zentrale 216 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

das Motiv deutlich, gezielt das konservative, aber eben auch rückständige Pommern gegenüber den wirtschaftlich entwickelten, politisch jedoch zunehmend oppositionell gesinnten westlichen Provinzen zu unterstützen. Die Argumentation, dass die »treueste Provinz« einer besonderen Förderung verdiene, wurde von Sack und seinen Nachfolgern stets wiederholt. Zwar zeitigten diese Bittbriefe seit den dreißiger Jahren durchaus Erfolge, die Strukturpolitik der Berliner Zentrale wurde deshalb jedoch keineswegs auf eine einseitige Förderung Pommerns und anderer konservativer Hochburgen Ostelbiens ausgerichtet. Das offensichtlich insbesondere in den vierziger Jahren in der öffentlichen Meinung aufkommende Gefühl, dass Pommern, gerade weil es der Monarchie so treu gegenüber stehe, benachteiligt werde, ist freilich ebenfalls von der Hand zu weisen. Allerdings belegt diese Befürchtung den zeit­ genössischen Unmut über die relative Rückständigkeit Pommerns gegenüber den als Vergleichsmaßstab genommenen westlichen Provinzen.

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3. Die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen

3.1 Die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 Wird die Zivilgesellschaft in der Mitte des Dreiecks Staat, Markt und Privatsphäre verortet, dürfte insbesondere der Staat in diesem Kapitel eigentlich keine überragende Rolle spielen.1 Gleichwohl ist der Begriff der Zivilgesellschaft nicht als Gegenbegriff zum Staat zu sehen.2 Zum einen haben zivilgesellschaftliche Akteure grundsätzlich ein Interesse daran, in den staatlichen Raum hineinzuwirken (hieraus resultiert der Sonderfall der Parteien), zum anderen sind die zivilgesellschaftlichen Ausdrucksformen massiv von der staatlichen Reglementierung abhängig (Presse- und Vereinsrecht). Zudem ist darauf hinzuweisen, dass sich der Staat auch in vordemokratischer Zeit häufig bemüht hat, auf zivilgesellschaftliche Phänomene zu reagieren und sich entsprechende Ausdrucksformen nutzbar zu machen. Mit der Entstehung einer durch die Presse artikulierten politischen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert schuf sich der preußische Staat etwa durch die so genannten Intelligenzblätter eine administrativ gestaltete, gesteuerte Öffentlichkeit.3 In der Reformzeit bemühten sich Stein, Hardenberg und andere Reformer gerade zur Durchsetzung zentralstaatlicher Macht der Weckung (zivil)gesellschaftlichen und darüber hinaus staatsbürgerlichen Engagements.4 Und als im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Bedeutung der Presse und der Vereine trotz fortgesetzter staatlicher Reglementierung weiter wuchs, konzentrierte sich die Verwaltung darauf, Einfluss auf das be­stehende Presse- und Vereinswesen zu nehmen. Der Reiz der Untersuchung des Presse- und Assoziationswesen als Wesenselemente zivilgesellschaftlicher Ansätze liegt also nicht nur darin, ein Feld zu bearbeiten, bei dem grundsätzlich Impulse »von unten« zu erwarten sind, sondern auch in der Analyse der »von oben« ausgeführten Initiativen, bereits existierende Strukturen zu infiltrieren und unter staatliche Kontrolle zu bringen oder sogar selbst »zivil«gesellschaftliches Engagement ins Leben zu rufen. 1 Vgl. Gosewinkel u. Rucht, S. 29. 2 Vgl. Kocka, Zivilgesellschaft als historisches Problem u. Versprechen, S. 25. 3 Vgl. Böning, S. 207. 4 Vgl. zur Reformpolitik Hardenbergs etwa Nolte, S. 32–39. Auf die Bedeutung des Konzeptes der »Staatsbürgerschaft« während der Zeit der preuß. Reformen weist auch Breuilly, S. 40 hin. Dittmer, S. 64–76 fasst die Bemühungen Hardenbergs zusammen, das »Öffentlichkeitsprinzip von oben« durchzusetzen.

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3.1.1 Die Ausgangslage Folgt man Jürgen Kocka, wurde das zivilgesellschaftliche Konzept erstmals Ende des 18.  Jahrhunderts in den Lesegesellschaften, Vereinen und Assozia­ tionen eines elitären bürgerlich- bzw. bürgerlich-adligen Milieus formuliert.5 Seine eigentliche Ausprägung erhielt es freilich erst im 19.  und 20.  Jahrhundert.6 Ähnliches gilt für die Etablierung einer politischen Öffentlichkeit, deren Wurzeln Jürgen Habermas in England bis zur Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zurückverfolgt, jedoch in den deutschen Staaten nicht vor dem Ende des 18. Jahrhunderts Blüten treiben sieht.7 Auch hier stellt die wachsende Zahl von Lesegesellschaften und Vereinen sowie das gedeihende Zeitschriftenwesen das Kriterium dar, eine einschneidende Zäsur zu setzen. In Preußen ist ebenfalls im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine Gründungswelle von Zeitschriften, Zeitungen und Lesegesellschaften zu beobachten. Sowohl bei der Etablierung von Lesegesellschaften8 als auch in der Entwicklung des Pressewesens stellten Berlin und Königsberg die beiden preußischen Zentren dar.9 Die Gründung von Zeitungen und Lesegesellschaften blieb jedoch nicht nur ein Phänomen dieser Großstädte. In Stettin ist bereits 1633 eine Zeitungsgründung nachzuweisen.10 Nachdem die Stadt 1720 preußisch geworden war, erschien hier 1727 ein erstes Intelligenzblatt. Aus der 1655 gegründeten Europäischen Zeitung wurde 1709 die Stettinische Ordinaire Post-Zeitung und 1755 die bis 1860 erscheinende Königliche Privilegirte Stettinische Zeitung.11 Nicht anders als die Königlich Privilegirte Berlinische Zeitung (die so genannte Vossische Zeitung) in Berlin bot die Stettinische Zeitung keinen Platz für freies Räsonnement. Aufgrund der Zensur reduzierte sich der Inhalt auf kurze Nachrichten aus dem In- und Ausland, Kuriosa, »gelehrte Sachen« und amtliche Bekanntmachungen. Lokales fand sich dagegen kaum oder höchstens in der aufkommenden Theaterkritik.12 Noch weniger als die ersten Zeitungen waren die Intelligenzblätter dazu in der Lage, eine politische Öffentlichkeit herzustellen. Sie dienten dazu, private wie staatliche Anzeigen abzudrucken. Zwar gab es im 18. Jahrhundert Bemühungen, die preußischen Intelligenzblätter etwa über die zwangsweise Mitarbeit von Professoren als Mittel der Belehrung des »gemeinen Mannes« zu nutzen, im Gegensatz zu vielen außerpreußischen Projekten scheint das jedoch nur eingeschränkt erfolgreich gewesen zu sein. Immerhin zeigen die

5 Vgl. Kocka, Zivilgesellschaft, S. 13. 6 Vgl. Nord, S. XVI–XVIII. 7 Vgl. Habermas, S. 76 u. S. 93. 8 Vgl. Puschner, S. 205. 9 Vgl. Lindemann, S. 157–162 u. S. 167–169. 10 Vgl. Ost, S. 230. 11 Vgl. Cnotka, S. 23 u. Wehrmann, Zeitungen u. Zeitschriften, S. 68 f. 12 Vgl. für die Berliner Presse Koszyk, S. 14 f. u. für die Stettiner Presse Wehrmann, Stettin, S. 405.

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Auflagenzahlen bis zur Wende vom 17.  zum 18.  Jahrhundert, dass die Intel­ ligenzblätter eine weit über den Kreis der zwangsweise Verpflichteten hinaus­ gehende Zahl an Abonnenten erreichen konnten.13 Politische Öffentlichkeit etablierte sich Ende des 18.  Jahrhunderts weniger durch das Zeitungswesen als durch die Vielzahl neu entstehender, meist kurzlebiger Zeitschriftenprojekte.14 Martin Wehrmann zählt in seiner Geschichte Stettins für das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts rund ein halbes Dutzend gelehrter, aufklärerischer Titel auf, die durchaus schon auf politische Vorgänge Bezug nahmen. Hervorzuheben sind etwa der Stettiner Schauplatz der Vernunft und des Geschmacks (1777 bis 1778), das Pommersche Archiv der Wissenschaften und des Geschmacks (1783), Die Wahrheit (1791), die Pommersche Pallas (1799 bis 1800) und die Eurynome (1806).15 Eine erste Pflanzstätte zivilgesellschaftlichen Engagements bildete zudem die schon 1752 erfolgte Gründung einer S­ tettiner Zeitungsgesellschaft.16 Für das Gebiet des späteren Stettiner Bezirks muss jedoch konstatiert werden, dass sich diese Initiativen fast ausschließlich auf Stettin beschränkten. Lediglich in Stargard ist noch für die Jahrgänge 1771/72 ein weiteres Zeitungsprojekt nachzuweisen. Sonst bildeten neben Stettin nur die schwedisch-vorpommersche Universitätsstadt Greifswald sowie die Festungs- und Handelsstadt Stralsund weitere publizistische und gesellschaft­liche Zentren der Region. In den übrigen pommerschen Landstädten sind zivilgesellschaftliche Ansätze des 18. Jahrhunderts demnach lediglich eingeschränkt in den städtischen Zünften und ständischen Korporationen zu suchen. 3.1.2 Reformansätze bis zur Neuordnung Pommerns und Preußens um 1815 Das Bild vom schlichten, dickköpfigen und wenig gerissenen Pommern, das bereits Friedrich II. in seinen politischen Testamenten von 1752 und 1768 aufgeworfen hatte,17 kam der Verwaltung so lange gelegen, wie es keiner staatsbürger­ lichen Gesinnung bedurfte, um die Existenz der preußischen Monarchie zu gewährleisten. Spätestens nach der preußischen Doppelniederlage bei Jena und Auerstedt 1806 waren indes nicht nur vereinzelte private Publizisten, sondern auch die Reformer der preußischen Verwaltung an der Weckung eines staatsbürgerlichen Engagements interessiert, was wiederum auch ein Mehr an zivilgesellschaftlicher Aktivität erforderte.

13 Vgl. ausführlich Böning, S. 216–232. 14 Vgl. Habermas, S. 93. 15 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 405. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. Volz, S. 32 u. S. 188.

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Es muss an dieser Stelle nicht in aller Breite auf die preußischen Reformen nach 1806 eingegangen werden.18 Entscheidend ist, dass die Reformbemühungen zweifellos Folgen für die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Preußen hatten. Mit der Abschaffung des Zunftwesens durch die Gewerbe­ freiheit wurden die Zwangskorporationen abgeschafft. Dieses beförderte im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts die Gründung freiwilliger Assoziationen. Juden konnten nun mit dem Erlass des Emanzipationsedikts zumindest in Ansätzen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Gleiches galt theoretisch für die im Zuge der Agrarreformen »befreiten« Bauern. Vor allem schuf aber die Steinsche Städtereform ein Modell gesellschaftlicher Selbstorganisation, durch die das Prinzip der eigenverantwortlichen Mitbestimmung in der preußischen Gesellschaft verankert wurde. Und auch die Bildungsreformen Humboldts hatten im Kern einen freiheitsstiftenden Sinn, der auf selbstständiges Denken und Selbsttätigkeit abzielte. Wenn auch die Zeit der preußischen Reformen aufgrund der Kriegs- und Finanz­not auf das Zeitungswesen eine die Gesamtauflagenhöhe mindernde Auswirkung hatte, erlebte die politische Publizistik zwischen 1806 und 1815 einen erheblichen Aufschwung. Zwischen 1806 und 1819 wurden im deutschsprachigen Raum ca. 19 historisch-politische Blätter gegründet, zwischen 1813 und 1815 folgten weitere 20.19 Begünstigt wurde diese Entwicklung durch eine allgemein zunehmende patriotisch-nationale Begeisterung, die sich zwischen 1813 und 1815 auch in konkreter staatlicher Förderung und einer Lockerung der Zensur ausdrückte.20 Die 1815 in Artikel 18 (2) der Bundesakte in Aussicht gestellte »Preßfreiheit« weckte weitergehende Hoffnungen auf eine Libera­lisierung des Pressewesens. In Stettin erschien 1808 kurzzeitig eine Stettiner Sonntagszeitung, die sich mit Artikeln über Martin Luther, Friedrich II. und »Hermann den Befreier« national gab.21 Infolge des Inkrafttretens der preußischen Städteordnung wurde mit der im März 1809 stattfindenden Wahl der Stettiner Stadtverordnetenversammlung die bürgerliche Selbstverwaltung neu begründet. Dabei waren immerhin 1.295 Männer der 18.375 Personen umfassenden Stadtbevölkerung wahlberechtigt. Wie in den anderen altpreußischen Landstädten wurde die Umsetzung der Städteordnung allerdings auch in Pommern blockiert.22 Auf Anregung des alten Anklamer Magistrats hatte Stettin noch im Frühjahr 1809 erfolglos gegen ihre 18 Vgl. zu den preuß. Reformen allg. die Sammelbände von Sösemann, Gemeingeist u. Bürgersinn, passim, Vogel, Preußische Reformen, passim, dies., Reformpolitik in Preußen, passim u. Nolte, passim. Siehe auch die kompakte Darstellung bei Nipperdey, Bürgerwelt u. starker Staat, S.  33–69. Speziell zur Gewerbefreiheit Vogel, Die »allgemeine Gewerbefreiheit« als bürokratische Modernisierungsstrategie, S. 59–78 u. dies., Allgemeine Gewerbefreiheit, passim. 19 Vgl. Max, S. 278–285. 20 Vgl. Hagemann, S. 287 u. S. 291. 21 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 424. 22 Vgl. Mieck, Städtereform, S. 71–73.

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Einführung protestiert. Auf dem Gebiet des späteren Regierungsbezirks wurde Kritik ebenfalls von den Magistraten Stargards, Gollnows, Neuwarps und Greifenhagens geäußert. Aufgrund mangelnder Befähigung örtlicher Amtmänner mussten die Stadtverordnetenwahlen in Kleinstädten wie Pölitz, Treptow a. d. Tollense, Plathe, Usedom, Fiddichow oder Cammin von staatlichen Kommissaren geleitet werden. In Naugard, Jarmen, Greifenhagen, Bahn, Daber, ­Gollnow und Treptow a.d. Rega wurden diese wegen Unregelmäßigkeiten wiederholt. Das geschah in Naugard mindestens drei Mal. Im Oktober 1809 waren von den 53 pommerschen Städten immer noch 22 nach der alten Städteordnung organisiert. In Swinemünde, Regenwalde, Massow und Ueckermünde hatte sich bis dahin der alte Magistrat durchsetzen können.23 Die zum Teil  erheblichen Widerstände resultierten nicht nur aus der Un­ zufriedenheit der alten Magistrate über ihren drohenden Machtverlust, sondern auch aus dem häufigen Unwillen der Bürgerschaft, den neuen fest besoldeten städtischen Beamten entsprechende Gehälter zu bewilligen. Dazu kam, dass die Regierung in Stargard die Umsetzung der Reform nur ungenügend unterstützte und sich skeptisch gegenüber den weitreichenden Kompetenzen der Magistrate und Stadtverordneten äußerte.24 Letztlich verzögerte sich die Einführung der neuen Städteordnung bis 1811.25 Immerhin schien das Reformprojekt, »Bürgergeist und Gemeinsinn« zu wecken, in den Befreiungskriegen gegen die napoleonische Herrschaft nach 1813 die gewünschten Früchte getragen zu haben. Im März 1814 rühmte sich die ­Stettiner Regierung etwa, dass nach den letzten Rekrutierungen »wenigstens jeder 12te Einwohner der Provinz Soldat« sei. Darunter befand sich die hohe Zahl von 15.000 Landwehrmännern.26 Und auch bei der Aufstellung eines Freiwilligen Corps im März 1815 folgten über 430 Stettiner Bürger dem Ruf zu den Waffen.27 Es ist bemerkenswert, dass die pommersche Provinzialverwaltung unter dem Oberpräsidenten Sack in den ersten Jahren nach 1815 der maßgebliche Initiator bei der Gründung neuer Assoziationen und bei der Herstellung einer provin­ zialen Öffentlichkeit war. Das 1811 ins Leben gerufene Amtsblatt der Regierung wurde 1817 um einen Öffentlichen Anzeiger erweitert. Das Amtsblatt nahm damit die bisherigen Funktionen des noch bis 1849 weiterexistierenden Stettiner Intelligenzblatts auf. Außer den amtlichen Bekanntmachungen enthielten die bald auch auf Kreisebene erscheinenden Amtsblätter statistische Nachrichten aus dem Verwaltungsbezirk. Dazu kamen belehrende Artikel, die besonders in Krisenzeiten konkrete Hilfestellungen für die örtliche Bevölkerung leisten soll23 Vgl. Eggert, Städteordnung, S. 7–9. 24 GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16008, Ztgsb. Feb. 1810, Stargard 11.3.1810. 25 Vgl. Eggert, Städteordnung, S. 9 f. 26 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16012, Ztgsb. März 1814, Stettin 2.4.1814. 27 Vgl. GStAPK, I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkab. j. P., Nr. 16014, Ztgsb. April 1815, Stettin 3.5.1815.

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ten.28 Mit der 1820 erfolgten Gründung der Pommerschen Provinzialblätter für Stadt und Land bezweckte Sack, genauso wie mit der Bildung der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde, die Konstruktion einer regionalen, jedoch propreußischen kollektiven Identität Pommerns.29 Gleiches galt für das Engagement Sacks im niederen Bildungswesen. Dabei blieb der Versuch des Oberpräsidenten, frühzeitig eine Assoziation zur Förderung des Volksschulwesens zu gründen, in den Anfängen stecken.30 Anders ging Sack bei der Organisierung der Stettiner Kaufleute vor. Eigentlich dem Geist der Gewerbefreiheit widersprechend, verordnete der Oberpräsident 1821 die Bildung einer Zwangskorporation der örtlichen Kaufmannschaft. Aber auch hier stand das Ziel, den Gemeinsinn der Kaufleute zu stärken, im Vordergrund. 1822 waren bereits 226 Personen als Mitglieder eingeschrieben. Dass aus der zwangsorganisierten Kaufmannschaft zivilgesellschaftliche Impulse entstanden, zeigte sich in den nächsten Jahren nicht nur in der 1836 aus dem Kreis der Kaufleute erfolgten Gründung der so genannten Abendgesellschaft,31 sondern auch in der sich bereits im Vormärz entwickelnden Verzahnung der Kaufmannschaft mit den Trägern des Stettiner Liberalismus.32 An anderen Vereinsgründungen wie der für die weitere Entwicklung der Landwirtschaft wichtigen Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft (1810) und der Pommerschen Bibelgesellschaft (1816)33 nahmen ebenfalls Beamte der Provinzialverwaltung erheblichen Anteil. Die große Bedeutung von zivilgesellschaftlichen Akteuren in den zwan­ziger Jahren, die aus dem provinzialen Beamtenapparat stammten, resultierte dabei nicht nur aus einem generell geringen Interesse der gewöhnlichen pommerschen Einwohner an derartigen Unternehmungen. Stattdessen ging die preußische Verwaltung auch in den anderen Provinzen mit ähnlichen Methoden des reformerischen Erziehungsstaates vor.34 Wie auch in den anderen Gebieten des Deutschen Bundes blockierte die 1819 einsetzende Demagogenverfolgung ein Aufblühen des zivilgesellschaftlichen Engagements. Die bei den Karlsbader Beschlüssen festgelegte Zwanzigbogenzensur, die Konkretisierung im preußischen Zensuredikt vom 18. Oktober 1819 inklusive der Errichtung des OberZensur-Kollegiums in Berlin und die 1822/25 eingeführte Stempelgebühr sowie schließlich die in Kraft bleibenden Bestimmungen gegen die Majestätsbeleidigung und die »Erregung von Mißvergnügen gegen die Regierung« (ALR 20. Titel, 4. Theil §§ 151–156 und §§ 196–209) unterbanden in ganz Preußen verlege-

28 Vgl. etwa die Artikel u. amtlichen Bekanntmachungen zur Verwendung von frostgeschädigten Kartoffeln im Amtsbl. Stettin, Nr. 9, 2.3.1838, S. 51 u., Nr. 45, 9.11.1838, S. 263. 29 Vgl. Inachin, Nationalstaat, S. 106–109. 30 Vgl. zum offensichtlich fehlgeschlagenen Vorgang APS, NPPP, Nr. 3654, passim. 31 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 451 f. 32 Vgl. Stępiński, Auf dem Weg zur Moderne, S. 230 f. sowie ausführlich ders., Stowarzyszenia liberalne i demokratyczne, S. 258 f. 33 Vgl. Heyden, Kirchengeschichte Pommerns, S. 178. 34 Vgl. Nipperdey, Verein als soziale Struktur, S. 32–34.

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risches Unternehmertum.35 Im Stettiner Bezirk gestaltete sich das nicht anders. Mit Ausnahme des Stargarder Wochenblatts (1823) und des Anklamer Wochenblatts (1829) kam es deshalb erst in den dreißiger und vierziger Jahren zu weiteren nennenswerten Zeitungsgründungen.36 Ähnliches galt für das erst vorsichtig in Gang kommende Vereinswesen. Nach dem Verbot politischer Vereine von 1816 und den Karlsbader Beschlüssen von 1819 wurde der Spielraum assoziativer Aktivitäten in Preußen nochmals ohne größere Widerstände massiv eingeschränkt.37 Analysiert man das Vereinswesen einer pommerschen Beispielstadt wie Stargard, ist festzustellen, dass sich das städtische Bürgertum in den zwanziger Jahren außer in den bereits erwähnten lokalen Filialen der Pommerschen Bibelgesellschaft in den folkloristisch anmutenden Schützengilden oder sozial-moralischen Assoziationen wie Aussteuer- und Mäßigkeitsvereinen versammelte.38 Eine organisierte politische Opposition trat weder in der Presse noch in den wenigen legalen Vereinen auf. Zwischen 1822 und 1838 wurden in ganz Pommern lediglich zwischen 70 und 80 Personen wegen »demagogischer Umtriebe« überwacht, wobei burschenschaftliche Aktivitäten überschaubar blieben.39 Auch die Zeitungsberichte der Regierung hoben kontinuierlich hervor, dass, wenn auch einige Einwohner des preußischen Staates in Opposition zum Königshaus stünden, sich Pommern hierunter nicht befänden und die Provinz einen »nie zu stürzenden Grundpfeiler« der Monarchie bilde.40

3.2 Die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Preußen und Pommern im 19. Jahrhundert Im Versuch, die rund 300 Jahre umfassende Geschichte des modernen Assozia­ tionswesens zu ordnen, hat die Forschung eine sich an wirtschafts- und soziostrukturellen Merkmalen orientierende Gliederung entwickelt. Unterschieden wird eine sich vom 18.  bis zur Mitte des 19.  Jahrhunderts erstreckende vorindustrielle Phase, in welcher der Organisationstypus der Lesegesellschaften, patriotischen Gesellschaften, Geheimbünde, Logen, Burschenschaften, Turnund Gesangsvereinen dominierte. Darauf folgt die industrielle Phase nach dem 35 Vgl. Koszyk, S. 59–61. 36 Vgl. Wehrmann, Zeitungen u. Zeitschriften, S. 3–111. 37 Vgl. Nipperdey, Verein als soziale Struktur, S. 34 u. Dann, S. 219 f. 38 Vgl. hierzu exemplarisch die Vereinsgründungen in Stargard: APS, AmSt, Nr. 904–906, passim. 39 Vgl. die fortlaufenden Listen der Jahre 1822–1838 in: APS, NPPP, Nr. 3617. Im Sept. 1831 kam es allerdings auf dem Neuen Markt von Stettin zu »Tumulten gegen Obrigkeit«. Namentlich wurden hier ca. 50 Gesellen, Knechte u. Arbeiter erfasst. Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10422, passim. 40 Vgl. etwa GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16018, Ztgsb. Juli 1819, Stettin 4.8.1819.

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Take-off von 1850 bis in die siebziger Jahre des 19.  Jahrhunderts, in der sich karitative Vereine, Konsum-, Spar- und Arbeitervereine bildeten. Zuletzt folgt die seit den siebziger Jahren des 20.  Jahrhunderts einsetzende nachindustrielle Phase, in der die so genannten Neuen Sozialen Bewegungen wie Selbst­ hilfegruppen und Bürgerinitiativen zunehmend Bedeutung erlangen.41 Mag diese Unterteilung aus der makrosoziologischen Perspektive sinnvoll sein, erscheint mit dem eingeschränkten Blick auf das 19. Jahrhundert neben der »deutschen Doppelrevolution« von 1848/4942 erneut die Reichsgründungsphase um 1870/71 als Zäsur. 3.2.1 Grundzüge der zivilgesellschaftlichen Entwicklung von 1815 bis 1890 Eine erste Phase auf die Jahre 1815 bis 1848/49 zu datieren, bietet sich sowohl im Fall der Entwicklung zivilgesellschaftlicher Strukturen im Vereinswesen als auch im Pressewesen an. Die Zeit bis 1830 war in beiden Fällen von einer »Windstille« geprägt.43 Abgesehen von den beschränkten »Öffentlichkeitsreservaten« in Wissenschaft und Verwaltung44 regte sich eine allgemeine politische Öffentlichkeit erst infolge der Auswirkungen der französischen Julirevolution.45 Erstmals kam es wieder zu politischen Vereinsgründungen wie dem Preß- und Vaterlandsverein46 und zu einer »Kryptopolitisierung« bereits bestehender Organisationen. Hierzu zählten im Vormärz außer den bereits erwähnten Turn- und Gesangsvereinen auch überregional agierende Denkmals-, Berufs- und Gelehrtenvereine wie die Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte.47 Nach dem zwischenzeitlichen Verbot der Jahnschen Turnbewegung waren am Vorabend der Revolution von 1848 rund 90.000 deutsche Turner organisiert. Eine noch höhere Zahl ist bei den Gesangsvereinen anzunehmen.48 Jüngst wurde exemplarisch auf die vormärzliche Politisierung der Karnevalsgesellschaften am Beispiel der preußischen Rheinprovinz hingewiesen.49 Während bis zu den erneuten Unterdrückungsmaßnahmen des Deutschen Bundes des Jahres 1832 in den süddeutschen Staaten kurzzeitig mit der Pressefreiheit experimentiert wurde und einige liberale Zeitungsprojekte entstanden,50 bewirkte die Julirevolution in Preußen mit der Gründung des Berliner Politischen 41 Vgl. Raschke, S. 22–75 u. Zimmer, S. 46–60. 42 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 587 f. 43 Vgl. Koszyk, S. 65. 44 Vgl. Dittmer, S. 93–106. 45 Vgl. Habermas, S. 92. 46 Vgl. Dann, S. 220. 47 Vgl. Nipperdey, Verein als soziale Struktur, S. 36 f. 48 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 403. 49 Vgl. Brophy, The politicization of traditional festivals, S. 73–106. 50 Vgl. Koszyk, S. 66–77.

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Wochenblatts (1831) und der Historisch-politischen Zeitschrift (1832) die Entstehung einer konservativen Parteipresse.51 Zugleich unterstand die preußische Presse weiterhin der Kontrolle durch das Oberzensurkollegium. Allein in Berlin sprach es zwischen 1831 und 1840 312 Verbote aus.52 Dagegen bewirkte die Zensur­instruktion Friedrich Wilhelms IV. vom 24. Dezember 1841 eine kurzzeitige Liberalisierung, die jedoch 1843 mit der Neuordnung der Zensurbehörden weitgehend zurückgenommen wurde. Mit der Ersetzung des Oberzensurkollegiums durch das »Ober-Zensur-Gericht für Preußen« verhandelte man Verbotsfragen immerhin auf der judikativen Ebene.53 Trotz der weitergehenden Gängelung erlebte das Pressewesen in den vierziger Jahren einen Aufschwung. 1845 existierten in Preußen ca. 455 Zeitungen. Die Auflagenhöhe der Tagespublizistik war von 1830 bis 1847 um rund 90 % auf 76.420 gestiegen. Allerdings galten nur 42 dieser Zeitungen als politisch, während 104 Blätter von den Verwaltungsbehörden selbst herausgeben wurden. Kurt Koszyk weist darauf hin, dass zur selben Zeit in England schon 372 politische Zeitungen existierten.54 Steigende Bildung und bessere Kommunikation sowie das Aufkommen der sozialen Frage und der Konflikt mit den Vereinigten Ausschüssen bzw. dem Vereinigten Landtag führten in den vierziger Jahren jedoch zu einer weiteren Politisierung von Presse und Vereinswesen. Ernst Rudolf Huber und Thomas Nipperdey sehen demnach das moderne deutsche Fünfparteiensystem bereits um 1840 entstehen.55 Die Publikation des Literarischen Comptoirs, Deutschlands politische Zeitschriften, von 1842 bestätigt das sich parallel in der Presse entwickelnde politische Spektrum zumindest für die Ultramontanen, Konservativen und Liberalen sowie die hier schon unterschiedenen (radikal)demokratischen »Freisinnigen«. Zu den entschieden freisinnigen preußischen Zeitungen zählte der Verfasser nicht nur die Rheinische Zeitung und Johann Jacobys Königsberger Hartungsche Zeitung, sondern auch die 1835 gegründeten Stettiner Börsennachrichten der Ostsee. An letzterer wurde freilich noch das fehlende »durchgebildete theoretische Bewusstsein« bemängelt.56 Für die Geschichte des Assoziationswesens, viel mehr jedoch für die Geschichte der Publizistik in Deutschland wurde die Revolution des Jahres 1848/49 zur historischen Wegmarke. Als kurz nach der französischen Februarrevolution in allen deutschen Staaten Volksversammlungen stattfanden und oppositionelle Petitionen verabschiedet wurden, zählten der Ruf nach der »Preßfreiheit« und der Abkehr von der Zensur und das Verlangen nach Koalitionsfreiheit zu den 51 Vgl. zum Politischen Wochenblatt Beck, Konservative Politik, S. 14–17 u. zur Historisch-­ politischen Zeitschrift Dittmer, S. 120–130. Letzterer geht ebenfalls auf S. 130–145 auf das Politische Wochenblatt ein. 52 Vgl. Koszyk, S. 89. 53 Vgl. Kleinheyer, S. 143. 54 Vgl. Koszyk, S. 91 f. 55 Vgl. Huber, S. 318 u. Nipperdey, Bürgerwelt u. starker Staat, S. 377. 56 Vgl. Koszyk, S. 90 f.

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prominentesten Märzforderungen. Obwohl der von der Revolution überraschte Bundestag am 3.  März 1848 die vollständige Aufhebung der Zensur noch an Garantien der Bundesstaaten gegen ihren Missbrauch geknüpft hatte,57 wurden bereits im März zahlreiche neue – zumeist kurzlebige – Zeitungs- und Zeitschriftenprojekte ins Leben gerufen. Gab es 1826 nur 371 deutschsprachige Zeitschriften, stieg diese Zahl bis 1848 mit 688 auf das Doppelte und bis 1850 mit 1.102 Titeln auf das Dreifache an. Allein 117 dieser Projekte waren in Berlin ansässig. Und während die Zahl der Zeitschriften im österreichischen Wien mit 22 verhältnismäßig niedrig ausfiel,58 hatten die 227 dort bis zum Ende des Belagerungszustandes erscheinenden Zeitungen ebenfalls einen erheblichen Anteil an der Mobilisierung für die Revolution.59 Wie jede Revolution war die Revolution von 1848/49 auch eine Kommunikationsrevolution. Das Aufleben des Zeitungswesens in der Revolutionszeit resultierte nicht nur aus der erheblichen Politisierung der Öffentlichkeit, sondern auch aus nachrichtentechnischen Innovationen. Der bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren erfolgten Ausstattung der Druckereien mit Schnellpressen60 folgte in den vierziger Jahren ein massiver Ausbau der Korrespondentennetze, welche mit der Inbetriebnahme der ersten deutschen Telegraphenlinien im Jahr 1848 für die unmittelbare Übertragung neuer Nachrichten sorgte. Mit der Gründunge des Telegraphischen Korrespondenzbureaus durch Bernhard Wolff wurde am 27. November 1849 die erste deutsche Nachrichtenagentur gegründet, welche gemeinsam mit der wenige Zeit später von Paul Julius Reuters ins Leben ge­ rufenen Firma europäische Nachrichtengeschichte schrieb. Mit dem § 13 des »Gesetzes betreffend die Grundrechte des deutschen Volkes« vom 27. Dezember und den Artikeln 24–26 der oktroyierten Preußischen Verfassung vom 5. Dezember 1848 schien die rechtliche Frage der Pressefreiheit schließlich endgültig geregelt. Gleiches galt für die in den §§ 29–30 bzw. den Artikeln 27–28 dort bestätigte Koalitions- und Vereinsfreiheit. Am 8. Dezember 1848 fiel zudem die Stempelsteuer für die preußischen Zeitungen.61 Neben der rasch eintretenden Fraktionsbildung sowohl in der Deutschen als auch in der Preußischen Nationalversammlung, die bereits den ersten Schritt zur Ausdifferenzierung eines parlamentarischen Parteiensystems ging, politisierte sich auch die außerparlamentarische deutsche Öffentlichkeit. Überall bildete sich eine Vielzahl von Organisationen. Volksschullehrer, Professoren, Ärzte, Großgrundbesitzer, Handwerker und Arbeiter sind nur einzelne Berufsgruppen, die sich in großer Zahl organisierten. Dazu kamen konfessionelle, wirtschaftliche und explizit politische Vereinigungen. Neben den ersten liberalen oder demokratischen Vereinen traten bald konservative und sozialistische 57 Vgl. Kohnen, S. 20. 58 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 529. 59 Vgl. Rumpler, S. 8. 60 Vgl. Stöber, S. 116. 61 Vgl. Berner, S. 61 u. S. 91 f.

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Assoziationen auf. Republikaner und Demokraten fanden sich auf lokaler Ebene häufig in »Volksvereinen«, gemäßigte Liberale in »Konstitutionellen« und Konservative in »Patriotischen« Vereinen zusammen.62 Die Bezeichnung »Club« wurde aufgrund der Nähe zum Parteibegriff hierbei zumeist nur von den linken Assoziationen verwendet. Bis zum Frühjahr 1849 begannen sich die verschiedenen politischen Richtungen deutschlandweit zu vernetzen. Als erfolgreiche Dachvereine sind hier der 1849 rund 950 Vereine und 500.000 Mitglieder inkorporierende demokratische Zentralmärzverein, der auf die 400 örtlichen Piusvereine aufbauende Katholische Verein Deutschlands, die 170 Ortsgruppen und 15.000 Mitglieder starke sozialistische Arbeiterverbrüderung, der in Preußen mehr als 50 konservative Vereine umfassende Treubund mit Gott für König und Vaterland sowie der elitäre, hochkonservative Verein zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzes und Förderung des Wohlstands aller Volksklassen (das »Junkerparlament«) zu erwähnen.63 Parallel zur Ausdifferenzierung des Parteienwesens entstand im Verlauf der Revolution eine parteinahe Presse. Am 18. März 1848 erschien in Berlin erstmals die liberale National-Zeitung, dazu kam die demokratische Urwählerzeitung (seit 1853 Volks-Zeitung). Im Juni wurde unter Teilnahme von Karl Marx und Friedrich Engels die radikaldemokratische Neue Rheinische Zeitung gegründet, einen Monat später folgte die hochkonservative Neue Preu­ßische Zeitung. Mit Ernst Ludwig von Gerlach, Alexander von Below, Hans von KleistRetzow, Ernst von Bülow-Cummerow, Otto von Bismarck und Ernst von Senfft-Pilsach gab es zwischen den Gründern des Junkerparlaments und den Initiatoren der Kreuzzeitung eine weitgehende Personenidentität.64 Außer dieser neuen Parteipresse erschienen auch die bereits seit dem Vormärz bestehenden Zeitungen weiter. Die gemäßigt liberale Deutsche Zeitung existierte etwa von 1847 bis 1850. Die Vossische, die Spenersche und die Augsburger Allgemeine Zeitung behielten nach dem Ende der Revolution ihren anpassungsfähigen Kurs bei.65 Im Siegeszug der Reaktion verhinderte die preußische Regierung bereits 1849 auf dem Verordnungsweg die Expedition missliebiger überregionaler Zeitungen. Die revidierte Verfassung vom 31. Januar 1850 hielt zwar im Artikel 27 am Prinzip der Zensurfreiheit fest, ermöglichte jedoch Einschränkungen im allgemeinen Strafrecht wie auch im speziellen Presserecht. Das preußische Presse­ gesetz vom 12.  Mai 1851 band die Publizistik an den Konzessions- und Kautionszwang. 1852 folgte der Erlass einer Zeitungssteuer, welche die Verleger erneut ökonomisch unter Druck setzte. Immerhin wurde der Insertionszwang 62 Vgl. exemplarisch am Beispiel Berlins Siemann, Politische Vereine, S. 79–87. Vgl. außerdem Paschen, S. 73 f. u. Fischer, Konservatismus von unten, S. 77 f. Siehe außerdem den umfangreichen Quellenteil politischer Programme bei Boldt, passim. 63 Vgl. zum Parteibildungsprozess von 1848/49 Langewiesche, passim. 64 Vgl. Orr, S. 55 f. u. Bussiek, S. 59 ff. 65 Vgl. Koszyk, S. 105–115.

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nicht wieder eingeführt, was zusätzliche Einnahmen im Anzeigenwesen versprach. Außerdem sorgten ein umfangreicher Strafkatalog, Impressumszwang, eine hohe Kaution und die Abgabe von Pflichtexemplaren für die Selbstdisziplinierung der Presse.66 Diese Bestimmungen wurden durch den Bundesbeschluss vom 6. Juli 185467 auf alle Bundesstaaten ausgeweitet. Mit kleineren Ergänzungen blieb das preußische Pressegesetz bis 1874 in Kraft.68 Trotz dieser Einschränkungen erschienen die meisten größeren Zeitungen weiter. Allerdings ordneten sich diese wie etwa die Kölnische oder die Vossische Zeitung in den fünfziger Jahren der offiziellen Politik unter. Dafür büßte letztere freilich mehr als die Hälfte ihrer 1848 noch bei 24.000 Exemplaren liegenden Auflage ein. Erst mit dem Beginn der »Neuen Ära«, dem Amtsantritt König Wilhelms, konnte sich die politische Presse Preußens konsolidieren. 1861 erzielte die Vossische Zeitung wieder 13.000 Exemplare, die liberale National­ zeitung und die Kreuzzeitung erreichten jeweils rund 8.500 Exemplare,69 die Volkszeitung kam 1862 auf eine Auflage von 32.000 Stück.70 Im Verfassungskonflikt der sechziger Jahre politisierten sich die deutschen Tageszeitungen dann zunehmend. 1861 erschienen in Berlin 32 Zeitungen und 58 Wochenblätter.71 Fast die gesamte Tagespresse positionierte sich auf dem Standpunkt der Liberalen. Dem oppositionellen Übergewicht versuchte die preußische Regierung unter Bismarck mit der offenen und verdeckten Finanzierung eigener Blätter entgegenzuwirken. Mit der von 1863 bis 1884 erscheinenden Provinzialkorrespondenz nahm man auf das platte Land Einfluss. Aufgrund der zunehmenden Friktionen zwischen der Kreuzzeitung und der preußischen Regierung wurde die Norddeutsche Allgemeine Zeitung 1861/62 in eine regierungsnahe Zeitung umgewandelt.72 Seit 1868 setzte die Regierung den berüchtigten Reptilienfonds zur Pressepropaganda ein.73 Mit der revidierten preußischen Verfassung von 1850 wurde auch das Vereins- und Versammlungsrecht wieder eingeschränkt.74 Artikel 29 (2) behinderte das Koalitionsrecht »unter freiem Himmel«. Artikel 30 (3) räumte ausdrücklich die Möglichkeit des vorübergehenden Verbots politischer Vereine ein. 1850 wurden in Preußen alle Arbeitervereine verboten. Frauen, Lehrlinge, Schüler und ab 1851 auch Volksschullehrer durften sich nicht mehr in poli­tischen Vereinigungen betätigen. Zudem bestand die Pflicht, Statuten und Mitgliederlisten anzuzeigen. Überregionale Verbindungen zu anderen politischen Vereinen un-

66 Vgl. Berner, S. 97–99. 67 Vgl. zur Entstehung des Bundespressebeschlusses ausführlich Kohnen, S. 32–53. 68 Vgl. Berner, S. 62 f. 69 Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 438. 70 Vgl. Koszyk, S. 232. 71 Vgl. ebd., S. 143. 72 Vgl. Overesch, S. 69–85. 73 Vgl. Fischer-Frauendienst, S. 69–71. 74 Vgl. Paschen, S. 152–155.

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tersagte das Preußische Vereinsgesetz vom 11. März 1850.75 Das Bundesvereinsgesetz vom 13. Juli 1854 bestätigte diese rigide Praxis. Das Vereinswesen erlebte erst wieder mit Beginn der »Neuen Ära« eine Blüte. Schon Zeitgenossen sprachen zwischen 1860 und 1870 von einem Jahrzehnt der »Vereinseuphorie«.76 Außer der Vielzahl von Geselligkeitsvereinen erlebten genossenschaftliche Organisationsformen wie Konsumvereine und Darlehenskassen einen Aufschwung. Der moderne Parteibildungsprozess kam mit dem 1859 in Frankfurt am Main gegründeten kleindeutsch-liberalen Deutschen Nationalverein erneut in Gang.77 1861 organisierte sich der preußische Liberalismus in der DFP.78 1867 bildete sich als Personenbündnis derjenigen Liberalen, die Bismarcks Politik unterstützten, die NLP. Trotz der erheblichen Wahlerfolge der Liberalen in den sechziger Jahren führten diese Organisationsbemühungen jedoch nicht zur Entwicklung von Mitgliederparteien. Auch nach der Reichsgründung blieb es bei der lockeren Assoziation von Honoratioren, welche die Funktion hatten, Wahlkämpfe auf lokaler Ebene zu organisieren. Immerhin bewirkte diese Professionalisierung der Wahlkämpfe zwischen 1855 und 1862 bei den Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus einen Anstieg der Beteiligung von 16,1 % auf 34,3 %. Freilich demotivierte das preußische Dreiklassenwahlrecht die Wähler der untersten Klasse. Während die Wahlbeteiligung 1862 mit 61 % in der ersten Klasse am höchsten ausfiel und sich noch immerhin 48 % in der zweiten Klasse an der Wahl beteiligten, gingen in der dritten Klasse lediglich 34,3 % der Wahlberechtigen zur Wahl.79 Neben den Liberalen hielt sich ein fraktioniertes konservatives Milieu. Dazu entwickelte sich seit den fünfziger Jahren im Preußischen Abgeordnetenhaus eine katholische Fraktion. Zuletzt sind die 1863 bzw. 1869 erfolgten Gründungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) durch Ferdinand Lassalle und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) durch Wilhelm Liebknecht und August Bebel als maßgebliche Faktoren für den modernen deutschen Parteibildungsprozess hervorzuheben. Spätestens mit der Reichsgründung von 1870/71 wurden die einzelstaatlichen Öffentlichkeiten von einer gemeinsamen deutschen Öffentlichkeit abgelöst, der endgültig gesamtgesellschaftlich einen nationalen Kommunikationsraum durchsetzte. Hierzu führte nicht nur die Schaffung des durch ein allgemeines und gleiches Wahlrecht gewählten Reichstags und die damit einhergehende Nationalisierung politischer Vereine und Parteien, sondern auch die weitere Entwicklung der Publizistik. Der Erlass des Reichspressegesetzes vom 7.  Mai 1874 löste die einzelstaatlichen Bestimmungen ab und schuf mehrere Erleichterungen. Außer der Abschaffung des Konzessionszwangs und zusätzlicher Pres75 Vgl. GS, 1850, S. 277–283. 76 Vgl. Nord, S. XVII. 77 Vgl. Na’aman, passim. 78 Vgl. Biefang, passim. 79 Vgl. Kühne, Handbuch, S. 54.

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sesteuern wurde das Prinzip der Vorzensur endgültig aufgegeben.80 Das Zeitungswesen stand somit nicht mehr unter dem Generalverdacht, kriminelle Handlungen durchzuführen. Erst nach der Herausgabe hatten die Behörden die Möglichkeit, aufgrund strafrechtlicher Tatbestände gegen eine Zeitung vorzugehen. Mit den Straftatbeständen der Verletzung der Impressumspflicht, der Veröffentlichung unzüchtiger Inhalte, des Landes- und Hochverrats, der Majestätsbeleidigung, der Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Gesetze und des Anreizes zum Klassenhass verblieben freilich weitere Instrumente zur Gängelung der Redaktionen.81 Wieder unterstützten technische Innovationen wie die Durchsetzung der Rotationspresse und das 1885/86 erfundene Linotype-Verfahren die Weiterentwicklung des Pressewesens.82 Die Zahl der deutschsprachigen Zeitschriften steigerte sich von 1872 bis 1875 von 1.743 auf 1.971 Titel. Die Gartenlaube als Prototyp der modernen Illustrierten erzielte 1875 die Rekordauflage von 382.000 Stück. In den achtziger Jahren entstanden mit den Generalanzeigern zumindest in den Großstädten erste Massenblätter. Der Aufstieg der Verleger August Scherl, Wilhelm Girardet, Leopold Ullstein und Rudolf Mosse baute im Wesentlichen auf diesem Erfolgsprodukt auf. Spätestens seit der Jahrhundertwende liefen Massenblätter wie die Berliner Morgenpost oder die BZ am Mittag der traditionellen Parteipresse deutlich den Rang ab.83 Die politische Presse differenzierte sich seit den siebziger Jahren weiter aus. Die Zahl der bürgerlich-liberalen Zeitungen stieg bis zum Ersten Weltkrieg genauso wie ihre Gesamtauflage an. Im Vergleich zu den Generalanzeigern fiel dieser Anstieg freilich relativ niedrig aus. Die Kölnische Zeitung erzielte 1870 eine Auflage von 40.000 Stück, 1886 lag die Vossische Zeitung bei 24.000 verkauften Exemplaren, das Berliner Tageblatt bei 70.000 und die Frankfurter Zeitung bei 34.800. Für die liberalen Parteien ergab sich das Problem, dass sich bis zum Ersten Weltkrieg keine echten Parteiblätter ausbildeten, sondern die liberale Presse oft selber als »Parteinehmer« auftrat. Die inklusive der Kreisblätter und der Provinzialkorrespondenz rund 600 Titel umfassende regierungsnahe bzw. konservative Presse kam demgegenüber in den achtziger Jahren sogar auf eine Gesamtauflage von 600.000 bis 1 Mio. Stück. Die katholische bzw. Zentrumsnahe Presse umfasste zur gleichen Zeit rund 220 Titel mit einer Gesamtauflage von 626.000 Exemplaren, während die sozialdemokratische Presse im ersten Jahr nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes rund 60 Titel mit einer Gesamtauflage von 250.000 Stück absetzte.84 Offensichtlich hatte gerade die Zeit des Sozialistengesetzes eine Steigerung der Gesamtauflage bewirkt. 80 Vgl. hierzu ausführlich Berner, S. 159–338. 81 Vgl. Koszyk, S. 244. 82 Vgl. Stöber, S. 116–118. 83 Vgl. zur Entstehung u. zum Erfolg der Generalanzeiger Wolter, passim. 84 Vgl. Stöber, S. 212–222.

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Das politische Vereinswesen erfuhr im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts einen erheblichen Entwicklungsschub. Wie in den anderen mittel- und westeuropäischen Systemen stabilisierte sich anhand der Cleavage-Strukturen von »Zentrum versus Peripherie«, »Staat versus Kirche«, »Stadt versus Land« sowie »Unternehmer/Besitzende versus Arbeiter« das Parteiensystem im gemischtkonfessionellen Deutschen Reich.85 Verankert in unterschiedlichen sich voneinander abgrenzenden sozialmoralischen Milieus von protestantischen Liberalen, protestantischen Konservativen, Sozialisten und Katholiken,86 begannen sich die Parteiorganisationen zu professionalisieren. Das allgemeine und direkte Wahlrecht beförderte alltäglich die lokale Organisation der Wahlkämpfe. Für die siebziger und achtziger Jahre benennt Thomas Nipperdey das Wahlkomitee, die Wählerversammlung und den vom politischen Vereinsverbot ausgenommenen Wahlverein als die ersten lokalen parteipolitischen Gremien der Liberalen.87 Positionierten sich diese anfangs noch überparteilich gesamtliberal, traten seit den achtziger Jahren die Fraktionierungen des Liberalismus auch auf der lokalen Ebene zu Tage. Die Linksliberalen (bis 1884: DFP, 1884–1893: DeutschFreisinnige Partei) konnten die Zahl ihrer örtlichen Vereine von 1879 bis 1893 von 40 auf 418 steigern. Die NLP gab für 1897 einen vergleichbaren Organisationsgrad an.88 Ein Manko der Liberalen blieb neben ihren häufigen Spaltungen deren einseitige Konzentration auf die Städte sowie ihr Unvermögen, trotz der durchaus mitgliederstarken Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine im größeren Stil Arbeiter zu binden.89 Erst nach der Aufhebung des offiziellen Verbots deutschlandweit vernetzter politischer Vereine vom Dezember 1899 entwickelten sich die liberalen Parteien sukzessive vom früheren Typ der sporadisch in Erscheinung tretenden Honoratioren- zur kontinuierlich arbeitenden Mitgliederpartei. Mit der 1912 erreichten Zahl von 190.000 Mitgliedern bei der NLP und 120.000 bei der FVP90 blieb man jedoch bei weitem unter dem Organisationsgrad der Sozialdemokratie. Diese konnte ihren beim Zeitpunkt der Vereinigung von ADAV und SAPD erzielten Organisationsgrad von rund 25.000 Mitgliedern bis zum Ende des Sozialistengesetzes knapp halten. Bis 1892 stieg die Mitgliederzahl rapide auf ca. 100.000 an, um schließlich 1906 600.00091 und 1914 mehr als 1 Mio. zu erreichen.92 Neben den Wahlvereinen organisierte sich die Sozialdemokratie nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes auch noch in einer Vielzahl von milieuspezifischen Organisationen der Arbeiterbewegungskultur. Hierzu gehörten 85 Vgl. Lipset u. Rokkan, S. 1–64. 86 Vgl. zum Begriff der sozialmoralischen Milieus Lepsius, S. 377–393. 87 Vgl. Nipperdey, Die Organisation der politischen Parteien, S. 42–85. 88 Vgl. ebd., S. 100 u. S. 176–178. 89 Vgl. ebd. am Beispiel der FVP nach 1910, S. 187 f. 90 Vgl. ebd., S. 101 u. S. 187. 91 Vgl. Kupfer, S. 50. 92 Vgl. Nipperdey, Die Organisation der politischen Parteien, S. 319.

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etwa Bildungs-, Lese-, Turn- und Gesangsvereine.93 Parallel zur Sozialdemokratie entwickelten sich die freien Gewerkschaften zur Massenbewegung. 1890 zählten diese deutschlandweit rund 300.000 Mitglieder, 1913 bereits 2,5 Mio.94 Ähnlich wie im Fall der Liberalen blieb die Arbeiterbewegung jedoch auf ihr urbanes Umfeld konzentriert. Auf dem platten Land konnte die SPD keine größeren Erfolge erzielen. Ausgehend vom Wählerpotential blieb die Partei im Kaiserreich zudem eine Klassenpartei der Industriearbeiter, von der indes nur eine Minderheit in der SPD organisiert war.95 Anders als die Liberalen und die Sozialisten feierten die Konservativen ihre Wahlerfolge fast ausschließlich auf dem platten Land. Angesichts einer weitgehenden Personenidentität von Landräten, Gutsbesitzern und Funktionären der konservativen Partei bedurfte es in ihren ostelbischen Hochburgen nur wenig organisatorischen und wahlkämpferischen Engagements. Die starke Abhängigkeit der Landarbeiter, aber auch der Pastoren und Landschullehrer vom Gutsherrn sicherte den konservativen Kandidaten auf den Gütern gute Ergebnisse. In einer ländlichen Hochburg wie dem pommerschen Wahlkreis Naugard –  Regenwalde konnten Kandidaten der unterschiedlichen konservativen Flügel sogar die Wahl unter sich ausmachen. Bei der Reichstagswahl von 1898 kandidierte hier jeweils ein Vertreter des 1893 als landwirtschaftliche Interessenvereinigung gegründeten BdL und der DkP gegeneinander. 1903 kam es im gleichen Wahlkreis zur Stichwahl zweier Kandidaten der DkP und der Deutschen Reichspartei.96 Während die Freikonservativen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs im Wesentlichen »Personalpartei« blieben,97 konnte die DkP seit den neunziger Jahren auch zunehmend Personen außerhalb der Verwaltung, des Großgrundbesitzes und des Adels für sich gewinnen. Neben den Kriegervereinen und einigen Wahlvereinen in den Städten bezog die DkP nach einem kurzen, aber intensiven Flirt mit der antisemitischen Bewegung ihre Massenbasis aus der Allianz mit dem BdL. Infolge dieses Bündnisses konnte die konservative Partei einerseits ihre organisatorische Exklusivität als Honoratiorenpartei der ostelbischen Junker weithin wahren, andererseits geriet sie jedoch bei den Wahlen in die Abhängigkeit des radikal-agrarischen Lobbyverbands.98 Aufgrund des besonderen Untersuchungsraums dieser Arbeit muss auf das katholische Zentrum und auf aus dem Parteiensystem herausfallende etwaige Dissidenten nicht intensiv eingegangen werden. Katholiken, ethnische Minderheiten und Partikularisten spielten im Regierungsbezirk Stettin keine Rolle. Lediglich in den Wahlkreisen Stolp – Lauenburg und Bütow – Rummelsburg –  Schlawe des Regierungsbezirks Köslin traten seit den Reichstagswahlen von 93 Vgl. dazu ausführlich Ritter, S. 15–39. 94 Vgl. Schönhoven, S. 202 u. S. 225. 95 Vgl. Osterroth u. Schuster, S. 152. Nach ihren Angaben waren 1910 36 % der Industriearbeiter in den Gewerkschaften rund 7 % in der SPD organisiert. 96 Vgl. Reibel, S. 231. 97 Vgl. Nipperdey, Die Organisation der politischen Parteien, S. 241. 98 Vgl. ebd., S. 249.

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1898 polnische Zählkandidaten an.99 Zentrumsnahe Kandidaten erhielten im protestantischen Pommern ebenfalls nur eine im Promillebereich angesiedelte Zahl an Stimmzetteln. Das breite, schichtenübergreifende konfessionelle Milieu von katholischen Landadeligen oder Unternehmern, katholischer Presse, Arbeitervereinen und Klerus, welches das Zentrum in seinen Hochburgen stark machte, fehlte in Pommern völlig. Anknüpfend an die Cleavagetheorie Lipsets und Rokkans war demnach für die Entwicklung und Ausdifferenzierung des pommerschen Parteiensystems zunächst das Stadt-Land-Cleavage konstituierend: Der Liberalismus des städtischen Bürgertums stand in Opposition zum Konservativismus der Land­ bevölkerung. Mit der zunehmenden Industrialisierung des Stettiner Zentrums gesellte sich der Sozialismus der Industriearbeiter und der niederen Handwerker infolge des neu entstehenden Arbeiter-Unternehmer/Besitzende-Cleavage zu dieser Frontstellung hinzu. 3.2.2 Akteure der Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen Bei der Betrachtung zivilgesellschaftlicher Strukturen und einer politischen Öffentlichkeit liegt der Fokus auf diejenigen Akteure, die aus der Gesellschaft heraus agieren. Gelten Vereine schlechthin als Ausdrucksform der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, sind auch ihre Initiatoren im Bürgertum zu suchen. Das trifft auch für die Publizistik des 19. Jahrhunderts zu. Spätestens mit der Revolution von 1848/49 politisierten sich aber auch zusehends die unterbürgerlichen Schichten.100 Die sich in der Phase nach 1850 ausbildende Arbeiterbewegung stellte geradezu einen Motor der zunehmenden Selbstorganisierung der deutschen Gesellschaft dar.101 Zwar bildete das städtische Bürgertum noch bis in die siebziger Jahre das Rückgrat des deutschen Assoziationswesens,102 nach 1890 drohte ihm jedoch die Arbeiterbewegung den Rang abzulaufen. Jedenfalls beteiligten sich mit der erfolgreichen Organisierung der Arbeiterbewegung neue, selbstbewusste Akteure an der Ausprägung der politischen Öffentlichkeit. Welche Bedeutung diese letztlich auch in Pommern hatten, wird mit Blick auf das industrielle Zentrum der Provinz, Stettin, zu prüfen sein. Mit der 1867 erfolgten Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts stieg im Prinzip jeder volljährige Mann zum Akteur zivilgesellschaft­ lichen Handelns auf. Und obwohl sich Frauen erst seit 1908 legal in politischen Vereinen betätigen durften, engagierten sich bürgerliche Frauen seit den sechziger Jahren in sozialen Assoziationen. In der Sozialdemokratie bot das Institut 99 Vgl. Reibel, S. 238–241. 100 Freilich wurde diese Politisierung vor allem von sozialen Protestmotiven gespeist. Vgl. Gailus, Straße u. Brot, S. 72–86. 101 Vgl. Raschke, S. 38. 102 Vgl. Tenfelde, S. 95.

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der Vertrauensperson etwa schon vor 1908 einigen wenigen Frauen die Möglichkeit, sich politisch zu engagieren. Aufgrund der Ausweitung des Wahlrechts wird schließlich auch die Landbevölkerung als Akteur beachtet werden müssen. Da mit dem Beginn der preußischen Reformzeit bis zu den Verwaltungsreformen der siebziger Jahre die verschiedenen Selbstverwaltungsgremien der Provinz immer stärker aufgewertet wurden, ist auch die Rolle der Magistrate, Stadtverordnetenversammlungen, Kreistage, Kommunal- und Provinziallandtage zu untersuchen. Schließlich bildeten diese quasi die Schnittmenge zwischen der staatlichen und der (zivil)gesellschaftlichen Sphäre der Provinz. Zuletzt ist jedoch noch einmal auf die zu untersuchende Bedeutung aus der Verwaltung stammender Akteure bei der Entwicklung des Pressewesens und dem Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen hinzuweisen. Da deren Einfluss bereits in Ansätzen auf lokaler Ebene unter dem Oberpräsidenten Sack und auf überregionaler Ebene in der gouvernementalen Pressepolitik unter Bismarck angedeutet wurde, soll im Folgenden das Augenmerk auf entsprechende Be­ mühungen in Pommern gerichtet werden. Für eine partielle wie auch defensive Modernisierung sprächen eventuell nachzuweisende staatliche Bemühungen, bestehende zivilgesellschaftlicher Strukturen zu infiltrieren und zu lenken oder sogar selbst zu begründen. 3.2.3 Entwicklungsziele der Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen nach 1815 Da es sich bei der Entfaltung von zivilgesellschaftlichen Strukturen und der Ausbildung einer politischen Öffentlichkeit im Gegensatz zur Hebung des Schul­wesens oder dem Ausbau der Infrastruktur weniger um einen zielgerichteten Prozess aller beteiligten Akteure handelte, ist es schwierig, klare Entwicklungsziele zu skizzieren. Allgemein sind in diesem Kapitel die tatsächlichen Aus­prägungen zivilgesellschaftlicher Elemente im Untersuchungsraum zu analysieren. Ein quantitativer, aber auch qualitativer Bedeutungszuwachs an Presseerzeugnissen, Vereinen und Parteien stellt demnach durchaus ein Mehr an zivilgesellschaftlichem Ausdruck dar. Allerdings ist es ebenso sinnvoll, sich konkret mit den Entwicklungszielen einzelner Akteure auseinanderzusetzen. Im Fall vieler bürgerlicher Akteure des Vormärz, der Revolutionszeit und der »Neuen Ära« stellte der Wunsch nach einer freieren Gesellschaft mit mehr Mitsprache- und Selbstgestaltungsrechten, sprich einer Gesellschaft mit »zivilgesellschaftlichen« Elementen, ein wichtiges »Entwicklungsziel« dar. Aus der Perspektive der bürgerlichen Vereine, Parteien und der Presse war es zur Er­ reichung dieses Ziels entscheidend, entsprechende Forderungen mehrheits­f ähig zu machen. Im Interesse eines Presseorgans lag dann eine möglichst hohe Auflage und Verbreitung. Im Fall der Vereine war ein hoher Organisations- und Mitarbeitsgrad bedeutsam, bei den Parteien kam als weiteres Ziel ein hoher Stimmenanteil bei den Wahlen hinzu. Ähnliche Ziele kann man den meisten 236 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

Akteuren der Arbeiterbewegung im letzten Viertel des 19.  Jahrhunderts zuschreiben. Während Liberale und Sozialdemokraten, Bürgertum und Arbeiterbewegung zumindest holzschnittartig das Projekt zur Entstehung einer partizipativen Zivilgesellschaft vorantrieben, sieht das auf Seiten des konservativen Milieus der höheren Verwaltung und der ländlichen Rittergutsbesitzer ungleich komplizierter aus. Beginnend mit den preußischen Reformen über den Beamtenkonservativismus des Vormärz bis zur konkreten Parteibildung in der Revolution von 1848/49 bedienten sich gouvernementale und konservative Kräfte zivilgesellschaftlicher Elemente gerade auch zur Abwehr einer modernen und pluralistischen Zivilgesellschaft. Die Entstehung der konservativen Presse und Organisation fällt demnach wieder unter das Stichwort der defensiven Modernisierung. Man nahm moderne Organisationsformen und später auch eine moderne Programmatik partiell an, um von der Tradition möglichst viel zu bewahren. Hierbei tritt das nur scheinbare Paradoxon auf, dass die konservativen Bemühungen zwar vom Programm her dem Projekt einer Zivilgesellschaft feindlich gegenüber überstanden, dieses Projekt aber allein durch die Übernahme ihrer Organisationsstrukturen durchaus beförderten und damit einen eigenen spezi­ fischen Beitrag zur »Vielfalt der Moderne« leisteten.

3.3 Die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Pommern Die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen wird wieder in einer sektoralen Gliederung dargestellt. Der Text orientiert sich an der in der Literatur zumeist anzutreffenden Aufteilung, dass als Voraussetzung der Entstehung konkreter zivilgesellschaftlicher Elemente wie Vereinen oder Parteien zuerst auf die Ausbildung des Pressewesens und einer politischen Öffentlichkeit eingegangen wird.103 3.3.1 Die Ausbildung des Pressewesens auf dem platten Land In der Entwicklung des pommerschen Pressewesens spielte der soziostrukturelle Raum des platten Landes aus drei Gründen nur eine marginale Rolle: Erstens waren potentielle Verleger und Drucker in den Städten konzentriert. Zweitens erschwerte die auf dem Land höher ausfallende Analphabetenrate den Absatz komplexerer Druckschriften. Drittens verhinderten die hohen Kosten der Zeitungsabonnements eine größere Verbreitung. 103 Vgl. etwa die entsprechende Gliederung bei Rumpler u. Urbanitsch.

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Im Stettiner Bezirk stellte die Großstadt Stettin das verlegerische Zentrum der Region dar. Daneben waren die größeren Städte Stargard, Pasewalk, Anklam und Demmin als weitere Orte von Presseinitiativen zu verzeichnen. In den meisten kleineren Städten erschienen lokale Blätter nicht vor dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts.104 Allein aufgrund des städtischen Umfelds der Verlagsorte wandten sich die ersten Presseerzeugnisse der dreißiger und vierziger Jahre fast ausschließlich an städtische Leser. Die beiden einzigen größeren Zeitungen des Vormärz, die Börsennachrichten und die Königlich Privilegierte Stettiner Zeitung, bedienten mit dem Abdruck wirtschaftlicher Meldungen kaufmännische Interessen. Zwar wurden diese Blätter auch von Gutsbesitzern abonniert, eine über diesen Kreis hinausreichende Abnahme auf dem Land haben sie jedoch nie erzielt. Lediglich das 1811 gegründete Amtsblatt der königlichen Regierung sowie die frühen »Special-Interest«-Zeitschriften wie das Stettiner Monatsblatt für Pommerns Volksschullehrer (1835–1848) oder das Pommersche-Kirchenblatt (1835–1836) werden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Leser unter Pastoren und Volksschullehrern des platten Landes gefunden haben. Sonst schufen erst die Kreisblätter mit dem Abdruck auf den lokalen Markt zugeschnittener Anzeigen, Meldungen und amtlichen Bekanntmachungen eine ländliche Öffentlichkeit. Mit Ausnahme des Kreises Anklam wurden diese jedoch nicht vor den vierziger, bisweilen sogar erst in den fünfziger Jahren ins Leben gerufen. Zum einen mangelte es an manchen Orten an verlegerischem Interesse (etwa in den Kreisen Greiffenberg, Cammin und Naugard), zum anderen unterdrückte eine rigide behördliche Genehmigungspraxis vielerorts vorhandene Initiativen: In den Kreisen Pyritz und Ueckermünde lehnte die Regierung zwischen 1840 und 1848 sämtliche Anträge auf Genehmigung eines Krei­sblattes konsequent ab.105 Im Fall der über den Tellerrand der Kreisgrenzen hinausschauenden Zeitungen setzte die Revolution von 1848/49 eine entscheidende Zäsur, seit der sich die Zahl der pommerschen Presseerzeugnisse sukzessive vermehrte und auch ihre Reichweite erheblich vergrößerte. Trotz allem erreichte die politische Tagespresse erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in einem stärkeren Maß die Landbevölkerung. Diese Schlussfolgerung ergibt sich nicht zuletzt aus den wenigen überlieferten Daten über die Auflagenhöhen einzelner Zeitungen.106 Während in den dreißiger Jahren die Auflage der Börsennachrichten und der Privilegierten Stettiner Zeitung gemeinsam bei kaum mehr als 2.000 Exemplaren lag, konnte sich der Absatz sämtlicher Stettiner Zeitungen trotz der Neugründungen der Norddeutschen Zeitung und der Pommerschen Zeitung bis Anfang der fünfziger Jahre lediglich auf rund 4.000 Stück verdoppeln.107 In den 104 Vgl. Wehrmann, Zeitungen u. Zeitschriften, passim. 105 Vgl. ebd., S. 57 f. u. S. 108. 106 Offizielle Pressestatistiken gibt es erst seit 1914. Vgl. Stöber, S. 145. 107 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3015, Aktionärskomitee zur Gründung einer konservativen Zeitung in Pommern an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Stettin 26.4.1854.

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6.702 Exemplaren der im Jahr 1865 im Regierungsbezirk über die Post debitierten politischen Zeitungen (vgl. Tab. 4) waren sicherlich mehrere Titel enthalten, die an Leser des platten Lands versandt wurden. Allerdings ist davon auszugehen, dass in der Regel Gutsbesitzer, Amtmänner, Pastoren und womöglich einige Lehrer die Abonnenten darstellten. Außer der noch 1871 bei 9,7 % liegenden Analphabetenrate108 verhinderten die hohen Abonnementspreise einen größeren Absatz. Zwar sanken in­ flationsbereinigt die Kosten insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erheblich.109 Den zwischen 1 bis 1 ½ Talern liegenden Preis des vierteljährlichen Abonnements konnten indes selbst die meisten pommerschen Volksschullehrer nur schwerlich aufbringen.110 Ländliche Öffentlichkeit begründete sich somit bis zur Jahrhundertwende immer noch im großen Maß auf mündlicher Kunde, wobei die Gutsbesitzer, Amtmänner, Pastoren, Lehrer und Reisende eine tragende Rolle als Informa­ tionsagenten spielten. Weiter ist davon auszugehen, dass sich mit der Verbesserung der pommerschen Kommunikationssysteme, dem Ausbau des Chausseeund Eisenbahnnetzes die Informationsdichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts für die einfache Landbevölkerung massiv ausweitete. Überregionale und externe Akteure blieben in der Kommunikation mit der einfachen Landbevölkerung freilich bis ins letzte Viertel des 19.  Jahrhunderts weiterhin auf traditionelle Vermittler wie Lehrer und Pastoren sowie das Medium des Flugblatts angewiesen. Wichtige Mitteilungen wurden demnach nicht nur in den Kreisblättern abgedruckt, sondern auch Lehrer und Pastoren von den Behörden dazu veranlasst, amtliche Bestimmungen zu verlesen. Einzelne Bekanntmachungen ließ man gesondert als Flugblätter in der Provinz verteilen. Als es im April und Mai 1848 auf mehreren Gütern zu erheblichen Dienstverweigerungen kam und sogar einige Gutsbesitzer tätlich angegangen wurden, ließ die Regierung eine Proklamation zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in einer Zahl von 1.970 Exemplaren auf dem Land verteilen.111 Den Aufruf Friedrich Wilhelms IV. »An mein Volk« vom 15.  Mai 1849 vervielfältigte die Stettiner Regierung in einer Rekordauflage von 5.000 Stück. Alleine 4.600 Exemplare wurden in 2.192  Ortschaften des platten Landes plakatiert.112 Zuletzt verwendeten auch die im ländlichen Raum nur wenig verankerten politischen Vereine der Revolutionszeit das Medium des Flugblatts, um etwa bei den Wahlen zur Preußischen Nationalversammlung Stimmung zu machen. So nutzte ein anonymer Sponsor das Verteilersystem des Regenwalder Kreisblatts, um das ländliche Publikum 108 Vgl. François, S. 758. 109 Vgl. Stöber, S. 155. 110 Laut Impressum betrugen etwa die Kosten für ein vierteljährliches Abonnement der Bn in den vierziger Jahren 1 ¼ Taler. Ein Quartalsabonnement der Stettiner Ztg. kostete in den sechziger Jahren 1 Taler u. 5 Silbergroschen. 111 Vgl. APS, Rej, Sz. I, Nr. 10423, Verteilungsplan der entsprechenden Proklamation für die Landratsämter des Bezirks, Stettin 6.5.1848. 112 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10489, Verteilungsplan der Verlautbarung »An mein Volk« [Mai 1849].

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Tab. 4: Nachweis der von der Stettiner Ober-Post-Direktion debitierten Zeitungen politischen Inhalts (1855–1869) 1855

1856

1857

1858

1859

1860

Nationalzeitung

306

323

313

281

324

328

Neue Preuß. Sonntagsbl.

103

154

140

132

142

Kreuzzeitung

278

283

290

303

332

397

25

596

Berliner Gerichtsztg. Der Treue Pommer

Neue Stettiner Zeitung Neues Allg. Volksblatt Norddt. Allgemeine Norddt. Zeitung

349

282

300

224

253

Ostseezeitung

353

391

406

440

389

431

Pom. Zeitung

114

141

142

112

120

120

Preuß. Staatsanzeiger

112

119

105

108

101

94

Oderzeitung

Preuß. Volksblatt Priv. Stettiner Zeitung

203 134

206

287

366

Publicist Spenersche Zeitung

471

132

51

235

434

419

405

379

388

383

83

97

77

76

148

280

Vossische Zeitung

391

392

381

382

384

351

Zeit

303

303

250

285

Sonstige

333

358

426

441

Staatsbürger Zeitung Stargarder Zeitung Stettiner Anzeiger Stettiner Zeitung Stralsundische Zeitung Verfassung Volkszeitung

Zusammengestellt nach: APS, NPPP, Nr. 3017–3018, Hauptnachweisung der im I. Quartal von der Stettiner Ober-Post-Direktion debitierten Zeitungen politischen Inhalts, Stettin [1855–1869].

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1861

1862

1863

1864

1865

1866

1867

1868

1869

385

308

116

440

417

372

251

298

324

199

199

340

341

313

337

304

287

290

91

386

391

426

484

477

517

792

501

261

703

776

872

900

959

795

632

720

402

699

293

315

216

267

139

283

152

137

171

65

279

143

243

318

525

374

620

443

255

649

481

476

460

498

489

787

161

153

173

256

386

364

102

104

103

108

104

102

106

41

132

302

408

262

180

153

130

113

86

64

55

27

20

352

341

316

346

340

311

337

149

335

150

81

276

150

91

192

104

141

158

161

183

670 270

373

222

355 1.518

317

221

392

577

631

557

317

239

218

90

264

311

288

270

263

219

195

60

187

386

790

841

1.072

1.633

1.015

1.518

650

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mit demokratischen Parolen zu erreichen. Der Wirbel, den die mit dem Aufruf »Ihr habt zu entscheiden, ob Ihr fernerhin unter der Fuchtel der »Herren« und der Reichen seufzen wollt oder nicht!« endende, dem Kreisblatt beigelegte Flugschrift vor Ort verursachte, drang in diesem Fall sogar bis zum Oberpräsidenten von Bonin vor.113 Nicht anders handelten auf dem platten Land freilich bald die konservativen Vereine.114 Auch die Sozialdemokratie, die fast 40 Jahre später vor dem ähnlichen Problem der mangelnden personellen Präsenz auf dem platten Land stand, setzte in ihrer Wahlkampfstrategie seit den Reichstagswahlen von 1887 in den ländlichen Ortschaften der Kreise Greifenhagen und Saatzig auf die Verteilung von »Tausenden« von Flugblättern.115 Da die Sozialdemokraten nicht auf Lehrer, Pastoren und andere Vermittler setzen konnten, verwendete die Stettiner Parteileitung externe Agitatoren, welche die ausgewählten Wahlkreise von Haus zu Haus abschritten.116 Infolge der engen Verbindung zwischen den höheren Beamten der Provinzverwaltung und den führenden ländlichen Vertretern der konservativen Partei in Pommern wurden die Amts- und Kreisblätter der Provinz immer auch zur Verteidigung konservativer Positionen verwendet. Das den Widerspruch zwischen städtischem Liberalismus und ländlichem Konservativismus begründende Stadt-Land-Cleavage offenbarte sich deutlich in der spätestens seit 1848 durchgängig vorgetragenen ländlich-konservativen Kritik an der »zügellosen« städtisch-liberalen Presse.117 Da die Provinzialverwaltung ihr vorerst nichts entgegensetzen konnte, wurden die offiziösen Blätter konsequent als Mittel der Gegenrevolution genutzt. Bereits am 19. März 1848 appellierten im Öffentlichen Anzeiger des Stettiner Amtsblatts »mehrere Bürger« an alle »Verständigen, überall in ihren Kreisen beruhigend einzuwirken«.118 Im April wurde über den Abdruck der Namen der am 18. und 19. März in Berlin verwundeten und getöteten Soldaten Stimmung gegen die Revolution gemacht.119 1849 erschienen in den

113 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3765, Original des Flugblatts mit dem Titel »Nehmt Euch in Acht«. Vgl. dsgl. das Regenwalder Kreisbl., Nr. 17, 28.4.1848. 114 Vgl. Andrae, S. 72. 115 Vgl. etwa APS, R Sz, I, Nr. 10459, Original des Flugblatts an die Wähler des Kreises Randow-Greifenhagen [1887] u. APS, SPSt, Nr.  184, Stargarder Oberbürgermeister an Saatziger Landrat, Stargard 28.2.1887. Vgl. etwa zum sozialdemokratischen Wahlkampf der neunziger Jahre GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16048, Ztgsb. Mai, Juni u. Juli 1891, Nov., Dez. u. Jan. 1893/94 u. Mai, Juni u. Juli 1896, Stettin 17.8.1891 bzw. 23.2.1894 u. 24.8.1896. 116 Vgl. etwa im Wahlkampf der Reichstagsersatzwahl für den Wahlkreis Randow-Greifen­ hagen am 9.11.1900 GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16048, Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1900/01, Stettin 16.2.1901. 117 Vgl. etwa GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16043, Ztgsb. März u. April 1848, Stettin 8.5.1848. 118 Vgl. Öffentl. Anzeiger, Nr. 12, 24.3.1848, S. 115. 119 Vgl. Amtsbl. Stettin, Nr. 17, 28.4.1848, S. 128 f.

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Kreisblättern Wahlaufrufe »königstreuer« Vereine.120 Und zu den 1850 erfolgenden Wahlen des Unionsparlaments druckte das Stettiner Amtsblatt schließlich auf Veranlassung der Provinzverwaltung kostenlos »den trefflich verfassten Aufruf des Centralwahlausschuß der verbundenen conservativen Vereine des preußischen Staates« ab, »um denselben auch zur Kenntniß der unteren Volksklassen zu bringen.«121 Auch im Verfassungskonflikt der sechziger Jahre sah der preußische Innenminister Friedrich Graf zu Eulenburg in der Verwendung der offiziösen Kreisblätter ein probates Mittel, »um der Verführung der öffentlichen Meinung Seitens der demokratischen Presse« zu begegnen.122 Der pommersche Ober­ präsident von Senfft-Pilsach begrüßte besonders die Einrichtung der Provinzial­ korrespondenz, die seit dem 1. April 1863 den Kreisblättern zur Benutzung anbefohlen wurde und diese mit Meldungen und regierungsfreundlichen Artikeln versorgte. Die vom Minister am Ort anheimgestellte Wahl, statt der Kreis­blätter zusätzliche Lokalzeitungen zu gründen, lehnte der Oberpräsident aus strategischen Gründen ab, »da die Kreisblätter bei den Einsaßen in ungleich höherer Autorität stehen [und] auch viel häufiger gelesen werden.«123 Außer der parteipolitischen Instrumentalisierung der offiziösen Presse gab es jedoch in den fünfziger und sechziger Jahre auch zwei Versuche, in Pommern eine eigene konservative Parteipresse aufzubauen. 1854 wandten sich die Führer der konservativen Partei, darunter der Oberregierungsrat Heegewaldt, der Stettiner Oberbürgermeister Hering, der Stettiner Polizeidirektor von Schlotheim sowie mehrere Landräte und Rittergutsbesitzer mit der Bitte um Unterstützung zur Gründung einer konservativen Zeitung an den Oberpräsidenten von SenfftPilsach. In ihrem Schreiben betonte die Gruppe die wachsende Macht der öffentlichen Meinung. Da der überwiegende Teil der pommerschen Presse »wider die von uns vertretene politische Richtung wirke[]«, müsse »die conservativste Provinz des Reiches […] auch ein hervorstehendes und beredtes Zeugniß ihrer Gesinnung in der Tagespresse haben.«124

120 Vgl. etwa Aufruf des »Vereins der Verfassungsfreunde« im Greifenhagener Kreisbl., 17.1. 1849. Obwohl der Vereinstitel »Verfassungsfreunde« eine politische Nähe zu den Liberalen suggeriert, wird in dem Aufruf, königstreue Männer zu wählen, eine konservative Ausrichtung deutlich. 121 GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Nov. u. Dez. 1849, Stettin 5.1.1850. Der Aufruf findet sich im Amtsbl. Stettin, Nr. 1, 4.1.1850, S. 1–3. 122 Vgl. APS, SPŚw, Nr. 134, Zirkular-Reskript des Innenministers Graf zu Eulenburg an den Regierungsvizepräsidenten v. Werther, Berlin 9.2.1863. Siehe zur Einrichtung der Provinzialkorrespondenz auch Fischer-Frauendienst, S. 55. 123 Vgl. APS, SPŚw, Nr.  134, Oberpräsident v. Senfft-Pilsach an Regierungsvizepräsident v. Werther, Stettin 17.2.1863. 124 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3015, Aktionärskomitee zur Gründung einer konservativen Zeitung in Pommern an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Stettin 26.4.1854.

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Nachdem sich Senfft-Pilsach entschieden hatte, das Projekt zu fördern,125 bildete sich schon bald ein Aktionärskomitee. Darauf trat der Polizeidirektor von Schlotheim mit dem Stettiner Zeitungsredakteur Robert Grassmann in Kaufverhandlungen. Dieser redigierte und druckte zu diesem Zeitpunkt mit der Norddeutschen Zeitung das einzige liberal-konservative Organ der Provinz. Zwar versprach Grassmann, das Blatt anfangs noch eigenhändig »in streng konservativem Sinn […] redigieren« zu wollen.126 Aufgrund entstehender politischer Differenzen des hochkonservativen Komitees mit Grassmann und dessen aus privaten Gründen drohendem Bankrott wurde die Zeitung aber schließlich vom Komitee vollständig aufgekauft und Karl Heinrich Hermes aus Berlin als neuer Chefredakteur eingestellt.127 Der Druck erfolgte jedoch weiterhin im Grassmannschen Verlag. Das weitere Schicksal der Norddeutschen Zeitung legt deutlich die grundsätzlichen Schwächen der vermeintlich starken hochkonservativen Partei in Pommern offen. Das Komitee, dem inzwischen der Landrat Bernhard von Bismarck vorstand und bald auch Adolf von Thadden-Trieglaff sowie der Stettiner Vizeregierungspräsident angehörten,128 gelang es zwar, rund 230 Aktionäre zu finden. Mehr als die Hälfte der Aktien wurde freilich ausschließlich von einer überschaubaren Zahl von Rittergutsbesitzern der konservativen Hochburgen Saatzig und Pyritz gehalten. 24.000 Anteilen in diesen beiden Kreisen standen lediglich 10.000 Anteile in den übrigen zehn Kreisen des Stettiner Bezirks gegenüber. Bürgerliche Kaufleute waren unter den übrigen Zeichnern fast überhaupt nicht zu finden.129 Problematisch erschien auch die Werbung eines größeren Abonnentenkreises. Nach einer vom Oberpräsidenten beauftragten halboffiziellen Werbeoffensive der einzelnen Landräte im März und April 1855 konnten diese nur wenig Erfreuliches berichten. Obwohl der Landrat des Saatziger Kreises 50 Gutsbesitzer, Pächter und Pastoren angeschrieben hatte, berichtete er lediglich von drei neuen Subskriptionen. Bernhard von Bismarck fand im Kreis Naugard ebenfalls nur zwei neue Abonnenten. In kaum einem Kreis übertraf die Auflage der Norddeutschen Zeitung die ihrer großen konservativen Schwester, der Kreuzzeitung. Dagegen blieb diese sowohl weiter hinter den überregionalen Blättern wie der Spenerschen, der Vossischen und der Nationalzeitung als auch hinter der lokalen liberalen Konkurrenz, der Stettiner und der Ostseezeitung, zurück. Alles in allem pendelte die Gesamtauflage in den Jahren 1855 bis 1858 zwischen rund 900 und 1.250 Exemplaren.130 Außerhalb des konservativen Milieus der Rittergutsbesitzer, einfachen Gutsbesitzer, Gutspächter, Geistlichen und des höheren 125 Vgl. zum Einfluss des Oberpräsidenten v. Senfft-Pilsach auf die Ndt. Ztg. u. grundsätzlich über die Geschichte der Ndt. Ztg. Stępiński, Senfft v. Pilsach, passim. 126 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3019, Robert Grassmann an v. Schlotheim, Stettin 14.8.1853. 127 Vgl. zu den Verhandlungen Grassmanns mit v. Schlotheim Cizek, Grassmann, S. 229–233. 128 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3017, Prot. der General-Versammlung der Ndt. Ztg., Stettin 18.3.1856. 129 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3016, Übersicht der für die Ndt. Ztg. gezeichneten Aktien [1855]. 130 Vgl. auch hierzu die Tab. 4.

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pommerschen Beamtenapparats wurden im Prinzip keine Abonnenten gewonnen.131 Daher stand die Zeitung bereits Ende des Jahres 1855 kurz vor dem Aus, was im Übrigen die liberale Konkurrenz zu geschickten Abwerbemaßnahmen gegenüber den verbliebenen Abonnenten einlud.132 Offensichtlich war die ultrakonservative Ausrichtung des Blattes unter dem neuen Chefredakteur Hermes erheblich an diesem Misserfolg beteiligt. Hermes hatte noch im Vormärz als einer der bekanntesten deutschen Leitartikler etwa in der liberalen Kölnischen Zeitung auf sich aufmerksam gemacht. 1843 wechselte er allerdings derart überraschend zur gouvernementalen Preußischen Staats­zeitung, dass sein Biograph in der Allgemeinen Deutschen Biographie die Vermutung äußerte, dass er zu einem gekauften »Mietling« geworden sei. Nach einem kurzen Ausflug in die Wirtschaft, wo er als Eisenbahndirektor mit Aktienspekulationen erst ein Vermögen gewann, um es dann wieder zu verlieren, war er seit 1848 ausschließlich für Zeitungen der »äußeren Rechten« u. a. als Gründungsredakteur für die Kreuzzeitung tätig.133 Zwar muss man sich kaum dem deutlichen Urteil, dass Hermes zuletzt nur noch »matt«, »plump« und »geistlos« geschrieben habe,134 anschließen, doch führte die ultrakonservative Positionierung definitiv zu einem Abfluss der mehrheitlich dem städtisch-liberalen Spektrum zuneigenden Anzeigenkunden der Norddeutschen Zeitung.135 Diese war demnach schon bald einerseits im höchsten Maß auf die Schaltung amtlicher Anzeigen angewiesen, andererseits bedurfte es stetiger Zuschüsse des Komitees oder auch direkt aus Berlin.136 Nach dem Tod von Hermes im Oktober 1856 beschleunigte sich der Verfall des Unternehmens. Im zweiten Quartal des Jahres 1858 sank die Druckauflage inklusive der Freiexemplare auf 649.137 Wiederholte inhaltliche Streitereien zwischen der neuen Redaktion und dem Komitee führten im August 1859 zu einem Distanzierungsschreiben des Oberpräsidenten.138 Nach dem nur kurze Zeit später erfolgten vollständigen Bruch mit dem Aktionärskomitee hatte die Zeitung neben den früheren liberal-konservativen Abonnenten auch noch die hochkonservativen verloren. Dazu fielen die amtlichen Anzeigen ebenfalls als Einnahmequelle aus. Vollkommen überschuldet wurde die Zeitung schließlich im 131 Vgl. die Mitteilungen der Landräte über den Erfolg der Ndt. Ztg. an den Oberpräsidenten v. Senfft-Pilsach im März u. April 1855 in APS, NPPP, Nr. 3016. 132 Vgl. Ndt. Ztg., Nr. 530, 13.12.1855. 133 Vgl. Bussiek, S. 68 f. 134 Vgl. Artikel »Karl Heinrich Hermes«, in: ADB, 12, S. 199–201. Die NDB bewertet Hermes etwas neutraler. Vgl. Artikel »Karl Heinrich Hermes«, in: NDB, 8, S. 672 f. 135 Vgl. Cizek, Grassmann, S. 229. 136 Vgl. APS, NPPP, Nr.  3018, Quittung über 1.000 Taler Subventionsleistungen durch das Büro des preuß. Ministerpräsidenten vom 14.12.1858. Laut einer Angabe aus dem Jahr 1856 bedurfte die Ztg. zu diesem Zeitpunkt Quartalzuschüsse in der Höhe von rund 1.000 Talern (APS, NPPP, Nr. 3017, Prot. der General-Versammlung, Stettin 18.3.1856). 137 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3017, Bericht über die Ndt. Ztg., Stettin 4.7.1858. 138 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3018, v. Senfft-Pilsach an sämtliche Landräte, Stettin 2.8.1859.

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November 1859 eingestellt. Das erste Unterfangen der konservativen Partei­ führer mit »modernen« Mitteln in den Kampf um die öffentliche Meinung der Provinz einzutreten, war damit gescheitert. Es bedurfte des inzwischen wieder auf einer soliden finanziellen Basis stehenden Robert Grassmann, um 1865 mitten im preußischen Verfassungs­ konflikt ein neues konservatives Zeitungsprojekt zu begründen. Mit der Stettiner Zeitung, die seit dem 1.  September erschien, bemühte sich Grassmann wieder darin, ein breiteres liberal-konservatives Publikum anzusprechen. Im selbstgewählten Programm sah sich die Zeitung als Vertreterin aller »politisch unbefangenen und gemäßigten, alle[r] dem Könighause ergebenen […] Männer«. Sonst bestand ihr politisches Programm in der tagtäglichen Abgrenzung zu den anderen Zeitungen der Stadt. Diese stünden laut einem Werbeschreiben der Stettiner Zeitung allesamt »auf dem Standpunkt der entschiedenen Demokratie« und seien grundsätzlich antigouvernemental sowie antireligiös.139 Wiederum suchte Grassmann beim preußischen Innenminister Graf zu Eulenburg, dem Oberpräsidenten Senfft-Pilsach und den Landräten um Unterstützung des Zeitungsprojektes nach. Obwohl erneut in den hochkonservativen Kreisen Hinterpommerns Bedenken geäußert wurden,140 wies das Innenministerium die Landräte an, die Zeitung in jeder Hinsicht zu fördern. Außer Abonnenten sollten diese auch Inserenten werben sowie ihr »regelmäßig und rasch interessante Notizen aus den einzelnen Kreisen zugehen« lassen.141 Trotz der intensiven Werbemaßnahmen musste Grassmann 1869 erneut in Konkursverhandlungen treten. Aufgrund mangelnder Einnahmen konnte er ausgerechnet die staatliche Stempelsteuer nicht mehr aufbringen.142 Das ländlich-konservative Milieu Pommerns hatte Grassmann somit ein weiteres Mal im Stich gelassen. Dennoch konnte die Zeitung unter seinem ehemaligen Redakteur weiter erscheinen. Nachdem sich Grassmann 1871 ein weiteres Mal finan­ziell konsolidiert hatte, stabilisierte sich auch die Stettiner Zeitung auf einem überlebensfähigen Niveau. 1877 zählte die Zeitung eine Gesamtauflage von 12.060 Exemplaren, von denen lediglich 4.591 in Stettin und der große Rest in den anderen Teilen der Provinz abgesetzt wurden.143 Zugleich begründete Grassmann mit Hilfe seines Sohnes als kostenloses Anzeigenblatt 1877 das Stettiner Tageblatt. Weil die Stettiner Regierung und die pommerschen Landräte weiterhin verhinderten, dass amtliche Anzeigen bei der liberalen Kon­kurrenz abgedruckt wurden,144 konnte sich das nach dem Generalanzeiger­ prinzip gestaltete Blatt mit einer Auflage von mehr als 18.000 Stück bis in das Jahr 1910 halten.145 139 Vgl. APS, SPŚw, Nr. 134, Gedrucktes Werbeschreiben Grassmanns [1865]. 140 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3047, Bericht des Kösliner Regierungspräsidenten, Köslin 7.12.1865. 141 Vgl. APS, SPŚw, Nr. 134, Innenminister v. Eulenburg an Landrat v. Ferno, Berlin 13.9.1865. 142 Vgl. Artikel »Rudolf Grassmann«. In: Wendt, S. 198. 143 Vgl. APS, SPŚw, Nr. 134, Grassmann an Swinemünder Landrat, Stettin 23.3.1877. 144 Vgl. ebd., Reskript der Reg. St. an sämtliche Behörden der Provinz, Stettin 16.3.1877. 145 Vgl. Wehrmann, Zeitungen u. Zeitschriften, S. 85.

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3.3.2 Die Ausbildung des Pressewesens in den Städten Dass das Jahr 1848 eine Zäsur für die Entwicklung des pommerschen Presse­ wesens darstellte, wird anhand der Analyse der erfolgreichen Zeitungsgründungen deutlich (vgl. Diagramm 10). Die Initiativen, private Blätter zu gründen, wurden von der Provinzialverwaltung bis 1848 mit einem noch größeren Misstrauen beäugt als die Anträge auf die Herausgabe von Kreisblättern. Außerhalb Stettins wurden nennenswerte Zeitungen lediglich in Anklam, Pasewalk, Stargard und Treptow a.d. Rega ins Leben gerufen. Dabei sind Zeitungen wie das Anklamer Wochenblatt (gegründet 1829) und das Pasewalker gemeinnützige Wochenblatt (1833) bereits nach wenigen Probenummern wieder eingegangen. Andere Blätter wie der Treptower Anzeiger (1835) erschienen vorerst lediglich als Beiblatt zu einer der überregionalen Zeitungen. Neben den beiden großen ­Stettiner Zeitungen hielten sich lediglich das Stargardter Wochenblatt zum Nutzen und zur Unterhaltung (1823) und der Pasewalker Anzeiger (1833) über einen längeren Zeitraum. Dagegen führte die am 17. März 1848 erfolgende Aufhebung der preußischen Zensurbestimmungen und die Befreiung von der Stempelsteuer schon Ende desselben Monats zu einem regelrechten Gründungsboom. In den Akten des pommerschen Oberpräsidenten finden sich rund zwei Dutzend in den Monaten

Diagramm 10: Realisierte Pressegründungen im Stettiner Bezirk (1821–1900) 50 45

Zeitungsgründungen

40 35 30 25 20 15 10 5 0

in Stettin

außerhalb Stettins

Zusammengestellt nach: Wehrmann, Zeitungen u. Zeitschriften, passim.

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März und April angezeigte Meldungen über in Kürze projektierter Zeitungsund Zeitschriftenprojekte. Wieder stellte zwar Stettin einen erheblichen Anteil dieser Initiativen, jedoch stammten die Meldungen inzwischen auch aus kleineren Städten wie Pyritz, Gartz, oder Cammin.146 Nur ein Teil dieser Zeitungen, wie das Wochenblatt für die Stadt Gartz und Umgebung, das Volksblatt für den Kreis Greifenhagen und dessen Umgebung oder der Beobachter an der Uecker aus Torgelow, trat noch überparteilich auf. Neben speziellen Vereinsblättern wie etwa dem Pasewalker Boten für Enthaltsamkeits-Vereine an der Pommersch-­ Ueckermärkischen Grenze erschienen bis Anfang des Jahres 1850 gleich mehrere politische Zeitungen. Die 1848 gegründete Stargarder Bürgerzeitung gab sich etwa ein entschieden liberales Profil.147 In Pasewalk standen sich die liberalen Blätter des Politischen Vereins zu Pasewalk und das konservative Volksblatt für Stadt und Land des Patriotischen Vereins für König und Vaterland gegenüber.148 In Cammin gründete der Direktor des Lehrerseminars Wangemann die Volkszeitung für Stadt und Land. Mit ihrem Untertitel »Mit Gott für König und Vaterland« ist sie ebenfalls dem konservativen Spektrum zuzuordnen.149 Dagegen positionierten sich die Gollnower Provinzial-Blätter für politische und sociale Interessen unter der Parole »Freiheit! Rechte! Fortschritt!«150 sowie der A ­ nclamer Volksfreund deutlich auf der Seite der politischen Linken. Letzterer bekannte sich anlässlich des ersten Jahrestags der Ermordung Robert Blums zur »rothen Republik« und sympathisierte offen mit Friedrich Hecker.151 Der Oberpräsident von Bonin untersagte hierauf den Abdruck offizieller Bekanntmachungen im »ultrademocratischen« Blatt.152 Aufgrund der verschärften rechtlichen Bestimmungen und der Wieder­ einführung der Zeitungssteuer gingen Anfang des Jahres 1850 nicht nur die politischen Zeitungen, sondern auch viele der unpolitischen Organe wieder ein. Erst mit dem Beginn der »Neuen Ära« und schließlich infolge des Reichs­ pressegesetzes von 1874 und des Wegfalls der Zeitungssteuer stieg die Zahl der Zeitungen und Zeitschriften auch in den Klein- und Mittelstädten Pommerns wieder an. Das Pressewesen differenzierte sich auch inhaltlich weiter aus. In Naugard erschien seit 1859 das Pommersche Missionsblatt. In Gollnow, Treptow a. d. Rega und in Ducherow wurden seit den sechziger Jahren spezielle Zeitschriften für Lehrer verlegt. Ebenfalls in Ducherow gab der Verein Pomerania zwischen 1864 und 1870 die politisch als konservativ einzuschätzende153 Hei-

146 Vgl. die entsprechenden Meldungen in APS, NPPP, Nr. 3014. 147 Vgl. etwa die Stargarder Bürgerztg., Nr. 29, 31.3.1849. 148 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3014, Ankündigungen zur Herausgabe der beiden Blätter, Pasewalk 12.7. bzw. 19.12.1848. 149 Vgl. Wehrmann, Zeitungen u. Zeitschriften, S. 37 f. 150 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3014, Prospekt der Prov.-Bl., Gollnow Sept. 1848. 151 Vgl. Anclamer Volksfreund, Nr. 46, 17.11.1849. 152 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3014, Oberpräsident v. Bonin an Anklamer Landrat, Stettin 14.12.1849. 153 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3659, Statut des Vereins Pomerania von 1864 [1864].

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matzeitschrift Das liebe Pommernland heraus. In Pasewalk erschien bereits 1854 ein Landwirtschaftliches Wochenblatt. In Regenwalde wurde seit 1860 eine Landwirtschaftliche Monatsschrift gedruckt, und in Stargard gab der Pommersche Sängerbund in den Jahren 1868 und 1869 ein eigenes Vereinsblatt heraus. Außerdem erschienen ab 1859 mehrere neue Lokalzeitungen. In Anklam wurde zwischen 1859 und 1870 die Anklamer Zeitung verlegt, 1886 folgten die Anklamer Nachrichten. Ebenfalls 1859 erschien die Stargarder Zeitung, die 1874 um das Stargarder Tageblatt, 1878 um das Neue Pommersche Tageblatt – ­Zeitung für Stargard und 1881 um die Pommersche Volkszeitung ergänzt wurde. Weitere Zeitungsgründungen fanden 1867 in Greifenberg, 1869 in Treptow a. d. Rega, 1871 in Pasewalk, 1876 in Gartz a. d. Oder, 1878 in Pölitz und 1879 in ­Ueckermünde statt. Gründungen der achtziger und neunziger Jahre, etwa in Bahn (1885), Regenwalde (1894) und Torgelow (1898), bedienten sich des Generalanzeigerprinzips und finanzierten sich über einen großen Anzeigenteil. Weiter erschienen einige Neugründungen wie der Zinnowitzer Anzeiger (1889) als Kopfblatt größerer Zeitungen.154 Letztlich wurden seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in fast allen pommerschen Kleinstädten eigene Lokalzeitungen herausgegeben. Einige dieser Zeitungen wie die Stargarder oder auch die Stralsundische Zeitung aus dem Nachbarbezirk fanden auch überregionalen Absatz und entwickelten sich seit dem Ende der sechziger Jahre zu einer ernstzu­ nehmenden Konkurrenz der Stettiner Blätter. Anfang der achtziger Jahre politisierten sich sogar einige der lokalen Zei­ tungen. Nachdem die Berliner sozialdemokratische Presse noch kurz vom dem Erlass des Sozialistengesetzes im Jahr 1878 außerhalb Stettins im Bezirk lediglich 109 Abnehmer vor allem in den Städten Anklam (23) und Pasewalk (16) gefunden hatte,155 erschien der von 1887 bis 1890 in Stargard gedruckte Stetti­ner Volksbote 1890 bereits in einer Auflage von 3.000 Exemplaren.156 Freilich wandte sich das sozialdemokratische Kopfblatt weiterhin in erster Linie an die großstädtischen Stettiner Arbeiter. Ebenfalls in Stargard gründete der dortige Conservative Verein 1881 unter dem Einsatz erheblicher finanzieller Mittel die bereits erwähnte Pommersche Volkszeitung. Mit knapp 1.000 Abonnenten zu Beginn des Jahres 1882157 existierte das Vereinsorgan bis zum 1. Januar 1907.158 Sonst 154 Vgl. Wehrmann, Zeitungen u. Zeitschriften, passim. 155 Vgl. APS, RSz, I, Nr.  10463, Aufstellung der durch die Post versandten Berliner sozialdemokratischen Zeitungen im Regierungsbezirk Stettin, Berlin 21.7.1878. Die Stettiner Regierung zählte zu den »sozialdemokratischen Zeitungen« neben dem Botschafter, dem Staatssocialisten, der Waage, der Zukunft u. der Berliner Freie Presse auch den linksliberalen Berliner Börsencourier 156 Vgl. APS, SPSt, Nr.  184, Stargarder Oberbürgermeister an Saatziger Landrat, Stargard 21.2.1890. 157 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 1103, Statut des Conservativen Vereins für Stargard u. Umgebung, Stargard 10.5.1882 u. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1881/82, Stettin 23.2.1882. 158 Vgl. Wehrmann, Zeitungen u. Zeitschriften, S. 66.

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waren seit den achtziger Jahren auch einige der städtischen Anzeiger partei­ politisch einzuordnen. Der Demminer Anzeiger positionierte sich beispiels­weise deutlich auf Seiten der Deutsch-Freisinnigen Partei. Bei den Reichstagswahlen des Jahres 1887 wurde er vom örtlichen freisinnigen Wahlverein in hoher Auflage produziert und auch in der ländlichen Umgebung verteilt.159 Dagegen sympathisierte der Treptower Anzeiger offen mit der sich seit 1880 in Pommern festsetzenden antisemitischen Bewegung. Angesichts der 1881 in Hinterpommern ausbrechenden antijüdischen Ausschreitungen160 kommentierte er etwa, dass die Juden die Tumulte selber provoziert hätten und es Zeit wäre, sich bei den nächsten Wahlen dem »jüdischen Liberalismus« entgegenzustellen.161 Indes stießen diese antisemitischen Töne auch auf erheblichen Protest der liberalen Kreise Treptows.162 Eine bedeutendere lokale Parteipresse bildete sich angesichts der geringen Größe der pommerschen Städte jedoch nicht vor den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts heraus. Je kleiner das Einzugsgebiet der Zeitungen war, desto mehr waren diese dazu genötigt, sich politisch kompromissbereit zu geben. 3.3.3 Die Ausbildung des Pressewesens in der Großstadt Stettin Stettin hatte sich seit dem frühen 17. Jahrhundert zu einem Zentrum der pommerschen Presselandschaft entwickelt. Hier erschien bei der Druckerei E ­ ffenbart seit 1755 die Königlich Privilegierte Stettiner Zeitung. Ebenfalls bei Effenbart wurde ab 1814 das Amtsblatt der pommerschen Regierung (von 1811–1814 noch in Stargard)  verlegt. 1835 kamen die im Verlag Hessenland vom Kaufmann Adolf Altvater herausgegebenen Börsennachrichten dazu. Daneben wurden im Vormärz die Baltischen Studien der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Landeskunde (seit 1832), das Pommersche Kirchenblatt (1835–1836), ein Monatsblatt für Pommerns Volksschullehrer (1835–1848) und auch Verbandszeitungen wie die des Entomologischen Vereins zu Stettin (seit 1840) verlegt.163 Die Privilegierte Stettiner Zeitung und die Börsennachrichten waren die einzigen pommerschen Blätter, die im Vormärz auch überregional in der Provinz Leser fanden. Beide erschienen bis 1848 in der Regel dreimal die Woche. Aufgrund des königlichen Privilegs gab sich die Privilegierte Stettiner Zeitung gouver­ nemental. Der Inhalt war von vermischten Nachrichten aus dem In- und Aus159 Vgl. APS, NPPP, Nr.  3771, Demminer Landrat v. Müffling an Oberpräsident v. BehrNegen­dank, Demmin 23.2.1887. 160 Vgl. hierzu ausführlich Wilhelmus, S. 107–112. 161 Vgl. Treptower Anzeiger, 17.8.1881. 162 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3770, Protestschreiben mehrerer Bürger der Stadt an Oberpräsident v. Münchhausen, Treptow a.d. Rega 17.8.1881. 163 Vgl. Wehrmann, Zeitungen u. Zeitschriften, S. 76 f.

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land sowie einem umfangreichen Anzeigenteil bestimmt. Die Provinz betreffende Meldungen wurden bis Ende der vierziger Jahre nicht gedruckt, allerdings wurde hin und wieder über städtische Themen berichtet. Dabei enthielten sich diese Artikel jedes Räsonnements. Die Stettiner Börsennachrichten wurden durch einen Oberpräsidial­erlass vom 15.  Juni 1835 dazu genötigt, lediglich über wirtschaftliche Themen zu schreiben. Über Politik und Religion zu berichten, war dagegen strikt untersagt.164 Dennoch machten die Börsennachrichten im ersten Jahr ihres Erscheinens deutlich, dass sie sich mit der zwangsweise auferlegten Rolle der reinen Wirtschaftszeitung nicht zufrieden geben wollten. Die Zeitung warnte etwa im Januar 1836 ausdrücklich vor der Unterdrückung des freien Räsonnements, welches in ihren Augen allein die Kräfte des Fortschritts entfesseln könne.165 An anderer Stelle kontrastierte sie den liberalen Grundsatz der Öffentlichkeit mit dem »Egoismus, Stolz und Dünkel« der Feudal-Aristokratie.166 Auch mit der 1838 in Auszügen abgedruckten Schrift Friedrich Lists über »Das deutsche National-Transportsystem«167 positionierten sich die Börsennachrichten im nationalen wie auch liberalen Lager des Vormärz. Dazu kritisierte die Zeitung in vielen anderen Artikeln unter dem Deckmantel der Wirtschaftsberichterstattung den mangelnden Reformeifer und den generellen politischen Zustand der ständischen Ordnung. Dagegen verbanden die Börsennachrichten mit dem Amtsantritt Friedrich Wilhelms IV. einige Hoffnungen. Die leicht gelockerten Zensurbestimmungen vom 24.  Dezember 1841168 wurden ausdrücklich als »die geistige Basis einer neuen Zeitepoche« gewürdigt.169 Als im Oktober 1842 die »Vereinigten Ausschüsse« in Berlin zusammengerufen wurden, forderten die Börsennachrichten im Einklang mit der liberalen Bewegung nicht nur die vollständige Gewährleistung der in der Bundesakte versprochenen Pressefreiheit und die Öffentlichkeit aller Regierungshandlungen, sondern auch die Gewährung eines »allgemeinen, alle Volksklassen und Interessen gleichmäßig umspannenden Wahlgesetzes.«170 Außer der fortwährenden Kritik am althergebrachten Einfluss des Adels und dem Plädoyer für politische Reformen171 thematisierte die Zeitung in den vierziger Jahren zunehmend soziale Probleme. Ein 1843 an die »hochzuverehrenden Pommerschen Stände« gerichtetes Gedicht forderte etwa außer zusätzlichen staatlichen Investitionen unter dem Hinweis auf die Leistungen der unteren

164 Vgl. Bader, S. 51 f. 165 Vgl. Bn, Nr. 2, 4.1.1836. Zit. auch bei Bader, S. 44. 166 Vgl. ebd., Nr. 6, 18.1.1836. 167 Vgl. ebd., Nr. 25, 26.3.1838, Nr. 27, 2.4.1838 u. Nr. 31, 16.4.1838. 168 Vgl. hierzu Koszcyk, S. 88. 169 Vgl. den Artikel »Übersicht der inländischen Preßzustände«, in: Bn, Nr. 48, 17.6.1842. 170 Vgl. den Artikel »Bescheidene Bitten und ernste Wünsche an die ständischen Central-Ausschüsse«, in: Bn, Nr. 81, 10.10.1842, Nr. 82, 14.10.1842 u. Nr. 83, 17.10.1842. 171 Vgl. etwa den Artikel »Über den wahren u. falschen Liberalismus«, in: Bn, Nr. 5, 16.1.1843.

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Stände in den Freiheitskriegen eine Ausweitung des Wahlrechts. Das Gedicht verwies weiterhin indirekt auf die Zensur und appellierte an die pommersche Provinzialvertretung, mit einer vergleichbaren Vehemenz wie andere Provinziallandtage gegenüber dem preußischen Monarchen aufzutreten.172 Die Auswirkungen des Pauperismus wurden in den Börsennachrichten nach dem Weberaufstand des Jahres 1844 in einem höheren Maß berücksichtigt.173 In diesen Artikeln erörterten die Autoren nicht nur die Lage der niederen Handwerker, Vertrags- und Industriearbeiter. Stattdessen wurde auch kontrovers über das materielle Wohl der pommerschen Tagelöhner auf dem Land diskutiert.174 Seit Mitte der vierziger Jahre fanden sich schließlich in fast jeder Ausgabe kritische Artikel, die über so unterschiedliche Themen wie die Emanzipation der Juden, Pressefreiheit, politische Partizipation, Alkoholismus der Landbevölkerung, Bildungspolitik und Ausbau der Infrastruktur räsonierten. Aufgrund der erneut im Februar 1843 verschärften Zensurbestimmungen war es nicht überraschend, dass die Börsennachrichten mehrmals in Konflikt mit den neu eingesetzten Lokalzensoren gerieten. Wie andere liberale Zeitungen widersetzten sich die Autoren mit unterschiedlichen Strategien der Zensur. Neben der expliziten Kritik an der Zensurpraxis, die dann indes zumeist ausschließlich wirtschaftlich begründet werden konnte,175 wies die Zeitung immer wieder implizit auf die Zensurmaßnahmen hin. So entschuldigte sich das Blatt häufig am Ende eines kritischen Artikels, »hier das Thema abbrechen zu müssen.«176 1843 brachte der Herausgeber der Börsennachrichten, Adolf Alt­ vater, das Thema der Zensur sogar vor den Provinziallandtag. Zwar wurden seine Vorschläge für eine freiere Bewegung der Presse abgelehnt, die ausbrechende presserechtliche Diskussion fand jedoch in einem Beschluss ihren Abschluss, der die Zensurbestimmungen als ungenau kritisierte.177 Sonst wehrte sich Altvater auch vor dem Berliner Oberzensurgericht gegen negative Entscheidungen der Lokalzensoren. In den nicht wenigen Fällen, in denen das Zensurgericht im Sinne der Börsennachrichten entschied, druckten diese die zensierten Stellen unter Verweis auf das vorausgegangene Verbot auf der ersten Seite 172 Vgl. das Gedicht »An die hochzuverehrenden Pommerschen Stände«, in: Bn, Nr.  19, 6.3.1843. 173 Vgl. etwa den Artikel »Gerechtigkeit und Humanität!«, in: Bn, Nr. 33, 8.7.1844 oder auch die Artikelserie »Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation u. Emancipation der unteren Klassen«, in: Bn, Nr. 97, 98, 100 u. 101 des Jahres 1844. 174 Vgl. etwa den Artikel »Auch etwas über die Tagelöhner Hinterpommerns«, in: Bn, Nr. 2, 7.1.1848. Dieser reagierte auf zwei die Lage der Tagelöhner drastisch beschreibende Artikel in den Nr. 93 u. 102 des Jahres 1847. 175 Vgl. Bn, Nr. 2, 5.1.1846. Der Autor verwies darauf, dass aufgrund der 20-Bogenzensur kleinere Schriften inzwischen fast ausschließlich im Ausland gedruckt würden. 176 Vgl. etwa am Ende des Artikels »Über den wahren und falschen Liberalismus«, in: Bn, Nr. 5, 16.1.1843. 177 Vgl. Vhdl. des Prov.-Landtages, Bd.  8, 1843, S.  164–167. Siehe auch Inachin, Provinzialstände, S. 123.

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der Zeitung ab,178 womit die Zensurbehörden der Lächerlichkeit preisgegeben werden sollten. Da sich in den vierziger Jahren die öffentliche Meinung des städtischen ­Publikums längst zugunsten der freien Presse entschieden hatte, standen die preußischen Provinzialverwaltungen häufig vor dem Problem, überhaupt ge­ eignete Männer für das Zensorenamt zu finden. Auch in Stettin hat es an Freiwilligen für die Übernahme des »so läßtigen und angefeindeten Amtes« gefehlt.179 Dass die Börsennachrichten entgegen ihrer eingeschränkten Konzessionierung in den vierziger Jahren letztlich einen gewissen Spielraum hatten, einerseits über politische Fragen zu schreiben und andererseits überhaupt Kritik zu äußern, hing freilich nicht nur mit der wachsenden politischen Öffentlichkeit der Stadt Stettin zusammen. Stattdessen genoss die Zeitung auch in gouvernementalen und konservativen Kreisen einen guten Ruf. Ein Konfident des Mainzer Informationsbüros bezeichnete etwa 1847 die Börsennachrichten als das »bei weitem […] beste Handelsorgan in dem östlichen Teil der preußischen Monarchie.«180 Die allgemeine Wertschätzung der Zeitung spiegelte sich auch in der schon 1845 bei rund 1.900 Exemplaren liegenden Auflage. Mit der zunehmenden Politisierung der Stettiner Öffentlichkeit fanden sich seit Mitte der vierziger Jahre selbst in der gouvernementalen Königlich Pri­ vilegierten Stettiner Zeitung hin und wieder Anzeichen für eine räsonierende Berichterstattung. Mit dem Abdruck der Tagesordnungspunkte der Stettiner Stadtverordnetenversammlung wurde die Stettiner Kommunalpolitik nunmehr zumindest in Ansätzen einer größeren Öffentlichkeit präsentiert. Im Oktober 1844 führte die Zeitung aus, dass eine »öffentliche Berichterstattung der Gemeinde-Angelegenheiten […] unverkennbar wohl geeignet [sei], das Gemeinwohl zu fördern.«181 Gleichzeitig wandte sie sich jedoch ausdrücklich gegen eine schädliche Irreleitung der öffentlichen Meinung, worunter die Ablehnung einer parteiischen Berichterstattung zu verstehen war. Eine freie Auseinandersetzung folgte freilich zuerst nur bei ausgewählten Sachthemen, wenn es etwa um den Ausbau der städtischen Hafenanlagen oder die Einführung einer Gasbeleuchtung ging.182 Dagegen fand 1845 eine kontroverse Diskussion um die Konstituierung des freisinnigen Deutsch-Katholizismus statt. Die Gründung eines Vereins zur Un178 Vgl. etwa den Abdruck einer Stelle eines ursprünglich in der Nr. 104 des Jahres 1843 ab­ gedruckten Artikels nach entsprechendem Bescheid in der Nr. 41, 20.5.1844. Vgl. dazu ausführlich Bader, S. 52 f. Im Bestand Staatsarchiv Münster, Oberpräsident Münster, Nr. 128, Bd. 3 sind mehrere verhandelte Zensurfälle der Börsennachrichten aus den Jahren 1843 u. 1844 abgedruckt. 179 Vgl. GStAPK, I. HA. Rep. 77, Tit. 1, Nr. 18, Bd. 1, Pom. Oberpräsident an Innenminister, Stettin 17.11.1845. Zit. nach: Kucharczyk, S. 430. 180 Vgl. das Exposé des Mainzer Konfidenten Fischers »Über die deutsche Zeitungspresse«. Zit. nach: Hoefer, S. 180. 181 Vgl. Priv. Stettiner Ztg. Nr. 125, 16.10.1844. 182 Vgl. etwa ebd. Nr. 122, 9.10.1844 u. Nr. 143, 27.11.1844.

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terstützung dieser Bewegung in Stettin bewertete die Privilegierte Stettiner Zeitung als positiv,183 was ein Indiz für die sukzessive Übernahme liberaler Gedanken darstellte. 1846 drückte das Blatt in seiner Berichterstattung zudem vorsichtig die Hoffnung auf Reformen im deutschen Presserecht und im Zollwesen aus.184 1847 kritisierte man die »kastenartige Erziehung der Kinder« in Militärschulen,185 forderte die volle Emanzipation der Juden186 und verbreitete über den Abdruck der Protokolle des Vereinigten Landtags die Standpunkte der liberalen Abgeordneten. Allerdings sprach sich die Privilegierte Stettiner ­Zeitung immer noch deutlich gegen jedes Parteiwesen aus187 und bekundete regelmäßig ihre Sympathie für die Stettiner Garnison und ihren Oberkommandierenden Friedrich von Wrangel.188 Zusammengefasst entwickelte sich die Privilegierte Stettiner Zeitung seit der Mitte der vierziger Jahre zu einem liberal-konservativen Blatt, während sich die Börsennachrichten an ein breiteres Spektrum von Lesern wandten, welches sich vom gemäßigten Liberalen bis hin zum freisinnigen Demokraten erstreckte. Als auch noch 1847 der frühere Autor der Börsennachrichten, Wilhelm Lüders, die Stettiner Monatszeitschrift Wächter an der Ostsee ins Leben rief,189 erschien neben den beiden Stettiner Zeitungen erstmals ein explizit demokratisches Organ in Pommern. Letztlich belegt diese Übersicht über die Entwicklung der Stet­ tiner Presse im Vormärz, dass die öffentliche Meinung der städtischen Bevölkerung bereits im Vorfeld der Revolution von 1848/49 deutlich liberal geprägt war. Umso ärgerlicher reagierten die Börsennachrichten, wenn die auswärtige Presse Pommern immer wieder als gleichmütige, desinteressierte, reaktionäre Provinz beschrieb und die kritischen Stimmen der Stettiner Presse nicht wahr­ genommen wurden.190 Als im April 1847 der Vereinigte Landtag zusammengerufen wurde, stießen die Verhandlungen auch bei den beiden Stettiner Zeitungen auf großes Interesse. Dass den Börsennachrichten der Abdruck der Landtagsprotokolle untersagt wurde, kritisierte das Blatt.191 Demgegenüber ordnete sich die Zeitung dem im Juni 1847 erlassenen Verbot, die Landtagsauflösung zu kommentieren, unter – allerdings nicht ohne den Leser auf die erneute Verschärfung der Zensurbestimmungen hinzuweisen.192 Mit Jahresbeginn 1848 veränderte sich 183 Vgl. ebd., Nr. 25, 26.2.1845. 184 Vgl. ebd., Nr. 83, 13.7.1846. 185 Vgl. ebd., Nr. 1, 1.1.1847. 186 Vgl. ebd., Nr. 82, 9.7.1847. 187 Vgl. ebd., Nr. 21, 17.2.1845. 188 Vgl. den Abdruck eines Gedichts zu Ehren des Generals Friedrich v. Wrangel in der Priv. Stettiner Ztg., Nr. 98, 17.8.1846. 189 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 472. 190 Vgl. etwa den Artikel »Der Correspondent aus Pommern in der Leipz. Allgem. Zeitung«, in: Bn, Nr. 94, 25.11.1842. 191 Vgl. Bn, Nr. 45, 4.6.1847. 192 Vgl. ebd., Nr. 53, 9.7.1847.

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indes die Berichterstattung beider Zeitungen. Selbst die Privilegierte Stettiner Zeitung kommentierte den Verlauf der im Februar 1848 stattfindenden internationalen Ereignisse anfangs wohlwollend. Beispielsweise wurde die Mitte Februar er­lassene, auf den Monarchen zugeschnittene Verfassung des Königreichs beider Sizilien in aller Breite vorgestellt193 und selbst der Beginn der Februarrevolution in Frankreich mit einer gewissen Sympathie begleitet. Der Tonfall verschärfte sich dann mit der Ausrufung der Republik.194 Mit Ausbruch der Revolution in den deutschen Staaten positionierte sich die Zeitung deutlich auf Seiten der Gegenrevolution. Während noch die erneute Einberufung des Vereinigten Landtags mit dem Abdruck eines Dankgedichts des späteren Paulskirchenabgeordneten Ludwig Giesebrecht für Friedrich Wilhelm IV. gewürdigt worden war,195 warnte die Privilegierte Stettiner Zeitung vor den »Schrecken einer Staatsumwälzung«, rief wie das Amtsblatt zu Ruhe und Besonnenheit auf und kritisierte die Demütigung des Monarchen bei der erzwungenen Entblößung seines Hauptes vor den Märzgefallenen.196 Ein Stück zu weit ging vielen Stettiner Bürgern allerdings der Abdruck eines Lobgedichts über das pommersche »2te Infanterie- (genannt Königs-) Regiment«, welches bei den Berliner Kämpfen eingesetzt worden war und auch Verluste erlitten hatte. Sowohl die Stettiner Kaufmannschaft als auch diverse anonyme Stimmen protestierten hierauf gegen das Blatt.197 Infolge der raschen Dynamik der Ereignisse stellte die Zeitung am 1.  April 1848 zwar noch auf eine tägliche Erscheinungsweise um. Letztlich begann jedoch mit der Revolution der sukzessive Verfall des Blattes. Die Frak­ tionierung der Stettiner Öffentlichkeit ließ die Zahl der Abonnenten erheblich schrumpfen,198 zumal bald weitere konservative Zeitungsgründungen in Konkurrenz zum Blatt traten. In den Börsennachrichten stieg in der politischen Berichterstattung ebenfalls seit Mitte Februar 1848 der Spannungsbogen an. Am 19. März erschien schließlich ein Extrablatt, das zum einen das Patent zur Einberufung des Vereinigten Landtags und zum anderen das neue »Gesetz über die Presse« veröffentlichte. Der Kopf des Blattes warb mit dem Hinweis »Ohne Censur«.199 Am 20. März folgten der Hauptausgabe nach dem Eintreffen weiterer Berliner Nachrichten am gleichen Tag drei Extrablätter. Im ersten Satz der Ausgabe betonte der Herausgeber die historische Bedeutung der Berliner Ereignisse und kündigte an, dass die Zeitung nunmehr ihre Zurückhaltung in politischen Fragen auf­geben werde.200 Die Börsennachrichten stellten sich im Folgenden auf die Seite der 193 Vgl. Priv. Stettiner Ztg., Nr. 24, 25.2.1848. 194 Vgl. ebd., Nr. 26, 1.3.1848. 195 Vgl. ebd., Nr. 33, 17.3.1848. 196 Vgl. ebd, Nr. 34, 20.3.1848, Nr. 35, 22.3.1848 u. Extrabeilage, 23.3.1848. 197 Vgl. ebd., Nr. 36, 24.3.1848 u. Nr. 37, 27.3.1848. 198 Vgl. OZ, Nr. 229, 14.12.1848. 199 Vgl. Extrablatt zu den Bn, 19.3.1848. 200 Vgl. Bn, Nr. 23, 20.3.1848.

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gemäßigten Linken. Am 27.  März sprach sich ein Autor für ein allgemeines und gleiches, an das Erreichen der Volljährigkeit gebundenes Männerwahlrecht aus.201 Am 11. April wurde Adolf von Thadden-Trieglaff wegen seiner gegen das demokratische Prinzip polemisierenden Landtagsrede heftig kritisiert.202 Einen Tag später setzte sich der erste Vorsitzende des am 10. April gegründeten Constitutionellen Clubs,203 Paul Sternberg, in einem Leitartikel für die demokratische Monarchie ein.204 Zwischen der Zeitung und dem Constitutionellen Club entwickelte sich bald eine programmatische Nähe, die sich am deutlichsten in der am 24. August 1848 erfolgten Übernahme der Redaktion durch das führende Klubmitglied R. H. Maron ausdrückte.205 Den Lesern wurde das politische Programm des seit dem 3. April zur Ostseezeitung umgetauften Blatts außerdem mit dem neuen Untertitel »Fleiß. Bildung. Freiheit.« eröffnet.206 Aufgrund von Abonnementskündigungen aus Kreisen der Gutsbesitzer, die der Zeitung »radicale und communistische Tendenzen« vorwarfen, präzisierte die Ostseezeitung ihr Programm bald dahingehend, dass sie sich den konservativen Vorwürfen zum Trotz für das Prinzip der »freien Concurrenz« und die »Interessen des Handels und Bürgerstands« einsetzen werde.207 Und auch als der bisherige Herausgeber Adolf Altvater seine Tätigkeit zugunsten seiner für den Freihandel Stellung beziehenden Mitarbeit im Volkswirtschaftlichen Ausschuss der Paulskirchenversammlung208 an Maron abgab, betonten die neuen Redakteure, dass sich die Ostseezeitung weiterhin für die Gewährleistung des Eigentums stark mache. Ebenso wolle man jedoch mit aller Kraft am Prinzip der Demokratie »in der Form der konstitutionellen Monarchie« festhalten.209 Demnach berichtete die Ostseezeitung ausführlich über das politische Vereinsleben in Stadt und Provinz, wobei sowohl die gegenrevolutionären Aktivitäten konservativer Vereine als auch vereinzelte republikanische und sozialistische Ansätze kritisch kommentiert wurden. Im Anfang November 1848 endgültig ausbrechenden Konflikt zwischen der Preußischen Nationalversammlung und der Krone solidarisierte sich das Blatt mit der linken Parlamentsmehrheit. Als Reaktion auf den Steuerverweigerungsbeschluss vom 15. November warnte die Ostseezeitung zwar vor dem drohenden Bürgerkrieg, forderte jedoch zumindest die Abdankung des Ministeriums Brandenburg.210

201 Vgl. Bn, Nr. 25, 27.3.1848. 202 Vgl. OZ, Nr. 33, 11.4.1848. 203 Vgl. Stępiński, Stowarzyszenia liberalne i demokratyczne, S. 275. 204 Vgl. OZ, Nr. 34, 12.4.1848. 205 Vgl. ebd., Nr. 134, 24.8.1848. 206 Vgl. ebd., Nr. 27, 3.4.1848. 207 Vgl. ebd., Nr. 64, 26.5.1848. 208 Vgl. Stępiński, Stowarzyszenia liberalne i demokratyczne, S. 273. 209 Vgl. OZ, Nr. 134, 24.8.1848. 210 Vgl. ebd., Nr. 206, 16.11.1848.

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Die Oktroyierung der Verfassung am 5.  Dezember 1848 wurde einerseits grundsätzlich aufgrund der Art und Weise ihres Zustandekommens, andererseits wegen konkreter inhaltlicher Punkte abgelehnt. So bemängelte die Ostseezeitung das Fehlen einer Klausel, welche die Existenz der Verfassung garantiert hätte, die eingeschränkten Grundrechte von Militär- und Landwehrangehörigen (Art. 36 und 37) sowie die mangelnde parlamentarische Kontrolle der Zivilliste (Krondotation).211 Trotz dieser Kritik stellte die Zeitung ihren politischen Kampf nach dem 9. Dezember weithin ein. Man wolle wieder zur früheren besonnenen Berichterstattung zurückkehren, da man sich nun infolge der ok­ troyierten Verfassung in einem »Waffenstillstand« befinde. Schließlich sei »eine positive Grundlage für die Fortentwicklung unserer politischen, wie socialen Verhältniße […] gegeben«.212 1849/50 wie auch in den folgenden Jahren positionierte sich die Ostsee­zeitung zum Missfallen der pommerschen Provinzialverwaltung213 zwar weiterhin klar im liberalen Lager, jedoch entschärfte sich die Berichterstattung. Diese Mäßigung resultierte einerseits aus der restriktiveren Pressepolitik der Verwaltung und andererseits aus der damit einhergehenden generellen Verdrängung räsonierender Artikel durch den Abdruck kleinerer Meldungen aus dem In- und Ausland. Ähnlich wie in den Klein- und Mittelstädten wurden in den Jahren 1848/49 weitere Stettiner Zeitungs- und Zeitschriftenprojekte ins Leben gerufen. Selbst der akribische Historiker Martin Wehrmann musste in seiner 1911 gedruckten Geschichte Stettins konstatieren, dass man über die meisten dieser oft nur kurzlebigen Blätter wenig wisse.214 Von den neuen politischen Zeitungen standen der von Mai 1848 bis in den Sommer 1850 publizierte Stettiner Beobachter und die ebenfalls seit dem Mai 1848 erscheinende Neue Stettiner Zeitung215 dem demokratischen Volksverein nahe. Ebenfalls demokratisch war der schon erwähnte bis mindestens Juli 1848 erscheinende, von Wilhelm Lüders redigierte Wächter an der Ostsee zu beurteilen. Vom Juli 1848 bis zum Juli 1850 erschienen zudem die dem gemäßigt demokratischen Patriotischen Club zuzuordnenden Patriotischen Blätter. Das seit dem 13. März 1849 erscheinende Allgemeine Pommersche Arbeiterblatt der Vereinigten Stettiner Gesellen-Brüderschaften216 wurde Anfang 1850 von den preußischen Behörden verboten.217 Der 1848 erwähnte Politische Kannengießer und der 1849 angekündigte Norddeutsche Volksfreund sowie die Preußische Volkszeitung zu Luft und Lehre wurden ver211 Vgl. ebd., Nr. 224, 7.12.1848 u. Nr. 225, 8.12.1848. 212 Vgl. ebd., Nr. 226, 9.12.1848. 213 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Jan. u. Feb. 1849, Stettin 5.3.1849 u. Ztgsb. Sept. u. Okt. 1849, Stettin 6.11.1849. 214 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 475. 215 Vgl. APS, NPPP, Nr.  3014, Subskriptionseinladung der Neuen Stettiner Ztg., Stettin 31.3.1848. 216 Vgl. Allg. Pom. Arbeiterbl., 13.3.1849. Vgl. auch APS, NPPP, Nr. 3014, Gründungsanzeige. 217 Vgl. Matull, S. 235.

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mutlich nur in wenigen Nummern gedruckt. Auch die Neue Stettiner Zeitung musste aufgrund Abonnentenmangels schon wieder im Dezember 1849 auf eine wöchentliche Erscheinungsweise umstellen,218 bis sie dann am 1. Juli 1850 zur Zufriedenheit der Provinzialverwaltung gänzlich einging.219 Dagegen überlebten das gemäßigt liberale Stettiner Tageblatt und die Pommersche Bürgerzeitung (seit 1853 Pommersche Zeitung) die 1850 einsetzende Verschärfung des Presserechts. Von den oben genannten Zeitungen ist vermutlich nur die sich als »kon­ stitutionell« bezeichnende Preußische Volkszeitung220 als konservativ bzw. liberal-konservativ zu beurteilen. Dazu traten die schon 1848 einsetzenden Bemühungen der Gebrüder Grassmann, ein gemäßigt konservatives Zeitungsprojekt ins Leben zu rufen. Im Mai 1848 zeigte Robert Grassmann dem Oberpräsidenten an, eine Deutsche Wochenschrift für Staat, Kirche und Volksleben gründen zu wollen. Im Programm gab man sich fortschrittlich, betonte jedoch ausdrücklich, dass »jeder revolutionäre Fortschritt ein unsittlicher sei«, der sich »an der göttlichen Ordnung« versündige.221 Am 14. Juni 1848 warben die Brüder dann in der Ostseezeitung für die Gründung der »auf dem Boden der Sittlichkeit und des Gesetzes« stehenden Norddeutschen Zeitung, welche seit dem 1.  Juli die Wochenschrift ablösen sollte.222 Im dazugehörigen Prospekt versuchte sich das Blatt sowohl von der »Reaktion« als auch der »Revolution« abzugrenzen. Freilich gehörte diese Distanzierung gegenüber der »Reaktion« zur typischen rhetorischen Figur des konservativen Lagers.223 Der indirekte Angriff auf die liberale städtische Konkurrenz (»eine große Schar von Zeitungen liebäugelt mit der Revolution und ihren angeblichen Helden«) belegte genauso wie das Plädoyer für das Prinzip der Dezentralität und die Betonung organischen, geschichtlichen Denkens die grundsätzlich konservative Stoßrichtung des Zeitungsprojektes.224 Im Prinzip stellte die Norddeutsche Zeitung bald das Sprachrohr des monarchisch gesinnten Konstitutionellen Vereins von Stettin dar. Zu den hochkonservativen Kreisen des platten Landes, die sich erst 1855 der Norddeutschen Zeitung bemächtigten, wahrte sie aber eine gewisse Distanz. Zwischen der Norddeutschen Zeitung, der Ostseezeitung und der Neuen Stettiner Zeitung entwickelte sich bald ein breiter öffentlicher Schlagabtausch. Dabei versuchte die Ostseezeitung schon im Juli 1848, die Norddeutsche Zeitung als Blatt derjenigen Partei zu entlarven, »die jetzt zwar das Panier des Constitutionalismus aufgepflanzt«

218 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Nov. u. Dez. 1849, Stettin 5.1.1850. 219 Vgl. Wehrmann, Zeitungen u. Zeitschriften, S. 78. 220 Vgl. ebd., S. 81. 221 Vgl. APS, NPPP, Nr.  3014, Prospekt der Deutschen Wochenschrift für Staat, Kirche u. Volksleben [Stettin Mai 1848]. 222 Vgl. OZ, 14.6.1848. 223 Vgl. Schwentker, S. 72. 224 APS, NPPP, Nr. 3014, Prospekt zur Ndt. Ztg., Stettin 7.6.1848.

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habe, »deren wahres Panier der Absolutismus« jedoch sei.225 Der durchaus konstitutionell gesinnte Grassmann ging allerdings ähnlich polemisch gegen die demo­k ratische Presse vor und scheute sich nicht, Maron in seiner Doppel­ funktion als Redakteur der Ostseezeitung und Präsident des im September 1848 tagenden Kongresses der demokratisch-constitutionellen Vereine Vorpommerns persönlich anzugreifen,226 oder noch die 1852 ins liberale Lager abdriftende Konkurrenz der Privilegierten Stettiner Zeitung öffentlich als »antichristlich« und »revolutionär« zu denunzieren.227 Nachdem die Verschärfung des Presserechts und die Wiedereinführung der Zeitungssteuer zum Eingehen der meisten kurzlebigen Zeitungs- und Zeitschriftengründungen der Revolutionszeit geführt hatte, kam es erst mit Beginn der »Neuen Ära« zu einem erneuten Gründungsboom. In den fünfziger Jahren blieb das Bild der Stettiner Tagespresse von der Ostseezeitung, der Norddeutschen Zeitung, der Privilegierten Stettiner Zeitung, dem Stettiner Tageblatt und der Pommerschen Zeitung bestimmt. Zusammengenommen kamen diese 1854 auf eine Auflage von rund 4.000 Exemplaren. Mehr als die Hälfte entfiel hiervon allein auf die Ostseezeitung. Und mehr als dreiviertel der Auflage klassifizierte der Stettiner Polizeidirektor von Schlotheim zu seinem Be­dauern als liberal,228 was mit dem 1852 erfolgten politischen Seitenwechsel der Privilegierten Stettiner Zeitung zusammenhing.229 Der konstante Erfolg der Ostseezeitung resultierte einerseits aus der Stabilität des liberalen kaufmännischen Milieus Stettins. Andererseits mussten die konservativen Parteiführer feststellen, dass die Qualität der Berichterstattung auch »viele der konservativen Partei angehörende Zeitungsleser« zu einem Abonnement verführe.230 Das Scheitern der Norddeutschen Zeitung festigte zudem die Stellung der liberalen Presse in den sechziger Jahren. Obwohl die traditionsreiche Privilegierte Stettiner Zeitung 1860 ihr Erscheinen einstellte und auch die Pommersche Zeitung 1866 aufgeben musste, trat mit Beginn der »Neuen Ära« 1859 die wiederbelebte demokratische Neue Stettiner Zeitung an deren Stelle. Trotz der konservativen Neugründung der Stettiner Zeitung Grassmanns blieb es in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts wie überall bei der liberalen Übermacht. Auch die Frontstellung zwischen Regierung und Stettiner Presse entspannte sich nicht, was sich besonders in der von der Provinzial­ verwaltung als »terrorisierend« und »zügellos« empfundenen Berichterstattung im preußischen Verfassungskonflikt manifestierte.231 Auch in den folgenden Jahren ist den offiziellen Ausführungen über die öffentliche Stimmung zu ent225 Vgl. OZ, Nr. 91, 5.7.1848. 226 Vgl. ebd., Nr. 163, 27.9.1848. 227 Vgl. Cizek, Grassmann, S. 228. 228 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3019, v. Schlotheim an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Stettin 25.4.1854. 229 Vgl. Cizek, Grassmann, S. 228. 230 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3019, v. Schlotheim an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Stettin 1.8.1853. 231 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16045, Ztgsb. März u. April 1862, Stettin 6.5.1862.

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nehmen, dass die Provinzialverwaltung die Stettiner Presse als oppositionelle Kraft wahrnahm. Zugleich lobten die Stimmungsberichte jedoch die örtlichen Zeitungen, wenn diese ausnahmsweise einmal mit der preußischen Politik konform gingen. Dieses war 1866 nach der erfolgreichen Beendigung des Deutschen Krieges der Fall, als man »den Umschlage der öffentlichen Meinung« der posi­tiven Berichterstattung der oppositionellen Presse zuschrieb.232 Gewürdigt wurden die Stettiner Zeitungen auch wegen ihrer patriotischen Berichterstattung in den Jahren 1870/71,233 ihrer Unterstützung im Kulturkampf234 sowie ihrer zumindest noch in den siebziger Jahren »muthigen Bekämpfung« der Sozialdemokratie.235 Dieses gelegentliche Lob hinderte die Provinzialverwaltung aber nicht daran, gegen die entschieden freisinnige Neue Stettiner Zeitung vorzugehen.236 Die sozialdemokratische Presse war in den siebziger und frühen achtziger Jahren nur kurz mit einer eigenen Zeitung vertreten. Die 1877 gegründete Stet­ tiner freie Zeitung ging nach internen Streitigkeiten schon im folgenden Jahr wieder ein,237 so dass in den nächsten Jahren lediglich einige Dutzend per Post aus Berlin, Rostock und Hamburg versandte sozialdemokratische Zeitungs­ exemplare in die Stadt gelangten. Allerdings trat die Stettiner Sozialdemokratie bereits 1885, mitten in der Zeit des Sozialistengesetzes, mit dem bis 1933 erscheinenden Volksboten erneut an die städtische Öffentlichkeit. Redigiert, gedruckt und expediert wurde das Blatt von dem seit 1882 in Stettin weilenden sozialdemokratischen Agitator Fritz Herbert.238 Obwohl der maßgebliche Initiator der pommerschen Sozialdemokratie mit Inkrafttreten des 1887 über Stettin verhängten kleinen Belagerungszustandes239 ausgewiesen wurde und die Redaktion zeitweilig nach Stargard verlegt werden musste, gewann der Volksbote stetig mehr Abonnenten. In der Zeit des Sozialistengesetzes wuchs die Zahl der im Stettiner Stadt­ bezirk fest abonnierten Ausgaben von 54 im Jahr 1887 auf 150 im Jahr 1889. Zugleich beklagte sich die Stettiner Bezirksregierung, dass der Volksbote in den Handwerksstätten und den neuen Arbeitersiedlungen der Stadt sich gegenseitig vorgelesen werde.240 Bis zum Ende des Sozialistengesetzes stieg die Gesamt­ 232 Vgl. ebd., Ztgsb. Sept. u. Okt. 1866, Stettin 8.11.1866. 233 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Mai, Juni u. Juli 1870, Stettin 18.8.1870. 234 Vgl. ebd., Ztgsb. Mai, Juni u. Juli 1874, 13.8.1874. 235 Vgl. ebd., Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1875/76, 7.3.1876. 236 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10460, Denkschrift über die sozialdemokratische Bewegung im Stadtbezirk Stettin u. Verlängerung des kleinen Belagerungszustandes, Stettin 17.7.1889. Erwähnt wird hier u. a. die Verurteilung eines Redakteurs der Neuen Stettiner Ztg. zu einer Geldstrafe von 100 Mark nach § 360 (11) StGB (Verbreitung »groben Unfugs«). 237 Vgl. Herbert, S. 5 f. Angeblich soll die Zahl der Abonnenten bereits 1.200 betragen haben. 238 Vgl. Lamprecht, S. 249–251. 239 Vgl. GStAPK, 1.  HA Rep. 90a, B III 2b, Nr.  6, Bd.  99, Bl.  74–74v., Prot. der Sitzung des Preuß. Staatsministeriums, Berlin 10.2.1887. 240 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10460, Denkschrift über die sozialdemokratische Bewegung im Stadtbezirk Stettin u. Verlängerung des kleinen Belagerungszustandes, Stettin 17.7.1889.

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auflage des Volksboten auf rund 3.000 Exemplare an.241 Das ursprünglich zweimal die Woche erscheinende sozialdemokratische Kopfblatt konnte zudem ab 1893 täglich herausgegeben werden. Mit der Gründung des Volksboten waren die in Stettin maßgeblichen parteipolitischen Richtungen komplett vertreten. Neben die Stettiner Zeitung Grassmanns trat schon 1882 die nationalkonservative Pommersche Reichspost. 1894 kam zu den Parteiblättern noch die Zeitschrift Pommerscher Greif des dortigen Landesverbandes der antisemitischen Deutsch-Socialen Reformpartei hinzu. Diese ging jedoch schon nach einem Jahr wieder ein. Dasselbe galt für die nach der Jahrhundertwende kurzzeitig erscheinende völkische Deutsche Hochwacht (1907). Dagegen hielt sich die National­ liberale Rundschau von 1911 bis 1920.242 Abgesehen von der politischen Presse differenzierte sich die Stettiner Medienlandschaft generell in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiter aus. Zeiten des Pressebooms waren der Beginn der »Neuen Ära«, die Jahre nach dem Erlass des Reichspressegesetzes von 1874 und die erste Hälfte der neunziger Jahre. Neben den diversen pädagogischen (seit 1877 etwa die mehrfach erwähnten Pommerschen Blätter für die Schule), kirchlichen und wirtschaftlichen Blättern spiegelt sich in den verschiedenen Veröffentlichungen das wachsende Vereinsleben der Stadt. Seit 1854 erschienen beispielsweise die Mitteilungen des pommerschen Seidenbauvereins und seit 1858 der Bote der evangelischen ­Gustav-Adolf-Vereine. In den siebziger Jahren wurden vom Verlag Hessenland Zeitschriften für Tauben-, Kanarienvögel- und Geflügelliebhaber veröffentlicht, des Weiteren erschienen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts diverse kulturelle Zeitschriften. 1892 bis 1896 wandten sich außerdem zwei bald scheiternde Zeitungsprojekte an das Publikum der Hausfrauen.243 In der nach 1858 kaum mehr überschaubaren Vielzahl von Zeitungen und Zeitschriften drückte sich die zunehmende Verfestigung der bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Stettin entwickelten zivilgesellschaftlichen Strukturen heraus. Letztlich konnte die Stadt ihre Funktion als gesellschaftlicher und kultureller Leuchtturm des Bezirks und der Provinz bis zur Jahrhundertwende ausbauen. 3.3.4 Politische Partizipation, Vereinsbildung und Herausbildung der modernen Parteien auf dem platten Land Vereine und Parteien erlangten für die breiteren Bevölkerungsschichten des platten Landes in Pommern erst in den letzten beiden Dekaden vor der Wende zum 20. Jahrhundert eine lebensweltliche Relevanz. Dagegen sind in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gutsbesitzer, Verwalter, Geistliche und Schulzen als konkrete zivilgesellschaftliche Akteure festzumachen. In der zweiten Hälfte des 241 Vgl. APS, SPSt, Nr. 184, Oberbürgermeister an Landrat, Stargard 21.2.1890. 242 Vgl. Wehrmann, Zeitungen u. Zeitschriften, S. 89–91. 243 Vgl. ebd., S. 82–90.

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19.  Jahrhunderts stießen zu diesem Personenkreis auch sukzessive die Landschullehrer hinzu. Befördert von der pommerschen Verwaltung organisierten sich pommersche Ritterguts- und Großgrundbesitzer bereits seit der 1810 in Köslin erfolgten Gründung der Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft. Das Ziel dieser Vereinigung war in erster Linie der gegenseitige Erfahrungsaustausch und die gemeinsame Interessenvertretung. Weitere landwirtschaftliche Vereine bildeten sich bald in Treptow a.d. Tollense (1817), in Bergen auf Rügen (1821), in ­Anklam (1825), in Regenwalde (1831) und Stettin (1837). 1836 wurde die Pommer­sche Ökonomische Gesellschaft zum Zentralverein für ganz Hinterpommern erklärt und damit der direkte Ansprechpartner der Verwaltung zur Klärung landwirtschaftlicher Fragen. 1838 richtete man mit dem Baltischen Zentral­verein zur Förderung der Landwirtschaft eine gleiche Vereinigung für Vorpommern ein. Bis 1848 vergrößerte sich die Zahl der pommerschen Zweigvereine beider Gliederungen auf 20.244 Nach der Konstituierung der jeweiligen Zentralvereine weitete sich ihre Tätigkeit erheblich aus. »Um belehrende Vergleichungen anzustellen« wurden etwa beim Stettiner Wollmarkt Tierschauen durchgeführt.245 Seit Mitte der vierziger Jahre vergab die Pommersche Ökonomische Gesellschaft Geldprämien für landwirtschaftliche Innovationen. Beispielsweise zeichnete man die »beste Stallfütterung«, die »besten Kälber« oder »das rentabelste Verfahren aus Möhren oder Zuckerrüben Spiritus zu bereiten« mit Prämien in der Höhe von bis zu 500 Talern aus.246 Weiterhin engagierte sich die Vereinigung für eine Ausweitung des Chausseebaus.247 Schließlich förderte die Pommersche Ökonomische Gesellschaft auch die Einrichtung landwirtschaft­ licher Schulungseinrichtungen. In Kooperation mit dem Königlichen Ökonomie-Kollegium wurde hierfür sogar ein Stipendiensystem aufgebaut.248 Wenn auch eindeutig vom konservativen Rittergutsbesitz dominiert, gaben die beiden landwirtschaftlichen Zweigvereine, welche durchaus noch in der zivil­ gesellschaftlichen Sphäre angesiedelt waren, wesentliche Impulse zur Modernisierung der pommerschen Landwirtschaft. Die Bedeutung ihrer Aktivität wurde auch von der Verwaltung frühzeitig gewürdigt.249 In den Selbstverwaltungsorganen der Provinz, die gleichzeitig eine Schnittmenge der staatlichen und der gesellschaftlichen Sphäre bilden, dominierte ebenfalls der Rittergutsbesitz, dagegen war die einfache Landbevölkerung de 244 Vgl. Ramm, S. 137 f. 245 Vgl. etwa Amtsbl. Stettin, Nr. 17, 23.4.1841. 246 Vgl. etwa ebd., Nr. 49, 4.12.1846, Nr. 17, 23.4.1847 u. Nr. 17, 23.4.1852. 247 Vgl. Bn, Nr. 29, 11.4.1845. 248 Vgl. ein Bericht über die drei Stipendiatenstellen der Landwirtschaftsschule Regenwalde im Amtsbl. Stettin, Nr.  24, 12.6.1846. Sonst stellte die 1835 gegründete Landwirtschaftliche Akademie zu Eldena der Universität Greifswald die wichtigste landwirtschaftliche Fortbildungsstätte dar. 249 Vgl. etwa GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16037, Ztgsb. für Feb. 1838, Stettin 5.3.1838.

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facto seit den zwanziger Jahren von jedem politischen Einfluss ausgeschlossen worden. Im Pommerschen Provinziallandtag standen von 1824 bis 1873 lediglich acht Vertreter des dritten Standes den 41 Vertretern des ersten (25 Vertreter) und des zweiten Standes (16 Vertreter) gegenüber. Im Altpommerschen Kommunallandtag gestaltete sich das Verhältnis mit 6:12:20 ähnlich ungünstig. Auch die Kreisversammlungen wurden bis zur Reform der Kreisordnung vom 13.  Dezember 1872 von den Rittergutsbesitzern dominiert.250 Weiter ist zu betonen, dass nur die schmale ländliche Oberschicht der Dorfschulzen bzw. kleineren Gutsbesitzer als Mandatare der Landgemeinden in den Selbstverwaltungsgremien in Frage kam.251 In Anbetracht der machtlosen Ausgangslage erscheint es demnach nicht überraschend, dass die Vertreter des dritten Standes bzw. der Landgemeinden in den Protokollen des Kommunal- und des Provinziallandtages nicht gerade als Aktivposten auffielen. Die Minderheitenstellung und die zumindest teilweise vorhandene wirtschaftliche Abhängigkeit der Abgeordneten erklärt außerdem, weshalb die Vertreter des dritten Standes in politischen Fragen fast immer mit den adligen Großgrundbesitzern des ersten Standes stimmten.252 Auch wenn sich die einfache Landbevölkerung nicht in formellen Organisationen und Gremien betätigen konnte, stellt sich die Frage, inwieweit diese nicht in anderen Erscheinungsformen als politischer und daher als zivilgesellschaft­ licher Akteur auftrat. Zur Untersuchung dieser Fragestellung wird im Folgenden das Augenmerk auf nonkonformes und resistentes Verhalten sowie auf »sozialen Protest«253 der Landbevölkerung gerichtet. Wie bereits mehrfach gezeigt wurde, bedurften die Entwicklungsvorhaben von oben auch der Kooperation von unten. In der erheblichen Zahl von Schulversäumnissen, der häufig als »mangelhaft« konstatierten Mitarbeit in der lokalen Schulverwaltung und der stetigen Kritik an der Höhe der Schul- und Chaussee­gelder lässt sich jedenfalls ein deutliches Protestverhalten erkennen. Dieser Protest äußerte sich freilich als passive, stille und unkoordinierte Resistenz gegenüber den kostenintensiven Modernisierungsvorhaben. Lediglich in Zeiten der Krise kam es zum Ausbruch konzertierter und aktiver Protest­ formen. Insbesondere im Frühjahr des Hungerjahrs 1847 brachen deshalb nicht nur in den Städten, sondern auch auf dem platten Land Tumulte aus. Im Kreis Usedom-Wollin planten offensichtlich ganze Dorfgemeinschaften, Domänen­ 250 Vgl. Fenske, S. 43. Für das ostelbische Preußen generell vgl. Wagner, Lokale Herrschaft u. Partizipation, S. 140. 251 1844 wurden die Landgemeinden auf dem Altpom. Kom.-Landtag etwa von 2 Schulzen, 1 Freischulzen, 1 Landschaftsrat u. 1 Gutsbesitzer vertreten. Vgl. hierzu: Vhdl. des Kom.Landtags, Bd. 15, 1844. 252 Vgl. hierzu die Abstimmungsergebnisse zu einigen als liberal einzustufenden Petitionen, die zumeist nur die Stimmenzahl der Stadtvertreter erzielten. Vgl. Vhdl. des Prov.-Land­ tages, Bd. 7–9, 1841–1845, passim u. auch Inachin, Provinzialstände, S. 123–126. 253 Vgl. zum hier verwendeten Begriff des »sozialen Protests« Volkmann u. Bergmann, S. 12–16.

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ämter auszurauben. Reihenweise wurden Getreidefuhrwerke geplündert.254 Im benachbarten Ueckermünder Kreis meldete der Landrat, dass Scharen von 40 bis 100 Personen »bettelnd und plündernd« das Land durchzogen. Und in der Grenzregion zur Provinz Brandenburg führten die ärmeren Bewohner der drei Dörfer Eichhof, Rothemühle und Heinrichswalde bei einigen Gutsbesitzern Kartoffelrazzien durch. Erst militärisch überwachte nächtliche Ausgangssper­ ren,255 Arbeitsbeschaffungsprogramme wie die Forcierung des Chausseebaus und konkrete soziale Hilfestellungen beendeten diese Unruhen. Mit Adolf von Thadden-Trieglaff und Moritz von Blankenburg hoben die Verwaltungsberichte insbesondere das soziale Engagement zweier pietistisch geprägter konservativer Parteiführer hervor.256 Abgesehen von den in Krisenzeiten hervorbrechenden Eruptionen sozialen Protests zeigten sich in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts insbesondere in religiösen Fragen nicht nur nonkonforme Verhaltensweisen, sondern auch Ansätze einer Selbstorganisierung von unten. Diese Selbstorganisierung ist in Zusammenhang mit dem pommerschen Pietismus der zwanziger und dreißiger Jahre bzw. der Bildung altlutherischer Gemeinden Ende der dreißiger und in den vierziger Jahren zu bringen. Zwar hat die frühere kirchengeschichtliche Forschung die Bedeutung der adligen Führungspersonen der pommerschen Erweckungsbewegung wie Adolf und Maria von Thadden-Trieglaff, Moritz von Blankenburg, Ernst Freiherr von Senfft-Pilsach, Ida und Henriette von ­Oertzen, Heinrich von Puttkamer sowie Heinrich, Gustav und Alexander von Below herausgearbeitet, jedoch wurde auch schon in den älteren Arbeiten die breite gesellschaftliche Basis dieser Bewegung angedeutet.257 Zudem hat bereits Josef Mooser in den achtziger Jahren auf das soziale Protestpotential der Er­ weckungsbewegung am Beispiel des Ravensberger Landes hingewiesen.258 Von Interesse für diese Studie ist, dass das Phänomen durchaus im Rahmen der Modernisierungstheorie erklärt werden kann. Die Konventikelgänger reagierten auf die Säkularisierungs- bzw. Zentralisierungstendenzen der Zeit sowohl mit einem deutlichen »Ohne mich« als auch mit dem modernen Mittel der Selbst­ organisierung und Vernetzung. Auch hierin drückt sich ein spezifischer Weg der »Vielfalt der Moderne« aus. Mehrere Untersuchungsberichte über dieses volksreligiöse Phänomen sind auch aus Pommern überliefert, denn die Amtskirche und das Berliner Kultusministerium beobachtete das wilde Konventikelwesen der zwanziger und 254 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3764, Landrat Ferno an Oberpräsident v. Bonin, Swinemünde 27. u. 29.4.1847. 255 Vgl. ebd., Ueckermünder Landrat an Oberpräsident v. Bonin, Ueckermünde 5.5.1847. 256 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16042, Ztgsb. Nov. u. Dez. 1846, Stettin 6.1.1847 u. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. März u. April 1847, Stettin 6.5.1847. 257 Vgl. etwa Wangemann, passim, Heyden, Kämpfe um Union u. Agende, passim u. Petrich, passim. 258 Vgl. Mooser, passim.

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dreißiger Jahre äußerst kritisch. Einem Bericht von 1821 ist zu entnehmen, dass die Gebrüder Below auf ihren Gütern Seehof und Reddenthin die hohe Zahl von 400 bis 700 Teilnehmern aus allen Bevölkerungsschichten um sich zum Gebet versammeln konnten. Als »Stifterführer[]« wurden hierbei im Übrigen auch katholische Frauen erwähnt.259 Im von den Belows beeinflussten Konventikel von Thadden-Trieglaff und Senfft-Pilsach traten 1828 rund 80 Personen zu­ sammen.260 Deutete die namentliche Erwähnung eines Exfeldwebels und eines Schäfers als führende Figuren des Belower Kreises bereits die Mitwirkung nicht­adliger Persönlichkeiten an, wird in der Berichterstattung über einige weitere kleinere Konventikel des Stettiner Regierungsbezirks ersichtlich, dass sich die Er­ weckungsbewegung mancherorts ohne das Zutun der Gutsbesitzer entwickelte. So ist für die Superintendantur Demmin überliefert, dass ein Tuchmacher namens Krause in den Dörfern Deven und Pensin Konventikel veranstaltete. Und in den Superintendanturen Bahn und Naugard hielten in den Dörfern Wildenbruch, Gebersdorf, Uchtdorf, Jägersdorf und Roderbeck bzw. in den Dörfern Moratz, Hindenburg, Kicker, Zarnglaff und Zemin der Schulze Sasse sowie der Schmied Retzlaff »begeisternde Vorträge«. Weiterhin unternahmen die beiden Laienprediger regelrechte Missionsreisen übers Land. Außer diesen Regionen bildete sich außerdem in der Superintendantur Cammin ein weiteres »wildes«, von unten entstehendes Zentrum der Erweckungsbewegung heraus.261 Die pommersche Verwaltung ging immer dann gegen die Konventikel vor, wenn Laien über den Rahmen der im ALR tolerierten Hausandacht hinaus­ gehend predigten oder gar die Sakramente spendeten. Des Weiteren griffen einzelne Landräte und Pastoren der Amtskirche ein, wenn »Erweckte« sich und ihrer Umwelt gesundheitlichen Schaden zufügten. Derartige Fälle waren offenbar durchaus an der Tagesordnung. Im Dorf Moratz hatte sich etwa 1820 nach einer Predigt des Schmieds Retzlaff ein Mann »in frommer Phantasie beinahe schon die Kehle durchgeschnitten«, während im Nachbardorf ein von pietistischen »Träumereien« eingenommener Hirte seine Herde verlassen und »sich un­sichtbar gemacht« habe.262 David Ellis führt insbesondere für die Belowschen Konventikel ähnliche Fälle von – in den Worten des Landrats von Bonin – »reli­ giöser Schwärmerei« und »Geisteszerrüttung« an.263 Obwohl sich sogar Friedrich Wilhelm III. über das pommersche Konven­ tikelwesen Bericht erstatten ließ und dieser hierauf dem Oberpräsidenten Sack 259 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 76, III, Sekt. 9, Abt. XVI, Nr. 1, Bd. 1, Untersuchungsbericht über das Konventikelwesen, Stettin 31.1.1821. 260 Vgl. Ellis, S. 76. 261 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 76, III, Sekt. 9, Abt. XVI, Nr. 1, Bd. 1, Untersuchungsbericht über das Konventikelwesen, Stettin 31.1.1821. 262 Ebd., Untersuchungsbericht über das Konventikelwesen, Stettin 31.1.1821. 263 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 76, III, Sekt. 9, Abt. XVI, Nr. 1, Bd. 2, Bericht des Landrats v. ­Bonin, 12.7.1825. Vgl. auch Ellis, S. 71–73.

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sein Missfallen über die pietistischen Umtriebe ausdrückte,264 wurden die Konventikler meistens nur mit Verwarnungen und Geldstrafen belangt. Diese vergleichsweise milde Handhabung hing mit dem baldigen Erlöschen mancher kleinerer Konventikel, aber auch mit der Kooperation einiger der prominenteren Konventikelführer zusammen. Nachdem Ernst von Senfft-Pilsach und Adolf von Thadden-Trieglaff, gedeckt durch die Ausübung des Kirchen­patronats, auf ihre Pfarrstellen der Erweckungsbewegung nahe stehende Prediger berufen und ihre eigenen Laienaktivitäten damit eingeschränkt hatten, beschloss das Staatsministerium 1834 nur noch gegen diejenigen Konventikel vorzugehen, die sich explizit von der Amtskirche trennten.265 Die zunehmende Duldung kooperationswilliger Pietisten drückte sich neben dem Umgang mit der Person von Senfft-Pilsach, der 1852 immerhin zum Oberpräsidenten der Provinz berufen wurde, am Besten im Fall des Stettiner Regierungsrats von Mittelstaedt aus. Wegen seiner Teilnahme an »separatis­ tischen« Konventikeln war nämlich ursprünglich Mittelstaedts Versetzung vorgesehen worden. Da das Staatsministerium jedoch die Befürchtung hegte, die religiösen Gefühle der pommerschen Bevölkerung verletzen zu können, hob es 1830 die Sanktionsmaßnahme wieder auf. Gegen den Beschluss hatten lediglich die M ­ inister Friedrich von Schuckmann und Friedrich von Motz protestiert, denn sie sahen hierin einen Sieg der pommerschen Separatisten über die Verwaltung.266 Die besondere Stellung des Pietismus in Pommern wird nicht nur mit diesem generellen Zugeständnis an die der pommerschen Bevölkerung zugeschriebene spezifische Mentalität unterstrichen, sondern auch damit, dass Mittelstaedt bereits ein Jahr später zum Oberregierungsrat aufrückte und 1851 sogar zum Leiter der Abteilung für Kirchen- und Schulangelegenheiten ernannt wurde.267 Obwohl es zu Beginn der dreißiger Jahre zu einer zunehmenden Duldung der Konventikel kam, erwuchs aus dem seit den zwanziger Jahren schwelenden Agendenstreit ein weiteres Motiv religiös bedingten ländlichen Protestverhaltens, das sich in den dreißiger Jahren in der ersten großen pommerschen Auswanderungswelle niederschlug. Der Agendenstreit resultierte aus den seit 1817 angestellten Bemühungen Friedrich Wilhelms III., eine Kirchenunion zwischen reformierten und lutherischen Gemeinden herzustellen und eine gemeinsame Agende einzuführen. Dieses Anliegen stieß insbesondere bei einigen luthe­ rischen Gemeinden und Pastoren auf massiven Protest. Zwar gingen die Einwände gegen die Agende nach dem 1827 erfolgenden Zugeständnis, provin­ zielle Traditionen der Liturgie beibehalten zu können, erheblich zurück, doch blieb ein harter Kern von Lutheranern um sein Seelenheil besorgt. Ins­besondere 264 Vgl. Petrich, S. 41. 265 Vgl. Ellis, S. 80. 266 Vgl. GStAPK, 1. HA, Rep. 90a, B III 2b, Nr. 6, Bd. 18, Bl. 95, Prot. der Sitzung des Preuß. Staatsministeriums, Berlin 19.4.1830. 267 Vgl. grundsätzlich zu diesem Fall Rathgeber, S. 8 f.

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in Schlesien unter dem Breslauer Diakon Johann Gottfried Scheibel, aber auch in anderen Teilen Preußens bemühten sich diese »Altlutheraner« seit 1830 um eine Separation von der unierten Landeskirche. Bis diese 1845 offiziell toleriert wurde, ging der preußische Staat gegen den Separatismus der Altlutheraner vor, indem entsprechend sich bekennende Pastoren und Beamte ihrer Ämter enthoben und sich bildende Gemeinden als separatistische Konventikel mit Strafsanktionen belegt wurden. In Pommern ist ein enger Zusammenhang zwischen den erweckten Konventikeln der zwanziger und dreißiger Jahre mit den Hochburgen der Altlutheraner der dreißiger und vierziger Jahre festzustellen. Auf Seiten der adligen Führungspersonen trat bereits 1836 Heinrich von Below unter dem Einfluss des aus Schlesien nach Seehof geflüchteten Pastors Lasius der Breslauer Synode der Altlutheraner bei. Adolf von Thadden, der seit 1829 zur Verhinderung einer Kirchenspaltung auf seinem Gut Trieglaff Kirchenkonferenzen veranstaltet hatte, wechselte 1848 zu den Altlutheranern.268 Wieder entstanden jedoch auch altlutherische Zirkel außerhalb des Umfelds adliger Gutsbesitzer. Insbesondere der Kreis Cammin erwies sich erneut als Hochburg einer Selbstorganisierung von unten. Zu den wichtigsten der dortigen Propagandisten gehörten mit dem bald aus dem Schuldienst entlassenen Lehrer Bagan269 und dem Tischler Zühlsdorf270 zwei Laien. Obwohl die Stettiner Regierung nach der wiederholten Inhaftierung Bagans in den Verwaltungsberichten immer wieder die Hoffnung geäußert hatte, dass sich das Problem der außerkirchlichen Versammlungen der Altlutheraner bald vermindern würde,271 war in den nächsten Jahren Gegenteiliges der Fall. In den Kreisen Cammin, Naugard und Wollin häuften sich seit 1836 religiös bedingte Schulversäumnisse,272 außerkirchliche Taufen273 und erste Auswanderungs­ bemühungen. Zwar unterschied die Verwaltung in ihren Sanktionsmaßnahmen deutlich zwischen »Verführern« und »Verführten«, trotzdem brach eine nicht unerhebliche Zahl von Pommern in den dreißiger Jahren vollkommen mit dem preußischen Staat. Bereits 1836 suchte eine Gruppe um den Tischler Zühlsdorf die erforderlichen Pässe zur Auswanderung mit der Begründung nach, »daß sie durch die neue Agende in Ausübung der wahren Christus-Religion verletzt werden und ihr Seelenheil im Vaterland nicht mehr gesichert sei.«274 Obwohl der Gruppe der Auswanderungskonsens verweigert worden war, wanderte 268 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Pommern 1815 bis 1875, S. 389. 269 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16034, Ztgsb. Okt. 1835, Stettin 3.11.1835. 270 Vgl. Heyden, Kämpfe um Union u. Agende, S. 304. 271 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16035, Ztgsb. Jan. 1836, Stettin 4.2.1836. 272 Vgl. etwa APS, RSz, II, Nr. 7146, Bericht des Camminer Landrats Voeltz, 23.6.1840. 273 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16036, Ztgsb. Nov. 1837, Stettin 5.12.1837. 274 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 1151, Rohfassung des Ztgsb. Mai 1836, Stettin 4.6.1836.

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sie dennoch in die USA aus.275 Die Staatsregierung wechselte hierauf ihre Strategie. In der Hoffnung, dass Ermahnungen und das direkte Gespräch mit den Behörden die Auswanderungswilligen zur Vernunft brächten, war es zur Gewährung des Konsens nur noch erforderlich, seinen Auswanderungswunsch beim Landratsamt zu Protokoll zu bringen. Diese Maßnahme sollte der gezielten Belehrung der Auswanderungswilligen dienen. Hierfür sammelte die Provinzverwaltung Material über das Schicksal der Emigranten. 1838 wurde etwa der Brief des Schuhmachers Schwarz an seinen im Kreis Cammin verbliebenen Schwager vervielfältigt. Das Schreiben, in dem der Schuhmacher den dreima­ ligen Schiffbruch auf der Hinreise genauso beklagte wie sein Urteil, dass »Amerika ein Heidenland« sei,276 brachte die Auswanderungswelle freilich nicht zum Stoppen. 1839 schiffte sich der nach Pommern geflohene Thüringer Pfarrer Grabau mit fünf Schiffen und Anhang von Stettin nach Nordamerika ein. Am 18. und 19. Mai 1839 ließen die Behörden alleine 176 Personen aus dem Greifenberger, Camminer, Regenwalder und Usedom-Wolliner Kreis, die ebenfalls mit Grabau emigrieren wollten, wieder in ihre Heimatkreise abschieben, denn sie hatten es versäumt, ihre Ausreise rechtzeitig bei dem zuständigen Landratsamt anzumelden.277 Insgesamt wanderten aus dem Stettiner Regierungsbezirk von 1831 bis 1840 564 Personen und von 1841 bis 1846 1.482 Personen aus Glaubensgründen nach Nordamerika aus. Hierbei stachen die bereits genannten Kreise sowie nach 1840 auch Randow als Hochburgen hervor. Das Jahr 1843 bildete einen letzten Höhe­ punkt, als die beiden separatistischen Pastoren Adolf Kindermann und Wilhelm Ehrenström mit ihren Anhängern das Land verließen.278 Im Gegensatz zur parallel ebenfalls nach Nordamerika, aber auch nach Russisch-Polen stattfindenden Auswanderung »des besseren Fortkommens wegen«279 mussten die Behörden im Fall der Altlutheraner konstatieren, dass diese durchaus zu den »ordentlichsten Einsaßen« gehörten,280 »welche das Ihrige durch angestrengten Fleiß und rege Thätigkeit erwarben und durch lobenswerthe Sparsamkeit erhielten.«281 Die Auswanderung schmälerte demnach in den Augen der Verwaltung einerseits eine besonders strebsame Bevölkerungsgruppe. Anderseits 275 Vgl. Iwan, S. 100 f. 276 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16037, Ztgsb. Aug. 1838, Stettin 5.9.1838. 277 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16038, Ztgsb. Mai 1839, Stettin 6.6.1839. 278 Vgl. Nagel, S. 173 f. 279 Vgl. APS, NPPP, Nr.  3595, Generalnachweisung der Auswanderungen aus dem Regierungs-Bezirk Stettin, 1831–1846, Stettin 15.7.1846. Nach diesem Bericht sind 1831–1846 2.475 Personen aus wirtschaftlichen Gründen ausgewandert, darunter 624 nach RussischPolen. 280 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16038, Ztgsb. Juni 1839, Stettin 5.7.1839. 281 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16042, Ztgsb. März 1843, Stettin 6.4.1843.

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verringerte sich das Problem der Separatisten nicht einmal, denn es bildeten sich in den betroffenen Kreisen fortlaufend neue Gemeinden.282 Insbesondere im schulischen Bereich kam es bis in die sechziger und siebziger Jahre hinein immer wieder zu religiös motivierten Auseinandersetzungen zwischen pietistischer Tradition und den Reformbemühungen der Schulverwaltung. Obwohl sich nach der offiziellen Anerkennung bis 1851 lediglich neun altlutherische Gemeinden in Pommern konstituierten, erhielt sich die Provinz ihre charakteristische Prägung durch den Neupietismus letztlich bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.283 Zusammengefasst stellt der breite, teilweise gegen den Widerstand der Verwaltung konservierte religiöse Enthusiasmus ein bemerkenswertes pommernspezifisches Phänomen dar, das rein strukturell durchaus mit modernen Graswurzelbewegungen von unten verglichen werden kann. Sozialer Protest und Ansätze einer Selbstorganisierung von unten lassen sich insbesondere in den Jahren 1847–1849 in Pommern ausmachen. Franz Mehrings oft verkürzt kolportiertes Wort von der »pommerschen Vendée«284 und die verniedlichend knappe Darstellung der Jahre 1848/49 in der »Geschichte Pommerns« des Landeshistorikers Martin Wehrmann,285 führen zwar bis heute in der deutschsprachigen Forschung und der populären Darstellung dazu, dass das Ausmaß der Revolution in Pommern unterschätzt wird.286 Entgegen den Ausführungen Wehrmanns, der immer wieder den Konservativismus und die Behäbigkeit der Landbevölkerung sowie die grundsätzliche »Harmlosigkeit« des revolutionären Geschehens in der Provinz betont hatte, hat jedoch bereits die polnische Forschung in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf die Vielzahl der in Stadt und Land ausgebrochenen sozialen Unruhen hingewiesen.287 Auch der 1996 von Janusz Jasiński bearbeitete Teilband »Zagadnienia polityczne, narodowościowe i wyznaniowe« der »Historia Pomorza« hob die sozialen Proteste im Jahr 1848 hervor, ohne freilich nicht abschließend die grundsätzliche monarchische Gesinnung der pommerschen Bevölkerung zu unterstreichen.288 Das von Manfred Gailus auf Grundlage von fünf überregionalen Zeitungen erhobene Protestsample von 1.486 Unruhen in den deutschen Staaten vom 1. Januar 1847 bis zum 30. Juni 1849289 belegt diesen nur scheinbaren Widerspruch. Die Auswertung des Samples zeigt einerseits, dass die Provinz Pommern im Verhältnis zwischen Einwohnerzahl und Protestzahl mit den anderen Kern­ 282 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16038, Ztgsb. Juli 1839, Stettin 5.8.1839. 283 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Pommern 1815 bis 1875, S. 392. 284 Vgl. Mehring, S. 371. 285 Vgl. Wehrmann, Pommern, S. 297–301. 286 Vgl. Stamm-Kuhlmann, Pommern 1815 bis 1875, S.  409. In der neuen populärwissenschaftlichen Darstellung der Geschichte Mecklenburg-Vorpommerns von Michael North wird die Revolution in Pommern sogar nur in zwei Sätzen abgehakt. Vgl. North, S. 73. 287 Vgl. Wiśniewski, S. 144–157. 288 Vgl. Labuda, S. 278–283. 289 Vgl. Gailus, Straße u. Brot, S. 68 f. Aufgenommen wurden hier die deutschen Staaten ohne Österreich.

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provinzen Preußen und Brandenburg immerhin gleichauf lag, in der Provinz also durchaus Unruhen stattfanden (vgl. Tab. 5). Andererseits weist das Protestsample darauf hin, dass die pommerschen Tumulte in die Kategorien der Subsistenzunruhen der städtischen und ländlichen Unterschichten (34,2 % aller Fälle in der Provinz) und der königstreuen Unruhen für »Thron und Altar« (26,8 % aller Fälle in der Provinz) fielen und Pommern hier einen führenden Platz im Gesamtstaat einnahm.290 Tab. 5: Protestsample preußischer Provinzen (1847–1849) Protestfälle

Prozent

Einwohner 1848 (i. T.)

Protestfälle je 10.000 Einwohner

58

7,58

1.692

0,34

Berlin

125

16,34

412

3,03

Brandenburg (gesamt)

183

23,92

2.104

0,87

Rheinland

177

23,13

2.801

0,63

Schlesien

134

17,57

3.059

0,44

Sachsen

83

10,85

1.772

0,47

Preußen

77

10,06

2.472

0,31

Westfalen

69

9,02

1.461

0,47

Pommern

42

5,49

1.182

0,36

Insgesamt

765

Brandenburg (ohne Berlin)

100

14.851

Zusammengestellt nach: Gailus, Straße u. Brot, S. 101.

Der überdurchschnittliche Anteil dieser beiden Kategorien und der unterdurchschnittliche Anteil von eigentlichen Bauernunruhen wird in der Forschung damit erklärt, dass die besitzenden bäuerlichen Schichten der altpreußischen Provinzen gegenüber denen in anderen Teilen Deutschlands 1848 weitestgehend saturiert waren.291 Die eigentlichen Aktionen seien in vielen Regionen Ost­ 290 Vgl. ebd., S. 130 f. u. S. 140 f. bzw. S. 195. Bei den Subsistenzunruhen folgen nach Pommern die Provinzen Schlesien (18,2 %), Sachsen (14,8 %) u. Preußen (11,8 %). In den übrigen Provinzen liegt der Anteil zwischen 4,4 u. 8,3 %. Bei den Unruhen für »Thron u. Altar« liegt Pommern nur knapp hinter der Provinz Preußen (27,6 %). Mit Ausnahme von Brandenburg (11,1 %) liegt der Anteil in den übrigen Provinzen lediglich zwischen 2,3 u. 6,2 %. 291 Vgl. Harnisch, S. 353 f., Bleiber, S. 348 u. Gailus, Straße u. Brot, S. 118.

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elbiens und besonders in Pommern fast ausschließlich vom besitzlosen Landproletariat getragen worden.292 Letztlich seien aber auch diese Tumulte am Ende der Revolution »vermittelt über massive Bestände traditional-monarchistischer Mentalitäten« in gemeinsame Frontstellungen mit der alten Elite der Gutsbesitzer gegen die aufstrebenden Liberalen, Demokraten und Republikaner umgeschlagen.293 Da Gailus in seiner Studie zur Samplebildung ausdrücklich nur die in den von ihm untersuchten Tageszeitungen erfassten Tumulte berücksichtigt hat und sich ein erheblicher Teil  der ausgewerteten Unruhen ausschließlich auf die pommerschen Städte bezieht, ist es für eine tiefer greifende Analyse des Protestverhaltens und der politischen Ausdrucksformen des platten Landes erforderlich, sich intensiv mit den in den Archiven überlieferten Quellen zu beschäftigen. In den überlieferten Berichten und Untersuchungsakten der pommerschen Behörden sind über das gesamte Jahr 1848 verschiedene Formen von sozialem und politischem Protest nachzuweisen. Auch im Regierungsbezirk Stettin ist festzustellen, dass besitzlose Tagelöhner, verarmte Kossäten und Büdner zu den Trägern ländlicher Unruhen gehörten. Nachdem Ende April 1848 in Karlshagen auf der Insel Usedom das Gerücht aufgekommen war, dass der Gutsbesitzer von Krummin den Tagelöhnern zustehende Gelder unterschlagen hätte, konnte der dortige Landrat offenbar nur noch knapp einen drohenden Überfall auf das Gut unterbinden.294 In Barnimscunow im Pyritzer Kreis warfen dagegen Knechte und Tagelöhner die Scheiben von drei Gutshäusern ein. Hierbei wurde ein Gutsbesitzer derart »misshandelt«,295 dass er seinen Verletzungen erlag.296 Nachdem weiterhin das Anklamer Zeughaus von Tagelöhnern und Chaussee­arbeitern geplündert worden war, charakterisierte der dortige Magistrat die Lage auf dem Land insgesamt als »anarchisch«.297 Ähnlich wie schon im Jahr zuvor zog am Kummerower See eine Gruppe von 160 bis 170 Mann über die Güter, um bei den Grundbesitzern Mehl und Getreide zu fordern. Laut Auskunft eines Gutsbesitzers von Wolkwitz, der sich dieser Gruppe in den Weg gestellt hatte, beklagten ihre Wortführer, dass sie vom Domänenamt und den besitzenden Bauern ausgebeutet würden und an Hunger litten. Die Bande löste sich erst nach dem Versprechen des Gutsbesitzers auf, 50 Scheffel Roggen zu liefern.298 Allerdings rottete sich nur kurze Zeit später in der gleichen Gegend eine weitere Gruppe von 200 Mann zusammen. Diese besetzte das Domänenamt von Verchen und erpresste das Versprechen, alle seit 1808 im Zuge der Separationen geleisteten Ablösegelder zurückzuerstatten. Der Domänenbeamte konnte sich erst 292 Vgl. Bleiber, S. 344. 293 Vgl. Gailus, Straße u. Brot, S. 132. 294 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Usedom-Wolliner Landrat an Reg. St., Swinemünde 28.4.1848. 295 Vgl. ebd., Landrat des Saatziger Kreises an Reg. St., Stargard 22.5.1848. 296 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Mai u. Juni 1848, Stettin 7.7.1848. 297 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Anklamer Magistrat an Reg. St., Anklam 1.5.1848. 298 Vgl. ebd., Gutsbesitzer Rewold an Demminer Landrat, Wolkwitz 26.4.1848.

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befreien, als er der Gruppe zusätzlich Geld aushändigte.299 Diese typischen, gegen die Folgen der Separationen gerichteten Proteste regten sich auch anderenorts. Außer der Forderung, die teilweise immer noch zu zahlenden Ablösegelder zu erlassen, wurde an mehreren Orten die Rückgabe der früher gemeinschaftlich genutzten Allmende und die erneute Gewährung alter Rechte wie die unentgeltliche Erlaubnis des Torfstichs verlangt.300 Weiterhin nutzte die Landbevölkerung mancherorts die unklare politische Situation aus, um sich unliebsamer, als ungerecht empfundener lokaler Amtsträger zu entledigen. In Stolzenburg setzte eine Gruppe von Tagelöhnern, Kossäten und Büdnern eigenmächtig gewaltsam ihren Dorfschulzen ab.301 Zudem stellten mehrere Dorfgemeinschaften in den Monaten April und Mai 1848 die Zahlung der verhassten Chaussee- und Schulgelder ein.302 Insbesondere die am 1. Mai stattfindende Wahl zur preußischen Nationalversammlung verschärfte die Lage aus der Sicht der Eliten. In der gesamten Provinz verbreitete sich Ende April das Gerücht, dass eine Landreform bevorstehe. Bis zu sechs Morgen Land pro Person sollten angeblich an Tagelöhner, ­Kossäten und Büdnern aus dem Bestand der Pfarräcker und des Domänen- sowie ad­ ligen Grundbesitzes verteilt werden.303 Die Stettiner Regierung sah sich deshalb in der ersten Maiwoche zu mehreren Richtigstellungen veranlasst, die in den Kreisblättern und durch Anschlag bekannt gegeben wurden und in denen sie explizit vor Gewaltausbrüchen gegen die Gutsbesitzer warnte.304 Angesichts der zunehmenden Unruhe wurde von den Behörden der Verdacht geäußert, dass die Gerüchte einer Landreform gezielt von Demokraten aus den Städten lanciert worden seien. Während Helmut Bleiber schreibt, dass externe Emissäre bei den schlesischen Bauernunruhen keine Rolle gespielt hätten,305 ist hier nachweisbar, dass die Forderung nach einer Landreform tatsächlich in einigen Kreisen mittels Flugblättern verbreitet worden war.306 299 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16043, Ztgsb. April 1848, Stettin 8.5.1848. 300 So die entsprechenden Forderungen auf der Insel Usedom u. im Domänenamt Treptow a. d. Rega. Vgl. APS, NPPP, Nr. 3765, Regierungsvizepräsident v. Westphalen an preuß. Innenminister Auerswald, Stettin 17.4.1848 u. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. April 1848, Stettin 8.5.1848 301 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Gutsbesitzer Ramin an Reg. St., Stettin 26.4.1848. 302 Vgl. APS, SPUe, Nr.  1, Ueckermünder Landrat an Reg. St., Ueckermünde 3.5.1848 u. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. April 1848, Stettin 8.5.1848. 303 Vgl. übereinstimmend GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. ­April 1848, Stettin 8.5.1848, APS, RSz, I, Nr.  10423, Ztgsb. April des Domänenamts Marienfließ, Marienfließ 30.4.1848 u. APS, NPPP, Nr. 3765, Saatziger Landrat an Oberpräsident v. ­Bonin, Steinhöfel 4.5.1848. Siehe auch die Ausführungen von Andrae, S. 33. 304 Vgl. APS, NPPP, Nr.  3765, Proklamation der Abteilung des Innern der Reg. St., Stettin 6.5.1848. 305 Vgl. Bleiber, S. 340 f. 306 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3765, Flugblatt mit entsprechenden Forderungen, welches kurz vor der Wahl als Beilage im Regenwalder Kreisbl., Nr. 17, 28.4.1848 verteilt wurde.

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Das überall in den deutschen Staaten auf dem platten Land auftretende Missverständnis, dass mit der »Pressfreiheit« auch die Befreiung von allen Lasten gemeint sei,307 zog bei den Urwahlen zur preußischen Nationalversammlung Konsequenzen nach sich. Nach einem Bericht des Landrats des Uecker­münder Kreises hatten einige »böswillige« Wahlmannkandidaten mit ihren Forderungen nach Steuerermäßigung und Landreform bei der Bevölkerung geradezu »excentrische Hoffnungen« erweckt. Infolge dessen seien mehrere dieser Kandidaten zum Wahlmann gewählt worden.308 Im Greifenberger Kreis musste deshalb Adolf von Thadden-Trieglaff feststellen, dass er bei den Urwahlen gegen einen »versoffenen Bauern«, der den Gutseinsassen »weitgehende Versprechungen« gemacht habe, durchgefallen war.309 Im Regenwalder Kreis resümierte der dortige Landrat, dass von den 84 gewählten Wahlmännern allein 23 Tage­löhner, darunter »mehrere ungebildete, aber radikale«, seien.310 Auch in den anderen Kreisen siegten mehrheitlich einfache Bauern und Tagelöhner.311 Das hohe Interesse der Landbevölkerung an der Wahl zur preußischen Nationalversammlung sowie das erstaunlich liberale Wahlrecht erklären, weshalb sich das preußische Parlament in seiner sozialen und in seiner politischen Zusammensetzung erheblich von der Paulskirchenversammlung unterschied. Sowohl die politische Linke als auch Angehörige der unteren Schichten waren in Berlin weitaus stärker als in Frankfurt vertreten.312 Auch in Pommern fielen die Wahlen zur preußischen Nationalversammlung radikaler aus. Gerade Franz Mehring hob in seiner Geschichte der Sozialdemokratie aufgrund der Wahlergebnisse hervor, dass jetzt »sogar die hinterpommersche Vendée rebellisch geworden war.«313 Und auch die Stettiner Ostseezeitung wies darauf hin, dass das Gerede von der »Vendée« und der pommerschen »Reaction« angesichts der Wahlen offensichtlich nicht der Wirklichkeit entspreche. Insgesamt wurden rund dreiviertel der siegreichen Wahlmänner des Regierungsbezirks Stettin den liberalen Kräften zugeschrieben.314 Unter den 13 gewählten Abgeordneten befanden sich ein Tagelöhner (Cammin), ein Büdner (Greifenberg) und drei einfache Bauern (Greifenhagen, Naugard und Pyritz).315 Der Greifenberger Büdner Sohrweide profitierte in seiner Kandidatur offenbar davon, dass er im Kreis vor längerer Zeit einen Eierhandel auf­gezogen hatte und allein deshalb der Landbevölkerung als vertrauenswürdig bekannt war.316 Politisch positionierte sich die Mehrheit der Abgeordneten des Stettiner Bezirks auf 307 Vgl. Bleiber, S. 340. 308 Vgl. APS, SPUe, Nr. 1, Ueckermünder Landrat an Reg. St., Ueckermünde 5.5.1848. 309 Vgl. Andrae, S. 32 f. 310 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Bericht des Regenwalder Landrats, Labes 9.5.1848. 311 Vgl. OZ, Nr. 48, 4.5.1848 u. Nr. 49, 5.5.1848. 312 Vgl. Mieck, Preußen von 1807 bis 1850, S. 254 f. 313 Vgl. Mehring, S. 371. 314 Vgl. OZ, Nr. 47, 3.5.1848. 315 Vgl. ebd., Nr. 60, 22.5.1848. Vgl. auch die Übersicht bei Wielopolski, S. 138 f. 316 Vgl. ebd., Nr. 174, 10.10.1848.

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der Seite der gemäßigten Linken. Am 3. Juni 1848 gründete der im UsedomWolliner Kreis gewählte sozialreformerische Ökonom Johann Karl Rodbertus in Berlin die Fraktion des linken Zentrums.317 Der erwähnte Büdner und Eierhändler Sohrweide sowie der Camminer Tagelöhner Pankow318 schlossen sich diesem ebenso wie der Stettiner Stadtsyndikus Julius Gierke an. Gemeinsam mit Rodbertus übte Gierke sogar zeitweilig im Kabinett Auerswald-Hansemann ein Ministeramt aus. Im Unterschied zu den Wahlen zur preußischen stießen die ebenfalls am 1. Mai abgehaltenen Wahlen zur deutschen Nationalversammlung auf ein wesentlich geringeres Interesse. Während die preußischen Wahlen von der Landbevölkerung mit konkreten sozialen Wünschen verbunden wurden, gab es zumindest nach der Analyse der Provinzbehörden genügend Gemeinden, denen der Zweck der »Wahlen für Frankfurt […] gänzlich unklar geblieben« sei. Im bereits zitierten Stimmungsbericht des Landrats von Ueckermünde gab dieser an, dass es mehrere Gemeinden versäumt hätten, überhaupt Wahlmänner zu bestimmen. Das Dorf Ahlbeck habe jemanden nur »zum Spaß« bestimmt und die Gemeinde Luckow aus reiner Boshaftigkeit beschlossen, »jemand zu wählen, der als geizig bekannt ist, damit er auf seine eigene Kosten [zur Wahlmännerversammlung] nach Anclam reisen musste.«319 Von den 15 gewählten pommerschen Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung schlossen sich im Übrigen acht der Casino-Fraktion an. Immerhin drei Personen zählten sich zum Café Milani der äußeren Rechten, zwei zur Fraktion Landsberg, und einer ordnete sich der Westendhalle zu.320 Die Wahlen zur deutschen Nationalversammlung fielen wie überall in Preußen »rechter« als zur preußischen Nationalversammlung aus. Obwohl zusammengefasst gerade die Monate April und Mai von erheblichen Unruhen auf dem Land geprägt waren, blieb es bei den diversen lokal statt­ findenden diffusen Protesten. Schon Ende Mai 1848 ebbte die Protestwelle spürbar ab. Der Oberpräsident von Bonin überließ es deshalb der Entscheidung der Landräte, inwieweit es notwendig sei, auf dem Land Bürgerwehren einzurichten. Diese wurden zur Unterstützung der regulären Sicherheitskräfte fast ausschließlich in den Städten und in einigen wenigen größeren Dörfern aufgestellt. Im Naugarder Kreis geschah dieses etwa im Dorf Priemhausen als direkte Reaktion auf den Ausbruch einiger polnischer Gefangener aus der Naugarder Strafanstalt.321 In den pommerschen Exklaven Zettemin, Duckow, Pinnow, Carlsruhe, Rottmannshagen und Rützenfelde sah man sich durch die Tumulte in der Mecklenburger Nachbarschaft beunruhigt.322 Dagegen lehnte der Landrat des 317 Vgl. Botzenhart, S. 442. 318 Vgl. Fischer, Konservatismus von unten, S. 95. 319 Vgl. APS, SPUe, Nr. 1, Ueckermünder Landrat an Reg. St., Ueckermünde 5.5.1848. 320 Vgl. Niebour-Wilmersdorf, S. 146 u. Best u. Weege, passim. 321 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10444, Bericht des Naugarder Landrats, Naugard 26.7.1848. 322 Vgl. ebd., Bericht des Demminer Landrats, Demmin 14.6.1848.

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Randower Kreises die Aufstellung einer Bürgerwehr explizit ab, weil diese seiner Auffassung nach nur Unruhe hervorrufe und das örtliche Personal von acht Gendarmen und 16 Kreisschulzen vollkommen ausreiche.323 Der Landrat des Saatziger Kreises begründete seine Ablehnung damit, dass er eine offene Par­ teiung zwischen den besitzenden Bürgerwehrangehörigen und den besitzlosen Tagelöhnern, Knechten und Büdnern verhindern wolle.324 Trotzdem entspannte sich die Lage nicht endgültig. Im August kam es bei den Kanton-Revisionen in rund 30 Ortschaften des Greifenhagener Kreises zu kleineren Unruhen.325 Auch der Gutsbesitzer Andrae berichtete in seinen Erinnerungen über kleinere Konflikte mit seinen Gutseinsassen, die während des Sommers 1848 stattfanden.326 Und in Reaktion auf die »in Folge einer falschen Auffassung der neuen politischen Verhältnisse merklich vermehrt[en]« Forstfrevel sah sich die Stettiner Regierung ebenfalls noch im August dazu genötigt, öffentlich auf die Strafmaßnahmen hinzuweisen. Freilich betonte sie auch die Kabinettsorder, dass alle Holzdiebstähle bis zum 26. Juni 1848 unter Amnestie fielen.327 Die zunehmenden Anzeichen der Gegenrevolution verursachten auf dem Land schließlich nur verhaltene Reaktionen. Nachdem Anfang September der Waffenstillstand von Malmö bekannt geworden war, versammelten sich auf dem Glaubensberg im Amt Pudagla auf der Insel Usedom immerhin noch einmal rund 500 Inselbewohner. Darunter befanden sich sicherlich nicht nur Bürger der Städte Swinemünde und Usedom. Nachdem einer der ersten Redner den Waffenstillstand verteidigt hatte, musste der ebenfalls anwesende Landrat Ferno die aufgeregte Menge beruhigen. Die Kundgebung endete schließlich sowohl mit einer Vertrauensbekundung gegenüber dem linken Abgeordneten Rodbertus als auch mit einem Hoch auf Friedrich Wilhelm IV. Sonst standen bei der Veranstaltung immer noch Fragen zur Regelung des Landbesitzes und der Steuern im Mittelpunkt.328 Da es gerade in diesen Punkten bis zum Herbst 1848 Un­k larheiten gab, kam es offenbar auch in den benachbarten vorpommerschen Kreisen des Stettiner Bezirks unter den Tagelöhnern und kleineren Besitzern noch zu Missfallensbekundungen.329 Eine unter der Führung eines Usedomer Domänenpächters ausgearbeitete Petition, in der die Prüfung einer vorsichtigen Landreform angeregt wurde, unterzeichneten bis Ende September

323 Vgl. ebd., Bericht des Randower Landrats, Stettin 14.6.1848. 324 Vgl. ebd., Bericht des Saatziger Landrats, Stargard 7.7.1848. 325 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10441, Bericht des Greifenhagener Landrats, Greifenhagen 26.8.1848. 326 Vgl. Andrae, S. 27 f. 327 Vgl. Amtsbl. Stettin, Nr. 33, 18.8.1848. 328 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3766, Bericht des Usedom-Wolliner Landrats, Swinemünde 20.9.1848. Vgl. auch das Usedom-Wolliner Kreis- u. Wochenbl., 22.9.1848. 329 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Sept. u. Okt. 1848, Stettin 6.11.1848. Vgl. auch APS, NPPP, Nr.  3766, Domänenamt Verchen an Oberpräsident, Verchen 16.11.1848.

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1848 immerhin 1.176 »einfache Leute« des platten Lands.330 Die Stettiner Regierung beäugte diese Vorgänge mit entsprechendem Missfallen. Die Verlegung und die anschließende Auflösung der Nationalversammlung stießen dagegen ebenso wie der Steuerverweigerungsbeschluss nur auf eine verhaltene Resonanz. Die Stettiner Regierung berichtete im Januar 1849, dass die »gewöhnlichen Steuern […] meistentheils prompt« eingingen. Nur vereinzelt wurde angegeben, dass wieder einmal die verhassten Chaussee- und Schulgelder rückständig seien. Ein Vorfall in Nörenberg, wo rund 20 mit Stöcken bewaffnete Karlsthaler Kolonisten ins örtliche Pfarramt eindrangen und eine Reduzierung des Schulgeldes erpressten, wurde als radikale Ausnahme erwähnt.331 Dagegen entrichteten einige Steuerpflichtige der Kreise Cammin und Demmin ihre Steuer aus Treue zum Monarchen angeblich gleich in doppelter Höhe.332 Insgesamt erscheint es jedoch zweifelhaft, inwieweit der Steuerverweigerungsbeschluss überhaupt in einem größeren Maße von der einfachen Landbevölkerung wahrgenommen wurde. In einem Dorf des Kreises Ueckermünde gelangte die Nachricht nur deshalb zur Verbreitung, weil einem Arbeiter zufällig im Haus eines Schiffskapitäns die Nachricht aus der Zeitung vorgelesen worden war.333 Da nur ein geringer Teil der preußischen Bevölkerung direkte Steuern zahlte, ging der Beschluss der Nationalversammlung an der Lebenswirklichkeit der einfachen Landbevölkerung vorbei. Nach der Oktroyierung der Verfassung kippte die Stimmung auf dem Land endgültig zum Vorteil des konservativen Lagers um. Im Zuge der Neu­wahlen vom Januar 1849 kam es in einigen Orten zu Gewaltakten gegen Demokraten. Der Vorsitzende des demokratischen Volksvereins, der inzwischen von seinem Amt suspendierte Gymnasiallehrer Brunnemann, der Regierungsassessor Dannappel und der Privatlehrer Manthey wurden in einem Gasthof von einer Gruppe mit Knüppeln bewaffneter Knechte zusammengeschlagen.334 Frühere linke Abgeordnete wie der erwähnte Tagelöhner Pankow traten zwar bei der Wahl noch an, wagten es jedoch nicht, örtliche Wahlveranstaltungen zu besuchen.335 Aufgrund dieses auch mit physischem Druck erzeugten Stimmungsumschwungs konnte sich die Stettiner Regierung schließlich rühmen, dass im gesamten Bezirk ausschließlich konservative Kandidaten gewählt wurden, »eine Erscheinung, welche […] sich in keinem der übrigen Regierungsbezirke wiederholt hat.«336

330 Vgl. Hendel, S. 28. 331 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10445, Bericht des Nörenberger Pastors, Nörenberg 18.12.1848. 332 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Nov. u. Dez. 1848, Stettin 6.1.1849. 333 Vgl. APS, SPUe, Nr. 1, Verhandlungsprot. des Arbeiters Ulrich, Ueckermünde 24.11.1848. 334 Vgl. APS, SPSz, Nr. 247, Ztgsb. des Randower Landrats, Stettin 30.12.1848. 335 Vgl. Fischer, Konservatismus von unten, S. 96. 336 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Jan. u. Feb. 1849, Stettin 5.3.1849.

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Zwar wurden auch noch bis ins Jahr 1850 hinein beim Eingang der Chausseeund Schulgelder Rückstände festgestellt,337 generell hatte sich jedoch die Lage in Pommern – ganz im Gegensatz etwa einiger ländlicher Gebiete der Rheinprovinz338 – beruhigt. Nach der im April 1849 erfolgten Auflösung der zweiten Kammer berichtete der Landrat von Ueckermünde, dass diese auf dem Land keinerlei merkbaren Reaktionen hervorgerufen habe und die Mehrzahl der Bevölkerung am politischen Leben teilnahmslos und desinteressiert sei. In vielen Orten teilten die Bewohnern zudem die Ansicht, dass »sie überhaupt nicht mehr wählen würden, und daß sie lieber gar keine Vertretung haben wollten.«339 Die Rolle der einfachen Landbevölkerung ist in der Revolution von 1848/49 ähnlich zu beschreiben, wie in den anderen altpreußischen Provinzen. Die Vielzahl der Subsistenzunruhen des Jahres 1848 weist einerseits darauf hin, dass es falsch ist, von einer besonderen ländlichen oder gar spezifisch pommerschen Vendée zu sprechen. Andererseits bezeugt das Protestverhalten der ländlichen Unterschichten, dass es diesen um konkrete soziale Reformen als »ungerecht« empfundener Verhältnisse und um die Bewältigung der Folgen der Separa­tionen ging. Da der diffuse Protest der Landbevölkerung nicht in formalisierte Strukturen übersetzt werden konnte, verpuffte er jedoch schnell. Zivil­ gesellschaftliche Ansätze entwickelten sich trotz der viel versprechenden Beteiligung bei den Wahlen zur Preußischen Nationalversammlung in dieser Phase nicht. Die »Beschränktheit des Gesichtskreises« (Helmut Bleiber) und »verhaltens­ prägende mentale Dispositionen von historisch langer Dauer« (Manfred ­Gailus) unterminierten zudem jeden Ansatz zur Herausbildung eines revolutionären Bewusstseins, welches auch die Möglichkeit eines politischen Umsturzes einschloss. Gailus weist besonders auf die Bedeutung der starken kirchlich-reli­ giösen Prägung im lutherischen Sinne und den besonderen Preußenpatriotismus der Landbevölkerung hin, die eine Abkehr von ordnungspolitischen Konzepten wie dem Gottesgnadentum und dem monarchischen Prinzip erfolgreich unterbanden.340 Diese mentale Grundlage wurde freilich in Pommern wie auch in den anderen altpreußischen, ostelbischen Provinzen von einer besonders rührigen konservativen Bewegung der ländlichen Eliten aufgegriffen und seit dem Spätsommer 1848 massiv für sich nutzbar gemacht. Wie in den Zitaten über die »pommersche Vendée« deutlich wurde, galt Pommern bereits vor dem Ausbruch der Revolution als konservative Hochburg. Dieses zeitgenössische Urteil bestätigte sich spätestens seit den Wahlen des Jahres 1849. Außer der breiten Unterstützung konservativer Positionen durch die einfache Landbevölkerung, deren Grundlage die spezifischen Milieustruk337 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3767, Abteilung für Kirchen- u. Schulangelegenheiten an Oberpräsident, Stettin 15.8.1849 u. dsgl. Stettin 12.2.1850. 338 Vgl. Rummel, S. 149–158. 339 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10489, Bericht des Ueckermünder Landrats, Ueckermünde 29.5.1849. 340 Vgl. Gailus, Straße u. Brot, S. 441 f.

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turen samt ihrer besonderen »mentalen Dispositionen« bildete, ist die enge Verbindung zwischen den konservativen Parteiführern Preußens und der Provinz Pommern hervorzuheben. Immerhin waren mit Ernst von Bülow-Cummerow und den von ihrem pietistischen Umfeld geprägten Adolf von Thadden-Trieglaff, Otto von Bismarck, Ernst von Senfft-Pilsach, Hans Hugo von Kleist-Retzow und Moritz von Blankenburg einige der bedeutendsten preußischen Konser­ vativen der Revolutionszeit in Pommern begütert.341 Die Gebrüder Gerlach hatten ebenfalls eine enge Bindung an die Provinz, die durch die vielfältigen familiären Beziehungen der genannten Personen untereinander vertieft wurde. Aus diesem Personenkreis sind frühzeitig Bemühungen zur Organisation nicht nur einer konservativen Partei, sondern auch zur Gegenrevolution festzustellen. So ist zumindest anekdotisch überliefert, dass Bismarck und ThaddenTrieglaff bereits im März 1848 überlegt hätten, Friedrich Wilhelm IV. aus dem revolutionären Berlin zu befreien.342 Im Regierungsbezirk Köslin versuchte außerdem der Oberleutnant von Wolden, eine Gegenrevolution zu organisieren.343 Nachdem dieser aus der Stadt Köslin ausgewiesen worden war, konnte von Wolden offenbar bei dem Landrat des Belgarder Kreises, Hans Hugo von Kleist-Retzow, Unterschlupf finden. Von hier wandte sich von Wolden mit einem Aufruf an die pommersche Öffentlichkeit, in dem er die Forderung aufstellte, eine pommersche Delegation nach Berlin zu schicken, um sich dort von den Vorstehern der Bürgerschaft eine Meinungsäußerung auszubitten, »ob sie zu der Ehrerbietung, dem Gehorsam und der Treue gegen ihrem König zurückkehren wolle, die Pommern demselben unter allen Momenten seiner Geschichte bewahrt [habe].«344 Zwar blieb dieser Aufruf in der Öffentlichkeit ohne jede positive Resonanz, jedoch wiesen diverse anonyme Zuschriften in den Börsennachrichten auf das gegenrevolutionäre Klima in Hinterpommern hin. Zumindest im Belgarder Kreis konnte man sich angeblich selbst Ende März 1848 nicht »mit der deutschen Kokarde« sehen lassen.345 Kleist-Retzow, der im Gegensatz zu vielen seiner pommerschen Landratskollegen sein Amt 1848 nicht aufgab,346 hatte auch im Folgenden einen erheb­lichen Anteil am Aufbau der konservativen Parteistruktur. Nachdem die meisten pommerschen Kreistage im April unter den Wahlspruch »Mit Gott, für König und Vaterland!« dem Monarchen ein Treuegelöbnis ausgesprochen hatten,347 341 Vgl. ausführlich Witte, passim. 342 Vgl. Schwentker, S. 13 u. S. 58. Siehe auch Witte, S. 90. Bismarck hat mit dieser Anekdote seine Ausführungen zum Jahr 1848 in seinen »Erinnerungen« eingeleitet. Vgl. Bismarck, S. 23–25. 343 Vgl. Andrae, S. 22. 344 Vgl. Bn, Nr. 25, 27.3.1848. 345 Vgl. Bn, Nr. 26, 31.3.1848. 346 In Pommern gaben immerhin 11, d. h. 44 % aller Landräte 1848 ihr Amt auf. Vgl. Cizek, ­Szlachta na Pomorzu Zachodnim, S. 264. 347 Vgl. etwa die Resolution des Demminer Kreistags, Demmin vom 5.4.1848, in: OZ, Nr. 31, 7.4.1848.

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ging der Belgarder Kreistag noch einen Schritt weiter. Auf Vorschlag KleistRetzows bat das Gremium am 19. April um die Rückkehr des wenig geliebten Thronfolgers aus dem Londoner Exil. Man würde ihm auch »Gut und Blut der Pommern« zur Verfügung stellen.348 Als eine entsprechende Petition gezielt in der Provinz verbreitet wurde,349 konstatierte die Ostseezeitung bedauernd, dass in Pommern nun doch »eine geschlossene und enge verbundene reaktionaire Partei« entstanden sei.350 Wenn auch diese »Partei« bei den Wahlen zur preußischen Nationalversammlung keine Chancen besaß, gab dieses Ereignis dennoch den Anstoß zur Organisierung eines konservativen Vereinsnetzes. Bis zum Dezember 1848 entstanden in der Provinz rund 21 konservative Vereine. Damit waren zu diesem Zeitpunkt 22,1 % aller lokalen konservativen Vereinsgliederungen Preußens pommerscher Provenienz.351 Im Regierungsbezirk Stettin war es bis zum Dezember 1848 zu insgesamt acht konservativen Vereinsgründungen gekommen. Bis 1849 waren Konstitutionelle Vereine in Stettin, Regenwalde, Anklam, Naugard, Wollin, Stargard und Pyritz, Patriotische Vereine in Demmin, Pasewalk und Ueckermünde und Vereine für König und Vaterland in Greifen­hagen und Cammin vertreten.352 Mit jeweils rund 100 bis 250 Mitgliedern fanden insbesondere die mit ihren Berliner Zentralvereinen verknüpften Patriotischen Vereine und die Vereine für König und Vaterland eine breitere gesellschaftliche Basis.353 Während im Stettiner Konstitutionellen Verein vor allem Vertreter der städtischen Verwaltungselite unter der Führung des Direktors des Realgymnasiums Karl Gottfried Scheibert ein gemäßigt konservatives Profil entwickelten, dominierten in Regenwalde, Greifenhagen und Cammin die Hochkonservativen. In Cammin standen dem dortigen 140 Mitglieder umfassenden Verein sowie seiner kurzlebigen Volkszeitung für Stadt und Land der Direktor des Lehrerseminars Wangemann und der Rittergutsbesitzer von Ploetz-Gr. Weckow vor. In Regenwalde führte Ernst von Bülow-Cummerow den Verein. Neben ihm engagierten sich auch Adolf von Thadden-Trieglaff und Moritz von Blankenburg,354 der spätere Mitbegründer des Preußischen Volksvereins. Der benachbarte Belgarder Patriotische Verein stand unter der Führung von Hans Hugo von KleistRetzow.355 Die pommerschen Konservativen bemühten sich frühzeitig, ein möglichst breites Bündnis zu bilden. Fast 50 Jahre später schrieb der hochkonservative Gutsbesitzer Alexander Andrae-Roman rückblickend durchaus bedauernd, dass 348 Vgl. Andrae, S. 22. 349 Vgl. OZ, Nr. 47, 3.5.1848. 350 Vgl. ebd., Nr. 49, 5.5.1848. 351 Vgl. Schwentker, S. 158. 352 Vgl. Fischer, Konservatismus von unten, S. 78 (abgeglichen mit den Angaben aus der OZ u. prov. Verwaltungsakten). 353 Vgl. Schwentker, S. 165. 354 Vgl. Andrae, S. 42 f. 355 Vgl. OZ, Nr. 125, 14.8.1848.

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der Konstitutionelle Verein von Regenwalde »alles, was nur nicht gerade demokratisch war« umfasste.356 Ernst von Bülow-Cummerow rief Anfang Juli 1848 dazu auf, die konstitutionellen und konservativen Vereine der Provinz unter einem gemeinsamen Dach zu sammeln. Bei einem ersten Koordinierungstreffen am 10.  Juli fanden sich rund 180 Delegierte, darunter auch Vertreter des örtlichen Krieger- und des Berliner Preußenvereins in Stettin ein. Laut Bericht­ erstattung des liberalen Korrespondenten der Ostseezeitung, Theodor Schmidt, wurden bei dieser Zusammenkunft »zelotische[] Ansprachen« gehalten, die sich insbesondere gegen ein eventuelles Aufgehen Preußens in Deutschland wandten. Zudem verteilten Unbekannte auf der Veranstaltung Flugblätter, welche die Wahl des Reichsverwesers Erzherzog Johann durch die Nationalversammlung als illegitim diffamierten und sich zu einem starken Preußen bekannten.357 Nur zwei Wochen später organisierte von Bülow-Cummerow eine weitere Zusammenkunft, bei der es um die Organisierung einer ganz spezifischen gesellschaftlichen Klasse ging. Am 24. Juli traten 150 bis 300 Grundbesitzer aus den ostelbischen Gebieten in Stettin zusammen, um über die die Sonderrechte des Großgrundbesitzes bedrohenden Agrarreformen des Ministeriums Hanse­ mann zu beraten. In der abschließenden, von Bülow vorbereiteten Resolution wandte sich eine Mehrheit der Teilnehmer gegen die geplante Aufhebung der Grundsteuerexemtion.358 Für die Organisationsgeschichte des politischen Konservativismus ist es bedeutsam, dass sich diese Stettiner Versammlung zum Verein zur Wahrung der Rechte des Grundbesitzes und zur Aufrechterhaltung des Wohlstandes aller Volksklassen zusammenschloss.359 Nachdem bereits eine Woche später eine erneute Versammlung pommerscher Gutsbesitzer in Stettin die lediglich materielle Ausrichtung des Vereins kritisiert hatte,360 überzeugte Hans Hugo von Kleist-Retzow auf Initiative von Otto von Bismarck und Alexander von Below Ernst von Bülow-Cummerow, eine Generalversammlung des Vereins in Berlin einzuberufen, um diesen in eine parteipolitische Organisation umzuwandeln.361 Der Zusammentritt dieser Versammlung am 18. August 1848 in Berlin markierte schließlich mit der Gründung des so genannten »Junkerparlaments« die Geburt des parteipolitischen Konservativismus in Deutschland. Unter den 240 namentlich bekannten Teilnehmern des Kongresses fanden sich allein rund 50 Rittergutsbesitzer aus Pommern.362 Diese organisierten sich im Folgenden in 19 lokalen Zweigvereinen.363 Gemeinsam mit der Provinz Brandenburg bildeten die drei pommerschen Regierungsbezirke die Hochburgen des Vereins. 356 Vgl. Andrae, S. 42 f. 357 Vgl. OZ, Nr. 96, 11.7.1848. 358 Vgl. Klatte, S. 230–233. 359 Vgl. Schwentker, S. 100–103. 360 Vgl. Neue Preuß. Ztg., Nr. 34, 9.8.1848. 361 Vgl. Andrae, S. 47 f. 362 Vgl. Fischer, Konservatismus von unten, S. 72. 363 Vgl. Schwentker, S. 162 u. S. 165.

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Nachdem sich die konservativen Vereine Pommerns bereits Mitte No­vember durch die Veröffentlichung von Ergebenheitsadressen öffentlich zur Gegen­ revolution bekannt hatten,364 übernahmen sie bei den Wahlen des Jahres 1849 »Aufgaben regelrechter Partei-Grundorganisationen«. Hierbei wurden Kader ausgebildet, »die teilweise noch über das Jahrzehnt der Reaktionsära hinaus den festen Stamm lokaler Vertrauensmänner stellten.«365 Gefördert wurde die Wahlagitation der konservativen Vereine durch ein Zentralkomitee, welches sich Anfang Januar unter der Führung von Moritz August von BethmannHollweg, Friedrich Julius Stahl, Otto von Bismarck, Friedrich von Savigny und J. Bindewald konstituiert hatte.366 Unterstützt von Wahlaufrufen in der amtlichen Presse,367 der Berichterstattung der Norddeutschen und der Königlich Privilegierten Zeitung,368 politischen Kundgebungen und der Verbreitung von Flugblättern auf dem platten Land369 bemühten sich die Konservativen im Januar und Februar 1849, ihre Vereinsmitglieder als Urwahlmänner und Kandidaten durchzubringen. Am Beispiel des Kreises Demmin ist festzustellen, dass dieses Vorhaben dem dortigen Patriotischen Verein bei den Wahlen zur Zweiten Kammer mehrheitlich und bei den unter einem Zensuswahlrecht durchgeführten Wahlen zur Ersten Kammer sogar vollständig gelang.370 Aufgrund des überragenden Erfolgs bei den Wahlmännerwahlen ging es bald in vielen Bezirken auf dem Land nur noch darum, ob sich unter den Konservativen eher gemäßigte Whigs oder radikale Tories durchsetzen konnten. Hatte sich etwa anfangs der sich selbst für »gemäßigt conservativ« haltende Rittergutsbesitzer von Kuylenstierna-Roggow im Wahlkreis Naugard – Regenwalde Chancen ausgerechnet, wurde auf der Wahlmännerversammlung der hoch­konservative Landschaftsrat von Hagen-Premslaff zum Abgeordneten gewählt. Ein ähnliches Ergebnis kam in Cammin zustande, wo sich der Kandidat der ­äußeren Rechten, der Landschaftsrat von Ploetz-Stuchow, gegen den ehemaligen Oberpräsidenten der Provinz Preußen, Karl Wilhelm Bötticher, durch­ setzen konnte. Dagegen verlor der hochkonservative Landrat des Demminer Kreises, von Heyden, knapp gegen den zu diesem Zeitpunkt als liberal-konservativ einzuordnenden Grafen von Schwerin-Putzar.371 Das überragende Ergebnis der Rechten (vgl. Diagramm 11) wurde von den pommerschen Konservativen entsprechend gefeiert. In der Kommentierung der Siegesfeier des Konstitutio364 Vgl. OZ, Nr. 209, 20.11.1848. 365 Vgl. Fischer, Konservatismus von unten, S. 79. 366 Vgl. Schwentker, S. 253. 367 Vgl. etwa entsprechende Aufrufe im Greifenhagener Kreisbl., 17.1.1849 u. im Demminer Wochenbl., Nr. 10, 31.1.1849. 368 Vgl. etwa den Wahlaufruf in der Kgl. Priv. Ztg., Nr. 6, 8.1.1849. 369 Vgl. Andrae, S. 71–73. 370 Vgl. Fischer, Konservatismus von unten, S. 95 f. 371 Vgl. dazu ausführlich ebd, S. 90–98. Die einzelnen Ergebnisse finden sich in der Kgl. Priv. Ztg., Nr. 33, 8.2.1849.

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Diagramm 11: Ergebnisse der Wahlen zur zweiten Kammer (Februar 1849) Posen

60,0%

Rheinprovinz

6,6%

50,8%

Schlesien

14,8%

54,5%

Sachsen

50,0%

3,3%

58,1%

28,0%

Bbg. (mit Berlin)

72,0%

33,3%

Bbg. (ohne Berlin)

16,6% 0%

10%

42,1%

7,4%

38,7%

Pommern

39,4%

18,4%

42,6%

Westfalen

34,4%

6,1%

39,5%

Preußen

33,3%

6,6%

60,0%

8,3% 20%

75,0% 30%

Linke

40%

Zentrum

50%

60%

70%

80%

90%

100%

Rechte

Zusammengestellt nach: Fischer, Konservatismus von unten, S. 89.

nellen Vereins durch die Norddeutsche Zeitung wurde zudem etwa mit der positiv besetzten Verwendung des Terminus »Parthei« der in Gang kommende Parteiwerdungsprozess der Konservativen deutlich.372 Bei den Wahlen vom 17. Juli 1849 führten die konservativen Vereine der Provinz ebenfalls einen professionellen Wahlkampf. Mit der Gründung von Sparkassen für verarmte Handwerker und Arbeiter engagierten sich die Vereine für König und Vaterland im sozialen Bereich.373 Mit dem Hochkonservativen Ernst Ludwig von Gerlach gewann Hans Hugo von Kleist-Retzow einen gewieften Agitator, der in Pommern vor den Mitgliedern mehrerer Patriotischer Vereine auftrat.374 Aufgrund des Wahlboykotts der Demokraten bewirkten diese Wahlen einen noch deutlicheren Erfolg der konservativen Kräfte als im Januar, wobei die verhältnismäßig hohe pommersche Urwahlbeteiligung von 30 % die gleichzeitige relative Schwäche der Boykottbewegung unterstreicht.375 Auch bei den 372 Ndt. Ztg., Nr. 25, 30.1.1849. Vgl. auch Schwentker, S. 266. 373 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Mai u. Juni 1849, Stettin 6.7.1849. 374 Vgl. Schwentker, S. 330. 375 In der Rheinprovinz lag die Wahlbtlg. mit ca. 11 % am niedrigsten. Höher als in Pommern war diese nur in Brandenburg (ca. 35 %). Bei den Wahlen zum Preuß. Abgeordnetenhaus von 1855 war die Verteilung der Wahlbtlg. ähnlich gelagert. Während sich in Pommern 42,3 % bei den Urwahlen beteiligten, waren es in der Rheinprovinz nur 29,5 %. Vgl. Grünthal, S. 103 u. S. 438.

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Wahlen zum Erfurter Unionsparlament sicherte die vereinigte Wahlagitation und die Schützenhilfe der pommerschen Provinzialverwaltung376 den Erfolg der gemäßigt konservativen Kandidaten. So zogen der Vorsitzende des Konstitutionellen Vereins in Stettin Karl Gottfried Scheibert und Graf von SchwerinPutzar ins Unionsparlament ein. Während sich Scheibert dort zur rechten Fraktion Schlehdorn zählte, blieb von Schwerin seiner früheren Mitgliedschaft in der Casino-Fraktion treu und schloss sich der Bahnhofspartei an.377 Der durchaus erfolgreiche Parteibildungsprozess der pommerschen Konser­ vativen wurde in den Jahren 1848/49 freilich durch die rigide preußische Vereinsgesetzgebung vom Frühjahr 1850 konterkariert. In der Reaktionsära wurde das, was man in Pommern als »Konservative Partei« bezeichnete, erneut zu einem informellen Elitenprojekt, welches von einer überschaubaren Anzahl von Rittergutsbesitzern und höheren Verwaltungsbeamten getragen wurde. Verantwortlich hierfür war nicht nur die bald zerbrechende Organisationsstruktur, sondern auch die immer wieder aufbrechende inhaltliche Differenz zwischen den Hochkonservativen des platten Land und den gemäßigten städtischen liberal-konservativen Kräften. Diese zeigte sich vor allem in Fragen der Deutschlandpolitik. Entgegen der Positionierung der meisten Hochkonservativen hatte sich der Konstitutionelle Zentralverein Pommerns noch im April 1849 für die Annahme der deutschen Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. ausgesprochen.378 Desgleichen unterstützten die Norddeutsche Zeitung und der Konstitutionelle Verein von Stettin die preußische Unionspolitik und kritisierten mit aller Vehemenz die österreichfreundliche Politik Ernst Ludwig von Gerlachs und anderer Hochkonservativer.379 Diese bereits 1849 auftretenden Differenzen machen deutlich, weshalb es den Hochkonservativen um den Oberpräsidenten von Senfft-Pilsach Mitte der fünfziger Jahre nicht gelang, mit der Übernahme der Norddeutschen Zeitung die konservativen Kräfte der Provinz zu vereinigen. Wie in den anderen preußischen Provinzen380 erhielt der pommersche Konservativismus deshalb erst wieder im Verfassungskonflikt der sechziger Jahre neue Impulse, größere Gruppen zu organisieren. Freilich gingen die meisten der früheren hochkonservativen pommerschen Parteiführer diesen vor allem durch die Reichsgründung forcierten Modernisierungsprozess der konservativen Bewegung nicht mehr mit. Spätestens mit dem Kulturkampf standen die Altkonservativen Hans von KleistRetzow, Ludwig von Gerlach, von Senfft-Pilsach und von Thadden-Trieglaff in Opposition zu denjenigen konservativen Kräften, die Bismarcks Politik unterstützten. 376 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Nov. u. Dez. 1849, Stettin 5.1.1850 u. Amtsbl. Stettin, Nr. 1, 4.1.1850, S. 1–3. 377 Vgl. Lengemann, S. 271 f. u. S. 284–286. 378 Vgl. Ndt. Ztg., Nr. 84, 5.4.1849. 379 Vgl. Ndt. Ztg., Nr. 350, 13.9.1849. 380 Vgl. Schwentker, S. 334.

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In der Reaktionsära sank das politische Leben in der gesamten Provinz wieder auf den Stand vor der Revolution herab. Die Zeitungsberichte der Stettiner Regierung bezeugen in den fünfziger Jahren insgesamt eine ruhige Stimmungslage. Regelmäßig wurde hervorgehoben, dass die Bevölkerung treu zum Königshaus stehe, bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus siegten konservative Kandidaten. Eine vom Oberpräsidenten von Senfft-Pilsach angeregte Ergebenheitsadresse an Friedrich Wilhelm IV. wurde 1854 angeblich von mehreren tausend Männern der Provinz unterschrieben.381 Allerdings bedauerten die pommerschen Behörden die geringe Wahlbeteiligung bei den Urmännerwahlen, wie auch generell konstatiert wurde, dass die Teilnahme der Bevölkerung am öffentlichen Leben gering sei.382 Diffuser Protest artikulierte sich auf dem Land wiederum nur in vereinzelter Kritik gegenüber der Abgabenlast sowie indirekt in der unbegrenzten »Auswanderungssucht« und in nonkonformen religiösen Erscheinungsformen. 1853 ging die Stettiner Regierung mit polizeilichen Mitteln gegen eine »von Leitern aus dem Bauernstande« angeführte, mehrere hundert Personen umfassende volksreligiöse Bewegung in den Kreisen Saatzig und Naugard vor, deren Ziel darin bestand »durch Singen, Klatschen, Springen und Schreien […] in eine körperliche Berührung mit [dem Heiligen Geist] zu treten.«383 Ein größeres politisches Interesse wurde in Pommern erst wieder in der »Neuen Ära« geweckt. Der Schwächung des konservativen Lagers durch die Einstellung der Norddeutschen Zeitung versuchten die Parteiführer bereits 1859, durch erste Reaktivierungsbemühungen der früheren konservativen Vereine zu begegnen.384 Mit dem Ausbruch des preußischen Verfassungskonfliktes stieg einerseits die Wahlbeteiligung an. Andererseits trat in den konservativen Hochburgen des Bezirks die liberale Opposition erfolgreich in Erscheinung. Schon bei den im Februar 1861 erfolgten Ersatzwahlen im Wahlkreis Naugard – Regenwalde registrierte die Stettiner Regierung erstmals seit 1850 umfassende Wahlkampfanstrengungen. Zwar setzte sich bei dieser Wahl der Kandidat der Konservativen noch einmal mit elf Stimmen Vorsprung gegenüber seinem liberalen Konkurrenten durch,385 bei den im Dezember stattfindenden regulären Wahlen unterlagen die Konservativen jedoch auf ganzer Linie.386 381 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3770, Text der Ergebenheitsadresse aus dem Jahr 1854, die sich u. a. gegen ein Bündnis Preußens mit Russland aussprach. 382 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16044, Ztgsb. Nov. u. Dez. 1851, Stettin 6.1.1852, Ztgsb. Sept. u. Okt. 1852, Stettin 6.11.1852 u. Ztgsb. Sept. u. Okt. 1855, Stettin 6.11.1855. 383 Vgl. ebd., Ztgsb. Jan. u. Feb. 1853, Stettin 5.3.1853. 384 Vgl. APS, SPŚw, Nr. 58, Reskript der Reg. St. an alle Landräte, Stettin 26.4.1859, in dem auf die Gründung eines konservativen Vereins im Wahlkreis Naugard-Regenwalde aufmerksam gemacht u. angeordnet wurde, dass entsprechende Vereine polizeilich kontrolliert werden müssen. 385 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16045, Ztgsb. Jan. u. Feb. 1861, Stettin 6.3.1861. 386 Vgl. ebd., Ztgsb. Nov. u. Dez. 1861, Stettin 7.1.1862.

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Bei diesen Wahlen organisierten sich die beiden großen politischen Lager erstmals explizit parteipolitisch. Gleich mehrere liberale Kandidaten schlossen sich unter dem Parteiprogramm der DFP zusammen, während sich die konservativen Kandidaten unter der Fahne des Preußischen Volkvereins sammel­ ten.387Auch bei den 1862 folgenden Wahlen, die mit einer pommerschen Beteiligung von 37,8 % bis zum Ende der Monarchie den Rekord stellten,388 gingen sämtliche Sitze des Regierungsbezirks an liberale Abgeordnete. Erst bei den Wahlen vom Oktober 1863 eroberten die Konservativen in den ländlichen Wahlkreisen vier Sitze zurück, während die DFP ihr Übergewicht in den Städten vorerst verteidigen konnte.389 An den Stimmungsberichten und den Wahlergebnissen der Jahre 1866 bis 1870 ist der Erfolg der Bismarckschen Kriegs- und Einigungspolitik von oben nachzuvollziehen. In den Zeitungsberichten der Monate Mai und Juni 1866 betonte die Stettiner Regierung neben der positiven Resonanz der Bevölkerung auf die preußischen Siege das Auseinanderbrechen der lokalen DFP.390 Bei den 1867 stattfindenden Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus setzten sich mit Ausnahme Stettins bei gesunkener Wahlbeteiligung überall regierungsfreundliche Kandidaten durch. Diese konnten sich im Wahlkampf inzwischen auf die Unterstützung der einflussreichen und mitgliederstarken Kriegervereine sowie auf den christlich-konservativen Verein Pomerania verlassen. Unter der Führung des Camminer Seminardirektors Wangemann hatte sich letzterer seit 1864 darum bemüht, die pommerschen Volksschullehrer zu organisieren. Mit seiner strikten Ablehnung der »Grundsätze der französischen Revolution« und der »nivellirenden und centralirenden Strömungen und Forderungen der Gegenwart«391 konnte der Verein bis 1865 immerhin 800 pommersche Lehrer vereinigen und hierüber einen entsprechenden Einfluss auf die Landbevölkerung ausüben. Bei den 1867 stattfindenden Wahlen zum Norddeutschen Reichstag registrierte die Stettiner Regierung eine gestiegene Wahlbeteiligung. Bei den Februarwahlen erzielten die Konservativen auf dem Land vier Mandate. Im Wahlkreis Usedom-Wollin – Ueckermünde wurde das Mandat von einem Na­ tionalliberalen gewonnen, im Wahlkreis Demmin – Anklam setzte sich der alt­liberale Parteiführer Graf von Schwerin-Putzar durch.392 Der Erfolg dieser regierungsnahen Kandidaten basierte erneut auf der wohlwollenden Unterstützung der Provinzialverwaltung. Proteste der Opposition, die sich auf Un­ 387 Vgl. ebd., Ztgsb. Sept. u. Okt. 1861, Stettin 7.11.1861. 388 Die Wahlbtlg. war somit sogar höher als in Gesamtpreußen (34,4 %). Vgl. Kühne, Handbuch, S. 54 bzw. S. 64. 389 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16045, Ztgsb. Sept. u. Okt. 1863, Stettin 6.11.1863. 390 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16046, Ztgsb. Mai u. Juni 1866, Stettin 6.7.1866. 391 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3659, Statut des Vereins Pomerania [1864]. 392 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 1826, Wahlergebnisse vom Feb. 1867.

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regelmäßigkeiten bezogen, wurde zwar nachgegangen, die Wahl wurde jedoch nicht wiederholt. Wenn im Dorf Petznick (Naugard-Regenwalder Wahlkreis) 76 Wähler eidesstattlich bezeugten, dass sie den demokratischen Kandidaten, den Rittergutsbesitzer Mühlenbeck, gewählt hätten, im offiziellen Ergebnis sich jedoch der konservative Landrat von Schöning mit 73 zu 34 Stimmen durchgesetzt hatte,393 stellte die Bezirksregierung zwar umfassende Ermittlungen an. Sofern die Widersprüche jedoch wie in diesem Fall nicht aufgeklärt werden konnten, geschah auch weiter nichts.394 Mindestens in einem Fall versuchte die pommersche Provinzialverwaltung über die Neuzuschneidung des Randow – Greifenhagener Wahlkreises die konservative Partei zu bevorteilen. Eine kurz vor den Augustwahlen erfolgte Anregung lehnte das Innenministerium aber aus formalrechtlichen Gründen ab.395 Auf systematische Manipu­ lationen und Stimmfälschungen verzichteten die preußischen Behörden nach Lage der Akten. Die Reichsgründung, die Reform der preußischen Kreisordnung von 1872 und die neue Provinzialordnung von 1875 beförderten auf dem Land weitere zaghafte Ansätze einer zivilgesellschaftlichen Entwicklung. Mit der Kreisordnung für die fünf östlichen Provinzen wurden nicht nur die Kompetenzen der Kreistage erweitert, sondern auch die örtlichen Machtressourcen neu verteilt. Der Wegfall der Virilstimmen, die ausschließlich über die Steuerleistung erfolgende Neudefinition der Klasse der Großgrundbesitzer sowie der erhöhte Anteil der Mandate für die Landgemeinden und die Städte reduzierten den Einfluss des alten Rittergutbesitzes erheblich. Konkret wurden die zumeist 25 Kreistagsmandate seit 1872 in drei Wahlverbänden auf der Grundlage der jeweiligen Bevölkerungszahlen zwischen Stadt und Land verteilt. Hierbei durften die Städte jedoch maximal 50 % der Mandate besetzen. Befand sich im Kreisgebiet lediglich eine einzige Stadt, belief sich die Maximalzahl der Sitze auf höchstens ein Sechstel. Die ländlichen Mandate wurden wiederum je zur Hälfte von den Wahlverbänden des Großgrundbesitzes und der Landgemeinden gewählt. Zum Großgrundbesitz gehörten diejenigen Personen, die mindestens 225 Mark an Grund- und Gebäudesteuer oder 300 Mark an Gewerbesteuer zahlten.396 Während hierdurch erstmals auch bürgerliche Gutsbesitzer in die alten Machtpositionen des Großgrundbesitzes aufrückten, stiegen in allen fünf ostelbischen Provinzen rund 2.000 Rittergutsbesitzer in den Wahlverband der Landgemeinden ab. Eine weitere Schwächung der alt eingesessenen Rittergutsbesitzer erfolgte durch die Ernennung des Landrats durch den Monarchen. Hierüber wurde der

393 Vgl. ebd., Beschwerde des Kaufmanns A. Samuel u. weiterer 75 Wähler an den Landrat u. Wahlkommissar v. Waldow, Petznick 15.2.1867. 394 Vgl. ebd., Reg. St. an Kaufmann A. Samuel, Stettin 26.7.1867. 395 Vgl. APS, NPPP, Nr.  77, Oberpräsident v. Münchhausen an Innenministerium, Stettin 29.6.1867. 396 Vgl. Fenske, S. 46.

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bis dahin gesetzlich festgeschriebene Einfluss der lokalen Rittergutsbesitzer auf die Besetzung des Amtes eingegrenzt.397 Hugo von Kleist-Retzow und andere Altkonservative hatten sich demnach nicht ohne Grund vehement gegen die Reform ausgesprochen. Tatsächlich bestätigten sich die hochkonservativen Befürchtungen eines drohenden Machtverlusts der Rittergutsbesitzer nach dem Eingang der ersten Kreistagswahlergebnisse auch in Pommern. Die im Vorfeld der Wahlen geäußerte Hoffnung, dass zusätzliche Rittergutsbesitzer über den Wahlverband der Landgemeinden in die Kreistage gewählt würden, erfüllte sich jedenfalls nicht. Stattdessen resümierte die Stettiner Regierung bedauernd, dass sich die Bauern bei der Wahl mit wenigen Ausnahmen »nur von der Rücksicht [hatten] leiten lassen, Männer aus ihrer Mitte in den Kreistag zu bringen.«398 Lediglich eine Minderheit der insgesamt 300 pommerschen Kreistagsabgeordneten der Landgemeinden entstammte schließlich dem Rittergutsbesitz. Um trotzdem ihren Einfluss in den von den Kreistagen gewählten Kreisausschüssen zu wahren, mussten die 302 Vertreter des Großgrundbesitzes mit den 211 städtischen Abgeordneten Abstimmungsbündnisse eingehen. Diese Absprachen führten dazu, dass es 1873 in den meisten Kreisausschüssen zu liberal(-konservativen) Mehrheiten kam.399 Zudem rückten nun auch vermehrt Städter und einfache Bauern in die Kreisausschüsse auf. Im Regierungsbezirk Stettin befanden sich 1873 unter der Gesamtzahl von 72 Ausschussmitgliedern 24 Städter und 15 Bauern.400 Freilich ergaben sich aus der Notwendigkeit der Kompromissfindung von Städtern und Großgrundbesitzern für die weitere Entwicklung der östlichen Provinzen überwiegend positive Folgen. Seit Mitte der siebziger Jahre fanden sich die Kreistage mehr und mehr dazu bereit, größere Infrastrukturprojekte voranzubringen. Der Reformstau der fünfziger und sechziger Jahre wurde aufgehoben. Dass die politische Macht der ostelbischen Rittergutsbesitzer keineswegs vollständig gebrochen und gerade in Pommern noch am ehesten konserviert wurde, belegen die 1875 stattfindenden Wahlen zu den ebenfalls neu gebildeten Provinziallandtagen. In den indirekt von den Kreistagen durchgeführten Wahlen setzten sich laut Stettiner Regierung »in der Mehrzahl bekannte Namen von gutem Klange«, d. h. regierungsnahe Personen, durch. Von den 37 gewählten Vertretern des Stettiner Bezirks zählten allein 20 zur Klasse der Großgrundbesitzer. Bis auf einen Domänenpächter entstammten alle Gewählten der Klasse der Rittergutsbesitzer. Die 15 städtischen Abgeordneten blieben gemeinsam mit den zwei kleineren Grundbesitzern in der Minderheit.401 Obwohl in Pommern der adlige gegenüber dem bürgerlichen Grundbesitz in den achtziger und neunziger 397 Vgl. zur Reform ausführlich Wagner, Bauern, Junker u. Beamte, S. 322–328 u. S. 332. 398 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 77, Tit. 497a, Nr. 15, Beiakte 1, Reg. St. an Innenministerium, Stettin 20.12.1873. Zit. nach: Wagner, Lokale Herrschaft u. Partizipation, S. 140. 399 Vgl. ebd., S. 140 f. 400 Vgl. Wagner, Bauern, Junker u. Beamte, S. 339. 401 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Aug., Sept. u. Okt. 1875, Stettin 27.11.1875.

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Jahren weiter abnahm,402 konnte sich der adlige Anteil der Provinziallandtagsabgeordneten bis zum Ende der Monarchie bei ca. 45 % stabi­lisieren. Insbesondere die alteingesessenen pommerschen Rittergutsgeschlechter von Puttkamer, von Köller, von Maltzahn, von Kleist und von Bonin bewahrten ihren Einfluss auf die provinziale Selbstverwaltung. Bei der Wahl des letzten Landtags vor der Revolution 1912 stieg der adlige Anteil schließlich sogar noch einmal auf den Maximalwert von 49,4 % an. Dagegen sank die Prozentzahl der bürgerlichen Gutsbesitzer im Zeitraum von 1875 bis 1912 von 17,1 auf 7,9 % ab, während sich der Anteil derjenigen, die einen bürgerlichen Beruf ausübten, immerhin von 36,6 % auf 41,6 % steigerte.403 Nicht überraschend ist, dass aufgrund der Übermacht der adligen Gutsbesitzer im Provinziallandtag auch das indirekt gewählte Exekutivorgan, der Provinzialausschuss, weiterhin vom Rittergutsbesitz dominiert wurde. Von den zwölf Mitgliedern des ersten Provinzialausschusses aus dem Jahr 1876 rekrutierten sich neun aus dem adligen Großgrund­besitz. Unter den 38 Personen, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs überhaupt im Gremium tätig waren, bildeten die 27 adligen Großgrundbesitzer die mit Abstand stärkste Gruppe.404 Schließlich zählte Pommern auch bei der Besetzung der Landratsämter gemeinsam mit Schlesien zu denjenigen Provinzen, in denen die überkommenen Machtpositionen des alteingesessenen Rittergutsbesitzes noch am ehesten bewahrt wurden. Von den 115 zwischen 1871 und 1918 in Pommern eingesetzten Landräten waren allein 105 adlig. Darunter befanden sich acht Grafen, vier Freiherren sowie 46 Mitglieder »uradliger pommerscher Geschlechter«.405 Einige Landräte, wie Bernhard von Bismarck, der von 1841 bis 1888 das Amt in Naugard ausübte, prägten ihre Kreise über Jahre hinaus. Noch 1910 lag der Anteil der adligen Landräte in Pommern bei 92,9 %, während er in Ost- und Westpreußen auf 39 % gefallen war und im preußischen Gesamtstaat 56 % betrug.406 Allerdings sank die Zahl der im eigenen Kreis begüterten pommerschen Landräte. Waren 1879 noch 53,6 % der Landräte in ihrem Kreis begütert, fiel dieser Anteil bis 1910 auf 25 %.407 Freilich sicherten sich die alteingesessenen pommerschen Adelsfamilien auch hiermit trotz der grundsätzlich veränderten Rolle und Funktion des Landratsamts nach 1872408 noch bis zum Ende des Kaiserreichs weitgehende Einflussmöglichkeiten. Der im Vergleich zu den anderen preußischen Provinzen relative Erfolg der pommerschen Rittergutsbesitzer in der Verteidigung ihrer lokalen Macht­ stellungen kann nicht nur durch den selbstverständlich von den Landräten und 402 Vgl. hierzu umfassend Buchsteiner, S. 60–63 mit den Tab. 9–11. 403 Vgl. ebd., S. 220–222 mit der Tab. 1. 404 Vgl. ebd., S. 223 f. 405 Vgl. ebd., S. 229 f. 406 Vgl. Wagner, Bauern, Junker u. Beamte, S. 432. 407 Vgl. Buchsteiner, S. 235. 408 Vgl. hierzu umfassend Wagner, Bauern, Junker u. Beamte, S. 412–567.

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Gutsbesitzern ausgeübten Druck von oben erklärt werden. Stattdessen be­legen die bis zum Ende der Monarchie folgenden Wahlen zum Reichstag und zum Preußischen Abgeordnetenhaus die tief ausgeprägte Loyalität der einfachen Landbevölkerung zu Thron und Altar, die sich wiederum in die ländlichen Wahlerfolge konservativer Kandidaten umsetzten. Insbesondere bei den preußischen Landtagswahlen war Pommern ein gewichtiges Pfund der konservativen Partei. Konnten sich bis 1876 in der Gesamtprovinz wie auch im Stettiner Regierungsbezirk, teilweise auch durch ultrakonservative bismarckkritische Gegenkandidaturen bedingt, einige na­ tionalliberale und freikonservative Kandidaten durchsetzen, entfielen seit den Wahlen von 1879 zwischen 80,1 und 92,3 % aller pommerschen Mandate auf Mitglieder und Sympathisanten der 1876 ins Leben gerufenen DkP. Im Regierungsbezirk Stettin gingen von 1879 bis 1918 sogar sämtliche ländlichen Wahlkreise an die DkP, lediglich in der Großstadt Stettin waren linksliberale Kandidaten erfolgreich (vgl. Tab. 6). Die Dominierung der pommerschen Konservativen durch die Klasse der Rittergutsbesitzer, wird am Beispiel der konservativen Hochburg Naugard-Regenwalde deutlich, in der mit Ausnahme eines einzigen Abgeordneten sämtliche Mandatare der Jahre 1867 bis 1918 dem Rittergutsbesitz angehörten. Von den im Kreis verankerten Rittergutsbesitzern war wiederum der Naugarder Landrat Bernhard von Bismarck mit einer parlamentarischen Erfahrung von sieben Legislaturperioden (1870–1888) die maßgebliche Führungsfigur der konservativen Partei.409 Die deutlichen Wahlergebnisse zugunsten der konservativen Kandidaten wurden erheblich vom preußischen Dreiklassenwahlrecht befördert. Das bereits im Vorfeld zu erwartende Ergebnis bewirkte nach dem Ende des Verfassungskonfliktes bei den Urwahlen der ländlichen Wahlkreise eine extrem niedrige Beteiligung. Im Wahlkreis Naugard – Regenwalde, in dem die konservativen Kandidaten nach 1867 regelmäßig 80 bis 100 % der Wahlmännerstimmen auf sich vereinigen konnten, stagnierte diese nach der Reichsgründung unter der 10 %-Marke. Während bei den Wahlen von 1893 noch immerhin 31,8 % der Urwähler der Ersten Klasse ihr Recht ausübten, betrug die Wahlbeteiligung in der Zweiten Klasse lediglich 14,9 % und in der zahlenmäßig größten Dritten Klasse sogar nur noch 6 %. Zusammengenommen beteiligten sich 1893 lediglich 8 % der Wahlberechtigten des Naugard-Regenwalder Wahlkreises an den ­Urwahlen.410 In dieser krassen Partizipationsverweigerung der einfachen Landbevölkerung drückte sich Misstrauen gegenüber dem Wahlsystem und seinen Profiteuren in Pommern, den Konservativen, aus. Allerdings kann man die über 90 % umfassende Gruppe der Nichtwähler des exemplarisch ausgewählten Naugard –  Regenwalder Wahlkreises keinesfalls in ihrer Gesamtheit als »politikverdros409 Vgl. Kühne, Handbuch, S. 248 f. 410 Vgl. ebd., S. 248.

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7 (–/–)

10 (–/–)

1870

1873

1876

1879

1882

1885

1888

1893

1898

1903

1908

1913

40 (1/1)

36 (1/1)

33 (1/1)

36 (1/1)

20 (1/1)

29 (1/1)

44 (1/1)

61 (1/1)

40 (1/1)

73 (1/1)

72 (1/1)

55 (1/1)

81 (1/1)

Links­ liberale

73 (–/–)

65 (–/–)

80 (–/–)

73 (–/–)

89 (–/–)

90 (–/–)

71 (–/–)

68 (–/–)

105 (–/–)

178 (9/5)

175 (9/5)

126 (–/–)

106 (1/1)

National­ liberale

103 (–/–)

104 (–/–)

97 (–/–)

100 (–/–)

94 (–/–)

97 (–/–)

98 (–/–)

97 (–/–)

95 (–/–)

85 (–/–)

86 (–/–)

51 (–/–)

13 (–/–)

Zentrum

54 (1/–)

61 (1/–)

60 (1/–)

61 (1/–)

66 (1/–)

70 (4/–)

67 (4/–)

63 (3/–)

62 (3/–)

39 (5/1)

46 (7/1)

63 (4/2)

91 (5/4)

Freikonser­ vative

147 (24/11)

153 (24/11)

144 (24/11)

145 (24/11)

143 (24/11)

128 (21/11)

133 (21/11)

121 (22/11)

108 (22/11)

38 (11/5)

32 (9/5)

114 (21/9)

122 (19/7)

Konserva­ tive

16 (–/–)

17 (–/–)

19 (–/–)

18 (–/–)

21 (–/–)

19 (–/–)

20 (–/–)

23 (–/–)

23 (–/–)

20 (–/–)

21 (–/–)

23 (–/–)

19 (–/–)

Regionale/ Sonstige

32,7 (17,2)

32,8 (17,3)

23,0 (13,0)

18,4 (11,3)

18,4 (11,6)

















Wbtlg. in  %

Zusammengestellt nach: APS, NPPP, Nr. 80–89, passim, RSz, I, Nr. 1795–1798, passim u. Kühne, Handbuch, S. 54 f., S. 64 f. u. S. 237–251. In den Klammern befindet sich an erster Stelle das Ergebnis für die Provinz Pommern, an zweiter Stelle für den Regierungsbezirk Stettin.



1867

Sozialde­ mokraten

Tab. 6: Sitzverteilung im Preußischen Abgeordnetenhaus (1867–1918)

sene« Gegner der preußischen Ordnung verbuchen. Stattdessen verbarg sich hinter der niedrigen Wahlbeteiligung häufig das, was Thomas Kühne als »Ökonomie der Wahlenthaltung« beschreibt. Einerseits schreckte der gegenüber den Reichstagswahlen größere Zeitaufwand insbesondere die Landbevölkerung vor einer Beteiligung an der Wahl ab. Andererseits kam gerade auf dem Land nur eine ausgewählte Zahl von anerkannten, mit sozialem Kapital versehenen Persönlichkeiten als Wahlmänner in Frage, deren erfolgreiche Wahl in der Regel bereits im Vorfeld feststand.411 Die Nichtbeteiligung an der Wahl ist daher in einem erheblichen Maß als stillschweigende Zustimmung zu den konservativen Kandidaten oder schlichtweg als Desinteresse gegenüber dem politischen Geschehen und dagegen nur zu einem gewissen Maß als Ausdruck von Protest zu bewerten. Dieser Eindruck wird dadurch bestätigt, dass selbst in denjenigen länd­lichen Wahlkreisen des Bezirks, in denen überhaupt Kandidaten der Liberalen als ernsthafte Konkurrenten aufgestellt wurden, die Wahlbeteiligung nur wenig höher ausfiel. So betrug die Wahlbeteiligung in dem noch bis in den achtziger Jahren schwer umkämpften Wahlkreis 65 (Demmin – Anklam – UsedomWollin – Ueckermünde) 1893 lediglich 11,9 %, während sie im gleichen Jahr in ganz Preußen bei immerhin 18,4 % lag. Die bei dieser Wahl drei der Freisinnigen Vereinigung nahe stehenden Kandidaten erzielten im Übrigen im genannten Wahlkreis nur zwischen 47 und 92 Wahlmännerstimmen, während die drei Deutschkonservativen zwischen 420 und 433 Wahlmännerstimmen auf sich vereinigten. Mit Adrian von Enckevort und Ernst von Heyden setzten sich typischerweise zwei alteingesessene und im Wahlkreis umfassend begüterte Rittergutsbesitzer durch. Auch der dritte erfolgreiche Kandidat, Karl Frentz, ist als Gutsbesitzer dem ländlichen Milieu zuzuschlagen, während die drei unterlegenen Kandidaten als Rechtsanwalt, Oberlehrer und Amtsrichter den kleinstädtischen Milieus Swine­ mündes, Pasewalks und Demmins entstammten.412 Dass nach einer Aufstellung der Stettiner Regierung 1893 im gesamten Bezirk ohne die Stadt Stettin lediglich 111 Wahlmänner der Freisinnigen Vereinigung gegenüber 1.862 Konservativen gewählt wurden (vgl. Diagramm 12), unterstreicht die Dominanz der pommerschen Konservativen auf dem Land. Da das allgemeine Männerwahlrecht bei den Reichstagswahlen in weitaus mehr Wahlkreisen einen echten politischen Wettbewerb ermöglichte, war die Wahlbeteiligung im Vergleich zu den preußischen Abgeordnetenhauswahlen um ein vielfaches höher. Mit einer Beteiligung von 57,9 % übte in Preußen erstmals zu den Reichstagswahlen von 1874 mehr als jeder zweite Berechtigte sein Wahlrecht aus. Mit jeweils 84,5 % wurden die Spitzenwerte bei den Reichstagswahlen von 1907 und 1912 erzielt. Demgegenüber erfolgte im ländlich strukturierten Pommern die Angleichung an die hohe Wahlbeteiligung des Gesamt411 Vgl. Kühne, Dreiklassenwahlrecht, S. 178–190. Vgl. ebenso ausführlich Wagner, Bauern, Junker u. Beamte, S. 331 f. 412 Vgl. Kühne, Handbuch, S. 238 f.

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Diagramm 12: Urwahlergebnisse zum Preuß. Abgeordnetenhaus im Stettiner Bezirk (1893) VI (70) Cammin

117

VI (70) Greifenberg

121

V (69) Regenwalde

108

V (69) Naugard

154

IV (68) Saatzig

15 232

IV (68) Pyritz

159

III (67) Stadt Stettin

403

II (66) Greifenhagen

171

II (66) Randow

342

I (65) Usedom-Wollin

88

I (65) Ueckermünde

43 120

37

I (65) Demmin

150

I (65) Anklam

9

100 0%

10%

20%

konservativ

30%

40%

freisinnig

7 50%

60%

70%

80%

90%

100%

unbekannt

Zusammengestellt nach: APS, RSz, I, Nr. 1798, Übersicht über das Ergebnis der Urwahlen [1893].

staats erst zur Jahrhundertwende. Die 50 %-Marke wurde 1881 gerissen, 1903 kletterte die pommersche Wahlbeteiligung auf über 70 % und vier Jahr später auf über 80 % (vgl. Tab. 7). Dieser Anstieg erklärt sich ebenfalls aus dem gesteigerten politischen Wettkampf der im stetigen Wachstum begriffenen lokalen Parteiverbände. Mit Ausnahme der Wahlkreise 62 (Naugard – Regenwalde)  und 63 (Greifenberg –  Cammin), in denen die konservativen Kandidaten bis 1918 im Prinzip ohne ernsthafte Gegenkandidaten antraten und regelmäßig Ergebnisse zwischen 60 % bis 90 % erzielten, sowie des Wahlkreises 61 (Pyritz – Saatzig), in dem sich nur ein einziges Mal knapp ein Kandidat des Antisemitischen Volksbunds gegen die konservative Dominanz durchsetzen konnte,413veränderten die anderen vier Wahlkreise ihre politische Färbung häufiger. In den Kreisen 57 (Anklam – Demmin) und 58 (Usedom-Wollin – Ueckermünde)  wechselten sich bis 1918 konservative und liberale Mandatare regel­ mäßig ab. Die liberale Seite wurde hier von 1867 bis 1879 noch von der NLP (bzw. 1871 auch der Liberalen Reichspartei) vertreten. Nachdem sich 1879 fast alle liberalen Wahlvereine der gemäßigt linksliberalen Abspaltung Liberale 413 Der gewählte Kandidat, Pfarrer Krösell, trat der Fraktion der antisemitischen Deutschen Reformpartei bei. Vgl. Reibel, S. 230.

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293

1 (1)

1 (1)

















1 (1)



2 (2)



2 (2)

1867

1871

1874

1877

1878

1881

1884

1887

1890

1893

1898

1903

1907

1912











1 (1)

3 (2)

3 (2)



2 (2)

3 (2)

National­ liberale

1 (–)



(–)

1 (1)



1 (–)

Sonstige Liberale





1 (–)

2 (–)

2 (–)

2 (–)

1 (–)

2 (–)

3 (–)

1 (–)

2 (–)

1 (–)



Freikonser­ vative

10 (5)

10 (5)

10 (4)

11 (5)

10 (5)

11 (6)

10 (6)

11 (6)

10 (5)

11 (6)

7 (4)

9 (4)

10 (5)

10 (4)

9 (4)

Konservative / BdL





1 (1)



1 (–)



Antisemiten

85,3

83,0

72,5

63,5

69,3

64,9

66,7

54,5

50,4

49,4

43,7

44,7

35,3

Wbtlg. in  %

Zusammengestellt nach: APS, RSz, I, Nr. 1826–1831, passim und NPPP, Nr. 77–79, passim; Reibel, S. 213–258, Schröder, Wahlen, passim. In Klammern befindet sich das Ergebnis für den Regierungsbezirk Stettin.

2 (–)

4 (2)

1 (–)

3 (2)

1 (1)

1 (1)

1 (1)

1 (1)

3 (2)



1 (1)

1 (1)

1 (1)

Links­ liberale

1867

Sozial­ demokraten

Tab. 7: Verteilung der Reichstagswahlmandate in Pommern (1867–1912)

Vereinigung angeschlossen hatten, konnte die NLP wie auch in den meisten anderen Kreisen der Provinz vorerst nicht mehr Fuß fassen. 1884 traten die liberalen Kandidaten für die aus der Liberalen Vereinigung und der DFP fusionierten Deutsch Freisinnigen Partei an. Nach deren 1893 erfolgten Spaltung schloss sich der überwiegende Teil der Wahlvereine wiederum der gemäßigt linksliberalen Freisinnigen Vereinigung an. Deren Kandidaten wurden 1898 und 1903 auch von den wenigen lokalen Nationalliberalen unterstützt. Als sich der Linksliberalismus 1907 wie überall im Reich in der FVP organisierte, bewirkte dieser Linksschwenk eine erneute Stärkung der NLP. 1912 wagte sie im Wahlkreis Demmin – Anklam erstmals wieder eine – wenn auch erfolglose – Gegenkandidatur. Der Wahlkreis ging freilich sowohl bei den »Hottentottenwahlen« von 1907 als auch 1912 an die DkP.414 Im dem die Stadt Stettin umgrenzenden Wahlkreis 59 (Randow – Greifenhagen), der zwischen 1874 und 1881 von der NLP, dann jedoch bis 1903 von der DkP gehalten wurde, trat spätestens seit der Wahl von 1887 ein neuer ernstzunehmender politischer Akteur auf. Sowohl 1903 als auch 1912 konnte sich hier ein Kandidat der SPD gegenüber seiner konservativen und linksliberalen Konkurrenz knapp durchsetzen.415 Ausgehend von den Städten der einzelnen Wahlkreise formierten sich die Parteien in den achtziger Jahren in lokalen Wahlvereinen. Diese bestanden freilich bei den Liberalen und den Konservativen vorerst nur aus losen Zusammenschlüssen lokaler Honora­ tioren. Auf Seiten der Konservativen bemühte man sich durch die 1882 folgende Gründung des Stettiner Provinzialvereins sowie eigener Assoziationen für Stargard und Umgebung sowie den Randower Kreis bei den Wahlen auf dem platten Land Präsenz zu zeigen.416 An der Spitze der konservativen Wahlvereine standen häufig die örtlichen Landräte. Wie in den übrigen Ostprovinzen417 sorgten diese mit ihrem Amtsapparat nicht nur für die Anschaffung und Distribution gouvernementaler Flugschriften, sondern organisierten auch die örtlichen Vorfeldorganisationen der Partei. Auf ausdrückliche Anweisung der Regierung hin unterstützten die Landräte seit 1877 die Bildung von Kriegervereinen.418 Im gleichen Jahr wies der pommersche Oberpräsident von Münchhausen die Landräte an, in ihren Kreisen »nach geeigneten Damen für die Gründung neuer Zweigvereine für den vaterländischen Frauenverein« zu suchen.419 Sowohl die Krieger­ vereine als auch der Vaterländische Frauenverein fanden in Pommern entsprechenden Anhang. 1891 gab es im gesamten Stettiner Regierungsbezirk bereits 414 Vgl. ebd., S. 214–220. 415 Vgl. ebd., S. 222 f. 416 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Mai, Juni u. Juli 1882, Stettin 17.8.1882 u. APS, RSz, I, Nr. 1103, Statut des Conservativen Vereins für Stargard u. Umgebung, Stargard 10.5.1882. 417 Vgl. Wagner, Bauern, Junker u. Beamte, S. 424 f. 418 Vgl. APS, SPŚw, Nr. 80, Reskript der Reg. St. an alle Landräte, Stettin 16.4.1877. 419 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3677, Reskript des Oberpräsidenten an alle Landräte, Stettin 17.1.1877.

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91  Kriegervereine,420 die sich unter Fahnensprüchen wie »Mit Gott für Kaiser und Reich« sammelten. In den Ortschaften des platten Lands organisierten diese zwischen 20 und 60 Mitglieder.421 Die vaterländischen Frauenvereine waren ebenfalls erfolgreich. 1887 führte der Verwaltungsbericht des Verbands vaterländischer Frauen-Vereine der Provinz Pommern alles in allem 7.079 Mitglieder an. Die Führungspositionen nahmen hier vor allem die Ehefrauen der pommerschen Verwaltungsspitzen ein. Von den 37 Zweigvereinen wurden gleich mehrere von der jeweiligen Landratsgattin geführt.422 In den Zweigvereinen der 1886 bereits 2.093 Mitglieder umfassenden Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft waren die Landräte ebenfalls führend vertreten.423 Die Doppelrolle des Landrats als preußischer Beamter und Organisator der örtlichen konservativen Partei kann man in Pommern exemplarisch an einer umfassenden politischen Analyse des Greifenhagener Landrats aus dem Jahr 1893 verdeutlichen. Als Reaktion auf die ersten sozialdemokratischen Wahlerfolge im Kreis bemühte er sich sofort um Abwehrmaßnahmen. Diese stellte der Landrat »unter die Fahne der Konservativen Partei« um einerseits »einen offiziösen Beigeschmack zu vermeiden« und andererseits, den »etwaigen Erfolge dem Kon­ servativismus zu Gute kommen zu lassen«.424 Konkret wurden im Kreis nach der Wahl Schülerbibliotheken eingerichtet bzw. bereits vorhandene mit »gutem Lesestoff« versorgt. Was hierunter zu verstehen war, wird in der kostenlosen Verteilung von 500 Exemplaren der antisozial­demokratischen Kampfschrift »In der Schänke zu Peterwitz, oder was der Schulze Großmann von der Sozialdemokratie hält« durch den konservativen Kreisverein deutlich. Weiterhin gab der Landrat zu Papier, dass er sich um den Aufbau eines loyalen Vereinsnetzes bemühe. So habe er zur »Hebung« bestehender Kriegervereine königstreue Reserveoffiziere und Bauern aufgefordert, in diese einzutreten und den weiteren Aufbau der örtlichen Sektion des BdL unterstützt. Der Bericht endete mit der Erklärung, dass er bei der nächsten Wahl rechtzeitig dafür Sorge tragen wolle, einen geeigneten Kandidaten für die konservative Partei zu bestimmen.425 Die liberalen Wahlkomitees, die unter den wechselnden Parteibezeichnungen zumeist auf einen identischen Personenkreis zurückgriffen, versuchten in 420 Vgl. APS, Magistrat Regenwalde Nr.  606, Übersicht der Kriegervereine im Bezirk »IV. Pommern-Stettin« [1891]. 421 Vgl. APS, SPSz, Nr. 465, Verzeichnisse der Mitglieder der Kriegervereine des Randower Kreises [1873–1894]. 422 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3677, Verwaltungsbericht des Verbands vaterländischer Frauen-Vereine der Provinz Pommern für das Jahr 1887 [1888]. 423 Vgl. APS, Landwirtschaftliche Vereine in Pommern  – Sammlung von Bestandsresten, Nr. 173, Verzeichnis der Zweigvereine der Pom. Ökonomischen Gesellschaft, Regenwalde 29.1.1886. 424 APS, RSz, I, Nr. 10460a, Bericht betr. die Abwehrmaßnahmen der Sozialdemokratie, Greifenhagen 24.2.1893. 425 Ebd.

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den umkämpften Wahlkreisen des platten Lands, ebenfalls Präsenz zu zeigen. Hierzu wurden so genannte »Wahlwanderungen« durchgeführt, bei denen die liberalen Kandidaten größere Ortschaften besuchten, um dort Wahlkampfreden zu halten.426 Bei den Septennatswahlen des Jahres 1887, die in Pommern zu einem klaren Erfolg der Kartellparteien führten, bemühte sich die Deutsch Freisinnige Partei im Demmin – Anklamer Wahlkreis über die Verteilung des freisinnigen Demminer Anzeigers auch auf dem Land um Stimmen zu werben. Im Demminer Kreis versuchten die freisinnigen Redner, die Landbevölkerung mit sozialen Forderungen zu gewinnen. Der Demminer Kaufmann Rudolphy soll beispielsweise laut Bericht des Landrats bei einer Wahlkampfveranstaltung geäußert haben, dass es »zu wünschen (oder anzustreben?) [sei,] daß die Latifundien der Großgrundbesitzer getheilt und in kleinen Parzellen an die kleinen Leute übergeben werden.«427 Motiviert durch die vermeintliche Gefahr, dass es »bis zum Communismus und Sozialismus nur noch wenige Schritte« seien, wenn »erst einmal das Band des Vertrauens zwischen Gutsherrschaft und Tagelöhner auf dem Land gelockert ist«,428 setzten auch die Konservativen alle Mittel ein, die betreffende Wahl zu gewinnen. Letztlich scheiterte der freisinnige Wahlkampf insbesondere auf den Gütern deutlich. In mindestens 14 Landbezirken ergaben die Auszählungen einstimmige Ergebnisse für den konservativen Kandidaten.429 Folgenlos kritisierten die Freisinnigen die Wahl deshalb als »nicht vollständig frei«.430 Als sich 1893 mehrere Unregelmäßigkeiten im Wahlkreis häuften, focht der lokale liberale Wahlverein das Ergebnis sogar offiziell an. Zwar rügte die Untersuchung der Prüfungskommission des Reichstags gleich mehrere der problematischen Vorkommnisse, doch wurde die Wahl wegen des eindeutigen Ergebnisses von 6.958 abgegebenen konservativen zu 3.188 liberalen Stimmen für gültig erklärt. Das exemplarisch dargestellte Vorgehen des Gutsverwalters von Neetzow bei Jarmen, der denjenigen Arbeitern, die den liberalen Kandidaten wählen wollten, den Lohn eines halben Arbeitstages abzog, illustriert freilich die Nachteile, mit denen die oppositionellen Kandidaten auf den Gütern umzu­ gehen hatten.431 Sozialdemokratische Wahlkampfbemühungen auf dem platten Land regis­ trierte die Stettiner Regierung erstmals in den letzten Jahren des Sozialisten­ gesetzes. Der aus Stettin ausgewiesene Führer der pommerschen Sozialdemokratie, Fritz Herbert, wandte sich bereits bei den Reichstagswahlen von 1887 mit Aufrufen an die Landbevölkerung des Randow – Greifenhagener Wahl426 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Aug., Sept. u. Okt. 1882, Stettin 18.11.1882. 427 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3771, Bericht des Demminer Landrats Müffling, Demmin 21.2.1887. 428 Vgl. ebd., Bericht des Demminer Landrats Müffling, Demmin 23.2.1887. 429 Vgl. Demminer Tagebl., Extrablatt, 21.2.1887. 430 Vgl. Demminer Anzeiger, 23.2.1887. 431 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 1831, Bericht der Wahlprüfungskommission über die Wahl des Abgeordneten Hans Graf v. Schwerin-Löwitz, Berlin 20.2.1895.

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Diagramm 13: Stimmen für Kandidaten der SPD bei Reichstagswahlen (1871–1912) 1912 1907 1903 1898 1893 1890 1887 1884 1881 1878 1877 1874 1871 0

5.000 10.000 15.000 20.000 25.000 30.000 35.000 40.000 45.000 50.000 55.000

57 Demmin-Anklam 60 Stadt Stettin 63 Greifenberg-Cammin

58 Ueckermünde-Wollin 61 Pyritz-Saatzig

59 Randow-Greifenhagen 62 Naugard-Regenwalde

Zusammengestellt nach: Pom. Dorfkalender, 1902, S. 16 u. Reibel, S. 213–258.

kreises. In diversen Flugblättern wurde den Konservativen vorgeworfen, »die Rückkehr zu den früheren Zuständen der Leibeigenschaft« zu erstreben. Diesem Schreckensbild wurde im Wahlaufruf für den sozialdemokratischen Kandidaten die säkulare Heilserwartung der Sozialdemokratie des Kaiserreichs entgegen­gesetzt.432 Die sozialdemokratische Agitation auf dem Land bewirkte im betreffenden Wahlkreis immerhin einen Anstieg von 770 auf 3.786 Stimmen (vgl. Diagramm 13). Zwar stellte die Bezirksregierung auch noch bei den nächsten Reichstagswahlen von 1890 fest, dass »einstweilen von einem Umsichgreifen der Socialdemokratie auf dem Lande nicht die Rede sein« könnte,433 doch trat die SPD schon bei der folgenden Wahl in sämtlichen Wahlkreisen des Regierungsbezirks an. Zentralistisch von der Stettiner Zentrale angeleitet, führte die SPD schließlich seit 1893 regelmäßige Wahlkampftouren auf dem platten Land durch. Die Parteiführung konnte auf den umfangreichen und hoch motivierten Personen432 APS, RSz, I, Nr.  10459, Flugblatt an die Wähler des Kreises Randow-Greifenhagen (gedruckt von Fritz Herbert) [Stargard 1887]. 433 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16048, Ztgsb. Mai, Juni u. Juli 1891, Stettin 17.8.1891.

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kreis der sich stabilisierenden Stettiner Arbeiterbewegung zurückgreifen. Bei der 1901 stattfindenden Reichstagsersatzwahl für den Kreis Randow – Greifenhagen musste die Stettiner Regierung respektvoll anerkennen, dass sich an den Sonntagen vor der Wahl »eine große Anzahl ihrer Agitatoren über die Ortschaften des Kreises, von Haus zu Haus agitirend und eine Menge socialdemokratischer Wahlschriften vertheilend [ergoß].« Zudem wurde jedes Wahllokal von sozialdemokratischen Kontrolleuren besetzt434 und mit der erstmaligen Ver­ legung des Pommerschen Dorfkalenders ein spezielles, sich ausschließlich an die Landbevölkerung wendendes Medium ins Leben gerufen. Trotz der erheblichen Benachteiligungen der sozialdemokratischen Kandidaten durch die Behörden und der Erscheinung, dass die Konservativen weiterhin in vielen Gutsbezirken einstimmige Wahlergebnisse einfuhren,435 erzielte die SPD auch außerhalb Stettins und des städtischen Umlands einen stetigen Stimmenzuwachs. Fasst man die absoluten der bei den Reichstagswahlen im Regierungsbezirk Stettin zwischen 1871 und 1912 abgegebenen Stimmen nach den Lepsiusschen sozialmoralischen Milieus zusammen,436 ist festzustellen, dass das sozialdemokratische Milieu Wachstumsraten erzielte, mit denen das liberale und das konservativen Milieu bald nicht mehr mithalten konnten. Unterstützt von der stetig größer ausfallenden Wahlbeteiligung übertrafen die absoluten Stimmen für die SPD erstmals 1898 die der liberalen Kandidaten und schlossen im Folgenden sogar zu den der Konservativen auf (vgl. Diagramm 14). Der Stettiner Regierungsbezirk politisierte sich somit seit den achtziger und neunziger Jahren erheblich. Insbesondere bei den Reichstagswahlen nutzte die Landbevölkerung zunehmend ihre Partizipationsmöglichkeiten. Infolge der Wahlkampfauseinandersetzungen stieg auch der politische Bildungsgrad der Bewohner des platten Landes. War es in den siebziger Jahren nicht ungewöhnlich, dass in den ländlichen Wahlkreisen Dutzende von Stimmzetteln für den Monarchen, den Kronprinzen oder den Reichskanzler abgegeben wurden,437 fiel der Anteil der »zersplitterten« Stimmen bis zur Jahrhundertwende auf eine zu vernachlässigende Größe. Gefördert durch die konservativen Vereinsgründungen von oben entstanden zudem auf dem platten Land seit Mitte der achtziger Jahre auch unpolitische gesellige Vereine. Diese wurden zwar anfangs von den

434 Vgl. ebd., Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1900/01, Stettin 16.2.1901. 435 Bei der Hauptwahl der 1893 stattfindenden Reichstagswahlen erhielten der freisinnige u. der sozialdemokratische Kandidat in 25 von 74 ländlichen Wahlbezirken des Greifen­ hagener Kreises lediglich 0–5 Stimmen. Selbst bei der Stichwahl erzielte der konservative Kandidat in 20 überwiegend kleinen Wahlbezirken einstimmige Ergebnisse. Vgl. APS, RSz, I, Nr.  10460a, Wahlergebnis der Reichstagswahlen in Greifenhagen, Greifenhagen 24.2.1893. 436 Lepsius, S. 377–393. 437 Beispielsweise entfielen bei den Reichstagswahlen von 1878 in den Kreisen Cammin-Greifenberg u. Naugard-Regenwalde mehr als 200 Stimmen auf Kaiser, Kronprinz u. Reichskanzler. Vgl. APS, NPPP, Nr. 78, Ergebnisse der Reichstagswahlen von 1878 [1878].

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Diagramm 14: Reichstagswahlergebnisse nach Milieus im Stettiner Bezirk (1871–1912) 180.000

3.587

160.000

Zahl der Stimmen

10.306

63.413

120.000

60,0% 1.282

100.000 80.000

651

0

270

284 03.03.1871

47.617

20,0%

28.046 42.516

29.101

Sozialdemokraten

54.639

18.733

1.069 27.10.1881

10,0% 0,0%

20.02.1890

Liberale

40,0% 30,0%

25.684

38.278

27.623 17.051

50,0%

55.727

48.727

60.000

20.000

70,0%

Wahlbeteiligung in Prozent

80,0%

140.000

40.000

90,0%

16.06.1903

12.01.1912

Konservative/BdL

Sonstige

Zusammengestellt nach: APS RSz, I, Nr. 1826–1831, passim u. NPPP, Nr. 77–79, passim, Schröder, Wahlen, passim; Reibel, S. 213–236. Bei den Sonstigen verteilten sich nach 1890 die meisten Stimmen auf antisemitische Kandidaten. Das Zentrum spielte keine Rolle.

Be­hörden misstrauisch beäugt,438 zumindest außerhalb der Güter entwickelten sich aber auch auf dem Land sukzessive zivilgesellschaftliche Ansätze. Hierbei zeigte sich noch einmal das scheinbare Paradoxon, dass gerade die zur Abwehr einer entstehenden Zivilgesellschaft initiierten Vereinsgründungen von oben zivil­gesellschaftliche Ansätze von unten beförderten. Neben den geselligen Vereinen bildete sich seit den siebziger Jahren das landwirtschaftliche Vereinswesen weiter aus. Die Zahl der Zweigvereine der Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft und des Baltischen Zentralvereins hatte sich von 1848 bis 1870 lediglich von 20 auf 28 vermehrt. Im Jahr 1893 existierten jedoch schon 71 und 1909 sogar 120 lokale Gliederungen.439 Die Zahl aller Vereinsmitglieder steigerte sich zwischen 1870 und 1895 von 1.457 auf 438 Vgl. hierzu aufschlussreich den mehr als ein Jahr dauernden Gründungsprozess des un­ politischen Lübziner Patriotischen Männervereins. Der Naugarder Landrat Bernhard v. Bismarck konnte sich mit seiner Empfehlung, dem Verein eine Bestätigung zu verweigern, gegenüber der Regierung nicht durchsetzen. Vgl. APS, RSz, I, Nr. 1090, Landrat Bernhard v. Bismarck an Reg. St., Naugard 20.10.1883 bzw. 14.7.1884. 439 Vgl. Buchsteiner, S. 252.

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4.151 Personen.440 Allein die Pommersche Ökonomische Gesellschaft organisierte 1886 in ihren 31 Zweig- und Nebenvereinen 2.093 Mitglieder. Mindestens 20 dieser Vereine wurden von Rittergutsbesitzern geführt. Zwei Landräte, zwei Rittmeister, ein Hauptmann, ein Superintendent, ein Major, zwei Verwaltungsbeamte, ein Gutsbesitzer und ein Taubstummenlehrer ergänzen das konservative Profil der Vereinsführer.441 Im Mitgliederbestand und im Programm der beiden land­wirtschaftlichen Zentralvereine der Provinz drückt sich ebenfalls noch einmal deutlich das Konzept einer defensiven Modernisierungsstrategie des agrarisch-konservativen Milieus aus. Einerseits engagierte man sich durch die Förderung von Gesprächskreisen, Fortbildungskursen, Prämien­systemen und gezielter Lobbyarbeit massiv für eine Modernisierung der pommerschen Landwirtschaft,442 andererseits verteidigte man mithilfe dieser Vereine die Machtpositionen der Ritterguts- und Großgrundbesitzer. 1893 kritisierte etwa der Jahresbericht der Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft mit aller Vehemenz die Aufhebung des Sozialistengesetzes, denn, »das Landvolk […] will eine starke Regierung über sich wissen, und wo es deren Einschreiten vermißt, da verliert es das Vertrauen zu dieser Obrigkeit«, was den Untergang des Königtums und somit des Vaterlands nach sich ziehe.443 Um sich der Treue der Landarbeiter zu versichern und die zunehmende Abwanderung in die Städte zu verhindern, griff man zu sozialdisziplinatorischen Maßnahmen. Neben der Anwendung der preußischen Gesindeordnung auf den Gütern wurde etwa das bereits bestehende Prämiensystem für besonders treue Bedienstete und Land­ arbeiter weiterentwickelt.444 Auch in der Mitgliedschaft und bei der personellen Besetzung der Vorstandsposten wird die konservative Ausrichtung der landwirtschaftlichen Vereine deutlich. Diese wurden weiterhin vom adligen Großgrundbesitz dominiert.445 Gleiches galt für den 1893 gegründeten BdL und die 1894 ins Leben gerufene landwirtschaftliche Kooperation, die Pommersche Landwirtschaftskammer. Der erste Vorsitzende der Landwirtschaftskammer, Hans Graf von SchwerinLöwitz, saß gleichzeitig für die DkP im Reichstag. Sein Stellvertreter, Conrad Freiherr von Wangenheim-Kl. Spiegel, der als Mitbegründer des BdL zugleich den pommerschen Landesverband führte, hatte von 1898 bis 1903 ebenfalls für die DkP ein Reichstagsmandat inne. Zwischen 1898 und 1920 übernahm von Wangenheim für den BdL den Reichsvorsitz.446 1917 engagierte er sich

440 Vgl. Ramm, S. 138. 441 Vgl. APS, Landwirtschaftliche Vereine in Pommern – Bestandsreste, Nr. 173, Verzeichnis der Direktoren und Mitglieder der Zweigvereine der Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft, Regenwalde 29.1.1886. 442 Vgl. Koeller, S. 173. 443 Pommersche Ökonomische Gesellschaft, S. 6. 444 Vgl. Koeller, S. 216–219. 445 Vgl. Buchsteiner, S. 253–255. 446 Vgl. Koeller, S. 47.

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schließlich noch an vorderer Stelle bei der Gründung der alldeutschen Vaterlandspartei. Beim Kapp-Putsch gegen die Weimarer Republik war er als preußischer Landwirtschaftsminister vorgesehen; wie die meisten Beteiligten entging er einer Verurteilung wegen Hochverrats.447 Die unter der staatlichen Aufsicht des Landwirtschaftsministeriums stehende Landwirtschaftskammer beschäftigte sich in den neunziger Jahren ebenfalls ausführlich mit Maßnahmen zur Bekämpfung der Sozialdemokratie. Gleichzeitig wurden freilich die Bemühungen um den landwirtschaftlichen Fortschritt intensiviert.448 Insbesondere der Aufbau landwirtschaftlicher Bezugs- und Absatzgenossenschaften scheint durch die Tätigkeit der Landwirtschaftskammer einen bedeutenden Aufschwung genommen zu haben. Gab es 1894 lediglich acht derartiger Genossenschaften, stieg ihre Zahl bis 1898 bereits auf 157 und bis 1907 sogar auf 483 an.449 Neben die 1877 eingerichtete Landwirtschaftsschule in Eldena und die Landwirtschaftsschule in Regenwalde gesellten sich in den achtziger und neunziger Jahren weitere Institute in Demmin (1887), Stargard (1891) Köslin (1893) und Treptow a.d. Tollense (1899) hinzu. Außer einer Agrikulturchemischen Versuchs- und Samenkontrollstation und einem Milchwirtschaftlichen Institut begründete die Landwirtschaftskammer nach der Jahrhundertwende eine Feldversuchsanstalt in Stargard und betrieb eine Stellenvermittlung.450 3.3.5 Politische Partizipation, Vereinsbildung und Herausbildung der modernen Parteien in den Städten Die pommerschen Städte hatten bei der Einführung der Städteordnung bis 1811 mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen.451 Das mit der Reform verbundene Ziel »Bürger­geist und Gemeinsinn« zu wecken, wurde jedoch im Folgenden durchaus erfolgreich umgesetzt. Insbesondere die Stadtverordnetenversammlungen entwickelten sich im Vormärz zu einem Forum städtischer Debatte. Angesichts der breiten Partizipationsmöglichkeiten sah Koselleck in vielen kleineren preußischen Städten sogar eine »Demokratie der kleinen Leute« entstehen.452 Jedenfalls engagierten sich die Stadtverordneten in lokalen Fragen, wenn es auch gerade in den kleineren Städten in der Frage der mit erheblichen Kosten verbundenen Hebung des Schulwesens und anderer Reformprojekte immer wieder der Anregung und des Drucks der Provinzialbehörden bedurfte. Mit der Ablehnung der Revidierten Städteordnung wurde allerdings 1831 der in 447 Vgl. Winkler, S. 136. 448 Vgl. ausführlich Koeller, S. 135–198. 449 Vgl. Buchsteiner, S. 255. 450 Vgl. Ramm, S. 141 f. Siehe auch Fenske, S. 78. 451 Vgl. Eggert, Städteordnung, S. 9 f. 452 Vgl. Koselleck, S. 571.

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der alten Ordnung festgelegte höhere Grad an Selbstverwaltung selbstbewusst verteidigt.453 Im Pommerschen Provinziallandtag erkannten die 16 Vertreter der Städte in den dreißiger Jahren im Gegensatz zu den ländlichen Abgeordneten als erste die Notwendigkeit umfassender Infrastrukturprogramme. Seit 1841 artikulierten städtische Vertreter zudem auch gesellschaftspolitische Forderungen. Freilich stießen die Petitionen zur Lockerung der Zensur, zur Judenemanzipation, zur Abschaffung der Patrimonialgerichte und zur Öffentlichkeit der Landtagsverhandlungen fast immer nur bei der Gruppe der städtischen Abgeordneten auf Zustimmung.454 Zwar konnte sich der Pommersche Provinziallandtag im Gegensatz zum Gremium der Rheinprovinz in den vierziger Jahren keinesfalls zu einer »Rednertribüne der Liberalen« entwickeln,455 allerdings fanden die For­ derungen nach einem Ausbau der ständischen Vertretung auch in Pommern ihren Niederschlag. Ein zurückhaltend formuliertes Amendement des Provinzial­ landtags, in dem indirekt appelliert wurde, das ständische System weiter zu entwickeln und zu »einem lebendigen Gliede in dem Staats-Organismus« zu machen,456 erhielt zwar nur 15 von 32 Stimmen, dieses entsprach jedoch dem Stimmenanteil der städtischen Abgeordneten. Die 1845 verhandelten Anträge auf Öffentlichkeit der Stadtverordnetenversammlungen und auf Vermehrung der städtischen Abgeordneten in den Selbstverwaltungsgremien der Provinz belegen mit Abstimmungsergebnissen von 33:13 und 34:12 Stimmen457 ebenfalls den wachsenden Partizipationsdrang der Städte. Zugleich illustrieren sie mit aller Deutlichkeit den Unwillen der ländlichen Abgeordneten, die undemokratischen Strukturen in der Provinz kampflos aufzugeben. Als öffentliche Stadtverordnetenversammlungen schließlich noch im Januar 1848 von der Regierung gebilligt wurden, stießen diese zwar auf ein reges Interesse,458 jedoch konnte die Entscheidung die oppositionelle Stimmung vieler Städter nicht mehr mildern. Das zunehmende Verlangen der städtischen Bevölkerung, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, drückte sich nicht nur im protoparlamentarischen Aktivismus, sondern auch in den seit den dreißiger Jahren vermehrten städtischen Vereinsgründungen aus. Aufgrund der rigiden Vereinsgesetzgebung überwogen im Vormärz christliche, sozialkonservative Assoziationen. Nachdem sich schon 1816 die vom Stettiner Kirchen- und Schulrat Graßmann ins Leben gerufene Pommersche Bibelgesellschaft die Unterstützung der 453 Vgl. Fenske, S. 56. 454 Vgl. Vhdl. des Provinzial-Landtages, Bd.  7, 1841. Siehe auch Inachin, Provinzialstände, S. 124 f. 455 Vgl. Düwell, Provinzialstände, S. 104. 456 Vhdl. des Prov.-Landtages, Bd. 8, 1843, S. 21 f. 457 Vgl. Vhdl. des Prov.-Landtages, Bd. 9, 1845, S. 93 u. S. 150. Siehe auch Inachin, Provinzialstände, S. 126. 458 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Jan. u. Feb. 1848, Stettin 6.3.1848.

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S­ targarder Stadtverordnetenversammlung gesucht hatte,459 gründete man vor Ort 1829 einen Zweigverein.460 Zum Vorstand zählten neben dem Saatziger Landrat von der Marwitz, dem Landschaftsdirektor von Bonin und dem Generalleutnant von Borcke auch diverse städtische Beamte wie der Stargarder Oberbürgermeister. Die 154 ordentlichen Mitglieder des Jahres 1831 rekrutierten sich in erster L ­ inie aus der Kaufmannschaft, der Armee und der Lehrerschaft.461 Im gesamten Bezirk verfügte die Pommersche Bibelgesellschaft 1834 über 686 Mitglieder, die sowohl dem Bürgertum als auch dem adligen Großgrundbesitz entstammten. Bis 1845 ging die Zahl freilich auf 476 zurück.462 Ebenfalls in den zwanziger Jahren gründete sich in Stargard eine Aussteuergesellschaft.463 1837 folgten ein Verein für die Armenpflege464 und 1844 ein Verein für die Gründung einer Sonntags­schule.465 Vergleichbare Assoziationen entstanden zur gleichen Zeit in den meisten anderen pommerschen Städten. In Wollin und Greifenhagen bildeten sich 1838 zusätzlich Mäßigungsvereine,466 deren Kampf gegen den Alkohol von den liberalen Börsennachrichten und der Provinzialverwaltung unterstützt wurde.467 Außer diesen typischen sozialkonservativen Einrichtungen entstanden im Vormärz diverse Unterstützungskassen. 1843 gründete man in Anklam einen Verein zur Unterstützung von Landwehrangehörigen, deren Familien sich im Fall von manöverbedingter Abwesenheit nicht selbst ver­sorgen konnten. Wie im Fall der Stargarder Bibelgesellschaft gehörten dem Vorstand einerseits der örtliche Landrat und als Vertreter des Militärs ein Generalmajor an. Andererseits amtierten auch zwei bürgerliche Landwehroffiziere als Vorstandsmitglieder.468 Dagegen wurden die sechs zwischen 1716 und 1835 gegründeten Stargarder Sterbekassen gänzlich von Bürgern verwaltet.469 Zuletzt entstanden in den vierziger Jahren in einigen Städten Kriegervereine der 459 Vgl. APS, AmSt, Nr. 904, Beschluss der Stargarder Stadtverordnetenversammlung, Stargard 1.8.1816. 460 Vgl. ebd., Statute der Stargarder Bibelgesellschaft [1829]. 461 Vgl. ebd., Nr. 904, Nachweisung über die Ergebnisse aus dem Geschäftsjahr der Stargarder Bibelgesellschaft 1830/31, Stargard [1831]. 462 Vgl. APS, Vereine u. Organisationen – Bestandsreste, Nr. 60, Verzeichnis der Mitglieder der Bibelgesellschaft [Dez. 1873]. 463 Vgl. APS, AmSt, Nr. 905, passim. 464 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16037, Ztgsb. Nov. 1838, Stettin 5.12.1838. 465 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16041, Ztgsb. Nov. u. Dez. 1843, ­Stettin 6.1.1844. 466 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16037, Ztgsb. Feb. 1838, Stettin 5.3.1838 bzw. Ztgsb. Okt. 1838, Stettin 5.11.1838. 467 Vgl. die Artikel »Über Mäßigkeitsvereine«, in: Bn, Nr.  17, 26.2.1836 u. »Mäßigkeitsvereine u. Branntweinproduktion«, in: Bn, Nr. 53, 2.7.1841. Siehe auch Amtsbl. Stettin, Nr. 23, 5.6.1846. 468 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16042, Ztgsb. März 1843, Stettin 6.4.1843. 469 Vgl. APS, AmSt, Nr. 921, Nachweisung der Stargarder Unterstützungskassen [Stargard o. J.]

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Veteranen der Befreiungskriege und auch die Handwerker organisierten sich seit 1845 in »Gewerken«.470 In den städtischen Vereinen des Vormärz engagierten sich die örtlichen bürgerlichen Honoratioren. Es war allerdings typisch, dass in den meisten Assoziationen die Führungspositionen noch von den Landräten, Geistlichen oder auch Offizieren ausgeübt wurden, während sich das Bürgertum vorerst mit der Rolle der niederen Vorstandsposten zufrieden geben musste. Sozialer Protest der einkommensschwächeren Stadtbevölkerung drückte sich einerseits in der vereinzelten Ablehnung von teuren Modernisierungsvorhaben durch die Stadtverordnetenversammlungen, andererseits auch wieder in individuell wie kollektiv geäußerten nonkonformen Verhaltensweisen aus. Da sich Ende der dreißiger Jahre auch in den Städten Cammin und Gollnow separatistische Konventikel bildeten, untersagten vereinzelte Eltern ihren Kindern, die örtlichen Schulen zu besuchen. Der vereinte Protest mehrerer Gollnower Bürger gegen den ihrer Meinung nach säkularen Unterricht in der »Satansschuhl« wurde schon vorn geschildert.471 Sonst zeigte sich sozialer Protest vor allem in den Hungerkrawallen des Jahres 1847. Zwischen dem 25. und dem 27. April kam es neben Stettin und dem platten Land auch in den Städten Swinemünde, Wangerin, Greifenhagen, Pölitz, ­Pasewalk, Gollnow, Pyritz und Demmin zu Tumulten. Die Gewalt des »Pöbels«, unter dem sich in der Regel auch viele Frauen befanden, richtete sich gegen ­Bäcker, Getreidehändler, Kaufleute und Spekulanten.472 Die Plünderung von Bäckereien, Marktständen und die Verhinderung der Ausfuhr von Nahrungsmitteln basierte hierbei noch stärker als auf dem Land auf den bei den städtischen Unterschichten verbreiteten Vorstellungen einer »moral economy«.473 So wurde gegen diejenigen Händler vorgegangen, die in den Augen der Unterschichten »ungerechte« Preise ansetzten. Typisch erscheint der Fall eines Bauers, der am 26. April auf dem Swinemünder Markt verprügelt wurde, weil er einen Scheffel Kartoffeln für 2 Taler angeboten hatte, während ihm die Marktbesucher nur 1  Taler und 20 Silbergroschen bieten wollten.474 Zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung musste in mehreren Orten Militär eingesetzt werden. Die im Frühjahr 1847 eskalierende Unzufriedenheit der städtischen Unterschichten stellte einen wesentlichen Wegbereiter für die erhebliche Politisierung der städtischen Bevölkerung im Revolutionsjahr dar.475

470 Vgl. Matull, S. 234. 471 Vgl. APS, RSz, II, Nr. 1652, Beschwerdeschreiben an Reg. St., Gollnow 23.11.1839. 472 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16043, Ztgsb. März u. April 1847, ­Stettin 6.5.1847. Siehe generell zu den Subsistenzunruhen des Jahres 1847 Gailus, Soziale Protestbewegungen, S. 76–87. 473 Vgl. zum Begriff der »moral economy« Thompson, S. 76–136. 474 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3764, Usedom-Wolliner Landrat Ferno an Oberpräsidenten v. Bonin, Swinemünde 27.4.1847. 475 Vgl. hierzu differenzierend Husung, S. 179–189.

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Im Zeitraum vom Ausbruch der Revolution bis zu den Wahlen zur preu­ ßischen Nationalversammlung kam es in allen pommerschen Städten zu Auseinandersetzungen. Frühzeitig fraktionierte sich die Stadtbevölkerung in überwiegend den Oberschichten angehörende Gegner der Revolution auf der einen Seite und die aufbegehrenden Unterschichten auf der anderen Seite. Bereits kurz nachdem die revolutionären Ereignisse in Berlin bekannt wurden, brachen in Anklam, Neuwarp, Pyritz, Pasewalk und Plathe Tumulte aus. Wenn sich einige Familien der von den Unterschichten erhobenen Aufforderung, die März­gefallenen mit einer Illuminierung zu ehren, verweigerten, gingen Fensterscheiben zu Bruch.476 In einigen Orten wurden wie bereits bei der Hungerkrise im Jahr zuvor Kaufmannshäuser geplündert. In Pyritz kam es zu antijüdischen Tumulten,477 in Treptow a.d. Rega konnten zwei Aufläufe örtlicher Tage­löhner lediglich mit der »Verabreichung von Wein und Cigarren« bzw. beim zweiten Mal durch den Einsatz der inzwischen gebildeten Bürgerwehr auseinander­getrieben werden.478 Die Stimmungsberichte der ersten Märztage der in der Regel antirevolu­ tionär gestimmten Magistrate schwankten zwischen trotzigen Treuebekundungen zur preußischen Monarchie und panischen Hilferufen, die vor einer drohenden Machtübernahme der Unterschichten warnten. Die Bürgermeister von Naugard, Wollin und Gollnow organisierten bis zum 31. März Petitionen, die ihre Ablehnung der Berliner Ereignisse und ihre Königstreue artikulierten. In der Naugarder Petition warnte man ausdrücklich vor den zur Anarchie führenden Folgen, wenn sogar Besitzlosen das Wahlrecht eingeräumt werde.479 Der Bürgermeister von Plathe betonte, dass die unteren Volksschichten der Stadt die neue politische Lage unter der Parole »Freiheit und Gleichheit!« auslegten. Unter Verweis auf die vor allem den unteren Klassen angehörenden Berliner Märzgefallenen schrieb er weiterhin dem Oberpräsidenten, dass die Mehrzahl der wohlhabenden Bürger »hier den Sieg der Proletarier [fürchte]« und man in ­Plathe »ohne allen Schutz« sei.480 Auch im April und Mai 1848 rissen die Unruhen nicht ab. In Anklam forderten Tagelöhner, Maurer- und Zimmergesellen höhere Lohnzahlungen. »Unter der Bemerkung, daß daselbst genug Prediger seien«, vertrieb Ende April eine Gruppe von 50 Personen den Prediger der Anklamer Baptistengemeinde gewaltsam aus der Stadt. Kurz darauf plünderten mehrere Chausseearbeiter das ört­ liche Zeughaus und versuchte eine Gruppe von 200 Personen das Stadt­gericht 476 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Berichte der entsprechenden Magistrate, Anklam, Neuwarp, Pyritz, Pasewalk u. Plathe 21.3.–3.4.1848. 477 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3765, Reg. St. an Innenminister Auerswald, Stettin 29.3.1848. 478 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. März u. April 1848, Stettin 8.5.1848. 479 Vgl. NPPP, Nr. 3765, Petition des Naugarder Bürgermeisters u. mehrerer Gutsbesitzer, Bürger aller Klassen u. Mitglieder des Bauernstandes aus den umliegenden Orten, Naugard 29.3.1848. 480 Vgl. ebd., Bürgermeister von Plathe an Oberpräsident, Plathe 30.3.1848.

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zu besetzen.481 Aus Protest gegenüber den gerade von den Unterschichten als ungerecht empfundenen abschließenden Separationsverhandlungen kam es etwa in Treptow a.d. Rega und in der Stadt Usedom wiederholt zu Unruhen. In Usedom setzte eine Gruppe von Bürgern eigenmächtig den amtierenden Bürgermeister ab und übergab den Amtsschlüssel dem Stadtkämmerer. Um die Lage nicht weiter zu eskalieren, ordnete der Landrat Ferno neue Separationsverhandlungen an, und die revoltierenden Bürger blieben offenbar straffrei.482 Am Tag der Wahlen zu den beiden Nationalversammlungen forderte schließlich in Labes eine Gruppe von 30 Zimmerleuten vom Bürgermeister die sofortige Ausweisung aller auswärtigen Handwerker.483 In Stargard plünderten und verwüsteten die örtlichen Schneider- und Tischlergesellen ein Kleider- und Möbel­ lager. Infolge des Eingreifens durch herbeieilendes Militär wurde hier sogar ein Geselle durch Bajonettstiche getötet.484 Das politische Potential dieses sozialen Protests wurde jedoch nur zu einem geringen Maß in ein strukturiertes politisches Programm überführt. Zwar entstanden in allen pommerschen Städten diverse politische Vereine und Klubs,485 diese wurden jedoch abgesehen von den Handwerkergewerken vom höheren Bürgertum dominiert. Außer den bereits ausführlich geschilderten konserva­ tiven und konstitutionellen Vereinen bildeten sich in den größeren Städten Stargard, Pasewalk, Anklam, Demmin, Gollnow, Freienwalde und Fiddichow liberale und demokratische Klubs. In den Augen der Behörden traten zudem der bereits im April von einem Emissär des Constitutionellen Clubs in Berlin gegründete Regenwalder Arbeiterclub486 und der Stargarder Handwerkerverein besonders radikal auf. Insgesamt beurteilte die Bezirksregierung die Aktivitäten der Vereine der kleineren Städte als geringer als etwa in Stettin.487 Bemühungen zur über­ regionalen Organisierung der verschiedenen demokratisch-konstitutionellen Vereine gingen ausschließlich von den Stettiner Klubs aus. Nach der Ratifi­ zierung des preußisch-dänischen Waffenstillstands schlossen sich die vorpommerschen Demokraten unter dem Vorsitz des Redakteurs der Ostseezeitung M ­ aron zusammen.488 Der Machtkampf zwischen Nationalversammlung und Monarch im November und Dezember 1848 schwächte die liberalen und demokratischen Vereine der pommerschen Städte erheblich. Zwar sprachen am 15. November außer den 481 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Bericht des Anklamer Magistrats an Reg. St., Anklam 1.5.1848. 482 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3766, Reg. St. an Innenminister Auerswald, Stettin 17.4.1848. 483 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Bürgermeister an Reg. St., Labes 2.5.1848. 484 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. März u. April 1848, ­Stettin 8.5.1848. 485 Vgl. ebd., Ztgsb. Mai u. Juni 1848, Stettin 7.7.1848. 486 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3765, Magistrat an Reg. St., Regenwalde 15.4.1848. 487 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Juli u. Aug. 1848, S­ tettin 6.9.1848 u. Ztgsb. Sept. u. Okt. 1848, Stettin 6.11.1848. 488 Vgl. OZ, Nr. 16, 27.9.1848.

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demokratischen Klubs und den wenigen außerhalb Stettins erscheinenden demokratischen Blättern489 mehrere pommersche Stadtverordnetenversammlungen noch einmal ihre Solidarität mit der Nationalversammlung aus,490 doch erklärten bereits nach dem Steuerverweigerungsbeschluss mehrere Vertreter liberaler Vereine und der städtischen Bürgerwehren, dass sie den Beschlüssen der Nationalversammlung nicht mehr folgen könnten.491 In den folgenden Wochen brachen zwischen den Anhängern und Gegnern der Nationalversammlung vielerorts gewaltsame Aktionen aus. In Pasewalk stürmte eine Gruppe von Ge­sellen das Versammlungshaus des konservativen Patriotischen Vereins. Angeblich skandierte die Gruppe hierbei, den anwesenden Bürgermeister totschlagen zu wollen.492 Dagegen versuchte am gleichen Tag in der Stadt Gülzow eine Gruppe von Bauern, eine demokratische Versammlung aufzulösen.493 In P ­ yritz kam es zudem wieder zu antisemitischen Ausschreitungen, indem das Haus eines jüdischen Kaufmanns mit Steinen beworfen wurde.494 Die Oktroyierung der Verfassung am 5.  Dezember 1848 führte dann zu einer raschen Beruhigung der Lage. Die meisten Magistrate und Stadtverordnetenversammlungen der Provinz formulierten Dankadressen. Lediglich in Stargard wurde die von den städtischen Behörden Stettins an die Stadtverordnetenversammlung getragene Aufforderung, sich an einer gemeinsamen positiven Adresse an den Monarchen zu beteiligen, demonstrativ ad acta gelegt und nicht weiter verhandelt.495 Bei den Wahlen vom Februar 1849 setzten sich wie überall im Stettiner Regierungsbezirk auch in den Städten ausschließlich konservative Kandidaten durch.496 Die im Frühjahr 1849 erneut ausbrechenden Unruhen wegen der Separationsergebnisse wurden wiederum zügig durch die geschickte Verhandlungsführung des Usedom-Wolliner Landrats Ferno eingedämmt.497 Die Reichsverfassungskampagne stieß außerhalb Stettins kaum auf Unterstüt­zung. Das kurzzeitig aufgetretene Gerücht, dass der Stettiner Constitutionelle Club die demokratischen Vereine in den Kleinstädten 489 Vgl. etwa den Anclamer Volksfreund, Nr.  46, 17.11.1849, in der sich der Redakteur für Friedrich Hecker u. die »rothe Republik« aussprach. 490 Neben Stettin sprachen sich in Pommern die Stadtverordnetenversammlungen von Stargard, Pyritz, Demmin, Greifswald u. Stolp entschieden für die Nationalversammlung aus. Vgl. OZ, Nr.  204, 15.11.1848. In anderen Orten, wie in Freienwalde, unterstützte lediglich der demokratische Constitutionelle Club die Nationalversammlung, während sich der Magistrat königstreu verhielt. Vgl. APS, NPPP, Nr. 3766, Bürgermeister an Oberpräsident v. Bonin, Freienwalde 16.11.1848. 491 Vgl. etwa den Fall der Stargarder Bürgerwehr in der OZ, Nr. 210, 22.11.1848. 492 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Bericht des Pasewalker Bürgermeisters, Pasewalk 28.11.1848. 493 Vgl. OZ, Nr. 229, 13.12.1848. 494 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10445, Bericht des Pyritzer Magistrats, Pyritz 18.12.1848. 495 Vgl. OZ, Nr. 239, 27.12.1848. 496 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Jan. u. Feb. 1849, Stettin 5.3.1849. 497 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3767, Usedom-Wolliner Landrat an Oberpräsident v. Bonin, Swinemünde 5.5.1849.

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zu einem Aufstand aufstachle,498 bestätigte sich nicht. Die dramatischen Aufrufe des demokratischen Volksvereins von Fiddichow499 und des Handwerkervereins von Stargard zur Abhaltung von Solidaritätskundgebungen wurden zwar noch von einigen Dutzend Teilnehmern befolgt. Der Saatziger Landrat berichtete jedoch süffisant, dass von den 300 Besuchern der vom Stettiner Demokraten Brunnemann geleiteten Versammlung in Stargard die überwiegende Zahl der Teilnehmer lediglich Gesellen und Gymnasiasten, dagegen nur wenige Bürger gewesen seien.500 Die Auflösung der Zweiten Kammer löste in den meisten kleineren Städten ebenfalls keine merkbaren Reaktionen aus.501 Auch die Neuwahlen vom Juli 1849 verliefen ruhig, zumal die Demokraten diese boykottierten.502 Die zivilgesellschaftlichen Ansätze, die sich in dem während der Revolutionszeit wachsenden städtischen Vereinswesen manifestiert hatten, standen nach dem Erlass des preußischen Vereinsgesetzes unter erheblichem Druck. Liberale Beamte litten unter den Denunziationen ihrer Vorgesetzten.503 Die liberalen Vereine lösten sich vor einem drohenden Verbot zumeist selber auf, die Tätigkeit der konservativen Organisationen schlief ganz von alleine ein, und Arbeiterassoziationen wie der Stargarder Zigarrendreherverein wurden sogar gegen den Widerstand des örtlichen Landratsamts auf Druck des Innenministeriums verboten.504 Den in Opposition zur Regierung stehenden Kräften fiel es daher schwer, sich organisatorisch zu vernetzen. In Stargard fungierte offensichtlich der 1849 gegründete Handwerkerverein für einige Zeit als Sammelbecken liberal gesinnter Bürger. Der im März 1851 noch 317 Mitglieder umfassende Verband verstand sich zu diesem Zeitpunkt als geselliger Bildungsverein, in dem neben Handwerkern und Gesellen auch mehrere Lehrer Mitglieder waren. Als der Verein freilich 1853 versuchte, über eine eigene Kandidatenaufstellung und mit – laut Polizeiverwaltung – »destructiven« Flugblättern Einfluss auf die Stadtverordnetenwahlen zu nehmen, wandten sich die städtischen Behörden gegen die Assoziation. Ein vom Magistrat erwirktes Verbot wurde zwar vom Appella­ tionsgericht in Stettin wieder aufgehoben, der Handwerkerverein verlor jedoch im Folgenden mehr als 200 Mitglieder und stellte seine politischen Ambitionen 498 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10445, Bericht des Magistrats von Fiddichow, Fiddichow 21.5.1849. 499 Vgl. ebd., Flugblatt des Fiddichower Volksvereins, Fiddichow [Mai 1849]. 500 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10489, Saatziger Landrat an Oberpräsident v. Bonin, Stargard 9.5.1849. 501 Vgl. ebd., Berichte des Greifenberger Magistrats, Greifenberg 10.5.1849 u. des Ueckermünder Landrats, Ueckermünde 29.5.1849. 502 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Mai u. Juni 1849, Stettin 6.7.1849. 503 Vgl. den Fall des Camminer Landrats von Köller, der die beiden Kreisgerichtsräte u. den Büroassistenten beim Oberpräsidenten anschwärzte, da sie 1855 für den liberalen Baron v. Flemming-Basenthin gestimmt hätten unter APS, NPPP, Nr. 631, Camminer Landrat v. Köller an Oberpräsident v. Senfft-Pilsach, Cammin 10.4.1856. 504 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 8542, Polizeiverwaltung an Reg. St., Stargard 22.7.1854.

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unter dem neu gebildeten Vorstand zurück.505 Neben dem rigiden Vereinsrecht behinderte das neue Kommunalwahlrecht eine weitere zivilgesellschaftliche Entwicklung der städtischen Öffentlichkeit. Mit der Einführung des Drei­ klassenwahlrechts wurden die städtischen Unterschichten im Prinzip bis zum Ende der Monarchie von jedem weiteren Einfluss auf den politischen Kommunalbetrieb ausgeschlossen. In der neuen Städteordnung vom 30.  Mai 1853 wurde zudem die Stellung des in der Regel konservativ auftretenden Ma­gistrats gestärkt.506 Einen Aufschwung ihres politischen Lebens erlebten die pommerschen Städte erst wieder mit dem Beginn der »Neuen Ära«. Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre entstanden in Stargard einerseits wieder mehrere sozialkonservative Vereine,507 andererseits trat auch der Handwerkerverein wieder häufiger in Erscheinung. Spätestens seit 1860 formierten sich die städtischen Liberalen neu und organisierten fortan in der Stadt regelmäßige Versammlungen.508 1861 beklagte sich die Stettiner Regierung, dass einzelne Achtund­vierziger »in neuerer Zeit wieder hervorzutreten und an dem öffentlichen Leben Antheil zu nehmen beginnen.«509 Dieser im Kontext des Verfassungskonflikts erfolgte Stimmungswechsel sorgte in den Städten für überragende Ergebnisse der DFP.510 Mit den beiden Rittergutsbesitzern Schulz-Billerbeck und MühlenbeckGr. Wachlin setzten sich auch im die Stadt Stargard einschließenden Saatzig-Pyritzer Wahlkreis 1862 und 1863 zwei liberale Kandidaten durch. Nach der Spaltung der DFP unterlagen beide freilich einem konservativen bzw. alt­liberalen Kandidaten.511 In den siebziger Jahren konnten sich nochmals nationalliberale und einige freikonservative Wahlvereine in den pommerschen Städten bilden. Die guten städtischen Ergebnisse ihrer Kandidaten sicherten diesen Parteien bis zum 1879 erfolgten Zusammenbruch der pommerschen NLP bei den Reichsund Landtagswahlen Erfolge. Die Reform der Kreisordnung von 1872 und die neue Provinzialordnung von 1875 ermöglichten den Städten in Pommern mehr Mitgestaltungsrechte. Allerdings garantierten die Wahlrechtsbestimmungen den Vertretern des platten Landes immer eine strukturelle Mehrheit. Die Notwendigkeit zur Bildung von Abstimmungsbündnissen steigerte jedoch den städtischen Einfluss auf die 505 Vgl. APS, AmSt, Nr. 909, Stargarder Magistrat an Stargarder Staatsanwaltschaft, Stargard 21.9.1853 u. Urteil des Appellationsgerichts, Stettin 24.10.1853. 506 Vgl. Fenske, S. 56. 507 Vgl. APS, AmSt, Nr.  561 u. Nr.  923–925, passim. Hier die entsprechenden Statute vom Evangelischen Verein, dem Verein zur Eintracht, dem Gesinde-Prämien Verein u. dem Verein der Handlungsgehilfen etc. 508 Vgl. ebd., Nr. 561, diverse Polizeiberichte über den liberalen Wahlverein, Stargard 3.10.1860, 4.12.1861, 28.4.1862 u. 30.10.1863. 509 GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16045, Ztgsb. Jan. u. Feb. 1861, Stettin 6.3.1861. 510 Vgl. ebd., Ztgsb. Sept. u. Okt. 1863, Stettin 6.11.1863. 511 Vgl. Kühne, Handbuch, S. 245.

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Entscheidungen der provinzialen Selbstverwaltung. Es ist deshalb diesen beiden Reformen zuzuschreiben, dass seit der Mitte der Siebziger die über Jahre verschleppten Infrastrukturprogramme umgesetzt werden konnten. Freilich führte die Vetomacht des Großgrundbesitzes dazu, dass die gewaltigen Summen, die etwa in die Finanzierung des pommerschen Kleinbahnnetzes flossen, die agrarische Struktur Pommerns weiter stabilisierten. Vielfach subventionierten die Städte somit mehr oder weniger direkt die großen Güter. So wurde die Dominanz des ländlich-konservativen Milieus bis aufs Weitere konserviert. Nach der Reichsgründung erlebte auch das Vereinswesen der Städte einen weiteren Aufschwung. Die pommerschen Krieger- und Frauenvereine hatten ihre stärksten Zweiggliederungen in den Städten. Daneben wurden in den siebziger Jahren erneut diverse Arbeiterassoziationen gegründet. Hierbei standen die ersten Organisationsbemühungen der Sozialdemokratie in scharfer Konkurrenz zu den in Pommern äußerst aktiven linksliberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen. In Stargard etablierte sich bereits 1869 ein Gewerkverein der Maschinenbau-Metallarbeiter, während sich gleichzeitig der sozialdemokratische Allgemeine Arbeiterverein bemühte, Fuß zu fassen. Offenbar waren die Gewerkvereine bei den Schuhmachern und Metallarbeitern der Stadt besonders erfolgreich. Dagegen konzentrierte sich der ADAV auf die Zimmerleute.512 Insgesamt scheinen die Gewerkvereine in den Städten des Stettiner Bezirks bis zur Aufhebung des Sozialistengesetzes tatsächlich mehr Arbeiter als die Sozial­ demokratie organisiert zu haben.513 Laut den Zeitungsberichten der Stettiner Regierung konnte sich letztere in den siebziger Jahren außerhalb Stettins und Stargards nur in den Städten des Stettiner Speckgürtels wie Altdamm, Grabow und Pölitz sowie in Pasewalk mit kleineren Gruppen festsetzen.514 Dagegen führte die Bezirksregierung für das Jahr 1878 außerhalb Stettins immerhin acht Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine in Stargard, Pasewalk, Anklam, Demmin, Jarmen und Altdamm auf, die auch eigene Hilfskassen besaßen.515 Noch um 1900 konnten die linksliberalen Gewerkvereine ihren Einfluss bei den Metallarbeitern in den kleineren pommerschen Städten wie Ueckermünde, Torgelow, Pasewalk, Löcknitz, Barth, Wolgast, Greifswald und Stralsund gegenüber dem sozialistischen Deutschen Metallarbeiter-Verband verteidigen.516 512 Vgl. APS, AmSt, Nr.  561–562, passim. Hier die Anzeige diverser Versammlungen der Gewerkvereine u. des ADAV sowie die dazugehörigen Polizeiberichte aus den siebziger ­Jahren. 513 Auch Matull, S. 240 f. betont die überraschende Stärke der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine in Pommern. 514 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Aug., Sept. u. Okt. 1876, Stettin 11.12.1876. Siehe auch RSz, I, Nr. 10463, die Berichte der Landräte der Saatziger, Greifenberger, Camminer, Randower u. Ueckermünder Kreise, Pyritz, Greifenberg, Cammin, Stettin u. Ueckermünde vom Juli u. Aug. 1878. 515 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10462, Verzeichnis sämtlicher dem Verbande der deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker) angehörenden Ortsvereine [1878]. 516 Vgl. Stamp, S. 56.

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Mit dem Ende der siebziger Jahre folgenden Wechsel zur Schutzzollpolitik und dem zeitweiligen Zusammenbruch der pommerschen NLP endete die Zeit der deutlichen liberalen Dominanz in den Städten der Provinz. Die Kandidaten der verschiedenen regierungskritischen linksliberalen Parteien erzielten in der Regel weniger Stimmen als die der NLP in den Jahren zuvor. In der Kommentierung der 1882 stattfindenden Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus hob die Bezirksregierung dagegen hervor, dass sich »in einzelnen Städten [ein Umschwung] zu Gunsten der conservativen Partei vollzogen« habe.517 Dieser durch mehrere konservative Vereinsgründungen beförderte Trend518 setzte sich auch bei den nächsten Wahlen in den kleineren Städten der Provinz fort.519 Dagegen beklagte sich die Regierung, dass nunmehr »das liberale Element bis zu den vorgeschrittensten [sic] Schattierungen« neigte.520 Vor allem nach der 1884 erfolgten Fusion der alten DFP und der Liberalen Vereinigung zur Deutsch Freisinnigen Partei traten die liberalen Wahlvereine in einigen Städten radikaler als früher auf. Bei den Septennatswahlen von 1887 versuchte der unter der Führung von drei Gymnasiallehrern und einem Kaufmann stehende Demminer Wahlverein, auch die ärmere Land- und Stadtbevölkerung für ihren Kandidaten zu gewinnen. Trotz der Thematisierung der »sozialen Frage« wurden die Freisinnigen schon bei dieser Wahl unter den Druck der linken Konkurrenz gesetzt. Zwar erhob der Demminer Wahlverein sogar die Forderung nach einer Bodenreform, die Wahlveranstaltungen wurden trotzdem von sozialdemokratischen Agitatoren gestört. Infolge der aufgeladenen Stimmung kam es in Demmin bis zum Wahltermin mehrfach zwischen angeblich alkoholisierten Arbeitern, Mitgliedern des konservativen Wahlvereins und den Sicherheitskräften zu »Händeleien«. Letztlich nutzten diese Auseinandersetzungen dem konservativen Kandidaten, denn dieser konnte seinen Stimmenanteil gegenüber der letzten Wahl steigern.521 Die erhebliche Aktivität der drei Gymnasiallehrer im liberalen Demminer Wahl­ verein unterstreicht im Übrigen noch einmal die Bedeutung, welche die in den achtziger Jahren hochgradig politisierte Lehrerschaft als Modernisierungsagent gewonnen hatte. Die Demminer Vorgänge des Jahre 1887 illustrieren aber gleichermaßen den in den letzten Jahren des Sozialistengesetzes erfolgenden Wiederaufstieg der Sozialdemokratie. Mit der nach 1878 einsetzenden Verbots-

517 GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Aug., Sept. u. Okt. 1882, 18.11.1882. 518 In Stargard wurde wie erwähnt der dortige Conservative Verein 1882 ins Leben gerufen. In Anklam erfolgte eine entsprechende Vereinsgründung 1889. Vgl. APS, RSz, I, Nr. 1103, Statut des Conservativen Vereins für Stargard u. Umgebung, Stargard 10.5.1882 u. APS, RSz, I, Nr. 1096, Notiz über die Gründung des Vereins »Königstreu«, Anklam 23.5.1889. 519 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Aug., Sept. u. Okt. 1885, Stettin 27.11.1885. 520 Vgl. ebd., Ztgsb. Mai, Juni u. Juli 1883, Stettin 24.8.1883. 521 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3771, Bericht des Demminer Landrats Müffling, Demmin 21.2.1887.

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praxis522 und den diversen Selbstauflösungen sozialdemokratischer Vereine in den pommerschen Städten war es um diese zu Beginn der achtziger Jahre eher ruhig geworden. Lediglich in Stettin und Stargard wurde eine rudimentäre sozialdemokratische Organisation aufrechterhalten. Spätestens seit 1886 registrierte die Bezirksregierung jedoch in mehreren Städten eine Wiederbelebung der Strukturen. In Gartz a.d. Oder bildete sich ein »stark socialdemokratisch« gefärbter Fachverein der Maurergesellen und in Demmin eine Gesellschaft der Zimmergesellen.523 In Anklam und Greifenhagen wurden entsprechende Arbeitervereine 1889 ins Leben gerufen.524 Generell analysierten die Verwaltungsberichte zur politischen Lage einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Industrialisierungsgrad einer Stadt auf der einen Seite und der Stärke der Sozial­ demokratie auf der anderen Seite.525 Im Jahr der Aufhebung des Sozialistengesetzes wurden die Bemühungen zum Aufbau örtlicher Parteistrukturen von der SPD-Führung forciert. In Greifenhagen erhielt seit 1890 ein örtlicher Parteiführer monatlich von der Berliner Zentrale 150 Mark zum persönlichen Gebrauch und zur Unterstützung seiner politischen Arbeit.526 Der Landrat des Saatziger Kreises zählte im gleichen Jahr in der Stadt Stargard schon 600 eingefleischte Sozialdemokraten.527 Selbst in Kleinstädten wie Pyritz, Jatznick und im konservativ geprägten Cammin wurden 1890 einige Dutzend Mitglieder umfassende sozialdemokratische Wahl­vereine gegründet528 oder wie im Fall der Stadt Pölitz bestehende Arbeitervereine von Sozialdemokraten unterwandert.529 Beim zweiten Parteitag der pommerschen SPD, der am 28. Juni 1891 in Stettin stattfand, vertraten die De­ legierten neben den Ortsvereinen des Stettiner Speckgürtels bereits Parteigliederungen in Gartz a.d. Oder, Greifenhagen, Pasewalk, Anklam, Torgelow, Pyritz und Jatznick. Im Regierungsbezirk Stralsund hatten sich zu diesem Zeitpunkt erst Ortsvereine in Wolgast und Stralsund gebildet, im Kösliner Regie522 Der vorn erwähnte sozialdemokratische Pasewalker Tabakverein wurde beispielsweise bereits 1879 von der Polizeibehörde aufgelöst. Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10458, Pasewalker Magistrat an Reg. St., Pasewalk 16.2.1879. 523 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 1098, Polizeiverwaltung Gartz a.d. Oder an Reg. St., Gartz a. d. Oder 22.5.1886 u. APS, RSz, I, Nr.  1097, Demminer Polizeiverwaltung an Reg. St., Demmin 17.4.1886. 524 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 1096, Anklamer Polizeiverwaltung an Reg. St., Anklam 6.6.1890 u. APS, RSz, I, Nr. 10460, Mitgliederverzeichnis des Vereins zur Wahrung der Interessen der Arbeiter Greifenhagens u. Umgebung, Greifenhagen 13.5.1889. 525 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Feb., März u. April 1887, Stettin 21.5.1887. 526 Vgl. APS, RSz, I, Nr.  1099, Greifenhagener Polizeiverwaltung an Reg. St., Greifenhagen 1.4.1890. 527 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10460, Saatziger Landrat an Reg. St., Stargard 8.3.1890. 528 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr.  16048, Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1893/1894, Stettin 23.2.1894. 529 Vgl. etwa den Fall des seit 1875 bestehenden Pölitzer Arbeitervereins APS, RSz, I, Nr. 1102, Randower Landrat an Reg. St., Stettin 3.6.1891.

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rungsbezirk nur in der Bezirkshauptstadt selbst.530 Die hieraus resultierende festere Verankerung der Sozialdemokratie führte dazu, dass die SPD seit den Reichstagswahlen von 1893 im Stettiner Regierungsbezirk auch außerhalb des großstädtischen Milieus Stettins in mehreren Städten an den Freisinnigen vorbeiziehen konnte.531 Zudem entwickelte sich die SPD seit der Jahrhundertwende auch in Pommern zur Massenpartei. 1906 erreichte die gesamte pommersche Sozialdemokratie einen Organisationsgrad von 5.051 Mitgliedern. Bis 1914 erfolgte eine Verdoppelung auf 12.319 Mitglieder.532 Das konservative Lager reagierte auf die zunehmende Attraktivität der SPD in der wachsenden Arbeiterklasse mit der Gründung christlich-sozialer Ver­ einigungen. So wurde etwa dem sozialdemokratischen Arbeiterverein in Gartz a. d. Oder 1890 ein evangelischer Arbeiterverein gegenübergestellt.533 In ­Pölitz gründeten die königstreuen Mitglieder des von der Sozialdemokratie übernommenen Arbeitervereins einen eigenen Patriotischen Verein.534 In Pyritz organisierte der dortige Oberpfarrer eine Arbeiterassoziation, die »einstimmig« beschloss, keine Sozialdemokraten aufzunehmen.535 Über diese christlich-sozialen Vereinigungen betrat in den neunziger Jahren auch der politische Antisemitismus die Bühne. Nachdem es schon 1848/49 und vor allem 1881 in ganz Pommern536 zu antisemitischen Ausschreitungen gekommen war, trafen diese Bemühungen zumindest teilweise auf fruchtbaren Boden. Von den »sonstigen« Stimmen entfiel nach 1890 der überwiegende Anteil auf antisemitische Kandidaturen. Als 1893/94 der gerade gegründete pommersche Landesverband der antisemitischen Deutsch-Socialen Reformpartei versuchte, auch außerhalb Stettins Ortsvereine ins Leben zu rufen, stießen diese Bemühungen indes in vielen Städten auf Proteste.537 Allerdings setzte sich 1903 im Pyritz – Saatziger 530 Vgl. Herbert, S. 14 f. 531 Beispielsweise lag die SPD im Kreis Greifenhagen 1893 erstmals in der Stadt Fiddichow deutlich vor der Freisinnigen Vereinigung, während in der Nachbarstadt Bahn letztere noch sämtliche nicht-konservativen Stimmen auf sich vereinigen konnte. Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10460a, Greifenhagener Landrat an Reg. St., Greifenhagen 24.1.1893. 532 Vgl. Lamprecht, S. 191. 533 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 1098, Polizeiverwaltung Gartz a.d. Oder an Reg. St., Gartz a.d. Oder 12.6.1890. 534 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 1102, Randower Landrat an Reg. St., Stettin 3.6.1891. 535 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10460, Saatziger Landrat an Reg. St., Pyritz 19.8.1892. 536 Zu Ausschreitungen kam es insbesondere im Kösliner Bezirk. Im Stettiner Bezirk fanden Exzesse in Stettin sowie in Treptow a.d. Tollense u. in Pyritz statt. Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10488, Staatsanwaltschaft an Reg. St., Stettin 11.7.1882 u. Pyritzer Polizeiverwaltung an Reg. St., Pyritz 15.8.1881. Vgl. auch die kritische Reaktion des preuß. Innenministers unter APS, NPPP, Nr. 3770, Innenminister v. Puttkamer an Oberpräsident v. Münchhausen, Berlin 23.8.1881. 537 Vgl. APS, AmSt, Nr. 563, Anzeige zur Gründungsversammlung eines Deutschen Reform Vereins, Stargard 24.1.1893 u. Deutsch-Socialer Landesverband Pommern an Stargarder Magistrat, Stettin 6.6.1893 sowie den folgenden Schriftverkehr. Diesem kann man ent­ nehmen, dass sich mehrere Gastwirte weigerten, ihre Gaststätten für antisemitische Kundgebungen zu vermieten.

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Wahlkreis, zu der auch die Stadt Stargard gehörte, der Kandidat des Antise­ mitischen Volksbunds (bzw. der Deutschen Reformpartei) in der Stichwahl gegen einen Kandidaten der DkP knapp durch. Während die Freisinnige Vereinigung im zweiten Wahlgang zur Unterstützung der Konservativen aufrief, ließ sich die SPD offenbar auf ein gegenseitiges Wahlgeschäft ein. Der örtliche sozial­ demokratische Verein rief jedenfalls seine Wähler zur Unterstützung des anti­ semitischen Kandidaten auf, während dieser wiederum gerüchteweise seine Stettiner Anhänger zur Wahl des sozialdemokratischen Kandidaten »abkommandiert« habe.538 Generell differenzierte sich das städtische Vereinswesen spätestens zur Jahrhundertwende erheblich aus. Ende der neunziger Jahre versuchten, wie das Beispiel der Antisemiten zeigt, mit Ausnahme des Zentrums alle größeren politischen Richtungen sich mit eigenen Ortsvereinen in den pommerschen Städten festzusetzen. Auch im nicht-parteipolitischen Vereinsspektrum kam es in den neunziger Jahren zu einer wahren »Vereinseuphorie«. Allein in den weitestgehend vollständig erhaltenen Akten des Stargarder Magistrats finden sich über 20 Aktentitel, die sich mit den Vereinsgründungen dieses Jahrzehnts befassen. Inhaltlich erstreckte sich das aus den Statuten ergebende Themenspektrum auf die Vertretung spezieller Berufsinteressen, die Ausübung diverser »sportlicher« Aktivitäten, Gesang und sonstige vergnügliche Interessen.539 Bereits vor der Demokratisierung des politischen Systems des Kaiserreichs bildete sich demnach in der Provinz zumindest in den pommerschen Städten eine zivilgesellschaftliche Basis heraus. Dieser Prozess war allerdings in Pommern im Vergleich zur »Vereinseuphorie« der sechziger und siebziger Jahre in den westlichen Teilen des Reichs540 vergleichsweise spät in Gang gekommen. 3.3.6 Politische Partizipation, Vereinsbildung und Herausbildung der modernen Parteien in der Großstadt Stettin In Stettin konnten sich zivilgesellschaftliche Strukturen früher als in den kleineren Nachbarorten oder gar auf dem platten Land ausbilden. Die Einführung der Städteordnung gestaltete sich in der Großstadt Stettin weniger konfliktreich als in den anderen Städten der Provinz. Bei der ersten Wahl im Januar 1809 waren zwar erst 1.295 der 18.375 Personen zählenden Stettiner Bevölkerung stimmberechtigt, ungefähr jeder zwölfte Stimmberechtigte bekleidete jedoch nach den Wahlen bereits ein städtisches Amt.541 Neben den 63 Stadtverordneten und ihren 21 Vertretern wurden ein fünfzehnköpfiger Magistrat sowie besondere Fachdeputationen gewählt. Mit dem Oberbürgermeister, einem Kämmerer, 538 Vgl. Reibel, S. 230. 539 Vgl. APS, AmSt, Nr. 914–920 u. Nr. 930–947, passim. 540 Vgl. Nord, S. XVII. 541 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 425.

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einem Syndikus, einem Baurat und ein bis zwei gesetzeskundigen Ratsmännern entstand eine eigene fest besoldete kommunale Verwaltungselite.542 Seit der Einführung der städtischen Selbstverwaltung befand sich diese fest in der Hand der örtlichen Kaufmannschaft. Zwischen 43 % und 65 % der Stadtverordnetenmandate entfielen in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts auf diese Gruppe. Im Magistrat war die Dominanz der Kaufmannschaft noch deut­ licher.543 Angesichts der erheblichen Verschuldung Stettins infolge der französischen Besatzungszeit544 kam diese wirtschaftliche Expertise der Stadt durchaus zugute. Aus der Kaufmannschaft und ihrer 1821 per Oberpräsidialerlass errichteten Zwangskorporation entwickelten sich in der Stadt weitere zivil­ gesellschaftliche Impulse. 1822 zählte die Korporation der Kaufmannschaft bereits 226, fünfzig Jahre später 728 ordentliche Mitglieder.545 Stettin hatte im Vergleich zu den kleineren Nachbarstädten eine privilegierte Stellung in der provinzialen Selbstverwaltung inne. Von 1816 bis 1826 und dann wieder seit 1857 war Stettin ein eigener Stadtkreis, in der Zwischenzeit bildete die Stadt im Randower Kreis einen erheblichen Machtfaktor. Seit dem ersten Pommerschen Provinziallandtag von 1824 war Stettin auch in diesem Gremium vertreten. 1825 wurde der Stadt die Landstandschaft gesetzlich zugesichert.546 Auf den Sitzungen des Provinziallandtags vertraten die Vertreter Stettins offensiv die eigenen städtischen Interessen. Die in den vierziger Jahren von den pommerschen Städten unterstützten und als liberal einzuschätzenden Peti­tionen gingen zumeist auf Initiativen der Stettiner Abgeordneten zurück.547 Mit den 1835 ins Leben gerufenen Börsennachrichten schuf sich die liberale Stettiner Kaufmannschaft ihr eigenes machtvolles Organ, welches bald in der gesamten pommerschen Provinz und darüber hinaus gelesen wurde. Die Vereinsgründungen der dreißiger und vierziger Jahre basierten ebenfalls auf dem Engagement von Kaufleuten. Dieses galt für die seit 1836 bestehende Gesellschaft Abendhalle,548 aber auch für die vielen sozialen Vereine wie den Stettiner Jünglingsverein, der 1844 immerhin schon 166 Mitglieder führte.549 In den vierziger Jahren begann sich die Stettiner Vereinslandschaft dann sukzessive zu politisieren. In dem 1843 gegründeten Handwerkerverein kann man die ersten Wurzeln der Stettiner Arbeiterbewegung sehen.550 1845 bildete sich zudem ein liberal gesinnter Unterstützungsverein der Deutsch-Katholiken. Letzte-

542 Vgl. Fenske, S. 54. 543 Vgl. Włodarczyk, Selbstverwaltung, S. 148. 544 1814 betrug die Verschuldung immerhin 500.000 Taler. Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 445. 545 Vgl. ebd., S. 451. 546 Vgl. ebd., S. 450. 547 Vgl. Inachin, Provinzialstände, S. 124 f. 548 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 452. 549 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16041, Ztgsb. Sept. u. Okt. 1844, Stettin 5.11.1844. 550 Vgl. Stamp, S. 20.

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rem wurde es im August gleichen Jahres ermöglicht, in der repräsentativen Aula des Stettiner Gymnasiums ihren ersten Gottesdienst zu feiern.551 Insbesondere die Einberufung des Vereinigten Landtags von 1847 bewirkte eine weitere Politisierung. Die Stettiner Stadtverordnetenversammlung stellte Ende Februar einen umfassenden Forderungskatalog auf. Außer den typischen liberalen Forderungen nach Pressefreiheit, Emanzipation der Juden und dem vorsichtigen Ruf nach Gewährung einer Verfassung wurde hier die Bedeutung des den Stettiner Liberalismus dauerhaft kennzeichnenden wirtschaftsliberalen Profils deutlich: 1) Vertretung unserer Stadt durch drei Deputierte bei dem Landtag 2) Erweiterung des Wählbarkeitskreises der Landtagsdeputirten 3) Öffentlichkeit der Landtagsverhandlungen, eventuell Publication der Protocolle mit Namhaftmachung der Redner 4) Öffentlichkeit der Stadtverordnetenversammlungen 5) Aufhebung des Intelligenzblattzwangs 6) Veränderung der Verfassung, in so fern wenigstens, dass den neuerdings instituirten vereinigten Landständen eine regelmäßige Zusammenberufung in nicht zu langer Zeit zuzusichern und eine wirkliche Kontrolle über die Ausgaben des Staates zu gewähren sein dürfte 7) Pressfreiheit 8) Allgemeine Einführung des Berliner Kriminalverfahrens 9) Staatliche Anerkennung der Deutsch-Katholiken 10) Aufhebung des Salzmonopols 11) Ausdehnung der erleichternden Bestimmungen über die Kirchenvermögens-Verwaltung für die Mark Brandenburg auf Pommern 12) Einrichtung eines selbstständigen Handelsministeriums 13) Emancipation der Juden 14) Aufhebung oder Ermäßigung der Steuer für Schweinefleisch und Roggen552 Der Apotheker Ritter, der Stettin als Abgeordneter vertrat, setzte sich in den Verhandlungen des Vereinigten Landtags für diese Programmpunkte ein. Für sein Engagement in der Frage der Judenemanzipation sprach ihm die jüdische Gemeinde der Stadt später ihren Dank aus.553 Ebenfalls 1847 gründete man einen Stettiner Bürgerverein, in dem gemeinsam mit Vertretern des Magistrats kommunalpolitische Fragen, wie die Einführung von Gaslaternen, verhandelt wurden. Gleichzeitig bildete sich im Hotel du Nord mit dem so genannten Nordclub eine Lesegesellschaft,554 aus dem sich im April 1848 der demokratische Constitutionelle Club ausgründen sollte. Im gleichen Jahr wurde in Stettin vom ehemaligen Redakteur der Börsennachrichten, 551 Vgl. Priv. Stettiner Ztg., Nr. 25, 26.2.1845 bzw. Nr. 101, 22.8.1845. 552 Ebd,, Nr. 25, 26.2.1847. 553 Ebd., Nr. 82, 9.7.1847. 554 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 472.

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Wilhelm Lüders, der sich ebenfalls demokratisch positionierende Wächter an der Ostsee herausgegeben. Noch im Dezember 1847 wurde unter der Hilfestellung des englischen Freihandelsaktivisten John Prince-Smith von einer Gruppe liberaler Kaufleute die Gründung einer Ortsgruppe des Deutschen Freihandelsvereins vorangetrieben.555 Während die hier in aller Kürze aufgezählte politische Aktivität in den oberen Schichten der Stettiner Bevölkerung, im Wirtschafts- und Bildungsbürgertum, ihren Rückhalt fand, ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass auch die städtischen Unterschichten bereits vor der Revolution von 1848/49 als politischer Akteur in Erscheinung traten. Zu erheblichen Unruhen kam es schon 1831 im Zuge der Choleraepidemie. Da die rigiden Polizeivorschriften die Einnahmen der unteren Einkommensklassen schmälerten, brach am 1. September 1831 ein größerer Tumult auf, an dem sich unterbürgerliche Gesellen, Knechte und Arbeiter beteiligten. Nachdem eine Apotheke und das Haus eines Stadtverordneten geplündert worden waren, konnte nur noch der Einsatz des Stettiner Militärs die Unruhen beenden. Die verhafteten 48 vermeintlichen Rädelsführer wurden allesamt mit harten Strafen belegt.556 Bei den Subsistenzunruhen vom April 1847 bildete Stettin das pommersche Epizentrum. Manfred Gailus charakterisiert die »große Stettiner Rebellion« vom 24. April als »Leittumult« der Region.557 Die Entstehung und die folgende Dynamik des Aufruhrs lassen sich ähnlich wie bereits für Swinemünde geschildert wieder mit Thompsons Konzept der »moral economy« erklären. Der Vorfall entzündete sich am Vormittag auf dem Stettiner Markt, als eine Händlerin ein (stehlendes?) Kind geschlagen hatte. Die Menge eignete sich darauf mit Gewalt ihrer Ware an, woraus bald ein »förmlicher Tumult« entstand.558 Zwar konnte das herbeigerufene Militär die Tumultuanten vom Markt vertreiben, die aufgebrachte Menge zog jedoch darauf plündernd durch die Stadt, wobei die Läden und Wohnungen von insgesamt 31 Bäckern und zwei Kaufleuten gestürmt wurden. Erst am Nachmittag konnte das Militär den Aufruhr mit »blanker Waffe« auseinander treiben. An zwei Orten schoss es auf die Aufständischen. Am Ende stellte die Regierung einen Sachschaden von ca. 1.000 Talern fest, 24 Personen waren verwundet und 131 Unruhestifter inhaftiert worden.559 Letztere wurden mit extrem harten Strafen belegt. Das Stettiner Amtsblatt wies im Dezember 1847 eine Namensliste von 62 Verurteilten auf. 16 Personen erhielten neben Peitschenhieben ein- bis achtjährige Zuchthausstrafen. Weitere 46 Beschuldigte mussten für mehrere Wochen oder Monate eine Gefängnisstrafe antreten. 555 Vgl. Bn, Nr. 93, 6.12.1847. 556 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10422, Liste der inhaftierten Rädelsführer [1831]. 557 Vgl. Gailus, Straße u. Brot, S. 218. 558 GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. März u. April 1847, Stettin 6.5.1847. 559 Vgl. ebd.

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Interessant ist die soziale Schichtung der Verurteilten. Auf der Liste be­legen die vielen Gesellen, Lehrlinge und Arbeiter das typische soziale Profil von städtischen Subsistenzunruhen. Diese Berufsliste wird durch die Angabe der verhältnismäßig großen Zahl an gerichtlich belangten Frauen ergänzt. Insgesamt wurden 14 Frauen verurteilt, was einen weiblichen Delinquentenanteil von immerhin 22,6 % ausmacht. Mit jeweils sieben-, fünf- bzw. dreijährigen Zuchthausstrafen wurden die verehelichte Ernestine Henriette Giese, die unverehelichte Emilie Fromm und die geschiedene Dorothea Kodela am härtesten belangt.560 Auch wenn der Tumult für die Gruppe der Verurteilten massive persönliche Konsequenzen nach sich zog, bewirkte er für die städtischen Unterschichten letztlich eine Besserung der Lage. Hatten sich die Proteste gegen die als ungerecht empfundenen Preise und Geschäftsgebaren gerichtet, wurden mit der temporären Aussetzung der Mahl- und Klassensteuer bei den unteren Steuer­stufen, dem Verbot des Kartoffelexports und des Branntweinbrennens sowie dem Aufkauf von Getreide und Kartoffeln durch öffentliche Mittel Erleichterung geschaffen.561 Mit der Besetzung der Stettiner Bäckereien durch das Militär und den vom Magistrat aufgebrachten Vergütungen für die geschädigten Händler wurden zudem der Markt und damit auch die politische Lage weiter stabilisiert.562 Mit 4,04 Protestfällen je 10.000 Einwohner in den Jahren 1847 bis 1849 hatte Stettin einen höheren Protestwert als das »revolutionäre« Berlin (3,03). Selbst in absoluten Zahlen stand Stettin mit 19 Konfliktfällen unter allen untersuchten deutschen Städten auf einem der vorderen Plätze.563 Diese Daten passen nicht zu dem Bild, welches die ältere Landesgeschichte von der vermeintlich ruhigen politischen Stimmungslage in der Provinz und in Stettin gemalt hat.564 Die vergleichsweise hohe Zahl an Protestfällen wird freilich dann relativiert, wenn diese in weitere Subkategorien untergliedert wird. Mit allein sieben Unruhen für »Thron und Altar« kommt Gailus zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass Stettin abgesehen von Charlottenburg (vier von vier erhobenen Aktionen) den höchsten Anteil von »Thron und Altar«-Unruhen aller Städte aufwies.565 Die Revolution von 1848/49 fand also in Stettin ein äußerst vielschichtiges Echo. Sowohl in den Vereinen der Oberschicht als auch auf der Straße bei den unteren Schichten standen sich bald Gegner und Befürworter der Revolution in fast gleicher Stärke und in ähnlicher Vehemenz gegenüber. 560 Vgl. Amtsbl. Stettin, Nr. 52, 24.12.1847. 561 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. März u. April 1847, Stettin 6.5.1847. 562 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3764, Öffentliche Bekanntmachung des Oberbürgermeisters u. Rats der Stadt Stettin, Stettin 25.4.1847. 563 Vgl. Gailus, Straße u. Brot, S. 94. In absoluten Zahlen stand Berlin mit 125 erfassten Fällen an erster Stelle. Münster, Düsseldorf und Darmstadt führten die Liste mit 7,2, 6,92 u. 6,67 Fällen je 10.000 Einwohner an. 564 Vgl. wiederum verharmlosend Wehrmann, Stettin, S. 472–475. 565 Vgl. Gailus, Straße u. Brot, S. 131.

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Die Dynamik der Ereignisse vom März 1848 wurde in der Stettiner Öffentlichkeit mit regem Interesse aufgenommen. In den ersten Märztagen zirkulierte auch in Stettin eine Petition mit den typischen Märzforderungen. Diese wurde am 13. März in einer von 800 bis 900 Personen besuchten politischen Versammlung im Saal des Schützenhauses vorgestellt.566 Am folgenden Tag beschloss die Stadtverordnetenversammlung in einer öffentlichen Sitzung in der Aula des Gymnasiums mit 50:8 Stimmen, den Monarchen zur sofortigen Einberufung des Vereinigten Landtags aufzufordern.567 Im Gegensatz zu den frühen Unruhen auf dem platten Land blieb es in ­Stettin nach dem 18. März vorerst ruhig. Die lokalen Zeitungen riefen die Bevölkerung zum Schutz des Eigentums und zu grundsätzlicher Besonnenheit auf.568 Am 21.  März verabschiedete die Stadtverordnetenversammlung eine vom Stadt­verordneten Julius Gierke entworfene Petition, die sich ausdrücklich für die Monarchie und gegen republikanische Experimente aussprach.569 Während dem Stettiner Militär vom kommandierenden General von Wrangel Zurückhaltung auferlegt wurde, führte die städtische Bürgerwehr bald bewaffnete ­Patrouillen durch. Am 23. März wurde Stettin schließlich feierlich illuminiert und das Rathaus, das Schloss sowie das Palais Wrangels mit schwarz-rot-goldenen Fahnen geschmückt. Anders als in manchen der pommerschen Nachbarstädte verlief der Abend ohne jede Störung.570 Dass am 3. April eine Gruppe Berliner Studenten, welche die schwarz-rot-goldene Kokarde zur Schau trugen, von einigen jungen Männern angegriffen wurde, verbuchte die Ostseezeitung noch als Einzelfall. Sie wies freilich darauf hin, dass die Täter »auf Zureden von Männern aus den gebildeten Ständen« gehandelt hätten und gab damit indirekt das Vorhandensein einer gegenrevolutionären Partei in Stettin zu.571 Im April 1848 bildete sich in Stettin ein umfassendes politisches Vereins­ wesen heraus. Den Anfang machte am 10. April der gemäßigt demokratische Constitutionelle Club, der unter der Führung des Magistratsmitglieds Paul Sternberg und des Redakteurs R. H. Maron im Hotel du Nord gegründet wurde. Drei Tage später rief im Hotel du Prusse der Direktor des Stettiner Gymna­ siums, Karl Gottfried Scheibert, dessen gemäßigt konservatives Gegenstück, den Konstitutionellen Verein, ins Leben.572 Beide Vereine traten für eine konstitutionelle Monarchie mit partizipativen Rechten des Volkes sowie für die Schaffung eines einheitlichen Deutschlands ein. Der Konstitutionelle Verein betonte in seinem Gründungsaufruf allerdings stärker seine Treue zu Preußen und zum Haus Hohenzollern. Zudem äußerte Scheibert deutliche Skepsis 566 Vgl. Kornow, S. 61. 567 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3765, Stadtrat an Oberpräsident v. Bonin, Stettin 15.3.1848. 568 Vgl. etwa Bn, Nr. 23 vom 20.3.1848 u. das Stettiner Intelligenzbl., Nr. 69, 22.3.1848. 569 Vgl. Bn, Nr. 23, 20.3.1848. 570 Vgl. ebd., Nr. 24, 24.3.1848. 571 Vgl. OZ, Nr. 28, 4.4.1848. 572 Vgl. Stępiński, Stowarzyszenia liberalne i demokratyczne, S. 268 u. S. 275.

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gegenüber der revolutionären Dynamik der letzten Wochen.573 Ebenfalls noch im April folgte die Gründung des sich politisch in der Mitte zwischen dem Club und dem Verein positionierenden Patriotischen Clubs. In diesem waren mit den Stadt­verordneten Julius Gierke (seit Mai Abgeordneter in der preußischen Nationalversammlung), Franz Hessenland und Gustav Robert Triest, dem Lehrer Wilhelm Kleinsorge und dem Regierungsrat Carl Zitelmann gleich mehrere wichtige Akteure des vormärzlichen Stettiner Liberalismus vertreten. Während die Mitgliedschaft dieser drei Assoziationen vorerst auf Honoratioren des gehobenen Bürgertums beschränkt blieb, konstituierte sich unterstützt von Anhängern des Constitutionellen und des Patriotischen Clubs noch am 19. April mit dem Volksverein eine Assoziation, die ein breiteres soziales Profil aufwies. Der Anlass für diese Gründung war eine Arbeiterversammlung, die ein Kaufmann gemeinsam mit den Vorständen des örtlichen Handwerkervereins, einem Malergehilfen und einem Schuhmachergesellen, wegen der kommenden Wahlen angemeldet hatte. Laut Polizeibericht versammelten sich zwischen 1.500 und 2.000 Personen »aller Stände«. Als Redner traten die beiden Lehrer der Friedrich-Wilhelm-Schule Kleinsorge und Jungklas sowie ein bereits bei den Un­ ruhen von 1847 inhaftierter, jedoch später amnestierter Sprachlehrer auf. Inhaltlich gingen die Redner einerseits auf das Procedere der Wahlen, andererseits aber auch auf Fragen der Steuerverfassung und den Krieg gegen Dänemark ein. Die Forderung eines Arbeiters, Personen, die vom platten Land zuzögen, einen Arbeitsplatz in Stettin zu verweigern, wurde von den Rednern unter dem Verweis, dass die Anwesenden doch zumeist auch keine ursprünglichen Stettiner seien, abgelehnt.574 Bis weit in das Jahr 1849 hinein traf sich der Volksverein im wöchent­lichen bzw. zweiwöchentlichen Abstand. Zwar kamen auf den Veranstaltungen immer wieder verschiedene Handwerker, darunter als wichtigster der Schuhmacher Frank Schultz, als Redner zu Wort, mit den Ärzten Georg Wald, Heinrich Plessner und Georg Scharlau, den Lehrern Karl Ludwig Stahr, Friedrich Mantey und Carl Brunnemann, den beiden Verlegern Adolf Altvater und Wilhelm Lüders sowie dem Regierungsrat Zitelmann dominierten jedoch Vertreter des Bildungsbürgertums die Versammlungen.575 Der Volksverein verstand sich demnach auch immer als Bildungsverein, auf dessen regelmäßig von mehreren hundert Teilnehmern besuchten Sitzungen neben allgemeinen politischen Fragen auch soziale Themen behandelt wurden. Von allen Stettiner Assoziationen positionierte sich der Volksverein bereits im Sommer 1848 am deutlichsten auf der linken Seite des politischen Spektrums. Nach den Wahlen vom 1. Mai sprach sich eine Versammlung für die Bei­

573 Vgl. OZ, Nr. 36, 14.4.1848. 574 Vgl. APS, NPPP, Nr.  3765, Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 20.4.1848 u. OZ, Nr.  40, 20.4.1848. 575 Vgl. Stępiński, Stowarzyszenia liberalne i demokratyczne, S. 276.

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behaltung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts aus.576 Der Ende Mai vorgelegte Ministerentwurf der preußischen Verfassung wurde als »mangelhafte Copie der belgischen Verfassung« abgelehnt.577 Bei den Diskussionen um ein potentielles Vetorecht des Monarchen befürworteten die Redner mehrheitlich ein suspensives Veto. Einige Teilnehmer sprachen sich sogar gegen die Aufnahme jedweder Vetoregelungen aus.578 Der Volksverein plädierte seit dem Sommer 1848 deutlich für die Einführung einer parlamentarischen Monarchie. Die Frage der Gewerbefreiheit wurde ebenfalls heiß diskutiert. Dass sich hierbei die Verteidiger der Gewerbefreiheit durchsetzten,579 unterstreicht noch einmal den Einfluss des gehobenen Bürgertums in den Versammlungen. Die Thematisierung sozialer Fragen im Volksverein konnte das Aufbrechen von Unterschichtenprotesten in der Stadt freilich nicht gänzlich verhindern. Am Wahltag versammelten sich die Tischler-, Schneider-, Böttcher-, Schlosser- und Schiffszimmerergesellen der Stadt in ihren Herbergen und zogen mit der Forderung nach höheren Löhnen geschlossen zum Oberbürgermeister. Nach dem Ende des Protestzugs wurden mehrere Möbelhändler gezwungen, ihre Werbeschilder zu überstreichen. Händlern, die sich weigerten, hierfür ihre Geschäfte zu öffnen, wurden die Türen aufgebrochen und einzelne Möbel demoliert. Letztlich musste die Bürgerwehr mit aufgepflanztem Bajonett einschreiten. Rund 60  Gesellen wurden verhaftet,580 33 der Tumultuanten wurden im November 1848 zu teilweise mehrjährigen Zuchthausstrafen verurteilt.581 Nach den Unruhen versuchten die Stettiner Gesellen, ihre Ziele politisch zu artikulieren. An den Berliner Arbeiterkongressen im Juni, August und September 1848 nahmen auch Delegierte aus Stettin teil.582 1849 konnte sogar bis zum 1850 erfolgten Verbot ein Allgemeines Pommersches Arbeiterblatt der Vereinigten Stettiner Gesellen-Brüderschaften erscheinen. Offene Gewalt brach erst wieder infolge des Thronfolgerbesuchs am 2. August 1848 in Stettin aus. Der »Kartätschenprinz« Wilhelm hatte wie alle preußischen Thronfolger aufgrund seines seit 1841 bestehenden symbolischen Amts der pommerschen Statthalterschaft eine besondere Beziehung zu Stadt und Provinz.583 Aufgrund seines durchaus positiven Empfangs, der deutlich das 576 Vgl. OZ, Nr. 51, 9.5.1848. 577 Vgl. OZ, Nr. 70, 7.6.1848. 578 Vgl. OZ, Nr. 113, 31.7.1848. 579 Vgl. ebd. 580 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3765, Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 5.5.1848. 581 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 5.11.1848. 582 Vgl. Dowe u. Offermann, S. 42 u. S. 249. Siehe auch Matull, S. 235 u. Stamp, S. 21. 583 Von Friedrich Wilhelm II. bis Friedrich III. übten alle preuß. Kronprinzen das Statthalteramt aus. Nach dem Tod Friedrichs III. geriet es in Vergessenheit, bis 1911 Prinz Eitel Friedrich das Amt übernahm. Vgl. APS, NPPP, Nr. 566, Historisches Gutachten des König­lichen Staastarchivs über die pom. Statthalterschaft, Berlin 31.5.1902 u. der Schriftverkehr, in dem sich der Oberpräsident Helmuth Freiherr v. Maltzahn für eine schnelle Neubesetzung aussprach.

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Wachsen der gegenrevolutionären Partei unterstrich, sahen sich der Volksverein und der Constitutionelle Club ebenfalls zu einer Machtdemonstration veranlasst. In Dutzenden von Maueranschlägen kündigten die beiden demokratischen Vereine an, eine gemeinsame Lustfahrt auf der Oder organisieren zu wollen. Als diese Plakate wiederholt von der gegenrevolutionären Partei abgerissen wurden, entwickelten sich vielerorts kleinere und größere Händeleien. Als »Schlachtgesang« diente hierbei den Demokraten Ernst Moritz Arndts Lied »Was ist des Deutschen Vaterland«, während die Gegenpartei »Heil Dir im Siegerkranz« und das »Preußenlied« skandierte.584 Noch am 4. August zog außerdem eine größere Menschenmenge zum Schloss, wo sie dem anwesenden Thronfolger Wilhelm ebenfalls »Was ist des Deutschen Vaterland« zum Ständchen brachte.585 Die Gegenpartei revanchierte sich mit Katzenmusik vor den Häusern erklärter Demokraten.586 Die Einziehung einer schwarz-rot-goldenen Fahne durch den Kommandeur der Stettiner Bürgerwehr sorgte für eine weitere Eskalation der Lage.587 Nach diesen Ereignissen begann sich das Stettiner Parteiwesen neu zu formieren. Der Volksverein demonstrierte auf der am 7.  August stattfindenden Lustfahrt, an der sich rund 800 Teilnehmer und Teilnehmerinnen mit den deutschen Farben beteiligten, sichtbare Stärke.588 Gleichzeitig zeigte jedoch auch die gegenrevolutionäre Partei öffentliche Präsenz. Bereits im Juli waren die kon­ stitutionellen und konservativen Vereine der Provinz in Stettin zu einem Koordinierungstreffen zusammengetreten.589 Am 24. Juli fand in Stettin diejenige Gutsbesitzerversammlung statt, welche sich als Verein zur Wahrung der Rechte der Grundbesitzer konstituierte590 und aus der einen Monat später in Berlin das so genannte »Junkerparlament« hervorgehen sollte. Infolge der Erstarkung der gegenrevolutionären Partei rückte der Constitutionelle Club noch enger mit dem Volksverein zusammen. Den Anschluss an den demokratischen Frankfurter Zentralausschuss lehnte der Volksverein freilich noch im August 1848 mit der Begründung ab, dass jener »offen die Republik anstrebe, während sich [dieser] nur für die constitutionell-demokratische Monarchie erklärt habe«.591 Bis Oktober polarisierte sich die Stettiner Bevölkerung deutlich in den zwei sich feindlich gegenüberstehenden Lagern der Demokraten und der gemäßigt konservativen Konstitutionellen. Am 24. Oktober musste deshalb die Gründung eines Stettiner Bürgerwehrclubs verschoben werden, denn die versammelten Mitglieder konnten sich über die parteipolitische 584 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 6.8.1848. 585 Vgl. OZ, Nr. 118, 5.8.1848. 586 Vgl. etwa OZ, Nr. 119, 6.8.1848. 587 Vgl. hierzu OZ, Nr.  119, 7.8.1848 u. den darauf folgenden Protest des Constitutionellen Clubs in der OZ, Nr. 123, 11.8.1848. 588 Vgl. OZ, Nr. 118, 5.8.1848. 589 Vgl. OZ, Nr. 96, 11.7.1848. 590 Vgl. Klatte, S. 231 f. 591 Vgl. OZ, Nr. 129, 18.8.1848.

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Zusammensetzung des Vorstands nicht einigen.592 Während Ende Oktober nun doch Friedrich Mantey, Wilhelm Lüders und Georg Wald als Delegierte des sich inzwischen in drei Ortsgruppen gliedernden Volksvereins am zweiten Demokratenkongress im von Tumulten erschütterten Berlin teilnahmen,593 brachen auch in Stettin wieder Gewalttätigkeiten aus. Am 29. Oktober wurde eine demokratische Versammlung von anwesenden Soldaten auseinandergetrieben, zwei Tage später fand in der Stadt eine größere Schlägerei zwischen Gymnasiasten und Stettiner Militär statt.594 Der Konflikt zwischen der Nationalversammlung und der Regierung Brandenburg sorgte schließlich am 9. November für die Bildung eines gemeinsamen Ausschusses aller demokratischen Vereine Stettins. Die Vorstände des Volksvereins, des Constitutionellen und des Patriotischen Clubs sprachen der Regierung das Recht ab, die Nationalversammlung gegen ihren Willen zu verlegen.595 Am 12. November erklärten sich neben dem unter der Führung des Schulreferendars Theodor Schmidt stehenden Stettiner Zentralausschuss der demokra­tischen Vereine auch der Magistrat, die Stadtverordnetenversammlung, die Kaufmannschaft und die Bürgerwehr mit der Nationalversammlung solidarisch.596 Wie anderswo in Preußen wendete sich allerdings spätestens mit dem Steuer­ verweigerungsbeschluss auch in Stettin die Stimmung gegen die Nationalversammlung. Am 16. November bestätigten der Magistrat mit acht gegen vier und die Stadtverordnetenversammlung mit 27 gegen 23 Stimmen zwar noch einmal ihre Kritik an der Verlegung, gleichzeitig verurteilte sie jedoch die »aggressiven Übergriffe« der Nationalversammlung und forderte diese auf, »allen republikanischen Tendenzen mit Kraft zu begegnen«.597 Zugleich gingen in den lokalen Zeitungen diverse Einsendungen ein, in denen sich einzelne Bürgerwehroffiziere gegen die Nationalversammlung erklärten.598 Und am 21. November mussten die Anhänger der Demokraten schließlich sogar der Presse die von 21 Stadtverordneten unterzeichnete vollständige Distanzierung von ihrem früheren Solidaritätsbeschluss entnehmen.599 Infolge dieses Stimmungswechsels zerbrach die gerade erst geschmiedete Einheitsfront der demokratischen Vereine. Zwischen dem 17. und 20. November löste sich der Patriotische Club auf, dessen Mitglieder sich laut Auffassung der Ostseezeitung sowieso in den letzten Wochen entweder dem demokratischen Constitutionellen Club oder dem gemäßigt konservativen Konstitutionellen Ver-

592 Vgl. OZ, Nr.  186, 24.10.1848. Der Bürgerwehrclub konnte sich eine Woche später unter einem explizit moderaten Vorstand bilden. 593 Vgl. Stępiński, Stowarzyszenia liberalne i demokratyczne, S. 300. 594 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 9.11.1848. 595 Vgl. OZ, Nr. 201, 10.11.1848. 596 Vgl. ebd., Nr. 203, 13.11.1848. 597 Vgl. ebd., Nr. 207, 17.11.1848. 598 Vgl. ebd., Nr. 203, 13.11.1848. 599 Vgl. ebd., Nr. 210, 22.11.1848.

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ein angenähert hätten.600 Stattdessen verzeichneten die konstitutionell bzw. konservativ einzuschätzenden Vereine einen Mitgliederanstieg. Nach der Oktroyierung der Verfassung wurde zur Abwehr aller »revolutionären und anarchischen Bestrebungen, welche die heiligen Interessen unseres Vaterlandes und die sittlichen Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens bedrohen«, zur Gründung eines neuen Patriotischen Kriegervereins aufgerufen. Rund 100 Personen folgten am 7. Januar 1849 dem Appell. Ende des Jahres umfasste dieser vom Oberpräsidenten von Bonin unterstützte Verein über 1.200 Stettiner Mitglieder.601 Während die Konservativen Oberwasser bekamen, wirkte die demokratische Partei angesichts der deutlichen Machtverschiebung wie paralysiert. Als sich am 29.  November 1848 die Stettiner Demokraten weigerten, ihre Fenster zu illuminieren, wurden ihnen die Scheiben eingeworfen. Der Lithograph Gentzensohn musste sich nach dem Abdruck einer militärkritischen Karikatur mit der blanken Waffe eines Überfalls von Landwehrangehörigen erwehren.602 Obwohl sich die Ostseezeitung nach einer vorsichtigen Detailkritik am Verfassungstext selbst Zurückhaltung in der Kommentierung der neuen politischen Lage auferlegte,603 bedauerte sie im Dezember 1848 dennoch, dass nun die liberale Partei überall »kleinlaut« die Köpfe hängen ließe.604 Der Volksverein und der Constitutionelle Club konnten zwar im Vorfeld der Wahlen noch einmal ein Comité für die Wahl freisinniger Deputierter in Pommern bilden, bei den Wahlen zur zweiten Kammer setzten sich jedoch nur noch 64 demokratische Wahlmänner durch. Demgegenüber erzielten die gemeinsamen Bemühungen der konstitutionellen und konservativen Vereine mit 112 Wahlmännern ein doppelt so hohes Ergebnis.605 Bei den folgenden Wahlen zur ersten Kammer fiel das Ergebnis der Demokraten noch dramatischer aus.606 Die konservativ-konstitutionelle Norddeutsche Zeitung erklärte den Erfolg süffisant damit, dass einer Vielzahl der den Demokraten nahe stehenden ärmeren Bürgern die Teilnahme an der Wahl aufgrund des Vermögenszensus verweigert worden war.607 Das inzwischen gebildete Hauptkomitee der demokratischen Vereine Stettins sah sich auch im weiteren Verlauf des Jahres 1849 in der Defensive. Einen geplanten Festumzug zur Jahresfeier der Revolution im März untersagte der Magistrat. In einer geschlossenen Veranstaltung boten die Demokraten aber immerhin noch einmal rund 2.000 Teilnehmer auf.608 Während der Constitu600 Vgl. ebd., Nr. 209, 20.11.1848. 601 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3662, Bericht des Patriotischen Kriegervereins, Stettin 1855. 602 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10423, Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 30.11.1848. 603 Vgl. OZ, Nr. 226, 9.12.1848. 604 Vgl. ebd., Nr. 236, 21.12.1848. 605 Vgl. Ndt. Ztg., Nr. 19, 23.1.1849. Ausführlich Stępiński, Stowarzyszenia liberalne i demokratyczne, S. 308 f. 606 Vgl. ebd., S. 312. 607 Vgl. Ndt. Ztg., Nr. 24, 29.1.1849. 608 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10489, Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 20.3.1849.

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tionelle Club offensichtlich im Frühjahr 1849 im Volksverein aufging, versuchte dieser weiterhin regelmäßige Versammlungen durchzuführen. Spätestens nach der Auflösung der zweiten Kammer am 27. April 1849 gingen jedoch auch die Aktivitäten des Volksvereins zurück. Laut Polizeibericht traten auf der Sitzung vom 14. Juni, auf der ein Boykott der neuen unter den Bedingungen des Dreiklassenwahlrecht durchgeführten Wahlen beschlossen wurde, nur noch rund 200 Personen zusammen.609 Ein Großteil der demokratischen Führer hatte sich schon Ende April 1849 in die innere Emigration zurückgezogen. Der Lehrer Carl Brunnemann, der bereits im Dezember 1848 vom Dienst suspendiert worden war, gehörte zu den wenigen Pommern, die an den Kämpfen für die Reichsverfassung teilnahmen, deshalb jedoch als lokale Führungsfiguren ausfielen.610 Die letzte größere Kundgebung des Stettiner Volksvereins in den Revolutionsjahren 1848/49 fand schließlich am 9. November 1849 statt. Zum Totengedenken an Robert Blum versammelten sich noch einmal 600 bis 700 Personen. Darunter befand sich die verhältnismäßig hohe Zahl von rund 150 Frauen,611 was einen frühen Beleg für den bald einsetzenden Blum-Kult der Demokraten darstellt. In den beiden Revolutionsjahren 1848/49 wird vor allem die gewaltige Politi­ sierung der Stettiner Bevölkerung deutlich. Gleich mehrere hundert Bürger organisierten sich in den frühzeitig gebildeten politischen Vereinen und drückten damit ihr seit dem Vormärz gewachsenes zivilgesellschaftliches Bewusstsein aus. Die Führungsfiguren dieser Vereine rekrutierten sich mehrheitlich aus dem Bildungsbürgertum oder in Teilen bei den Demokraten aus dem Handwerkstand. Wurde der vormärzliche Stettiner Liberalismus weitgehend von der örtlichen Kaufmannschaft geprägt, hielt sich diese in der Revolution bei der Besetzung von parteipolitischen Ämtern weitestgehend zurück. Stattdessen konzentrierten sich weite Teile der Stettiner Kaufmannschaft frühzeitig auf die Behandlung wirtschaftspolitischer Fragen, was sich in der etwa vom Stettiner Freihandelsverein angeregten Gründung des deutschlandweiten Zentralbunds für Handelsfreiheit ausdrückte.612 Zwar erklärte sich die Kaufmannschaft wie auch weite Teile der Stettiner Öffentlichkeit noch am 12. November 1848 mit der preußischen Nationalversammlung solidarisch. Die auch bei den Demokraten zumeist klar vertretene antirepublikanische Gesinnung bewirkte jedoch spätestens nach dem Steuerverweigerungsbeschluss einen Stimmungsumschwung zugunsten der Gegenrevolution. Vor die scheinbar klare Wahl zwischen Monarch und Parlament gestellt, entschied sich die Stettiner Bevölkerungsmehrheit für den Monarchen, während diese Fragestellung einen erheblichen Teil der demokratischen Partei quasi aus Gewissensnot gänzlich paralysierte. Die starke militärische Präsenz in Stettin und die Angst vor weiteren Unterschichtenprotesten 609 Vgl. ebd., Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 15.6.1849. 610 Vgl. APS, KSPP, Nr. 100, Schulrat Graßmann an preuß. Innenministerium, Stettin 21.8.1849. 611 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10489, Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 10.11.1849. 612 Vgl. Best, S. 232. Initiator war wieder John Prince-Smith.

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tat ihr Übriges dazu, dass sich bei den Wahlen der Jahre 1849/50 gemäßigt konservative Kandidaten durchsetzten. Als Besonderheit Stettins gegenüber den anderen preußischen Großstädten ist also die starke monarchische und preußenpatriotische Gesinnung fest­ zuhalten, die eben auch im demokratischen Lager mehrheitlich vorherrschte. Dieser Preußenpatriotismus verursachte vermutlich auch im gemäßigt konservativen Lager des Stettiner Bürgertums die seit dem Sommer 1848 immer intensiver werdende Zusammenarbeit zwischen dem bürgerlich geprägten Konstitutionellen Verein und den agrarisch geprägten Hochkonservativen. Zwar galt der örtliche Führer des Konstitutionellen Vereins, Karl Gottfried Scheibert, bis zu seinem Tod als Mann »gut deutscher Gesinnung«.613 Offensichtlich brachte ihn jedoch im Erfurter Unionsparlament die Befürchtung, dass Preußen in einem deutschen Bundesstaat mediatisiert würde, dazu, seinen Platz neben Hochkonservativen wie Kleist-Retzow, Gerlach, Stahl und Bismarck in der Fraktion Schlehdorn zu suchen. Mit der Umstellung der demokratischen Neuen Stettiner Zeitung auf eine wöchent­liche Erscheinungsweise614 und der nach dem Erlass des Dreiklassenwahlrechts »fast durchgehend im conservativen Sinne ausgefallenen Neuwahl[] der hiesigen Stadtverordneten«615 musste das demokratische Lager Stettins zwar 1850 weitere Niederlagen hinnehmen. Im Gegensatz zur Entwicklung auf dem platten Land überlebte die demokratische Partei in Stettin jedoch die Reaktionszeit. Wenn auch der Volksverein inzwischen aufgelöst worden war, belegte im Frühjahr 1850 der öffentliche Aufruf mehrerer Stettiner Bürger zur Unterstützung »der im Schweizer Exil lebenden deutschen Demokraten« das Vorhandensein der demokratischen Opposition.616 Organisatorisch sammelte sich diese in dem aus dem Handwerkerverein ausgegliederten, im Jahre 1851 80 Mitglieder zählenden Bildungsverein, dem Verein der Wasserfreunde617 und dem noch bis 1853 existierenden Gutenbergverein der Buchdrucker.618 Weiter stellte neben den jüngeren säkularen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde die 1850 gebildete Freie Gemeinde Stettiner Dissidenten ein Sammelbecken oppositioneller Kräfte dar.619 Nachdem diese mehrfach ungenehmigte politische Versammlungen für 613 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 476. Siehe auch das Bekenntnis zu einem einheitlichen Deutschland durch Scheibert bei der Gründung des Konstitutionellen Vereins in der OZ, Nr. 36, 14.4.1848 u. die positive Beurteilung der Unionspolitik durch die Ndt. Ztg., Nr.  350 13.9.1849. 614 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. Nov. u. Dez. 1849, Stettin 5.1.1850. 615 Vgl. ebd., Ztgsb. März u. April 1850, Stettin 6.5.1850. 616 Vgl. ebd., Ztgsb. Jan. u. Feb. 1850, Stettin 6.3.1850. 617 Vgl. APS, NPPP, Nr. 1713, Oberbürgermeister Hering an Oberpräsident v. Bonin, Stettin 10.3.1851. 618 Vgl. ebd., Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 20.7.1853. 619 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16043, Ztgsb. März u. April 1850, Stettin 6.5.1850.

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den niederen Handwerkerstand organisiert hatte, ließ die städtische Polizei­ direktion die Gemeinde am 30. Juni 1852 auflösen.620 Erst eineinhalb Jahre später gestattete man ihr wieder, sich zu versammeln.621 Aufgrund der rigiden Vereinsgesetzgebung löste sich in der Reaktionszeit auch der konservative Konstitutionelle Verein auf. Die konstitutionelle Norddeutsche Zeitung scheiterte, wie bereits geschildert, in den fünfziger Jahren an den internen Auseinandersetzungen der konservativen Partei. Auch die Mitgliederzahl des patriotischen Kriegervereins ging in der Zeit von 1849 bis 1857 von einst 1.200 auf 860 zurück.622 Dagegen stieg die Mitgliederzahl sozialer und christlicher Vereine wie des Gustav-Adolph-Vereins an.623 Die der Einführung des Dreiklassenwahlrechts folgende liberal-konser­vative Dominanz der Stettiner Stadtverordnetenversammlung wirkte sich auf die Modernisierung des Schulwesens und den Ausbau der Infrastruktur der Stadt und des umliegenden Randower Kreises nicht negativ aus. Die weiter wachsenden Einnahmen der Stadt ermöglichten stattdessen einen erheblichen Investitionsspielraum, der in der Regel auch genutzt wurde. Mit der 1848 erfolgten Ein­f ührung der öffentlichen Gasbeleuchtung ging Stettin schon frühzeitig zur Leistungsverwaltung über.624 Die erneute Erklärung Stettins zum eigenen Stadtkreis im Jahr 1857 schaltete zudem schon vor der Reform der Kreisordnung den Einfluss der ländlichen Rittergutsbesitzer des Randower Kreises auf die Behandlung kommunalpolitischer Fragen aus. Seitdem Stettin 1854 einen eigenen Vertreter für das preußische Herrenhaus benennen konnte und die Stadt 1861 einen eigenen Wahlkreis für das preußische Abgeordnetenhaus bildete,625 konnten städtische Interessen auch in diesen beiden Gremien wieder gezielter vertreten werden. Mit dem Beginn der »Neuen Ära« fand eine Repolitisierung der Stettiner Öffentlichkeit statt. Nur wenige Wochen nach der Eisenacher Erklärung des Deutschen Nationalvereins vom 14.  August 1859, in der ein einheitliches Deutschland unter der Führung Preußens gefordert worden war, verabschiedete eine Mehrheit der Stettiner Stadtverordnetenversammlung eine ähnlich lautende Petition.626 Die zurückhaltend formulierte Antwort des Regenten Wilhelm und der Beginn des preußischen Verfassungskonflikts ließen seit 1861 die DFP zu einer veritablen politischen Kraft anwachsen.627 Unterstützt von der mehrheit620 Vgl. GStAPK, I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16044, Ztgsb. Jan. u. Feb. 1852, Stettin 6.3.1852 bzw. Ztgsb. Mai u. Juni 1852, Stettin 6.7.1852. 621 Vgl. ebd., Ztgsb. Nov. u. Dez. 1853, Stettin 5.1.1854. 622 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3662, Bericht des patriotischen Kriegervereins für 1856, Stettin 1857. 623 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16044, Ztgsb. Mai u. Juni 1852, Stettin 6.7.1852. 624 Vgl. Fenske, S. 57 f. 625 Vgl. Wehrmann, Stettin, S. 476 f. 626 Vgl. ebd., S. 477 f. 627 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16045, Ztgsb. Mai u. Juni 1861, Stettin 6.7.1861.

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lich liberal gesinnten Stettiner Presse und der örtlichen Kaufmannschaft wurde in den Wahlen der Jahre 1862 bis 1866 regelmäßig der in Stettin bereits seit 1847 bekannte Freihandelsaktivist John Prince-Smith zum Abgeordneten gewählt. Trotz »alle[r] Bemühungen der Regierungsorgane« konnten diese die in ihren Augen »traurigen Ergebnisse der Wahlen« nicht verhindern.628 Zwar distanzierte sich Prince-Smith im Verfassungskonflikt vom radikalen Flügel der DFP,629 diese versammelte jedoch im Verfassungskonflikt erstmals seit der Revolution von 1848/49 wieder mehrere tausend Stettiner zu politischen Kundgebungen.630 Freilich zeigten der preußisch-österreichische Krieg, die Annahme der Indemnitätsvorlage und die schließlich folgende Spaltung der DFP auch in S­ tettin Folgen. Bei den Wahlen zum Preußischen Abgeordnetenhaus und den ersten Wahlen zum Norddeutschen Reichstag im Jahr 1867 setzten sich jeweils die beiden Kandidaten der NLP, Eduard Lasker und der Berliner Redakteur Otto Michaelis, durch. Da die Gewählten jedoch Mandate anderer Wahlkreise annahmen, konnten die Ersatzwahlen wieder von Kandidaten der DFP entschieden werden. Bei den Reichstagswahlen besiegte der Berliner Konsul Gustav Müller mit 2.005 Stimmen den nunmehr als »gemäßigter« Liberaler kandidierenden John Prince-Smith (1.271 Stimmen) und den für die gouvernementalen Konservativen antretenden Handelsminister Heinrich Graf von Itzenplitz (775 Stimmen).631 Bei den Abgeordnetenhauswahlen eroberte der bereits 1848 als Vorsitzender des Zentralausschuss der demokratischen Vereine Stettins hervorgetretene Oberlehrer Theodor Schmidt das Mandat gegen den früheren konservativen Oberbürgermeister Hering sowie einen Verlegenheitskandidaten der NLP.632 Die in den sechziger Jahren erfolgende Repolitisierung der Stettiner Öffentlichkeit hielt auch nach der Reichsgründung an. Sowohl im Vereinswesen als auch in der Ausbildung des modernen Parteiwesen war die Stadt Stettin die deutliche Vorreiterin und teilweise die Initiatorin der weiteren zivilgesellschaftlichen Durchdringung der Provinz. Im preußischen Abgeordnetenhaus wurde Stettin bis zum Ende der Monarchie von lediglich drei als gemäßigt links­liberal einzuordnenden Kandidaten vertreten. Theodor Schmidt konnte bis zu seinem Tod im Jahr 1887 bei allen Wahlen mehr als 90 % der Stettiner Wahl­ männerstimmen auf sich vereinen. Hierbei half ihm sicherlich seine bis 1879 aufrecht gehaltene Verweigerung, sich explizit zu einer der liberalen Fraktionen 628 Vgl. ebd., Ztgsb. März u. April 1862, Stettin 6.5.1862. 629 Vgl. hierzu ausführlich Raico, S. 341–351. 630 Vgl. etwa den Bericht über eine am 29.3.1866 von 3.000 Personen besuchte Volksversammlung, die sich solidarisch mit der liberalen Parlamentsmehrheit erklärte, in der Pom. Ztg., 30.3.1866. Siehe auch GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16046, Ztgsb. März u. April 1866, Stettin 7.5.1866. 631 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 1826, Die Ergebnisse zu den Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes [Feb. 1867]. 632 Vgl. Kühne, Handbuch, S. 243 f.

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zu bekennen. Als Vertreter der wirtschaftsliberalen Stettiner Kaufmannschaft schloss er sich freilich mit dem Beginn der Schutzzollpolitik der DFP an, ehe er 1882 zur Liberalen Vereinigung bzw. 1884 zur neu gebildeten Deutsch-Freisinnigen Partei wechselte.633 Schmidts Nachfolger, Max Broemel, zählte als Chefredakteur der Berliner Freisinnigen Zeitung zu einem der maßgeblichen Programmatiker der Deutsch-Freisinnigen Partei.634 Wie die überwiegende Mehrheit des Stettiner Liberalen Wahlvereins schloss er sich 1893 der Freisinnigen Vereinigung an, die der früheren Liberalen Vereinigung nicht nur programmatisch, sondern auch personell ähnelte. Die linke Minderheit des Wahlvereins konstituierte sich noch im selben Jahr als Ortsgruppe der Freisinnigen Volkspartei. Diese blieb freilich bei den Wahlen erfolglos.635 Aufgrund der Bevorteilung der sich deutlich als freisinnig positionierenden wohlhabenden Kaufmannschaft durch das Dreiklassenwahlrecht konnten die anderen Parteien bei den Abgeordnetenhauswahlen kaum Wahlmännerstimmen auf sich vereinen. Lediglich 1887 und 1888 erzielte der nationalliberale Stettiner Justizrat Leistikow Achtungserfolge. Die Kartellparteien hatten den Rechtsanwalt aus wahltaktischen Gründen aufgestellt, obwohl die NLP im Gegensatz zur DkP organisatorisch in Stettin kaum präsent war. Schließlich wagte nach 1903 auch die SPD eigene Kandidaturen. Diese konnte jedoch ähnlich wie die Kartellparteien Ende der achtziger Jahre jeweils nur zwischen einem Fünftel und einem Drittel der Wahlmännerstimmen auf sich vereinen.636 Trotz der klaren Machtverhältnisse zugunsten der gemäßigten Freisinnigen belegt die verhältnismäßige hohe Wahlbeteiligung im Stettiner Wahlkreis das gewachsene Partizipationsinteresse der Stadtbevölkerung. 1893 lag die Wahlbeteiligung mit 13,6 % immerhin um zwei Prozentpunkte höher als im Provinzdurchschnitt. 1903 beteiligten sich mit 25,4 % mehr als doppelt so viele Bürger wie im Rest der Provinz und lag somit auch über den gesamtpreußischen Durchschnitt (Wbtlg. in Pommern: 13 %, in ganz Preußen: 23,6 %).637 Die Stettiner Reichstagswahlergebnisse fielen aufgrund des gleichen Männerwahlrechts differenzierter aus. Zwischen 1871 und 1878 wurde der Wahlkreis ebenfalls von Theodor Schmidt vertreten. Bemerkenswerterweise stellte die Sozialdemokratie bereits zur Reichstagswahl von 1871 einen eigenen Kandidaten auf. 1874 erhielt der Rostocker Zimmergeselle August Kapell als Kandidat des ADAV immerhin 2.166 Stimmen, während Schmidt 6.078 Stimm­zettel auf sich vereinen konnte. 1877 wagte sich der gemäßigt konservative Stettiner Redakteur Robert Grassmann (als »Führer der hiesigen Bürgerpartei«) an eine Kandidatur. Scheiterte dieser noch deutlich mit 2.429 Stimmen, siegte 1878 der 633 Vgl. ebd., S. 244. 634 Vgl. Kieseritzky, S. 101. 635 1893 erhielt Broemel in Stettin 391 Wahlmännerstimmen, während der Kandidat der FVP 12 Wahlmänner auf sich vereinigen konnte. 636 Vgl. Kühne, Handbuch, S. 54, S. 64 u. S. 243 f. 637 Vgl. ebd., S. 54, S. 64 u. S. 243.

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Liberalkonservative Rudolf Delbrück mit knappem Vorsprung. Da Delbrück jedoch sein in Weimar gewonnenes Mandat annahm, ging der Wahlkreis in der folgenden Ersatzwahl an den an Stelle von Theodor Schmidt kandidierenden Stettiner Kaufmann Albert Schlutow. Dieser schloss sich wie Schmidt ebenfalls der Fraktion der Liberalen Vereinigung an. Von 1884 bis 1893 und von 1898 bis 1907 wurde der Wahlkreis vom Freisinnigen Max Broemel vertreten. Diesem folgte bei der »Hottentottenwahl« von 1907 ebenfalls ein Anhänger der Frei­ sinnigen Vereinigung.638 Die seit 1890 bei den Hauptwahlen jeweils über der 40 %-Marke liegenden Ergebnisse der sozialdemokratischen Kandidaten erzwangen zumeist eine Stichwahl. 1893 konnte sich Fritz Herbert für die SPD durchsetzen, denn ein aus­ reichender Teil der Anhänger des im ersten Wahlgang mit 11,9 % geschlagenen Kandidaten der linksliberalen Freisinnigen Volkspartei entschied sich im zweiten Wahlgang gegen Broemel. 1903 verhalfen vermutlich die Anhänger des im ersten Wahlgang 17,8 % der Stimmen erzielenden antisemitischen Kandidaten der Deutschen Reformpartei Herbert gegen Broemel zum Sieg. Die freisinnigen Kandidaten verdankten ihre seit 1890 jedes Mal im zweiten Wahlgang erzielten Mandate wiederum ausschließlich der jeweils nach der Hauptwahl erklärten Unterstützung durch die Wahlvereine der anderen bürgerlichen Parteien. Mit Ergebnissen zwischen 5 und 20 % spielten diese auch wegen ihrer hoffnungslosen Zerstrittenheit keine große Rolle. Dagegen erzielten die Kandidaten der diversen Antisemitenparteien zwischen 1890 und 1907 mehrfach Achtungserfolge. Die relativ hohe Prozentzahl der Stettiner Wahlbeteiligung unterstreicht im Übrigen noch einmal die enorme Politisierung der Stettiner Öffentlichkeit. 1890 überstieg diese mit 77,8 % nicht nur erwartungsgemäß den Durchschnitt des restlichen Stettiner Regierungsbezirks (64,9 %), sondern auch des gesamten Reichsgebiets (71,6 %).639 Die Stettiner Wahlergebnisse der achtziger und neunziger Jahre belegen den enormen Wandel des politischen Profils der Stadtbevölkerung. Das Mitte des 19.  Jahrhunderts noch anhängerstarke, gemäßigt konservative Lager Stettins wurde zusehends marginalisiert bzw. seit der Jahrhundertwende von dem neu entstehenden völkischen Lager abgelöst. Gleichzeitig verlor das linksliberale ­Lager stetig mehr Stimmen an die Sozialdemokratie. Dieser Prozess setzte bereits am 5. Mai 1869 ein, als erstmals in Pommern ein lokaler Ableger des ADAV ins Leben gerufen wurde. Die Unzufriedenheit mit den wirtschaftsnahen Liberalen machte es den nach Stettin gesandten sozialistischen Agitatoren ein Leichtes, schon bald angeblich rund 800 Mitglieder zu vereinen.640 Diese Zahl ging zwar bis 1873 auf 155 ordentliche Mitglieder 638 Vgl. Reibel, S. 224–227 ergänzt um die Wahlstatistiken in APS, NPPP, Nr. 77–79, passim u. APS, RSz, I, Nr. 1826–1831, passim. 639 Vgl. ebd. 640 Vgl. Herbert, S. 3.

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zurück (1875: 371 Mitglieder), spätestens das Reichstagswahlergebnis des sozial­ demokratischen Kandidaten von 1874 wurde von der Stettiner Regierung dann aber als »bedenkliche Erscheinung« beklagt.641 War bis zu diesem Zeitpunkt die Sozialdemokratie höchstens als externe, aus der Fremde stammende Bedrohung wahrgenommen worden, verlegte sich die Provinzverwaltung seit Mitte der siebziger Jahre darauf, das in Stettin wirkende »Gift der Socialdemocratie« nicht auch noch auf »das sonst so besonnene und verständige Pommernland« ausbreiten zu lassen.642 Die von den amtlichen Berichten ständig thematisierte »sozialistische Agitation« bewirkte seit dem Beginn der siebziger Jahre in den wachsenden Stettiner Industriebetrieben eine nicht abreißende Zahl von Arbeitskämpfen. Zwar setzten sich die sozialistischen Agitatoren angesichts des etwa bei der Stettiner Vulkanwerft seit dem Gründerkrach zu verzeichnenden Lohnrückgangs auch konkret für Lohnerhöhungen ein, allerdings wies der in Stettin tätige Ros­ tocker Agitator August Kapell auf der 13. Generalversammlung des ADAV 1874 in Hannover ausdrücklich darauf hin, dass er die gewerkschaftliche Bewegung »nur als Mittel zum Zweck« ansehe.643 Bis 1876 ging dieses Konzept soweit auf, dass beim ersten sozialdemokratischen Parteitag Pommerns neben den Stettiner Ortsgruppen zumindest auch die benachbarten Industrieorte Grabow, Bredow, Züllchow, Frauendorf und Pommerensdorf von Delegierten vertreten wurden. Auf diesem Parteitag wurde auch das Projekt einer eigenen Zeitung, der Stettiner Freien Zeitung, auf den Weg gebracht.644 Letztlich waren neben den ersten polizeilichen Repressalien (1874 Verbot des Stettiner ADAV645), persönliche und politische Differenzen der Stettiner Sozialdemokraten dafür verantwortlich, dass bereits vor dem Erlass des Sozialistengesetzes ein zwischenzeitlicher Niedergang erfolgte. 1877 lösten sich der nur noch 66 Mitglieder umfassende Sozialdemokratische Wahlverein und der Arbeiter­ bildungsverein nach internen Streitigkeiten auf. Der bisherige örtliche Führer, der Schuhmacher Gregor Zielowsky, wechselte 1878 sogar mit einem Teil  der früheren Anhänger des ADAV zur königstreuen Christlich-Sozialen Arbeiterpartei des Hofpredigers Adolf Stoecker. Lediglich der Stettiner Brüderverein der Tischler war weiterhin für die inzwischen vereinte Sozialdemokratie aktiv. Die Zahl der sozialdemokratischen Vereinsversammlungen ging jedoch von 42 im Jahr 1875 auf 20 im Jahr 1878 zurück. Fanden 1876 noch 43 öffentliche Volksversammlungen statt, fiel deren Zahl 1877 auf 17 und ein Jahr später auf null.646 Bis Ende des Jahres ein Tischlerliederkranz als Ersatzorganisation gebildet wurde, 641 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3006, Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1873/74, Stettin 18.2.1874. 642 Vgl. ebd., Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1875/76, Stettin 7.3.1876 u. Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1877/78, Stettin 24.2.1878. 643 Vgl. Stamp, S. 28. 644 Vgl. Herbert, S. 4 f. 645 Vgl. Matull, S. 246. 646 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10463, Gegenwärtiger Stand der social-democratischen Bewegungen im diesseitigen Bezirk, Stettin 12.8.1878.

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ruhte die sozialdemokratische Vereinstätigkeit nach der am 2. August 1878 erfolgten Auflösung des Brüdervereins für eine Zeitlang ganz.647 Angesichts der beiden Stettiner Wahldebakel von 1878 und 1881 und aufgrund der weiteren Verfolgung kam es zu einem erneuten personellen Aderlass. Gleich zwei prominente örtliche Parteiführer wanderten in dieser Phase in die USA aus.648 Die mit der industriellen Entwicklung Stettins eskalierende »soziale Frage« bewirkte freilich eine baldige Erholung der Sozialdemokratie. Angesichts der prekären Lebensverhältnisse der Stettiner Arbeiterschaft fiel die sozialistische Agitation auf einen fruchtbareren Boden als die Tätigkeit der durchaus rührigen linksliberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine oder gar des mitgliederschwachen Christlich-sozialen Vereins. Dieses fiel auch der Provinzverwaltung auf, die ausgehend von ihrem konservativen Standpunkt die schlechte Lage der Arbeiterschicht korrekt erfasste und auf Grund des Scheiterns freiwilliger Sozial­versicherungseinrichtungen durch die Arbeitgeber fortan die staatliche Sozialgesetzgebung unterstützte.649 Zwar erlebte der Aufbau der Versicherungssysteme in Stettin einen erstaunlichen Fortschritt,650 doch konnte dieses nicht die zunehmende Radikalisierung der städtischen Arbeiter verhindern. An dieser Radikalisierung hatte der 1882 zugezogene Buchdrucker Fritz Herbert erheblichen Anteil. Unterstützt von der Parteiführung gründete dieser am 1. Juli 1895 den Stettiner Volksboten. Mit der publizistischen Macht der Zeitung im Rücken setzte er sich in den weiteren lokalen Machtkämpfen gegen den von der Verwaltung als gemäßigt eingeschätzten Julius Prietz durch.651 Trotz der wiederholten Verbote sozialdemokratischer Fachvereine wurden ab sofort fortlaufend neue Ersatzorganisationen gebildet. 1886 wurde sogar ein sozialdemokratischer Arbeiterinnenverein ins Leben gerufen, der rund 50 Mitglieder umfasste.652 Am 7. Februar 1887 fand eine von mehr als 3.500 Teilnehmern besuchte sozialdemokratische Wahlveranstaltung statt, deren Verlauf für die zukünftige Entwicklung der Stettiner Arbeiterbewegung prägend werden sollte. Als der Reichstagskandidat Herbert in seiner Rede den Satz aussprach: »Wir wollen eine Lösung der socialen Frage nach demokratischen Grundsätzen« sah der 647 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10458, Reg. St. an Stettiner Polizeidirektion, Stettin 18.11.1878. 648 Vgl. Herbert, S. 6 f. Siehe auch APS, RSz, I, Nr. 10458, Reg. St. an Stettiner Polizeidirektion, Stettin 18.11.1878. 649 Die amtlichen Zeitungsberichte der achtziger Jahre lesen sich teilweise wie Sozialreportagen aus den Stettiner Arbeitervororten bzw. wie Anklageschriften gegenüber den wirtschaftsliberalen Fabrikbesitzern der Stadt. Vgl. etwa GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Nov., Dez. u. Jan. 1882/83, Stettin 24.2.1883 650 1885 gab es in Stettin 25 Ortskrankenkassen. Im gesamten Regierungsbezirk betrug deren Zahl 66. Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16047, Ztgsb. Mai, Juni u. Juli 1885, Stettin 22.8.1885. 651 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10459, Stettiner Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 31.1.1887. 652 Vgl. ebd., Stettiner Polizeidirektion an Reg. St., Stettin Sept. 1887. Siehe auch die Pom. Reichspost, 1.9.1886.

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anwesende Polizeikommissar hierin eine »socialdemokratische resp. socialistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschafts-Ordnung gerichtete Bestrebung« und löste die Versammlung auf. Weniger die Redner als die aufgebrachte Menge nahm diese Auflösung freilich nicht hin. Laut Polizeibericht entstand ein förmliches »Bombardement« der Beamten durch das Werfen »leere[r] Bierseidel«. Nach etwa 20 Minuten verlagerte sich die Saalschlacht auf die Straße vor dem Lokal, wo zwischen einem Detachement herbeigerufenen Militärs und der »nach Tausenden zählenden gewaltthätigen Menschenmenge« ein Straßenkampf ausbrach. Mehrere Personen wurden am Ende verwundet und ein Arbeiter erlag seinen durch einen Bajonettstich zugefügten Verletzungen.653 Infolge der Unruhen verhängte das preußische Staatsministerium am 10. Februar 1887 über Stettin den kleinen Belagerungszustand.654 Bis Ende März 1887 wiesen die Behörden 44 der bedeutendsten Stettiner Sozialdemokraten aus der Stadt aus.655 Darunter befand sich auch Fritz Herbert, der jedoch im benachbarten Stargard seine Tätigkeit für die Sozialdemokratie fortsetzte. Das rigide Vorgehen der Behörden zerstörte die Stettiner Parteistruktur nicht. Ganz im Gegenteil stärkten die Verfolgungsmaßnahmen die Parteidisziplin und die Milieubildung. Als am 13.  September 1887 Wilhelm I. in der Stadt weilte, musste er während einer Parade an einem roten Banner mit der Aufschrift »Hoch die Socialdemokratie! Nieder mit dem Belagerungszustand!« vorbeiziehen. Am 11. Februar 1888 feierte der sozialdemokratische Fachverein der Schuhmacher, Club Comet, öffentlich ein Robert-Blum-Fest. Sonst verhielt sich die Partei nicht mehr so aktionistisch, stattdessen wurde die »sozial­ demokratische Agitation energisch und geheim, allerdings mit großer Vorsicht weiter geführt.« Hierzu gehörte auch eine umfassende Bildungsarbeit. Der in Stargard von Herbert verlegte Volksbote wurde nun systematisch in den Stettiner Arbeiterneubauten vertrieben und sich in den Arbeitsstätten gegenseitig vorgelesen.656 Als 1889 gegen den Willen der Provinzverwaltung das preußische Staatsministerium den kleinen Belagerungszustand aus taktischen Gründen wieder aufhob,657 kam die Stettiner Sozialdemokratie daraus gestärkt hervor. Spätestens mit der Nichtverlängerung des Sozialistengesetzes konnte die Bildung des sozialistischen Milieus der Stettiner Arbeiterbewegung abgeschlossen werden. Die Ende der achtziger Jahre erneut ausbrechende Streikbewegung stärkte 653 Vgl. APS, NPPP, Nr.  3771, Stettiner Polizeidirektion an Reg. St. betr. Auflösung einer Wahlversammlung der Sozialdemokraten, Stettin 8.2.1887. Siehe auch Herbert, S. 8–10. 654 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, B III 2b, Nr.  6, Bd.  99, Bl.  74–74v, Prot. der Sitzung des Preuß. Staatsministeriums, Berlin 10.2.1887. 655 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10459, Verzeichnis der aus Stettin u. Umgebung ausgewiesenen Sozial­ demokraten, Stettin 25.3.1887. 656 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10460, Denkschrift über die sozialdemokratische Bewegung in dem Stadtbezirk Stettin u. Verlängerung des kleinen Belagerungszustands, Stettin 17.7.1889. 657 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 90a, B III 2b, Nr. 6, Bd. 101, Bl. 295–296, Prot. der Sitzung des Preuß. Staatsministeriums, Berlin 17.8.1889.

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auch die sozialistischen Fachvereine der Stadt.658 1890 vereinte Herbert diese zu einem Gewerkschaftskartell,659 dem 1904 6.260 Stettiner Bürger angehörten.660 In seiner Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied des Stettiner Konsum- und Sparvereins beförderte er zudem das Genossenschaftswesen in der Stadt. Der innerhalb kürzester Zeit vollbrachte Ausbau der SPD und der Gewerkschaften zu Massen­ organisationen661 wurde hierbei von den typischen Elementen der Arbeiterbewegungskultur flankiert. So imitierte man 1891 bürgerliche Festformen, indem zur Erinnerung an die Saal- und Straßenschlacht vom Februar 1887 im gleichen Lokal ein von 4.000 Anhängern besuchter Maskenball veranstaltet wurde.662 Den Sedanfeierlichkeiten von 1894 setzte man demonstrativ am gleichen Tag eine Lassallefeier entgegen.663 Und seit 1892 demonstrierte die Stettiner Sozialdemokratie auch bei den Feiern zum 1. Mai personelle Stärke und ideo­ logische Geschlossenheit. Arbeiterlieder singend zogen jeweils einige hundert bis mehrere tausend Anhänger der SPD in geschlossenen Demonstrationszügen durch die Stadt ins Grüne. Die Feiern endeten zumeist in regelrechten Volksfesten, auf denen neben politischen Vorträgen auch Gesangs-, Tanz- und Theater­ einlagen mit Themen der Arbeiterbewegungskultur dargestellt wurden.664 Mit dem Verfassen des gesellschaftskritischen Theaterstücks Herrenrechte und der Abfassung einer eigenen Pommerschen Arbeitermarseillaise war Herbert an diesem Prozess federführend beteiligt.665 Dessen Arbeit wurde nicht nur durch den 1893 erstmals erfolgten Einzug in den Reichstag, sondern auch mit der 1900 vollzogenen Wahl in die Stadtverordnetenversammlung belohnt. Wie in seiner späteren Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied der Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine und als Beisitzer im Stettiner Gewerbegericht entwickelte sich Herbert in der Stadtverordnetenversammlung freilich wie viele andere Sozialdemokraten zum pragmatischen Realpolitiker. In der Stadtverordnetenversammlung, in welcher der Einfluss der Kaufmannschaft seit den neunziger Jahren kontinuierlich zurückging,666 gehörte Herbert vorübergehend der Kommission für die Stadtfinanzen sowie fast kontinuierlich der Schul­deputation an. Mit dem Freidenker Ewald Vogtherr gelang es der SPD trotz des Dreiklassenwahlrechts 1901 einen zweiten Sozialdemokraten in die Stettiner Vertretung zu 658 Vgl. APS, NPPP, Nr. 3770. Siehe hier die Angaben über die fast monatlich ausbrechenden Arbeitskämpfe. 659 Vgl. Datensatz: Fritz Herbert. In: Schröder. 660 Vgl. Matull, S. 252. 661 Allein der Deutsche Metallarbeiterverband zählte 1901 in Stettin 1.183 Mitglieder. Vgl. Stamp, S. 53. 662 Vgl. Herbert, S. 14. 663 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 16048, Ztgsb. Aug., Sept. u. Okt. 1894, Stettin 28.11.1894. 664 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10460a, Stettiner Polizeidirektion über die Maifeier von 1893 an Reg. St., Stettin 2.5.1893. Zur Arbeiter- u. Arbeiterbewegungskultur vgl. allg. Ritter, S. 15–39. 665 Vgl. den Text der Pom. Arbeitermarseillaise bei Herbert, S. 16. 666 Lag der Anteil der Kaufmannschaft der Stettiner Stadtverordnetenversammlung 1889 noch bei 34,9 %, so sank er bis 1910 auf 19,4 %. Vgl. Włodarczyk, Selbstverwaltung, S. 153 f.

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bringen. 1912 konnte Vogtherr auch das 1907 bei den »Hottentottenwahlen« verlorene Stettiner Reichstagsmandat zurückgewinnen.667 Im Gegensatz zum sozialistischen Milieu gründete das nicht-sozialistische Lager der Stadt keine Massenorganisationen. Allerdings hatte sich nicht nur seit den späten sechziger und siebziger Jahren ein umfassendes bürgerliches Vereinsnetz in der Stadt entwickelt,668 sondern auch die nicht-sozialistischen Parteien wandelten sich Ende der achtziger Jahre sukzessive von den alten Honoratioren- zu modernen Mitgliederparteien. So wurde die im Januar 1887 abgehaltene Wahl- und Mitgliederversammlung des Stettiner Liberalen Wahlvereins, bei der man einerseits des verstorbenen Abgeordneten Theodor Schmidt gedachte und andererseits den neuen Kandidaten Max Broemel nominierte, nach Angaben der Ostseezeitung von einer zahlreichen Menschenmenge besucht. Bei den Wahlen zum fünfzehnköpfigen Vorstand setzten sich freilich mit dem Direktor der Stettiner Lebensversicherungsgesellschaft Germania, Dr. Hermann Amelung, städtische Honoratioren durch.669 Feste organisatorische Strukturen schuf sich weiterhin der seit Anfang der achtziger Jahre in Stettin vertretene politische Antisemitismus. Bereits 1878 hatte sich eine Ortsgruppe der antisemitischen Christlich-Sozialen Arbeiterpartei gebildet.670 Nachdem im Mai und Juli 1881 mehrere »nur schwach be­ sucht[e]« Veranstaltungen des radikalen Antisemitenagitators Ernst Henrici stattgefunden hatten, brachen im August auch in Stettin antijüdische Tumulte aus.671 Zu einer Kundgebung des Hofpredigers Adolf Stoecker am 4. Sep­tember 1888 versammelten sich einige hundert Teilnehmer.672 Unter der Führung des 1893 gegründeten in Stettin ansässigen Landesverbands der antisemitischen Deutsch-Socialen Reformpartei erhielten die verschiedenen antisemitischen Reichstagskandidaten in den neunziger Jahren zwischen 500 und 800 Stimmzettel. 1903 erzielte der Kandidat der Deutschen Reformpartei mit 4.939 Stimmen das drittbeste Ergebnis. Seit den neunziger Jahren organisierten sich die Anhänger der DkP und der NLP in lokalen Wahlvereinen. Gemeinsam mit den Antisemiten bemühten sich beide Parteien seit den Kartellwahlen von 1887 um Absprachen bei der Kan­ didatenaufstellung. Nach der Jahrhundertwende bildeten sogar die Anhänger des katholischen Zentrums und die wenigen in der Stadt wohnenden Polen Parteistrukturen aus.673 Zuletzt unterstreichen die seit Mitte der neunziger Jahre verstärkt hervortretenden Bemühungen zum Aufbau einer eigenen regionalen 667 Vgl. Datensatz: Ewald Vogtherr. In: Schröder. 668 Vgl. hierzu etwa Wehrmann, Stettin, S. 491–493. 669 Vgl. OZ, 26.1.1887. 670 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10463, Stettiner Polizeidirektion an Reg. St. über den gegenwärtigen Stand der sozial-demokratischen Bewegungen im diesseitigen Bezirk, Stettin 12.8.1878. 671 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10488, Stettiner Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 17., 18. u. 19.8.1881 bzw. 11.7.1882. Siehe auch Wilhelmus, S. 110. 672 Vgl. APS, RSz, I, Nr. 10463a, Stettiner Polizeidirektion an Reg. St., Stettin 18.9.1888. 673 Vgl. Reibel, S. 224–227.

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Parteipresse den kontinuierlichen Weg zur Mitgliederpartei. Dieser für den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen elementare Prozess vollzog sich in Stettin um mehrere Jahre früher als in den benachbarten Kleinstädten. Dagegen konnten sich entsprechende Strukturen auf dem dünn besiedelten platten Land erst nach 1918 ausbilden. 3.3.7 Zwischenergebnisse Obwohl die Parameter eines Modernisierungserfolgs in diesem Kapitel weitaus schwieriger zu setzen und zu erfassen sind als im Fall der Hebung des Schulwesens oder beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, stellt die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen ebenfalls ein wichtiges Element des pommerschen Transformations- und Modernisierungsprozesses des 19.  Jahrhunderts dar. Diese Entfaltung hatte freilich einerseits im gesamten Untersuchungszeitraum erhebliche Probleme und Widerstände zu überwinden, und andererseits kam diese überhaupt erst so richtig mit der pommerschen »Vereinseuphorie« in den achtziger und neunziger Jahren in Schwung. Die Herausbildung zivilgesellschaftlicher Ansätze in Pommern profitierte hierbei deutlich von der spätestens mit der Reichsgründung erfolgenden Integration der Provinz in den überregionalen nationalen Kommunikationsraum. Die Grundlagen für die Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen wurden indes schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts gelegt. Mit der Städtereform verankerten die preußischen Reformer ein Modell gesellschaftlicher Selbstorganisation. Vereinsgründungen wie die der Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft (1810), der Pommerschen Bibelgesellschaft (1816) und der Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde (1820) schufen erste Gremien des gesellschaftlichen Austausches. Über die offiziösen Amts- und Kreisblätter, die Stettiner Privilegierte Zeitung und dann über die 1835 gegründeten Börsennachrichten konnten sich seit der Mitte der dreißiger Jahre die ersten Ansätze einer politischen Öffentlichkeit ausbilden. Schließlich demonstrierte die im März 1848 einsetzende Gründungswelle diverser lokaler und regionaler Zeitungsprojekte das bis zu diesem Zeitpunkt in Pommern gewachsene, jedoch von der Verwaltung vielfach verweigerte Interesse, sich publizistisch zu Wort zu melden. Zwar gingen viele dieser Zeitungsprojekte zum einen aus wirtschaft­lichen Gründen und zum anderen durch die 1851 erfolgte Verschärfung des Presserechts wieder ein, spätestens mit dem Beginn der »Neuen Ära« 1858 nahm das Pressewesen jedoch einen weiteren Aufschwung. Neben die inzwischen unter dem Titel Ostseezeitung laufenden liberalen früheren Börsennachrichten gesellten sich 1859 die freisinnige Neue Stettiner Zeitung und 1865 die konservative Stettiner Zeitung. Außerdem wurden seit 1859 auch in den kleineren pommerschen Städten Lokalzeitungen ins Leben gerufen. Mitte der neunziger Jahre war dieser Prozess weitestgehend abgeschlossen. Als Belege für die zunehmende Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen können zuletzt die in den acht­ 336 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

ziger Jahren erfolgte Gründung explizit parteipolitischer Organe wie des sozial­ demokratischen Volksboten, aber auch der diversen Special-Interest-Publika­ tionen des sich ausbildenden Vereinsnetzes herangezogen werden. Das pommersche Vereinswesen reduzierte sich im Vormärz auf eine überschaubare Zahl landwirtschaftlicher Interessenvereinigungen. Dazu kamen sozial-konservative Vereine, die sich für wohltätige Zwecke, Missionstätigkeit oder den Kampf gegen den Alkoholismus einsetzten. In Stettin bildete die Kooperation der Kaufmannschaft eine Keimzelle zivilgesellschaftlicher Tätigkeit. Im nonkonformen Verhalten der Pietisten zeigte sich zwar das zivilgesellschaftliche Element in der Selbstorganisierung zu unabhängigen Konventikeln, allerdings wurden diese – auch auf staatlichen Druck – nicht in feste institutionelle Strukturen überführt. Dieses geschah am ehesten noch in der 1851 erfolgten Konstituierung der staatlich anerkannten altlutheranischen Gemeinden. Trotzdem bleibt der nonkonforme religiöse Enthusiasmus von unten ein bemerkenswertes pommernspezifisches Phänomen, das weiterer Erforschung bedarf. Im sozialen Protest der einfachen Stadt- und Landbevölkerung der Jahre von 1847 bis 1849 drückte sich der Wille zu Veränderung und damit auch der Wunsch nach Partizipation aus. Allerdings blieb dieser Protest immer diffus und konnte ebenfalls nirgendwo in feste institutionelle Strukturen überführt werden. Immerhin konnte jedoch festgestellt werden, dass das von der älteren Landesgeschichtsschreibung geprägte Bild eines weitgehend konfliktfreien Revolutionsverlaufs für Pommern zu revidieren ist. Auch die hohe Beteiligung bei den Wahlen zur preußischen Nationalversammlung vom 1.  Mai 1848 unterstreicht den Gestaltungs- und Veränderungswillen der pommerschen Bevölkerung. Jedoch ist herauszustellen, dass die zu diesem Zeitpunkt noch streng monarchistische und preußenpatriotische Gesinnung der pommerschen Landbevölkerung maßgeblich dafür verantwortlich war, dass sich aus dem erheblichen Unruhepotential keine größere revolutionäre Dynamik entwickeln konnte. Während in Stettin das Vereinswesen bereits in den frühen vierziger Jahren mit dem Handwerkerverein, dem Unterstützungsverein der Deutsch-Katholiken und des Freihandelsvereins weitere Knospen trieb, entfaltete sich ansonsten seit dem März 1848 ein breites Spektrum an politischen und gesellschaftlichen Institutionen. In Stettin konnten insbesondere der Volksverein, der Constitutionelle Club und auch der konservative Konstitutionelle Verein mehrere Dutzend Mitglieder sowie teilweise mehrere hundert Kundgebungsteilnehmer vereinen. Auch in den übrigen pommerschen Städten etablierten sich liberale, demokratische und konservative Vereinigungen. Hierbei sind die Organisationsbemühungen des konservativen Lagers hervorzuheben. Bis zum Dezember 1848 hatten sich in ganz Pommern immerhin 21 konservative Vereine gebildet. Neben den gesellschaftlich breiter verankerten und mitgliederstarken Konstitutionellen Vereinen, Vereinen für König und Vaterland und Patriotischen Vereinen, die sich bereits im Juli 1848 provinzweit zu vernetzen begannen, wurde mit dem Verein zur Wahrung der Rechte des Grundbesitzes und zur Aufrecht337 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

erhaltung des Wohlstands aller Volksklassen in Stettin auch die Gründung des gesellschaftlich exklusiv auf den Großgrundbesitz beschränkten so genannten »Junker­parlaments« eingeleitet. Zwar bemühten sich auch die Demokraten sich im Hauptkomitee der demokratischen Vereine zu sammeln, die Ereignisse vom November und Dezember 1848 schwächten diese jedoch massiv. Bei den beiden Wahlen von 1849 setzten sich die konservativen Kräfte im innerpreußischen Vergleich nirgendwo deutlicher als in Pommern durch.674 Einhergehend mit der rigiden preußischen Vereinsgesetzgebung der Reaktionszeit wurden schließlich Anfang der fünfziger Jahre mehrere Vereine verboten, die meisten konserva­ tiven Gruppen lösten sich in dieser Phase freiwillig auf. Ein Aufschwung des gesellschaftlichen und politischen Vereinswesens setzte dann erst wieder mit dem Beginn der »Neuen Ära« ein. Im Verfassungskonflikt politisierte sich die pommersche Öffentlichkeit erneut. Das bis in die neun­ziger Jahre auf kleinen Honoratiorenklubs beruhende pommersche Parteiensystem entfaltete sich am Stadt-Land Cleavage; in den Städten dominierten Liberale und auf dem Land die Konservativen. Spätestens seit der Ende der siebziger Jahre auftretenden Krise der NLP wurde der pommersche Liberalismus von dem gemäßigt linksliberalen Flügel dominiert. Bei den Konservativen setzte sich nach 1876 die DkP durch. Aufgrund des hohen Anteils der ländlichen Bevölkerung in den pommerschen Wahlkreisen wurden außerhalb Stettins nun fast immer konservative Kandidaten gewählt. Die klaren Mehrheitsverhältnisse bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus führten dabei zu einer niedrigen Wahlbeteiligung. Noch 1893 lag diese bei lediglich 11,6 %. Dagegen nahmen bei den Reichstagswahlen von 1871 bereits 35,3 % der wahlberechtigten männlichen Bevölkerung ihr Wahlrecht wahr. Bis 1890 stieg die Wahlbeteiligung auf 69,3 % und bis 1912 sogar auf 85,3 %. Die bei den Reichstagswahlen weitaus stärker als bei den Landtagswahlen ausgeprägte Partizipationsbereitschaft ergab sich aus dem größeren Wettbewerb, der auch aus den seit 1871 erfolgenden Kandidaturen von Sozialdemokraten resultierte. Für die Ausdifferenzierung des pommerschen Parteiensystems wurde deshalb neben dem Stadt-Land-Cleavage das Arbeiter-Unternehmer/Besitzende-Cleavage immer bedeutsamer. Auch in Pommern bildete die Sozialdemokratie die erste Partei, die sich spätestens nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes zu einer Massenpartei entwickelte und die bürgerliche Konkurrenz gehörig unter Druck setzte. Bereits in den siebziger und achtziger Jahren entwickelte sich im entstehenden sozialistischen Milieu der Großstadt ein breites Geflecht an Arbeitervereinen, das Ansätze einer abgeschlossenen Parallelgesellschaft zeigte. Aber auch außerhalb Stettins war die SPD seit den neunziger Jahren zunehmend erfolgreich. 1898 erzielten die sozialdemokratischen 674 Dieses betrifft sowohl die Wahlen vom Feb. 1849, als auch die von den Demokraten boykottierten Wahlen vom Juli 1849. Zum Wahlboykott vom Juli 1849 vgl. Grünthal, S. 97– 105. Rechnet man Berlin aus den Brandenburger Zahlen heraus, schneidet Brandenburg hinsichtlich des Ergebnisses der Konservativen u. der Wahlbtlg. »besser« als Pommern ab.

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Kandidaten im Regierungsbezirk Stettin erstmals mehr Stimmen als die der Liberalen. In Reaktion auf diese Erfolge professionalisierte sich auch die Parteistruktur der bürgerlichen Konkurrenz. Ende der achtziger Jahre verwandelten sich diese von den alten Honoratiorenklubs zunehmend zu Mitgliederparteien. Eine Folge der Bemühungen der Konservativen, eine breitere Unterstützung in der Bevölkerung zu erlangen, war auch in Pommern die Verbreitung aggressiv-nationalistischer und antisemitischer Ressentiments, die sich in den Wahlerfolgen explizit antisemitischer Kandidaten sowie in antijüdischen Krawallen versinnbildlichten. Parallel zur Ausdifferenzierung und Professionalisierung des Parteiensystems differenzierte sich seit den achtziger Jahren auch das pommersche Vereinswesen weiter aus. Diese wieder in Stettin beginnende Dynamik setzte sich, wie man etwa den Stargarder Magistratsakten entnehmen kann, in den übrigen Städten spätestens in den achtziger und neunziger Jahren fort. Insbesondere die Kriegervereine und der Vaterländische Frauenverein entwickelten sich in der gesamten Provinz zu Massenorganisationen. Gleiches gilt für die diversen Zweigvereine der Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft und des ­Baltischen Zentralvereins sowie mehr noch für den 1893 gegründeten, eng mit der DkP kooperierenden BdL. Einen Sonderfall bei der Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen stellen schließlich noch die zwischen der Sphäre des Staates und der Gesellschaft schwebenden Selbstverwaltungsorgane dar. Hier ist noch einmal zu betonen, dass mit den Reformen der Kreis- und Provinzialverfassung in den siebziger Jahren die Selbstverwaltungsrechte der regionalen Akteure gestärkt wurden. Entscheidende Impulsgeber bei der Ausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen waren nicht nur gesellschaftliche, sondern auch staatliche Akteure. Die ersten Ansätze zur Schaffung einer provinzeigenen Öffentlichkeit wurden mit der Gründung der offiziösen Amtsblätter und der Öffentlichen Anzeiger ge­ tätigt. Dann waren es aber einzelne dem Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum entstammende Unternehmer, die auf eigene Kosten und auf eigenes Risiko Zeitungsprojekte initiierten. Erst in Konkurrenz zur bald sich deutlich im liberalen Lager positionierenden unabhängigen Presse nutzte der ultrakonservative Oberpräsident von Senfft-Pilsach den Verwaltungsapparat der Provinz, um anfangs mit der Norddeutschen Zeitung, dann mit der Provinzialkorrespondenz bzw. den Kreisblättern und zuletzt noch mit der Stettiner Zeitung eine konservative Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Ein ähnliches Muster finden wir bei der Herausbildung des Vereinswesens. Bei den frühen Vereinsgründungen der ersten drei Dekaden des 19. Jahr­ hunderts waren zumeist aus der Verwaltung stammende Akteure an führender Stelle beteiligt. Dieses änderte sich sukzessive in den vierziger Jahren. In der Revolution von 1848/49 entstanden Dutzende von Vereinen, deren Akteure man ausschließlich in der gesellschaftlichen Sphäre zu suchen hat. Insbesondere Stadtschullehrer, aber auch Redakteure, Ärzte, Kaufleute und Handwerker 339 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

zeigten sich hier aktiv. Bei den konservativen Gegengründungen kann man zwar gerade in den größeren Städten ebenfalls eine Vielzahl von Lehrern und mittleren wie niederen Verwaltungsbeamten als wichtige Akteure identifizieren, entscheidend waren jedoch ebenfalls Angehörige der höheren Verwaltung. Von 1848 bis zum Ende des Untersuchungszeitraums fungierten die pommerschen Oberpräsidenten (hier wieder von Senfft-Pilsach), die Regierungsräte und die Landräte außer einigen weiteren einflussreichen Rittergutsbesitzern als maßgebliche Gestalter und Organisatoren der konservativen Partei. Ein Bernhard von Bismarck, der von 1841 bis 1888 das Landratsamt im Kreis Naugard innehatte, als Aktionär die Norddeutsche Zeitung stützte und mit Unterbrechungen 1847/48, 1851/52 und von 1870 bis 1888 Mitglied des Vereinigten Landtags bzw. des Preußischen Abgeordnetenhauses war und zugleich in allen wichtigen Selbstverwaltungsgremien der Provinz saß, übte in »seinem« Kreis einen erheblichen Einfluss in Verwaltung und Politik aus. In den konservativen und insbesondere in den landwirtschaftlichen Ver­ einen engagierte sich eine Vielzahl von Ritterguts- und einfachen Gutsbesitzern, die nicht zugleich Ämter in der Provinzial- oder Lokalverwaltung innehatten. Schließlich traten auch Angehörige der unteren Schichten als Impulsgeber zivilgesellschaftlicher Entwicklung auf. Abgesehen von den pietistischen Konventikeln der zwanziger und dreißiger Jahre bildeten sich 1848/49 in Stettin und Stargard Handwerker- und Gesellenvereinigungen. Seit dem Ende der sechziger Jahre gründeten Schuhmacher, Metallarbeiter, Zigarrendreher, Schneider, Zimmerleute und andere Berufsgruppen Gewerkvereine, die bald auch selbstverwaltete Hilfskassen aufbauten. Seit Beginn der siebziger Jahre wurden schließlich die ersten Vereine und Gewerkschaftsgruppen der sozialistischen Arbeiter­ bewegung ins Leben gerufen. Initiatoren waren hier freilich zumeist von außerhalb Pommerns stammende Angehörige des niederen Handwerkerstandes. Der eigentliche Organisator der pommerschen Sozialdemokratie, der in Thüringen geborene Schriftsetzer und Buchdrucker Fritz Herbert, war mehrere Jahre als Geselle auf Wanderschaft gewesen, bevor er im Parteiauftrag nach Stettin gekommen war. Zuletzt ist noch auf die zunehmende Bedeutung auch der pommerschen Frauen bei der Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen hinzuweisen. Frauen wurden schon in den pietistischen Konventikeln als mitwirkende Akteure benannt.675 In den Quellen zur Revolution von 1848/49 fällt auf, dass besonders bei den Kundgebungen der liberalen und demokratischen Vereine Frauen zumindest passiv mitwirkten. Mit der Gründung des Vaterländischen Frauen­ vereins, einem der Vorläufer des späteren Deutschen Roten Kreuzes, betätig675 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 76, III, Sekt. 9, Abt. XVI, Nr. 1, Bd. 1, Bericht über das Konven­ tikelwesen, Stettin 31.1.1821. Hier wird beispielsweise auf die Teilnahme katholischer Frauen am Belowschen Konventikel verwiesen. Sonst werden in entsprechenden Berichten zumeist auch Ehefrauen u. weibliche Verwandte der Konventikelführer als Teilnehme­ rinnen benannt.

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ten sich pommersche Frauen seit den siebziger Jahren im konservativen Flügel des politischen Spektrums. Spätestens mit der 1886 erfolgten Gründung eines Arbeiter­innenvereins begann außerdem die politische Organisation von Frauen auf Seiten der sozialistischen Arbeiterbewegung. Inwieweit nahmen zivilgesellschaftliche Akteure auf den generellen Modernisierungsprozess Pommerns Einfluss? Bezogen auf die beiden vorherigen Kapitel wurde deutlich, dass die pommersche Presse und hier insbesondere die Stettiner Börsennachrichten bereits im Vormärz einen der maßgeblichsten Propagandisten der Hebung des Schulwesens (und hier in erster Linie der Förderung der Realienfächer) und des Ausbaus der Infrastruktur darstellte. Mit ihren Dutzenden diese Thematik behandelnden Artikeln wurde ein öffent­licher Druck erzeugt, der sich auf die konkrete Politik und Verwaltungspraxis der Vertreter der pommerschen Selbstverwaltungsorgane sowie der regionalen Verwaltung auswirkte. Die Pommersche Ökonomische Gesellschaft setzte sich als landwirtschaftliche Interessenvertretung des konservativen Großgrundbesitzes schon im Vormärz sowohl für den Chausseebau als auch zumindest für die Förderung der landwirtschaftlichen Bildung ein. Zuletzt erkannten auch die Selbstverwaltungsorgane der Provinz die Notwendigkeit eines Ausbaus der pommerschen Verkehrsinfrastruktur, wobei seit den vierziger Jahren die Tagesordnungspunkte, die sich mit Fragen der Infrastruktur beschäftigten, schulische Themen bei weitem übertrafen. Wenn der Landeshistoriker Martin Wehrmann versuchte, die Revolution von 1848/49 mit der Aussage zu verharmlosen, dass man sich in den liberalen und demokratischen Klubs vor allem über den »Bau von Chausseen oder Eisenbahnen« ereiferte,676 liegt hier ebenfalls eine zutreffende und wichtige Beobachtung verborgen. Spätestens 1848/49 wurden nämlich Fragen der Infrastrukturpolitik, des Baus von Chausseen und Eisenbahnen ausführlich in der Presse, in den Vereinen und generell in der pommerschen Öffentlichkeit diskutiert. Das gleiche gilt für die Schulpolitik, über die sich in den diversen Lehrerkonferenzen und den pommerschen Zeitungen ausgetauscht wurde. Zwar brach die Zahlung der allgemein verhassten Chausseeund Schulgelder 1848/49 ein, doch interessierten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zumindest im Bereich der Infrastruktur auch die unteren Schichten mehr für derartige Projekte. Dieses ist nicht zuletzt an den von mehreren hundert Pommern unterzeichneten Petitionen der fünfziger Jahre abzulesen, in denen ein weiterer Ausbau der Verkehrsnetze gefordert wurde. Des Weiteren basierten auch die Modernisierungserfolge der siebziger Jahre im Schulwesen auf der zunehmenden Selbstorganisierung der Lehrerschaft, die selbst zu einem gewichtigen zivilgesellschaftlichen Akteur aufstieg. Zuletzt resultierten wiederum die Erfolge im Ausbau der Infrastruktur in den siebziger Jahren auch aus der Übergabe zentralstaatlicher Kompetenzen an die regionalen Selbstverwaltungsorgane im Rahmen der Reform der Provinzial- und Kreisverfassung. 676 Vgl. Wehrmann, Pommern, S. 299.

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Abseits von Schule und Verkehrsinfrastruktur nahmen zivilgesellschaft­liche Akteure auch an den weiteren Feldern des Transformations- und Modernisierungsprozesses erheblichen Anteil und belegen hiermit erneut ihre gegen­seitige Beeinflussung. Selbstverständlich setzten sich die liberale Presse, städtische Vertreter in den Selbstverwaltungsorganen und die liberalen und demokra­ tischen Vereine von 1848/49 bzw. auch später für die Großprojekte einer sukzessiven Parlamentarisierung, Demokratisierung und Säkularisierung ein. Gleiches gilt für die Organisationen der Arbeiterbewegung, die mit der Gründung von Hilfskassen und Konsumgenossenschaften aus schierer Notwendigkeit Elemente einer ohne den Staat auskommenden »Zivilgesellschaft« ausprobierten, wie sie heute zuweilen in vulgär-neoliberalen Zielvorstellungen diskutiert wird.677 Presse und Vereinswesen profitierten einerseits von der Herausbildung eines gemeinsamen nationalen Kommunikationsraums, andererseits stellten sie auch maßgebliche Beförderer dieses Prozesses dar. Zuletzt ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass sich wiederum die konservativen landwirtschaftlichen Vereine durchaus erfolgreich für eine Rationalisierung und Technisierung im Agrarsektor engagierten. Insgesamt lässt sich also sagen, dass je breiter sich zivilgesellschaftliche Strukturen entfalteten, umso stärker auch parallel ablaufende Modernisierungsprozesse begünstigt wurden. Mit der zunehmenden Herausbildung zivilgesellschaftlicher Elemente im Laufe des 19. Jahrhunderts und dann mit der Stärkung der provinziellen Selbstverwaltungsorgane minderte sich deshalb – bei fortlaufendem Ausbau der Bürokratie – auch die relative Bedeutung der zentralen Verwaltungsakteure. In vieler Hinsicht stellte sich die Entfaltung der zivilgesellschaftlichen Strukturen in Pommern wieder als ein Prozess der partiellen Modernisierung dar. Auch hier ist für Pommern im innerpreußischen Vergleich eine relative Rückständigkeit zu konstatieren. Zwar war das in der Literatur häufig gezeichnete Bild, das Pommern wahlweise als »Mancha«, »Vendée« oder »Puttkamerun« illustrierte, eine Überspitzung der realen Verhältnisse. Allerdings können die in diesem Kapitel aufgezeigten Ansätze zivilgesellschaftlicher Entwicklung, die durchaus vorhandene revolutionäre Dynamik von 1848/49, die liberale Prägung Stettins und die immer erfolgreicher werdenden Bemühungen der oppositionellen Sozialdemokratie am Ende des Untersuchungszeitraums nicht darüber hinwegtäuschen, dass Pommern bis 1918 und darüber hinaus eine zivilgesellschaftlich unterentwickelte Region blieb, die sich weiterhin als eine politische Hochburg des konservativ-agrarischen Großgrundbesitzes und monarchistischer, preußenpatriotischer Gesinnung behauptete. Zudem ist an der Entwicklung der Wahlbeteiligung oder auch an der Zahl der Vereinsgründungen ein deutlicher Entwicklungsrückstand gegenüber den westlichen Provinzen der Monarchie festzustellen. Im Fall der Beteiligung an den Landtags- und Reichs677 Vgl. zu dieser recht neuen Bedeutungsverwendung des Begriffes »Zivilgesellschaft« aus vulgärneoliberaler Perspektive den Artikel »Zivilgesellschaft«. In: Fuchs-Heinritz u. a., S. 742.

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tagswahlen ist dieser gegenüber dem gesamtpreußischen Prozentanteil bis zur Jahrhundertwende konkret bei rund 10 % zu bemessen. Nur bei den Reichstagswahlen erfolgte nach der Jahrhundertwende eine Angleichung der Wahlbeteiligung. Die in den achtziger Jahren einsetzende Phase der pommerschen »Vereinseuphorie« fand ebenfalls rund zehn bis zwanzig Jahre später als in den westlichen Provinzen statt. Partiell stellte sich die Ausbildung der zivilgesellschaftlichen Strukturen außerdem wieder im schon bekannten Stadt-Land Gefälle dar. Während sich in Stettin bereits im Vormärz ein offenes, liberales und pluralistisches Klima entwickelte, was sich dann erstmals in der Revolution von 1848/49 voll entfalten konnte, war dieser Prozess in den kleineren pommerschen Städten mit erheblichen Verzögerungen verbunden. Auf dem platten Land wagten aus dem städtischen Umfeld entsandte Akteure schließlich nicht vor den achtziger und neunziger Jahren Gedanken zu verbreiten, welche in Opposition zu den konservativen Gutsbesitzern stand. Gleichzeitig etablierten sich erst in den neunziger Jahren in einem höheren Maß gesellige Vereine der Landbevölkerung. Auch die flächendeckende Organisation konservativ-agrarischer Interessenvereine bildete sich in dieser Zeit aus. Elemente einer defensiven Modernisierungsstrategie finden sich bei der Betrachtung der Entstehung zivilgesellschaftlicher Strukturen ebenfalls zuhauf. Wohl in kaum einer anderen preußischen Provinz erfolgten die Bemühungen der Berliner Zentrale, der Provinzverwaltung und örtlicher Rittergutsbesitzer zur Schaffung einer konservativen Gegenöffentlichkeit in konzertierteren Initiativen als in Pommern. Berliner Zentrale, Provinzial- und Lokalverwaltung sahen sich grundsätzlich als administrativ verlängerter Arm der konserva­tiven Partei. Die konservativen Vereine, die konservative Presse und die späteren Parteistrukturen wurden mit wesentlicher personeller, finanzieller und administrativer Hilfe der Verwaltung aufgebaut. Der konservative Teil  der sich in Pommern während des 19. Jahrhunderts entfaltenden »zivilgesellschaftlichen« Strukturen blieb demnach für eine lange Zeit viel enger mit der staatlichen als mit der gesellschaftlichen Sphäre verzahnt. Allerdings ist auch festzustellen, dass die Bemühungen einer defensiven Modernisierung in Pommern wie auch auf preußisch-deutscher Ebene im Prinzip nur eine lange Reihe von Rückzugsgefechten darstellten. Die Gründung einer konservativen Provinzpresse scheiterte zumindest beim ersten Mal kläglich. Bei den Wahlen konnte die oppositionelle Sozialdemokratie spätestens seit den achtziger Jahren stetig mehr Stimmen gewinnen. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg schloss die SPD selbst im konservativ geprägten Regierungsbezirk Stettin bis auf wenige tausend Stimmen zu den Konservativen auf. Weiterhin schufen die konservativen Bemühungen um eine breitere populäre Verankerung seit den neunziger Jahren auch eine Konkurrenz von Rechts, die sich in den Wahlerfolgen antisemitischer Kandidaten und der Gründung erster völkischer Vereinigungen ausdrückte. Aus konservativer Perspektive stellten die mit einer defensiven Modernisierungsstrategie verknüpften Rückzugsgefechte freilich auch 343 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

einen wesentlichen Erfolg dar, denn man konnte für einen bemerkenswert langen Zeitraum auf dem politischen Weg der Wahlen und mit der erfolgreichen Modernisierung und Technisierung im landwirtschaftlichen Bereich gegen den gesamtgesellschaftlichen Trend die politische und gesellschaftliche Vormachtstellung in Bezirk, Provinz und preußischem Staat aufrechterhalten. Dennoch wirkten sich die zivilgesellschaftlichen oder besser gesagt pseudozivilgesellschaftlichen Initiativen fördernd auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung der Provinz aus. Letztlich fand gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in gegenseitiger Befruchtung eine Ausdifferenzierung der politischen und gesellschaftlichen Institutionen statt. Es gehört zur »Vielfalt der Moderne«, dass sich auch in Pommern mehr und mehr eine pluralistische Öffentlichkeit herausbildete, deren konservativer Teil  sich jedoch weiterhin als Gegner des ­zivilgesellschaftlichen Projekts empfand.

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Schlussbetrachtung Alle drei Untersuchungsfelder, die schulische, die infrastrukturelle und die zivilgesellschaftliche Entwicklung im pommerschen Regierungsbezirk Stettin im 19. Jahrhundert, zeichneten sich durch einen erheblichen Modernisierungsfortschritt aus. Wesentliche Aspekte des Modernisierungsprozesses wie etwa der Alphabetisierung, Differenzierung und Säkularisierung bei der Hebung des Schulwesens, der Technisierung, Mobilisierung und Ausweitung der Kommunikation bei der Entwicklung der Verkehrsinfrastrukturen und der Partizipation, Demokratisierung und Parlamentarisierung bei der Herausbildung zivilgesellschaftlicher Strukturen konnten veranschaulicht werden. Zugleich wurde deutlich gemacht, wie stark sich die verschiedenen Aspekte des Modernisierungsprozesses gegenseitig beeinflussten und befruchteten. Schlüsselaspekte wie die Schaffung und Ausweitung eines nationalen Kommunikationsraums oder allgemein eine zunehmende Bürokratisierung und Rationalisierung nahmen in allen drei Untersuchungsfeldern einen wichtigen Platz ein. Der pommersche Transformations- und Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts ist jedoch in mehrfacher Hinsicht als partiell zu klassifizieren: Erstens wurden in allen drei Untersuchungskapiteln Entwicklungsrückstände gegenüber den westlichen Provinzen der preußischen Monarchie konstatiert. Diese konnten trotz teilweise erheblicher Anstrengungen der lokalen Akteure nie ganz nivelliert werden. Zweitens war der Modernisierungsprozess von geradezu dramatischen Disparitäten innerhalb des Untersuchungsraums geprägt. Diese manifestierten sich in einem wenig überraschenden Stadt-Land-Gefälle. Während die Großstadt Stettin in allen drei Untersuchungsfeldern immer eine Vorreiterfunktion einnahm, folgten die kleineren Städte wie Stargard, Anklam, Demmin oder Pasewalk zumeist im Abstand ihrer Einwohnerstärke, soziostrukturellen Gliederung und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Am Ende des Gefälles stand schließlich immer das so genannte platte Land. Drittens ist der in dieser Studie untersuchte Modernisierungsprozess als partiell zu beschreiben, weil in ihm stets starke Elemente einer defensiven Modernisierungsstrategie des ländlich-agrarischen Milieus zu erkennen waren. Die in der höheren Provinzialverwaltung und im lokalen Rittergutsbesitz verankerten traditionellen Eliten waren zwar am pommerschen Modernisierungsprozess durchaus an entscheidender Stelle beteiligt, jedoch offenbarte sich bei diesen immer wieder die Zielsetzung, zumindest Teile der überkommenen politischen wie gesellschaft­ lichen Ordnung auch in die Zukunft hinüberzuretten. Als wesentliche Akteure des Transformations- und Modernisierungsprozess sind im Fall der Hebung des Schulwesens, beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und bei der Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen eine Viel345 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

zahl von Personen, Institutionen und Organisationen zu benennen. Auf Seiten der Provinzialverwaltung waren die drei Oberpräsidenten Sack (Oberpräsident von 1816–1831), von Bonin (1835–1852) und von Senfft-Pilsach (1852–1866) prägende Figuren. Während sich Sack bereits kurz nach seinem Amtsantritt bemüht hatte, sowohl das pommersche Schulwesen zu reformieren als auch den Chausseebau in Gang zu setzen und über die Gründung bzw. Förderung diverser Vereine und Institutionen die Pommern zu eigenen »Fortschritten« zu motivieren,1 ist mit dem Namen von Bonins der Bau der ersten pommerschen Eisenbahnlinie von Stettin nach Berlin sowie der Ausbau des Chausseenetzes zu verbinden. Von Senfft-Pilsach setzte sich ebenfalls mit großem Engagement für die Förderung der pommerschen Infrastruktur ein. Zugleich war er der entscheidende Organisator bei der Ausbildung einer konservativen Gegenöffentlichkeit und einer konservativen Partei. Aufgrund der bis 1882 aufrechterhaltenen Personalunion zwischen dem Ober- und dem Regierungspräsidenten des Stettiner Bezirks erscheinen da­ gegen die Bezirksregierungen zumeist nicht als eigenständige Entwicklungs­ akteure. Lediglich bei der Untersuchung der Hebung des Schulwesens wurde die hohe Bedeutung einzelner Regierungsräte der Schulabteilung für den pommerschen Reformprozess herausgestellt. Die pommerschen Landräte fielen wiederum im Fall des Schulwesens nicht als wesentliche fördernde oder hemmende Akteure auf. Anders gestaltete sich das allerdings bei der infrastrukturellen Entwicklung. Gerade in diesem Bereich konnten geschickt agierende Landräte insbesondere in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts und dann nach den Verwaltungsreformen der siebziger Jahre als Moderatoren der divergierenden Interessen ihrer Kreise auftreten und im Erfolgsfall lokale Verkehrsprojekte entscheidend anstoßen. Im Untersuchungsfeld der Entfaltung zivilgesellschaft­ licher Strukturen wirkten die pommerschen Landräte dagegen unisono als administrativ verlängerter Arm der konservativen Partei, die somit zwar mithalfen, konservative Vereins- und Parteistrukturen aufzubauen, jedoch liberale und sozialdemokratische Initiativen vehement bekämpften. Die Politik des Staatsministeriums und des jeweiligen Monarchen wirkte sich auch auf Pommern aus. Im Schulwesen zeitigten der Erlass der Stiehlschen Regulative von 1854 und die Allgemeinen Bestimmungen von 1872 für die untersuchte Provinz zumindest indirekte Konsequenzen. Direkter beeinflusste dagegen die gesonderte Förderung der ostelbischen Provinzen im letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur. Zudem wurden bereits im Vormärz ausschließlich für Pommern gewährte Mittel aus Staatsfonds in lokale Infrastrukturprojekte investiert. Angesichts der auch zeitgenössisch empfundenen Rückständigkeit gegenüber den stets als Vergleichsmaßstab gewählten westlichen Provinzen gingen den pommerschen Akteuren diese extraordinären Fördermaßnahmen nie weit genug. Insbesondere die Ober­ präsidenten, aber auch die Bezirksregierung und nicht zuletzt die pommerschen 1 Vgl. den Kommentar Sacks von 1823. Zit. nach: Wehrmann, Pommern, S. 290.

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Stände beklagten deshalb ständig aufs Neue die scheinbare Zurücksetzung der »treuesten« Provinz der preußischen Monarchie. Letztlich bleibt zu konstatieren, dass die Berliner Zentrale Pommern zwar durchaus wohlwollend gegenüberstand, aus dem von der Provinzialverwaltung bis zum Ende des Untersuchungszeitraums stetig wiederholten Treuebekenntnis und der symbolischen Statthalterwürde der preußischen Thronfolger indes keine außerordentliche Behandlung der Provinz resultierte. Wenn eine solche, etwa bei der Unterstützung von Senfft-Pilsachs im Streit mit dem Handelsminister von der Heydt durch Friedrich Wilhelm IV., in Ansätzen erkennbar wurde, blieb diese in erster Linie auf rhetorische Eingriffe des Monarchen beschränkt. Dass die Provinz Pommern keine spezielle Behandlung durch die Berliner Zentrale erfuhr, wird nicht zuletzt durch einen Blick in die Sachregister der Registerbände der Protokolle des Staatsministeriums und des Kronrats belegt, wo Pommern keinesfalls häufiger als die anderen preußischen Provinzen erscheint. Stattdessen stellt sich sogar der Eindruck ein, dass sich Pommern gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gegenüber den anderen Provinzen immer weiter aus dem Fokus des Staatsministeriums entfernte.2 Innerhalb der gesellschaftlichen Sphäre fällt in allen drei Untersuchungs­ gebieten die herausragende Bedeutung städtischer Akteure auf. Im Bildungsund Wirtschaftsbürgertum und in der Stettiner Presse fanden sich die eifrigsten Propagandisten eines Ausbaus des Schulwesens und der Verkehrsinfrastruktur. Wesentliche zivilgesellschaftliche Impulse, von den Zeitungsgründungen bis zur Initiierung der ersten gesellschaftlichen und politischen Vereinigungen, gingen von Städtern aus. Überwogen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Angehörige des Verwaltungsapparats, Kaufleute, Redakteure, Ärzte und höhere Lehrer, gesellten sich bereits in der Revolution von 1848/49 auch Handwerker, Gesellen und einfache Stadtschullehrer dazu. Die Vielzahl von Vereinsgründungen und der politische Aktivismus während der Revolutionszeit können zwar das in der Literatur stets perpetuierte Stereotyp Pommerns als Hochburg der Reaktion nicht erschüttern, gleichwohl zeigt sich, dass sich vom Pommern der Revolutionszeit ein differenzierteres Bild malen lässt. Es wurde deutlich, dass städtische Unterschichten in den Krawallen der Jahre 1847 und 1848 begannen, ihre Interessen zu artikulieren. Im Gegensatz zu den achtziger und neunziger Jahren, als es die Sozialdemokratie vermochte, dieses Protestpotential für sich parteipolitisch zu bündeln, blieben diese Proteste jedoch diffus und konnten (noch) nicht in organisatorische Strukturen überführt werden. Auf dem Land hingen Fortschritte bei der Hebung des Schulwesens und beim Ausbau der Infrastruktur dagegen in erster Linie vom Engagement der ört­ lichen Guts- und Rittergutsbesitzer ab. Insbesondere die in der Pommerschen Ökonomischen Gesellschaft vereinten Gutsbesitzer setzten sich im Gegensatz 2 Vgl. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Bd. 1–7. Siehe dort jeweils die Sachregistereinträge zu den einzelnen preuß. Provinzen.

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zur Mehrheit ihrer Standesgenossen schon im Vormärz für eine weitere Entwicklung des pommerschen Verkehrswesens ein. Die Hebung des Schulwesens hing dagegen in erster Linie vom individuellen Reformeifer einzelner Schul­ patrone ab. Infolge der Verberuflichung des Lehrerstandes im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kamen hier die Lehrer als wesentliche Akteure hinzu. Zivil­gesellschaftliche Impulse wurden schließlich, abgesehen von einer geringen Zahl liberaler bzw. liberalkonservativer Gutsbesitzer, von der Gruppe der Gutsbesitzer fast ausschließlich für das konservative Vereinsspektrum gegeben. In den Verwaltungsakten erscheint weiterhin die einfache Landbevölkerung im Rahmen der Hebung des Schulwesens und des Ausbaus der Infrastruktur eher als hemmender und zuweilen sogar als renitenter Akteur. Ein wichtiges Ergebnis dieser Studie stellt allerdings die Erkenntnis dar, dass die mangelnde Bereitschaft, entsprechende Modernisierungsprojekte zu schultern, zumeist weniger aus einer grundsätzlichen modernisierungsskeptischen Mentalität resultierte als aus der Armut und der mangelnden Einsicht eines persön­ lichen Nutzens für die einfache Bevölkerung. Dass die Ablehnung einzelner Modernisierungsprojekte auf einer eigenen Zweckrationalität beruhte, wurde im Fall der Ausdifferenzierung des Schulwesens in Greifenhagen oder bei einzelnen Straßenbauprojekten wie in Deep deutlich.3 Bemerkenswert ist freilich, dass als Indiz für die zunehmende Anerkennung der Schule die Schulversäumnisse spätestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts deutlich nachließen. Zudem ist auch bei den Infrastrukturprojekten etwa anhand der nach 1848/49 immer häufiger von einfachen Pommern unterzeichneten Petitionen eine höhere Akzeptanz festzustellen. Sonst aber behinderten bei der Landbevölkerung wie auch bei den geistlichen Orts- und Kreisschul­ inspektoren noch am ehesten religiöse Befindlichkeiten eine weitergehende Säkularisierung und damit Reformierung des Schulunterrichts. Wichtige Entwicklungsakteure stellten schließlich die nicht eindeutig der staatlichen bzw. gesellschaftlichen Sphäre zuzuordnenden Selbstverwaltungsgremien der Provinz dar. Hier ist festzustellen, dass der Pommersche Provinzial- und der Altpommersche Kommunallandtag erst in den dreißiger und vierziger Jahren auf Initiative städtischen Engagements sukzessive ihr gestalterisches Potential wahrnahmen. Insbesondere nach 1848/49 und dann wieder nach den Verwaltungsreformen der siebziger Jahre wurden die Selbstverwaltungsgremien wichtige Akteure des Modernisierungsprozesses. Insbesondere beim Ausbau der Infrastruktur ist zu erkennen, dass die veränderten Mehrheitsverhältnisse in den Kreistagen und damit auch im neuen Provinziallandtag sowie die nunmehr geregelte staatliche Dotationspraxis den häufig vorhandenen Investitionsstau aufheben konnten. Ländliche und städtische Vertreter zeigten sich jetzt eher bereit, bei der Streckenführung und Finanzierung Kompromisse einzugehen, wobei zu konstatieren bleibt, dass in Pommern von den 3 Hiermit bestätigen sich im Übrigen die kongruent zu diesen Ergebnissen liegenden Über­ legungen von Nils Freytag. Vgl. Freytag, S. 298 f.

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neuen Investitionen weiterhin das ländlich-agrarische Milieu der Großgrundbesitzer profitierte. Generell ist festzuhalten, dass die in dieser Studie gewählte Aufgaben­stellung, den Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der untersuchten Akteure breiter zu erfassen, sinnvoll war. Zwar wurde erneut die Bedeutung einzelner Persönlichkeiten der höheren Provinzialverwaltung wie Sack, von Bonin und von Senfft-Pilsach herausgestellt, zugleich konnte aber gezeigt werden, dass auch sonstige Akteure aus der niederen Verwaltung und der gesellschaftlichen Sphäre maßgeblich an der Hebung des Schulwesens, dem Ausbau der Infrastruktur und der Entfaltung zivilgesellschaftlicher Strukturen beteiligt waren. Zudem drängt sich trotz des steten Ausbaus des provinzialen Verwaltungs­ apparats und der damit einhergehenden wachsenden staatlichen Durchdringung, Bürokratisierung und Rationalisierung4 der Provinz aus der Lektüre der Verwaltungsakten der paradoxe Eindruck auf, dass die Bedeutung der höheren Verwaltung als exklusiver Entwicklungsakteur  – zumindest relativ  – im Sinken begriffen war. Setzten sich insbesondere die Oberpräsidenten Sack, von Bonin und von Senfft-Pilsach im Verwaltungsschriftgut als selbstbewusste Entwicklungsakteure in Szene, beschränkten sich ihre Nachfolger von Münchhausen (Oberpräsident von Pommern 1867–1882) und von Behr-Negendank (1883–1891) mehr und mehr auf eine passive und beobachtende Rolle. Statt auf die Schultern eines oder einer überschaubaren Zahl weniger namentlich auszumachender Protagonisten verteilte sich die Rolle der Entwicklungsakteure einerseits auf den ausufernden mittleren und unteren Beamtenapparat und andererseits auf die diversen lokalen Akteure.5 Diese waren freilich zum einen den gestärkten Selbstverwaltungsgremien der Provinz und zum anderen ausschließlich der gesellschaftlichen Sphäre zuzurechnen. Generell verdeutlichte sich also auch in Pommern die im 19. Jahrhundert wahrzunehmende Tendenz, dass sich »neuartige Mittlerinstanzen […] zwischen Volk und Regierende schoben«. Hierzu zählten neben den wachsenden Bürokratien auch die politischen Parteien, die Presse und Interessenverbände aller Art. Die konstatierte Verlagerung von einzelnen »Heldenfiguren« auf eine breitere Gruppe von Akteuren ist 4 Vgl. dazu die diversen Zahlenangaben bei Fenske, S. 21 f., S. 45 u. S. 48 f. Generell zum Ausbau des preuß. Beamtenapparats von 1858–1907/11 vgl. Süle, S. 29–31. Der preuß. Beamten­ apparat verdoppelte sich nach Süles Angaben 1858–1882 von 82.318 auf 160.283 Beamte. Der relative Anteil an der preuß. Gesamtbevölkerung stieg im gleichen Zeitraum von 1,5 auf 1,9 %. 1907 lag er bei 2,8 % (496.364 Beamte). Lutz Raphael weist in seinem Essay über den Ausbau des Verwaltungsstaats im 19. Jhdt. ebenfalls auf die enorme Expansion des Beamtenapparats, die zunehmende Rekrutierung bürgerlicher Mittelschichten u. generell auf die gesellschaftsgestaltenden Impulse der Verwaltung hin. Außerhalb der Verwaltung stehende Akteure am gesamtgesellschaftlichen Modernisierungsprozess werden dagegen nicht thematisiert oder wie die Lehrer dem Beamtenapparat zugerechnet. Vgl. Raphael, S. 212–214. Auch global betrachtet weist Jürgen Osterhammel darauf hin, dass im 19. Jhdt. der Staat »zu einem Leviathan zu werden [begann], der aber nicht unbedingt ein Monster sein musste.« Vgl. Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 1289. 5 Vgl. Loo u. Reijen, S. 31, S. 35 u. S. 81 ff.

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dabei nicht zuletzt dem zunehmenden Differenzierungsprozess der Moderne geschuldet.6 Da mit der zunehmenden Partizipation zivilgesellschaftlicher Akteure sich der pommersche Modernisierungsprozess grundsätzlich beschleunigte, ist gerade auch in diesem Zusammenhang ein Defizit der pommerschen Entwicklung im 19. Jahrhundert festzustellen. Zwar ermöglichten die im Wesentlichen von oben durchgeführten Reformen der pommerschen Provinzialverwaltung in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts bemerkenswerte Fortschritte, man kann jedoch spekulieren, inwieweit eine frühzeitigere Partizipation der pommerschen Bevölkerung nicht einen weitaus stärkeren Entwicklungsschub in Gang gebracht hätte.7 Eindrucksvoll waren in jedem Fall die verschiedenen zu Beginn der fünfziger Jahre geäußerten Zitate, in denen der Handelsund Gewerbeminister von der Heydt die mangelnde »Selbstthätigkeit« der pommerschen Bevölkerung kritisierte und die offensichtlich noch nicht vollständig überwundene Mentalität tadelte, dass man eben »nicht Alles vom Staat verlangen dürfe«.8 Den Leistungen, die im Zuge dieses spezifischen Weges in die Moderne erzielt wurden, steht die Erkenntnis entgegen, dass man zumindest im Fall des infrastrukturellen Ausbaus der Provinz Pommern gegenüber den westlichen Provinzen der preußischen Monarchie den womöglich entscheidenden Zeitpunkt am Vorabend der Industriellen Revolution verpasst hatte und den entwicklungstechnischen Rückstand damit nicht so schnell aufholen konnte. Versucht man die Erkenntnisse dieser Studie vom pommerschen Fokus zu lösen und auf die preußische bzw. sogar preußisch-deutsche Ebene zu be­ziehen, ist noch einmal der aus der konservativen Perspektive durchschlagende Erfolg der defensiven Modernisierungsstrategie der ländlich-agrarischen Akteure zu betonen. Mit der partiellen Modernisierung Pommerns und anderer ostelbischer Gebiete konnten die überkommenen politischen und gesellschaftlichen Machtpositionen des ländlich-agrarischen Milieus durchaus erfolgreich in die industrielle Moderne hinübergerettet werden. Mindestens bis zur November­ revolution von 1918 stellte sich der politische und gesellschaftliche Einfluss der in vielfacher Hinsicht rückständigen Gebiete Ostelbiens gegenüber den ent­ wickelteren Regionen im Westen Preußen-Deutschlands unverhältnismäßig dar. Zwar war diese Disproportionalität zugunsten des ländlich-agrarischen Milieus und seiner traditionellen Eliten im internationalen Vergleich kein Ein6 Vgl. hierzu auch die entsprechenden Ausführungen am Schluss seines »Staats«kapitels Osterhammel, Verwandlung der Welt, S. 906. 7 Bereits in den siebziger Jahren wurde mit dem »magischen Fünfeck von Entwicklung« (Dieter Nohlen/Franz Nuscheler) die Bedeutung der Mitwirkung der Entwicklungsadressaten am politischen Entscheidungsprozess für eine erfolgreiche Entwicklung betont. Vgl. Nohlen u. Nuscheler, S. 71 f. Das Fünfeck beinhaltet neben dem Element der Partizipation weiterhin die Elemente Wachstum, Arbeit, Gleichheit/Gerechtigkeit u. Unabhängigkeit. 8 Vgl. GStAPK, I. HA, Rep. 89, Geh. Zivilkab., j. P., Nr. 28852, Votum v. d. Heydt an Staats­ ministerium, Berlin 2.5.1853.

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zelfall, allerdings ergaben sich hieraus für die weitere Entwicklung PreußenDeutschlands schwerwiegende Folgen. Insbesondere die aufgrund des eingeschränkten Untersuchungszeitraums nur noch am Rande sichtbar werdende zunehmende Radikalisierung des agrarisch-konservativen Lagers Ostelbiens, das durch Figuren wie dem erwähnten Agrarfunktionär, späteren Aktivisten der Vaterlandspartei und Kapp-Putsch-Verschwörer Conrad Freiherr von Wangenheim-Kl. Spiegel repräsentiert wurde, belastete Pommern, Preußen und damit Deutschland auch noch in der Zeit nach 1918.9 Allerdings zeichnet sich in diesem Prozess keinesfalls ein etwaiger Sonderweg Preußen-Deutschlands ab. Stattdessen stellt die hier skizzierte partielle Modernisierung Preußens am Beispiel der Provinz Pommern bzw. des Regierungsbezirks Stettin eine spezifische Ausprägungsvariante der »Vielfalt der Moderne« dar. Zuletzt bietet sich im Rahmen einer Studie, die den Untersuchungsraum Pommern bzw. den Regierungsbezirk Stettin über den Zeitraum von rund 75  Jahren bearbeitet hat, die Möglichkeit, auch auf Desiderate hinzuweisen. Landesgeschichtliche Desiderate ergeben sich zuhauf. Trotz der seit dem Ende der achtziger Jahre und dann wieder nach 1990 einsetzenden geschichtswissenschaftlichen Bearbeitung der historischen Region Pommern gibt es diverse weiße Flecken, die einer Untersuchung harren. Insbesondere fehlt seit der »Geschichte von Pommern« Martin Wehrmanns eine ausführliche, heutigen geschichtswissenschaftlichen Maßstäben entsprechende Gesamtdarstellung der pommerschen Geschichte. Speziell für das 19. Jahrhundert böte es sich zudem an, sich einmal in einer umfassenden Studie der Revolution von 1848/49 zu zuwenden. Gleichermaßen fehlen Darstellungen zur Entwicklung des pommerschen Parteiensystems und der Wahlen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Selbstverwaltungsgremien müssten ebenfalls in gesonderten Arbeiten behandelt werden.10 Weiterhin bietet die pommersche Pressegeschichte eine Vielzahl von Themen, die einer intensiveren Aufarbeitung bedürften. Außerdem fehlt es immer noch an Studien, welche die pommersche Agrargeschichte der ersten beiden Drittel des 19.  Jahrhunderts bearbeiten. Auf das Desiderat, die pommersche Volksreligiösität stärker zu durchdringen, wurde bereits an anderer Stelle hingewiesen. Über den Rahmen einer landesgeschichtlichen Untersuchung hinaus würde gerade letzterer Punkt eine Bereicherung darstellen. Gleiches gilt für Studien über diejenigen politischen Gruppen, die es in Pommern besonders schwer hatten. Mehr zu erfahren über die hier angedeuteten Bemühungen der Liberalen und Sozialdemokraten, auch in der ländlichen Gesellschaft Ostelbiens Fuß zu fassen, wäre eine wesentliche Ergänzung für die allgemeine deutsche Parteien- und Demokratieforschung. Eine weitere Erforschung des agrarisch-länd 9 Vgl. hierzu ausführlich Schissler, S. 108–112, Baranowski, passim u. Malinowski, S. 321 ff. 10 Die Arbeiten von Theodor Wengler über den pom. Provinzialverband sind zwar wertvoll, nähern sich dem Thema jedoch nur finanzwissenschaftlich an. Vgl. Wengler, Die Finanzwirtschaft des Provinzialverbands Pommern u. ders., Der Provinzialverband Pommern.

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lichen Milieus Pommerns drängt sich angesichts der nun hier schon mehrfach thematisierten Bedeutung dieses Milieus für die weitere Entwicklung PreußenDeutschlands ohnehin auf. Außerdem wurde in dieser Arbeit deutlich, dass Pommern auch für eine tiefergehende Analyse eines »Konservativismus von unten« ergiebiges Quellenmaterial bietet, welches ebenfalls noch einer umfassenderen Auswertung entgegensieht. Was freilich eine solche über den Rahmen einer landesgeschichtlichen Darstellung hinausgehende Forschung in Zukunft noch stärker leisten müsste, wäre, der Notwendigkeit gerecht zu werden, komparatistische Elemente zu integrieren. Hier böten sich einerseits innerpreußische Vergleichsstudien zwischen den verschiedenen östlichen und westlichen Provinzen an. Andererseits wäre es aber auch erkenntnisfördernd, Regionen mit ähnlichen Strukturmerkmalen gemeinsam auf europäischer oder sogar globaler Ebene zu untersuchen. Wo dieses mit Bezug auf Ostelbien bereits in Ansätzen gemacht wurde, ist auf Parallelen zwischen der ostelbischen Entwicklung und dem Mezzogiorno sowie den ländlichen Gebieten Südspaniens verwiesen worden.11 Des Weiteren würden sich etwa die amerikanischen Südstaaten und weitere Regionen anbieten, die ebenfalls vom Großgrundbesitz dominiert waren und im Modernisierungsprozess des 19. Jahrhunderts mit kongruenten Strukturproblemen zu kämpfen hatten. Ferner wäre es auch interessant, die Erkenntnisse über die Entwicklungs­ defizite einer Region wie Pommern aus dem historischen Kontext zu lösen und mit den Problemen gegenwärtiger Rückständigkeit in Bezug zu setzen. Neben dem Mezzogiorno und Südspanien gehörte auch das deutsche Bundesland Mecklenburg-Vorpommern zwischen 2000 und 2006 zu den so genannten Ziel1-Regionen der EU, die aufgrund ihres erheblichen Entwicklungsrückstandes gegenüber dem EU-Durchschnitt eine besondere Förderung erhielten.12 Auch in der aktuellen Förderperiode 2007 bis 2013 zählen diese Gebiete gemeinsam mit der überwiegenden Fläche der neuen EU-Beitrittsländer zu den so genannten Konvergenzregionen, denen erhebliche Mittel aus dem »Europäischen Fonds für regionale Entwicklung« (EFRE), dem »Europäischen Sozialfonds« und dem »Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des länd­ lichen Raums« zugewiesen werden.13 Da in den vergangenen zwanzig Jahren seit der deutschen Wiedervereinigung insbesondere die infrastrukturelle Entwicklung Mecklenburg-Vor­pommerns gefördert worden ist, bleibt zu wünschen, dass von den jetzigen Entwicklungsakteuren eine weitere Hebung des Schul- und Bildungswesens und vor allem eine umfassende Hilfestellung zur Förderung einer eigendynamischen Entfaltung der zivilgesellschaftlichen Strukturen dieser Region betrieben wird.

11 Vgl. etwa Wagner, Gutsherren – Bauern – Broker, S. 275–278. 12 Vgl. Europa. Das Portal der Europäischen Union. Siehe hier auch die tabellarische Übersicht mit den Gebieten der Ziel-1-Förderung. 13 Vgl. EU-Büro des Bundesministeriums für Forschung u. Bildung.

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Abkürzungen ADAV Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein ADB Allgemeine Deutsche Biographie AfS Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik ALR Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Amtsbl. Amtsblatt Bbg. Brandenburg BdL Bund der Landwirte Bn Börsennachrichten der Ost-See BSt Baltische Studien DDR Deutsche Demokratische Reublik DFP Deutsche Fortschrittspartei DkP Deutschkonservative Partei EU Europäische Union FBPG Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte FVP Fortschrittliche Volkspartei Geh. Zivilkab. Geheimes Zivilkabinett GG Geschichte und Gesellschaft GS Gesetz-Sammlung für die Königlich-Preußischen Staaten HA Hauptabteilung HZ Historische Zeitschrift Hzgt. Herzogtum IASL Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur JbGMOD Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands j. P. jüngere Periode j.R. jüngere Registratur Kgl. Priv. Ztg. Königlich Privilegirte Zeitung KO Kabinettsorder MGZ Militärgeschichtliche Zeitschrift Monatsbl. Monatsblätter der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Landeskunde NDB Neue Deutsche Biograhie Ndt. Ztg. Norddeutsche Zeitung Nl Nachlass NLP Nationalliberale Partei N. F. Neue Folge OZ Ostseezeitung und Börsennachrichten der Ostsee PBS Pommersche Blätter für die Schule und ihre Freunde Reg. St. Regierung Stettin Rep. Repositur SDAP Sozialdemokratische Arbeiterpartei SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sta Staatsarchiv SZG Schweizerische Zeitschrift für Geschichte

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Tit. Titel USA Vereinigte Staaten von Amerika Vhdl. des Kom.-Landtags Verhandlungen des Kommunal-Landtags von Alt-Pommern Vhdl. des Prov.-Landtags Verhandlungen des Provinzial-Landtages im Herzogthum Pommern und Fürstenthum Rügen VSWG Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Wbtlg. Wahlbeteiligung Zit. nach Zitiert nach ZfP Zeitschrift für Pädagogik ZkiG Zeitschrift für Kirchengeschichte Ztg. Zeitung Ztgsb. Zeitungsbericht der Regierung Stettin ZUG Zeitschrift für Unternehmensgeschichte

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LAG – Landesarchiv Greifswald Rep. 60 (Oberpräsident Pommern), Tit. 7 (Armenwesen), Nr. 1413. Rep. 62 (Provinzialschulkollegium), Nr. 1726; 1807.

Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Staatsarchiv Münster Oberpräsident Münster, Nr. 128, Bd. 3.

Zeitschriften und Periodika Amtsblatt der Regierung in Stettin/Öffentlicher Anzeiger (1817–1945, ausgewertet: 1817–1890). Berichte des Provinzialausschusses über die Verwaltung der Angelegenheiten des Provinzialverbandes von Pommern (1877–1932, ausgewertet: 1877–1916/17). Börsennachrichten der Ost-See (1835–1848). Gesetz-Sammlung für die Königlich-Preußischen Staaten (1810–1906). Monatsblätter der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde (1887–1942). Norddeutsche Zeitung (1849–1859). Ostseezeitung und Börsennachrichten der Ostsee (1848–1905, ausgewertet: 1848–1890). Pommersche Blätter für die Schule und ihre Freunde (1877–1926). Privilegierte Stettiner Zeitung (1806–1860, ausgewertet 1815–1860). Verhandlungen des Kommunal-Landtags von Alt-Pommern (1829–1876). Verhandlungen des Provinzial-Landtages im Herzogthum Pommern und Fürstenthum Rügen (1824–1873).

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Register

Personenregister Altvater, Adolf  205, 250, 252, 256, 320 Alvensleben, Albrecht Graf von  149, 163 Amelung, Hermann  335 Andrae-Roman, Alexander  275, 279 Arndt, Ernst Moritz  322 Atterbom, Per Daniel Amadeus  141 f., 147 Auerswald, Rudolf von  274 Bagan, Lehrer  267 Balke, Landrat des Ueckermünder Kreises  65 Bebel, August  231 Beckedorff, Ludolph von  49, 51 f. Behr-Negendank, Ulrich Graf von  155, 349 Below, Alexander von  229, 264, 280 Below, Gustav von  264 f., 340 Below, Heinrich von  264 f., 267, 340 Bendix, Baubeamter  140 Bernhardt, Schulrat  49 f., 84, 98 Bethmann-Hollweg, Moritz August von  281 Beuth, Peter  149 f. Bindewald, J. 281 Bismarck, Bernhard von  109, 194–196, 213, 244, 288 f., 299, 340 Bismarck, Otto von  56, 109, 153, 196, ­229–231, 236, 278, 280 f., 283, 285, 289, 298, 326 Blankenburg, Moritz von  264, 278 f. Blum, Robert  248, 325, 333 Bodelschwingh, Carl von  158, 164 Bohm, Schulvorsteher  124 Bonin, Gustav von  265 Bonin, Wilhelm von  74, 94, 162–164,167, 182, 188 f., 205, 211–213, 217, 242, 248, 274, 288, 324, 346, 349 Borcke, Karl August Ferdinand von  303 Bötticher, Carl Wilhelm von  189, 281 Brandenburg, Friedrich Wilhelm Graf von  256, 323 Broemel, Max  329 f., 335

Brühl, Hans Moritz Graf von  143 Brunnemann, Carl  116 f., 276, 308, 320, 325 Buddenbrock, Alfred Freiherr Graf von  194 Bülow, Hans Graf von  144–147 Bülow-Cummerow, Ernst von  158, 229, 278–280 Bülow-Rieth, Christian von  159 f. Büsing, Bauingenieur  210 Busse, Hermann von  193 Camphausen, Ludolf  149 Dannappel, Regierungsassessor  276 Delbrück, Rudolf  330 Dettmer, Emanuel Jacob  39 Diesterweg, Adolph  52, 54 Dohna-Schlobitten, Friedrich Burggraf und Graf zu  189 Döhring, Bauinspektor  164 Dreist, Karl August Gottlieb  49, 52, 98 Durkheim, Émile  24 Effenbart, Hermann Gottfried  250 Ehrenström, Wilhelm  268 Eichhorn, Johann Albrecht Friedrich  52, 72, 75, 98 Eitel Friedrich, Prinz von Preußen  321 Enckevort, Adrian von  291 Engels, Friedrich  229 Eulenburg, Friedrich Graf zu  243, 246 Falk, Adalbert  55 Ferno, Hermann  166, 275, 306 f. Fetting, Johann Friedrich  39 f. Fichte, Johann Gottlieb  48 Fischer, Superintendent  66 Frentz, Karl  291 Friedrich II. 30, 35, 58, 140, 143, 221 f. Friedrich III. 198, 298, 321 Friedrich Wilhelm I. 43 Friedrich Wilhelm II. 143, 321

373 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

Friedrich Wilhelm III. 145, 149 f., 158 f., 189, 265 f., 321 Friedrich Wilhelm IV. 53, 103, 150, 155, 158, 162, 169–174, 192 f., 195 f., 203, 212 f., 227, 239, 251, 255, 275, 278, 283 f., 321, 347 Fromm, Emilie  318 Gentzensohn, Ewald  324 Gerlach, Ernst Ludwig von  229, 278, 282 f., 326 Gerlach, Leopold von  278 Gierke, Julius  274, 319 f. Gierke, Otto  14 Giese, Ernestine Henriette  318 Giese, Schulinspektor  85 Giesebrecht, Ludwig  117, 255 Girardet, Wilhelm  232 Gneisenau, August Graf Neidhardt von, 49 Göring, Friedrich Christian  44 Grabau, Johann Andreas August  268 Graßmann, Heinrich Gotthülf Friedrich  49 f., 52, 73, 77, 86–88, 98, 114, 121, 134, 302 Grassmann, Robert  244, 246, 258 f., 261, 329 Gutbiers, Daniel  40 Hagen-Premslaff, August von  281 Hansemann, David  149 f., 274, 280 Hardenberg, Karl August von  49, 151, 219 Harkort, Friedrich  54, 149 Hasselbach, Karl Friedrich Wilhelm  116 f. Hecker, Friedrich  248, 307 Heegewaldt, Oberregierungsrat  188, 243 Hegel, Friedrich  14, 24 Henning, Johann Wilhelm Mathias  49, 98, 101, 105 Henrici, Ernst  335 Herbert, Fritz  260, 296 f., 330, 332–334, 340 Hering, Oberbürgermeister von Stettin  243, 328 Hermann, der Cherusker (Arminius) 126, 222 Hermes, Karl Heinrich  244 f. Hessenland, Franz  188, 206, 250, 320 Heyden, Ernst von  291 Heyden, Hermann von  281 Heydt, August von der  93, 152 f., 167, ­170–174, 191–193, 195–197, 212, 347, 350 Hildebrandt, Superintendent  71 f., 122 f.

Hoffmann, Leiter des preußischen Statistik­ amtes 63 Huene, Karl von  154 Humboldt, Wilhelm von  46, 48, 50 f., 222 Ingersleben, Karl Heinrich von  49 f. Itzenplitz, Heinrich Graf von  152 f., 194, 205, 328 Jacoby, Johann  208, 227 Juds, Hermann  104 Jungklas, Lehrer  320 Kapell, August  329, 331 Kapp, Wolfgang  301, 351 Karl, der Große  126 Kindermann, Adolf  268 Klamroth, Karl Heinrich Ludwig  66 Kleinsorge, Wilhelm  116, 320 Kleist-Retzow, Hans Hugo von  124, 193, 229, 278–280, 282 f., 287, 326 Knebel-Döberitz, Georg von  193 Kodela, Dorothea  318 Krauseneck, Johann Wilhelm von  150 Kuylenstierna-Roggow, von, Ritterguts­ besitzer 281 Ladenburg, Adalbert von  117 Lasius, Friedrich  267 Lasker, Eduard  328 Lassalle, Ferdinand  231, 334 Leistikow, Justizrat  329 Lengerich, Franz Hermann  67, 73, 77, 81, 83, 87, 102 f., 120, 126 f. Lenz, Friedrich  93, 200 Liebknecht, Wilhelm  231 List, Friedrich  139, 149, 206, 251 Lottum, Carl Friedrich Heinrich Graf von  159 Lüders, Wilhelm  254, 257, 316 f., 320, 323 Luther, Martin  222 Maehl, Jakob  38 Maltzahn, Helmuth Freiherr von  321 Maltzahn-Zettemin, Baron von, Rittergutsbesitzer  103, 107 Mannheim, Karl  27 Manthey, Friedrich  276, 320, 323 Maron, R. H. 256, 259, 306, 319 Marwitz, Friedrich August Ludwig von der  21

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Marwitz, Heinrich von der  166, 194 Marwitz, Hermann von der  178, 195, 213 Marwitz, Ludwig von der  303 Marx, Karl  24, 30, 229 Massow, Julius von  43 f., 46, 49, 80 Mehring, Franz  30, 269, 273 Mehring, Stadtschulinspektor  79, 131 Mendelsohn, Joseph  205 Michaelis, Otto  328 Mittelstaedt, Ernst Jacob von  74, 266 Mosse, Rudolf  232 Motz, Friedrich von  266 Mühlenbeck, August Ludwig  286, 309 Müller, Gustav  328 Münchhausen, Ernst Friedemann von  43 Münchhausen, Ferdinand von  109, 198, 203, 212, 294, 349 Nagler, Karl Ferdinand Friedrich von  149 Neuhaus, Friedrich  160, 162, 205 Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig  48 Niebuhr, Markus von  173 Nobiling, Pastor u. Schulinspektor  84 f., 126 f. Odebrecht, Pfarrer  75 Oertzen, Henriette von  264 Oertzen, Ida von  264 Österreich, Erzherzog Johann von  280 Pankow, Tagelöhner/Mitglied der Preußischen Nationalversammlung  273 f., 276 Paur, Theodor  124 Pestalozzi, Johann Heinrich  48–50, 54, 98 Plessner, Heinrich  320 Ploetz-Gr. Weckow, von, Rittergutsbesitzer  279 Ploetz-Stuchow, von, Landschaftsrat  281 Prietz, Julius  332 Prince-Smith, John  317, 325, 328 Putbus, Malte Fürst zu  161 Puttkamer, Heinrich von  264 Puttkamer-Rummelsburg, Heinrich von  193 Quistorp, Johannes  104 Raumer, Karl Otto  118 Retzlaff, Schmied  265 Reuters, Paul Julius  228

Richter, Ferdinand  124 Ritter, Apotheker/Abgeordneter im Vereinigten Landtag  316 Rodbertus, Johann Karl  274 f. Rönne, Ludwig von  54 Rother, Christian von  147, 149 f., 190 Rudolphy, Kaufmann  296 Sack, Johann August  13, 49–51, 81, 83 f., 91–93, 96 f., 133 f., 146 f., 155, 159 f., 167, 170, 181, 185, 211 f., 217, 223 f., 236, 265 f., 346, 349 Sasse, Schulze  265 Savigny, Friedrich von  281 Scharlau, Georg  320 Scheibel, Johann Gottfried  267 Scheibert, Karl Gottfried  117, 279, 283, 319 f., 326 Scherl, August  232 Schlotheim, Carl Ludwig Freiherr von  243 f., 259 Schlutow, Albert  330 Schmidt, Theodor  116 f., 280, 323, 328–330, 335 Schmidt, Thomas  181 f. Schöning, August von  160 Schöning, Wilhelm von  286 Schuckmann, Friedrich von  159 f., 266 Schultz, Frank  320 Schulz-Billerbeck, Rittergutsbesitzer  309 Schwarz, Schuhmacher  268 Schwerin-Löwitz, Hans Graf von  296, 300 Schwerin-Putzar, Maximilian Graf von  281, 283, 285 Senfft-Pilsach, Ernst Freiherr von  114, 155, 167, 169–173, 175, 192–198, 203–205, 211–213, 216 f., 229, 243–246, 264–266, 278, 283 f., 339 f., 346 f., 349 Simmel, Georg  24 Sobern-Zarrenthin, Baronin von  83 Sohrweide, Büdner/Mitglied der Preu­ ßischen Nationalversammlung  273 f. Sonntag, Pastor  73 Stahl, Friedrich Julius  54, 281, 326 Stahr, Karl Ludwig  116 f., 320 Stegemann, Baubeamter  140 Stein zum Altenstein, Karl Freiherr vom  52, 74, 97 Stein, Karl Freiherr vom und zum  48–50, 140, 219

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Sternberg, Paul  256, 319 Stiehl, Geheimrat  53, 124 Stoecker, Adolf  331, 335 Stolberg-Wernigerode, Eberhard Graf zu  194 Süvern, Johann Wilhelm  48 f., 51 f., 119

Uhden, Alexander von  191 Ullstein, Leopold  232 Ulrich, Schulrat  94

Wald, Georg  320, 323 Waldersee, Friedrich von  195 Waldow, von, Landrat des Saatziger Kreises  175 Wangemann, Seminardirektor  54, 99, 103, 248, 279, 285 Wangenheim-Kl. Spiegel, Conrad Freiherr von  300 f., 351 Weber, Max  24, 68 Wehrmann, Martin  30, 34, 51, 187, 207, 221, 257, 269, 318, 341, 351 Wehrmann, Theodor  94 Wetzel, Schulinspektor  124 f. Wilhelm I. 173, 230, 279, 298, 321 f., 327, 333 Wilhelm II. 126 Wolden, von, Oberleutnant  278 Wolff, Bernhard  228 Wolkwitz, von, Gutsbesitzer  271 Wrangel, Friedrich von  254, 319

Voeltz, von, Landrat des Camminer Kreises  74, 272 Vogtherr, Ewald  334 f.

Zedlitz, Karl Abraham von  46 Zitelmann, Carl  320 Zühlsdorff, Schneider  267 f.

Tannenbaum, Pastor  67 f. Techow, Friedrich  124 Tessel, Kreisbaumeister  184 Thadden-Trieglaff, Adolf von  244, 256, 264–267, 273, 278 f. Thadden-Trieglaff, Maria von  264 Thile, Ludwig Gustav von  191 Tönnies, Ferdinand  24 Triest, Gustav Robert  320

Sachregister Alkohol, Alkoholismus  40, 252, 303, 311 Allgemeine Bestimmungen (1872) 55, 57 f., 62, 100 f., 104 f., 119, 122–126, 129 f., 133, 135, 346 Allgemeines Landrecht  42–47, 52 f., 56, 81, 92, 144, 147, 224, 265 Alphabetisierung, Analphabetismus  18, 54, 57, 59–62, 133, 136, 168, 237, 239, 345 Altlutheraner  74 f., 78, 266–269, 337 Amtmann  14, 21, 65, 67 f., 223, 239 Antisemitismus, antisemitische Parteien  234, 250, 261, 292 f., 299, 307, 313 f., 330, 335, 339, 343 Arbeiterbewegung, Arbeiterbewegungs­ kultur  226, 233–237, 260, 297 f., 315, 332–335, 340–342 Arbeiterbildungsverein  308 f., 320, 326, 331 Arbeitsbeschaffungsmaßnahme  157, 167, 169, 183, 188, 215 f., 264

Armenschule, Freischule  35, 85 f., 88 f., 95, 127, 130 Armut, 39–41, 43, 45, 67 f., 73–78, 85 f., ­88–90, 93, 99, 108, 112, 134 f., 166, ­178–180, 186, 203, 252, 264, 270 f., 277, 282, 303, 311, 317 f., 324, 332, 348 Aufklärung 219–221 Auswanderung  30, 208 f., 211, 266–268, 284 Baptisten 305 Berlin-Stettiner Eisenbahn  188–190, 196 f., 202, 205–210, 212 f., 216 Bevölkerungsentwicklung  17, 29–31, 203, 208 Bezirksregierung, siehe auch Regierung Bibelverein, Missionsverein  224 f., 248, 261, 302 f., 327, 336 f. Börsennachrichten der Ost-See, Ostseezeitung  23, 82, 84, 91, 93, 96, 102, 108, 132, 168, 185–188, 205–209, 211, 214, 227, 238, 240, 244, 250–259,

376 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

273, 278–280, 303, 306, 315 f., 319, 323 f., 335 f., 341 Büdner  178 f., 271 f. Bund der Landwirte  234, 293, 295, 299 f.,339 Bürgergesellschaft, bürgerliche Gesellschaft  19, 220, 235 Bürgerschule, siehe auch Mittelschule Bürgertum  19, 56, 116, 132, 149, 187 f., 205, 211, 220, 225, 235–237, 244, 286–288, 303 f., 306, 317, 321, 325 f., 330, 334 f., 338 f., 347, 349 Bürgerwehr  101, 274 f., 305, 307, 319, ­321–323 Bürokratisierung  18, 26 f., 342, 345, 349 Burschenschaft 225 Chausseegeld  147, 166, 175, 177 f., 214 f., 263, 272, 276 f., 341 Cleavages  233, 235, 242, 338 Demagogenverfolgung  224 f. Demokraten, demokratischer Verein  ­101–103, 116, 131, 187, 208, 239, 242 f., 246, 254, 256 f., 259, 271 f., 276, 282, 286, 306–308, 316 f., 319, 322–326, 328, 337 f., 340 f. Demokratisierung  18 f., 24, 27, 86, 211, ­227–229, 256, 301 f., 314, 342, 345, 351 Dependenztheorie  24, 29 Deutsch-Katholizismus  253 f., 315 f., 337 Deutsche Nationalversammlung  117, 274, 280, 306 Dorfschulzen  40, 46, 48, 64–66, 102, 115, 158, 166, 168, 261, 263, 272, 275, 295 Dreiklassenwahlrecht  56, 86 f., 90, 135, 151, 231, 289–291, 309, 325–327, 329, 334 Elementarschule, siehe auch Volksschule Enteignung, Expropriation  144, 156, 158, 177, 182, 190, 195 Erfurter Unionsparlament  117, 283, 326 Flugblatt, Flugschrift  104, 239, 242, 272, 280 f., 294 f., 297, 308 Französische Besatzungszeit  29, 144, 161, 187, 315 Frauenverein, Frauenbewegung  230, 235 f., 295, 310, 332, 339–341 Freidenker  326, 334

Freihandel, Freihandelsverein  256, 317, 325, 328, 337 Freischule, siehe auch Armenschule Gendarmerie, siehe auch Polizei Generallandschulreglement  35, 37, 41 f., 44 f. Gesangsverein, Sängerbewegung  225 f., 234, 249, 314 Geschlecht, Geschlechterverhältnis in Schulen  36 f., 50, 82 f. Geselligkeitsverein  231, 298 f., 343 Gewerbeschule  84, 93, 95, 132 f. Gewerkschaft, Gewerkverein  233 f., 304, 306, 308, 310, 313, 331 f., 334, 340 »Große Männer« 13, 349 f. Gutsbesitzer, Rittergutsbesitzer  14, 36 f., 70–73, 77, 81, 105, 107, 123, 156–163, 165 f., 168, 174 f., 177, 180, 182–186, 190, 194, 196, 198, 201, 213 f., 216, 234, ­237–239, 242–244, 256, 261–265, 267, 271 f., 275, 279–281, 283, 286–291, 300, 305, 309, 322, 327, 340, 343, 345, ­347–349 Gymnasium  36, 84, 87–92, 94 f., 113, 116, 127, 131–133, 316, 319 Haffbahn  197 f., 203–205, 209 f. Handwerkerverein  306, 308 f., 315, 320, 326, 337 Herrenhaus  124, 193–197, 327 Hinterpommersche Eisenbahn  172 f., 192– 196, 198, 203 f., 209, 212 f. Höhere Bürgerschule, siehe auch Realschule Industrialisierung, Industrie  15, 18, 26–30, 93, 149 f., 163, 201, 204, 211, 215 f., 225 f., 235, 252, 312, 331 f. Industrielle Revolution  25, 29, 216, 350 Integration in den nationalen Kommu­ nikationsraum, siehe auch Kommuni­ kationsausweitung Juden, jüdisch  33, 222, 250, 252, 254, 302, 305, 307, 316, 326, 335, 339 Junker  14 f., 28, 234 Junkerparlament  229, 280, 337 f. Kapp-Putsch  301, 351 Katholiken, katholisch  60, 71, 136, 229, 231–235, 265, 335, 340

377 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

Katzenmusik 322 Kaufmannschaft  93, 156, 209–211, 224, 238, 255, 259, 303, 315, 323, 325, 328 f., 334, 337 Kinderarbeit  53, 63, 68–74, 76, 78–80 Kleinbahn(bau) 93, 154 f., 157, 176 f., 183 f., 199–202, 204, 210, 213–216, 310 Kommunallandtag  23, 156, 163, 167 f., 175, 180, 182, 184, 189, 191, 202 f., 206, 236, 263, 348 Kommunikationausweitung, Integration in den nationalen Kommunikationsraum  18 f., 27, 133, 139, 207–209, 211, 216, 227 f., 231, 239, 336, 342, 345 Konservativismus, konservative Parteien und Vereine  15, 27 f., 32, 34, 54, 85, 103 f., 117, 124, 187, 194, 206, 209, 216 f., 227, 229 f., 234, 237, 242–246, 248 f., 254 f., 258 f., 261 f., 264, 276–284, 286 f., 289–295, 299–301, 306 f., 309–311, 313 f., 319, 322–324, 326–330, 332, 337–344, 346, 348, 350–352 Konventikel  74, 264–267, 304, 337, 340 Kossäten  178 f., 271 f. Kreisordnung (1872) 153 f., 184, 201, 214, 236, 263, 286 f., 309 f., 327, 339, 346, 348 Kreistag  156, 158, 182, 184, 186–188, 195, 204, 214, 236, 278 f., 286 f., 348 Kriegerverein  234, 280, 285, 294 f., 303 f., 310, 324, 327, 339 Landrat, Landratsämter  14, 21 f., 56, ­62–65, 72, 77, 90, 109 f., 114, 123 f., 134, 155, 160, 166 f., 175, 177 f., 182, 184, 189, ­193–195, 197, 199 f., 213, 234, 243 f., 246, 264 f., 268, 271, 273–275, 277–281, 284, ­286–289, 294–296, 299 f., 303 f., 306–308, 312, 340, 346 Landwehr  223, 257, 303, 324 Landwirtschaftskammer  33, 300 f. Lehrerausbildung, Lehrerseminare  37–39, 42–44, 49, 52–54, 96–101, 106 f., 113, 118–120, 124 f., 134, 136 Lehrereinkommen  29, 39 f., 53, 55 f., 58, 96, 99, 106–116, 118, 134 Lehrerverein, Lehrerbewegung  39, 57 f., 68, 72, 98, 101–106, 110 f., 117 f., 134, 136, 228, 230, 285, 339 f., 341, 347 f. Lehrplan, Unterrichtsinhalt  36, 44, 46, 52– 55, 58, 77, 89, 93, 119–133, 135, 137, 304

Lex Huene  154 Liberalismus, liberale Parteien und Vereine  32, 52, 54, 82, 85, 93, 96, 104, 117 f., 150 f., 185, 187, 206, 211, 214, 224, ­226–235, 237, 242–246, 248, 250–261, 263, 273 f., 284–286, 289–296, 299, 302, 306–311, 315–317, 319–330, 332, ­335–343, 346, 351 Mädchenschule, Mädchenklassen  36 f., 50, 83 f., 86–88, 91 f., 94–96, 113, 115, 128 f. Magistrat  22, 40, 46–48, 56 f., 63 f., ­75–79, 83, 85–90, 92–96, 114 f., 127, 131–135, 144, 155, 168, 179–188, 193, 202–204, 206, 211, 213 f., 222 f., 236, 271, 305, ­307–309, 314 f., 318, 323 f., 339 Mäßigkeitsverein  225, 303 Mentalität  18, 21, 23, 30, 41, 122, 135, 137, 149, 171, 211, 214, 266, 271, 277 f., 348, 350 Militär, Militärdienst  23, 59 f., 88, 122 f., 140, 145, 150 f., 156 f., 184, 189, 191, ­194–197, 203, 212, 254, 257, 264, 303 f., 306, 317–319, 323–325, 333 Missionsverein, siehe auch Bibelverein Mittelschule, Bürgerschule  36, 57 f., 84–86, 88 f., 95 f., 127, 129 f., 305 f. Modernisierung, Modernisierungsbegriff  14–16, 18–21, 24–28, 58, 90, 106, 122, 133–137, 157, 177, 179, 210–217, 236 f., 262 f., 264, 269, 283, 300, 304, 311, 327, 336 f., 341–352 »moral economy« 304, 317 Nationalbewegung  84, 139, 185, 206–208, 211, 222, 251, 260, 283, 319, 322, 326 f. Nation-building  15, 18 f., 33, 133, 139, 156, 206–208, 211, 231 Nationalerziehung  48, 50, 83 Nationalsozialismus 15 »Neue Ära« 230 f., 236, 248, 259, 261, 284, 309, 327, 336, 338 Norddeutsche Zeitung  23, 187, 209, 238, 243–246, 258 f., 281–284, 324, 327, 339 f. Norddeutscher Reichstag  285, 328 Oberpräsidium, Oberpräsident  13 f., 18, 22, 46, 49–51, 56, 74, 83, 93, 109 f., 114, 134, 146 f., 155 f., 159–162, 164, 167, 169–175,

378 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

177, 179, 181 f., 188 f., 192–198, 203, 205, 211–213, 216, 223 f., 243–248, 251, 274, 283 f., 294, 315, 321, 324, 339 f., 346 f., 349 Obstbau  38, 97, 100, 107, 144 Öffentlichkeit  19, 208, 219–221, 223, 226, 228, 231, 235–239, 253, 261, 309, 336, 338 f., 341, 343 f., 346 öffentliche Meinung, öffentliche Stimmung  23, 156, 217, 225, 243, 246, 253 f., 259 f., 284, 305, 341 Ostbahn  151, 157, 170 f., 191f, 198, 206 f., 212 f. Ostseezeitung, siehe auch Börsen­ nachrichten der Ost-See Pastor, Pfarrer  48, 56 f., 63–68, 70, 73, 75, 84 f., 98, 101, 103 f., 110, 112, 122 f., 125 f., 135 f., 234, 238 f., 242, 244, 265–268, 292, 313 Pauperismus  206, 252 Partizipation (politisch) 19, 27, 106, 134, 154, 206, 237, 252, 289, 291, 298, 301 f., 319, 329, 337 f., 345, 350 Petitionen aus der Bevölkerung  23, 88–90, 102, 156, 166–169, 180, 183, 192, 203 f., 215, 227 f., 275 f., 279, 305, 319, 341, 348 Pferdebahn  191, 210 Pietismus  38, 74 f., 264–269, 278, 304, 337, 340, 351 Polen, polnisch  16, 22, 26, 31–33, 60, 71, 136, 208, 235, 268 f., 274, 335 Polizei, Gendarmerie  23, 63, 65 f., 108, 145, 177, 259, 275, 284, 308–310, 312, 317, 320, 325, 327, 331–333 Pommersche Ökonomische Gesellschaft  166, 186, 200, 214, 224, 262, 295, 299 f., 336, 339, 341, 347 f. Pommerscher Provinzialverband  23, 33, 152–156, 175–177, 200 f., 215, 351 Postkutsche  141, 185, 205 Preußisches Abgeordnetenhaus  33, 55, 117, 124, 231, 282, 284–286, 289–292, 311, 327–329, 338, 340 Preußische Nationalversammlung  151, 208, 228, 239, 242, 256, 272–274, 276 f., 279, 306 f., 320, 323, 325, 337 preußischer Patriotismus  33, 137, 222, 277, 280, 326, 337, 342 preußische Reformen  14, 46, 48, 51 f., 143, 219, 221–223, 237 Privatschulen  36, 94 f.

Privilegierte Stettiner Zeitung  23, 206, 220, 238, 250, 253–255, 259, 281, 315, 336 Provinzialkorrespondenz  230, 232, 243, 339 Provinziallandtag  23, 63, 78, 122, 150, 153, 158, 161, 166, 168–170, 173, 179 f., 183 f., 186, 191 f., 195, 198 f., 214, 236, 252, 263, 287 f., 302, 315, 348 Provinzialordnung (1875) 153 f., 201, 213 f., 236, 286, 309, 339, 346, 348 Realienfächer  36, 55, 58, 100, 119–121, 124–129, 132–134, 341 Realschule, Höhere Bürgerschule  36, 58, 84–91, 93–95, 116 f., 128, 131–133, 320 Regierung, Bezirksregierung  14, 16, 18, 22 f., 46–49, 52, 56–58, 62, 64–67, 70–79, 81, 83–90, 92- 98, 103–110, 113–116, 119, 121–127, 131–137, 146 f., 155, 161, 177 f., 184, 186–188, 193, 197–199, 203, 205, 208 f., 213, 223, 225, 238 f., 243 f., 246, 249 f., 259 f., 266 f., 272, 275 f., 284–287, 291, 294, 296–300, 302, 306, 309–312, 317, 320, 332, 340, 346 Reichsgründung  1870/71  14, 16, 153, 226, 231, 260, 283, 286, 289, 310, 328, 336 Reichstag, Reichstagswahlen  33, 231, 234 f., 242, 250, 289, 291, 293, 296–300, 313, 328 f., 331, 334 f., 338 f., 343 Republikaner, republikanisch  229, 248, 256, 271, 307 Revolution von  1848/49  52 f., 62, 101 f., 116 f., 136, 151, 187, 207 f., 211, 226, 227– 229, 235–239, 242 f., 254–259, 269–283, 304–309, 318–326, 337–343, 347, 351 Rittergutsbesitzer, siehe auch Gutsbesitzer Ritterschaftliche Privatbank  159 f., 179, 185, 211 f. Rückständigkeit  13, 15, 22, 26, 28–31, 41, 43, 70, 111 f., 136 f., 140, 171, 174, 176, 202, 211, 215, 217, 342 f., 346, 350, 352 Säkularisierung, Säkularisierungskonflikte  18, 27, 56 f., 74, 106, 133, 135, 264, 304, 326 f., 342, 345, 348 Sängerbewegung, siehe auch Gesangsverein Schulgeld  36, 40, 42, 55, 76, 84–90, 93 f., 106, 108–110, 112, 115, 166, 177, 272, 276 f., 341 Schulversäumnisse  42, 44, 52 f., 63–70, ­73–79, 88, 132–135, 177, 263, 267, 348

379 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231

Schulvisitationen  40 f., 48, 66 f., 73, 81, 102 f., 120 f., 125 f., 131, 134 f. Seebäder  67, 179, 198 Seehandlung  147–150, 190 Seidenbau  38, 100, 107, 144, 261 Separationen  107, 271 f., 277, 306 Sozialdemokratie, sozialdemokratisch, sozialistisch  90, 126, 137, 211, 228 f., 231–237, 242, 249, 256, 260 f., 273, ­294–301, 310–314, 329–335, 337–343, 346 f., 351 Sozialdisziplinierung  124, 300 soziale Frage  332 sozialer Protest  225, 263 f., 269–277, ­304–306, 317 f., 321, 337, 347 Staatsschuldengesetz  146–148, 150, 154 Städteordnung  47, 222 f., 301 f., 309, 314 Stadtverordnetenversammlung  47, 56 f., 83, 85–90, 93 f., 96, 114, 135, 181, 187, 189, 209, 222 f., 236, 253, 301–304, 307 f., ­314–316, 319, 323, 326 f., 334 Stargard-Posener Eisenbahn  190, 192, 208 Stiehlsche Regulative  53 f., 62, 70 f., 82, 99 f., 119–122, 129, 346 Straßenbahn 210 Streik  108, 331, 333 f. Sundzoll  29, 142 Superintendent  41 f., 44, 48, 56 f., 66 f., 70–73, 77, 81, 87, 92, 101–104, 107, 120, 122 f., 125, 134 f., 265, 300, 348 Tagelöhner  67 f., 108 f., 113, 252, 271–276, 296, 305 Telegraphie  155, 194, 204, 211, 216, 228

Turnunterricht  55, 100, 122–124, 127, 131 f. Turnverein, Turnbewegung  225 f., 234 Universität  31, 44, 50, 83, 221, 262 Unterrichtsinhalt, siehe auch Lehrplan Unterschicht, unterbürgerliche Schichten  19, 23, 67 f., 71, 90, 108 f., 113, 234 f., 252, 263 f., 269–277, 296, 300, 304–306, 309, 317 f., 321, 325 f., 332, 337, 347 Urbanisierung  14, 17 f., 27 f., 30, 180, 234 Verberuflichung der Lehrer  55, 58, 98 f. 101, 116, 134, 348 Vereinigte Landtag  151, 316, 319, 340 »Vielfalt der Moderne« 25, 28, 237, 264, 344, 351 Volksschule, Elementarschule  36, 46, ­48–55, 57, 66 f., 71, 75, 81–83, 85, 89, 92, 94–96, 102, 112, 118–126, 130 f., 133, 137, 224 Vorpommersche Eisenbahn  192 f., ­196–198, 202–204, 209, 212 Wahlbeteiligung  231, 277, 282, 284 f., ­289–293, 298 f., 329 f., 338, 342 f. Wiener Kongress  142 Zensur  220, 222, 224, 227–229, 231 f., 247, 251–254, 302 Zivilgesellschaft  14, 18–20, 28, 31, 219–226, 235–237, 261–263, 277, 286, 299, 308, 314 f., 325, 328, 336 f., 339–352 Zollverein 148

380 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370230 — ISBN E-Book: 9783647370231