Politischer Systemumbruch als irreversibler Faktor von Modernisierung in der Wissenschaft? [1 ed.] 9783428504541, 9783428104543

Ziel der interdisziplinär ausgerichteten geisteswissenschaftlichen Tagung vom 6. bis 9. April 1998 in der Akademie für p

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Politischer Systemumbruch als irreversibler Faktor von Modernisierung in der Wissenschaft? [1 ed.]
 9783428504541, 9783428104543

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Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung

Band 76

Politischer Systemumbruch als irreversibler Faktor von Modernisierung in der Wissenschaft? Herausgegeben von

Lothar Mertens

Duncker & Humblot · Berlin

L O T H A R MERTENS (Hrsg.)

Politischer Systemumbruch als irreversibler Faktor von Modernisierung in der Wissenschaft?

SCHRIFTENREIHE DER G E S E L L S C H A F T FÜR D E U T S C H L A N D F O R S C H U N G B A N D 76

Politischer Systemumbruch als irreversibler Faktor von Modernisierung in der Wissenschaft? Herausgegeben von

Lothar Mertens

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Politischer Systemumbruch als irreversibler Faktor von

Modernisierung in der Wissenschaft? / Hrsg.: Lothar Mertens. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 76) ISBN 3-428-10454-4

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-10454-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Vorwort Dieser Sammelband enthält die Referate der Tagung „Politischer Systemumbruch als irreversibler Faktor von Modernisierung in der Wissenschaft? die vom 6.-9. April 1998 in der Akademie für politische Bildung, Tutzing, anläßlich einer Kooperationstagung der Fachgruppe Sozialwissenschaft der Gesellschaft für Deutschlandforschung e.V. mit der Akademie für politische Bildung, Tutzing, stattfand. Ziel dieser interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Tagung war es, beispielhaft zu untersuchen, welche Bedeutung ein politischer Systemumbruch bei der Modernisierung von Wissenschaft zukommt. Da es in Deutschland in diesem Jahrhundert neben zwei Demokratien auch zwei politisch unterschiedlich ausgerichtete Diktaturen gab und um die Vergleichbarkeit zu erhöhen, erfolgte eine territoriale Beschränkung auf Deutschland. Für die Anfangsjahre der drei Phasen Drittes Reich, Nachkriegsjahre 1945-49 sowie vereinigtes Deutschland seit 1990 wurden dabei inhaltlich jeweils eine Wissenschaftsdisziplin, eine Forschungs- oder Förderinstitution sowie eine Universität exemplarisch untersucht. Der kurzfristige krankheitsbedingte Ausfall zweier Referenten konnte dadurch wettgemacht werden, dass freundlicherweise Prof. Dr. Manfred Heinemann (Hannover) bereits während der Tagung ein zweites Referat über den Wiederbeginn der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vortrug und auch schriftlich einreichte. Um die ursprüngliche dreigliederige Konzeption zu wahren, hat der Herausgeber für die Drucklegung zusätzlich die personelle Umstrukturierung der Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR bearbeitet und hinzugefügt. Trotz aller epochaler und inhaltlicher Unterschiede dokumentieren alle Beiträge den großen Einfluß des politischen Systemumbruchs auf das untersuchte wissenschaftliche Subsystem; auch wenn der politische Systemumbruch keineswegs immer zu einem Modernisierungsfaktor von Wissenschaft wurde. Daher bleibt im Titel des vorliegenden Tagungsbandes das Fragezeichen bewußt stehen, denn die Vorträge und die anschließenden Diskussionen im Plenum zeigten immer wieder, wie ambivalent die Entwicklungen in den Phasen der Systemumbrüche waren und wie multikausal die Erklärungsansätze bleiben. Die Intention dieses Sammelbandes ist daher weniger die Frage abschließend beantworten zu wollen, als für notwendige weitere Diskussionen fundiertes Material zur Verfügung zu stellen. Bochum, im Herbst 2000

Lothar Mertens

Inhalt Carsten Klingemann Moderne Soziologie im Dienst des Nationalsozialismus

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Lothar Mertens Das Führerprinzip in der Forschungsförderung. Der politische Einfluss auf die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft/Deutsche Forschungsgemeinschaft im Dritten Reich 1933-1937

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Helmut Böhm Die Universität München nach 1933

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Lothar Mertens Von Priestern der Klio zu Sprachrohren der Partei. Die personelle Umstrukturierung der Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 1945/46 bis 1958

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Manfred Heinemann Überwachung und „Inventur" der deutschen Forschung. Das Kontrollratsgesetz Nr. 25 und die alliierte Forschungskontrolle im Bereich der Kaiser-Wilhelm-/ Max-Planck-Gesellschaft (KWG/MPG) 1945-1955

167

Manfred Heinemann Auf dem Weg zur Volks-Universität: Die Friedrich-Schiller-Universität Jena 1948

201

Ralf Walkenhaus Zäsur 1989? Die Situation der Politikwissenschaft seit der deutschen Vereinigung

233

Gerhard Neuweiler Der Wissenschaftsrat nach 1990

263

Günther Wartenberg Probleme der Transformation ostdeutscher Hochschulen nach 1990

277

Verfasser

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Moderne Soziologie im Dienst des Nationalsozialismus Carsten

Klingemann

I. Einleitung Die Ausgangsthese lautet, dass es durch die Neuorientierung auf die empirische Sozialforschung zu einer Modernisierung der deutschen Soziologie nach 1933 kam, wodurch auch wesentliche Grundlagen für die Entwicklung der Nachkriegssoziologie in Westdeutschland geschaffen wurden. Diese Auffassung soll vorab mit zwei dezidierten Gegenpositionen konfrontiert werden, auf die im Folgenden häufiger Bezug genommen wird. Bei M. Rainer Lepsius heisst es: „Die Soziologie unter dem Nationalsozialismus zeichnet sich nun dadurch aus, daß in ihr ,anti-soziologische4 Erkenntnisprogramme eine prominente Funktion gewinnen. In der Rassentheorie wird die Debatte über Anlage und Umwelt zugunsten der Anlagehypothese geschlossen und damit die analytisch isolierbaren sozialen Bedingungsfaktoren menschlichen Handelns ausgeschlossen. In der Theorie der geschichtlichen Subjekthaftigkeit des Volkes wird eine mythische ,Ganzheit4 zum Objekt der sozialen Reflexion erhoben, die sich einer soziologischen Analyse entzieht. In der Idee, daß sich die Wirklichkeit durch die Tat konstituiert, wird die Strukturbedingtheit der Organisation der Gesellschaft durch einen voluntaristischen Idealismus ersetzt. In der Betonung von Integration, Synthese, , Gemeinschaft' tritt das Bestreben nach Abwehr der Modernisierung hervor." (Lepsius 1981a, S. 19)

Diese Aussage trifft Lepsius ohne Einschränkung im Indikativ, obwohl sie meiner Meinung nach nur eine Umformulierung von programmatischen Versatzstücken der NS-Weltanschauung darstellt. Um an dieser Stelle nur ein Beispiel zu nennen: Selbst dort, wo Soziologen wie Karl Valentin Müller „rassentheoretisch" argumentieren, bedeutet dies nicht zwangsläufig die Schliessung der Debatte über Anlage und Umwelt zugunsten der Anlagehypothese. Wenn Müller im Auftrag der Reinhard-Heydrich-Stiftung in Prag die Germanisierungsfähigkeit der Tschechen untersucht, sind es ausdrücklich deren den Deutschen ähnliche erworbene soziale Fähigkeiten, die es erlaubten, sie „rassentheoretisch" auf dieselbe Stufe zu stellen (vgl. Müller 1939, 1941). Der wissenschaftliche Leiter der Reinhard-Heydrich-Stiftung, Hans-Joachim Beyer, verfährt ebenso, wenn es gilt, die geschlossene Gruppe der polonisierten „ Walddeutschen" im Generalgouvernement als deutschstämmig zu definieren. Ihre

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vorbildliche Wirtschaftsweise sei nämlich ganz eindeutig von der „polnischen Wirtschaft" zu unterscheiden (vgl. Beyer 1942). Um die Position von Lepsius vollständig darzustellen, soll zitiert werden, wie er versucht, sie zu konkretisieren: „Gegenüber den Erscheinungsformen dieser Modernisierung, Kapitalismus und Industriegesellschaft, Verstädterung und Auflösung strukturhomogener Siedlungsverbände, pluralistische Interessenformierung und Konfliktinstitutionalisierung, Differenzierung sozialmoralischer Leitideen und neuer Solidaritätsformen, zeigt die Soziologie unter dem Nationalsozialismus Präferenzen für die Abwertung oder Ignorierung der Industriegesellschaft (,Anti-Kapitalismus4), für die Aufwertung dörflicher und ländlicher sozial-kulturell homogener Siedlungsformen (,Anti-Massengesellschaft 4), für die Abwertung der Konfliktinstitutionalisierung (,Anti-Demokratismus4), für die Erhaltung von homogenen Wertloyalitäten (,Anti-Intellektualismus4), für die Reduzierung von Solidaritätsformen (,Anti-Gesellschaft 4). Insofern sich mit diesen moralischen und politischen Einstellungen eine spezifische Selektion von sozialen Faktoren der menschlichen Existenz verbindet, kann von einer Soziologie unter dem Nationalsozialismus nur als von einer einseitig auswählenden Soziologie gesprochen werden. Doch auch für dieses Ergebnis bedürfte es erst des Nachweises, daß überhaupt (in einem engeren Sinne) soziologische Forschungen betrieben worden sind.44 (Lepsius 1981a, S. 19 f)

Nicht erst nachdem Lepsius 1981 diese Feststellung getroffen hat, sind die vermissten Nachweise erbracht worden. In soziologischen Untersuchungen etwa über die Auswirkungen der Industrialisierung auf die ländliche Umgebung von Karlsruhe, wie sie Max Ernst Graf zu Solms-Roedelheim als Doktorand am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften der Universität Heidelberg 1938 vorlegte, findet sich keine Abwertung oder Ignorierung der Industriegesellschaft. Es werden vielmehr die positiven Effekte der Industrialisierung herausgestellt (vgl. Solms-Roedelheim 1938). Auch in den empirischen agrarsoziologischen Arbeiten des sich radikal antisemitisch gebenden Karl Heinz Pfeffer lässt sich keine Aufwertung dörflicher und ländlicher sozial-kulturell homogener Siedlungsformen finden. Er plädiert ebenso wie der gerne als Prototyp des NSSoziologen apostrophierte Gunther Ipsen für die Industrialisierung und Modernisierung der Landwirtschaft (vgl. Ipsen 1941), da nur so das Leben auf dem Land eine Zukunft haben könne (vgl. die zusammenfassende Darstellung bei Klingemann 1996, S. 291 ff). Vielleicht hat Lepsius diese Entwicklung der Erforschung von Soziologie und Sozialforschung kommen sehen, da er in dem blossen Nachweis, dass über soziale Fragen und sozial relevante Tatbestände gearbeitet wurde, noch keinen Beweis für die Existenz von Soziologie unter dem Nationalsozialismus erkennt. Denn: „Die Soziologie konstituiert sich nicht über ein ihr spezifisches Erfahrungsobjekt, sondern über ihre spezifischen Erkenntnisobjekte. " (Lepsius 1981a, S. 20) Im Kontext seiner Untersuchung

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der Emigration deutscher Sozialwissenschaftler, die sich mit einem Regress in der schon erreichten analytischen Differenzierung der sozialwissenschaftlichen Selbstreflexion verbinde, kommt Lepsius zu dem Schluss, die NS-Soziologie betreibe eine „Flucht in die vorindustrielle Gesellschaft" (Lepsius 1981b, S. 468). Es hat während der Weimarer Republik und selbstverständlich auf Grund der Fehleinschätzung des vermuteten Interesses der neuen Machthaber an sog. völkischer Soziologie insbesondere auch zu Beginn der NS-Herrschaft zahlreiche volkstümelnde Blut-und-Boden-Soziologen gegeben (vgl. Rammstedt 1986). Angesichts der zum Beispiel von Abelshauser mehrfach dokumentierten Ausweitung der industriellen Produktionskapazitäten im Nationalsozialismus (vgl. Abelshauser 1993), ist zumindest realhistorisch jedoch keine Flucht in die vorindustrielle Gesellschaft zu verzeichnen. Manfred Lauermann bringt dies zugespitzt auf den Punkt: „Es gibt von Anfang bis Ende des Nationalsozialismus eine Innovationsphase der industriellen Produktion. Der Begriff dafür: Rationalisierung, ergo Modernisierung. " (Lauermann 1998, S. 40) Dies ist nicht nur nachträglich erkannt worden. Zeitgenössische Studien belegen, dass das kapitalistische Rentabilitätsprinzip Priorität hatte und den Unternehmen entsprechende Entscheidungsspielräume sicherte. Dies verdeutlicht Ludwig Erhard 1939 am Beispiel der Marktforschung: „Wenn z.B. im Erlaß des Reichswirtschaftsministeriums vom 12.11.1936 die Unternehmungen angewiesen werden, sich im Hinblick auf die Erhöhung der Wirtschaftlichkeit auch der Marktforschung zu bedienen, so kommt darin indirekt zum Ausdruck, daß man der freien Betätigung des Unternehmers auf dem freien Markt keine starren Fesseln anlegen will, und daß auch das Gewinnstreben der privaten Wirtschaft nicht unterbunden werden soll. So erscheinen heute als Träger der modernen Marktforschung wieder die private Wirtschaft, die Gruppenwirtschaft und der Staat nebeneinander,..." (Erhard 1939, S. 43).

Auch Erfordernisse der Kriegswirtschaft änderten nichts Grundsätzliches an Erhards Feststellung (vgl. Gehrig 1996). Vor dem Hintergrund der so beschriebenen Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse wird somit weiterhin davon ausgegangen, dass es falsch wäre, den real existierenden Nationalsozialismus insgesamt als antimodernes Projekt zu begreifen (vgl. Prinz/Zitelmann 1991 und als Gegenposition Mommsen 1995, Weisbrod 1995). Um die Frage nach den Arbeitsbedingungen realitätsbezogener empirischer Soziologie beantworten können, sollte man hingegen von der Existenz einer NS-Leistungsgesellschaft ausgehen und nicht von der proklamierten Blut-und-Boden-Idylle. Eine wissenschaftszentrierte Wissenschaftsgeschichtsschreibung, wie sie Lepsius ausgehend von der Bilanzierung der Emigrationsverluste vornimmt, kann nämlich den Zusammenhang von sozioökonomischen Prozessen, gesellschaftlichen Strukturveränderungen und Sozialwissenschaft nicht wahrnehmen, wenn sie sich auf die Selbstdarstellung des NS-Regimes als wissenschaftsfeindlich verlässt.

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Carsten Klingemann „Was immer an sozialwissenschaftlichem Potential in Deutschland und Österreich verblieb, es war einseitig beschränkt auf das Erbe des deutschen Idealismus, auf eine Transformation der soziologischen Strukturanalyse in eine politisch indifferente Anthropologie oder eine politisch relevante Biologie, auf eine Beschreibung selektiver Prozesse der Bevölkerungsentwicklung, Wanderungen, Siedlungsformen und Ähnlichem. Die im engeren Sinne sozialwissenschaftichen Paradigmen: Die Versuche, menschliches Verhalten aus den Strukturbedingungen des menschlichen Zusammenlebens zu erklären, verfielen. Nicht alles, was sich der Beschreibung und Erklärung sozialer Phänomene zuwendet, ist deswegen schon Sozialwissenschaft. Nicht der Gegenstandsbereich bestimmt eine Wissenschaft, sondern die Fragestellung. In diesem Sinne bedeutet die Machtergreifung des Nationalsozialismus auch das Ende der Soziologie." (Lepsius 1981b, S. 468)

I I . B e u r t e i l u n g n a c h 1945 Wenn man diese Definition einer „eigentlichen" Soziologie als Kriterium auch für die Beurteilung der deutschen Soziologie vor 1933 sowie nach 1945, aber auch für die Beurteilung der Soziologien anderer Länder heranzöge, so würde w o h l ein grosser T e i l der sonst als Soziologen geltenden Kollegen entwidmet und müsste sich m i t dem Etikett eines Möchtegern-Soziologen begnügen. M a n kann allerdings Lepsius' Ausführungen insgesamt genommen so verstehen, dass er zumindest die Tätigkeit von Experten für das Soziale konzediert. Selbst dies hat René K ö n i g bis wenige Jahre vor seinem T o d nicht einräumen wollen. Etwa drei Jahrzehnte galt sein in der Einleitung zum Fischer L e x i k o n Soziologie erlassenes und immer wiederholtes Dekret, die Soziologie sei „ 1933 brutal zum völligen Stillstand gebracht " worden ( K ö n i g 1958, S. 14). I n einer Auseinandersetzung m i t verschiedenen jüngeren Publikationen zur Soziologie i m NS-Staat, die jedoch alle dadurch gekennzeichnet sind, dass sie die Auslassungen in Programmschriften, Pamphleten und Kampfschriften für die praktizierte Soziologie und Sozialforschung halten, revidiert K ö n i g seine Meinung. „Man kann nämlich durchaus sagen, daß die original nationalsozialistische Soziologie als Volkstumssoziologie nur bis 1933/34, bestenfalls 1935 währte und spätestens zu diesem Datum von der pragmatischen , Wehrforschung 4 verdrängt worden war. Hörte nun diese auf mit dem Kriegsende, so lebte die Volkstumssoziologie wieder auf, auch in Anbetracht dessen, daß beinahe alle ihre Vertreter den Krieg ungeschoren überlebten. Das zwingt uns dazu, die These vom Weiterleben der Deutschen Soziologie (im Sinne von Karl Heinz Pfeffer) in und unter dem Nazismus zu modifizieren: die Volkstumssoziologie wurde ebenfalls zeitweilig abgemeldet und durch Wehrsoziologie ersetzt (was das auch immer bedeuten mag), aber die Volks-

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tumssoziologie lebte sofort nach Kriegsende wieder auf und war das einigende Glied zwischen den wieder in ihre Stellungen eingerückten deutschen Soziologen aus dem Dritten Reich." (König 1987, S. 421)

Sollte diese Aussage die tatsächlich betriebene Soziologie im Dritten Reich beschreiben, so müsste man im Sinne des Themas, „politischer Systemumbruch als Faktor wissenschaftlicher Modernisierung", einen doppelten Rückschritt durch den Systemumbruch von 1933 konstatieren. Die Volkstumssoziologie, die für zwei oder drei Jahre bestanden haben soll, wurde umgehend wieder verdrängt, obwohl sie „die original nationalsozialistische Soziologie" gewesen sei. Andererseits lebte sie „sofort nach Kriegsende wieder auf\ was völlig unbegründet ist, und von König wenige Zeilen später auch auf die personelle Kontinuität an der Sozialforschungsstelle in Dortmund unter dem „Orchesterleiter Helmut Schelsky" reduziert wird, um dann anhand der Publikation von Wilhelm Brepohl über das Ruhrvolk das „rassische Vorurteil" als „die eigentliche Konstante zwischen der Volkstumssoziologie im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik" zu bestimmen. Dabei gibt er nicht nur den Titel des Buches falsch an, sondern beschränkt sich auch mit einem Hinweis auf einen anderen Autor als Beweis dafür, dass Brepohl „ lebenslänglich dem Rassismus verbunden blieb" (König 1987, S. 423). Weder Brepohl noch die weiteren dreizehn von mir gezählten ehemaligen Reichssoziologen an der Sozialforschungsstelle Dortmund pflegten nach 1945 das rassische Vorurteil. Es gab auch keine original nationalsozialistische Soziologie als Volkstumssoziologie. Dass es sich bei der von König als nach 1935 dominant bezeichneten „Wehrforschung" bzw. „ Wehrsoziologie " um ein Phantom handelt, wird durch seinen bereits zitierten Kommentar, „was das auch immer bedeuten mag", mehr als deutlich. Mit Hilfe dieser abenteuerlichen Konstruktion der Kontinuität einer rassistischen Volkstumssoziologie versucht König im Grunde nur seine alte Stillstandsthese zu retten. Dadurch kann er es vermeiden, die Tatsache zu diskutieren, dass die ehemaligen Reichssoziologen an der Sozialforschungsstelle Dortmund das empirische Arbeiten bereits vor 1945 erlernt hatten und hierin die eigentliche Kontinuität liegt. Und dies war König seit langem bekannt. Zum 10-jährigen Jubiläum der Sozialforschungsstelle in Dortmund stellt er 1956 fest, dass sie „ in der Tat ein wesentliches Zentrum der Sozialforschung in Deutschland darstellt, dessen Bedeutung gar nicht unterschätzt werden kann. " (König 1956, S. 530) Und schon 1952 hatte er zusammen mit Brepohl u.a. ein Vademecum zur Umfrageforschung herausgegeben (König u.a. 1952). 1947 war Brepohls »Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet«, an der vor 1945 empirische Sozialforschung betrieben wurde, in die Sozialforschungsstelle integriert worden (vgl. Linne 1995). Einen Kausalnexus zwischen demokratischen Verhältnissen und der Entstehung der empirischen Sozialforschung gibt es nicht.

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Erkenntnisse der empirischen Sozialforschung können unter totalitären Bedingungen gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, Familien oder sogar Individuen eingesetzt werden. Aber selbst eine funktionierende Demokratie schliesst deren Gefährdung durch Sozialforschung nicht gänzlich aus (vgl. Klingemann 1988). Modernisierung und wissenschaftlicher Fortschritt lassen sich in der Sozialforschung des Dritten Reiches nachweisen. In Kombination mit staatlich legitimiertem Rassismus, alten gesellschaftshygienischen Vorstellungen und der ebenfalls nicht neuen Idee einer wissenschaftlich angeleiteten Sozialkontrolle zur Global- und Feinsteuerung der Gesellschaft wird daraus das eigentliche Thema, dem sich die Disziplin hätte stellen müssen, anstatt abzulenken auf die tatsächlich sehr häufig anzutreffenden antisemitischen oder anderen rassistischen Auslassungen, Traktate und Weltanschauungselaborate, von denen sich Soziologen vergeblich erhofften, als Weltanschauungsexperten anerkannt zu werden. Ebenso wichtig ist es, die Kontinuität des Gedankens der Schaffung einer „guten" Gesellschaft durch sozialwissenschaftliche Planung und Lenkung zu untersuchen. Deswegen kann ich auch König nicht zustimmen, der meint, „ daß die Kontinuität nicht in der Soziologie von 1933 mit der Folgezeit entscheidend ist" (König 1987, S. 422), sondern die der bereits erwähnten angeblichen Volkstumssoziologie nach 1945. Es sei hier nur auf die lange Tradition der Soziologie als Planungswissenschaft seit Auguste Comte oder Emile Dürkheim verwiesen, aber auch auf die denkwürdige Parallelität der ordnungstheoretischen Vorstellungen des von den Nazis vertriebenen Karl Mannheim und totalitaristischer Planungsambitionen (vgl. Tibi 1973 und als Gegenposition Kettler/ Meja 1997). An zwei Beispielen soll nun gezeigt werden, dass umsetzungsfähige Ideen und Konzepte für planungsrelevante Sozialforschung bereits vor 1933 entwickelt worden waren, aber erst unter den Bedingungen der Ausschaltung demokratischer Kontrollmöglichkeiten realisiert werden konnten. Die Annahme eines Zusammenhangs zwischen politischem Systemumbruch und Modernisierung in der Wissenschaft setzt üblicherweise voraus, Letztere gebe es nur bei gleichzeitiger Demokratisierung. Dabei werden aber im Fall der Soziologie deren Anlagen als Ordnungswissenschaft unterschlagen. Es sollte nicht vergessen werden, dass viele Soziologen - insbesondere auch prominente sich als ideale Herrschaftsform Eliten-Modelle oder Führerdemokratien vorstellten. Der politische Systemumbruch im Jahr 1933 war ja gar nicht so radikal, wenn man an Notverordnungen, Präsidialkabinette oder etwa den Legalismus und Attentismus der Gewerkschaften sowie deren Hoffnungen auf eine Mitwirkung im neuen Staat denkt. Autoritäre Regierungsmodelle wurden also nicht nur von den prominenten Soziologen Alfred und Max Weber als probate Lösungen für möglich gehalten. Modernisierung unter Einschränkung demokratischer Rechte einzelner oder von Gruppen war Ende der Weimarer Republik eine nur

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aus heutiger Sicht fragwürdige Option in Politik und Sozialwissenschaft, wie die im Folgenden vorgestellten Konzepte politikberatender Sozialforschung belegen mögen.

III. Das Beispiel Andreas Walther Als Erster kam der Hamburger Soziologe Andreas Walther zum Zuge, der sich bereits in den 1920-Jahren vor Ort mit der empirischen Chicagoer Stadtsoziologie vertraut gemacht hatte, aber in der geisteswissenschaftlich geprägten deutschen Soziologie mit seinem struktursoziologischen Ansatz kein Gehör fand. Basierend auf amerikanischen Konzepten, entwickelte er seine Sozialkartographie Hamburger Stadtviertel als Grundlage für die sozialwissenschaftliche Planung von Slumsanierungen, deren sozialhygienische Notwendigkeit er in der resümierenden Abhandlung, „Neue Wege der Großstadtsanierung", 1936 selbstbewusst herausstellte: „Jede echte Sanierung (...), die nicht nur schlechte Häuser durch bessere ersetzen will, sondern auf die Menschen sieht, bedarf einer Vorbereitung auch durch soziologische Untersuchungen. Diese Erhebungen müssen schließlich dahin kommen, daß, ehe die Spitzhacke ihre Arbeit beginnt, bestimmt werden kann, wie man mit den einzelnen Menschen und Familien des Abbruchgebiets verfahren soll (...). Die Forderung, daß keine Sanierung im alten Stil, mit der Folge unkontrollierter Zerstreuung der Ausgewiesenen, durchgeführt werden darf, wird sehr eindringlich, wenn man der Frage nachgeht, wie der Zusammenhang von Asozialität aller Art in bestimmten Stadtregionen zu erklären sei" (zit. nach Roth 1987, S. 372).

Im engen Kontakt mit den Hamburger Sozialbehörden führte Walther mit bis zu zwölf akademisch ausgebildeten Mitarbeitern in den Jahren 1934/35 die „Notarbeit 51", finanziert durch das Notprogramm für arbeitslose Akademiker der »Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft« (später umbenannt in Deutsche Forschungsgemeinschaft) durch. Dabei entwickelte er konzeptionell und im Feldversuch ein räumliches Raster „gemeinschädigender Regionen" der Stadt Hamburg. „ Asozialität aller Art " sollte aber nicht nur als kollektive Erscheinung, sondern zusammen mit ihren Trägern dingfest gemacht werden. Durch die methodisch innovative Verknüpfung der umfangreichen personenbezogenen Datenbestände der Hamburger Behörden zum Beispiel mit der Wohndichte und der kartographisch fixierten Analyse des Wahlverhaltens (bis 1933) sollte die präzise „Entkernung" dieser Gebiete, das heisst die „Ausmerzung" der „gemeinschädlichen Familien " ermöglicht werden. Dieses Verfahren sollte garantieren, dass die „gefährlichen Klassendie Mischung aus sozialer Devianz und politischer Dissidenz („Kommunistennester"), total erfasst würden. Damit

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hatte Walther seine bereits vor 1933 entwickelte Idee der Sozialkarthographie zu einem ausgeklügelten System des Datenabgleichs entfaltet, das sehr hohe Effizienz versprach und von den Mitarbeitern der Notarbeit 51, die im Anschluss an das Forschungsprojekt teilweise von den Sozialbehörden übernommen wurden, bereits während der Feldphase durch Melden „schädlicher" Personen im Vorgriff angewendet wurde: Fortschritte einer praxisnahen gesellschaftshygienischen Sozialforschung. Das Verfahren der analytischen Individualisierung der Bekämpfung aller Erscheinungen von sozial abweichendem Verhalten ist allerdings auch heute noch üblich und zur Realisierung eines methodisch gesicherten Erkenntnisfortschritts auch unerlässlich. Die Untersuchung des Zusammenhangs von Suizid, Drogenkonsum, Alkoholmissbrauch und Sozialstruktur läuft zum Beispiel stets Gefahr, einen ökologischen Fehlschluss zu begehen, solange sie mit Aggregatdaten operiert. Der Vergleich der Ergebnisse auf Stadtteilebene und kleinerer räumlicher Einheiten mit denen einzelner Straßenzüge ergibt nämlich, dass sich erst dort verlässliche Beziehungen zwischen sozialräumlichen Verhältnissen und den „Merkmalsträgern" beobachten lassen (vgl. Welz 1983). Kombiniert mit einer Theorie des sozialen Lernens von abweichendem Verhalten, folgt daraus automatisch die von Politikern häufig gehörte Forderung nach der administrativen Steuerung des Individuums anstelle des Einsatzes für die Bekämpfung der sozialen Ursachen von Devianz. Es ist deshalb zu wünschen, dass auch in der Devianzforschung die Berührungsangst der Soziologen vor einer Sozialkontrolle auf eigene Rechnung grösser sei als der Wunsch, endlich einmal zu zeigen, was man wirklich leisten kann. So weist der „Kriminalitätsatlas Bochum", der in der Forschungsreihe des Bundeskriminalamtes erschien, nicht nur die Verteilung der Wohnsitze von Tätern, die Tatorte, räumliche Bebauung und zahlreiche soziale Tatbestände der Bevölkerung auf, sondern nimmt auch eine Einteilung des Gebiets bis hin zu Stadtvierteln und Häuserblocks vor (Schwind/ Ahlborn/Weiß 1978). Ein Sachverhalt, der befürchten lässt, dass zum Zweck der präventiven Kriminalitätsbekämpfung die gesamte Bevölkerung unter Verdacht gestellt wird. Walthers sozialtechnische Kartographie, die das Konzept der Rasterfahndung vorwegnahm, kam zu Zwecken der Slumsanierung nicht mehr zum Zuge, weil die Politik andere Pläne hegte. Die angeblich so großstadtfeindlichen Nazis wollten die „Führerstadt" Hamburg zum modernsten Aushängeschild für das Ausland machen und sorgten unter anderem deshalb mit dem Groß-HamburgGesetz für die Eingemeindung der Stadt Altona (vgl. Ebbinghaus/Linne 1997). Ein promovierter ehemaliger Mitarbeiter Walthers brachte zwar als Mitglied des Planungsstabes sein Wissen in die Ausbauplanung ein, ohne dass jedoch die gesellschaftshygienischen Zielsetzungen Walthers umgesetzt wurden. Folgenlos waren sie dennoch nicht.

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„Walthers Arbeiten demonstrieren aber vor allem eine Methode, die in der Nachkriegszeit in abgewandelter Form für die Vorbereitung von Sanierungsvorhaben richtungsweisend werden sollte. Mit dem scheinbar ausschließlich technischen Instrumentarium des Städtebaus und der Stadtsanierung konnten und sollten nun auch sozial- und gesellschaftspolitische Ziele durchgesetzt werden. (...) Mit den von Waither verfeinerten Instrumentarien der Erfassung, Gliederung und Sortierung von Bevölkerungsgruppen im Zusammenhang mit baulich-räumlichen Strukturen sowie dem Wahlverhalten gelang es so, homogene Gebiete auszugrenzen, die angeblich sanierungsbedürftig waren" (Pähl-Weber/Schubert 1987, S. 116).

I V . Das Beispiel L u d w i g Neundörfer Ein frappierend ähnlicher Ansatz der empirischen Soziologie, der den Haushalt als Untersuchungseinheit und planerische Zielgröße bestimmte, konnte jedoch im Soziographischen Institut an der Universität Frankfurt am Main 1945 bruchlos von der sozialwissenschaftlichen Vorbereitung der Aussiedlungsplanung für das sog. Altreich und der Ansiedlungsplanung in den „neuen Ostgebieten" auf die Wiederaufbauplanung, Flüchtlingsansiedlung und Sozialplanung umgepolt werden. Die Gründung des Soziographischen Instituts im Frühjahr 1943 als Forschungseinrichtung an der Universität Frankfurt ist das unmittelbare Resultat nationalsozialistischer Großplanungen auf der Grundlage militärischer Eroberungen, die die brutale Beseitigung bestimmter Bevölkerungsgruppen zum Zweck der Schaffung neuer Sozialstrukturen nach soziologisch-ökonomischen Rentabilitätskriterien zum Ziel hatten. Die Herrenmenschen-Ideologie war dafür das nützliche weltanschauliche Vehikel. Als entscheidender Forschungsförderer erwies sich wieder einmal der Reichsführer SS Heinrich Himmler in seiner Eigenschaft als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums. Dabei begann das Dritte Reich für den späteren Leiter des Soziographischen Instituts, Ludwig Neundörfer, gar nicht so verheißungsvoll, er verlor nämlich seinen Arbeitsplatz (das Folgende nach Klingemann 1996, S. 87-102). Neundörfer, Jahrgang 1901, war von 1927 bis 1932 Leiter der Städtischen Volkshochschule und Lehrer an den Technischen Lehranstalten in Offenbach am Main und wurde Hilfsreferent im Volksbildungsreferat des hessischen Kultusministeriums. Dort unterstand ihm die Betreuung der Erwerbslosen und die Organisation des Arbeitsdienstes. Hier bereits erstellte Neundörfer auf der Grundlage seiner Gemeindeuntersuchungen sog. „Strukturberichte" für „örtliche Aufbaupläne", die der hessischen Regierung als Grundlage für Arbeitsbeschaffungs- und Besiedlungsmassnahmen dienten. Dies teilte er Ferdinand Tönnies, 2 Mertens

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dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in einem Schreiben vom 11. Juli 1933 mit, in dem er auch sein empirisches Erhebungsverfahren erläuterte, das er gerne auf dem für 1933 geplanten Soziologentag vorstellen wollte: „Da es sich ja gerade darum handelt, die konkreten Verknüpfungen der Einzeltatbestände zu erfassen, etwa die Kombination zwischen Landwirtschaft und Industriearbeit, muss jeweils bis zu den natürlichen Einheiten: Haushalt und Gemeinde zurückgegangen werden. Das Material stammt also ausschliesslich aus erster Hand, von den Menschen selber. In kleineren Gemeinden, in denen Ortskundige über die Verhältnisse Bescheid wissen, werden einem Kreis von Ortskundigen (Bürgermeister, Lehrer, Polizeimann, älteren Bauern und Arbeitern) vorbereitete Fragen für jede einzelne Familie vorgelegt; in grösseren Gemeinden tritt an deren Stelle der Fragebogen, der von örtlichen Helfern für jeden Haushalt ausgefüllt wird. Die so erhaltenen Angaben werden dann an dem amtlichen Material und durch persönliche Gespräche mit einzelnen Leuten überprüft" (Nachlass Tönnies, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek, Kiel).

Damit vertrat Neundörfer eine Konzeption von anwendungsorientierter empirischer Sozialforschung, die der eben geschilderten von Andreas Walther ähnelt. Während Walther schon 1934 seine Vorstellungen realisieren konnte, war es Neundörfer erst einige Jahre später möglich, ein seinem Forschungsprogramm entsprechendes Institut aufzubauen. Erst einmal fiel jedoch der für 1933 geplante Soziologentag wegen der Bestrebungen zur Selbstgleichschaltung seitens einiger Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sowie der Machenschaften externer „Konjunkturritter" und eines ehrgeizigen SoziologieNachwuchsaspiranten, gleichzeitig Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der SS, aus (vgl. Klingemann 1996, S. 11 ff.). Neundörfer verlor seine Stelle im hessischen Kultusministerium, wurde aber umgehend Dezernent für Stadtplanung der Stadt Heidelberg. 1936 veröffentlichte Neundörfer das Buch „Heidelberg. Umbau einer Stadt". In der Einleitung unterstrich der Heidelberger Oberbürgermeister, dass man mit Neundörfer ganz bewusst einen „ Fachmann auf dem Gebiet der Volksforschung und Planung " berufen habe. Richtungsweisend wie schon bei Walther war auch hier die enge Kooperation mit den Institutionen der Sozialverwaltung. Der Heidelberger Oberbürgermeister hielt fest, dass diese Arbeit „in den letzten eineinhalb Jahren die gesamte kommunalpolitische Tätigkeit der Stadtverwaltung wesentlich bestimmt" habe. Die politische Bedeutung wird darin sichtbar, dass die Arbeit als „Sonderheft des Reichsheimstättenamtes der NSDAP und der DAF" veröffentlicht wurde. Im Vorwort gab der »Siedlungsbeauftragte im Stabe des Stellvertreters des Führers und Leiter des Reichsheimstättenamtes der NSDAP und der DAF« der Studie sogar eine überregionale Bedeutung. Eine bald sich bestätigende Prophezeiung, wie noch

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gezeigt wird. Den praktischen Nutzen der dabei erarbeiteten Haushaltskartei der Stadt Heidelberg beschreibt Neundörfer mit folgenden Worten: „Die Erfahrungen mit der Haushaltskartei der Stadt Heidelberg haben gezeigt, daß dieses Instrument der Planung verhältnismäßig leicht und mit geringen Kosten zu beschaffen ist und dann außerordentliche Dienste leistet. Denn nun ist es möglich, von Grund auf die Wirtschaftszusammenhänge zu klären: die Beziehungen von Arbeitsstätte und Wohnstätte, den Umfang von Zuverdiensten in den Haushalten, die Wohnverhältnisse, die Möglichkeit zusätzlicher Unterhaltsquellen, wie die feinen Kanäle der Produktion, aus denen z.B. die Wochenmärkte gespeist werden. Dabei ergeben sich typische Verhältnisse für die einzelnen Stadtteile. Es ist selbstverständlich, daß diese Feststellungen der Struktur der einzelnen Haushalte zu größeren Einheiten zusammengefaßt werden müssen, um klare Linien zu erhalten" (zit. nach Gutberger 1996, S. 246).

Ab 1937 war Neundörfer zugleich Bezirksplaner für Nordbaden und von 1939 bis Ende 1940 Bezirksplaner und stellvertretender Landesplaner beim Reichsstatthalter Baden. 1940 folgte er „dem Ruf zur Übernahme der Reichsarbeiten zur Umsiedlung In seinem Antrag auf Errichtung des Soziographischen Instituts stellte der Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt diesen Vorgang 1942 so dar: „Im Januar wurde auf Veranlassung des Reichsnährstands und der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung in Zusammenarbeit mit den Planungsbehörden eine Untersuchung der Lebensgrundlagen des deutschen Landvolks begonnen. Ziel der Arbeit war, Unterlagen für die Neuordnung der landwirtschaftlichen Verhältnisse im Altreich zu schaffen. Die Untersuchung erfasst rund 5000 Richtgemeinden mit 1,4 Millionen Haushalten und 5 Millionen Volksgenossen und wird nach der Methode von Dr. Ludwig Neundörfer durchgeführt. Die Stadt Frankfurt am Main stellte mietweise ein Haus zur Verfügung, die nötigen Mittel gibt der Reichsfinanzminister. Gleichzeitig wurde auf unseren Antrag hin mit Entschliessung vom 16.7.1940 des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Dr. Ludwig Neundörfer beauftragt, in der Fakultät Landesplanung und Umsiedlung in Vorlesungen und Übungen zu vertreten."

Die eben erwähnte Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung koordinierte reichsweit die Arbeiten von 52 Hochschularbeitsgemeinschaften, deren Forschungsprojekte sich an konkreten gemeinsamen Themenstellungen ausrichten mussten. Zusammen mit der Reichsstelle für Raumordnung, die direkt Hitler unterstellt war und nicht nur die politisch-administrative Koordination von Forschung und Politik wahrnahm, sondern auch eine Zeit lang eigene Forschung betrieb, bildete sie einen einzigartigen wissenschaftlich-politischen Forschungsverbund zum Zweck der Politikberatung. Sehr eng arbeitete dieser Verbund ab 1939 mit dem in diesem Jahr geschaffenen Reichskommissariat für die 2*

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Festigung deutschen Volkstums zusammen. Mit den eben zitierten Angaben des Dekans der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt waren gewissermassen die Zielzahlen der „Reichsuntersuchung" benannt. Ein halbes Jahr nach der Gründung der »Stiftung zur Erforschung des deutschen Volksaufbaus« als Trägerin des Soziographischen Instituts zog Neundörfer in einem Bericht vom August 1943 eine Bilanz der bis dahin abgeschlossenen Arbeiten. „Das Archiv der Bestandspläne umfaßt genaue soziographische Angaben über 586700 Haushalte aus allen Teilen des Reiches. (...) Von den 4500 Richtgemeinden dieser Planung sind 3126 in Bestand und Wunschbild fertig gestellt und liegen die Pläne von 1862 Gemeinden ausgefertigt in den Schränken des Archivs. Außerdem ist umfangreiches Volkskartenmaterial vorhanden für das Westwallgebiet, die lothringischen Landstädte, das Kohlenrevier des Warndt, das Umsiedlungsgebiet Südkärntens, die Notstandsgebiete der Rhön, Niederschlesiens und Thüringens. Erste Ansätze für die Erfassung der Volkstumsprobleme in Danzig-Westpreußen und Wartheland, schließlich Untersuchungen über die Wohnverhältnisse alter Leute in Frankfurt und München. Der Herstellungswert dieses Materials beträgt R M 300000."

Das Großprojekt der Erstellung eines „Reichsgutachtens", bei dem das Reich in „250 Räume gleicher Art" eingeteilt werden sollte, konnten Neundörfers materialbeschaffende „Arbeitsstellen Bestandspläne" in Berlin, Wien und Frankfurt am Main, die dem Reichsnährstand unterstellt waren und von diesem zusammen mit der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung betreut wurden, vom Umfang her und im Hinblick auf eine wissenschaftliche Auswertung nicht allein leisten. Da Neundörfers Arbeiten außerdem seit 1941 zunehmend Himmlers Kompetenzbereich als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums berührten und er für ihn Gutachten erstellte, sollte ein entsprechend ausgestattetes Forschungsinstitut geschaffen werden, das insbesondere die wissenschaftliche Auswertung der Bestandspläne (»Deutsches Archiv für Bestandspläne«) wahrzunehmen hatte. Das »Institut für Gemeinwohl GmbH« und die »Waldschmidt-Stiftung«, an denen die Stadt Frankfurt und die Universität massgeblich beteiligt waren, stellten 50.000 Reichsmark als Kapital für die Stiftung zur Erforschung des deutschen Volksaufbaus zur Verfügung. Das Reichswissenschaftsministerium genehmigte umgehend die Errichtung des Soziographischen Instituts, woraufhin Neundörfer den Leiter der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, Prof. Ritterbusch, über die zukünftige Kompetenzverteilung informierte. „Als unmittelbar beteiligt haben neben der Reichsarbeitsgemeinschaft der Chef des Planungshauptamtes des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums Prof. Konrad Meyer, der zugleich Planungsbeauftragter für Siedlung und ländliche Neuordnung beim Reichsernährungsminister, Reichsbauernführer und Reichsamt für

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das deutsche Landvolk ist, und die Reichsabteilung II A 4 des Reichsnährstands zu gelten."

Indem Neundörfer am selben Tag dem Kurator seiner Universität mitteilte, dass in Kürze in Berlin „ die entscheidenden Besprechungen zwischen den Prof. Ritterbusch und Konrad Meyer in meinem Beisein stattfinden " werden, wird deutlich, dass Himmler über Konrad Meyer entscheidenden Einfluss auf das Institut nehmen konnte. Die Finanzierung der Arbeiten Neundörfers wurde dadurch gesichert, dass er einen jährlich erneuerten Forschungsauftrag der Fachsparte Raumforschung des Reichsforschungsrates (= Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung) hatte. „Die sonstigen benötigten sachlichen und persönlichen Mittel stellt der Reichsfinanzminister über den Reichsnährstand zur Verfügung. (...) Die Mitarbeiter von Dr. Neundörfer sind Angestellte des Reichsnährstandes auf Sondermittel des Reichsfinanzministers. Die jährlichen Aufwendungen für die Gesamtarbeit (3 Arbeitsstellen Bestandspläne und Sachbearbeiter bei den Landesbauernschaften) betragen R M 300000,-..."

Die für sozialwissenschaftliche Forschungen außerordentlich grossen Summen und die Art der Finanzierung machen deutlich, welch hoher politischer Stellenwert den Arbeiten von Neundörfer zugemessen wurde. Das gilt auch für das Soziographische Institut. Für dessen Finanzierung sah der Haushalt 1943 gut 60.000 Reichsmark vor, während die Arbeitsstelle Bestandspläne in Frankfurt noch einmal über gut 53.000 Reichsmark zusätzlich für ihre Koordinierungsaufgaben verfügte. Am Institut waren neben dem Leiter „ 5 wissenschaftliche Kräfte und ein statistischer Hilfsarbeiter " beschäftigt. Der Haushaltsplan 1944 wies für das Institut knapp 81.000 Reichsmark aus. Nun waren außer Neundörfer drei wissenschaftliche Referenten, ein Sachbearbeiter, zwei Bürokräfte und vier Honorarkräfte beschäftigt. Da für die Arbeit im Auftrag des Reichsstatthalters Westmark zur Wiederaufbauplanung Ludwigshafens drei hauptamtliche Kräfte eingesetzt wurden, wechselte das Personal und wurde ergänzt. Laut Haushaltsplan 1945 standen dem Institut knapp 1.120.00 Reichsmark zur Verfügung, wobei bereits vorab knapp 20.000 Reichsmark für eventuelle Ausfälle abgezogen worden waren. Beschäftigt waren vier wissenschaftliche Referenten, vier Sachbearbeiter, drei Büroangestellte, drei technische Hilfskräfte und weitere Honorarkräfte. Diese kontinuierliche Aufwärtsentwicklung erklärt sich durch den Wechsel der Forschungsaufgaben. Denn inzwischen hatten die obersten Planungsinstanzen sich angesichts der militärischen Niederlagen mehr und mehr von den „neuen Ostgebieten" ab- und dem Altreich zugewandt. Daraufhin bearbeitete das Institut im Rahmen des im Frühjahr 1944 gegründeten »Arbeitsstabes Wiederaufbau beim Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion« zahlreiche Aufträge.

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Im Juni 1944 traf sich Neundörfer mit Vertretern der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, des Reichsnährstands und des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums (der Vertreter der Reichsstelle für Raumordnung war verhindert) zu einer Besprechung, bei der die Gründung eines ständigen Beirats bei der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung für das Soziographische Institut beschlossen wurde, damit sich die beteiligten Behörden fortlaufend über die Arbeit des Instituts absprechen konnten. Da der Vertreter der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung erklärte, dass die Aufbringung der finanziellen Mittel nicht problematisch sei, übernahm der Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums nur einen relativ geringen Anteil für das Rechnungsjahr 1944/45, wobei aber festgehalten wurde: „ Weitere Forschungsaufträge, die auf Anregung des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums zu übernehmen sind, würden ebenfalls von dieser Seite zu finanzieren sein. " Auf der Sitzung des Vorstands der Stiftung zur Erforschung des deutschen Volksaufbaus Mitte März 1945 konnte Neundörfer weitere Arbeitsfortschritte in der Bearbeitung der Reichsuntersuchung vorweisen - auch z.B. für den Raum Bunzlau, wiewohl in den gerade die sowjetische Armee einmarschiert war. Arbeiten an Wiederaufbauplänen, Flächennutzungs- und Raumordnungsplänen deuten aber an, wie sich das Institut für die Zukunft absichern wollte. Zukunftsträchtig war beispielsweise das Projekt Ludwigshafen. „Die Arbeiten für Ludwigshafen-Stadt haben einen vorläufigen Abschluß mit dem Entwurf eines neuen Flächennutzungsplanes, der räumlichen Begrenzung der neuen Stadtteile und der Charakterisierung ihrer inneren Struktur erhalten. Zurzeit sind die entsprechenden Arbeiten für die Stadtlandschaft, den Umraum von Ludwigshafen, im Gange."

Weitergearbeitet wurde auch an den Wiederaufbauplänen für den Stadtteil Rothenburgsort in Hamburg und für die Frankfurter Altstadt. Außerdem legte Neundörfer zehn Schriftsätze zu Grundsatzfragen des Wiederaufbaus vor, die an Planungsbehörden gegeben wurden. Für die personelle und finanzielle Zukunft des Instituts wurde ebenfalls vorgesorgt. Bereits im September 1944 gab die Deutsche Forschungsgemeinschaft 5.000 Reichsmark für das Projekt „Entwicklung von Grundsätzen für die Grüngestaltung und Anwendung von dörflichen Gestaltungsgedanken beim Neuaufbau von Städten". Politische Kosmetik betrieb man mit der Umbenennung des Deutschen Archivs für Bestandspläne in Archiv für räumliche Sozial-Struktur. Fürsorglich war die Schliessung der letzten Arbeitsstelle Bestandspläne in Frankfurt (nach Berlin und Wien) und die Übernahme einiger ihrer Mitarbeiter. Abgesichert wurde dieses Vorgehen durch den Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, der dafür sorgte, dass das Institut in die eigentlich nur für natur- und technikwissenschaftliche Einrichtungen gedachte »Wehrforschungsgemeinschaft« im März 1945 aufge-

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nommen wurde, die durch den Erlass des Reichsmarschalls des Großdeutschen Reiches vom 24.8.1944 gebildet worden war. „Die wichtigsten Mitarbeiter gelten als Schlüsselkräfte" und können deswegen nicht eingezogen werden. Neben den 50.000 Reichsmark für zwei Projekte vom Reichsforschungsrat, Fachsparte Raumforschung gab auch der Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums noch 12.000 Reichsmark für die Untersuchung „Tatsächlicher und möglicher Umfang der Ernährung einer Großstadt-Bevölkerung aus dem Umraum am Beispiel Frankfurt a. M.". Am 1. April 1945 nahm Neundörfer „nach 10 tägiger erzwungener Abwesenheit" seine Tätigkeit im Institut wieder auf. Die erwähnten Schriften zum Wiederaufbau waren dann das Ergebnis der Arbeit „von einem kleinen geheimen Kreis (...). Da die meisten der an dem kleinen Kreis Beteiligten, der auch in den Tagen des Einmarsches der Amerikaner in Oberursel weiter tagte, sofort in amtliche Funktionen gerufen wurden, war es möglich, bereits in den ersten Apriltagen die amerikanische Militärregierung von dem Bestehen des Arbeitskreises und des Instituts zu unterrichten und ihre Billigung zur Weiterarbeit zu erhalten."

Und nicht nur das, das Institut wurde von der amerikanischen Militärregierung selbst mit der Aufstellung von „Wohnungshaushaltskarteien" beauftragt, so dass im Frühjahr 1946 „ca. 42% der grosshessischen Bevölkerung und ein gutes Drittel der Wohnungen Großhessens " erfasst waren. „So dient die Wohnungshaushaltskartei einmal und zuvörderst der Wohnraumlenkung, der Einweisung von Flüchtlingen im konkreten Einzelfall, zum anderen ist sie Grundlage für statistische Ermittlungen/Bevölkerungsaufbau/Wohnungsverhältnisse/ Belegungsdichten, schliesslich und nicht zuletzt sind aber diese Sozialkarteien so angelegt, dass sie ein ideales Urmaterial für die Darstellung sozialer und wirtschaftlicher Gefüge, also der soziographischen Arbeit in der zweiten Stufe, der Vorarbeit für Planungen darstellen."

Wenngleich die Arbeit an den Wohnungshaushaltskarteien die Hauptbeschäftigung des Instituts ausmacht, werden seine Dienste auch von anderen staatlichen Stellen gern in Anspruch genommen. Es ist somit nicht verwunderlich, dass sich das Institut im Rechnungsjahr 1945/46 mit einem Etat von erstaunlichen 230.000 Reichsmark ganz aus Aufträgen finanzierte und 21 Mitarbeiter sowie zeitweilig 230 Hilfskräfte (mit eintägiger Kündigungsfrist) vornehmlich für Umfragen beschäftigen konnte. Und auch in den folgenden Jahren blieb das Institut eine wichtige politikberatende Institution. Es ist nicht zu übersehen, dass das Soziographische Institut damit den modernsten Stand der Organisation sozialwissenschaftlichen Expertenwissens für eine interventionistische Politik darstellt.

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Für die unmittelbare Nachkriegszeit kann dies am Beispiel des SchlüchternPlans anschaulich demonstriert werden. Die beiden Voraussetzungen für die Realisierung der Planungen für den Kreis Schlüchtern waren Neundörfers Mitarbeit in einem Frankfurter „ständigen Ausschuß für Selbsthilfein dem auch Vertreter von Genossenschaften, Gewerkschaften, Sparkassen, Wohnungsunternehmen und Wohlfahrtsverbänden Mitglieder waren, und - natürlich - das „ Vorhandensein soziographischer Aufnahmen ", wie Neundörfer in seinem Beitrag zur Geschichte vom Schlüchtern-Plan hervorhebt, ohne allerdings die Hintergründe der Entstehung dieser Materialien zu benennen. Nachdem Neundörfer vom Schulrat des Kreises Schlüchtern als Experte für das Fach Gemeinschaftskunde zu Lehrproben an Schulen eingeladen worden war, beschloss er, den Auftrag des hessischen Innenministeriums zur Erarbeitung von „Erfahrungsgrundlagen für Richtlinien für den Auf- und Ausbau von Dörfern und kleinen Städten" auch dort durchzuführen. Durch die Unterstützung des »Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten e.V.« in Frankfurt am Main, zu dessen außerordentlichen Mitgliedern auch die »Soziographische Gesellschaft« gehört, kann Neundörfer auch die noch fehlende „Bestandsaufnahme des letzten Drittels des Kreises" durchführen. Aus einem „Arbeitskreis Schlüchternplan", an dem Vertreter verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und der Verwaltung beteiligt sind, erwächst ein sechsköpfiges Team unter der Leitung von Neundörfer, das mit Hilfe von ad hoc gebildeten „Ortsausschüssen" die Ansiedlung von Flüchtlingen, die Finanzierung des Wohnungsbaus, und ihre Beschäftigung oder auch die Durchführung der Bodenübergabe von auslaufenden Höfen an Flüchtlinge bis ins letzte Detail regelt (vgl. Neundörfer/Michler 1950). - Erst nachdem die interventionistische Staatstätigkeit zugunsten des Marktes zurückgeschraubt wurde, nahm das Interesse an dieser im Sinne eines planenden Staates modernen Sozialforschung ab. Dennoch war Neundörfer neben seinen akademischen Ämtern als Direktor des Soziographischen Instituts und Professor für Soziologie der Erziehung sowie Präsident der Hochschule für Erziehung an der Universität Frankfurt wohl mit seinem „An-Institut" einer der herausragendsten fachwissenschaftlichen Politikberater der fünfziger und sechziger Jahre, was in einem Nachruf entsprechend gewürdigt wird: „Einmal geschah dies als Mitglied und Vorsitzender zahlreicher zentraler Beratungsgremien wie z.B. verschiedener wissenschaftlicher Beiräte mehrerer Bundesministerien, des Europarates, des Kuratoriums des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, des Hauptausschusses im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, der Kommission der Deutschen Bischofskonferenz für gesellschaftspolitische Fragen, der Akademie für Städtebau und Landesplanung, der Hamburger Akademie für Bevölkerungswissenschaft, des Hessischen Landesverbands für Erwachsenenbildung. Im Rahmen dieser weitgespannten Beratungstätigkeit entstanden dann mit

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Hilfe seines Mitarbeiterkreises im Soziographischen Institut und in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern so wichtige Arbeiten wie 1949 das Gutachten zur Eingliederung der heimatvertriebenen Landwirte, 1952 die Denkschrift zur Umverteilung der Heimatvertriebenen in der BRD, das sog. Kanzlergutachten zur Neuordnung der Rentenversicherung 1955/56 zusammen mit Achinger, Höffner und Muthesius; für das Wohnungsbauministerium das Gutachten zur Mobilisierung des Bodens oder andere Gutachten über den Wiederaufbau von zerstörten Städten, die Entwicklung von Landkreisen, die Reorganisation sozialer Dienste, den Familienlastenausgleich oder die Altersproblematik." (Wurzbacher 1976, S. 95).

Der politische Systemumbruch von 1933 ermöglichte Ludwig Neundörfer die Umsetzung seines bereits zuvor entwickelten Konzepts sozialwissenschaftlich angeleiteter Sozialplanung, das an der Einheit des Haushalts analytisch ansetzt und eine individuenbezogene Intervention anstrebt. Er entwarf dieses ausgefeilte Modell modernster Sozialtechnik nicht als fanatischer Anhänger des Nationalsozialismus. Er war weder in der NSDAP noch in einer ihren zahlreichen Gliederungen. Sein Ziel war die Schaffung einer besseren Gesellschaft, das zu erreichen die Vernachlässigung der Interessen und Rechte beplanter Individuen in Kauf nimmt. Sein Konzept ist nach wie vor modern - es bedarf nur der entsprechenden politischen Rahmenbedingungen, damit einsatzfreudige Sozialforscher zum Zuge kommen können.

V . Weitere Beispiele Das Soziographische Institut wurde als Prototyp einer innovativen anwendungsorientierten empirischen Soziologie vorgestellt. Wenngleich hier das Zusammentreffen eines praktisch umsetzbaren Wissenschaftsprogramms und eines politischen Planungsprogramms besonders gut sichtbar wird, so gibt es weitere Beispiele, die ebenfalls den behaupteten Modernisierungsschub belegen und die hier synoptisch abschliessend vorgestellt werden (vgl. dazu ausführlich Klingemann 1996). Leopold von Wiese und seine Abteilung für Soziologie des Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften an der Universität Köln haben bis 1933 keine empirische Sozialforschung im Sinne von Projektforschung betrieben (vgl. von Alemann 1976, S. 653). Diese Aussage gilt im Übrigen für die gesamte Weimarer Soziologie. Jeweils in den Pfingstferien reiste von Wiese zusammen mit Studenten zum Beispiel in Winzerdörfer an der Ahr oder auf Halligen, wobei die Studenten ihre Beobachtungen im Sinne der realitätsfernen Beziehungslehre von Wieses interpretieren lernen sollten. Im Frühjahr 1939 nimmt von Wiese dann aber den Auftrag des Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Trier

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an, die Lage des landwirtschaftlichen Nachwuchses in Dörfern des südlichen Bezirks zu untersuchen. Obwohl die Studie bei Kriegsbeginn vorzeitig abgebrochen werden muss, resultieren daraus zwei Seminararbeiten und zwei Dissertationen. Dies ist erwähnenswert, weil es zeigt, dass selbst Traditionalisten wie von Wiese - wenn auch bescheiden - am 1933 ausbrechenden Boom empirischer Agrarsoziologie partizipieren. Diese wurde in grossem Stile zum Vehikel einer bis dahin unbekannten drittmittelgeförderten Sozialforschung. Blutund-Boden-Mystiker, die es auch unter Soziologen gab, wandelten ich dabei sehr schnell zu Realsoziologen. Der ehemalige Lehrer und habilitierte Erlanger Pädagogikdozent Karl Seiler führte seit 1934 nebenher eine groß angelegte agrarsoziologische Untersuchung zur Landflucht und Lage der Landbevölkerung in Franken durch. Er kooperierte dabei mit Leipziger Soziologen, darunter Karl Heinz Pfeffer, auf den wir nochmals stossen werden. Die Leipziger Untersuchung erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Sonderbeauftragten für Landarbeiterfragen des Reichsbauernführers. Ihre Ergebnisse sollen nach Aussage von Seiler in die Gesetzgebung zur Landarbeiterschaft eingeflossen sein. Seiler selbst erhält erhebliche Mittel von der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, so dass er einen Mitarbeiterstab aufbauen kann und seine Forschungen zu Ergebnissen führen, die bei den zuständigen politischen und staatlichen Stellen in der Region auf grosse Resonanz stossen. Ohne den politischen Systemumbruch wäre Seilers Arbeit auf der Stufe eines Heimatforschers verblieben. So aber führte sie zu einer modernisierenden Rückwirkung auf das Hochschulsystem. Um Seilers empirische Forschung wissenschaftsorganisatorisch abzusichern, wurde für ihn ein neuer Lehrstuhl für Soziologie an der Handelshochschule Nürnberg geschaffen. Das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften an der Universität Heidelberg, das es angeblich nach 1933 gar nicht mehr gegeben haben soll (vgl. Lepsius 1979, S. 27), finanzierte sich schon vor 1933 auch aus Drittmitteln. Diese nahmen gegen Ende der Weimarer Republik ab, und Mitte der dreißiger Jahre stellte die Rockefeller-Stiftung ihre Zahlungen ein, so dass der zur Verfügung stehende Etat sich ungefähr halbierte. An deren Stelle trat die 1935 gegründete Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, die dann jene bereits ab 1933 vom Direktor des Instituts Carl Brinkmann und seinen mehr als zwei Dutzend Mitarbeitern betriebenen agrarsoziologischen und Raumforschungs-Untersuchungen förderte. Mit Auftragsforschung, Projektförderung und Stipendien wurde das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften in die NS-Expansionspolitik eingebunden, indem es zum Beispiel die Aussiedlungsmöglichkeiten in Südwestdeutschland zur Ermittlung der für den „neuen Osten" benötigten Siedlerreserve erkundete. Unter Brinkmanns massgeblicher Beteiligung wurde dann Anfang der vierziger Jahre das Institut für Großraumwirtschaft an der Universität Heidelberg gegründet. In engster Kooperation mit verschiedenen Reichs-

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ministeriell wurde eine finanziell sehr großzügig ausgestattete Forschungseinrichtung geschaffen, deren Aufgabe hauptsächlich die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Politikberatung war. Im Fall des Instituts für Grossraumwirtschaft ist dessen Liquidation im Jahr 1945 nicht weiter verwunderlich. Das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften kam nach Kriegsende wieder unter die Leitung von Alfred Weber und setzte seinen traditionellen akademischen Betrieb fort, der sich von Politikberatung fern hielt. An Aussiedlungsforschung bestand wahrhaftig kein Bedarf mehr, aber eine Umorientierung wie im Fall des Soziographischen Instituts auf Probleme der Flüchtlingsintegration, Wiederaufbau· und Sozialplanung erfolgte auch nicht. Allgemein wurde auch bald deutlich, dass die Formen des Staatsinterventionismus, wie sie das NS-Regime praktiziert hatte, zum Beispiel nicht durch solche der nach Kriegsende propagierten sozialistischen ersetzt werden sollten. Bei der Etablierung der Sozialen Marktwirtschaft war allerdings sozialwissenschaftliches Expertenwissen nach wie vor gefragt. Der Kreis um den Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen Erwin von Beckerath spielte dabei eine herausragende Rolle. Als Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftslehre der vom Reichsrechtsführer und späteren Generalgouverneur Hans Frank gegründeten »Akademie für deutsches Recht« konnte er wesentliche Weichenstellungen vorausschauend konzipieren und als Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft auf deren Umsetzung Einfluss nehmen (vgl. Blumenberg-Lampe 1973, 1986). Auch eine andere in der NS-Zeit gegründete sozialwissenschaftliche Forschungseinrichtung konnte als Instrument einer marktkonformen Planung eine beachtliche Nachkriegskarriere machen. Als Pendant zu Wilhelm Vershofens Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware an der Handelshochschule in Nürnberg wurde 1935 die »Gesellschaft für Konsumforschung« unter massgeblicher Beteiligung des Vorstandsmitglieds Ludwig Erhard gegründet, um repräsentative Untersuchungen auf dem Gebiet der Markt- und Meinungsforschung durchzuführen. Sie verfügte über eine eigene Zeitschrift, ein Mitteilungsblatt, ein vertrauliches Nachrichtenorgan für ihre Mitglieder und beschäftigte 1939 700 Korrespondenten und Mitarbeiter (vgl. Bergler 1959/60). Heute ist die Gesellschaft für Konsumforschung die grösste ihrer Art in Deutschland. Wissenschaftliche Modernisierungen im Bereich der anwendungsorientierten und politikberatenden Sozialforschung sind also dann irreversibel, wenn der politische Systemumbruch keine gravierenden Veränderungen der Wirtschaftsweise verursacht. Die Deutsche Arbeitsfront, die auch heute noch häufig als relativ einflusslos im Vergleich zu anderen Institutionen der NS-Polykratie bezeichnet wird (vgl. Frese 1991), hatte nicht zuletzt durch ihr »Arbeitswissenschaftliches Institut« durchaus Möglichkeiten, sich in Planungsdiskussionen einzuschalten. Hierbei

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vertrat sie häufig an ökonomischer Rationalität orientierte Positionen gegenüber stärker Volkstums- oder rassenpolitischen Konzepten anderer Planungsinstanzen und Administrationen. Im Gegensatz zu seinem Namen befasste sich das Institut auch mit Fragen der Siedlungs- und Sozialpolitik in den besetzten Gebieten im Sinne eines soziotechnischen Programms zur Realisierung der im Prinzip geteilten strategischen Germanisierungsziele. Andere Abteilungen des personalstarken Instituts entwickelten konkrete Konzeptionen eines allesumfassenden Sozialversicherungssystems (vgl. Roth 1993). Einzelne Elemente sind davon später zum Beispiel im Rentenrecht der Bundesrepublik realisiert worden. Das Modell des Arbeitswissenschaftlichen Instituts als einer zum Teil unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit Monopolanspruch arbeitenden Einrichtung der Zwangskorporation Deutsche Arbeitsfront hatte natürlich in einem demokratischen System keine Existenzberechtigung mehr. Ob dort entwickelte Ideen eines abgestimmten Sozialversicherungssystems nach 1945 direkt wieder aufgenommen wurden, ist mir unbekannt. Dies ist aber höchst unwahrscheinlich, da man an der hergebrachten Struktur etwa der getrennten Alterssicherung von Arbeitern, Angestellten und Beamten festhalten wollte. Auch aus heutiger Sicht äußerst modern war die Gründung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Berliner Universität durch den Sicherheitsdienst der SS. Sie erhielt als Forschungseinrichtung das Auslandswissenschaftliche Institut im Rang eines Reichsinstituts, einen eigenen Diplomstudiengang und das Recht, den Doktor der Auslandswissenschaften zu verleihen (vgl. Haiger 1991). Hier sollte eine an herkömmlichen Standards der Wissenschaftlichkeit orientierte Ausbildung erfolgen, da die Absolventen nicht als Weltanschauungsexperten fungieren sollten, sondern als Kenner der Gesellschaftsordnung, Kultur und Politik all jener Länder, mit denen sich die Großmacht Deutschland in Zukunft auseinander zu setzen hätte. Die traditionelle philologische Ausbildung von Kennern der jeweiligen Sprache oder von Karrierediplomaten wurde als nicht mehr ausreichend angesehen. Als abzusehen war, dass die Groß- bzw. Weltmachtträume in Schutt und Asche versinken würden, gründete der Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät, der schon erwähnte Karl Heinz Pfeffer, das Europa-Seminar, an dem auch Vertreter aus Wirtschaft und Politik teilnahmen. Hier wurden Pläne über die selbstverständlich auch in Zukunft als dominierend konzipierte Rolle Deutschlands in einem vom Prinzip her aber föderalistischen Europa diskutiert. Der erwartete Systemumbruch führte somit auf wissenschaftlichem Gebiet zu einer irreversiblen Modernisierung, deren Umsetzung allerdings so recht erst im letzten Jahrzehnt zum Beispiel durch die Einrichtung von Europa-Studiengängen vorangekommen ist.

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Das Führerprinzip in der Forschungsforderung Der politische Einfluss auf die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft/Deutsche Forschungsgemeinschaft i m Dritten Reich

1933-1937 Lothar Mertens I. Einleitung Nachfolgend soll am Beispiel der Deutschen Forschungsgemeinschaft untersucht werden, ob der politische Systemumbruch durch den Nationalsozialismus in den Anfangsjahren des Dritten Reiches einen Modernisierungsfaktor in der Wissenschaftsförderung nach 1933 bedingte. Die »Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft« (NDW) wurde im Jahre 1920 formaljuristisch in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins (e.V.) gegründet, 1 dessen 57 Mitglieder fast alle deutschen Universitäten, technischen Hochschulen, die meisten Akademien der Wissenschaften sowie die KaiserWilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften umfasste. Im Jahre 1935 wurde sie formell auf den auch heute noch verwendeten Namen »Deutsche Forschungsgemeinschaft« (DFG) umbenannt, da es im Dritten Reich angeblich keine Not mehr gab. Ihre Aufgabe war es, die nach dem ersten Weltkrieg begrenzten finanziellen Mittel der Wissenschaftsförderung zusammenzufassen und gezielter einzusetzen. Die Finanzierung der Notgemeinschaft erfolgte überwiegend aus Reichsmitteln und in geringerem Umfang durch Spenden aus der Industrie sowie privaten Schenkungen. Rasch übernahm die Notgemeinschaft bei großen, überregionalen Forschungsvorhaben eine Steuerungsfunktion, die einer Richtlinienkompetenz gleichkam. Besonders von ihrem langjährigen Präsidenten, dem letzten königlich-preußischen Kultusminister Friedrich Schmidt-Ott, 2 der von 1920-1934 an der Spitze der Organisation stand, gingen in mannigfaltiger Hinsicht konzeptionelle Anstöße für die Bearbeitung neuer Arbeitsfelder oder Anregungen zur Kräftebündelung bei der Durchführung insbesondere von geisteswissenschaftlichen Großforschungsvorhaben aus, die in der heutigen Zeit

1

Zur Entstehung und Frühphase der Notgemeinschaft siehe ausführlich Marsch.

2

Siehe Brocke S. 136ff. zur Rolle Schmidt-Otts bei der Gründung der KWG.

3 Mertens

34

Lothar Mertens

mit dem Begriff »Sonderforschungsbereich« bezeichnet würden. Stellvertretend dafür seien hier nur die »Meister-Eckhard-Ausgabe« sowie der »Thesaurus Linguae Latinae« genannt, welche durch die finanzielle Unterstützung der Notgemeinschaft in Angriff genommen werden konnte.3 Die Überparteilichkeit und Unabhängigkeit der Institution bei der Mittelvergabe endete mit dem Ende der Weimarer Republik. Das anbrechende Dritte Reich bedeutete auch für die »Notgemeinschaft« eine tief greifende Zäsur, die insbesondere durch das Ende ihrer wissenschaftlichen Freiheit und institutionellen Selbstbestimmung gekennzeichnet war. Auf der letzten demokratischen Mitgliederversammlung 4 der »Notgemeinschaft« am 11. Oktober 1932 wurde in einer Satzungsänderung festgelegt, dass die Mitglieder des Hauptausschusses von der Mitgliederversammlung für drei Jahre gewählt werden würden. 5 Diese Änderung wurde durch die NS-Diktatur und ihre Führerstruktur ebenso überholt, wie die im Herbst 1932 beschlossene Änderung des Namens, die jedoch nicht im Praxisalltag verwendet wurde. Statt »Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft« sollte nun der Titel »Deutsche Gemeinschaft zur Erhaltung und Förderung der Forschung« verwendet werden. 6 Zwar wurden die Modifikationen noch dem für das Vereinsregister zuständigen Amtsgericht Berlin zugeleitet und auch dort entsprechend vermerkt, 7 jedoch war inzwischen die politische Entwicklung darüberhinweg gegangen, da im Sommer 1933 Schmidt-Ott und der Hauptausschusss infolge des politischen Drucks geschlossen zurückgetreten waren. 8 Symptomatisch für die raschen Eingriffe der Nationalsozialisten war, dass bereits Anfang April 1933 Reichsinnenminister Frick verlangt hatte, dass die Leitung des »Atlas für deutsche Volkskunde« mit einem „politisch einwandfreien Mann" besetzt werden müsse.9 Frick persönlich hatte am 8. April 1933 an einer Hauptausschuss-Sitzung der Notgemeinschaft teilgenommen und zumindest offiziell in seinem Grußwort lobende Worte gefunden, 10 obgleich in-

3

Zierold, S. 85 u. S. 186.

4

Zwischen 1933-1945 gab es lediglich noch eine Zusammenkunft im Nov. 1934, die jedoch nur noch akklamatorischen Charakter hatte. 5

BA-Ko, R 73/14168; siehe Anlage zur Satzungsänderung, hier: Entwurf vom 10. Okt. 1932.

6

Ebd., Titel der Satzung in der Änderung vom 11. Okt. 1932.

7

Ebd., Schreiben am 1. Apr. 1933; Brief des Amtsgerichts Charlottenburg vom 14. Juli 1933.

β

Ebd.; vgl. den Brief von Reichswissenschaftsminister Bernhard Rust vom 17. Juli 1934, wonach Schmidt-Ott angeblich sein Amt „zur Verfügung gestellt" und die Mitglieder des Hauptausschusses „ sich diesem Vorgehen angeschlossen " hatten. 9

BA-BL, R 1501/26769-3, Bl. 32; Aktennotiz für Ministerialrat Donnevert vom 7. Apr. 1933.

10

BA-Ko, R 73/106; Niederschrift der Hauptausschuss-Sitzung vom 8. Apr. 1993, S. 1-16, hier S. 1-3. Die Erhaltung der Deutschen Wissenschaft. In: Deutsche Allgemeine Zeitung, Nr. 169, am 9. Apr. 1933.

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35

tern bereits der Machtkampf gegen die alten demokratischen Strukturen längst entbrannt war. Die mit anfänglicher Zustimmung des Reichsinnenministers für den 17. Juni 1933 angesetzte Mitgliederversammlung der Notgemeinschaft musste deshalb aufgrund einer Weisung Wilhelm Fricks auf unbestimmte Zeit verschoben werden. 11

Graphik 1: Die Notgemeinschaft unter Friedrich Schmidt-Ott 1920-34 Die Aufforderung zum Rücktritt des gesamten Notgemeinschaftspräsidiums im Mai 1933 war auf Drängen Schmidt-Otts erfolgt. Fritz Haber, der bereits zuvor Ende April 1933 aus eigenem Entschluss 12 von der Leitung des KaiserWilhem-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie sowie seiner Professur an der Berliner Universität zurückgetreten war, 1 3 willigte in seinem Schreiben an Schmidt-Ott vom 12. Mai 1933 auch in den Rücktritt als Vizepräsident der NDW ein. Zugleich übte Haber jedoch deutliche Kritik am autoritären und wenig kollegialen Führungsstil Friedrich Schmidt-Otts in den zurückliegenden Jahren, der sogar im Ausland kritisch vermerkt worden war. 1 4 Nach 11 Archiv der Technischen Universität Braunschweig (TUBS), AI/20, Teil 1, Bl. 72-76, hier Bl. 72; siehe Rundbrief von Schmidt-Ott an die Mitglieder der Notgemeinschaft, hier Rektor der TH Braunschweig, am 10. Nov. 1933, S. 1. 12

Siehe dazu ausführlich Szöllösi-Janze, S. 644 ff.

13

BA-Ko, R73/1; siehe die Abschrift des Briefes von Fritz Haber an den Reichswissenschaftsminister vom 30. Apr. 1933. 14

3'

Rockefeller Archive Center, Sleepy Hollow (RAC), RF, RG 12.1, Box 44; H.M.M. Diaries,

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36

Auffassung Fritz Habers war es quasi eine Ironie des Schicksals, dass in „ dieser gewaltsamen Zeit", in der das vom Notgemeinschaftspräsidenten so gern angewandte Führerprinzip „zum leitenden Staatsprinzip" erhoben worden sei, sich dieses nun gegen diesen selbst richtete.15 Friedrich Schmidt-Ott zeichnete sich zwar durch eine rasche Anpassung an das neue diktatorische System aus, die deutlich in einem Rundbrief vom November 1933 zu erkennen ist, in denen er als „neue Aufgaben" der Notgemeinschaft die zukünftigen Forschungsförderschwerpunkte aufzählt, welche „den Zielsetzungen des nationalen Staates"^ dienen sollten: „Daneben treten in den Vordergrund die Forschungen, die der Rasse, dem Volkstum und der Gesundheit des deutschen Volkes gewidmet sind. Neben der anthropologischen Erhebung, den anthropologischen, erbpathologischen und soziologischen Forschungen in geschlossenen Bezirken stehen die Arbeiten, die der empirischen Erbprognose dienen. Eine neue Arbeit, die der erbbiologischen Erforschung der neurologischen und neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen gilt, soll das Material für die praktische Eugenik und die neuen Aufgaben der Gesetzgebung erweitern. " 1 7 Außerdem wurden folgende weiteren langfristigen Projekte erwähnt: „Dem deutschen Boden und den historischen Grundlagen des deutschen Volkstums wird besondere Aufmerksamkeit zugewandt. " Darüberhinaus hatte die Notgemeinschaft ,, in eingehenden Beratungen die Grundlagen" für den »Historischen Atlas deutscher Staaten-, Siedlungs- und Wirtschaftsgebilde« gelegt. 18 Außerdem sollte die Herausgabe der Schriften des Meisters Eckhart der „ Wiedererweckung alten deutschen Geistesgutes" dienen. 19 Angesichts dieses tiefen Kotaus vor der NS-Ideologie bestand keinerlei Eile bei der Suche nach einem Nachfolger, so dass Schmidt-Ott die Amtsgeschäfte kommissarisch weiterführen durfte und noch ein Jahr lang hoffte, auch im Dritten Reich im Amt verbleiben zu können. 20 Denn die endgültige personelle Gleichschaltung der Notgemeinschaft erfolgte erst im Juli 1934, nach dem die ministerielle Zuständigkeit vom Reichsinnen- auf das inzwischen geschaffene Reichswissenschaftsministerium übergegangen war. Die Frage des Zuständigkeitswechsel vom Innen- zum neugegründeten Wissen12. Dez. 1933, unsig. (S. 6), siehe dort die Eintragung Millers vom Europäischen Büro der Rockefeller Foundation, wonach Schmidt-Ott Haber gegenüber sehr „ unfair " gewesen sei. 15

BA-Ko, R 73/1; Brief Fritz Haber an Friedrich Schmidt-Ott vom 12. Mai 1933. Siehe auch Szöllösi-Janze, S. 528 ff. zum Wirken Habers für die Notgemeinschaft. 16

TU BS, A1/20, Teil 1, Bl. 72-76, hier Bl. 72; siehe Rundbrief von Schmidt-Ott an die Mitglieder der Notgemeinschaft, hier Rektor der TH Braunschweig, am 10. Nov. 1933, S. 1. 17

Ebd., hier Bl. 73a; S. 3.

18

Ebd., hier Bl. 74; S. 4.

19

Ebd., hier Bl. 75; S. 5.

20

BA-Ko, R 73/2; undatierte handschriftliche Notiz Schmidt-Otts mit seiner Darstellung der Entlassung, S. 1-4. Siehe auch dessen Erinnerungen: Schmidt-Ott, S. 294.

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schaftsministerium war den Mitarbeitern der Notgemeinschaft bereits im März 1934 bekannt, wobei NDW-Referent August Fehling noch Mitte Juni 1934 auf einen Verbleib unter dem Innenministerium hoffte, da er zu viel Propagandaeinflüsse durch das neu entstehende Reichswissenschaftsministeriums befürchtete. 21 Die ersten Jahre der NS-Wissenschaftspolitik waren insgesamt durch die Machtkämpfe divergierender Interessengruppen und permanente Einflussnahme unterschiedlicher Parteigliederungen gekennzeichnet. Institutionelle und regionale Seilschaften 22 innerhalb und außerhalb des Parteiapparates sowie ideologische und sachbezogene Netzwerke bildeten den Rahmen dieses diffusen Beziehungsgeflechts. Kennzeichnend für die Dynamisierung und z.T. Radikalisierung der NS-Wissenschaftspolitik war, dass sie personell mehr und mehr von jüngeren Aufsteigern (Mentzel, Schumann) gemacht wurde, die im Gegensatz zu den älteren Parteigenossen, die anfänglich vorübergehend die Forschungspolitik eher verwaltet hatten, keine Weltkriegserfahrung besassen und zugleich den Älteren mit dieser tiefgreifenden Lebenserfahrung misstrauten. 23 Neben Rudolf Mentzel, der Stark mit allen ihm zur Verfügung stehenden administrativbürokratischen Möglichkeiten das Leben schwer machte und schließlich im November 1936 in Personalunion sein Nachfolger wurde und ab 1937 im Reichsforschungsrat eine zentrale Rolle spielte, ist hier noch Erich Schumann zu nennen, der gleichfalls in mehreren wissenschaftspolitischen Funktionen tätig war, ab Herbst 1933 eine Professur für Physik und Systematische Musikwissenschaft[!] an der Berliner Universität inne hatte, sowie im Heereswaffenamt und als Abteilungsleiter im Reichswissenschaftsministerium wirkte. 2 4 Die Gefahr, die für Stark von Schumann aus ausging, konnte der emigrierte Physiker und Nobelpreisträger James Franck bereits im Herbst 1934 einem Mitarbeiter der Rockefeller Foundation in Kopenhagen ausführlich beschreiben, wobei Erich Schumann gemäß der Tagebuchaufzeichnung von Franck als ein "aufgehender Stern " im Reichswissenschaftsministerium bezeichnet wurde. 25 Johannes Stark 21 RAC, RF, RG 12.1, Box 49, D.P.O. Diaries, 6-7. März 1934, unsig. (S. 2); nach Gespräch O'Brien mit Fehling. Ebd., Box 22, A.G. Diaries, 16. Juni 1934, Bl. 88; Notiz Alan Gregg nach Gespräch mit Fehling. 22 So wollte z.B. Minister Rust Werner Heisenberg lieber in Göttingen (quasi in der ungenannten Bohr-Nachfolge) sehen, statt als Nachfolger seines Lehrers Sommerfeld in München, um so Güttingen wieder zur früheren Grösse zu verhelfen. Diese Darstellung Debyes paßt in das Bild, da die Seilschaft im Reichswissenschaftsministerium um Mentzel aus Göttingen stammte und dies zum NSDAP-Gau Braunschweig unter Rust gehörte; RAC, RF, RG 12.1, Box 64, W.E.T. Diaries, 4. Okt. 1935, unsig. (S. 3); so die Aussage von Debye im Gespräch mit Tisdale. 23

Ebd., Box 22, A.G. Diaries, 16. Juni 1934, Bl. 89; so die Einschätzung des NDW-Referenten August Fehling. Zu den allgemeinen Veränderungen in der ministeriellen Beamtenschaft siehe auch Hammerstein, S. 90 u. S. 121. 24

Hammerstein, S. 134 ff.

25

RAC, RF, RG 12.1, Box 64, W.E.T. Diaries, 28. Okt. 1934, unsig.

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selbst hatte bereits in einem privaten Brief an den Alt-Nazi und ideologischen Mitstreiter um eine »Deutsche Physik« Philipp Lenard im April 1933 die Gefahren voraus geahnt: „ Nicht die Juden und unsere sonstigen Gegner fürchte ich, sondern die Anmaßung, den Neid und die Intrige in den führenden nationalsozialistischen Kreisen. " 26 Denn Stark wußte bereits vor seiner umstrittenen Ernennung 27 zum Präsidenten der PTR, die gegen zahlreiche Widerstände innerund außerhalb der Partei erfolgt war: „Leute wie ich und Sie sind im nationalsozialistischen Führerkreis nicht geschätzt. Erstens sind wir alt und allein schon darum minderwertig; zweitens haben wir etwas geleistet und dies empfinden viele in der Umgebung Hitlers als einen Vorwurf für sich; drittens sind wir Männer der Wissenschaft, denen nicht große Worte, sondern nur klare Erkenntnisse imponieren... Wenn wir darum uns in diesem Kreise melden und uns zur Mitarbeit zur Verfügung stellen, so empfindet man dies als lästig ". 28 Beispielhaft für den vorauseilenden Gehorsam der Notgemeinschaft unter Schmidt-Ott war auch, dass diese von sich aus - ohne vorherige staatliche Aufforderung-, sofort die Bestimmungen des »Gesetzes gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen« vom 25. April 1933 sinngemäß bei der Gewährung ihrer Forschungsstipendien anwendete und daher seit Ende April 1933 keine Bewilligungen mehr „an Nichtarier" aussprach. 29 Eine grundsätzliche Entscheidung in der Frage von Notgemeinschaftsstipendien an „ nichtarische" Bewerber, wurde von Seiten des Reichsinnenministeriums erst Anfang September 1933 gefällt. Danach sollte, nach einer Grundsatzentscheidung von Ministerialdirektor Dr. Buttmann, 30 eine Bewilligung „bis auf weiteres" nicht mehr erfolgen. Personen, die gemäß NS-Rassendefinition als „Halbarier" eingestuft wurden, durften „nur in besonders dringlichen Fällen und nur dann ein Stipendium erhalten, wenn arische Gesuche " nicht vorlagen. Die Weiterzahlung laufender Forschungsstipendien durfte nur dann für maximal drei Monate erfolgen, „wenn dies zur Fertigstellung wichtiger Arbeiten notwendig" war. 3 1 Die anbiedernde Anpassung Schmidt-Otts an die neuen Machthaber zeigte sich auch in einem internen Rundschreiben von Mitte Dezember 1933. Darin teilte der Präsident allen Ausschüssen der Notgemeinschaft mit, dass von nun an in allen Schreiben, die von ihm oder in seinem Auftrage zu unterzeichnen seien, 26

Schreiben Johannes Stark an Philipp Lenard vom 20. Apr. 1933 zit. in Kleinert, S. 35 f.

27

Laue, S. 272.

28

Schreiben Johannes Stark an Philipp Lenard vom 20. Apr. 1933 zit. in Kleinert, S. 35 f.

29

BA-BL, R 1501/26769-3, Bl. 151-152, hier B. 152; Schreiben Schwoerer an Ministerialrat Donnevert, Reichsinnenministerium, am 12. Juni 1933. 30 31

Ebd., Bl. 175; siehe auch Brief Donnevert an Notgemeinschaft vom 19. Sep. 1933.

Ebd., Bl. 174; Vermerk Donnevert vom 7. Sep. 1933. Die Entscheidung Buttmanns war von ihm außerdem Geheimrat Schwoerer mündlich mitgeteilt worden.

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39

mit der „Formel ,mit deutschem Gruss abschliessen sollten. Lediglich in Ausnahmefällen sollte der Zusatz „ und in grösster Hochachtung" erfolgen. 32 Nicht ganz grundlos warf der nationalsozialistische »Kampfbund für Deutsche Kultur« warf daher im Frühjahr 1933 in einem Schreiben an den Staatssekretär im Reichsinnenministerium, Pfundtner, dem Notgemeinschaftspräsidenten u.a. zwei negative Verhaltensweisen vor: „ 1. charakterlose Anpassung an die jeweiligen politischen Machthaber 2. Festigung seiner autokratischen Stellung um seiner masslosen persönlichen Eitelkeit willen" 33 Als politische Abhilfe wurde die sofortige Einsetzung eines Staatskommissars gefordert. 34 Als Beispiel für den angeblichen Machtmissbrauch Friedrich Schmidt-Otts, wurde genannt: „ Ungeheure Mittel fliessen ins Ausland für Ausgrabungen in fremden Ländern. " 3 5 Die Überbetonung des Deutschtums und dem damit verbundenen Interesse an deutscher Ur- und Frühgeschichte durch den Nationalsozialismus fanden sich hier gepaart mit Sozialneid wider, 3 6 der zu sachlich falschen Anschuldigungen führte, die jedoch leicht zu widerlegen waren, 37 während hingegen die persönlichen Kritikpunkte ziemlich ins Schwarze trafen. Symptomatisch für das Kompetenzwirrwarr innerhalb der NSDAP am Beginn des Dritten Reiches und die völlige Unkenntnis um die Funktion und Förderaufgaben der Notgemeinschaft war eine Verfügung durch Rudolf Heß vom Oktober 1933. Zur „Stärkung" des Deutschtums innerhalb des Reiches und jenseits der Grenzen (dem Grenz- und Auslandsdeutschtum) hatte der „Stellvertreter des Führers" einen »Volksdeutschen Rat« berufen, der von Prof. Haushofer geleitet werden sollte. 38 Wie Heß der Notgemeinschaft mitteilte, hatte er „ in Durchführung" dieser Verfügung die Notgemeinschaft „dem Volksdeutschen 32

BA-Ko, R 73/37; internes Rundschreiben Schmidt-Otts an die Notgemeinschaftsausschüsse am 14. Dez. 1933. 33

BA-BL, R 1501/26769-3, Bl. 230-231; hier Bl. 230; Kampfbund für Deutsche Kultur an Staatssekretär Pfundtner vom 15. März 1933, S. 2. 34

Ebd.; Bl. 231; S. 3.

35

Ebd.; Bl. 230; S. 2.

36

BA-Ko, R 73/13743; für dieses häufige Muster siehe z.B. auch den Stipendienantrag von Pu 1/04/1 vom 10. Mai 1936, der die Förderung seiner diffusen volkskundlichen Forschungen (Helgoland war danach die Südspitze des versunkenen Atlantis) mit dem Argument, für außerdeutsche Forschungsgebiete wie Tibet und Aihka seien von der DFG „stets ausreichende Geldmittel bewilligt worden " bekräftigte. 37

BA-BL, R 1501/26769-3, Bl. 239-241; siehe auch die von Schwoerer angefertigte Notiz vom 24. Jan. 1934, in der alle Vorwürfe Punkt für Punkt plausibel widerlegt und mit Hinweisen auf die Kassenprüfungen durch den Reichsrechnungshof zurückgewiesen wurden. Auffallend ist jedoch, dass die Vorwürfe wohl erst mit mehrmonatiger Verzögerung an die Notgemeinschaft zur Stellungnahme weitergeleitet wurden. 38

Ebd., Bl. 206; Abschrift der Verfügung vom 27. Okt. 1933.

40

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Rat unterstellt"? 9 nähere inhaltliche Mitteilungen würden folgen. Schmidt-Ott wandte sich sofort an das vorgesetzte Reichsinnenministerium. Wie Ministerialrat Donnevert in einem Aktenvermerk festhielt, sollte der Eingliederung durch das Innenministerium widersprochen werden. Die „gegenteilige Anweisung der NSDAP" gehe von der „irrigen Voraussetzung aus, " dass es sich bei der Notgemeinschaft (wegen ihrer Rechtsform) um einen Verein handele, der „ auf dem Gebiete des Grenz- und Auslandsdeutschtums" eine selbständige Tätigkeit entfalte. Die Notgemeinschaft sei jedoch eine Organisation, die dem Reichsinnenministerium unterstehe. 40 Diese Sichtweise wurde auch Heß mitgeteilt 4 1 In einer früheren Nachricht, die vom Verbindungsstab Heß an das Reichsinnenministerium weitergeleitet wurde, 42 wurde die Notgemeinschaft und ihre bisherige Tätigkeit aus NS-Sicht wie folgt beschrieben: „Notgemeinschaft für deutsche Wissenschaft (ein zweites Kultusministerium) bestimmt die gesamte Forschungsarbeit im Reiche. Bis heute noch nicht gleichgeschaltet. Zusage, den nationalsozialistischen Professor Vahlen zum Präsidenten zu machen, bis heute nicht eingehalten. " 4 3 Auch die kritischen Beobachter der Rockefeller Foundation vermuteten im Juni 1933, dass die Ära Friedrich Schmidt-Ott nun endgültig beendet und der Mathematiker Vahlen der wahrscheinliche Nachfolger sei. 4 4 Theodor Vahlen, gleichfalls ein alter Nationalsozialist (u.a. 1924-27 Gauleiter von Pommern), war im Jahre 1923/24 Rektor der Univ. Greifswald gewesen und schon damals durch ein undemokratisches Auftreten aufgefallen, 45 arbeitete damals im Reichswissenschaftsministerium als Ministerialdirektor, bevor er von der jüngeren Garde um Rudolf Mentzel entmachtet wurde.

II. Präsidentenwechsel Die Entlassung Schmidt-Otts, d.h. die ministerielle Annahme eines gar nicht erklärten Rücktritts durch Reichswissenschaftsminister Bernhard Rust erfolgte

39

Ebd., Bl. 205; Abschrift des Briefes Heß an die Notgemeinschaft vom 30. Okt. 1933.

40

Ebd., Bl. 207; Aktenvermerk Donnevert vom 2. Nov. 1933.

41

Ebd., Bl. 208; Brief Donnevert, Reichsinnenministerium an Rudolf Heß vom 20. Nov. 1933.

42

Ebd., Bl. 128; Brief des Heß-Adjutanten an das Reichsinnenministerium vom 26. Juli 1933.

43

Ebd., Bl. 129; undatierte Abschrift.

44

RAC, RF, RG 2-1933, Ser. 717 Germany, Box 93, Fol. 736; John Van Sickle an Edmund Day vom 7. Juli 1933, S. 4 f. So auch bei Glum, S. 442. 45 Siehe Hammerstein, S. 78; Vahlen hatte am Verfassungstag, dem 11. Aug. 1924, die (ihm verhaßte) Reichsflagge („Systemfahne") von Dach der Universität herunter holen lassen.

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41

am 23. Juni 1934. 46 In einer vierseitigen handschriftlichen Notiz hielt SchmidtOtt seine Darstellung der Amtsübergabe fest. Danach war ihm bereits am 10. Mai 1933 der Rücktritt von Reichsinnenminister Frick nahe gelegt worden. Auch die überfallartige Amtsübernahme durch Stark Ende Juni 1934 schilderte Schmidt-Ott ausführlich. So hatte Ministerialdirektor Vahlen vom Reichswissenschaftsministerium unmittelbar nach der Rückkehr Schmidt-Otts von einer Besprechung in diesem Ministerium am 23. Juni 1934 telefonisch in der folgenden Viertel- oder halben Stunde die Übernahme der Dienstgeschäfte durch Stark angekündigt, so dass sich dieser in aller Hast von seinen langjährigen Mitarbeitern verabschieden musste. 47 Wie Schmidt-Ott abschließend betonte, sei die per Eilboten zugestellte Nachricht des Reichswissenschaftsministers, wonach Rust ihn seinem Wunsch entsprechend vom Amt entbunden habe und die so auch in der Presse verbreitet worden sei schlichtweg falsch, 48 da der Minister ihn gar nicht habe abberufen können, sondern dies nur durch die Mitgliederversammlung der Notgemeinschaft hätte geschehen können. Daher bat abschließend Schmidt-Ott um eine Richtigstellung der Bekanntmachung, wonach er seinen Rücktritt erklärt habe; 49 doch diese bewußte Falschmeldung wurde nie offiziell revidiert. Als Nachfolger wurde vom Reichswissenschaftsminister Prof. Dr. Johannes Stark als „kommissarischer Leiter" eingesetzt,50 der bereits im Frühjahr 1933 zum Präsidenten der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR) ernannt worden war. 5 1 Stark war ein Alt-Nazi, der Adolf Hitler bereits während dessen Landsberger Haftzeit regelmäßig mit Essen versorgt hatte und sich seiner langjährigen Kontakte zum „Führer" rühmte. Seine Impulsivität und sein polteriges Auftreten hatten ihm die Spitznamen „Johannes Robustus" in der PTR und „Giovanni Fortissimo" durch Albert Einstein eingebracht. 52 Der Eigenbrötler, welcher nach eigener Aussage „schon als Kind eigenwillige Entschlüsse

BA-Ko, R 73/2; siehe Brief des Reichswissenschaftsministers an Stark sowie Schmidt-Ott vom 23. Juni 1934. 47 Ebd.; handschriftliche Notiz Schmidt-Ott, S. 1-4, hier S. 3. Siehe dazu auch dessen Erinnerungen: Schmidt-Ott, S. 294. 48 In der Berliner Tagespresse hieß es Schmidt-Ott habe am 23. Juni um die Entbindung von seinem Amt „gebeten": Rücktritt Schmidt-Otts von der Notgemeinschaft. In: Deutsche Allgemeine Zeitung, So. 24. Juni 1934, Berlin; Präsidentenwechsel in der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. In: Berliner Lokal-Anzeiger, 52. Jg., So. 24. Juni 1934. 49

R 73/2; handschriftliche Notiz Schmidt-Ott, S. 1-4, hier S. 4.

50

BA-Ko, R 73/14168; Brief Rust an Mitglieder der Notgemeinschaft vom 17. Juli 1934, S. 1.

51

Nobelpreisträger Präsident der Reichsanstalt. In: Β.Ζ. am Mittag, Berlin, 26. Apr. 1933.

52

Zierold, S. 174.

42

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liebte" Ρ hatte 1913 den nach ihm benannten Stark-Effekt, die Aufspaltung der Spektrallinien im elektrischen Feld, entdeckt und dafür 1919 den Nobelpreis für Physik erhalten. Im Jahre 1922 legte er nach Fakultätsstreitigkeiten seine Würzburger Professur nieder und zog sich in das Privatlaboratorium auf seinem Gutshof im oberbayerischen Traunstein zurück. Stark war daher am Ende der Weimarer Republik zum Außenseiter geworden, der jedoch nun kurzzeitig zur zentralen Persönlichkeit der deutschen Wissenschaft im Nationalsozialismus aufstieg, 54 Denn neben seiner Doppelpräsidentschaft und der damit verbundenen totalen Arbeitsüberlastung hatte er sich im Frühjahr 1936 vergeblich bemüht, zum Nachfolger Max Plancks ernannt zu werden und als dritte Leitungsfunktion auch noch die Präsidentschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu erlangen. 55 Ebenso war sein Versuch gescheitert, die Verlagerung des Berliner »Kaiser-Wilhelm-Instituts für Metallforschung« nach Stuttgart zu verhindern, weil er das Institut stattdessen lieber in die Physikalisch-Technische Reichsanstalt eingliedern wollte. 5 6 Als dieser Versuch am energischen Widerstand der KWG scheiterte, trat Stark unter Protest aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft aus, zu deren Senator er erst im Frühjahr 1933 ernannt worden war. 5 7 Doch trotzdem blieb Johannes Stark eine gewichtige Persönlichkeit in der NS-Forschungspolitik, der z.B. die geplante Gründung des KW-Instituts für Physik durch seine negativen Stellungnahmen58 zumindest für mehrere Jahre verzögern konnte. Nicht zu vergessen ist, dass er neben Philipp Lenard der wichtigste Vertreter der »Deutschen Physik« im Dritten Reich war und als unversöhnlicher Heisenberg-Gegner die Entwicklung der modernen Physik in Deutschland massiv behinderte. Für den Experimentalphysiker Stark waren fast alle Theoretiker wie Albert Einstein „ Formalisten " und Nichtjuden wie Werner Heisenberg, wurden für ihr wissenschaftliches Eintreten zugunsten von dessen Theorien von ihm als „Weiße Juden" diffamiert, 59 die angeblich den Fortschritt

53

Stark, Erinnerungen, S. 7.

54

Unterstützung fand Stark dabei durch einen weiteren Altnazi, den Heidelberger Physiker Philipp Lenard, der jedoch als Altersgründen (1933 war er 71 Jahre alt) nicht mehr selbst aktiv werden wollte, jedoch um so mehr Starks Aktivitäten bei den Parteiinstitutionen unterstützte (siehe dazu auch die in Kleinert abgedruckte Korrespondenz zwischen beiden). 55

Albrecht/Hermann, S. 382 ff.

56

Brocke, S. 243.

57

Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin (MPG), I/1A, Nr. 1891/2, Bl. 42; Brief Glum an den Stuttgarter Oberbürgermeister Lautenschlager vom 28. Juni 1935. 58 Bundesarchiv Außenstelle Berlin-Hoppegarten (BA-BH), R 1519, Nr. 65, Bl. 343-344; siehe das Schreiben Stark an Innenminister Frick zum geplanten KW-Institut am 3. Mai 1934, S. 3. 59 Schröder, S. 327-341. Siehe z.B. auch Starks Artikel „Weiße Juden in der Wissenschaft", der 15. Juli 1937 in der SS-Zeitschrift »Das Schwarze Korps« erschien.

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der Physik aufhielten, statt ihn durch eigene Laborversuche zu fördern. 60 Heisenbergs Darstellung im »Völkischen Beobachter« im Februar 1936, dass alle großen physikalischen Entdeckungen der zurückliegenden Jahrzehnte von der Theorie geleistet worden seien, konnte Stark in einer Entgegnung noch am selben Tag auf der gleichen Seite scharf zurückweisen und behaupten, diese Erkenntnisse seien ausschließlich hervorgegangen „ aus der sorgfältigen Beobachtung und Messung der Experimentalphysiker. " 6 1 Bereits die Einleitungsworte Starks, im „Interesse der Aufklärung" wolle er die vorstehende Darlegung Heisenbergs korrigieren, war ebenso bezeichnend, wie sein gutachterliches Verdikt über den Förderantrag des Gießener Physikers Uller: „Eine neue Auseinanderist überflüssig, da über sie setzung mit den Einsteinschen Relativitätstheorien das wissenschaftliche Urteil bereits feststeht". 62 Die Darstellung August Fehlings über den ersten Auftritt Starks in der NDW-Geschäftsstelle verstärkt diesen negativen Eindruck. So soll sich Stark nur rund eine halbe Stunde in den Büros aufgehalten und ein Monatsgehalt im Voraus kassiert haben, um danach für vier Wochen in Urlaub zu fahren; 63 sicherlich kein gutes Vorbild für die zukünftigen Untergebenen. Geradezu prophetisch war das Urteil, welches Max von Laue dem entlassenen Notgemeinschafts-Präsidenten Schmidt-Ott über dessen Nachfolger Stark und sein künftiges Wirken in der DFG im Juni 1934 voraus sagte: „ Unter den jetzigen Umständen noch dazu wird der Wechsel im Präsidium, fürchte ich, den Auftakt bilden zu schweren Zeiten für die deutsche Wissenschaft, und die Physik wird wohl den ersten und schwersten Stoß zu erleiden haben. u 6 4 Die strikte Ablehnung der theoretischen und die einseitige Bevorzugung der experimentellen Physik, wie sie sich in der DFG-Forschungsförderung unter Stark präsentierte, bestätigte die Auffassung von Laues. 65 Noch als „nur" PTR-Präsident hatte er sich - im Gegensatz zum publizierten Vortrag - 6 6 auf dem Würzburger Physi-

60

BA-BH, R 1519, Nr. 65, Bl. 343; Schreiben Stark an Frick am 3. Mai 1934, S. 2.

61

Stark, Stellungnahme, S. 6.

62

BABL, R 1501/26774, Bl. 252; Schreiben Stark [auf PTR-Briefkopf] an Preuß. Wissenschaftsministerium am 28. Nov. 1933. 63

RAC, RF, RG 2-1934, Ser. 717, Box 110, Fol. 845; Kittredge, Tracy: Memorandum. University situation in Germany. Report of TBK on visit July 13/30,1934, S. 1-4, hier S. 1. 64

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem (GStAPK), I. HA, Rep. 92 NL Schmidt-Ott; Brief Max von Laue an Friedrich Schmidt-Ott vom 27. Juni 1934.. 65

Laue, S. 273. Jedoch hatte von Laue selbst noch ein gutes Jahr zuvor Schmidt-Ott gebeten, auch Stark wieder in die Liste der Wahlberechtigten bei der Notgemeinschaft aufzunehmen. Die damit wohl von ihm intendierte Einbindung des Eigenbrötlers scheiterte kläglich; Richter, Forschungsförderung, S. 18. 66

Stark, Organisation, S. 1 ff.

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kertag 1933 in seiner dortigen Rede offenbar selbst als den Diktator der Physik bezeichnet und seinen Durchsetzungswillen mit verbalen Kraftausdrücken und deutlichen Drohungen wie „ Und seid ihr nicht willig, so brauch ich Gewalt" 61 untermauert. 68 Satzungsgemäß bedurfte die Maßnahme der Einsetzung Starks der Zustimmung durch die Mitgliederversammlung der Notgemeinschaft. Wie Rust in seinem Rundbrief erklärte, verzichtete er jedoch vorgeblich aus Kostengründen auf die Einberufung und bat dessen alle Mitglieder um eine schriftliche Stimmabgabe. Neben einer Zustimmung zu der personellen Veränderung wurden die Institutionen aufgefordert, eine beigefügte Erklärung zu unterzeichnen. Diese enthielt eine „Ermächtigung zur Änderung der Satzungen", welche an die „veränderte Staatsführung" angepasst werden sollte. Die angestrebte Satzungsänderung sollte dabei „im Sinne des Führerprinzips" erfolgen. 69 In der vorbereiteten hektographierten Erklärung, die von den Rektoren der Mitgliedshochschulen zu unterzeichnen war, hieß es im Wortlaut, die Satzungen sollten „ im Sinne einer engeren Anlehnung der Vereinszwecke an die Ziele der nationalsozialistischen Staatsführung" geändert werden. 70 Ein Indiz für die noch nicht vollständige nationalsozialistische Durchdringung der Wissenschaftslandschaft eineinhalb Jahre nach dem Regierungsantritt Adolf Hitlers war die Tatsache, dass keineswegs alle Mitgliedsinstitutionen der Notgemeinschaft ihre Zustimmung äußerten. 71 Wie Ministerialdirektor Vahlen vom Reichswissenschaftsministerium in einem Rundschreiben an die Mitglieder im August 1934 mitteilte, war von den 57 Mitgliedsinstitutionen lediglich in 47 Fällen die Äußerung „positiv" gewesen.72 Während vier Erklärungen noch gänzlich fehlten, hatte sich die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft der Stimme enthalten. Vier der fünf Akademien der Wissenschaften hatten die Satzungsänderung abgelehnt; lediglich das Heidelberger Votum war zustimmend gewesen. Als ein-

67

Zit. in Brüche, S. 234. Bestätigend auch Laue, S. 272 u. Hermann, S. 150.

68

Laue, S. 272 f. Vgl. auch Stark, Kämpfen, S. 272, wo dieser sich nachträglich als Kämpfer für die Wissenschaftsfreiheit positionieren wollte. 69

BA-Ko, R 73/14168; Brief Rust an die Mitglieder der Notgemeinschaft vom 17. Juli 1934,

S. 2. 70

Ebd.; Wortlaut in der hektographierten Erklärung, die Anlage des Rust-Briefes war.

71

Siehe passim die Zustimmungserklärung der Hochschulen: UA Halle-Wittenberg, Rep. 4, Nr. 157; Brief Rektor Woermann vom 20. Juli 1934; UA Heidelberg, B-0711/3; Abschrift der Zustimmung durch den Heidelberger Rektor Groh vom 20. Juli 1934; UA Jena, Best. B.A., Nr. 1893, Bl. 168; Brief Rektor Esau an Reichswissenschaftsminister vom 24. Juli 1934. 72 BA-Ko, R 73/14168; Brief Vahlen an die Mitglieder der Notgemeinschaft vom 3. Aug. 1934, S. 1.

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zige Hochschule hatte die Universität München ihre Zustimmung versagt. 73 Die Bayerische Akademie der Wissenschaften hielt „ es für ausgeschlossen, " dass irgendjemand die Notgemeinschaft „im Nebenamte" leiten könnte, wie dies durch die intendierte Doppelfunktion Starks vorgesehen sei. Überdies wurden ihm die notwendigen vielseitigen Kenntnisse abgesprochen, da Stark „selbst auf dem Gebiete der Physik verhältnismäßig einseitig" sei. 7 4 Auch die Göttinger »Gesellschaft der Wissenschaften« war zu dem einmütigen Urteil gekommen, der Ernennung Starks nicht zuzustimmen, da ihn die Mitglieder „ nicht für geeignet" hielten. 75 Die Sächsische Akademie der Wissenschaften stimmte zwar den Satzungsänderungen zu, - hierzu hatten sich weder die Göttinger noch die Münchener geäußert-, jedoch attestierten auch die Leipziger Akademiemitglieder Johannes Stark für die vorgesehene Aufgabe ungeeignet zu sein. Stattdessen wurde eine Persönlichkeit gewünscht, welche „ durch einen weiten Blick für die Bedürfnisse aller, insbesondere auch der Geisteswissenschaften, " die Gewähr für eine fruchtbare Zusammenarbeit biete. 76 Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften, die der Ernennung Starks zugestimmt hatte, bedauerte wenige Tage später in einem Schreiben an die Preußische Akademie der Wissenschaften, „ lebhaft" erst nachträglich von deren Negativurteil und insbesondere dessen inhaltlicher Begründung erfahren zu haben, da man selbst über die Persönlichkeitsdefizite Starks „nicht unterrichtet gewesen" sei. 7 7 Aufgrund dieser breiten Zustimmung stand der Einsetzung von Stark formaljuristisch nichts mehr im Wege, denn die eingeleitete Eintragung im Vereinsregister 78 hatte nach Vahlen Auffassung nur eine „deklaratorische Bedeutung" 79 und die beabsichtigten Satzungsänderungen konnten nun vorgenommen werden. Ein Rundschreiben mit dem Hinweis auf den Rücktritt Schmidt-Otts sowie der Ernennung

73

Ebd.; Brief Vahlen an die Mitglieder der Notgemeinschaft vom 3. Aug. 1934, S. 1.

74

BBAW, RRW II:XIIss, Bd. 3, Bl. 59; Abschrift des Briefes der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an den Reichswissenschaftsminister vom 24. Juli 1934. 75

Ebd., Bl. 61; Abschrift des Briefes der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen an den Reichswissenschaftsminister vom 25. Juli 1934. 76

Ebd., Bl. 63; Abschrift des Briefes der Sächsischen Akademie der Wissenschaften an den Reichswissenschaftsminister vom 24. Juli 1934. 77

Ebd., Bl. 64; Brief der Heidelberger Akademie der Wissenschaften an die Preußische Akademie der Wissenschaften vom 26. Juli 1934. 78

BA-Ko, R 73/14168; Schreiben Stark an Amtsgericht Charlottenburg am Sam., dem 4. Aug. 1934, indem er „im Interesse der Sache um möglichste Beschleunigung" ersuchte. Warum jedoch das Schreiben und die Urschriften, wie handschriftlich vermerkt, erst am Die., dem 7. Aug. 1934 von Wildhagen persönlich eingereicht wurden, bleibt unklar. Siehe auch den Brief des Amtsgerichts Charlottenburg vom 11. Aug. 1933 über die vollzogenen Änderungen. 79

Ebd.; Brief Vahlen an die Mitglieder der Notgemeinschaft vom 3. Aug. 1934, S. 2.

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Starks versandte Schwoerer im „Auftrage des zurzeit in Urlaub" neuen Präsidenten Anfang Juli 1934 an alle Mitglieder. 80

weilenden

Graphik 2: Die Notgemeinschaft/DFG unter Johannes Stark 1934-36

Bereits drei Tage nach seiner Ernennung sprach Stark am 27. Juni auf einer Tagung der Akademie für deutsches Recht in München und proklamierte dort als frisch inthronisierter Präsident sein wissenschaftspolitisches Credo. Danach läge es der neuen Reichsregierung angeblich fern, die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung zu beschränken, sie wünsche sich das genaue Gegenteil. Zugleich jedoch müsse die Reichsregierung darauf bestehen, dass alle Forscher „ ein positives Verhältnis zur deutschen Volksgemeinschaft und der nationalsozialistischen Staatsführung" hätten. Unausgesprochen blieb dabei, was mit jenen geschehen würde, die keine positive Haltung vorweisen konnten. Zugleich war dies ein versteckter Hinweis auf die politischen Überprüfungen, welche in seiner Ära durch die Personalstelle der DFG vorgenommen wurden. Wie Stark versicherte, würden auch weiterhin die Geisteswissenschaften „ im Rahmen des Möglichen " unterstützt, wobei dieser finanzielle Rahmen ungenannt blieb. 8 1

80

UAHAL, Rep. 4, Nr. 157; UA J, Best. B.A., Nr. 1893, Bl. 165; Rundschreiben Schwoerer an die Mitglieder am 7. Juli 1934. 81

Die wissenschaftliche Forschung. Grundsätzliches. In: Kölnische Zeitung, 28. Juni 1934.

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ΠΙ. Politische Überprüfungen durch die Personalstelle Gemäß der Meinung Rudolf Mentzels vom Reichswissenschaftsministerium war das Geschäftsgebaren der Notgemeinschaft „ in keiner Weise als nationalsozialistisch anzusprechen ". Außerdem sei „ die Zusammensetzung der Fachausschüsse, die letztmalig im Frühjahr 1933 geändert wurde, heute noch zum großen Teil jüdisch und liberalistisch im Fachausschuss Rechtswissenschaft sei z.B. „von insgesamt 8 Mitgliedern nicht weniger als 5 Volljuden, " 8 2 wie Mentzel kritisch vermerkte, ohne jedoch zu erwähnen, dass den Fachausschüssen zum einen nur noch eine sehr geringe Bedeutung zu kam und zum anderen die ersten Mitglieder, aufgrund ihrer Entlassung nach dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933, 83 schon aus Deutschland emigriert waren und daher dem Gremium gar nicht mehr angehörten. 84 Die neue Führungsstruktur der Notgemeinschaft war nach dem Amtsantritt Starks zugleich mit einer folgenreichen Veränderung der Antragsprüfung verbunden. Ein zentrales Steuerungselement, welches nur vor dem Hintergrund der politischen Rahmenbedingungen verständlich und überhaupt durchführbar war, war die Institutionalisierung einer »Personalstelle«, in Wirklichkeit eine politisch-ideologische Kontrollstelle, die ausschließlich zum Zwecke der vollständigen Überprüfung der Stipendienbewerber hinsichtlich ihrer politisch-ideologischen Zuverlässigkeit eingerichtet wurde und zugleich auch intern das zuvor nur schwach ausgeprägte nationalsozialistische Element stärken sollte. Überdies wurde dadurch, wenigstens in der Amtszeit von Johannes Weniger, die Notgemeinschaft auch von innen überwacht und kontrolliert. 85 Noch im April 1934, d.h. in der Spätphase Schmidt-Otts, musste von den Stipendienbewerbern außer dem Personal-Fragebogen zusätzlich nur ein »Anhang« zur „arischen" Abstammung der Eltern und Großeltern ausgefüllt werden. Als politische Durchleuchtung war darauf lediglich die Frage nach einer Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei oder kommunistischen Hilfs- oder Ersatzorganisationen enthalten. Nach einer Zugehörigkeit zur NSDAP oder einer ihrer Gliederungen wurde hingegen nicht gefragt. Das nach der nationalsozialistischen Gleichschaltung in82

BA-BL, R 21/11131, Bl. 20-22, hier Bl. 21; Vermerk Mentzel vom 30. Apr. 1935, S. 3.

83

BA-BL, R 1501/26769-3, Bl. 70-71; siehe auch die Hinweise zur Ausführung im Rundbrief von Ministerialrat Donnevert, Reichsinnenministerium, vom 24. Apr. 1933. 84

Tatsächlich waren es nur vier der acht Mitglieder: Albrecht Mendelssohn-Bartholdy (bis Ende 1933 ord. Prof. u. Direktor des Seminars f. Auslandsrecht, Internat. Privat- und Prozeßrecht in Hamburg; 1934 nach Großbritannien emigriert); Erwin Jacobi (bis 1933 ord. Prof. f. öffentliches Recht in Leipzig); Erich Kaufmann (bis 1934 Prof. in Berlin); Ernst Rabel (bis 1935 Direktor des KW-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht in Berlin; dann in die USA emigriert); zu ihren weiteren Schicksalen siehe Göppinger, passim; Lösch, S. 227 ff. 85

BA-BL, R 21/11131, Bl. 20-22, hier Bl. 20; Vermerk Mentzel vom 30. Apr. 1935, S. 1.

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nerhalb der Notgemeinschaft im Sommer 1934 neu geschaffene Personalamt holte über alle Antragsteller persönliche Erkundigungen ein, um deren politische Gesinnung und charakterliche Integrität zu überprüfen. 86 Der Leiter des Personalamts, der Hauptmann a.D. Johannes Weniger, 87 resümierte seine Aufgabe in einem Schreiben an Vahlen im Reichswissenschaftsministerium: „Meine Einstellung bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft erfolgte am 1. Juli 1934 auf Ihren ausdrücklichen Wunsch, der seinerseits in der staatsnotwendigen und staatssicherheitsfordernden Neugestaltung und Wirkung Deutschen Forschungsgemeinschaft begründet war. Neben vertraulichen, besonderen Vereinbarungen über meine Dienstleistung wurde mein Wirkungskreis schriftlich folgendermassen formuliert und Ihnen bestätigt: 1.) Alle persönlichen, nichtwissenschaftlichen Erkundigungen bei allen Anträgen an die Notgemeinschaft soweit die betr. nicht bekannt sind. 2.) Ueberwachung der Arbeiten, die für unsere nationale Existenz wichtig sind und vertraulichen Charakter tragen. 3.) Verbindung mit dem Kultusministerium und mit den Parteiorganisationen zusammengefasst in dem neu zu schaffenden 'Personalamt der Notgemeinschaft 4."88

Die Bedeutung von fachlicher Kompetenz und wissenschaftlicher Objektivität wurde daher im Dritten Reich durch die politische Gesinnung der Forscher und die „völkische Bedeutung" der Forschungsvorhaben für das „neue Deutschland" der braunen Machthaber verdrängt. Insbesondere in Fällen, in denen die Stellungnahmen des Reichsamts des NSD-Dozentenbundes oder der lokalen NSD-Dozentenschaften nicht aussagekräftig erschienen, wurde neben der örtlichen Polizeistelle am Wohnort des Antragstellers auch die zuständige GestapoStelle um eine vertrauliche Auskunft ersucht. Darüberhinaus erfolgten Anfragen bei den lokalen NSDAP-Gau- und Kreisleitungen. Die als „geheim" gekennzeichneten Anfragen wurden damit begründet, dass die Notgemeinschaft „in ihrer Verantwortung für die Verwaltung staatlicher Mittel gehalten [sei], sich über die Gesuchsteller neben wissenschaftlichen auch politische und persönliche Informationen einzuholen", 89 da die Notgemeinschaft „nur persönlich und politisch Würdigen ein Stipendium " 9 0 bewilligen könne. Die Überprüfung 86

Siehe ausführlich dazu Mertens, Forschungsförderung, S. 119 ff.

87

Weniger war bereits vor 1933 in die SS eingetreten und gehörte zur gleichen Göttinger SSStandarte wie Abteilungsleiter Rudolf Mentzel aus dem Reichswissenschaftsministerium. Zu dieser Cliquenbildung siehe auch Glum, S. 449 f. 88

BA-BL, R 21/11.131, Bl. 6; Brief Weniger an Vahlen vom 28. Marz 1935.

89

HIA, Box 1; Johannes Weniger in der Anfrage zu Fo5564 an das Württembergische Politische Polizeiamt in Stuttgart am 27. Sep. 1934. 90

1934.

HIA, Box 2; so Weniger zu Fo 5856 an die Ortspolizeibehörde Freiburg i.B. vom 3. Sep.

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der Antragsteller in politischer Hinsicht auf ihre Zuverlässigkeit gegenüber dem NS-Staat war jedoch an einzelnen Orten, wie z.B. der Technischen Hochschule Dresden, selbst im Sommer 1935 noch „ dadurch sehr erschwert, dass uns [dem NSD-Dozentenbund; L.M.] in seiner [des Antragstellers; L.M.] näheren Umgebung kein absolut zuverlässiger Gewährsmann zur Verfügung steht, auf dessen Urteil wir uns unbedingt verlassen können ". 91 Durch die genaue politische Überprüfung der Stipendienbewerber wurde das private Wohlverhalten zu einem Kriterium von Wissenschaft, zumindest zu einem rigiden Vorselektionsinstrument, welches die individuelle Kompetenz der Bewerber und die fachliche Relevanz des Antrages zu sekundären Auswahlkriterien degradierte. Die fehlende fachgutachterliche Bewertung bedingte zugleich eine stärkere Gewichtung der befürwortenden Stellungnahmen von Parteidienststellen auch hinsichtlich der wissenschaftlichen Seite. Zugleich kam es zu einer Formalisierung der biographischen Zugangsvoraussetzungen. Weniger disziplinimmanente Bedingungskomponenten wie wissenschaftliche Vorkenntnisse und fachspezifisches Spezialwissen als vielmehr die parteiloyale bedingungslose Einordnung in die gewünschte politische Ordnung wurde zum Kriterium für die Stipendienvergabe. Kreatives Potential wurde weniger als jemals zuvor gefördert und einzelne fachliche Schulen wurden noch dominanter durch die ideologische Legitimierung ihrer maßgeblichen Vertreter. Die positive Einstellung zum „neuen Deutschland" konnte im Jahre 1934 noch durch eine inaktive Mitgliedschaft (typisch die sog. „März-Gefallenen", die im Frühjahr 1933 in die NSDAP eintraten) hinreichend dokumentiert werden. 92 Die rasche Anpassung an die politischen Verhältnisse und das eilfertige, aber passiv bleibende Eintreten in die NS-Gliederungen wurde 1934 in den Berichten zwar aufmerksam registriert und häufig kritisch als „Konjunkturrittertum" gewertet. 93 Die gesamte Fragwürdigkeit des pervertierten NS-Rassenwahns offenbart dabei eine befürwortende Stellungnahme über einen langjährigen SA-Mann, dessen politische Haltung „einwandfrei sauber" war, dessen Beurteilung aber mit den

91

Ebd.; So das Reichsamt des NSD-Dozentenbundes zu Ha/1/02/1 vom 20. Juli 1935.

92

Von 1140 Personen für die in der Hoover Institution in Stanford/Ca. Dozentenschaftsgutachten vorliegen, waren nur 47 bereits vor 1933 Mitglied der NSDAP. Bis zum im Mai 1933 verhängten Aufnahmestopp wurde weitere 65 Personen Pg. Noch deutlicher wird die opportunistische Beitrittswelle in den Parteigliederungen: Nur 22 Männer waren vor dem 30. Januar 1933 in die SA eingetreten, bei 144 erfolgte der Eintritt danach. Ähnliches gilt für die SS: Nur einer der 19 SSMänner war vor 1933 eingetreten; Mertens, Forschungsförderung, S. 126. 93 Zu beachten ist außerdem, dass viele der Mitläufer durch das Uberraschende Aufnahmeverbot der NSDAP im FrUhsommer 1933 vor einem Parteieintritt „bewahrt" wurden.

4 Mertens

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Worten schloß: „Seine Judennase - er ist reiner Arier - darf nicht zu Fehlschlüssen führen. ,