Technik als Motor der Modernisierung 9783495817223, 9783495489734

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Technik als Motor der Modernisierung
 9783495817223, 9783495489734

Table of contents :
Inhalt
Thomas Zoglauer: Einleitung: Technik als Motor der Modernisierung?
Überblick über die einzelnen Beiträge
Zusammenfassung und ein vorläufiges Fazit
Literatur:
Thomas Zoglauer: Technikkritik als Kritik an der Moderne
1. Maschinenstürmer
2. Samuel Butler: Erewhon
3. Jules Verne: Paris im 20. Jahrhundert
4. Herbert George Wells: Wenn der Schläfer erwacht
5. Herbert George Wells: Die Zeitmaschine
6. Edward Morgan Forster: The Machine Stops
7. Oswald Spengler
8. Friedrich Georg Jünger
9. Martin Heidegger
10. Schluss
Literatur
Nadine Kleine: Die historische Ambivalenz von Technikpessimismus und Technikoptimismus: Zur gesellschaftlichen Technikbewertung in der BRD
1. Einleitung
2. Relevante Entwicklungen seit 1945 – ein Überblick
3. Technikpessimismus vs. Technikoptimismus
3.1 Technikpessimismus
3.2 Technikoptimismus
4. Historische Beispiele der ambivalenten Technikwahrnehmung
4.1 Automatisierung der Industrie
4.2 Atomkraft
5. Mögliche Einflussfaktoren auf die Technikwahrnehmung
6. Fazit
Literatur:
Norman Pohl: Chemie gibt Brot, Wohlstand, Schönheit – »chemische Utopien« als Treibstoff für den Motor der Modernisierung
1. Materiale »chemische Utopien«
2. Nomenklatur und Verwissenschaftlichung als Voraussetzungen der Verwirklichung chemischer Utopien
3. Neue Stoffe – alte Stoffe
4. Chemie gibt Brot, Schönheit, Wohlstand
4.1 Chemie gibt Brot
4.2 Chemie gibt Schönheit
4.3 Chemie gibt Wohlstand
5. Chemie und Umwelt – Neue Stoffe mit schlechten Eigenschaften
6. Bedeutungen, Relevanz und Wirkungen bestimmter Elemente und Verbindungen
7. Von der chemischen Utopie zur Umweltverträglichkeitsprüfung und Technikfolgenabschätzung
8. Chemische Utopien heute
8.1 »low carb«
8.2 Responsible Care – die Utopie der chemischen Industrie
9. Fazit
Literatur
Andreas Benz: Der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr als Motor der Modernisierung des internationalen Postwesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
1. Einführung – Die Revolution des Verkehrs und das internationale Postwesen
1.1 Der europäische Postverkehr bis zur Erfindung der Eisenbahn
1.2 Die Entstehung nationaler Eisenbahnsysteme und ihr Verhältnis zur Post
1.3 Allgemeine Charakteristik des Bahnpostwesens
2. Der grenzüberschreitende Bahnpostverkehr und der Wandel des internationalen Postwesens
2.1 Grenzüberschreitender Bahnpostverkehr und die Weiterbeförderung auf dem Seeweg
2.2 Die Bahnpost Köln-Verviers-Ostende und ihre Fortführung über Dover nach London
2.3 Der Wandel des internationalen Postwesens vom extremen Bilateralismus zum multilateralen Weltpostverein
2.4 Die Bahn- und Schiffspost Oberhausen–Boxtel–Vlissingen–Queensborough
3. Schluss: Die »zeitversetzte Revolution« des internationalen Postwesens
Literatur- und Quellenverzeichnis
Monographien und Aufsätze
Archivquellen
Hans Friesen: Die moderne Einheit von Kunst und Technik
1. Die Vorgeschichte der modernen Architektur
2. Die Architektur der ersten industrialisierten Moderne
3. Die Architektur der Nachkriegszeit: Bauwirtschaftsfunktionalismus
4. Ansätze einer postmodernen Kritik der Moderne
5. Argumente für eine Revision der Moderne
6. Erfordernisse einer industrialisierten High-Tech-Moderne
7. Technische Utopien der Moderne für die Stadt der Zukunft
8. Dekonstruktion der Technik
9. Abriss und Ausblick
10. Epilog: Die Stellung der Technik in der Stadt der Moderne
Literatur
Karsten Weber: Computer als omnipotente Herrschaftsinstrumente: Hoffnungen, Ängste und realer Wandel in Politik und Gesellschaft
1. Einleitung
2. Kybernetik, Computer und Computernetze in der Sowjetunion: Zwischen Ideologie und Notwendigkeit
3. Effizienz und Reform in Politik und Verwaltung durch Computer: Hoffnung und Realität im Westen
4. Computermanichäismus: Das Denken in Extremen
5. Schlussbemerkungen
Quellen
Nele-Hendrikje Lehmann: »Ein Mittel im Kampf um den technischen Fortschritt«? Technische Museen in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren
1. Einleitung
2. Vom technischen zum polytechnischen Museum
3. Der Aufbau polytechnischer Museen in den 1960er Jahren
4. Die »Dialektik von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt« oder die Grenzen musealer Darstellbarkeit
5. Schlussbemerkung
Literatur- und Quellenverzeichnis
Quellen
Abbildungsnachweis
Michael Martin, Heiner Fangerau: Überwindung von Raum und Zeit? Digitale Technologien im Kontext moderner Gesundheitsdiskurse
1. Telemedizin
2. Diabetes
3. Fazit
Literatur
Nina Köberer, Matthias Rath: Medientechnik als Motor oder Realisierung der Modernisierung?
1. Einleitung
2. Mediatisierung als Motor der Modernisierung
3. Digitale Mediatisierung als »Produsage«
3.1 »Broadcast yourself«: Produsage auf YouTube
3.2 Ökonomisierung des Selbst: Produsage als Werbemittel
3.3 Produsage als vernetzte Öffentlichkeit der Beteiligung
4. Fazit und Ausblick: Medienbildung als Zieldimension der Produsage
Literatur
Autorenverzeichnis

Citation preview

Thomas Zoglauer Karsten Weber Hans Friesen (Hg.)

Technik als Motor der Modernisierung

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817223

.

B

Thomas Zoglauer Karsten Weber Hans Friesen (Hg.) Technik als Motor der Modernisierung

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Thomas Zoglauer Karsten Weber Hans Friesen (Hg.)

Technik als Motor der Modernisierung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Thomas Zoglauer / Karsten Weber / Hans Friesen (Eds.) Technology as the Engine of Modernisation Processes of modernisation have been and continue to be driven crucially by technology. While the transition from an agrarian to an industrialised society was characterised by the mechanisation of the working world and the automation of production, a new wave of modernisation was initiated at the end of the 19th and the beginning of the 20th century by new media, information and communication technologies. A globally connected knowledge-based society has emerged from this development. While the relationship between mechanisation and modernisation has hitherto been regarded predominantly as a research subject of the social sciences and the history of technology, the aim of this anthology is to broaden the perspective to a multidisciplinary view, including philosophy and the general science of technology.

The Editors: Professor Thomas Zoglauer teaches philosophy of technology at BTU Cottbus-Senftenberg. At Alber he has published the volume Philosophy of Technology (Original title: Technikphilosophie) in the series of Alber texts Philosophy. Professor Karsten Weber is co-director of the Institute for Social Research and Technology Assessment at OTH Regensburg. Professor Hans Friesen teaches philosophy at the BTU CottbusSenftenburg, his research area is cultural philosophy.

https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Thomas Zoglauer / Karsten Weber / Hans Friesen (Hg.) Technik als Motor der Modernisierung Der Modernisierungsprozess wurde und wird wesentlich durch die Technik vorangetrieben. Während der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft durch die Mechanisierung der Arbeitswelt und die Automation der Produktion geprägt war, wurde Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durch neue Medien, Informations- und Kommunikationstechnologien eine zweite Modernisierungswelle in Gang gesetzt, aus der eine global vernetzte Wissensgesellschaft erwächst. Wurde der Zusammenhang zwischen Technisierung und Modernisierung bisher überwiegend als Forschungsgegenstand der Sozialwissenschaften und Technikgeschichte betrachtet, soll in diesem Sammelband die Perspektive zu einer multidisziplinären Sichtweise unter Einschluss der Philosophie und allgemeinen Technikwissenschaft erweitert werden.

Die Herausgeber: Prof. Dr. phil. habil. Thomas Zoglauer lehrt Technikphilosophie an der BTU Cottbus-Senftenberg. Im Verlag Karl Alber gab er in der Reihe Alber-Texte Philosophie den Band Technikphilosophie heraus. Prof. Dr. phil. habil. Karsten Weber ist Ko-Leiter des Instituts für Sozialforschung und Technikfolgenabschätzung an der OTH Regensburg. Prof. Dr. phil. habil. Hans Friesen lehrt Philosophie an der BTU Cottbus-Senftenburg, Arbeitsgebiet Kulturphilosophie.

https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Umschlagmotiv: © »Steam engine« von Benjamin Henry Latrobe, 1810. Library of Congress, Washington D.C. Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48973-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81722-3

https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Inhalt

Thomas Zoglauer Einleitung: Technik als Motor der Modernisierung? . . . . . . . Thomas Zoglauer Technikkritik als Kritik an der Moderne

9

. . . . . . . . . . . .

26

Nadine Kleine Die historische Ambivalenz von Technikpessimismus und Technikoptimismus: Zur gesellschaftlichen Technikbewertung in der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

57

Norman Pohl Chemie gibt Brot, Wohlstand, Schönheit – »chemische Utopien« als Treibstoff für den Motor der Modernisierung . . . . . . . .

81

Andreas Benz Der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr als Motor der Modernisierung des internationalen Postwesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

128

Hans Friesen Die moderne Einheit von Kunst und Technik. Technikeinsatz und seine Kritik in der Architektur des 20. Jahrhunderts . . . .

154

Karsten Weber Computer als omnipotente Herrschaftsinstrumente: Hoffnungen, Ängste und realer Wandel in Politik und Gesellschaft

183

Nele-Hendrikje Lehmann »Ein Mittel im Kampf um den technischen Fortschritt«? Technische Museen in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren

206

7 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Inhalt

Michael Martin, Heiner Fangerau Überwindung von Raum und Zeit? Digitale Technologien im Kontext moderner Gesundheitsdiskurse . . . . . . . . . . . .

224

Nina Köberer, Matthias Rath Medientechnik als Motor oder Realisierung der Modernisierung? Zur Aktualität einer ethisch notwendigen Medienkompetenz . .

247

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

266

8 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Thomas Zoglauer

Einleitung: Technik als Motor der Modernisierung?

Der Modernisierungsprozess wurde und wird wesentlich durch die Technik vorangetrieben. Jürgen Mittelstraß (1992, 12) schreibt: »Die moderne Welt, unsere Welt, hat eine technische Form, ihr Motor ist der wissenschaftliche und technische Fortschritt.« Diese Sichtweise ist aber nicht unumstritten: Während die moderne Welt durch Technik geprägt ist, ist Technik auch ein Produkt der Moderne, indem die technische Entwicklung durch gesellschaftliche Faktoren beeinflusst wird (Brey 2003, 33). Joachim Radkau weist daher die Vorstellung von der Technik als Motor der Modernisierung energisch zurück: »Die Technik als Triebkraft und Sachzwang: das ist oft eine typische Einbildung des Nichttechnikers, dem in einem bilderbuchhaften Geschichtsunterricht vorgemacht wurde, dass die Industrialisierung mit der Dampfmaschine beginnt, während der wirklich kompetente Techniker weiß, dass es – rein technisch gesehen – immer mehrere Lösungen gibt und die Durchsetzung einer Technik eine Frage von Macht und Durchhaltevermögen ist. […] Natürlich ist nicht die Technik selber historische Triebkraft, sondern es sind die Mentalitäten und sozialen Strukturen, die sich an Techniken entwickeln – die industriellen Allianzen, die Experten-›Communities‹, die libidinösen Reize und Zwangspsychosen.« (Radkau 1988, 69)

Wie man das Verhältnis von Technik und Gesellschaft sieht, hängt von der theoretischen Sichtweise ab, je nachdem ob man technologischer Determinist oder sozialer Konstruktivist ist. Der technologische Determinismus glaubt, dass sich die Technik eigendynamisch, unabhängig von sozialen Einflüssen entwickelt. Die Technik beeinflusst die Gesellschaft, aber nicht umgekehrt. Die Determinismusthese ist hinsichtlich der Bewertung der Technik neutral: Sie wird sowohl von Technikoptimisten wie -pessimisten zur Stützung ihrer Position herangezogen. Die Technikoptimisten entwerfen das Bild eines unaufhaltsamen wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, von dessen Nutzen die Gesellschaft profitiert. Technikpessimisten dagegen

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Thomas Zoglauer

sehen in der Technik eine unkontrollierbare Macht, die den Menschen versklavt. Der soziale Konstruktivismus behauptet, dass Technik ein soziales Produkt ist: Dieser Auffassung zufolge hängt die Entwicklung neuer Technologien von ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ab. Sie sind das Ergebnis menschlicher Bedürfnisse und Interessen (Nye 2006, 19). Günter Ropohl beschreibt Technisierung als einen sozialen Prozess, »der einem ganzen Bündel von Faktoren und Rahmenbedingungen unterliegt und von den verschiedensten konkurrierenden Zielvorstellungen und Handlungsplänen der Individuen, der Forschungs-, Entwicklungs- und Wirtschaftsorganisationen sowie der staatlichen Politik geprägt wird« (Ropohl 1991, 195). Technik ist nach Ansicht sozialer Konstruktivisten gestaltbar. Die Technikentwicklung folgt keiner inneren Logik, die allein durch technische Notwendigkeiten bestimmt ist, sondern gleicht eher einem Bild sich verzweigender Pfade von Entwicklungsmöglichkeiten. Bei der Konstruktion und Entwicklung eines Produkts müssen Entscheidungen getroffen werden, die nicht allein von technischen Funktionalitäten abhängen, sondern auch Konsumenteninteressen berücksichtigen. Ob sich eine Produktlinie durchsetzt, hängt von den ökonomischen Rahmenbedingungen, den Bedürfnissen der Konsumenten, aber auch vom kulturellen Kontext ab. Als Beispiel für die soziale Prägung technischer Produkte wird von Pinch und Bijker (1984) das Design von Fahrrädern genannt. Pinch und Bijker vertreten die These, dass Artefakte keine natürliche Funktion haben, vielmehr wird die Funktion eines technischen Artefakts von einer sozialen Gruppe bestimmt. Verschiedene soziale Gruppen können ein Artefakt und seine Zweckbestimmung unterschiedlich auslegen. Dadurch kann sich die Produktentwicklung in verschiedene Richtungen ausdifferenzieren und folgt keiner vorbestimmten Linie. David Nye (2006, 51) schließt daraus: »The social significance and use of the bicycle was not technologically determined.« Bei aller berechtigten Kritik muss man sich allerdings davor hüten, den technologischen Determinismus durch einen genauso monokausal argumentierenden sozialen Determinismus zu ersetzen. Armin Grunwald (2007, 68) charakterisiert den Sozialdeterminismus durch zwei Thesen: »(1) die These von der Determinierung des Technischen durch das Soziale und (2) die These von der Nicht-Determinierung beziehungsweise Nicht-Determinierbarkeit des Sozialen 10 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Einleitung: Technik als Motor der Modernisierung?

durch das Technische«. Grunwald lehnt sowohl den Technikdeterminismus als auch den Sozialdeterminismus ab, da beide Theorien generalisierende Behauptungen aufstellen, die in ihrer Allgemeinheit empirisch unzureichend begründet sind (Grunwald 2007, 70). Der technologische Determinismus ist in Verruf geraten und wird heute kaum noch ernsthaft vertreten. Aber es zeichnet sich in jüngster Zeit eine Neubewertung ab, verbunden mit dem Bestreben einen Mittelweg zwischen Technikdeterminismus und Sozialkonstruktivismus zu finden. Allan Dafoe ist der Auffassung, dass der technologische Determinismus oft verzerrt dargestellt und zu einem fiktiven Gegner aufgebaut wird, der sich leicht kritisieren lässt (Dafoe 2015, 1049). Seiner Meinung nach sollte man die beiden konkurrierenden Theorien nicht als unvereinbare Entweder-Oder-Positionen begreifen, sondern stattdessen unvoreingenommen die Stärken und Schwächen der Theorien ausloten: »The question should not be a dichotomous one of whether technological determinism is right or wrong, but a set of questions of degree, scope, and context: to what extent, in what ways, and under what scope conditions are particular kinds of technology more autonomous and powerful in shaping society? […] Is it not possible that on certain scales of analysis technology is socially created, hacked, and interpreted, while on other scales of analysis technology exhibits trends, an internal logic of development, and profoundly shapes history in ways unforeseen by humans?« (Dafoe 2015, 1050, 1058)

Ulrich Dolata und Raymund Werle (2007, 37) plädieren ebenfalls für eine undogmatische Kompromisslösung: »Man muss kein Technikdeterminist sein, wenn man der Technik eine prominente Rolle für die Konstitution moderner Gesellschaften und in Prozessen sozioökonomischen und institutionellen Wandels zuschreibt. Technik ist ein integraler Bestandteil moderner Gesellschaften, deren Struktur und Dynamik maßgeblich durch immer tiefer greifende Technisierungsprozesse mitgeprägt wird.«

Zweifellos müssen soziale Bedürfnisse vorhanden sein, die durch technische Produkte befriedigt werden können, damit sich diese Produkte durchsetzen. Die technische Entwicklung hängt insofern von diesen Randbedingungen ab. Aber manche Bedürfnisse existieren kultur- und epochenübergreifend und fast universell, wie z. B. das Bedürfnis nach Mobilität und Kommunikation. Insofern sind diese sozialen Determinanten keineswegs kontingent, sondern gelten fast 11 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Thomas Zoglauer

universell. Sobald die Technik diese Bedürfnisse befriedigen kann, ist voraussehbar, dass sich diese Produkte durchsetzen werden, wie man an der Geschichte des Automobils oder des Smartphones sehen kann. Es scheint fast so, als habe die Menschheit auf diese Erfindungen geradezu gewartet, als ob diese technischen Revolutionen vorprogrammiert wären. Wann und unter welchen Umständen eine Erfindung gemacht wird, mag historisch kontingent sein, hängt aber oftmals nur vom Wissensstand und den technischen Möglichkeiten ab. Es ist daher sinnvoll, von einem Wechselwirkungsmodell auszugehen, nach dem sich Technik und Gesellschaft gegenseitig beeinflussen. Die Technik ist kein abgeschottetes System, das gegen soziale Einflüsse immun ist. Gleichwohl lassen sich innerhalb des technosozialen Netzwerks kausale Einflüsse in die eine oder andere Richtung isolieren. Kausalität muss keine Determination bedeuten. Im Sinne einer probabilistischen Kausalität kann z. B. eine technologische Innovation A eine bestimmte Wirkung B wahrscheinlich machen. So gibt es oftmals technologische Trends, die relativ stabil sind. Thomas Hughes (1983) spricht von einem »technologischen Momentum«, einem Impuls, der eine Entwicklung vorantreibt und über einen längeren Zeitraum stabil hält. Das Moore’sche Gesetz der Halbleitertechnik, nach dem sich die Dichte von Schaltkreisen auf einem Mikrochip und damit deren Leistungsfähigkeit etwa alle 12 bis 24 Monate verdoppelt, stellt ein Beispiel für einen solchen Trend dar, der die Entwicklung des Computers über mehrere Jahrzehnte bestimmte und auch noch bestimmt. Die Erfindung des Transistors hat eine Welle von Innovationsschüben und technischen Revolutionen ausgelöst, die unsere Gesellschaft nachhaltig veränderten. Die Miniaturisierung von Mikroprozessoren und Computerchips führte zu einer immensen Leistungssteigerung von Computern und zu sinkenden Kosten, die eine preisgünstige Massenproduktion elektronischer Bauteile möglich machte und dazu führte, dass Computer für jedermann erschwinglich wurden. Diese Entwicklung ist wesentlich technologiegetrieben. Technische Revolutionen, wie z. B. die Erfindung des Buchdrucks, der Dampfmaschine, des Autos, des Mobiltelefons oder des Personal Computers, entfalten eine Eigendynamik und Sogwirkung, der sich kaum ein Mensch entziehen kann. Tatsächlich sind es solche Schlüsseltechnologien, die die Modernisierung vorangetrieben haben. Technik und Moderne stehen in einem unauflöslichen Zusammenhang. Einige Technikphilosophen sehen in der Technik sogar 12 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Einleitung: Technik als Motor der Modernisierung?

einen prägenden Wesenszug der Moderne: »Theories of modernity that lack a reasonable and robust account of technology are hopelessly hollow.« (Misa 2003, 10) Das Leben der Menschen zu verbessern: Das ist das große Versprechen der Moderne. Um dieses Versprechen einzulösen, bedarf es der Technik. Unter Modernisierung versteht man gemeinhin den Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft (Ritsert 2009, 279). Die Industrialisierung wird durch technische Fortschritte erst möglich. Die Industrialisierung hat wiederum eine Landflucht und ein Wachstum der Städte zur Folge, weil Arbeitsplätze vornehmlich in den Städten zu finden sind. Informations- und Kommunikationstechnologien bilden die Grundlage der modernen Wissensgesellschaft. Die neuen Technologien haben die Gesellschaft in einem Maße durchdrungen, dass man von einem soziotechnischen Netzwerk spricht, in dem Artefakte eine ebenso große Wirkmacht entfalten können wie menschliche Akteure (Latour 2015, 211–264). Die Technik verändert soziale Beziehungen, Organisationsstrukturen und erschafft eine »Technokultur« (Shaw 2008). Günter Ropohl spricht von einer Technisierung der Gesellschaft und meint damit die Verwandlung der »Welt des Gegebenen« in eine »Welt des Gemachten« (Ropohl 1991, 20). Technik diffundiert in die Gesellschaft, Smartphones und dialogfähige künstliche Assistenten werden zum unverzichtbaren Begleiter des Menschen und der Mensch wird so zu einem Datenknoten im Internet der Dinge. Technisierung ist ein sozialer Prozess, aber, wie Ropohl (1991, 195) betont, nicht ausschließlich gesellschaftlich bestimmt. Denn die Technisierung entfaltet eine Eigendynamik, der man sich kaum entziehen kann. Technik drängt sich geradezu auf. Jeder will technologisch auf dem neusten Stand sein, will das neuste Smartphone haben und lädt bereitwillig die neusten Apps und Updates herunter. Die technische Entwicklung treibt sich somit selbst an. Selbstverständlich ist die Technik nicht die alleinige Triebkraft im Modernisierungsprozess, wenngleich sie ein sehr wirkmächtiger Akteur im sozialen Transformationsprozess darstellt. Ropohl warnt daher vor monokausalen Erklärungsmustern: »Weder kann man die technische Entwicklung, die sich allemal zunächst als Entwicklung von Sachsystemen darstellt, als unabhängige Variable betrachten, von der die gesellschaftliche Entwicklung zwangsläufig determiniert würde, noch kann man den gesellschaftlichen Wandel autonom setzen und

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Thomas Zoglauer

die technische Entwicklung als nur davon abhängige Variable ansehen, indem man sie ausschließlich als ›gesellschaftliches Projekt‹ – was immer das heißen mag – auffaßt.« (Ropohl 1991, 195)

Max Weber (1972, 10) stellt fest, dass der moderne Kapitalismus »in starkem Maße durch Entwicklungen von technischen Möglichkeiten mitbestimmt« ist. Geht man von einer wechselseitigen Beeinflussung von Technik und Gesellschaft aus, dann ist es legitim, sich eine Seite der Beeinflussung näher anzuschauen und zu fragen, welchen Anteil die Technik am Modernisierungsprozess hat, welche sozialen Folgen die Technisierung des Alltags mit sich bringt, wie sich Kunst, Kultur und Architektur verändern und wie Technik neue ästhetische Stilformen hervorbringt. Technische Revolutionen bewirken eine tief greifende Veränderung der Lebenswelt und der gesellschaftlichen Beziehungen sowie eine Beschleunigung des Alltagslebens. Sie rufen höchst ambivalente Reaktionen hervor, in der Technikfurcht und Fortschrittseuphorie, soziale Ängste und Zukunftshoffnungen aufeinanderprallen. Wurde der Zusammenhang zwischen Technisierung und Modernisierung bisher überwiegend als Forschungsgegenstand der Sozialwissenschaften und Technikgeschichte betrachtet, soll in diesem Sammelband die Perspektive zu einer multidisziplinären Sichtweise unter Einschluss der Philosophie und allgemeinen Technikwissenschaft erweitert werden. Die Beiträge dieses Buches nehmen einzelne Aspekte dieses technikinduzierten Transformationsprozesses in den Blick. Aus diesen unterschiedlichen disziplinären Sichtweisen ergibt sich ein keineswegs vollständiges, aber doch facettenreiches Gesamtbild eines wirkmächtigen Prozesses, der unsere Zukunft bestimmt.

Überblick über die einzelnen Beiträge Technikkritik ist immer auch Kulturkritik. Thomas Zoglauer zeigt am Beispiel der Science-Fiction-Literatur des späten 19. Jahrhunderts, wie Technik zunehmend kritisch reflektiert und als Modernisierungssymptom wahrgenommen wird. In der Science-Fiction-Literatur wurden die sozialen Folgen der Technisierung früh erkannt: z. B. die Entfremdung von der Natur und die Vorherrschaft zweckrationalen Denkens. Erst im 20. Jahrhundert findet auch in der Philosophie eine kritische Auseinandersetzung mit der Technik statt. 14 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Einleitung: Technik als Motor der Modernisierung?

Während für Spengler die Technik eine Verfallsform der Kultur darstellt, ist für Friedrich Georg Jünger die Technik eine kulturprägende Macht, die unser Denken und Handeln bestimmt und zu einer technokratischen Herrschaft führt. Ebenso wie Jünger beklagt auch Heidegger das Machtstreben der Technik und den Raubbau an der Natur. Technik und Moderne sind für Heidegger das Resultat einer »Seinsvergessenheit«. Seine Technikkritik kann daher als Ausdruck einer Verachtung moderner Kultur gesehen werden. Zoglauer kommt zu dem Schluss, dass sich hinter der Fassade der Technikkritik oftmals ein Unbehagen an der Moderne verbirgt. Technik ist ihrem Wesen nach stets zwiespältig und ambivalent. Die Bewertung von Technik schwankt zwischen Technikoptimismus und -pessimismus. In Zeiten wirtschaftlichen Wachstums dominiert die optimistische Sichtweise, während in schlechten Zeiten die Menschen eher pessimistisch in die Zukunft blicken. Nadine Kleine untersucht am Beispiel der Atomenergie und der Automatisierung in der Industrie wie im Nachkriegsdeutschland neue Technologien aufgenommen und wahrgenommen werden. Es zeigt sich, dass die Wahrnehmung und Bewertung von Technik nicht nur von der Technik allein bestimmt wird, sondern von kulturellen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen abhängig ist. Allerdings, so Kleine, mache die Komplexität technischer Prozesse eine differenzierte Betrachtung notwendig, so dass sich in Zukunft die harten Frontpositionen zwischen Technikoptimisten und -pessimisten aufweichen werden. Der Umschlag von Technikoptimismus in Technikpessimismus ist auch Thema des Beitrags von Norman Pohl. Er beschreibt am Beispiel der chemischen Industrie die historische Entwicklung vom Fortschrittsoptimismus zu einem latenten Skeptizismus und macht deutlich, dass die chemische Industrie als Wirtschaftssparte in vielen Aspekten nach wie vor die weitere gesellschaftliche Entwicklung prägt. Das Motto der Chemiekonferenz des ZK der SED vom 3. und 4. November 1958 »Chemie gibt Brot, Wohlstand, Schönheit« bringt den Fortschrittsoptimismus prägnant zum Ausdruck. Unter dem Wahlspruch »Wir machen Stoffe mit besseren Eigenschaften« veränderten Chemiker die materiale Basis der Industrialisierung und veränderten somit Gesellschaft und Umwelt. Neue Farben machten das Leben bunter, neue Konservierungsstoffe die Lebensmittel haltbarer und neue Medikamente verlängerten das Leben. Das positive Bild der Chemie hatte Bestand ungeachtet der seit Beginn der Indus15 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Thomas Zoglauer

trialisierung feststellbaren Umweltbelastungen, und auch der Einsatz chemischer Kampfstoffe im Ersten Weltkrieg und in weiteren militärischen Auseinandersetzungen änderte daran grundlegend nichts. Heute besteht gewissermaßen Konsens, das Erscheinen der Publikation von Rachel Carson, »Der stumme Frühling«, 1962 unter dem Titel »Silent spring« erstveröffentlicht, als Wegmarke zu definieren, ab der eine tiefgreifende Verunsicherung über die Folgen der Errungenschaften der Chemie und der chemischen Industrie sich ausbreitete. Die auf das Verschwinden der Singvögel im Frühling zielende Kritik des Einsatzes von Pestiziden in der Landwirtschaft fand in den folgenden Jahrzehnten durch Chemieunfälle wie 1976 in Seveso weitere Nahrung und thematisiert heute den »Plastikmüllstrudel« im Pazifischen Ozean. Diese Entwicklung zeigt, wie die chemische Industrie einerseits die Modernisierung voranbringt, aber andererseits ökologische Probleme erzeugt, deren Beseitigung eine Zukunftsaufgabe darstellt. Die Einstellungen zur Computertechnik sind ein weiteres Beispiel für das Schwanken zwischen blinder Technikgläubigkeit und tiefem Misstrauen gegenüber der Technik. Kaum dass Computer ihren Siegeszug in Militär, Industrie und Verwaltung in den 1950er Jahren begannen, wurden gerade in den Massenmedien, vor allem in Filmen und Büchern, Dystopien und Horrorszenarien der Folgen des Computereinsatzes kommuniziert. In den 1970er Jahren wurde vehemente Kritik durch Warnungen bspw. von Joseph Weizenbaum (1977) auch in akademischen Kontexten geäußert. Gleichzeitig aber werden sowohl im Osten wie im Westen große Erwartungen an den Einsatz von Computern gerichtet, zumal im Fall der Steuerung von Verwaltungsabläufen und politischen Prozessen. Insgesamt kann für diese Zeit also konstatiert werden, dass »[d]as Feld der Meinungen breit und mitnichten einhellig [ist]. Das Pendel der Urteile und Vorurteile hat sich in den letzten Jahren zwischen Euphorie und Zynismus bewegt: sowohl was die Möglichkeit als auch was die Nützlichkeit des Computers für politische Planung betrifft.« (Hartenstein 1977, 120) Karsten Weber weist auf, dass sowohl die apokalyptischen Warnungen wie die euphorischen Erwartungen unangemessen waren: Beide Seiten erwarteten einerseits radikale Veränderungen durch Technik und unterschätzten dabei soziale, ökonomische und politische Beharrungskräfte und andererseits überschätzten sie die Fähigkeiten der damaligen Computer bzw. deren Passung für die Lösung bestehender Aufgaben. Vor allem aber waren beide Seiten in einem 16 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Einleitung: Technik als Motor der Modernisierung?

unkritischen Technikdeterminismus gefangen, der durch die historischen Ereignisse widerlegt wird. Der Modernisierungsprozess ist eng mit der Globalisierung verbunden. Verkehrs-, Nachrichten- und Kommunikationstechnik schufen die Voraussetzungen für das Zusammenwachsen verschiedener Kulturen und Wirtschaftsräume und das Entstehen globaler Netzwerke. Verkehrstechnische Innovationen wie z. B. der Bau von flächendeckenden Bahnverbindungen in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts modernisierten die Infrastruktur und beförderten so den europäischen Integrationsprozess. Seit Jahrhunderten bedient sich die Post als »eigentümliche Infrastruktur« des Nachrichtenwesens verschiedenster Netze und Dienste des Verkehrswesens. Doch erst mit der Etablierung der Eisenbahn kommt es zu einer enormen Beschleunigung und Intensivierung des Brief- und Paketverkehrs in Europa. Von zentraler Bedeutung waren dabei die Bahnund Schiffspostverbindungen Köln – Verviers – Ostende – Dover und Oberhausen – Boxtel – Vlissingen – Queensborough. Beide Routen traten zunehmend in Wettbewerb, was zu einer weiteren Beschleunigung bis zum Ersten Weltkrieg führte. Die rasante Entwicklung des Postverkehrs lieferte zugleich die Basis für den Weltpostverein, der Union Postale Universelle (UPU). Diese im Jahre 1984 gegründete intergouvernementale Organisation war mit ihren erfolgreichen Bemühungen um eine globale, kooperative und sachorientierte Zusammenarbeit der Zeit weit voraus. In dem Beitrag von Andreas Benz wird der politische Integrationsprozess in Beziehung zu den ihm zugrundeliegenden verkehrstechnischen Voraussetzungen gesetzt und anhand der beiden wichtigsten Verbindungen zwischen europäischem Kontinent und Großbritannien analysiert. Das Verhältnis von Technik und Ästhetik in der Baukunst des 19. und 20. Jahrhunderts ist Gegenstand des Beitrags von Hans Friesen. Im 19. Jahrhundert gibt es eine strikte Aufgabenteilung zwischen Bauingenieuren und Architekten. Die Ingenieure, die sich von den Architekten absetzen und selbständig werden, richten ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Fragen der technischen Bewältigung, der Spannweite, der Tragfähigkeit, des Materialaufwands usw.; Stilfragen und Ästhetik spielen in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle. Insofern bleibt es in erster Linie den Architekten überlassen, den Stil der Zeit zu suchen und zu bestimmen. Im 20. Jahrhundert wird die Technik mehr und mehr stilprägend. Neben der Architektur gewinnt das Ingenieurwesen in Form des Ingenieurbaus zunehmend 17 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Thomas Zoglauer

an Bedeutung, weil in der Moderne des 20. Jahrhunderts die Technik ein zentraler Faktor der Entwicklung des Bauens wird und somit einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung leistet. Der Modernisierungsprozess ging spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer zunehmenden Historisierung und Musealisierung der Technikentwicklung einher. Nele-Hendrikje Lehmann untersucht wie technische Museen in der DDR die Errungenschaften des Sozialismus aufzeigen und den Zusammenhang zwischen technischer und gesellschaftlicher Modernisierung demonstrieren. Gleichwohl vollzog sich der Aufbau der technischen Museen in der DDR keineswegs schnell und einheitlich. Wie genau ein sozialistisches Technikmuseum ausgestaltet sein sollte, wurde immer wieder diskutiert. Dabei spielte die internationale Einbindung der Museen eine wichtige Rolle. Als sich in den 1970er Jahren in der BRD eine stärker sozialhistorische und technikkritische Sichtweise in den technikhistorischen Ausstellungen etablierte, änderte sich auch die Schwerpunktsetzung in den Museen der DDR, ohne dass diese allerdings den staatlich verordneten Zukunftsoptimismus aufgaben. Der Beitrag von Michael Martin und Heiner Fangerau geht der Frage nach, wie über mediale Inszenierungen, insbesondere über die Entwicklung von Zukunftsszenarien, Technologien für Modernisierungsprozesse bestimmend werden können. So befördert z. B. das Narrativ der alternden Gesellschaft verbunden mit dem des drohenden Pflegenotstandes bzw. Ärztemangels, neuartige Lösungen für die medizinische Versorgung, etwa im ländlichen Raum, was am Beispiel der Telemedizin dargestellt wird. Die Entwicklung und Etablierung telemedizinischer Systeme hat wiederum Auswirkungen auf andere Bereiche, wie die Infrastruktur oder die Bauwirtschaft, aber auch das gesellschaftliche Miteinander. Auch individuelles Krankheitsmonitoring wird zunehmend technisiert und an die Stelle der Überwachung des Patienten durch medizinisches Personal treten messende Verfahren und digitale Übertragungswege, wie am Beispiel der Diabetes gezeigt wird. In beiden Fällen werden zentrale Kategorien wie Raum und Zeit relativiert und Modernisierungsprozesse werden forciert, u. a. durch den Einsatz neuer Techniken und deren Auswirkungen auf tradierte gesellschaftliche Ordnungen. Den Chancen der Verbesserung des Gesundheitszustandes der Einzelnen wie des Gesundheitswesens insgesamt stehen prognostizierte negative Folgen der Technisierung (Entfremdung vom Körper, Überwachung bzw. »Tech-

18 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Einleitung: Technik als Motor der Modernisierung?

niken des Selbst«) gegenüber. So ändert sich etwa das Arzt-PatientenVerhältnis, aber auch das Selbstverständnis der Patienten. Neben der Technisierung kann auch die Mediatisierung, d. h. das Aufkommen und die Etablierung neuer Medien, als ein Motor der Modernisierung verstanden werden. Durch neue Medien verändern sich Kommunikationsprozesse und werden damit zu einem Katalysator sozialen und kulturellen Wandels. Nina Köberer und Matthias Rath greifen in ihrem Beitrag die Mediatisierungsthese von Friedrich Krotz auf und erklären Modernisierung als »Prozess der innovativen Vervielfältigung der Möglichkeit von Medialität«. Dabei ist und war der Mensch schon immer ein »medial agierendes und sich selbst medial verstehendes Wesen«, weshalb Mediatisierung ein universeller historischer Prozess ist. Erst in der Moderne kommt die mediale Verfasstheit der Lebenswelt zu Bewusstsein. An drei Beispielen digitaler Medien wird der Prozess der technologie-getriebenen Mediatisierung diskutiert. Es wird gezeigt, wie die Rollentrennung zwischen Medienproduzenten und Mediennutzern, sowohl auf der Mikro-, Meso- und Makroebene medialen Handelns, zunehmend verwischt wird und es wird den medienethischen und medienpädagogischen Implikationen einer solchen Betrachtung von Medientechnik nachgegangen.

Zusammenfassung und ein vorläufiges Fazit Aus den Beiträgen wird deutlich, dass es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Technisierung und Modernisierung gibt. Allerdings ist die Wirkungsrichtung nicht immer eindeutig. Technik und Gesellschaft sind komplexe Systeme, die auf vielfältige Weise miteinander wechselwirken. Die Technik verändert die Gesellschaft, andererseits prägen soziale und kulturelle Einflüsse unser Bild von der Technik und generieren spezifische Bedürfnisse, zu deren Befriedigung die Technik beitragen kann. Diese Wechselwirkung lässt sich an den in diesem Sammelband untersuchten Themenbereichen belegen. Die chemische Industrie leistet einen wesentlichen Beitrag zur Modernisierung der Gesellschaft, indem sie die materielle Versorgung der Bevölkerung sichert und zur Anhebung des Lebensstandards und der Lebensqualität beiträgt. »Chemie gibt Brot, Wohlstand, Schönheit«, wie der plakative Titel des Beitrags von Norman Pohl suggeriert. Die chemische Forschung reagiert aber auch auf veränder19 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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te Bedürfnisse und Wertvorstellungen der Menschen. So liefert die Kosmetikindustrie die Produkte, die den Konsumentenwünschen und ihren Schönheitsidealen entsprechen. Diese ästhetischen Ideale werden in der Werbung angepriesen, aber von der Schönheitsindustrie auch selbst propagiert. Allerdings hat der Fortschritt seine Schattenseiten: Die Chemie trägt zu Umweltschäden bei, zu deren Beseitigung sie wiederum zu Hilfe gerufen wird. Das gewachsene Umweltbewusstsein generiert eine Nachfrage nach Umwelttechnik und wird so wiederum zum Antrieb für neue technologische Entwicklungen. Der Modernisierungsprozess ist eng mit der Globalisierung und Vernetzung nationaler Wirtschaftsräume verbunden. Der Historiker Jürgen Osterhammel bezeichnet die Vervielfältigung und Beschleunigung der Interaktionen über nationalstaatliche Grenzen hinweg als eines der herausragenden Merkmale des 19. Jahrhunderts (Osterhammel 2010, 1011). Verkehrstechnik, Nachrichten- und Kommunikationstechnik schaffen die Voraussetzungen für das Zusammenwachsen der Kulturen und das Entstehen globaler Netzwerke. Die Verkehrstechnik kann daher, wie Andreas Benz darlegt, als ein Motor der Globalisierung bezeichnet werden. Aber auch hier agiert die Technik nicht völlig autonom und unabhängig vom sozialen Kontext. Denn erst der wachsende transnationale Handel, die zunehmende Zahl an Brief- und Paketsendungen und ein gestiegenes Mobilitätsbedürfnis machte einen Ausbau der Eisenbahnverbindungen über nationale Grenzen hinweg erforderlich und trug so zu einem Zusammenwachsen der europäischen Staaten bei. Der sozioökonomische Strukturwandel begünstigt somit technische Innovationen. Im 20. Jahrhundert hat sich das Erscheinungsbild der Städte dramatisch verändert. Wolkenkratzer und Megacities sind zu einem Symbol der Moderne geworden. Dank neuer Bautechniken, neuer Materialien und computergestütztem Design können Architekten und Bauingenieure immer gewagtere Konstruktionen entwerfen und verwirklichen. Der Architekt gewinnt dadurch eine größere künstlerische Freiheit. Er wird zum Raumgestalter, Gebäude werden zu Skulpturen, Innenräume zu Wohnlandschaften. Bauen und Wohnen orientieren sich aber auch an gesellschaftlichen Bedürfnissen und Vorstellungen guten Lebens. Die Stadtplanung und Wohnraumgestaltung sind daher immer ein Spiegel ihrer Zeit und Ausdruck von ethischen und ästhetischen Werten. Architektur ist, wie Hans Friesen in Anspielung auf Hegel schreibt, »ihre Zeit in Gebäuden erfasst«. 20 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Einleitung: Technik als Motor der Modernisierung?

Auch in der Medizin zeigt sich der enge Zusammenhang von Technik und Gesellschaft. Die großen Fortschritte in der Medizin des 20. Jahrhunderts wurden durch die Technik ermöglicht. Telemedizin und Self-Tracking-Techniken bringen die Digitalisierung im Gesundheitswesen voran. Die Entwicklung der Medizintechnik ist aber kein selbstgesteuerter, determinierter Prozess, sondern reagiert auf veränderte Wünsche und Bedürfnisse der Patienten. Selfmonitoring und Gesundheits-Apps liefern maßgeschneiderte Lösungen für die individuellen Bedürfnisse der Patienten, die dadurch zunehmend unabhängiger von ärztlicher Betreuung werden und mehr Freiheit und Lebensqualität gewinnen. Durch neue Medien verändern sich soziale Kommunikationsstrukturen und damit auch die Lebenswirklichkeiten der Menschen. Köberer und Rath zufolge liegt der Vorstellung einer technologiegetriebenen Modernisierung ein verkürzter Begriff von Technik zugrunde. Die Technik ist nicht nur ein Motor der Modernisierung und Mediatisierung, vielmehr bringen menschliche Praktiken selbst erst neue Artefakte hervor. Da die Lebenswelt des Menschen immer schon medial verfasst ist, werden medientechnische Innovationen nicht von außen an die Gesellschaft herangetragen, sondern müssen als Prozesse innerhalb des soziotechnischen Systems verstanden werden. Das Beispiel des Computers zeigt, dass die Entwicklung einer Technologie kein Automatismus ist. Karsten Weber vertritt die These, »dass Computerentwicklung und sozialer Wandel miteinander verwoben sind, ohne dass klar eine Wirkungsrichtung erkennbar wäre«. Eine neue Erfindung oder eine neue Technologie führt nicht zwangsläufig zu deren Anwendung und gibt keinen bestimmten Entwicklungspfad vor. Technik ist keine Wunscherfüllungsmaschine. Es können nur solche Wünsche erfüllt werden, die technisch realisierbar sind. Entwicklungspfade sind durch die technischen Möglichkeiten vorgezeichnet. Welcher Pfad aber tatsächlich eingeschlagen wird, hängt von den politischen und sozialen Rahmenbedingungen ab. Wie Technikbilder politisch und ideologisch geprägt sein können, demonstriert Nele-Hendrikje Lehmann am Beispiel technischer Museen in der DDR. In einem Museum werden Artefakte in eine systematische Ordnung gebracht und sollen eine Geschichte erzählen. Um welche Geschichte es sich handelt, hängt von der Perspektive der Museumsmacher ab. Technikbilder sind nicht wertneutral. Sie können eine Geschichte des Fortschritts erzählen oder sich kritisch mit Technik auseinandersetzen. 21 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Technikoptimisten halten am Fortschrittsideal der Aufklärung in der Tradition Francis Bacons fest. Bacon sieht als Ziel der Technik »die Erweiterung der menschlichen Herrschaft bis an die Grenze des überhaupt Möglichen« (Bacon 1960, 205). Ebenso wie Bacon vertritt Condorcet ein lineares Fortschrittsmodell: Wissenschaft und Technik mehren den Wohlstand, bringen kulturellen und moralischen Fortschritt und führen so zu einer »Vervollkommnung des Menschengeschlechts« (Condorcet 1976, 215). In das Loblied auf den technischen Fortschritt stimmen auch Ingenieure wie Werner von Siemens ein, der sich in einer Rede vor der Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte 1886 zu dem festen Glauben bekannte, »daß unsere Forschungs- und Erfindungstätigkeit die Menschheit höheren Kulturstufen zuführt, sie veredelt und idealen Bestrebungen zugänglicher macht, daß das hereinbrechende naturwissenschaftliche Zeitalter ihre Lebensnot, ihr Siechtum mindern, ihren Lebensgenuß erhöhen, sie besser, glücklicher und mit ihrem Geschick zufriedener machen wird« (Siemens 1987, 154 f.). Tatsächlich scheint das Bild von der Technik als Motor der Modernisierung unter Technikoptimisten weit verbreitet zu sein, weil es die Technik als Triebkraft für den Fortschritt in Kultur und Gesellschaft darstellt, die von dem Forscherdrang und Erfindergeist des Menschen angetrieben wird. Technikpessimisten fürchten dagegen die zerstörerische Wirkung der Technik. Technikkritik drückt ein Unbehagen an der Moderne aus und diagnostiziert eine zunehmende Entfremdung des Menschen von der Natur sowie ein Nützlichkeitsdenken in Folge ökonomischer Rationalisierung. Es wird befürchtet, dass der Mensch die Kontrolle über die Technik verliert und von technologischen Sachzwängen beherrscht wird. Von konservativer Seite wird ein Kulturverfall, Heimatverlust und eine allgegenwärtige »Seinsvergessenheit« beklagt. Vertreter der Frankfurter Schule kritisieren die Kulturindustrie und ein positivistisches Denken, das als »affirmatives Denken« denunziert wird, das »alles so lässt, wie es ist« (Marcuse 1979, 186 f.). Herbert Marcuse verdächtigt die Technik, »neue, wirksamere und angenehmere Formen sozialer Kontrolle und sozialen Zusammenhalts einzuführen« (Marcuse 1979, 18) und sieht in ihr einen repressiven Unterdrückungsapparat. Für Lewis Mumford ist die Technik eine »Megamaschine«, die ein allmächtiges System der Kontrolle entwickelt und den Menschen zwingt, sich der Organisation der Maschine anzupassen: 22 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Einleitung: Technik als Motor der Modernisierung?

»Anstatt als autonome Persönlichkeit zu handeln, wird der Mensch ein passives, zielloses, von Maschinen abhängiges Tier werden, dessen eigentliche Funktionen nach Ansicht der modernen Techniker der Maschine übertragen oder zum Nutzen entpersonalisierter, kollektiver Organisationen strikt eingeschränkt und kontrolliert sein werden.« (Mumford 1974, 13)

Auch hier treibt die Technik die Modernisierung an, die als entmenschlichender Prozess beschrieben wird, der unaufhaltsam und unkontrollierbar voranschreitet. Sowohl aus technikoptimistischer wie aus technikkritischer Sicht wird die Technik als eine Macht gesehen, die entweder zu Fortschritt oder zu technokratischer Herrschaft und kulturellem Niedergang führt. Aber beide Sichtweisen unterschätzen die Einflussmöglichkeiten des Menschen. Man kann zwei Modelle unterscheiden, wie sich Technik und Gesellschaft gegenseitig beeinflussen: Nach dem Angebots-Modell stellt die Technik Produkte her, durch die menschliche Bedürfnisse befriedigt werden können. Im Nachfrage-Modell wirken menschliche Bedürfnisse und Interessen wie Zugkräfte auf die Technik ein, indem sie eine wirtschaftliche Nachfrage nach bestimmten Produkten generieren, zu deren Herstellung die Technik gebraucht wird. Beide Modelle geben nur eine einseitige und grob vereinfachende Sicht auf die in Wirklichkeit sehr komplexen Zusammenhänge wieder, aber sie ergänzen einander. Modernisierung kann besser als ein Wechselspiel zwischen Technik und Gesellschaft verstanden werden. Es gibt nicht nur einen Motor, der alles antreibt und verändert, vielmehr sind neue wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Innovationen und die sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen die Kräfte, die den Modernisierungsprozess lenken. Es sind nicht nur die materiellen Produktionsverhältnisse, sondern auch neue Ideen und Weltbilder, die Veränderungen anstoßen. Modernisierung ist reflexiv, indem sich Wissenschaft und Gesellschaft der Modernisierungsfolgen für Mensch und Umwelt bewusst werden. Die allgemeine Technikwissenschaft, Technikphilosophie und Technikgeschichte sind kritische Begleiter des Modernisierungsprozesses. Die Herausgeber hoffen daher, mit diesem Sammelband zum Nachdenken über Technik und Moderne beitragen zu können.

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Literatur: Bacon, F. (1960): Neu-Atlantis. In: K. Heinisch (Hg.): Der utopische Staat. Reinbek bei Hamburg, S. 171–215. Brey, P. (2003): Theorizing Modernity and Technology. In: T. Misa, P. Brey, A. Feenberg (Hg.): Modernity and Technology. Cambridge (Mass.), S. 33–71. Condorcet (1976): Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes. Frankfurt a. M. Dafoe, A. (2015): On Technological Determinism: A Typology, Scope Conditions, and a Mechanism. In: Science, Technology and Human Values 40, S. 1047–1076. Dolata, U., Werle, R. (2007): »Bringing technology back in«: Technik als Einflussfaktor ökonomischen und institutionellen Wandels. In: U. Dolata, R. Werle (Hg.): Gesellschaft und die Macht der Technik. Frankfurt a. M., New York, S. 15–43. Grunwald, A. (2007): Technikdeterminismus oder Sozialdeterminismus: Zeitbezüge und Kausalverhältnisse aus der Sicht des »Technology Assessment«. In: U. Dolata, R. Werle (Hg.): Gesellschaft und die Macht der Technik. Frankfurt a. M., New York, S. 63–82. Latour, B. (2015): Die Hoffnung der Pandora. Frankfurt a. M. (5. Aufl.). Mittelstraß, J. (1992): Leonardo-Welt. Frankfurt a. M. Hartenstein, W. (1977): Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt a. M. Hughes, T. P. (1983): Networks of Power: Electrification in Western Society, 1880–1930. Baltimore. Marcuse, H. (1979): Der eindimensionale Mensch. Darmstadt, Neuwied (12. Aufl.). Misa, T. J. (2003): The Compelling Tangle of Modernity and Technology. In: T. Misa, P. Brey, A. Feenberg (Eds.): Modernity and Technology. Cambridge (Mass.), S. 1–30. Mumford, L. (1974): Mythos der Maschine, Wien. Nye, D. E. (2006): Technology Matters. Cambridge (Mass.). Osterhammel, J. (2010): Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München (5. Aufl.). Pinch, T. J., Bijker, W. E. (1984): The Social Construction of Facts and Artefacts: or How the Sociology of Science and the Sociology of Technology might Benefit Each Other. In: Social Studies of Science 14, S. 399–441. Radkau, J. (1988): Kopfschmerzen beim Umkrempeln der Technikgeschichte. In: Wechselwirkung Nr. 39 (November 1988), S. 69–71. Ritsert, J. (2009): Schlüsselprobleme der Gesellschaftstheorie. Wiesbaden. Ropohl, G. (1991): Technologische Aufklärung. Frankfurt a. M. Shaw, D. B. (2008): Technoculture. The Key Concepts. Oxford, New York. Siemens, W. v. (1987): Das naturwissenschaftliche Zeitalter. In: H. Autrum (Hg.): Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft. Vorträge, gehalten auf Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (1822–1958). Berlin, Heidelberg, New York, S. 143–155.

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Einleitung: Technik als Motor der Modernisierung? Weber, M. (1972): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1. Tübingen (6. Aufl.). Weizenbaum, J. (1977): Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt a. M.

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Technikkritik als Kritik an der Moderne

1.

Maschinenstürmer

In den Jahren von 1978 bis 1995 wurden in den USA insgesamt 16 Briefbomben-Attentate verübt, bei denen drei Menschen getötet und 23 Menschen verletzt wurden. Da die Bomben hauptsächlich an Universitätsprofessoren und leitende Angestellte von Fluggesellschaften verschickt wurden, gaben die Medien dem Attentäter den Namen »Unabomber« (university and airline bomber). 1995 kursierte ein Manifest des Attentäters mit dem Titel »Industrial Society and its Future«, in dem die Anschläge als Widerstandsaktionen gegen die zunehmende Technisierung der Gesellschaft verteidigt wurden (Kaczynski 1995). 1996 konnte der Unabomber schließlich entlarvt und verhaftet werden. Die erstaunte Öffentlichkeit erfuhr, dass es sich bei dem vermeintlichen Terroristen um einen angesehenen ehemaligen Mathematik-Professor namens Theodore Kaczynski handelte, der als Einzelgänger in einer abgelegenen Blockhütte in den Bergen Montanas lebte und dort die Bomben herstellte. Im Gefängnis, wo er seitdem eine lebenslange Freiheitsstrafe verbüßt, schrieb er mehrere Bücher, in denen er seine fundamentale Technikkritik darlegt und zum Widerstand und zur Zerstörung des technisch-industriellen Systems aufruft (Kaczynski 2016). In seinen Manifesten und Büchern beklagt Kaczynski die Folgen des technischen Fortschritts: die Umweltzerstörung, die genetische Manipulation von Pflanzen, Tieren und des Menschen, das technokratische Denken, das die Politik beherrscht, und warnt vor einer drohenden Versklavung des Menschen durch die Technik. Die Computerindustrie, Biotechnologie und die Medien sind in seinen Augen nur Teile einer allumfassenden dämonischen Macht, die unser Leben bestimmt und die es zu zerstören gilt. Auch wenn seine Ansichten extrem und seine Taten menschenverachtend sein mögen, ist seine Technikkritik nicht ungewöhnlich und folgt einer langen Tradition, 26 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Technikkritik als Kritik an der Moderne

die auf die Maschinenstürmer des frühen 19. Jahrhunderts zurückgeht und einen erheblichen Einfluss auf die Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts ausgeübt hat. Die technophobe Gesinnung Kaczynskis ist nicht weniger radikal als die Technikkritik Martin Heideggers, Günther Anders’ oder Herbert Marcuses. Leider gibt es nur wenige Arbeiten, die diese geistesgeschichtliche Tradition, ihre Wurzeln und Motive aufarbeiten. Rolf Peter Sieferle, einer der wenigen, die sich mit diesem Thema eingehender beschäftigten, vertritt die These, »dass die Technikkritik seit dem 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Zertrümmerung der altständischen Gesellschaft entstand und daher als Versuch zu begreifen ist, die mit der Entstehung des Industriesystems verbundenen Umwälzungen intellektuell zu bewältigen« (Sieferle 1984, 7 f.). Diese These soll hier vertieft und erweitert werden. Meiner Auffassung nach richtet sich die Kritik gar nicht so sehr gegen die Technik an sich oder die Folgelasten der Technisierung, vielmehr sind die kritisierten gesellschaftlichen Zustände ein Resultat des Modernisierungsprozesses, so dass sich hinter der Fassade der Technikkritik oftmals ein Unbehagen an der Moderne verbirgt. Ich will im Folgenden die Geschichte der Technikkritik vom 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zumindest in groben Zügen und anhand ausgewählter Beispiele verfolgen und meine These nicht nur an philosophischen, sondern auch literarischen Quellen belegen und werde dabei insbesondere einige Zeugnisse der Science-Fiction-Literatur Ende des 19. Jahrhunderts heranziehen, weil ich denke, dass sich in den Romanen von Jules Verne und H. G. Wells wesentliche Grundzüge philosophischer Technikkritik wiederfinden, die erst Anfang des 20. Jahrhunderts von Oswald Spengler, Friedrich Georg Jünger und Martin Heidegger ausgearbeitet und theoretisch reflektiert wurden. 1829, also mehr als 150 Jahre bevor Kaczynski das berüchtigte Unabomber-Manifest verfasste, schrieb der englische Schriftsteller Thomas Carlyle ein Essay mit dem Titel »Signs of the Times«, in dem er beklagt, dass Apparate und Maschinen mehr und mehr Bereiche unseres Alltagslebens beherrschen und die Natur durch den Eingriff der Technik zerstört werde (Carlyle 1860). Carlyle sah mit der industriellen Revolution eine Zeitenwende heraufziehen, »a mighty change in the whole manner of existence«, und den Beginn eines Maschinenzeitalters (»Age of Machinery«). Er zeigt, wie das mechanistische Denken immer mehr Lebensbereiche okkupiert. Rhetorisch und stilistisch hebt Carlyle immer wieder den Gegensatz 27 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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zwischen Materie und Geist, Religion und Technik, Natur- und Geisteswissenschaften hervor. Mit dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaften und Technik verlören die Religion, Philosophie, Kunst und Literatur an Bedeutung, womit ein Verlust an Moralität, Emotionalität und Spiritualität einhergehe. Die Religion und der Glaube spielten in einer säkularisierten Gesellschaft kaum noch eine Rolle und würden durch ein materialistisches, utilitaristisches Denken ersetzt. Der Mensch glaube nicht mehr an Gott, sondern nur noch an die Gesetze der Mechanik. Carlyle beschreibt wie die Technik das Denken verändert und den Menschen selbst zum Teil einer allumfassenden Maschinerie macht: »Men are grown mechanical in head and in heart, as well as in hand. They have lost faith in individual endeavour, and in natural force, of any kind. Not for internal perfection, but for external combinations and arrangements, for institutions, constitutions, for Mechanism of one sort or other, do they hope and struggle. Their whole efforts, attachments, opinions, turn on mechanism, and are of mechanical character.« (Carlyle 1860, 141 f.)

Mit der Einführung maschineller Massenproduktion wird der Mensch zum Diener der Maschinen, seine Arbeit hat sich dem Arbeitsrhythmus der Maschinen anzupassen. 1811 kam es in Nottingham und Umgebung zu einem Aufstand der Textilarbeiter, die Maschinen zerstörten, weil sie durch den Einzug maschineller Massenproduktion ihre Arbeit und ihr traditionelles Handwerk bedroht sahen (Randall 1998). Die Maschinenstürmer nannten sich Ludditen nach ihrem Anführer Ned Ludd, wobei nicht klar ist, ob es sich dabei um eine reale oder fiktive Gestalt handelt. Der Protest griff schnell auf andere Städte und Grafschaften über. Erst 1816 konnten die immer wieder aufflammenden Aufstände endgültig niedergeschlagen werden. Die Arbeiterklasse sah sich als Verlierer der Modernisierung. Die Ludditen machten die Maschinen für ihre miserable soziale Lage verantwortlich und sahen in ihnen ein Symbol für ihre Ausbeutung und Unterdrückung. Als Motiv für den Aufstand mag neben der durchaus realen Gefahr von Arbeitsplatzverlust auch die von Thomas Carlyle beschriebene irrationale Furcht vor dem Dämon der Technik eine Rolle gespielt haben. Der Protest der Ludditen richtete sich gegen eine zunehmend von Maschinen bestimmte Arbeit, den Verlust traditioneller Werte und die technische Kolonialisierung der Lebenswelt.

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Technikkritik als Kritik an der Moderne

2.

Samuel Butler: Erewhon

Der Aufstand der Ludditen inspirierte den englischen Schriftsteller Samuel Butler zu der Überlegung, wie eine Welt wohl aussehen würde, in der es keine Maschinen mehr gäbe, wenn man die Uhr zurückdrehen und in die Zeit vor der Industrialisierung zurückkehren könnte. In seinem 1872 erschienen Roman »Erewhon« beschreibt er in der literarischen Gestalt einer klassischen Inselutopie eine Gesellschaft, in der die Menschen beschließen, künftig ohne Maschinen auszukommen und nur noch einfachste Technik zulassen, die für die Aufrechterhaltung eines gewissen Lebensstandards unbedingt erforderlich ist. 1 Im Zuge einer anti-technologischen Revolution zerstören die Bürger von Erewhon alle Maschinen, verbrennen alle technikwissenschaftlichen Schriften und löschen somit das gesamte technologische Wissen aus. Zurück bleibt die arkadische Idylle einer Gesellschaft auf dem technologischen Stand Europas im 12. oder 13. Jahrhundert (Butler 1985, 85). Der Umsturz ist so radikal, dass nicht nur technische Artefakte zerstört werden, sondern auch die wissenschaftlich-technische Rationalität aus dem Denken der Menschen verbannt wird und auf Schulen und Universitäten, den »Colleges of Unreason«, stattdessen ein Denken in Widersprüchen gelehrt wird (Butler 1985, 187). Rationales Denken gilt in Erewhon als schädlich und gefährlich: »Life, they urge, would be intolerable if men were to be guided in all they did by reason and reason only. Reason betrays men into the drawing of hard and fast lines, and to the defining by language – language being like the sun, which rears and then scorches.« (Butler 1985, 187) Man kann Erewhon als Gesellschaftssatire im Stil von Jonathan Swifts »Gullivers Reisen« lesen, in der der Rationalismus der damaligen Zeit lächerlich gemacht wird. Jedoch ist der Roman auch sehr technikkritisch und hat somit ein ernsthaftes philosophisches Anliegen. Butler beschäftigte sich eingehend mit Darwins Evolutionstheorie und glaubte, dass auch Maschinen zu einer Evolution fähig seien. Die Theorie technischer Evolution wird in dem »Book of the Machines« dargelegt, einem Buch innerhalb des Romans, das die erewhonische Technikphilosophie zusammenfasst. Butler vergleicht Maschinen mit lebenden Organismen und erläutert dies am Beispiel

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Liest man das Wort Erewhon rückwärts, erfährt man, wo die Insel liegt: Nowhere.

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der Dampfmaschine: Sie besitzt ähnlich wie der Mensch einen Stoffwechsel und wandelt chemische in mechanische Energie um. Butler geht sogar so weit zu behaupten, dass eine Dampfmaschine, wenngleich in primitiver Form, ein rudimentäres Bewusstsein besitzt. Wie tierische Organismen sind auch Maschinen durch technische Weiterentwicklung zur Evolution fähig, die ungleich schneller vonstatten geht als die biologische Evolution. Butler hält es nicht für ausgeschlossen, dass sich Maschinen eines Tages sogar selbst reproduzieren könnten (Butler 1985, 212). Wenn die Maschinen im Laufe ihrer Entwicklung immer komplexer werden, könnten sie eines Tages Bewusstsein erlangen und zu den neuen Herren der Erde werden (Butler 1985, 202). Die Maschinen könnten ein Eigenleben entwickeln und sich so jeder menschlichen Kontrolle entziehen. Butler sieht bereits in seiner Zeit erste Anzeichen einer Versklavung des Menschen durch die Technik: »How many men at this hour are living in a state of bondage to the machines? How many spend their whole lives, from the cradle to the grave, in tending them by night and day? Is it not plain that the machines are gaining ground upon us, when we reflect on the increasing number of those who are bound down to them as slaves, and of those who devote their whole souls to the advancement of the mechanical kingdom?« (Butler 1985, 208)

Mit dem Aufstieg der Maschinen würde sich das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mensch und Maschine umkehren: Die Maschinen, die eigentlich dem Menschen zu Diensten sein sollen, werden dann die Macht übernehmen und die Menschen als Diener und Haustiere behandeln. Um dies zu verhindern, müsse die technische Entwicklung an einem bestimmten Punkt angehalten und gleichsam eingefroren werden. Butler nimmt in seiner düsteren Vision Gedanken der künstlichen Intelligenz vorweg und beschreibt ein Ereignis in ferner Zukunft, das später »Singularität« genannt werden wird: ein Punkt der technologischen Entwicklung, an dem die Maschinen intelligenter und mächtiger als Menschen werden und dann die Evolution in die eigene Hand nehmen werden (Kurzweil 2005). Manche KI-Propheten wie Ray Kurzweil und Nick Bostrom begrüßen diese Entwicklung und glauben, dass mit der Singularität die kühnsten Träume Wirklichkeit werden: die kognitive Verbesserung des Menschen, die Lösung aller sozialen und ökologischen Probleme, interstellare Raumfahrt, ja sogar die Unsterblichkeit des Menschen. Aber es gibt 30 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Technikkritik als Kritik an der Moderne

auch warnende Stimmen. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts schloss sich eine Gruppe von Umweltaktivisten und Globalisierungsgegnern, die sich Neo-Ludditen nannten, zu einer Bewegung zusammen, in der sie die Ideologie des technischen Fortschritts kritisieren. Der Computerwissenschaftler Bill Joy nimmt Butlers Warnungen ernst und glaubt, dass Roboter und sogenannte Nanobots (mikroskopisch kleine Roboter) sich eines Tages selbst reproduzieren und permanent selbst verbessern und so Fähigkeiten erlangen könnten, die weit jenseits menschlicher Möglichkeiten liegen. Roboter würden dann den Menschen als dominierende Spezies ablösen und die biologische Evolution mit technischen Mitteln fortsetzen. Das Schicksal des Menschen wäre damit besiegelt: Die Roboter könnten uns als minderwertige Spezies betrachten und unsere Ausrottung betreiben. Joy geht nicht so weit wie Butler oder die Ludditen, dass er zur Zerstörung der Maschinen auffordert, stattdessen plädiert er für ein Forschungsmoratorium und eine Beschränkung technologischen Fortschritts: »Wir müssen auf die Entwicklung allzu gefährlicher Technologien verzichten und unserer Suche nach bestimmten Formen des Wissens Grenzen setzen.« (Joy 2001, 61) In Butlers und Joys Technikpessimismus schwingt die Sorge mit, dass die technische Entwicklung immer schneller voranschreitet und wir irgendwann die Kontrolle verlieren. Wir sind wie Passagiere in einem Zug, dessen Bremsen auf abschüssiger Strecke versagen und der immer schneller auf einen Abgrund zurast. Der Zug des technischen Fortschritts lässt sich nicht mehr aufhalten und wir können nicht mehr abspringen oder aussteigen.

3.

Jules Verne: Paris im 20. Jahrhundert

Aufgrund der rasanten wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen Ende des 19. Jahrhunderts erlebten die literarischen Zukunftsutopien einen Aufschwung, so dass man vom Beginn der modernen Science-Fiction-Literatur sprechen kann (Hölscher 1999, 129 f.). Im Gegensatz zu den Gesellschaftsutopien vergangener Jahrhunderte rücken nun technisch dominierte Zukunftsentwürfe in den Vordergrund. Jules Verne, einer der bekanntesten Science-FictionSchriftsteller seiner Zeit, beschreibt in seinen Romanen fantastische Reisen, in denen die Protagonisten mit Hilfe der Technik neue Räume erobern, in denen kein Mensch zuvor gewesen war: den Luftraum 31 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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(Fünf Wochen im Ballon), die Tiefsee (20.000 Meilen unter dem Meer), das Innere der Erde (Reise zum Mittelpunkt der Erde) und den Weltraum (Von der Erde zum Mond, Reise um den Mond). In Vernes Romanen drückt sich ein zukunftsoptimistischer Zeitgeist aus, in dem Technik ein Abenteuerspielplatz ist und die Realisierung alter Menschheitsträume verspricht. Aber Verne setzt sich auch kritisch mit den Schattenseiten der modernen Technik auseinander. Dies wird besonders deutlich in seinem Roman »Paris im 20. Jahrhundert«, den er 1863 schrieb, der von seinem Verleger Pierre-Jules Hetzel jedoch als ungeeignet abgelehnt wurde, weil er fürchtete, dass er dem Lesergeschmack nicht entsprechen würde. 2 Zudem hält er Vernes Vision vom Paris der Zukunft für unrealistisch (Evans 1995, 37). Das Romanmanuskript verschwand in Vernes Nachlass, verharrte mehr als 100 Jahre in einem Dornröschenschlaf, bevor es wiederentdeckt und schließlich 1994 veröffentlicht wurde. Der Roman ist insofern eine Überraschung, da er ganz und gar nicht zu den anderen, eher technikoptimistischen Romanen Vernes passt und ein düsteres Bild der Zukunft zeichnet. Arthur B. Evans bezeichnet den Roman als »grim, dystopian portrait of life in 20th-century France« (Evans 1995, 36). Verne beschreibt darin viele technische Innovationen, die im 20. Jahrhundert Wirklichkeit wurden: eine Magnetschwebebahn mit elektromagnetischem Antrieb, Rechenmaschinen, Faxgeräte (»photographische Telegraphie«) und elektrische Reklametafeln. Der »Dämon der Elektrizität« ist allgegenwärtig: Er beleuchtet nachts die Straßen und Reklametafeln, die Altäre in den Kirchen erstrahlen im Glanz elektrischer Lichter, in Konzerten gibt es elektronische Musik und selbst die Hinrichtungen erfolgen durch Stromschlag: »Damit äffte man die himmlische Vergeltung besser nach.« (Verne 1998, 180) Die Welt der Zukunft wird vom Geld beherrscht: Die Buchhaltung erfolgt durch Rechenmaschinen und die Börsenkurse werden weltweit telegrafisch und per Fax in Echtzeit übertragen. Die Schulen werden in Aktiengesellschaften umgewandelt. Die alten Sprachen werden kaum noch gelehrt, die Klassiker der Literatur aus den Bibliotheken verbannt, stattdessen finden sich dort nur noch ökonomische und technische Werke. Kunst steht nicht mehr hoch im Kurs: Die Evans und Miller (1997) zeigen, dass Verne auch in anderen Romanen, z. B. in »Die fünfhundert Millionen der Begum« oder »Die Propellerinsel« eine durchaus fortschrittskritische Position einnimmt.

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alten Meister werden in den Gemäldegalerien abgehängt. Und in den Theatern werden die großen Dramen und Tragödien der alten Autoren nicht mehr aufgeführt, stattdessen belustigen Komödien das Publikum. Wie Thomas Carlyle stellt Verne die Welt der Technik der Welt des Geistes gegenüber und beklagt den Niedergang der Kultur. Die Mechanisierung erfasst den Menschen und passt ihn der technischen Umwelt an: »Dieser in der Mechanik erzogene Mensch erklärte das Leben durch Räderwerke oder Getriebe; er selbst bewegte sich regelmäßig, mit geringstmöglichem Reibungsverlust, wie ein Kolben in einem vollkommen ausgebohrten Zylinder; er übertrug seine gleichförmige Bewegung auf seine Frau, auf seinen Sohn, seine Angestellten, seine Diener, richtige Werkzeugmaschinen, aus denen er, der große Motor, den größtmöglichen Gewinn schlug.« (Verne 1998, 30 f.)

Die Entzauberung der Welt führt zu einer zunehmenden Entfremdung des Menschen von der Natur und zu einem Sinnverlust. Dieser Entfremdungsprozess wird an der Hauptfigur des Romans, dem jungen literarisch begabten Michel Dufrénoy, deutlich gemacht: Er verkörpert einen altsprachlich gebildeten Abiturienten, der nach seinem Schulabschluss gerne eine künstlerische Laufbahn einschlagen würde, aber enttäuscht feststellen muss, dass Kunst und Literatur nichts mehr zählen, und muss sich daher mit zahlreichen Gelegenheitsjobs durchschlagen. Der tragische Held der Geschichte findet sich in der schönen neuen Welt nicht zurecht. Er verliebt sich unglücklich, wird arbeitslos und landet auf der Straße. An einem kalten Wintertag stirbt er schließlich einsam auf dem Friedhof Père-Lachaise. Verne geht es nicht darum, die Technik per se zu verteufeln. Er kritisiert vielmehr eine technizistische Denkweise, die nur materielle, aber keine geistigen Werte anerkennt. Vernes Roman kann somit als eine »Kritik der instrumentellen Vernunft« gelesen werden. Seine Kulturkritik richtet sich gegen die Moderne und ihre Begleiterscheinungen: den Kapitalismus, die Vereinzelung des Individuums und die wissenschaftlich-technische Rationalität. Damit nimmt er einen zentralen Gedanken Max Webers vorweg, der in der Rationalisierung das Wesen der Moderne sieht. Weber schreibt in seiner Vorbemerkung zur Religionssoziologie: »Der spezifisch moderne okzidentale Kapitalismus nun ist zunächst offenkundig in starkem Maße durch Entwicklungen von technischen Möglichkeiten mitbestimmt. Seine Rationalität ist heute wesenhaft bedingt durch

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Berechenbarkeit der technisch entscheidenden Faktoren: der Unterlagen exakter Kalkulation. Das heißt aber in Wahrheit: durch die Eigenart der abendländischen Wissenschaft, insbesondere der mathematisch und experimentell exakt und rational fundamentierten Naturwissenschaften. Die Entwicklung dieser Wissenschaften und der auf ihnen beruhenden Technik erhielt und erhält nun andererseits ihrerseits entscheidende Impulse von den kapitalistischen Chancen, die sich an ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit als Prämien knüpfen.« (Weber 1972, 10)

Weber sieht in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkweise die Wurzel abendländischer Rationalität. Das Prinzip der Zweckrationalität und die zunehmende Effizienzorientierung sind ein Markenzeichen der Moderne: Indem sie immer mehr Lebensbereiche durchdringen – Technik, Wirtschaft und Verwaltung – bewirken sie einen Wertewandel und eine Transformation der Gesellschaft. Insofern ist die Kritik der instrumentellen Vernunft zugleich auch eine Kritik an der Moderne.

4.

Herbert George Wells: Wenn der Schläfer erwacht

Ähnlich wie bei Verne finden wir auch in H. G. Wells’ Werken ein ambivalentes Verhältnis zur Technik. In seinen Science-Fiction-Romanen wird die Zukunft mit all ihren Chancen und Gefahren dargestellt. Ebenso wie Verne schildert Wells die Schattenseiten der Modernisierung, wobei sich Wells im Unterschied zu Verne eingehender mit den sozialen Folgen befasst. Ein markantes Beispiel für seine kritische Zukunftssicht ist sein 1899 erschienener Roman »When the Sleeper wakes« (Wenn der Schläfer erwacht). Der Roman spielt im London des 22. Jahrhunderts. Bei Wells ist, wie bei den meisten utopischen Romanen seiner Zeit, die Zukunft durch einen atemberaubenden technologischen Fortschritt gekennzeichnet. Das London der Zukunft ist zu einer Megalopolis mit 33 Millionen Einwohnern angewachsen. Die Schluchten zwischen den Wolkenkratzern sind auf verschiedenen Ebenen von einem dichten Straßennetz durchzogen. Riesige Windräder am Stadtrand dienen zur Stromerzeugung. In den Wohnungen gibt es Fernsehen und Video (»Kineto-Tele-Photographie«). In der Welt der Zukunft gibt es kein Bargeld mehr, da alles mit Schecks bezahlt wird. Der kulturelle Verfall zeigt sich darin, dass neue Medien die alten Druckmedien verdrängen (Wells 2005, 124). Bücher kommen 34 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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aus der Mode (Wells 2005, 93). Die Bürger werden durch staatlich gelenkte Medien (»Schwätzmaschinen«) manipuliert. Wells konnte die Auswüchse des Kapitalismus bereits im viktorianischen England beobachten. In seinem Roman extrapoliert er diese Entwicklung in die Zukunft und prognostiziert eine Wandlung der Demokratie in eine Plutokratie: Die politische Macht liegt nun in den Händen der Wirtschaft (Wells 2005, 130), denn Geld bedeutet Macht (Wells 2005, 171). Die »Gier nach Geld« wird zum dominierenden Antrieb menschlichen Handelns und beherrscht alles (Wells 2005, 162). Wells zeichnet das Bild einer dekadenten und korrumpierten Gesellschaft, in der eine »schrankenlose Genusssucht« herrscht (Wells 2005, 200) und die Demokratie durch die Diktatur einer neuen Klasse abgelöst wurde. Kinder werden staatlich erzogen (Wells 2005, 186), was dazu führt, dass die Institution der Familie zerfällt (Wells 2005, 200). Interessanterweise bringt Wells den moralischen Verfall der Gesellschaft mit der Säkularisierung in Verbindung: »Der moralische Verfall hatte eingesetzt, als die Menschen eine übernatürliche Macht nicht mehr gelten ließen, der Begriff der Ehre war geschwunden, und die Jagd nach Erfolg bedeutete alles. Der Mensch, der den Glauben an Gott verloren hatte, hatte den Glauben an den Erfolg um jeden Preis bewahrt, das Geld beherrschte eine korrupte Welt.« (Wells 2005, 129)

Das prekäre Verhältnis von Geld und Macht bekommt auch der Held der Geschichte zu spüren: Graham, ein vermögender junger Engländer, fällt in einen tiefen Schlaf und wacht nach 203 Jahren im London des 22. Jahrhunderts wieder auf. Da sich sein Vermögen dank kluger treuhänderischer Verwaltung beträchtlich vermehrt hat, ist er nach seinem Erwachen der reichste Mann der Welt. Für die herrschende Elite ist er ein unliebsamer Konkurrent, wodurch es zum Machtkampf kommt. Die Gesellschaft ist in eine Ober- und Unterschicht gespalten: Die Reichen leben im Luxus der Oberwelt, während die Arbeiter in den Katakomben der Unterwelt die Maschinen bedienen müssen, die die Produkte herstellen, von denen die Menschen der Oberschicht leben. Auffällig ist hier, dass die Technik in die Unterwelt verbannt wird und die Maschinen ausschließlich von Arbeitern bedient werden. Das Heer der Arbeiter wird als formbare »Masse« beschrieben: »hilflos in den Händen von Demagogen und Meinungsmachern, individuell feig, beherrscht von Trieben, unberechenbar« (Wells 2005, 128). 35 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Während Verne das Weber’sche Modernisierungsmodell vertritt, kann man bei Wells eine Affinität zur Marx’schen Modernisierungstheorie feststellen. In den »Anticipations«, einer futurologischen Schrift, die drei Jahre nach dem Schläfer-Roman erschien, beschreibt er, wie technologische Neuerungen und das Wachstum der Städte die Gesellschaft verändern und die Klassengegensätze verschärfen. Es bilden sich im wesentlichen drei Klassen: Die Klasse der Besitzenden (»share-holders«), die Ingenieure und Facharbeiter sowie die Masse der Arbeiter und Besitzlosen (Wells 1902, 75–112). Marx vertritt ein ähnliches Modell: Die Mechanisierung und Industrialisierung führt zu einer erhöhten Produktivität und damit zu einer stärkeren Ausbeutung der Arbeitskräfte. Daraus resultieren größere soziale Ungleichheiten und Klassengegensätze, die zum Klassenkampf und schließlich zum Umsturz führen. Bei Wells stellt sich Graham an die Spitze der Arbeiterschaft, er führt eine Revolte an und nimmt den Kampf gegen die Diktatur auf. Wells ist kein technologischer Determinist: In seinen futurologischen Schriften sieht er verschiedene Möglichkeiten bzw. Alternativen technologischer und sozialer Entwicklung: Möglichkeiten zum sozialen Fortschritt, aber auch Möglichkeiten kulturellen Verfalls. Um eine negative Entwicklung zu verhindern, muss der Mensch in den Entwicklungsprozess steuernd eingreifen. Die Lösung sieht Wells in der Etablierung eines wissenschaftlichen Expertenrats, der die technische und soziale Entwicklung lenken soll. Zeitweise befürwortet Wells auch eugenische Maßnahmen. Henning Ottmann hält Wells’ Vorstellung für naiv und verspottet ihn als »Platon eines technokratischen Sozialismus« (Ottmann 2010, 12 f.).

5.

Herbert George Wells: Die Zeitmaschine

Das Entwicklungsmodell, das Wells in seinem Schläfer-Roman vertritt, ist bereits in seinem ersten großen utopischen Roman »Die Zeitmaschine« von 1895 angelegt (Wells 2002). In beiden Werken finden sich auffallende Parallelen, so dass man den Zeitreise-Roman als Fortsetzung von »Wenn der Schläfer erwacht« betrachten kann, weil hier der Zeithorizont spekulativ erweitert und die Welt einer fernen Zukunft beschrieben wird. Mit einer Zeitmaschine reist der Protagonist in das Jahr 802.701 und muss erstaunt feststellen, dass sich die Menschheit in zwei getrennt lebende Spezies gespalten hat: die fried36 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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liebenden Eloi und die barbarischen Morlocks. Im Laufe der Geschichte wird deutlich, dass die Eloi und Morlocks das Evolutionsprodukt zweier sozialer Klassen darstellen, die wir aus dem SchläferRoman kennen: Die Eloi sind die Nachkommen der Oberschicht, während die Morlocks ein Zerrbild der Arbeiterklasse darstellen. Die räumliche Trennung der Klassen setzt sich in der Zukunft fort. Die Morlocks schuften in der finsteren Unterwelt, bedienen altertümliche Maschinen und produzieren damit die Kleidung und Nahrung für die in der Oberwelt wie im Paradies lebenden Eloi. Den Grund für den Niedergang der Menschheit sieht Wells paradoxerweise im technischen Fortschritt, der den Menschen das Paradies auf Erden beschert, aber zugleich die Saat für ihren Niedergang in sich trägt. In der Welt der Zukunft gibt es keine Kriege, keine Krankheiten und keinen Zwang zur Arbeit mehr. Die Menschen leben in Frieden, Luxus und Sicherheit (Wells 2002, 51). Aber dadurch werden die Menschen der Oberschicht bequem und schwach (Wells 2002, 53). Wells greift hier auf ein sozialdarwinistisches Erklärungsmodell zurück, das Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet war: Das Leben in der Natur wird als ein permanenter Kampf ums Dasein betrachtet, bei dem nur der Stärkere gewinnen kann und der Schwächere zum Untergang verdammt ist. In einer wohlstandsgesättigten Welt dagegen, wo die Menschen nicht ums Überleben kämpfen müssen, findet keine natürliche Selektion mehr statt. Das Resultat ist eine schleichende Degeneration (Hume 1990, 239). Ein Leben in Sicherheit schwächt den Menschen: »Die übergroße Sicherheit der Oberweltmenschen hatte zu einer allmählichen Degeneration geführt, einem allgemeinen Rückgang, was Körpergröße, Kraft und Intelligenz betrifft.« (Wells 2002, 81) Das Endprodukt des evolutiven Verfallsprozesses stellen die Eloi dar. Sie werden als typische Décadents beschrieben: dumm, kleinwüchsig, kindlich, schwach, feinfühlig, träumerisch, träge, faul und nur zu einfacher Sprache fähig. Im Gegensatz dazu sind die Arbeiter der Unterwelt einem täglichen Überlebenskampf ausgesetzt, sie verlieren jedes Gefühl für Kultur und Moral und entwickeln sich zu animalischen Wesen zurück. Den Morlocks werden entsprechend tierische Eigenschaften zugeschrieben: Sie sind lemurenhafte Nachtwesen, Höhlenbewohner, hässlich, wüst, kannibalisch. Wells will damit zeigen, dass die Entwicklung des Menschen keinen stetigen Aufstieg darstellt, sondern auch den Rückwärtsgang einlegen kann, ganz im Gegensatz zu dem viktorianischen Fortschritts37 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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optimismus. Gleichzeitig ist die Geschichte als Warnung zu verstehen, die zeigt, wohin ein permanenter Klassenkampf führen kann und wie aus den ehemaligen Herren der Welt das Schlachtvieh wird, das auf der Weide gemästet wird und den Morlocks als Futterquelle dient. Dabei ist die Technik gar nicht die eigentliche Ursache des Verfallsprozesses, vielmehr macht Wells die moderne Zivilisation für den Niedergang verantwortlich, die dem Menschen eine automatische Bedürfnisbefriedigung garantiert, ohne dass er sich dabei anstrengen muss. Insofern kann man den Zeitreise-Roman auch als eine Utopiekritik verstehen: Eine Gesellschaft, die einen optimalen Zustand erreicht hat, ist nicht mehr verbesserungsfähig und kann sich nur noch verschlechtern. Es kann daher nicht das Ziel menschlichen Bestrebens sein, das Paradies auf Erden zu verwirklichen, vielmehr besteht gerade darin die eigentliche Gefahr, weil ein Leben im Paradies allen Bestrebungen des Menschen ein Ende setzt und er somit jeden Antrieb verliert.

6.

Edward Morgan Forster: The Machine Stops

Wells zeigt, wie Technik, die nur noch auf Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet ist, zu einer Schwächung und Degeneration des Menschen führt. E. M. Forster setzt diesen Gedanken in seiner Kurzgeschichte »The Machine Stops« von 1909 fort (Forster 2009). In ihr wird ein dystopisches Szenario entworfen, in der die Technik die Menschen beherrscht und die Menschen jede Kontrolle über sie verlieren. In Forsters Zukunftswelt leben die Menschen in unterirdischen Waben – »a small room, hexagonal in shape, like the cell of a bee« – isoliert voneinander und vermeiden jeden körperlichen Kontakt zu anderen Menschen und der Außenwelt. Durch Videokommunikation kann jeder Mensch mit jedem anderen auf der Welt in Kontakt treten. Mit der Vision eines globalen Kommunikationsnetzwerks antizipiert Forster die Idee des Internets, macht aber gleichzeitig die Probleme der sozialen Isolierung deutlich, die sich ergeben, wenn Kommunikation nur noch mediatisiert durch Telepräsenz und nicht mehr durch direkten Kontakt stattfindet. Das Leben wird von Maschinen bestimmt, genauer: der Maschine (Singular). Die Maschine ist wie ein künstlicher Uterus, der die Menschen nährt und umsorgt. Für jedes Bedürfnis gibt es einen Knopf, der sofortige Befriedigung verspricht. Die Menschen werden 38 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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bequem und träge. Ortega y Gasset definierte Technik als »Anstrengung, Anstrengung zu vermeiden« (Ortega 1949, 42). In Forsters Maschinenwelt müssen sich die Menschen überhaupt nicht mehr anstrengen, weil die Maschine alles für sie erledigt. Mangels körperlicher Anstrengung verkümmern ihre Muskeln. Hier greift Forster das Wells’sche Dekadenzmotiv auf, nach der das Mängelwesen Mensch verkümmert, während sich die Technik perfektioniert. Ohne die Maschine könnten die Menschen nicht überleben – zumindest glauben sie das. In der Maschine fühlen sie sich geborgen. Die allmächtige Maschine entscheidet, wer Kinder haben darf und wer nicht und sorgt so für eine eugenische Bevölkerungskontrolle. Die Abhängigkeit der Menschen von der Maschine wird wie folgt beschrieben: »We created the Machine, to do our will, but we cannot make it do our will now. It has robbed us of the sense of space and of the sense of touch, it has blurred every human relation and narrowed down love to a carnal act, it has paralysed our bodies and our wills, and now it compels us to worship it. The Machine develops – but not on our lies. The Machine proceeds – but not to our goal. We only exist as the blood corpuscles that course through its arteries, and if it could work without us, it would let us die.« (Forster 2009, 27)

Die Maschine wird zum Ersatzgott und die Bedienungsanleitung der Maschine (»the Book of the Machine«) wird wie eine Bibel verehrt: »›The Machine‹, they exclaimed, ›feeds us and clothes us and houses us; through it we speak to one another, through it we see one another, in it we have our being. The Machine is the friend of ideas and the enemy of superstition: the Machine is omnipotent, eternal; blessed is the Machine.‹« (Forster 2009, 30) Die Menschen leben in einer Technosphäre, die sie von der Natur abschirmt. Die Natur wird als lebensfeindlich betrachtet: »The surface of the earth is only dust and mud, no life remains on it, and you would need a respirator, or the cold of the outer air would kill you.« (Forster 2009, 15) Der Bildschirm ist das einzige Fenster zur Außenwelt. Wenn die Welt außerhalb der Maschine nur noch als virtuelles Bild existiert, können die Menschen nicht mehr zwischen Sein und Schein, Original und Kopie, wahr und falsch unterscheiden. Der Vergleich mit Platons Höhle drängt sich auf, wo Gefangene nur noch Schattenbilder wahrnehmen und diese für real halten. Forsters Geschichte kann man als Allegorie der modernen Medienwelt lesen. Das Gefühl für Originalität und Authentizität geht verloren. Unmittelbare Er39 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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fahrung wird als befremdlich und bedrohlich empfunden (»horror of direct experience«). Aufgrund der kognitiven Geschlossenheit referieren Texte und Zeichen nicht mehr auf wirkliche Dinge und Ereignisse, sondern nur noch auf andere Zeichen innerhalb der Maschine. Es gibt nur noch »second-hand ideas«: »First-hand ideas do not really exist.« (Forster 2009, 29) Originalität wird nicht mehr geschätzt. Fake-news und Wahrheiten sind in der Medienwelt nicht mehr unterscheidbar. Im Mittelpunkt von Forsters Erzählung stehen Vashti und ihr Sohn Kuno. Vashti hat sich vollkommen der Maschine hingegeben. Sie verehrt sie und betet sie an. Eines Tages meldet sich ihr Sohn, der auf der andere Seite der Erde lebt, per Video und bittet sie, ihn wegen einer dringenden Angelegenheit zu besuchen. Zunächst weigert sich Vashti, ihre Wabe zu verlassen, lässt sich dann aber doch überreden, zu ihm zu kommen. Sie steigt in ein Flugzeug und fliegt zu ihm. Bei ihm angekommen berichtet ihr Kuno, dass er die unterirdische Welt verlassen hat und auf die Oberfläche gestiegen ist, weil er der Maschine entfliehen und die Natur unmittelbar und direkt erleben wollte. Auch hier haben wir wieder eine Parallele zu Platons Höhlengleichnis: Bei Platon kann sich einer der Gefangenen befreien, die Scheinwelt der Höhle verlassen und auf die Erdoberfläche steigen und kommt so der Wirklichkeit näher. Auch Kuno sieht bei seinem Ausflug zum ersten Mal die Sonne und erkennt nun, dass die Maschine den Menschen eine Illusion vorgaukelt und will nun auch andere Menschen davon überzeugen. In Forsters Geschichte kehrt Kuno allerdings nicht freiwillig zurück, er wird von der Maschine zurückgezogen. Vashti ist vom Bericht ihres Sohnes schockiert und sucht umso verzweifelter Trost bei der Maschine. Eines Tages erhält sie eine weitere beunruhigende Nachricht von Kuno, der ihr mitteilt, dass die Maschine bald aufhören wird zu arbeiten. Zuerst will sie es nicht glauben, dann merkt sie selbst allmählich, dass sich die Fehlfunktionen der Maschine häufen und die Reparaturmechanismen versagen. Jetzt rächt sich die Abhängigkeit von der Maschine, weil es niemanden gibt, der sie reparieren kann. Hilflos müssen die Menschen zusehen, wie die Technik rund um sie herum zusammenbricht. Aber das Ende der Maschine könnte auch ein neuer Anfang sein. Man kann »die Maschine« als eine Metapher für die technische Seinsweise der Moderne deuten. Ebenso wie Jules Verne stellt Forster eine Unvereinbarkeit der technischen Kultur mit den Werten wahrer 40 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Menschlichkeit und Humanität fest. Auch der Literaturwissenschaftler Alf Seegert hebt die modernistischen Aspekte der Geschichte hervor: »The story is also distinctively modernist in its quirky attunement of the alienation of a technologically mediated subject so completely divorced from nature that it doesn’t even realize that it is alienated anymore.« (Seegert 2010, 34) Forster stellt eine sehr scharfsichtige Diagnose über die Situation des Menschen in der modernen Welt: die Entfremdung von der Natur, die Vereinzelung des Menschen, die Verarmung sozialer Beziehungen, die Zerstörung traditioneller Familienstrukturen und die Atomisierung und Fragmentierung der Gesellschaft. Forsters Sichtweise deckt sich mit Charles Taylors Analyse der modernen Gesellschaft: »Die Gefahr liegt nicht in der wirklichen despotischen Kontrolle, sondern in der Fragmentierung, also darin, dass ein Volk immer weniger imstande ist, sich einen gemeinsamen Zweck zu setzen und diesen zu erfüllen. Zur Fragmentierung kommt es, wenn sich die Menschen in immer höherem Maße atomistisch sehen und, anders formuliert, immer weniger spüren, dass sie durch gemeinsame Vorhaben und Loyalitäten an ihre Mitbürger gebunden sind.« (Taylor 1995, 125 f.)

Insofern lässt sich Forsters Technikkritik in der Tat als eine Kritik an der Moderne deuten: Die moderne Gesellschaft mit all ihren Problemen entstand als Produkt und Folge des Technisierungsprozesses. In der Geschichte wird die Befreiung von der Maschine als einziger Ausweg gesehen. Dennoch glaube ich nicht, dass man Forster als Maschinenstürmer bezeichnen kann. Für ihn ist die Technik nur ein Symptom, aber nicht die eigentliche Wurzel des Übels, weil es ihm um die Wiederherstellung authentischer Beziehungen zu den Mitmenschen und der Natur geht.

7.

Oswald Spengler

Der Zusammenhang von Technik und Moderne wird auch in Oswald Spenglers monumentalhistorischem Werk »Der Untergang des Abendlandes« von 1917 und in seinem 1931 erschienenen Buch »Der Mensch und die Technik« thematisiert. Spenglers zentrale These lautet, dass Kulturen wie Organismen verschiedene Altersstufen durchlaufen, aufblühen, altern und schließlich zerfallen. Die Moderne ist 41 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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die letzte Phase abendländischer Kultur kurz vor ihrem Untergang. Die Niedergangsphase ist gekennzeichnet durch den Zerfall der großen philosophischen Systeme und die Auflösung der Stileinheit in der Kunst: »sinnlose, leere, erkünstelte, gehäufte Architektur und Ornamentik, Nachahmung archaischer und exotischer Motive« (Spengler 1980, 78). Für Spengler sind die Merkmale moderner Kultur wie die Herrschaft des Geldes, das Wachstum der Städte, große Industrie und Maschinenkultur typische Verfallserscheinungen. Solche Dekadenzmotive fanden wir bereits bei Jules Verne und H. G. Wells. Spengler dagegen sieht eine Systematik und innewohnende Gesetzmäßigkeit in diesen Phänomenen und weist auf parallele Entwicklungen in anderen, bereits untergegangenen Kulturen hin. Eine Dekadenzerscheinung der Moderne ist die »faustische« Technik. Faust ist »das große Sinnbild einer echten Erfinderkultur« (Spengler 1980, 1187). Der faustische Mensch wird vom »Willen zur Macht« getrieben (Spengler 1932, 13), er will die Natur beherrschen und »die Welt nach seinem Willen lenken« (Spengler 1980, 1186). Faustische Technik ist Ausdruck von Hybris, dem Wunsch Gott spielen zu wollen (Spengler 1980, 1185): »Die trunkene Seele will Raum und Zeit überfliegen. Eine unnennbare Sehnsucht lockt in grenzenlose Fernen. Man möchte sich von der Erde lösen, im Unendlichen aufgehen, die Bande des Körpers verlassen und im Weltraum unter Sternen kreisen.« (Spengler 1980, 1189) Die neuzeitliche Technik verhilft der abendländischen Kultur zu einer letzten Blüte, ein letztes Aufbäumen vor dem unweigerlichen Ende. Wie bei einer griechischen Tragödie wird der Größenwahn dem Menschen zum Verhängnis. Die abendländische Kultur hat sich durch den technischen Fortschritt auf eine besondere Fallhöhe hochgearbeitet. Umso tiefer der Fall. Denn schließlich wendet sich die Technik gegen den Menschen: »Der Herr der Welt wird zum Sklaven der Maschine.« (Spengler 1932, 75) Technik durchdringt das Denken des Menschen, so dass alles nur noch sub specie technologiae gesehen wird: »Die Zivilisation ist selbst eine Maschine geworden, die alles maschinenmäßig tut oder tun will. Man denkt nur noch in Pferdekräften. Man erblickt keinen Wasserfall mehr, ohne ihn in Gedanken in elektrische Kraft umzusetzen.« (Spengler 1932, 79) 3 Das Bild des Wasserkraftwerks als Symbol für die Erschließung und Vernutzung der Naturkräfte wird später von Heidegger in seinem Technik-Vortrag von 1953 aufgegriffen: »Das Wasserkraftwerk ist in den Rheinstrom gestellt. Es stellt ihn auf sei-

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Bei H. G. Wells beginnt der Verfall mit der Spaltung der Gesellschaft, bei Spengler ist die Globalisierung und Kolonialisierung der Auslöser für den wirtschaftlichen Niedergang. Technische Innovationen und die Suche nach neuen Absatzmärkten befördern die Globalisierung. Die wirtschaftliche Ausbeutung anderer Länder erzeugt eine Abhängigkeit, die sich irgendwann umkehrt. Billiglohnländer werden zu Konkurrenten der Industrieländer und erleben einen ökonomischen Aufschwung, während sich in Europa die Arbeitslosigkeit ausbreitet. Am Ende beginnt man der Technik überdrüssig zu werden (Spengler 1932, 81). Spengler bemüht das Bild antiker Ruinen, um das Ende faustischer Zivilisation auszumalen: »Diese Maschinentechnik ist mit dem faustischen Menschen zu Ende und wird eines Tages zertrümmert und vergessen sein – Eisenbahnen und Dampfschiffe so gut wie einst die Römerstraßen und die chinesische Mauer, unsere Riesenstädte mit ihren Wolkenkratzern ebenso wie die Paläste des alten Memphis und Babylon.« (Spengler 1932, 88) Spengler ist Fatalist und glaubt nicht, dass sich die Entwicklung aufhalten oder verhindern lässt. Die These von der inneren Zwangsläufigkeit und Notwendigkeit der Technikentwicklung wird von Günter Ropohl als »genetischer Determinismus« bezeichnet (Ropohl 1991, 194). Spengler spricht vom »Schicksal des Menschen«, das sich vollenden muss (Spengler 1932, 59). Spenglers Untergangsphilosophie ist immer wieder zu Recht kritisiert worden. Seine vergleichende Kulturmorphologie ist methodisch schlecht begründet und basiert auf oberflächlichen Analogien und fragwürdigen Wertungen. Spengler vertritt eine idealistische Geschichtskonzeption, nach der nicht Menschen, Staaten oder die Wirtschaft die treibenden Kräfte der Geschichte sind, sondern nicht näher bestimmte »organische Formen« (Spengler 1980, 29), die einen Lebenszyklus durchlaufen. Manchmal spricht Spengler auch von der »Seele« einer Kultur, die erwacht, erblüht und schließlich stirbt (Spengler 1980, 143). Eine solche mystische Redeweise ist zutiefst antirationalistisch. Karl Popper bezeichnet Spenglers Geschichtsdeterminismus als Historizismus – eine Theorie, die historische Entwicklungen vorausnen Wasserdruck, der die Turbinen daraufhin stellt, sich zu drehen, welche Drehung diejenige Maschine umtreibt, deren Getriebe den elektrischen Strom herstellt, für den die Überlandzentrale und ihr Stromnetz zur Strombeförderung bestellt sind.« (Heidegger, GA 7, 16)

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sagen will, indem sie Gesetze, Rhythmen oder Trends postuliert, die den geschichtlichen Prozessen zugrunde liegen (Popper 1987, 2). Für Popper ist dies eine Pseudo-Wissenschaft. Historische Ereignisse lassen sich nicht voraussagen. Spengler bleibt daher auch sehr vage bei der Angabe, wann die abendländische Kultur denn nun tatsächlich zu Ende gehen soll. Ob eine Kultur eine Blütezeit erlebt oder dem Untergang entgegenstrebt, ist immer eine Frage der Wertung und das Ergebnis einer selektiven Wahrnehmung (Popper 2005, 248 f.). Wo manche das »Ende der Geschichte« sehen, sehen andere einen neuen Anfang. Es gibt jedenfalls keine objektiven wissenschaftlichen Kriterien, die angeben könnten, wann eine Kultur ihren Höhepunkt erreicht oder in eine Dekadenzphase eingetreten ist. Entsprechend harsch fällt Poppers Urteil über Spengler aus: »Spenglers Untergang des Abendlandes ist meiner Ansicht nach nicht ernst zu nehmen. Aber es ist ein Symptom: es ist das Werk eines Menschen, der an eine Oberschicht glaubt, die vor ihrer Niederlage steht.« (Popper 1977, 311) Spenglers Verachtung moderner Kultur ist typisch für die Denkweise konservativer Kreise. Egon Friedell beispielsweise sieht in der Moderne eine Epoche des sinnentleerten Nihilismus: »Es gibt keine Realitäten mehr, sondern nur noch Apparate: eine Welt von Automaten, ersonnen im Gehirn eines boshaften und wahnsinnigen Doktor Mirakel. Es gibt auch keine Ware mehr, sondern nur noch Reklame, der wertvollste Artikel ist der am wirksamsten angepriesene: in dessen Reklame das meiste Kapital investiert wurde. Man bezeichnet all dies als Amerikanismus. Man könnte es ebensogut Bolschewismus nennen, denn auf politischem und sozialem Gebiet kennzeichnet sich die planetarische Situation als doppelseitig bedroht von einem medusenhaften Vernichtungswillen, dessen Vollstreckungsmächte bloß im Osten und im Westen verschiedene Namen tragen: beide Verkörperungen desselben materialistischen Nihilismus, beide durch die Nemesis der Selbstverzehrung zum Untergang bestimmt.« (Friedell 2007, 1513)

Dieses Zitat könnte ebensogut von Spengler stammen. Aber in der Bewertung der Moderne kann man geteilter Meinung sein. Andere Menschen sehen im Pluralismus, Liberalismus und in der künstlerischen Freiheit der Moderne einen besonderen Wert. Spenglers Technikkritik ist jedenfalls erstaunlich modern. Obwohl er ein zutiefst konservativer Denker war, findet man die Kapitalismus- und Globalisierungskritik, die Warnung vor Umweltzerstörung und technologischer Überheblichkeit auch bei Vertretern der Frankfurter Schule 44 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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und Neo-Ludditen. Technik ist bei Spengler nicht die Triebkraft der Entwicklung, sondern selbst nur ein Epiphänomen, ein Ausdruck faustischen Machtstrebens. Die Entwicklung ist tragisch, aber von einer inneren Notwendigkeit geleitet. Technikentwicklung ist bei ihm Teil eines umfassenden Zivilisationsprozesses. Die Kausalkette geht nicht von der Technisierung zur Modernisierung. Insofern ist eigentlich nicht die Technik an der Globalisierung, Kolonialisierung und Umweltzerstörung schuld, sondern es sind nur Begleiterscheinungen einer untergehenden Kultur.

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Friedrich Georg Jünger

Für Spengler ist Geschichte das Leben von Kulturen, die neuzeitliche Technik dagegen nur eine Ausprägung der faustischen Kultur. Es sind Kulturen, die altern und Technik ist eine Alterserscheinung der Kultur. Friedrich Georg Jünger kehrt dieses Verhältnis zwischen Kultur und Technik um und betrachtet Technik als eine kulturprägende Gestalt, die unser Denken und Handeln beeinflusst. 4 Jüngers These lautet, dass unser Denken seit der Neuzeit von technischen Kategorien bestimmt wird und die Technik auf diese Weise in immer mehr Lebensbereiche vordringt und sie funktionalisiert. In seinem bereits 1939 geschriebenen, aber erst 1946 veröffentlichten Werk »Die Perfektion der Technik« erläutert Jünger dies am Beispiel der Zeitvorstellung. Der entscheidende Wandel erfolgt seiner Auffassung nach mit der Einführung des mechanischen Zeitbegriffs, der sich an der Galilei’schen und Newton’schen Physik orientiert und fortan die Grundlage der Zeitmessung bildet (Jünger 2010, 46 ff.). Die Zeitmessung mittels Uhren verändert das Alltagsleben. Durch den Gang mechanischer Räderuhren wurde Zeit für jedermann unmittelbar wahrnehmbar. Uhren diktieren den Lebens- und Arbeitsrhythmus des Menschen, sie erzwingen eine zeitliche Disziplinierung sowie eine Rationalisierung von Arbeitsvorgängen und Synchronisierung von Tätigkeiten. Pünktlichkeit wird zur Tugend. Lange vor Paul Virilio Friedrich Georg Jünger (1898–1977) ist der Bruder von Ernst Jünger (1895–1998). »Die Perfektion der Technik« kann als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Buch seines Bruders »Der Arbeiter« von 1932 gesehen werden, in dem der Arbeiter als eine heroische Gestalt beschrieben wird, die mit Hilfe der Technik die Welt gestaltet. F. G. Jünger will zeigen, dass die Technik keineswegs ein Mittel darstellt, dessen man sich nach Belieben bedienen kann, vielmehr beherrscht die Technik den Arbeiter.

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und Hartmut Rosa erkennt Jünger in der Beschleunigung des Lebens ein Kennzeichen der Moderne. Kommunikationsprozesse, Produktion und Verkehr beschleunigen sich und der technische Fortschritt erhöht auch die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (Jünger 2010, 105). Zeitökonomie und der sparsame Umgang mit der Ressource Zeit werden zu einem wichtigen wirtschaftlichen Faktor. Die Arbeitsleistung hat sich dem Diktat der Uhr zu unterwerfen: »Der mechanische Zeitbegriff kontrolliert den Arbeiter, nicht umgekehrt.« (Jünger 2010, 81) Die Zeitökonomie führt zu einem neuen Denken, das Jünger als »Funktionalismus« bezeichnet: »Denn funktional denken heißt nichts anderes, als den Menschen einem System von Funktionen zu unterwerfen, ihn selbst zu einem System von Funktionen zu machen.« (Jünger 2010, 96). Das funktionale Denken erfasst auch die Wissenschaft: »Die Wissenschaft tritt in den Dienst der Technik.« (Jünger 2010, 100) Die Anwendung und Nutzbarmachung wissenschaftlicher Erkenntnisse wird immer wichtiger, die Grundlagenforschung tritt zurück und hat sich dem Primat der Technik zu beugen. Jünger nennt weitere Bereiche, in denen das technische Denken Eingang gefunden hat: Staatswesen, Ökonomie, Kriegsführung und selbst die Universitäts- und Schulorganisation wird funktionalisiert. In seiner Schrift »Maschine und Eigentum« von 1949 legt Jünger dar, wie Kapitalbewegungen und Mechanik zusammenhängen (Jünger 2010, 209 f.). 5 Die Funktionalisierung von Politik und Gesellschaft führt zu einer Technokratie. Technokratie bedeutet, »dass der Techniker herrscht, dass er die Leitung des Staates übernimmt« (Jünger 2010, 33). Jünger vertritt einen technologischen Determinismus: Die Technik bestimmt soziale Entwicklungen und nicht umgekehrt. Günter Ropohl kennzeichnet den technologischen Determinismus durch zwei Thesen: »dass (a) die technische Entwicklung die geistige und soziale Situation der Menschen determiniert und beherrscht und dass sie (b) völlig unabhängig von dieser geistigen und sozialen Situation ausschließlich einer ihr innewohnenden und unbeeinflussbaren Gesetzmäßigkeit folgt« (Ropohl 1982, 5). Jüngers Theorie ist genauso deterministisch wie Spenglers Geschichtsphilosophie; darin liegt ihr

Tatsächlich verwendet die Nationalökonomie bei ihrer Theoriebildung Modelle der klassischen Mechanik (Brodbeck 2009, 22–40).

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zentraler Schwachpunkt. Während bei Spengler die Kultur die Technik determiniert, ist es bei Jünger umgekehrt. Zweifellos hat Jünger den Einfluss der Technik auf den Modernisierungsprozess richtig erkannt: die Rationalisierung des Arbeitslebens, die Entstehung der Zeitökonomie sowie die Beschleunigung des gesamten Lebens. Aber in seiner übersteigerten Kritik dämonisiert er die Technik. Was die Naturzerstörung und den Raubbau an der Natur angeht, verbreitet er geradezu eine Alarmstimmung (Jünger 2010, 29). Überall sieht er dunkle Mächte am Werk, die den Menschen und die Natur unterjochen. 6 Während Spengler dem faustischen Menschen einen Willen zur Macht unterstellt, schreibt Jünger der Technik selbst ein Machtstreben zu und macht sie so zu einem anthropomorphen Akteur (Jünger 2010, 179). Diese Darstellung erweckt den Anschein, als ob die Technik wie eine Naturgewalt über den Menschen hereinbricht, gegen die er hilflos und machtlos ausgeliefert ist. Dem gleichen fatalistischen Fehlschluss unterliegt Schelskys Sachzwangthese, nach der Sachzwänge an die Stelle demokratischer Entscheidungen treten, die technologischen und ökonomischen Notwendigkeiten folgen (Schelsky 1965, 453). Jünger und Schelsky vergessen dabei, dass die Technik immer vom Menschen gemacht wird und er entscheidet, ob und wie sie eingesetzt wird. Technische Sachzwänge üben nur dort einen Zwang aus, wo der Mensch sich zwingen lässt. Daher kann die Technik auch nicht per se destruktiv sein, vielmehr wird sie es erst dann, wenn sie falsch eingesetzt wird. Die Entscheidung, welche Technik wir wollen, hängt immer davon ab, wie wir leben wollen und was wir unter einem guten Leben verstehen. Jürgen Habermas weist daher die Sachzwangthese zurück und plädiert dafür, »die Gewalt technischer Verfügung in den Konsens handelnder und verhandelnder Bürger« zurückzuholen (Habermas 1968, 117). Jünger schreibt sehr suggestiv, arbeitet mehr mit Bildern und Metaphern als mit Argumenten. Das Buch enthält kaum Fußnoten und keine Literaturverweise und hat mehr essayistischen Charakter Jüngers Darstellung der Technik weist große Ähnlichkeiten zur Technikphilosophie von Lewis Mumford auf. Bei beiden ist Technik eine dunkle Macht, bei Mumford »Megamaschine« genannt, die sich gegen den Menschen verschworen hat. Dem Jünger’schen Technokraten entspricht bei Mumford die technokratische »Priesterschaft« (Mumford 1974, 643), die der Megamaschine zu Diensten ist. Mumford führt die Zeitökonomie auf die straffe zeitliche Organisation des mittelalterlichen Klosterlebens zurück (Mumford 1947, 12 ff.).

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als die Form einer wissenschaftlichen Abhandlung. Aber mit seiner Technikkritik übt er einen nachhaltigen Einfluss auf Martin Heidegger aus, der viele seiner Auffassungen übernimmt.

9.

Martin Heidegger

Martin Heidegger und Friedrich Georg Jünger waren eng befreundet und haben sich in ihrer Technikkritik gegenseitig beeinflusst (Morat 2007). 7 Die Parallelen zwischen Heideggers und F. G. Jüngers Auffassungen zur Technik sind jedenfalls unübersehbar, wie eine Gegenüberstellung von Zitaten und Formulierungen zeigt: 8 – Beide beklagen die Ausbeutung der Natur. F. G. Jünger spricht von »Raubbau« und »Verwüstung« (Jünger 2010, 29) und schreibt: »Der Mensch zapft die elementare Natur an, er zapft ihre Kräfte ab.« (Jünger 2010, 121) Bei Heidegger klingt das ähnlich. Er spricht vom »Herausfordern«, »Entbergen« und »Stellen« der Natur und ihrer Ressourcen: »Das in der modernen Technik waltende Entbergen ist ein Herausfordern, das an die Natur das Ansinnen stellt, Energie zu liefern, die als solche herausgefördert und gespeichert werden kann.« (Heidegger, GA 7, 15) 9 – Jünger beschreibt, wie die Industrialisierung und Mechanisierung zu einer neuen Arbeitsorganisation führt, die den Menschen zwingt, sich technischen Erfordernissen anzupassen. Auch Heidegger sieht eine Abhängigkeit des Menschen von der Technik und warnt vor einem zunehmenden Kontrollverlust: »Der Mensch ist der Maschine völlig dienstbar, wenngleich er meint und vorgibt, sie zu meistern.« (GA 96, 253) Die Technik ist seiner Über die gegenseitige Beeinflussung zwischen Heidegger und Ernst Jünger ist viel geschrieben worden (Trawny 2003, 143–149; Balke 2013; Blok 2017). Daher verwundert es, dass die Beziehung zu Friedrich Georg Jünger von der Heidegger-Forschung bisher kaum beachtet wurde. 8 Auch Rüdiger Safranski weist in seiner Heidegger-Biografie auf die Gemeinsamkeiten von Heideggers und F. G. Jüngers Technikphilosophien hin und schreibt: »Wenn er [Heidegger] sich von der ›instrumentellen‹ Vorstellung der Technik abgrenzt und die Technik als grundlegendes Merkmal des neuzeitlichen In-der-Welt-Seins versteht, dann sagt er im Vergleich zu Friedrich Georg Jünger […] nichts Neues.« (Safranski 1997, 440) 9 Die Werke Martin Heideggers werden nach der Gesamtausgabe (abgekürzt: GA, mit Angabe der Bandnummer) zitiert. 7

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Meinung nach längst über den Menschen hinausgewachsen und lässt sich nicht mehr bändigen: »Zu meinen, die Technik lasse sich durch den Menschen meistern, indem er sie in seinem Wollen lenkt und bändigt, ist nur noch töricht.« (GA 97, 237; vgl. auch GA 95, 391 f.) – Ein zentrales Thema bei Jünger und Heidegger ist das »Machtstreben der Technik« (Jünger 2010, 179). Jünger sieht in der technischen Rekordsucht, dem Wunsch, immer schnellere Autos zu bauen und mit Flugzeugen und Raketen immer höher aufzusteigen, ein »Streben nach Macht« (Jünger 2010, 130). Heidegger spricht vom »Willen zum Willen« (GA 7, 78) und meint damit die letzte Steigerungsform des »Willens zur Macht«. – Die Dominanz des mechanistischen Denkens und die Herrschaft des Maschinenwesens ist für Jünger ein Krisensymptom, weil es verlangt, dass der Mensch wie eine Maschine zu funktionieren habe. Heidegger sieht die Gefahr, dass der Mensch selbst zum Teil einer Maschine wird: »Der neuzeitliche Mensch hat die Sicherung seines Wesens darauf angelegt, einstmals ein Teil der Maschine zu werden, damit er im Dienst für die Sachlichkeit und Berechnetheit ihres Laufens seine mühelose Sicherheit, seine Antriebe und seine Lust finde.« (GA 95, 360) – Jünger und Heidegger betonen beide, dass Technik keine angewandte Naturwissenschaft sei, sondern umgekehrt die Naturwissenschaft die Technik voraussetze. Nach Jünger werden die Naturwissenschaften zu »Hilfsdisziplinen der Technik« und ordnen sich ihr unter (Jünger 2010, 100). Heidegger schreibt: »Die moderne Technik ist nicht angewandte Naturwissenschaft, vielmehr ist die neuzeitliche Naturwissenschaft Anwendung des Wesens der Technik […].« (GA 79, 43) Neben der Beschreibung von Krisensymptomen der technischen Welt erstellen Jünger und Heidegger auch eine Ursachendiagnostik. Beide sind sich einig, dass nicht die Technik selbst das Problem ist. Vielmehr liegt die Wurzel des Problems in einer veränderten Einstellung des Menschen zur Natur, die sich zu Beginn der Neuzeit anbahnt. Wenn man einen Hauptschuldigen für die Misere benennen müsste, würden Heidegger und Jünger René Descartes verantwortlich machen. Indem Descartes die »res extensa« als tote Materie begreift, die allein mechanischen Gesetzen gehorcht, schafft er nach Jünger die philosophische Voraussetzung für eine technische Manipulierbarkeit der 49 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Natur (Jünger 2010, 40 ff.). Für Heidegger ist es die Subjekt-ObjektSpaltung, die das Sein auf ein bloßes Vorhandensein und den Menschen auf ein »subiectum« reduziert und so der »Vorherrschaft des mathematischen Methodengedankens« zum Durchbruch verhilft (GA 36/37, 46). Durch die Reduktion der Natur auf »res extensa« wird die neuzeitliche Technik erst möglich (GA 48, 204 f.). Dementsprechend hart fällt Heideggers Urteil über Descartes aus: »Dieser angebliche Neuanfang der neuzeitlichen Philosophie mit Descartes besteht nicht nur nicht, sondern ist in Wahrheit der Beginn eines weiteren wesentlichen Verfalls der Philosophie.« (GA 36/37, 39) Damit stellt sich ähnlich wie bei Spengler die Geschichte des Abendlandes als eine Verfallsgeschichte dar. In der Neuzeit gerät das Sein aus dem Blick, die Wissenschaft betrachtet nur noch Seiendes und dieses allein im Hinblick auf seine mögliche Quantifizierbarkeit. Heidegger nennt das »Seinsvergessenheit« bzw. »Seinsverlassenheit«: »Hier gelangt bereits die seit langem schwelende »Seinsvergessenheit« zur Herrschaft; man meint, ohne das Sein »denken« zu können, dergestalt, daß das Sein als Gegenständlichkeit zum Gemächte des Denkens im Sinne der rechnenden Vergegenständlichung gemacht wird.« (GA 97, 92) Die Seinsvergessenheit beginnt bereits vor Descartes und reicht weiter in die Vergangenheit zurück. In den »Schwarzen Heften« spricht Heidegger von einer »bald dreitausendjährigen Seinsvergessenheit« (GA 97, 164). Das heißt, dass die Seinsvergessenheit spätestens mit Platon beginnt. Daher hat das neuzeitliche Technikverständnis bereits bei Platon seine Wurzeln: »Der Wesensursprung der neuzeitlichen Technik liegt im Beginn der Metaphysik bei Platon.« (GA 52, 91) Heidegger schreibt, dass das Wesen der Technik nichts Technisches ist (GA 7, 7; GA 79, 60). Damit ist gemeint, dass die Technik nicht einfach die Gesamtheit der Artefakte, Geräte und Maschinen darstellt und auch nicht als Mittel zur Erfüllung eines Zwecks verstanden werden kann. Technik ist für Heidegger eine besondere Weise, sich zum Sein zu verhalten. Diese ontologische Einstellung ändert sich mit Platon. Das neue Seinsverständnis kommt aber erst zu Beginn der Neuzeit zu voller Entfaltung, weil von nun an die Natur zu etwas technisch Verfügbarem, zu Masse und Material wird. Jetzt wird die Technik zum »Ge-stell«, womit das Stellen und Herausfordern der Natur gemeint ist. Indem der Mensch die Natur objektiviert und damit zum bloßen Objekt der Vorstellung und des Handelns macht, wird er unfähig, sich dem Sein verstehend zu öffnen. Die »Besonnen50 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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heit« geht verloren. Alles wird berechnet, geplant, organisiert und gemacht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Begriffe Berechnung, Planung, Organisation und Machenschaft – allesamt Kennzeichen moderner Technik – negativ konnotiert sind. Unter Machenschaft versteht Heidegger die »schrankenlose Machbarkeit alles Seienden« (GA 96, 79). 10 Durch die Erfahrung des zweiten Weltkriegs und der Nachricht vom Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki verdüstert sich Heideggers Technikpessimismus und wird immer apokalyptischer. Jetzt hält er es sogar für möglich, dass die ganze Erde zerstört werden könnte: »Sobald die letzten Hemmungen vor der Verwüstung überwunden und »Zerstörungen« nur als behelfsmäßige Durchgänge erkannt sind, ergibt sich für das ordnungswillige Menschentum die Chance einer völligen Verrechnung des Erdballs auf seine »Güter« und »Werte« bis zu jener Aussicht, ein »Potential« von Kräften aufzuspeichern, das hinreichen kann, im notlosesten Zeitpunkt des Zeitalters der völligen Notlosigkeit den Erdball mitsamt seiner Luft einer Sprengladung auszuliefern. Dieses Zersprengen des Erdballs durch das animal rationale wird der letzte Akt der Neuordnung sein.« (GA 71, 101 f.)

Diesen letzten Akt der Selbstzerstörung hält Heidegger nicht einmal für ein Unglück, wie er seinen Denktagebüchern anvertraut: »Der [en] letzter Akt wird sein, daß sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet. Was kein Unglück ist, sondern die erste Reinigung des Seins von seiner tiefsten Verunstaltung durch die Vormacht des Seienden.« (GA 96, 238) Während er sich in seinem Technik-Vortrag von 1952 noch auf Hölderlin bezieht und die Möglichkeit einer Rettung sieht (»Wo die Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«), äußert Heidegger im Spiegel-Interview von 1966 jenen berühmten Satz »Nur noch ein Gott kann uns retten« (GA 16, 671). Die Gefahr, die von der Technik ausgeht ist eine Folge der Seinsvergessenheit, die sich wie ein Virus in der abendländischen Kultur ausbreitet. Diese Krankheit ließe sich nur therapieren, wenn man zum Denken der Vorsokratiker zurückkehren würde. Der Mensch müsse die Fähigkeit wieder erlernen, das Sein zu »vernehmen«, um Der Machenschaft entspricht bei F. G. Jünger der Begriff des »Funktionalismus«, womit im Grunde genommen dasselbe gemeint ist: die Instrumentalisierung und Funktionalisierung von Objekten.

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so das Anwesende zu »entbergen«. Das rechnende Denken muss durch ein besinnliches Denken ersetzt werden. Letztlich ist es seine eigene Philosophie, die er als einzig mögliche Rettung empfiehlt, um die Welt vor dem Untergang zu bewahren. Die Gefahr geht nicht nur vom »Gestell« aus, die Krise erstreckt sich auf alle Erscheinungsformen der Moderne. Bleibt die Kulturkritik in Heideggers zu Lebzeiten veröffentlichten Schriften weitgehend im Hintergrund, tritt sie in den nachgelassenen Schwarzen Heften offen zu Tage. Hier tut sich eine verborgene Schicht in seinem Denken auf, die nicht nur eine tiefe Verachtung der Moderne, sondern auch seine reaktionäre antidemokratische und antisemitische Gesinnung zum Ausdruck bringt. Heidegger glaubt, dass die Machenschaft, d. h. das technisch-instrumentelle Denken, die Kultur infiziere und schwäche. In den Massenmedien Radio, Fernsehen und Kino sieht er eine »Verwüstung des Geistes« am Werk (GA 96, 229). Kultur ist für ihn zu einem »Vergnügungsbetrieb« verkommen, der nur noch der Unterhaltung dient (ebd.). Besonders heftig wettert Heidegger gegen den »Journalismus«, den er wie folgt definiert: »Er ist die technische Organisation der für die Öffentlichkeit notwendigen Illusionen, nach denen das »Volk«, d. h. die Masse sich einbildet, sie bestimme sich selbst und herrsche.« (GA 97, 146) Der journalistische Geist ist für ihn »verheerender als die Hitzewelle der Atombombe« (GA 97, 154). Er verbreite einen »Schein von Sein« (ebd.) und sorge für die »gründlichste Ausrottung des Denkens« (GA 97, 155). 11 Man muss sich fragen, woher das Ressentiment gegen die Moderne und die Aversion gegen die Technik kommt. Ist es nur eine rückwärtsgewandte konservative Gesinnung oder der naive Wunsch nach Rückkehr in die heile Welt der Vorsokratiker? Heideggers Modernitätsflucht kann aus der Perspektive seiner ländlichen Herkunft und persönlichen Erfahrung verstanden werden. Heidegger betont immer wieder seine »Zugehörigkeit zu den Bauern« und lobt die »alemannisch-schwäbische Bodenständigkeit« (GA 13, 11). Er vergleicht seine Arbeit mit der eines Bauern (GA 13, 10). Der Feldweg und die Schwarzwaldhütte bilden die Rückzugsorte für sein Denken. Bäuerliche Metaphern wie Feldweg, Lichtung oder »Hirt des Seins« sind Schlüsselbegriffe seiner Philosophie. Daher zieht er das ruhige Ähnlich vernichtend fällt Heideggers Urteil über die Demokratie aus: »Demokratie ist Anarchie« (GA 97, 461), der »Deckname für den planetarischen Schwindel« (GA 97, 146).

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Leben in der Provinz dem lärmenden Großstadtleben vor (Friesen 2012). Im Gegensatz von Stadt und Land kommt auch der Unterschied zwischen modernem Leben und traditioneller vormoderner Lebensweise zum Ausdruck. Das Eindringen moderner Technik, die Rationalisierung der Landwirtschaft und das Vordringen der Massenmedien in die entlegensten Schwarzwalddörfer stellt für ihn eine Bedrohung des traditionellen Bauerntums, ja sogar ein Anzeichen eines metaphysischen Verfalls dar. Das stille Vernehmen des Seins wird durch das Lärmen der Maschinen und Motoren gestört. Wenn im Feldweg die Spur von Traktoren verläuft, so sieht Heidegger darin eine Zerstörung ländlicher Unversehrtheit (GA 97, 512). In dem Bremer Vortrag über »Das Ge-Stell« von 1949 stellt Heidegger den motorisierten Ackerbau sogar mit dem Holocaust oder dem Bau von Wasserstoffbomben auf die gleiche Stufe (GA 79, 27). Dies ist kein sprachlicher Missgriff, sondern aus seiner Sicht ontologisch konsequent, da das Sein dadurch verwüstet wird. Ein Zitat aus den Schwarzen Heften macht die empfundene Bedrohung der naturverbundenen Lebensweise durch die Zudringlichkeiten der Moderne deutlich: »Die Welt des abgelegensten deutschen Bauernhofes wird nicht mehr durch das Geheimnis der Gezeiten des Jahres, durch die »Natur« bestimmt, in der noch die Erde waltet, sondern durch das illustrierte Blatt mit der Darstellung von ausgezogenen Film- und Tanzweibern, von Boxern und Rennfahrern und sonstigen »Helden« des Tages. Hier handelt es sich nicht mehr um Zerstörung der »Sittlichkeit« und des »Anstandes«, sondern um einen metaphysischen Vorgang, um die Ver-wüstung jeder Möglichkeit des Seyns in das Gemächte des machbaren – her- und vorstellbaren Seienden. Zum elektrischen Pflug und zum Motorrad, das in einer Stunde zur nächsten Großstadt befördert, gehört das amerikanisch aufgemachte »Magazin« und illustrierte Blatt, gehört die Angleichung der Sitten der Bergbewohner an diejenigen des großstädtischen Sport- und Barbetriebs.« (GA 96, 54)

Die Geschmacklosigkeiten der Illustrierten und die in ihnen gezeigte »Darstellung von ausgezogenen Film- und Tanzweibern« (ebd.) hat mit Technik direkt nichts zu tun und ist eine vielleicht beklagenswerte, aber nichtsdestoweniger unvermeidliche Begleiterscheinung der Moderne. Moderne Kultur ist immer mit moderner Technik verbunden. Die Technik wird damit zur Projektionsfläche für Heideggers Ressentiment gegen die Moderne. Am »Gestell« und seinen Machenschaften kann das Leiden an der Moderne philosophisch abgearbeitet werden. 53 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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10. Schluss Technisierung und Modernisierung hängen eng zusammen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Technikkritik immer auch eine Kritik an der Moderne darstellt. Oftmals bildet die Technik eine Projektionsfläche für tief sitzende Ängste oder ein Gefühl der Überforderung, Entfremdung und Verunsicherung. Der Mensch wird aus dem sicheren, vorhersehbaren Leben der Vormoderne in die unübersichtliche, komplexe Welt der Moderne geworfen. Technik kann bedrohlich wirken. Maschinen gelten traditionell als kalt und gefühllos und ersetzen menschliche Arbeit. Sie stehen für Regelhaftigkeit, Funktionalität und Gottlosigkeit und sind daher ein Symbol der neuen Zeit, in der alles zweckrational, produktiv und effektiv zu geschehen hat und der Mensch ebenso wie eine Maschine eine Funktion zu erfüllen hat. Aber was sind die Alternativen? Ein romantisches Zurück zur Natur oder ein Zurück zu den Vorsokratikern ist nicht mehr möglich. Erewhon bleibt eine Utopie, ein Nirgendwo-Ort. Eine andere Welt ohne Kapitalismus, ohne Herrschaft und ohne Sachzwänge bleibt ein Wunschtraum. Die Technik wird zur zweiten Natur des Menschen. Technikkritik im Sinne einer kritischen Reflexion über die Ziele und Zwecke technischen Handelns ist sinnvoll und unverzichtbar. Sie darf aber kein Schwarz-Weiß-Denken produzieren und Innovationen grundsätzlich ablehnen. Technikkritik soll Oliver Müller zufolge »der kritischen Selbstverständigung über den Charakter der Zivilisation, in der wir leben und aus der heraus wir unsere Entscheidungen fällen« dienen (Müller 2010, 15). Die enge Verschränkung von Technik und Kultur zeigt, dass man Technik nicht als eine eigenständige Wirkungsmacht betrachten kann, die – wie bei F. G. Jünger – alles in ihren Bann zieht und ihr untertan macht. Vielmehr sollte man immer auch den Einfluss von Kultur und Gesellschaft auf technische Entwicklungen berücksichtigen. Technik entwickelt sich nicht deterministisch, sondern ist gestaltbar. Der Mensch ist daher kein Sklave der Technik, sondern kann mit ihrer Hilfe die Zukunft – zum Guten oder zum Schlechten – gestalten.

Literatur Balke, F. (2013): Ernst Jünger. Kontroversen über den Nihilismus. In: D. Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Stuttgart, Weimar (2. Aufl.), S. 381–388.

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Nadine Kleine

Die historische Ambivalenz von Technikpessimismus und Technikoptimismus: Zur gesellschaftlichen Technikbewertung in der BRD 1.

Einleitung

Technische Innovationen wurden seit jeher aus unterschiedlicher Perspektive heraus bewertet. Es verwundert also nicht, dass die Industrialisierungsprozesse, die damit einhergehenden technischen Entwicklungen und die daraus wiederum resultierenden sozialen, politischen, kulturellen und ökologischen Folgen ein lautes gesellschaftliches Echo provozieren. Mit der Anzahl und Reichweite neuer Technologien wuchsen sowohl die euphorischen als auch kritischen Stimmen, die deren Einführung begleiteten. Von der Lokomotive und dem Automobil über das Fließband in der Fabrik und dem Fernsehapparat im Wohnzimmer bis hin zu Robotik und Gentechnologie – kaum eine technische Innovation wird einhellig bewertet. Technik war stets mit unterschiedlichen Hoffnungen und Befürchtungen verbunden, die im gesellschaftlichen Diskurs aufeinanderprallen. Die oft beschriebene Ambivalenz, die sich dabei einstellt, legt die Vermutung nahe, dass die unterschiedlich gelagerten Sichtweisen auf Technik sich früher oder später ausgleichen. Allerdings greift diese Vorstellung zu kurz, um den komplexen Dynamiken und verschiedenen Einflüssen auf die Technikbewertung gerecht zu werden. Um der Ambivalenzthese nachzugehen, ist es daher notwendig, eben diese Dynamiken genauer zu betrachten. In diesem Aufsatz werden Technikoptimismus und -pessimismus als die extremen Pole eines Kontinuums der gesellschaftlichen Technikbewertung gegenübergestellt. Nach einem kurzen Überblick der wichtigsten historischen Entwicklungen des betrachteten Zeitraums werden die Charakteristika und zugrundeliegenden Einstellungen der beiden vermeintlich kontrastierenden Positionen dargestellt. Um die Merkmale, aber auch die Komplexität von Technikbewertung zu verdeutlichen, werden exemplarisch der gesellschaftliche 57 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Wahrnehmungsverlauf zweier Technologien skizziert, die unsere Gesellschaft im 20. Jahrhundert nachhaltig geprägt haben: Die Automatisierung der Industrie und die Atomkraft. Daran anknüpfend werden verschiedene Faktoren aufgezeigt, die die Technikbewertung zu beeinflussen scheinen, um anschließend die These der Ambivalenz gesellschaftlicher Technikbewertung überprüfen zu können. Die folgenden Ausführungen werden sich vornehmlich auf die Bundesrepublik Deutschland beziehen, da trotz vieler Parallelen zu anderen Industriestaaten historische, kulturelle und politische Unterschiede bestehen, die die gesellschaftliche Technikbewertung beeinflussen. Aus den gleichen Gründen konzentrieren sich die Ausführungen insbesondere auf den Zeitraum von 1945 bis 1989. Der Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg und der industrielle Massenmord des Holocaust stellen eine Zäsur dar, die eine gleichförmige Betrachtung der Zeit vor und nach 1945 unmöglich macht. Auch die Auflösung der DDR und die deutsche Wiedervereinigung brachten erhebliche gesellschaftliche Auswirkungen mit sich, so dass der Zeitraum nach 1989 ebenfalls nicht genauer untersucht wird. Diese Einschränkungen sind faktisch nicht immer exakt möglich, ohne relevante Entwicklungen fatalerweise zu ignorieren; daher sind sie als selektiv durchlässige Fokussierung zu verstehen. Es gibt ganz verschiedene disziplinäre Ansätze der Technikbewertung, die einer genauen Untersuchung wert wären. An dieser Stelle ist das Ziel jedoch nicht, die Technikbewertung einer konkreten Akteursgruppe oder Wissenschaft lückenlos nachzuzeichnen – dies wäre in diesem Umfang nicht zu bewerkstelligen 1 – sondern vielmehr einen Überblick über die wichtigsten gesellschaftlichen Strömungen zu geben. Um diese nachzuzeichnen wird auf die ganze Bandbreite der in diese Debatte eingeflossenen Materialien zurückgegriffen, insbesondere auf historische und prognostische Technikeinschätzungen in Berichten, Studien und Streitschriften von relevanten VertreterInnen des gesellschaftlichen Diskurses.

Eine sehr ausführliche und empfehlenswerte Übersicht über die verschiedenen Theorien der Technikbewertung findet sich bei Johan Hendrik Jacob van der Pot (1985a, b).

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Relevante Entwicklungen seit 1945 – ein Überblick

Um die nachfolgenden Ausführungen über sowohl technikoptimistische und technikpessimistische Ströme als auch die Bewertungsverläufe konkreter Technologien besser nachvollziehen zu können, soll vorweg ein kurzer Überblick über die relevantesten Entwicklungen gegeben werden. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatte der Wiederaufbau in den kriegszerstörten Staaten oberste Priorität. Die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland konnte sich, nicht zuletzt dank der durch die Industrialisierung stetig verbesserten Produktionsbedingungen und den Subventionen im Rahmen des Marshallplans, wirtschaftlich schnell erholen. Durch die frühe Aufhebung von Sanktionen wurde die Entwicklung der Wirtschaft und Industrie erfolgreich angestoßen. Westdeutschland entwickelte sich zu einem der führenden Produktexportländer; der Wohlstand der Bevölkerung stieg rasant. Dieses sogenannte Wirtschaftswunder der 1950er Jahre führte zur Vollbeschäftigung, einer wachsenden Konsumorientierung der Gesellschaft und, nicht zuletzt als Folge der Bestrebungen nach politischer und sozialer Stabilität, zum Ausbau des Wohlfahrtstaates (Butschek 2006, 127, 133; Kleinschmidt 2007, 54 f., 59 ff.; Radkau 2008, 330 f., 335 ff.). Die 1950er und 1960er Jahre waren geprägt von der Vorstellung der technischen Machbarkeit und des Wachstumsoptimismus (Grunwald 2010, 21 ff.). Saubere Energieversorgung, Automobilverkehr für alle, die erste Mondlandung – alles schien möglich. Ende der 1960er Jahre entwickelten sich gesellschaftliche Bewegungen, die gegen die herrschende politische und soziale Ordnung protestierten. Dies beinhaltete eine umfassende Kritik an dem direkt und indirekt dem Industrialisierungsprozess zugeschriebenen, stetig beschleunigten gesellschaftlichen Wandel und dem damit einhergehenden Kontrollverlust über das wirtschaftliche und technische Geschehen (Butschek 2006, 127; Sieferle 2 1984, 235 f.). Die gesellTrotz späterer höchst fragwürdiger Veröffentlichungen von R. P. Sieferle wurde sein Werk »Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart« (1984) nach kritischer Lektüre für diese Arbeit als Quelle herangezogen, da es aus einer umweltgeschichtlichen Perspektive heraus einen interessanten Überblick über die verschiedenen Strömungen der Technikbewertung bietet und (anders als in seinen nachfolgenden Veröffentlichungen ab Mitte der 1990er Jahre) keine geschichtsrevisionistischen Züge aufweist.

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schaftliche Skepsis gegenüber neuen Technologien wuchs durch ökonomische und ökologische Katastrophen der 1970er Jahre, die der breiten Öffentlichkeit die negativen Folgen der Industrialisierung vor Augen führten. Dazu gehören unter anderem die Ölpreiskrisen 1973 und 1979, der Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972), der die verheerenden zukünftigen Folgen der Industrialisierung skizziert, und zahlreiche Fälle von umweltschädlichen Betriebsunfällen. Die Grenzen der technischen Gestaltbarkeit des Lebens wurden sichtbar – und damit zunehmend die möglichen Technikfolgen, die mit dem Atomreaktorunfall von Tschernobyl 1986 einen katastrophalen Höhepunkt fanden (Grunwald 2010, 20 ff.; Kleinschmidt 2007, 69; Kunze 2013, 69 ff.). Auf politischer Ebene führte das Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion ebenfalls zu großer gesellschaftlicher Unsicherheit. In vielen industrialisierten Staaten entstand eine schnell wachsende Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegung, die in der BRD Anfang der 1980er Jahre zum Einzug einer neuen Partei, den Grünen, in Landtage und schließlich auch in den Bundestag führte (Hillengaß 2011, 36; Toffler 1970, 356). Parallel dazu verschob sich im Laufe der 1970er und 1980er Jahre der Fokus auch in der wissenschaftlichen Debatte von nachträglicher zu prospektiver Technik- und Risikobeurteilung: Der Philosoph Hans Jonas rief zur verantwortungsvollen Techniknutzung auf und dazu, »der Unheilprophezeiung mehr Gehör zu geben […] als der Heilsprophezeiung« (1979, 70), der Soziologe Ulrich Beck (1986) beschwor die Risikogesellschaft, nicht mehr nur die Natur, sondern auch die Folgen der eingesetzen Technik beherrschen zu lernen. Dies spiegelt sich ebenfalls in der partiellen Implementierung des Vorsorgeprinzips in den politischen und wissenschaftlichen Institionen der BRD wider, insbesondere im Hinblick auf Umweltrisiken; die Gesetzgebung wurde angepasst und die Diziplin der Technikfolgenabschätzung entstand (Calliess 2013, 391 ff.; Dusseldorp 2013, 395 ff.). Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde durch den Politikwissenschaftler Francis Fukuyama das Ende der Geschichte verkündet, begründet durch die Vorstellung, dass Demokratie und (liberale) Marktwirtschaft als einzig verbleibende Systeme nun nicht mehr nur in den westlichen Industriestaaten, sondern überall ihre Verbreitung finden würden. Mit der Verbreitung des PCs und dem Aufkommen des Internets wurden zunächst Arbeitsplätze und Haushalte, dann nahezu alle Lebensbereiche vollends technisiert. Diese 60 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Entwicklung, die insbesondere seit den 1980er Jahren an Fahrt aufnahm und bis heute andauert, brachte eine Entwicklung mit sich, die durch stetig und immer schneller wachsende Informationsmengen und deren vernetzte, globale Verbreitung und Verarbeitung geprägt ist (Kleinschmidt 2007, 72 ff.).

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Technikpessimismus vs. Technikoptimismus

Vor der Betrachtung historischer Beispiele gesellschaftlicher Technikbewertung ist es notwendig, sich zuerst den zugrundeliegenden Vorstellungen und Entwicklungen zu widmen, die die beiden Pole des Technikpessimismus und Technikoptimismus charakterisieren.

3.1 Technikpessimismus Pessimistische Haltungen gegenüber neuen Technologien begleiteten den Industrialisierungsprozess von Beginn an. Während diese sich vor den beiden Weltkriegen insbesondere aus romantisch geprägten Rückkehrphantasien zur vorindustriellen Zeit speisten, war diese Vision nach 1945 kaum noch verbreitet. Die Abkehr von diesen romantischen Ideen resultierte zum einen aus der Distanzierung zur völkischen Ideologie nach dem Ende des Nationalsozialismus, zum anderen aus dem Bewusstsein, dass der Industrialisierungsprozess und die damit einhergehende Technisierung unumkehrbar waren (Dvorak 1948, 78; Sieferle 1984, 154 ff., 194 ff., 224 ff.). Die Technikkritik des in der Tradition von Oswald Spengler und Ernst Jünger 3 stehenden Konservativismus der Nachkriegszeit war meist Teil einer breiter aufgestellten Zivilisationskritik. In diesem Zusammenhang ist Zivilisation als Ergebnis der Industrialisierung und zugleich als Gegensatz zur menschlichen Kultur betrachtet worden: Zivilisation ist nicht mit dem Wesen des Menschen verbunden, Der antidemokratische Kulturpessimist Oswald Spengler beschrieb in »Der Untergang des Abendlandes« (1918 bzw. 1922) und in »Der Mensch und die Technik« (1931) den nahenden Untergang der technisch fokussierten und der menschlichen Kultur entgegengesetzten Zivilisation, da er deren Zenit bereits überschritten sah. Der nationalkonservative Schriftsteller Ernst Jünger stellte sich insbesondere in seinem Aufsatz »Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt« (1932) gegen das moderne Bild des Arbeiters, der für ihn die Abkehr von Kultur und höheren Werten symbolisierte.

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sondern rein rational agierend (Dvorak 1948, 36 ff.). Dies bedeutete jedoch keine absolute Negierung der positiven Aspekte – nicht einmal mehr die radikalsten technikpessimistischen VertreterInnen dieser Kritik stritten ab, dass die technische Zivilisation (zunächst!) Vorteile für weite Teile der industrialisierten Gesellschaften mit sich gebracht hatte. Allerdings zog man daraus nicht den Schluss, dass die positiven Folgen auch wirklich überwögen, sondern vielmehr, dass alle wie auch gearteten Folgen in erster Linie immer extremer würden (van der Pot 1985a, 156 f.). Dies würde jedoch nicht zu einem Ausgleich, sondern schlussendlich zu einem Übermaß an katastrophalen Konsequenzen führen: »[Die technische Zivilisation] versprach Fülle und brachte Mangel; sie versprach Komfort und brachte Primitivität; sie versprach Sicherheit und brachte Unsicherheit und Bedrohung; sie versprach Zeit und brachte Hast und Eile; sie versprach Freiheit und brachte uns Abhängigkeit; sie versprach Humanität und brachte Barbarei; sie versprach Aufklärung und allgemeine Bildung und brachte Propaganda und Massenwahn.« (Dvorak 1948, 38)

Das ganze Ausmaß der vernichtenden Gewalt entfesselter Technik wurde spätestens durch die beiden Weltkriege ersichtlich. Die Bilder der nationalsozialistischen Vernichtungslager und der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki führten der Menschheit das Maßlose der negativen Auswirkungen von Technik vor Augen (van der Pot 1985a, 274 f.; Zbinden 1954, 24 ff.). Für Dvorak (1948) überwog dies alle Vorteile, die die Zivilisation vorher mit sich gebracht hatte, und verursachte darüber hinaus so viel Leid und kulturellen Rückschritt wie kein Krieg zuvor. Die Konsequenzen des wissenschaftlichen und kulturellen Nihilismus, der der technischen Zivilisation zugrunde läge, zeigten sich für ihn in aller Deutlichkeit (Dvorak 1948, 39 ff., 46, 70 ff.). Die Abkehr von traditionellen Normen und Werten wurde nicht nur hinsichtlich der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs kritisiert. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist der gesellschaftliche und geistige Verfall durch Technikeinsatz eine beständige Befürchtung. Eine wichtige Rolle spielt die Vermassung, hervorgerufen beispielsweise durch die Massenproduktion von Konsumgütern und die wachsende Verbreitung von Massenmedien. Letztere wurden, insbesondere durch das Bildungsbürgertum 4, als Gefahr für die Kultur 4

Die Vermassung wurde bezeichnenderweise oft von antiegalitären Gruppen kriti-

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wahrgenommen (Sieferle 1984, 231 f.; van der Pot 1985a, 212, 258, 264 f., 275; Zbinden 1970, 13 f., 34 f.). Neben der ästhetischen und qualitativen Verschlechterung von Kultur- und Konsumgütern werden auch die direkten Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft kritisiert: Die Grundprinzipien der industriellen Produktion – Rationalisierung, Normierung, Standardisierung – wurden auf den Menschen selbst angewandt (Jünger 1953, 67–70). Sie würden nicht nur seine Arbeitsweise und Lebensgestaltung formen, sondern führten insgesamt zu einer »Gleichförmigkeit des Erlebens, Denkens, Wertens, eine Entpersönlichung im Urteilen und Wählen« (Zbinden 1970, 34). Es breite sich ein gesellschaftlicher Konformitätsdruck aus, der keinen Platz für Individualität oder kulturelle Diversität zuließe. Das Versprechen der individuellen Freiheit durch Technik sei ein Trugschluss; stattdessen würde der Mensch durch Vorgaben eingeschränkt und wäre nur noch Teil der Masse. Der Mensch würde darauf reduziert, zu funktionieren ohne darin einen tieferen Sinn zu erkennen – er stumpfe ab und agiere nicht mehr schöpferisch (Dvorak 1948, 42 ff.; Jünger 1953, 68 ff., 90 ff., 110 f.; van der Pot 1985a, 178 f., 186, 197 f., 202 ff., 266; Zbinden 1954, 13 ff., 92 ff.). Die verbreitete Vorstellung der Entfremdung des Menschen findet sich sowohl in der konservativen als auch in der marxistischen Beurteilung des Industrialisierungsprozesses – allerdings mit einem bedeutenden Unterschied: Während in marxistischen Theorien der Kapitalismus Technik für seine Zwecke nutzt, um den Menschen zu unterdrücken, sehen konservative Technikkritiker im Wesen der Technik den Grund der menschlichen Unfreiheit. Der aus der Vermassung resultierende Verlust der Individualität wird als Gefahr für die Humanität selbst betrachtet (Berger 1991, 435 ff.; Dvorak 1948, 45 f., 51; Jünger 1953, 26 ff., 71 ff.; van der Pot 1985a, 176, 205, 436 ff.). Technikpessimistische Haltungen waren jedoch nach 1945, auch dank des Wirtschaftswunders, kein Massenphänomen. Allerdings kam es in den 1960er Jahren zu gesellschaftlichen Umbrüchen, die der Technikeuphorie ein Ende setzten. Proteste entstanden, die sich vom Fortschrittsparadigma lösten und einen gesellschaftlichen Wandel forderten: In der Nachkriegsgeneration formte sich Widerstand siert, die sich durch ebendiese Kritik von der »Masse« abgrenzen wollten. Obwohl es diese Art von (nicht nur technischer) Kulturkritik bis heute gibt, ist die Zahl ihrer Vertreter sehr überschaubar (siehe auch Siefert 1985, 231 ff.).

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gegen restriktive Strukturen, was in der BRD auch eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nach sich zog. Angesichts des Vietnamkrieges und des Kalten Krieges formierte sich eine breite Friedensbewegung; Rufe gegen den Kapitalismus und für Emanzipation wurden laut. Diese neuartige Strömung war auf zweifache Art bemerkenswert: Zum einen handelte es sich um eine pluralistische Gruppe, die die Gesellschaft auf breiter Ebene mobilisierte 5. Zum anderen war diese Bewegung im Vergleich zu früheren linken Protesten nicht nur kapitalismus- sondern direkt industrialisierungsund technikfeindlich. Man ging nicht mehr davon aus, dass Technik, sobald Produktionsmittel und Produktivkräfte nicht mehr von einigen wenigen KapitalistInnen beherrscht wurden, gesellschaftlichen Vorteil bringen kann. Vielmehr lehnte man Technik per se ab, da sie für die negativ wahrgenommenen Folgen der Industrialisierung verantwortlich gemacht wurde: Konsumorientierung, inhumane Arbeitsbedingungen und imperialistische Bestrebungen, die zu Ausbeutung und Krieg führten (Berger 1991, 5 f.; Sieferle 1984, 235 ff., 247). Diese Proteste verstärkten sich durch das immer klarer erkennbare Ende des Wachstums: Die Energiekrise Anfang der 1970er Jahre führte zu einer Wirtschaftskrise und einem damit einhergehenden Anstieg von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit in der BRD. Die Folgen massiver Umweltverschmutzung und -zerstörung, die aus der Industrialisierung resultierten, wurden zu dieser Zeit ebenfalls deutlich: Die für alle sichtbare starke Verschmutzung von Flüssen und Seen sowie das Waldsterben symbolisierten die Grenzen der ökologischen Belastbarkeit. Hinzu kamen wachsende Vorbehalte gegenüber Atomkraftwerken. Die linken Bewegungen, die in der BRD bis dato vor allem der sozialen Frage nachgegangen waren und, anders als beispielsweise in den USA, ökologische Aspekte lange Zeit ignorierten, integrierten diese nun zunehmend in ihre Forderungen. Die ökologischen, ökonomischen und sozialen Probleme wurden als Krise der Industrialisierung wahrgenommen (Berger 1991, 3 ff.; Sieferle 1984, 27, 157 ff., 231 f., 241 ff., 258; Toffler 1975, 13; Zbinden 1970, 41 ff.). Technikkritische Tendenzen wuchsen, nicht zuletzt aufgrund einer Verstärkung der genannten Krisen, im Laufe der 1970er und 1980er Die tatsächliche Integration nichtakademischer Kreise in die Bewegung ist bis heute umstritten. Jedoch sind die breiten gesellschaftlichen Auswirkungen, die aus den Protesten der sogenannten 68er und Folgebewegungen nachhaltig resultieren, kaum zu leugnen.

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Jahre zu einer gesellschaftlich sehr verbreiteten technikpessimistischen Stimmung. Der Glaube, dass Technik alle Probleme lösen könne, war erschüttert. Angesichts der potenziellen Technikfolgen kam es zu einer Verschiebung des technikkritischen Fokus: Während lange Zeit der Verlust von Kultur durch Technik befürchtet wurde, entwickelten sich existenzielle Ängste und apokalyptische Vorstellungen über die vollständige Zerstörung des Planeten (Sieferle 1984, 26 f., 247 ff.; van der Pot 1985a, 219, 247 f., 265, 383). Ein weiterer Kritikpunkt ist die wahrgenommene Beschleunigung aller Lebensbereiche und der damit verbundene Druck, bloß nicht den Anschluss zu verlieren. Viele fühlen sich aufgrund der unklaren Richtung, die der Industrialisierungsprozess einschlägt, orientierungslos; der durch Technik angetriebene Wandel und der damit einhergehende kollektive Kontrollverlust erscheinen sehr bedrohlich. Der Wunsch, auszusteigen und sich dem vermeintlich Natürlichen zuzuwenden, findet sich in vielen technikablehnenden Strömungen. Die Unsicherheit angesichts der scheinbar ausweglosen Situation fördert die verzweifelte Suche nach einfachen, allgemeingültigen Lösungsrezepten, wie sie in so manchen spirituellen Ansätzen angeboten werden (Dvorak 1948, 42; Jünger 1953, 54 f.; Toffler 1970, 15 ff., 21 ff., 39 ff., 279 ff.; Zbinden 1959, 87 f.). Die technikpessimistische Haltung zeigt sich auch in der Ablehnung der Fortschrittsidee: Das Versprechen, dass der technische Fortschritt auch gesellschaftlichen Fortschritt mit sich bringe, hat sich in den Augen vieler Menschen nicht erfüllt. Es herrsche eine Diskrepanz zwischen technischem und kulturell-ethischem Fortschritt, da letzterer sich nicht in gleichem Tempo entwickeln könne. Einige technikpessimistische Stimmen gehen sogar davon aus, dass die Technisierung den Menschen unfreier mache, unterdrücke und kulturell zurückwerfe (Jünger 1953, 57, 78, 90, 124; Sieferle 1984, 224, 234, 248; Zbinden 1970, 11 ff., 42). Ein immer wieder auftauchender Topos ist die Angst vor einer möglichen Technokratie. Diese Vorstellung umfasst die Idee eines Staates, der sich mittels Technik effizient organisieren und dadurch das Volk besser überwachen, manipulieren und letztlich auch unterdrücken kann. Informationen und Befugnisse werden zentralisiert, die Macht des Staates damit vergrößert – dieser Sichtweise zufolge begünstigt Technik totalitäre Strukturen. Technokratie ist aus der technikfeindlichen Perspektive nicht nur antidemokratisch, sondern führt zu einer gesellschaftlichen Normierung. Eine weitere Vorstel65 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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lung ist die einer Expertokratie, in der Wissen und Macht bei Ingenieur- und Technikwissenschaften konzentriert werden. Viele sehen einerseits die Gefahr einer unkontrollierbaren, prinzipienlosen technischen Elite, andererseits das Risiko der ideologischen Vereinnahmung von Technik. Das radikalste Bild einer Technokratie schließlich ist die Annahme, dass Technik selbst den Menschen unterwirft. Mit Ausnahme einiger weniger technikfeindlicher KritikerInnen wird die Idee einer unabhängig agierenden Technik in der Regel eher sinnbildlich verstanden, doch hat sie bis heute einen festen Platz in technikkritischen Diskursen (vgl. den Beitrag von Karsten Weber in diesem Band). Seit Technik Einzug in alle Lebensbereiche hielt, habe der Mensch nicht mehr die Wahl, sich gegen sie zu entscheiden: Technik determiniere, wie wir arbeiten, reisen, wohnen und unsere Freizeit verbringen. Je weniger das komplexe Gefüge dahinter verstanden wird, desto eher wird Technik als dämonisch agierender Akteur personifiziert (Dvorak 1948, 36, 47 ff., 79, 81 f.; Hortleder 1970, 105 f., 121 ff., 130 ff.; Quarg 1949, 14 f.; Toffler 1970, 352 ff.; van der Pot 1985a, 144 f., 217 f., 309, 328, 335, 341 ff.; Wagner 2015, 168 f.; Zbinden 1954, 84 f., 91 f.).

3.2 Technikoptimismus Der Industrialisierungsprozess wurde im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts sehr euphorisch begleitet; trotz aufkommender kritischer Stimmen waren technikoptimistische Haltungen, wenn auch beizeiten etwas getrübt, in der BRD nie verschwunden. In den Nachkriegsjahren war es insbesondere die wiederaufgenommene Industrialisierung Westdeutschlands, die zu einem exponentiellen Wirtschaftswachstum und Wohlstand führte. Die direkten positiven Folgen waren gesamtgesellschaftlich zu spüren: Durch verbesserte Produktionsbedingungen kam es zu hohen Beschäftigungsraten, wachsenden Einkommen und kürzeren Arbeitszeiten. Außerdem stieg durch eine verbesserte Gesundheitsversorgung die Lebenserwartung. Technologische Innovationen und deren nahezu flächendeckende Verbreitung in privaten Haushalten – z. B. PKWs, Kühlschränke und Fernsehgeräte – brachten für die meisten BürgerInnen eine Steigerung der Lebensqualität. Nicht nur die ökonomischen, sondern insbesondere die sozialen Folgen wurden vom Großteil der deutschen Bevölkerung sehr positiv bewertet; das Wirtschaftswunder 66 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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brachte eine große soziale Mobilität und Egalisierungsprozesse mit sich, die sich bis in die 1960er Jahre hinein immer mehr zu beschleunigen schienen. Der Glaube an den technischen Fortschritt und ewiges Wachstum, wenn auch in späteren Jahren immer stärker angezweifelt, fand zu dieser Zeit seinen Höhepunkt (Butschek 2006, 182 f.; Sieferle 1985, 14 ff.; Zbinden 1954, 18 ff., 85 f.; Zbinden 1959, 111 ff.). Eine weitere Hoffnung, die sich aus dem technischen Fortschritt speiste, war die Sicherung der Demokratie und des Friedens: Der Industrialisierungsprozess bringe Demokratisierung und wachsende gesellschaftliche Freiheiten mit sich; manche glaubten gar, dass sich diese Entwicklungen wechselseitig bedingen. Durch eine weltweite Steigerung der Lebensqualität und einer durch steigende Mobilisierung ermöglichte Völkerverständigung würde außerdem das innerund interstaatliche Konfliktpotenzial sinken. Die Gefahr, die von existierenden Konflikten und technologisch optimierter militärischer Aufrüstung ausgeht, ist aus technikoptimistischer Sicht ebenfalls dadurch gebannt, dass ein Wettrüsten zwischen Staaten zu einem Gleichgewicht führe; die Angst vor einem Gegenschlag wirke als effektive Abschreckung davor, die eigenen Waffen jemals einzusetzen (Quarg 1949, 41 ff.; van der Pot 1985a, 267, 304 ff., 355, 379 ff.; Zbinden 1954, 86 ff.). Technikoptimistische Abhandlungen der Nachkriegszeit haben nicht selten das Ziel, kritische Argumente zu entkräften. So erklärt beispielsweise Quarg (1949) ausführlich, dass die Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg kein neues Phänomen seien, sondern der Mensch im Laufe der Geschichte oftmals ähnlich grausam gehandelt habe – dies also nicht der Technik zuzuschreiben sei: »Daß die Menschen früherer Zeiten unsere heutigen Zerstörungsmittel noch nicht gehabt haben – benutzt hätten sie sie bestimmt! – beweist in keiner Weise, daß sie »besser« gewesen wären als wir.« (ebd., 20) Die Angst vor der Zerstörung des Planeten wird ebenso als unhaltbare Schwarzmalerei abgetan wie der Vorwurf, Technik zerstöre jegliche Kultur und Moral. Im Gegenteil: Die vor den beiden Weltkriegen verbreitete Vorstellung, dass der technische Fortschritt ein Garant für kulturelle und sittliche Entwicklung sei, findet sich nach wie vor in der BRD – wenngleich in deutlich abgeschwächter Form. Insbesondere VertreterInnen der Kybernetik erhofften sich durch technische Neuerungen einen gesellschaftlichen Fortschritt. Der kulturpessimistische Vorwurf eines aufkommenden Nihilismus wird zurückgewiesen, die ver67 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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meintlich undifferenzierte Ablehnung des technischen Fortschritts und seines gesellschaftlichen Potenzials wird als destruktiv verurteilt (Quarg 1949, 40, 44 ff.; van der Pot 1985a, 144, 158 ff., 211, 226 f., 266 ff., 275 f.). Auch die Behauptung, Technikeinsatz führe zur Vermassung, wird als antiegalitäre und vergangenheitsbeschönigende Haltung kritisiert: Erstens seien Kollektivierungsprozesse kein Phänomen der Industrialisierung, sondern existierten bereits davor. Zweitens könne die individualisierte Entwicklung durch die Zunahme von Wahlmöglichkeiten und -freiheiten sogar gefördert werden (Brinkmann 1957, 476 f.; Zbinden 1959, 43; Zbinden 1970, 35 ff.). TechnikoptimistInnen werfen KritikerInnen im Gegenzug Scheinheiligkeit vor: Die gesellschaftlichen Vorteile der Technik würden bei deren Bewertung ignoriert werden, während gleichzeitig die Errungenschaften genutzt würden: keine technikpessimistische Abhandlung würde heute noch bei Kerzenlicht mit Tinte auf Pergament verfasst. Sie plädieren dafür, sich nicht auf die vermeintlich negativen Aspekte zu konzentrieren, sondern den Fortschritt als Ganzes in den Blick zu nehmen: »Wer sich aus solcher trüben Stimmungslage erhebt und den Blick aus solcher einseitigen Betrachtung über die Gesamtheit der Erscheinungen ausdehnt, wird durch ein weniger düsteres Bild und vielleicht sogar durch eine freundliche Aussicht belohnt werden.« (Quarg 1949, 15 f.)

Eine radikale Ablehnung von Technik könne nicht nur innovationshemmend oder sogar entwicklungszerstörend wirken (Quarg 1949, 38, 44 ff.; van der Pot 1985a, 146, 333), sondern sich sogar zu einem »zukunftsfeindliche[n] Faschismus« (Toffler 1970, 339) entwickeln. Nachteile, die mit der Technisierung einhergehen, werden von technikoptimistischer Seite nicht ignoriert. Allerdings geht man davon aus, dass die Vorteile bei weitem überwiegen und dass die entstandenen Probleme durch den Einsatz weiterer Technik lösbar seien. Der Glaube an das technisch Machbare wird durch die zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfindungen noch verstärkt. Insbesondere in progressiven Kreisen und fortschrittszugewandten Branchen begegnete man der Überzeugung, Technik könne früher oder später alle Probleme lösen (Toffler 1970, 32 f., 37 f.; Zbinden 1954, 21 f.). Das Bild der Technik als Heilsbringerin resultiert teilweise aus technokratischen Vorstellungen: Da Technik weniger fehleranfällig und wesentlich effizienter als der Mensch sei, wäre deren Einsatz 68 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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überall dort, wo es möglich sei, erstrebenswert. Nach dieser Vorstellung wäre Technik, ebenso wie die Wissenschaft, normativ neutral; Akteure aus Forschung und Entwicklung verfolgten keine eigenen Ziele, die dem übergeordneten Gemeinwohl entgegenstünden. Aus diesem Grund ist aus der technikoptimistischen Perspektive eine Herrschaft durch Technik und Wissenschaft, die nicht durch politische oder wirtschaftliche Interessen beeinflusst werden, durchaus wünschenswert. Technokratische Vorstellungen wurden in unterschiedlich starken Tendenzen vertreten: Radikale Ansätze sind, während sie in den 1920er Jahren als Technocracy-Bewegung Zuspruch fanden, im weiteren historischen Verlauf nur noch punktuell in technikgläubigen Kleingruppen zu finden. Technik wird hier in fast religiöser Manier als Allheilmittel für sämtliche gesellschaftlichen Probleme gefeiert, Zweifel an der technischen Unfehlbarkeit kommen selten auf; in dieser Vorstellung ist jede technische Utopie früher oder später umsetzbar. Eine Idealvorstellung ist hier der technisch optimierte Mensch als nächste Evolutionsstufe. Gemäßigtere Ansätze, die eine wissenschaftliche Begleitung und Beratung politischer Entscheidungen vorsahen, finden mehr Zuspruch – insbesondere bei hochkomplexen Sachverhalten, die für Laien nur schwer zu verstehen sind. In dieser Vorstellung hat Wissenschaft und Technik eine Kontrollfunktion gegenüber dem Staat inne (Brinkmann 1957, 475 f.; Gerlach 1971, 66 ff.; Hortleder 1970, 150 ff., 165; Wagner 2015, 143 ff.). Die gemäßigtere Vorstellung von Technokratie resultiert aus der Ansicht, dass Technik aufgrund ihrer normativen Neutralität keine ethischen Entscheidungen determinieren könne – die Aufrechterhaltung moralischer Werte obliege nach wie vor dem Menschen. Technische Entwicklungen haben das Potenzial, gesellschaftliche Probleme zu lösen; um sie in die gewünschten Bahnen zu lenken, müssen entsprechende politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, die das Fortschrittsprimat verinnerlicht haben. Statt einer entfesselten Technik passiv gegenüberzustehen, die ihrem neutralen Charakter entsprechend keine eigenen Interessen verfolgen kann, sollte der Mensch die Chance nutzen, sie so zu gestalten, dass sie der kulturellen, politischen, wirtschaftlichen oder ökologischen Entwicklung dienlich ist. Technischer Fortschritt solle nicht aufgehalten werden, um positive Vorgänge nicht zu gefährden; regulativ solle nur dann eingegriffen werden, wenn es notwendig wird. Dies betrifft auch die Geschwindigkeit des Fortschritts: Der Mensch sollte sich so 69 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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gut wie möglich an Neuerungen anpassen; wenn die Grenzen der Anpassungsfähigkeit erreicht sind und die Vorteile des Technikeinsatzes dementsprechend nicht mehr vollständig zum Tragen kommen, könne eingegriffen werden – allerdings ohne sich der weiteren Entwicklung zu verschließen. Die Gestaltung von Technik sollte dabei, ganz im Sinne der wechselseitigen Beziehung von Industrialisierung und Demokratie, gesamtgesellschaftlich vonstattengehen (Toffler 1970, 262, 294 ff., 337 ff., 376 ff.; Toffler 1975, 72 ff.; Zbinden 1954, 103 ff., 126 ff.; Zbinden 1970, 49 ff.). Der lauter werdenden Forderung nach einem sozialverträglichen Technikfortschritt liegen drei Annahmen zugrunde, die in technikoptimistischen Positionen sehr verbreitet sind: Erstens verdeutlicht es den Glauben in die Unaufhaltsamkeit des technischen Fortschritts. Demzufolge gibt es keinen Weg zurück in vorindustrielle Zeiten, die angesichts der damaligen Lebensqualität ohnehin nicht wünschenswert sind. Zweitens zeigt sich daran die Haltung dazu, wie groß die Wechselwirkung von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt ist. Es sei nicht möglich, sich neuen Technologien langfristig und in Gänze zu verschließen, sie hätten in jedem Fall Folgen für unser kulturelles, soziales und politisches Miteinander. Drittens wird Technik als normativ neutrales Mittel charakterisiert, das selbst keine individuellen oder gesellschaftlichen Interessen determinieren könne. In diesem Bild ist Technik vor allen Dingen ein Werkzeug, das den Menschen befähigt, es nach eigenen Vorstellungen zu nutzen. Aus diesen Annahmen folgt, dass Technik sozial determiniert ist bzw. werden sollte. Nicht Technik unterwerfe Menschen, sondern allenfalls Menschen mithilfe von Technik. Vielmehr habe sie das Potenzial Menschen dabei zu helfen positive Entwicklungen voranzutreiben – doch das liege stets in der Verantwortung der Menschen selbst. Negative Folgen können nicht der Technik zur Last gelegt werden, sondern nur denjenigen, die Technik gestalten und einsetzen (Toffler 1970, 345 ff.; van der Pot 1985a, 21, 271 f.; Zbinden 1954, 19 f., 31 ff., 73, 102, 129, 134).

70 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Die historische Ambivalenz von Technikpessimismus und Technikoptimismus

4.

Historische Beispiele der ambivalenten Technikwahrnehmung

Um die Ambivalenz und zugleich die Dynamik zu veranschaulichen, wird im Folgenden die gesellschaftliche Wahrnehmung zweier der wirkmächtigsten Technologien der letzten Jahrzehnte knapp nachgezeichnet: die Automatisierung der Industrie und die Nutzung der Atomkraft.

4.1 Automatisierung der Industrie Eine technische Vision der Industrialisierung ist die vollständige Automatisierung sämtlicher Arbeitsprozesse. Ziel ist dabei die Übernahme der Steuerung und Regelung der Produktion, aber auch der Logistik und der Verwaltung. Der Automatisierungsprozess, ausgelöst durch die Elektrifizierung Ende des 19. Jahrhunderts und verstärkt durch die Computerisierung, die ab den 1950er Jahren begann, ist eine der bedeutendsten industriellen Entwicklungen (Brinkmann 1957, 471 f., 479, 482 ff.; Toffler 1970, 33 f.). Die Vision einer automatisierten Industrie beschreibt eine rationalisierte und standardisierte Arbeitsweise, in der alle gesundheitsoder gar lebensgefährlichen Aufgaben von Maschinen übernommen werden. Diese arbeiten nicht nur genauer, sondern auch wesentlich effizienter, was eine zunehmende Massenproduktion ermöglicht. Dies sollte zur Entlastung der ArbeiterInnen führen: Sichere Arbeitsplätze und kürzere Arbeitszeiten sorgten nicht nur für eine bessere Gesundheit, sondern auch für neue Aufgaben: Statt selbst schwerer körperlicher Arbeit nachzugehen, sollte der Mensch die Prozesse überwachen und, wenn notwendig, nachsteuern: »Man stelle sich eine Fabrik vor, die so sauber und geräumig ist und ebenso pausenlos arbeitet wie ein Wasserwerk. Die Fabrikationshallen sind menschenleer. Nur ein paar Ingenieure, Techniker und Monteure […] beobachten die Instrumente, […] korrigieren Fehler durch Betätigung eines Hebels oder Drehen eines Knopfes. Alles andere geht automatisch vor sich.« (Leaver und Brown 1947, zitiert nach Brinkmann 1957, 484)

Diese Veränderungen der Arbeit würden außerdem einen Anstieg der Freizeit mit sich bringen – eine Entwicklung, die das gesellschaftliche Leben nachhaltig verändern sollte: Der Mensch soll nicht nur für die 71 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nadine Kleine

Arbeit leben, sondern darüber hinaus mit verschiedenen Freizeitaktivitäten sein Leben selbst gestalten. Die übergeordnete Hoffnung, die technikoptimistische Stimmen bezüglich der Automation hatten, war nicht weniger als die Befreiung der ArbeiterInnen (Goeschel 1971, 102 f.; McLuhan 1972, 78 ff., 90 f.; van der Pot 1985a, 336). Dieser positiven Vision wurde auf verschiedenen Ebenen widersprochen: Eine große Befürchtung angesichts aufkommender Automatisierungsprozesse war die Monotonisierung der Arbeit: Das Bild des entfremdeten und von der Maschine beherrschten Arbeiters, das Charlie Chaplin im Film Moderne Zeiten (1936) schuf, wurde zum Sinnbild der negativen Folgen der Automatisierung. Die Arbeit würde durch den Einsatz von Maschinen und dementsprechend neuen Zielvorgaben für den übriggebliebenen Arbeiter immer mehr statt weniger werden. Diese Kritik war nicht nur gegen die Technik, sondern oft auch gegen die kapitalistischen Strukturen industrieller Produktion gerichtet. Eine andere, stets vorherrschende Sorge war die Angst vor Arbeitsplatzabbau, der konsequenterweise auf die technische Übernahme einfacher Aufgaben folgen musste. Kulturkritische VertreterInnen argumentierten zudem, dass die normierte Massenproduktion die Vermassung der Gesellschaft fördere und Individualität zerstöre – sowohl bei den Beschäftigten und Betrieben als auch bei den KonsumentInnen. Auch die zunehmende Freizeit und die damit gewonnene Gestaltungsfreiheit wurde von einigen kritisch betrachtet, da aus ihrer Sicht ArbeiterInnen nicht fähig seien, diese Zeit kreativ zur nutzen (Brinkmann 1957, 472 ff., 478, 487; Jünger 1953, 14 ff., 38 ff., 66 ff., 74 ff.; van der Pot 1985a, 434 ff.; Zbinden 1954, 122 ff.). Auch wenn viele dieser Befürchtungen bis heute bestehen, so wurden von technikoptimistischer Seite Argumente hervorgebracht, die einige Kritikpunkte widerlegen sollten. Die Angst vor Arbeitsplatzverlusten beispielsweise sahen sie als ungerechtfertigt an, da die wachsende Produktion zusätzliche Tätigkeitsbereiche schaffen würde. Zudem sei die Automatisierung von Arbeitsplätzen strukturell sogar wünschenswert, da in der BRD der demografische Wandel zu einer immer älteren Bevölkerung führe. Das Bild der kollektiven Fließbandarbeit sei überholt; durch die Abgabe von Routinearbeiten an die Technik konzentriere sich der Mensch zunehmend auf schöpferische Aufgaben und stetig neue Herausforderungen, die nach Ansicht vieler beschwichtigender Fürsprecher der Automatisierung niemals

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Die historische Ambivalenz von Technikpessimismus und Technikoptimismus

durch Technik übernommen werden könnten. 6 Statt einer einmaligen Ausbildung und einer lebenslangen, immer gleichen Arbeit habe der Mensch nun die Möglichkeit, sich ständig durch Weiterbildungen und lebenslanges Lernen weiterzuentwickeln. Die wenigen monotonen Arbeiten, die noch von Menschen ausgeführt werden, würden, zumindest in Zeiten des Wirtschaftswunders, durch Arbeitszeitverkürzung, Lohnerhöhungen und Aufgabenrotationen angenehmer gestaltet. Nicht nur hinsichtlich der Aufgaben, sondern auch bezüglich der Produkte ließe sich der Vorwurf der Vermassung keineswegs immer aufrechterhalten. Durch die Nutzung von Sensorik und Informationsübermittlung sei es möglich, die Produktion flexibel an die Nachfrage anzupassen; selbst Sonderanfertigungen stellten technisch kaum noch Probleme dar (Brinkmann 1957, 477 f., 486 ff.; Goeschl 1971, 103 f.; McLuhan 1972, 78 ff.; van der Pot 1985a, 447 ff.; Zbinden 1954, 118 ff.; Zbinden 1970, 32 ff., 46 f.). Allerdings wird Kritik bezüglich der neuen Aufgaben für Industriebeschäftige laut: Die ermüdenden Kontrollaufgaben seien in ihrer Eintönigkeit und ihrem entfremdenden Charakter nicht besser als Fließbandarbeit. Hinzu komme nun die Verantwortung für einen störungsfreien Ablauf einer komplexen technischen Apparatur zu sorgen. Außerdem ließe sich die Annahme, dass Automatisierungsprozesse nicht zur Arbeitslosigkeit führen würden, aus technikpessimistischer Perspektive wenn überhaupt, so allenfalls in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs aufrechterhalten – und auch dann sei eine umfassende Neustrukturierung des Arbeitsmarktes notwendig, um ungelernte und niedrig qualifizierte Beschäftigte weiterhin zu integrieren. Das Bildungssystem müsse den neuen Anforderungen entsprechend angepasst werden, sodass sowohl eine ausreichende Grundausbildung als auch die Möglichkeit zu Weiterbildungen und Umschulungen gegeben seien. Dabei wird jedoch zu bedenken gegeben, dass nicht alle Menschen zur hochqualifizierten Arbeitskraft ausgebildet werden könnten; die Sorge um die Zukunft niedrigqualifizierter und wegrationalisierbarer Arbeitskräfte wächst hierdurch. Notwendige Änderungen des Bildungs-, Wirtschafts- und Sozialsystems stellten Gesellschaft und Politik vor große Herausforderungen, die nicht ohne Probleme zu meistern wären (Brinkmann 1957, 488 ff.; Derzeit wird im Zusammenhang mit Industrie 4.0, Robotik und Digitalisierung erneut eine ähnliche Auseinandersetzung geführt.

6

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Goeschl 1971, 104; Toffler 1975, 88 ff.; Zbinden 1959, 78, 83 ff., 89, 97 ff.).

4.2 Atomkraft Kaum eine Technologie hat seit ihrer Erfindung so viel Hoffnungen und gleichzeitig so viele Ängste geweckt wie die Atomkraft. »[Die] künstliche Freimachung der Atomkernenergie und ihre technische Nutzbarkeit« (Gerlach 1971, 72) wurde ab Ende des Zweiten Weltkrieges zum bestimmenden Faktor in den Diskursen um eine Friedens- und Energiepolitik der industrialisierten Länder. Die Entwicklung der Atombombe, deren Vernichtungspotenzial der Welt durch den Abwurf über Hiroshima und Nagasaki vor Augen geführt wurde, war die erste Anwendung dieser bahnbrechenden Technologie. Die Angst vor einem Atomkrieg, insbesondere angesichts der faktischen Unumkehrbarkeit dieser Erfindung und der politischen Spannungen während des Kalten Krieges, war bei TechnikoptimistInnen wie TechnikpessimistInnen verbreitet. Zahlreiche WissenschaftlerInnen, nicht zuletzt unter den EntwicklerInnen der Atombombe selbst, forderten international bindende Abkommen zur verantwortungsvollen Nutzung der Atomkraft. Einige hofften auf ein Gleichgewicht in der Aufrüstung, das den Frieden sichern sollte. Die Nutzbarmachung von Atomkraft sollte nun insbesondere zivilen und friedlichen Zwecken dienen (Broda 1957, 156 f., 174 ff.; Dvorak 1948, 71 ff., 83; Gerlach 1971, 68, 72 f.; Oppenheimer 1957, 10 ff., 43, 53). In Anbetracht der scheinbar immer knapper werdenden Energieressourcen bei gleichzeitig wachsendem Bedarf galt die atomare Stromerzeugung als unverzichtbare Option zur Deckung des Energieverbrauchs: »Zivile Atomkraftwerke waren zu Pflugscharen umgeschmiedete Schwerter; der größte Schrecken, der die Menschheit bedrohte, konnte in den größten Segen verwandelt werden, wenn es gelang, die Kraft des Atoms zu bändigen und eine unerschöpfliche Energiequelle zur Verfügung zu stellen.« (Sieferle 1984, 229)

Kernenergie wurde der große Hoffnungsträger, um das (weltweite) Energieproblem zu lösen: Atomkraft versprach nicht nur unerschöpfliche und, im Vergleich zur Kohle, saubere Energie, sondern auch eine 74 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Die historische Ambivalenz von Technikpessimismus und Technikoptimismus

Unabhängigkeit von anderen, ressourcenstarken Ländern. Somit lautete das große Versprechen des Wirtschaftswunders: mehr Energie, mehr Wohlstand, mehr Lebensqualität. Darüber hinaus wurde propagiert, dass Kernkraft die effizienteste und sicherste Energiequelle sei, sobald die sich in Entwicklung befindlichen Technologien tatsächlich einsatzfähig wären. Doch nicht nur die Stromversorgung der Haushalte und Betriebe sollte so gewährleistet, sondern auch die Energie für Autos, U-Boote, Satelliten, Raumschiffe und sogar Herzschrittmacher geliefert werden. Es gab insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren Visionen, dass mithilfe der Atomkraft Böden und Meere entsalzt und damit zur Nahrungsversorgung genutzt werden könnten; durch Bestrahlung sollten Schädlinge bekämpft und Nahrung haltbarer gemacht werden. Bodenschätze sollten so besser zugänglich gemacht sowie der Bau von Kanälen und Tunneln vereinfacht werden. Die Medizin sollte revolutioniert und Umweltprobleme beseitigt werden. Die Einsatzmöglichkeiten der Atomkraft schienen schier unendlich und besaßen für einige EuphorikerInnen durchaus das Potenzial, internationale politische Zusammenschlüsse zu fördern und den Industrialisierungsprozess weiter voranzutreiben. In der BRD traf diese vielversprechende Technologie daher auf breite Zustimmung (Broda 1957, 140, 145, 152 ff., 181 ff.; Hillengaß 2011, 9 f., 21, 25 f.; Högselius 2011, 102 ff.; Seaborg 1971, 199 ff.). Skepsis an der friedlichen Nutzung der Atomkraft gab es, trotz der Furcht vor der Atombombe, zunächst nur sehr vereinzelt und betraf vor allem das Risiko einer missbräuchlichen, militärischen Nutzung der Anlagen und der Monopolisierung der Energieindustrie. Die Besorgnis wuchs jedoch im Laufe der 1960er und 1970er, nicht zuletzt aufgrund der nicht eingehaltenen Versprechen: Die Stromerzeugung war wegen des nicht geschlossenen Brennstoffkreislaufs nicht wirklich effizient, die vielgepriesenen Schnellen Brüter erwiesen sich als gescheiterte Technologie. Die notwendigen staatlichen Förderungen führten das Bild des günstigen Energieträgers ad absurdum. Dafür wurden Nebenfolgen sichtbar, die in der anfänglichen Euphorie keine Beachtung gefunden hatten: Gesundheitliche und genetische Schäden, die aus dem Kontakt mit radioaktiven Substanzen und Bestrahlung resultierten, und die fehlende Sicherstellung der Zwischen- und Endlagerung des Atommülls wurden der Öffentlichkeit langsam bewusst; Fragen nach den ökologischen Folgen wurden ebenfalls lauter. Ab Mitte der 1960er Jahren kam es zudem immer wieder zu Unfällen in Reaktoren und Wiederaufbereitungsanlagen 75 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nadine Kleine

(Berger 1991, 8 f.; Högselius 2011, 104 ff.; Kämpfer und Siebenkotten 1980, 9, 18, 24 ff.; Sieferle 1984, 229 f., 245 f.). Dieses wachsende Misstrauen gegenüber der Atomkraft nahm insbesondere ab den 1970er Jahren Fahrt auf – jedoch vorerst nur an Orten, deren BewohnerInnen durch die Planung oder den Bau von Atomkraftwerken (AKW) und Zwischenlagern direkt betroffen waren. Dieser lokale Widerstand entwickelte sich im Laufe der 1970er und 1980er Jahren zu einem republikweiten Protest, der sich in Anti-AKW-Verbänden, Naturschutzorganisationen und sogar einer neuen Partei, den Grünen, manifestierte. Einen großen Zulauf bekam der Protest durch den Reaktorunfall in Harrisburg 1979 und insbesondere durch den Super-GAU in Tschernobyl 1986. Atomkraft-KritikerInnen forderten Energieeinsparungsmaßnahmen, Entwicklungsförderung für alternative Energiequellen, einen Baustopp für neue und die dauerhafte Abschaltung bestehender Atomreaktoren (Hillengaß 2011, 26 ff., 36; Kämpfer und Siebenkotten 1980, 33 ff., 58 ff.). Der starke Widerstand gegen die Atomenergie kam für die VerfechterInnen der Technologie überraschend – nicht zuletzt für die bundesdeutschen PolitikerInnen, die sich lange parteiübergreifend für die friedliche Nutzung von Atomkraft ausgesprochen hatten. Nach anhaltenden Protesten und öffentlichem Druck kam es teilweise zu politischen Zugeständnissen bezüglich einer kritischen Überprüfung von Atomkraft; dennoch wurde der Politik unterstellt, sich von der Atomkraftlobby vereinnahmen zu lassen und die positiven und negativen Aspekte der Technologie nicht gleichermaßen zu berücksichtigen. Die Technikgläubigen lehnten die Kritik an der Atomkraft als irrational ab, da die Vorteile schließlich klar auf der Hand lägen und das Risiko gering sei. Das Misstrauen gegenüber der vielversprechenden Technologie war in ihren Augen fortschrittsfeindlich und innovationshemmend. Nachdem durch den Reaktorunfall in Tschernobyl die Gefahren von Atomkraftwerken deutlich sichtbar wurden, argumentierten die BefürworterInnen, dass die Vorteile für die internationale Weltgemeinschaft, vor allem für die weniger industrialisierten Staaten, dennoch größer seien als die potenziellen Nachteile – insbesondere, da die nun bekannten Risiken durch neue Technik sicherlich minimiert werden könnten. Die wachsende Sorge bezüglich des Klimawandels führte jenseits der Anti-AKW-Bewegung zu einer öffentlichen Prioritätenverschiebung: Das Risiko von Kohlekraftwerken wird nun teilweise höher bewertet, so dass Atomkraft, zumindest solange Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen noch nicht aus76 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Die historische Ambivalenz von Technikpessimismus und Technikoptimismus

reicht, in vielen Ländern vorerst als alternativlos gilt (Berger 1991, 7 ff.; Hillengaß 2011, 21, 32 ff.; Högselius 2011, 106 ff.; Kämpfer und Siebenkotten 1980, 38 ff., 48 ff.).

5.

Mögliche Einflussfaktoren auf die Technikwahrnehmung

Diese Skizze gesellschaftlicher Bewertungsverläufe der industriellen Automatisierung und der Nutzung der Atomkraft lässt nochmals ersichtlich werden, wie wandelbar und komplex dieser Vorgang sein kann. Zudem liegt der Verdacht nahe, dass eine Vielzahl verschiedener Faktoren Einfluss auf die Einstellungen gegenüber Technik nehmen. Da an dieser Stelle eine systematische Analyse zu weit führen würde, werden hier lediglich die hier auffällig gewordenen Faktoren kurz dargestellt, um die Vielschichtigkeit der Technikbewertung zu verdeutlichen. Ein wichtiger Aspekt ist der kulturell-ideologische Hintergrund, da er sich sowohl auf das Menschen- als auch auf das Technikbild auswirkt und damit auf die Einschätzung der Mensch-Technik-Beziehung. Die Frage, wer dabei über wen bestimmt, und inwiefern Technik noch durch den Menschen gestaltbar ist bzw. dessen Leben bestimmt, scheint einer der wichtigsten Unterschiede zwischen der technikoptimistischen und -pessimistischen Perspektive zu sein. Die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen sind ebenfalls maßgebend, da sie sich direkt auf das Sicherheitsgefühl auswirken können, z. B. bei Wirtschaftskrisen oder friedensgefährdenden Konflikten. Auch die wahrgenommenen Machtverhältnisse – und damit die Kontrollmöglichkeiten – zwischen relevanten politischen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren können hierbei bedeutsam sein. Natürlich hat die Beschaffenheit der Technik selbst Einfluss auf ihre Bewertung. Sie ist zum einen abhängig vom Einsatzfeld; so kann eine militärische Nutzung gänzlich anders beurteilt werden als ein friedlicher Einsatz. Zudem hängt sie davon ab, wie sozialverträglich die Technik gestaltet und wie einfach sie zu implementieren ist. Eine große Rolle spielen die potenziellen Risiken und faktischen Folgen von Technik, beispielsweise für Umwelt, Gesundheit und Lebensgestaltung. Überdies ist die individuelle Perspektive der wertenden Person hinsichtlich der konkreten Technologie ein wichtiger Faktor. Diese 77 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nadine Kleine

umfasst zum einen die verfolgten Interessen und die Bewertung der individuellen möglichen Kosten und des Nutzens, zum anderen den Grad der Betroffenheit durch Auswirkungen der Technik und ihren möglichen Folgen. Ausschlaggebend kann außerdem sein, inwiefern Abhängigkeiten zur Technik bestehen und ob es Alternativen gibt. Auch die Existenz von Lösungsansätzen für Probleme, die mit der Technik einhergehen, kann sich auf deren Bewertung auswirken.

6.

Fazit

Ablehnung und Akzeptanz der Technik nahmen im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus noch radikale Züge an. Gänzlich einseitige Betrachtungsweisen sind jedoch zunehmend seltener geworden – nicht zuletzt aufgrund der allgemeinen Einsicht, dass der technische Fortschritt unumkehrbar ist. Während Technik früher entweder als Heilsbringerin oder als Dämonin personifiziert wurde, wurde im Laufe der Zeit akzeptiert, dass die Wertgeladenheit der Technik durch jene bewirkt wird, die sie nutzen. Simplifizierende Bilder finden sich zwar nach wie vor im öffentlichen Diskurs; doch allgemein wird immer differenzierter das Potenzial sowohl für positive als auch für negative Entwicklungen wahrgenommen. Unterschiede in der Bewertung liegen nun vielmehr darin, wie die zukünftige Ausrichtung und Gestaltbarkeit eingeschätzt wird: KritikerInnen befürchten, dass auf lange Sicht die negativen Aspekte überwiegen werden und die Menschen kaum noch Chancen hätten, Technikprozesse zu gestalten, sondern vielmehr von diesen Prozessen selbst beherrscht werden würden. OptimistInnen gehen eher davon aus, dass durch die Industrialisierung auftretende Probleme lösbar seien und der technische Fortschritt insgesamt zu einem gesellschaftlichen Fortschritt führen werde, da er von Menschen gestaltet werden könne. Dies zeigt sich symptomatisch in der unterschiedlichen Beurteilung technokratischer Ansätze: Aus technikkritischer Perspektive würde aus der Vormachtstellung von Technik und Wissenschaft im schlimmsten Fall ein unmoralisches, elitäres und unkontrollierbares Herrschaftssystem hervorgehen. In optimistischen Vorstellungen hingegen könnte ein technokratisches System mehr demokratische Kontrolle und Schutz vor intereressensgeleiteter Politik ermöglichen und den technischen Fortschritt voranbringen. 78 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Die historische Ambivalenz von Technikpessimismus und Technikoptimismus

Die, zumindest in der früheren öffentlichen Wahrnehmung existierenden, verhärteten Fronten zwischen TechnikoptimistInnen und -pessimistInnen öffnen sich mit zunehmender Komplexität und Wirkung der Technisierung; der ambivalente Charakter von Technik selbst wird erkennbar, sodass eine positive oder negative Bewertung immer weniger in radikaler Form, sondern eher in Tendenzen – gleichsam in Grautönen – auszumachen ist. In Diskursen über technische Entwicklungen wird zunehmend und von allen Seiten eine differenzierte und allumfassende Auseinandersetzung gefordert. Allerdings ist dies ein hochkomplexer Vorgang, der von einer Vielzahl wandelbarer Faktoren und Rahmenbedingungen bestimmt ist, sodass eine einhellige gesellschaftliche Bewertung von Technik wohl nie möglich sein wird.

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Chemie gibt Brot, Wohlstand, Schönheit – »chemische Utopien« als Treibstoff für den Motor der Modernisierung »Wir machen neue Stoffe mit besseren Eigenschaften!« So formulierte Gerhard Quinkert 1983 in der Grundlagenvorlesung zur organischen Chemie der Johann Wolfgang Goethe-Universität sein Credo und wohl das aller präparativ arbeitenden, neue wie auch bekannte Substanzen synthetisierenden Chemiker (Quinkert 1983). Eberhard Weise, bis zum 30. Juni 1990 Mitglied im Vorstand der Bayer AG Leverkusen und Vorsitzender des Koordinierungsausschusses Toxikologie/Ökologie des Vereins der Chemischen Industrie e. V. (VCI), führte aus: »Produkte gewollt auf den Markt und damit in die Umwelt zu bringen, ist die wesentliche Aufgabe der Chemischen Industrie. Wir sind überzeugt, daß uns die Gesellschaft dazu den Auftrag gegeben hat.« (Weise 1991, 55, Hervorh. i. Orig.) 1 Und im kursorischen chemiehistorischen Rückblick: »Auf der Suche nach besseren Werkstoffen entstanden durch Umwandlung von natürlichen Rohstoffen oder Synthese aus Bausteinen der Natur völlig neue Produkte mit besseren Eigenschaften.« (Weise 1991, 57, Hervorh. i. Orig.). 2 Obwohl sich der Zeitpunkt der postulierten Auftragsvergabe nicht genauer bestimmen lässt, veränderten Chemiker seit der Industrialisierung tatsächlich in großem Umfang die materiale Basis moderner Gesellschaften. Wachsende Erkenntnisse auf dem Gebiet der

Im Gegensatz zu Weise sieht Schramm keine gesellschaftliche Auftragserteilung an die chemische Industrie, sondern im Gegenteil einen von dieser Industrie erst geweckten »Bedarf für eine radikale Chemisierung der Gesellschaft« (Schramm 1991, 53, Hervorh. i. Orig.). 2 Nachfolgend wird der Begriff »Chemie« wahlweise für die Wissenschaft wie für die sie ausübende scientific community verwendet. Chemie ist, was Chemikerinnen machen, wobei im weiteren Verlauf die männliche Bezeichnung alle anderen Geschlechter einschließt. Dieser Hinweis ist umso notwendiger, da »die« Chemikerin in Schmauderer 1973a de facto nicht vorkommt. 1

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Norman Pohl

Chemie und die stetig sich verbessernden Möglichkeiten der Produktion trugen der chemischen Industrie die Charakterisierung einer »science-based industry« ein (Plumpe 1993, 146; Strube 1995, 43). Neue Düngemittel und Agrarchemikalien steigerten die Ernteerträge, neue Konservierungsstoffe und -methoden machten die Lebensmittel haltbarer, neue Farben das Leben bunter, neue Medikamente verlängerten es. Chemie gab Brot, Wohlstand und Schönheit. Maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung kam »chemischen Utopien« zu. Damit sind gedankliche Vorstellungen und Konzepte gemeint, deren Verwirklichungen – oder auch nur die Bemühungen darum – fundamentale Veränderungen in der materialen Basis des produzierenden Gewerbes und der Industrie und damit in den Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaften bewirkten. Ist Technik der Motor der Modernisierung, so sind die zeitlich etwas vorangehenden Entwicklungen der Chemie und der chemischen Industrie in vielen Bereichen der Treibstoff. »Chemische Utopien« können aus dem Bereich der Wissenschaft wie auch aus der chemischen Industrie selbst stammen, aber auch von außen an diese herangetragen werden, etwa durch Literatur, Politik oder Philosophie. »Chemische Utopien« können auch scheitern oder vom Grunde her auf ein Scheitern angelegt sein, was sowohl am historischen Beispiel wie auch in der Diskussion aktueller chemischer Utopien darzustellen ist. Dies alles gilt es in den Blick zu nehmen, um die Rolle »der« Chemie und »der« chemischen Industrie als »Treibstoff« für den »Motor der Moderne« erfassen zu können. Zunächst sind ausgewählte chemische Utopien vorzustellen. Diese zielen häufig auf die Entwicklung zeitgenössisch noch unbekannter Stoffe, denen aber als materiale Basis der Wunschvorstellung eine zentrale Rolle in der Verwirklichung der Utopie zukommt. Verwirklichte chemische Utopien sind für die als exemplarische Metaphern zu verstehenden Bedürfnisse Brot, Schönheit und Wohlstand kurz zu charakterisieren. Und schließlich ist anhand aktueller chemischer Utopien zu diskutieren, ob die Realisierung der materialen Basis tatsächlich zu gesellschaftlichen Veränderungen führte.

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1.

Materiale »chemische Utopien«

Bei einem kurzen Rückblick in die Geschichte der Chemie (Osteroth 1985; Brock 1997; Brock 2000) 3 sind einige, auf die Herstellung bis dato unbekannter Stoffe zielende Utopien augenfällig. Unter diesen sind die eigenschaftslose Urmaterie, ein Alkahest als Universallösemittel, der Stein der Weisen, das Elixier oder Wasser des Lebens, die Quintessenz, das brennende Wasser, das hämmerbare Glas, auch künstliches Gold und Silber (Kopp 1886; Schütt 2000). Nicht synthetisierbar, dennoch von ausgeprägter Relevanz waren im weiteren Sinne Vorstellungen über das auf Galen rückführbare Konzept des Pneumas und der damit verbundenen Lebenskraft (Eckart 1990, 62, 182 f.). Bereits vor Beginn der chemischen Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts waren die genannten Vorstellungen entweder widerlegt oder weitgehend eingelöst. Im Sinne der zugrunde liegenden Theorie herstellbar (Schütt 2000), verschwand die aristotelische Urmaterie spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit den neuen physikalischen und chemischen Theorien zum Aufbau der Materie. Mit der weiterentwickelten Destillationstechnik war im 12. Jahrhundert Ethanol als »neues« Produkt darstellbar, die Eigenschaften des Alkohols – in einer Möglichkeit der wörtlichen Bedeutung: »das Beste herausdestillieren« (Barthel, Stock 1994, 37) – standen aber im Gegensatz zur tradierten chemischen Theorie und wirkten letztlich an deren Überwindung mit, wiewohl dieser Prozess, der hier nicht nachzuzeichnen ist (Weyer 1978a), noch einige Jahrhunderte dauern sollte. Andererseits realisierte das aqua ardens die alchemistisch angestrebte conjunctio oppositorum, die Vereinigung der Gegensätze, und erlangte seit Ende des 13. Jahrhunderts breite Bekanntschaft im lateinischen Mittelalter (Lu, Needham, Needham, 69–78). Gerade im Zusammenhang mit der Verwendung von Alkohol stehen die stofflichen Realisierungen weiterer Utopien, die heute teilweise noch im Namen des Gemisches fortwirken. Das Pneuma als belebender, vielleicht auch brennlicher Hauch, findet sich unter anderem im Geist wieder. Ebenso bedeutet spiritus Geist, doch der unter dieser Kurzbezeichnung in heutiger Handelsabfüllung vergällte, 96 % Ethanol Für einen allgemeinen Überblick zur Historiographie der Geschichte der Chemie noch immer Weyer 1974a, auch Meinel 1984. Als einführender Überblick nach Redaktionsschluss Weyer 2018, mit dem Schwerpunkt auf der Geschichte der Chemie als Wissenschaft.

3

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enthaltende Brennspiritus entspricht dem Pneuma-Konzept nicht im eigentlichen Sinne. Das Wasser des Lebens lebt selbst als Eau de vie fort: entweder sind Früchte mit Alkohol zu destillieren oder der Alkohol ist aus den vergorenen Früchten abzudestillieren. Beschrieb die quinta essentia im aristotelischen Weltbild das unwandelbare fünfte Element jenseits der Sphäre des Mondes (Düring 1966), so waren die alkoholischen Extrakte aus Blüten, Kräutern, Wurzeln und ähnlichem, aus denen zum Beispiel Bitterliköre produziert wurden, nach Paracelsus eben nicht der Auszug des wirksamen Bestandteils aus den Substraten, wiewohl sich seine Ansicht nicht durchsetzte. Gedanklich entwickelte sich daraus aber das Konzept, dass es ausreichend sein könne, nur den oder einige wenige Wirkstoffe chemisch aufzuschließen und zu gewinnen und es nicht in jedem Fall auf die Gesamtheit aller im ursprünglichen Rohstoff vorhandenen Wirkstoffe ankomme, sondern vielmehr den wirksam(st)en Bestandteil in hoher Reinheit. Für die spätere Praxis der chemischen Industrie ist eine abgewandelte Faustregel hinsichtlich lateinisch-deutscher Übersetzungen einschlägig: so wirksam wie möglich und so rein wie nötig. Im strengen Sinne wäre ein Alkahest als Universallösemittel nicht aufzubewahren. Doch selbst für das äußerst aggressive Fluor besteht mit Behältnissen aus dem Fluor enthaltenden Kunststoff Teflon diese Möglichkeit, wodurch Fluor mittelbar in sich selbst aufbewahrt wird. Das hämmerbare oder unzerstörbare Glas herzustellen gelang, ausgehend von der Bologneser Flasche und nach Wechsel der materialen Basis mit dem Acrylglas – »Plexiglas« – erst im 20. Jahrhundert. Auch die Elementumwandlung war nun möglich, die alchemistisch angelegten Versuche wurden jedoch spätestens seit den Arbeiten von Johann Christian Wiegleb (1732–1800) aus ökonomischen Gründen obsolet (Wiegleb 1777). Das Elixier als pulverisierte Form des Steines der Weisen oder auch des Lebenswassers fand in den Wirkungen der Antibiotika eine gewisse Realisierung, wenn auch ewiges Leben sich irdischer Verwirklichung nach wie vor entzieht. Begriffe wandeln auch ihre Bedeutung, tradieren aber die Erinnerung an ihren ursprünglichen Inhalt. Der Stein der Weisen sollte beispielsweise unedle Metalle in edle umwandeln können, ohne sich dabei selbst zu verändern. Ein den theoretischen Vorgaben entsprechendes Produkt war der von Johann Kunckel entwickelte Karfunkelstein, der aber nicht die erwünschten Eigenschaften aufwies, als frühe Realisierung des in Glas verteilten 84 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Goldes aber als Vorläufer der »Nano-Chemie« gilt (Schwedt 2009, 102 f.). Als theoretisches Konzept fanden diese Vorstellungen aber Eingang in die Formulierung der Eigenschaften eines Katalysators durch Wilhelm Ostwald als eine chemische Substanz, die Reaktionen beschleunigt, ohne sich selbst dabei zu verändern. In der Praxis ist aber sehr wohl ein Verbrauch des Katalysators festzustellen, so dass es letzten Endes darum geht, die Ausbeute pro Einheit eingesetzter Katalysatormasse zu verbessern. Diese aus der Alchemie herrührenden, in erster Linie auf eine Erweiterung der materialen Basis chemischen Arbeitens zielenden »chemischen Utopien« sollten, wie das Beispiel der Goldmacherei zeigt, durchaus auch eine Veränderung der ökonomischen Basis der damaligen Gesellschaften wie auch eine Lebensverlängerung bewirken. Diese grundlegenden Ansätze sind auch in späteren »chemischen Utopien« zu finden. Ein aus Anlass der Gründung der Royal Society in England entstandenes Spottgedicht führt mit Bezug auf »die« Chemie folgende Utopien auf: »A newe designe how to make Leather A third Collegiate is now scaning The question most disputed: wheather, Since without Barke there may be taning, Some cheaper way may not be tryed Of making Leather without Hyde.« (Stimson 1932, 113)

Und nach einem Lob der Schrift Fumifugium des Autors John Evelyn (Evelyn 1661/1999) heißt es als Zukunftsaufgabe (Stimson 1932, 116): »And without fuell or smoake make fire Some other Member will aspire.«

Nach zweieinhalb Jahrhunderten ist das Problem der Ledergerbung durch die Chromgerbung seit Anfang des 20. Jahrhunderts gelöst (Schlottau 1993). Dreieinhalb Jahrhunderte später sind durch Kunststoffe lederartige Materialien auch ohne Häute oder Felle darstellbar, und die Energieversorgung kommt in Teilen ohne Rauch und Feuer und im Fall der Solarenergie auch ohne herkömmlichen Brennstoff aus. Alle chemischen Utopien der nächsten Jahrzehnte nachzuzeichnen ist hier nicht der Platz. Jedoch: August Bebel, Arbeiterführer und 85 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie, zitierte in seinem weit verbreiteten Werk »Die Frau und der Sozialismus« Auszüge einer Rede des von ihm als französischen Industrieminister bezeichneten Chemikers Marcelin Berthelot (1827–1907). Berthelot sprach im Frühjahr 1894, genauer sind Zeit und Ort seiner Rede von Bebel nicht angegeben, vor führenden Vertretern der chemischen Industrie Frankreichs und umriss dabei die Aufgaben »der« Chemie für die nächsten hundert Jahre nach Bebel wie folgt (Bebel 1964, 435 f.): »Ums Jahr 2000 werde es keine Landwirtschaft und keine Bauern mehr geben, denn die Chemie werde die bisherige Bodenkulturexistenz aufgehoben haben. Es werde keine Kohlenschächte und also auch keine Bergarbeiterstreiks mehr geben. Die Brennstoffe seien ersetzt durch chemische und physikalische Prozesse. […] Das Problem der Industrie bestehe darin, Kraftquellen zu finden, die unerschöpflich sind und mit möglichst wenig Arbeit sich erneuern. Bisher haben wir Dampf erzeugt durch die chemische Energie verbrannter Steinkohlen; aber die Steinkohle sei beschwerlich zu gewinnen und ihr Vorrat nehme von Tag zu Tag ab. Man müsse daran denken, die Sonnenwärme und die Hitze des Erdinnern zu benützen. […] Mit der Erdwärme würden sich zahlreiche chemische Probleme lösen lassen, darunter das höchste Problem der Chemie, die Herstellung der Nahrungsmittel auf chemischem Wege. […] Was die Pflanzen bisher taten, werde die Industrie tun, und vollkommener als die Natur. Es werde die Zeit kommen, wo jedermann eine Dose mit Chemikalien in der Tasche trage, aus der er sein Nahrungsbedürfnis an Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten befriedige, unbekümmert um Tages- und Jahreszeit, um Regen und Trockenheit, um Fröste, Hagel und verheerende Insekten. Dann werde eine Umwälzung eintreten, von der man sich jetzt noch keinen Begriff machen könne. Fruchtfelder, Weinberge und Viehweiden würden verschwinden; der Mensch würde an Milde und Moral gewinnen, weil er nicht mehr vom Mord und von der Zerstörung lebender Wesen lebe. Dann werde auch der Unterschied zwischen fruchtbaren und unfruchtbaren Gegenden fallen […]. Die Erde werde nicht mehr, sozusagen, entstellt durch die geometrischen Figuren, die jetzt der Ackerbau ziehe, sondern sie werde ein Garten, in dem man sich nach Belieben Gras und Blumen, Busch und Wald wachsen lassen könne, und in dem das Menschengeschlecht im Überfluß, im goldenen Zeitalter leben werde.«

»[V]ollkommener als die Natur« – Berthelot sprach damit ein tradiertes Leitbild der Chemie an: die Orientierung auf die Entwicklung und Herstellung von Stoffen mit »besseren« Eigenschaften in einer »natürlich« nicht vorhanden Menge und Güte mit dem Ziel der Beseitigung jedweder Knappheit. »[N]atürlich nicht vorhanden« bedeutet in 86 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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diesem Zusammenhang, dass die gesuchten Stoffe weder auffindbar sind noch montanistisch, handwerklich oder landwirtschaftlich herzustellen sind. Ob Berthelot die auch seinerzeit schon aufgetretenen Umweltbelastungen durch die chemische Produktion ansprach, ist bei Bebel nicht überliefert. Ein eingeschränkter Zugriff auf natürliche Rohstoffe tritt vor allem auch in Krisen- und Kriegszeiten auf. Grundsätzlich sind dabei mit chemischen Verfahren Ersatzstoffe immer gewinnbar, wobei die Frage der Knappheit dann zumeist hinsichtlich einer ausreichenden Energieversorgung besteht. Künstlicher Kautschuk, aus Kohle durch verschiedene Verfahren hergestellter Treibstoff, der Einsatz von Leichtmetallen oder die Ammoniaksynthese zur Gewährleistung einer zur Kriegsführung ausreichenden Versorgung mit Sprengstoffen sind wohl bekannte Beispiele (agitatorisch: Zischka 1937). 4 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung resümierten Schmidt und Fischbeck: »Es soll sich jeder Chemiker dessen bewußt sein, daß die moderne chemische Industrie in viel stärkerem Maße die Lebensbedingungen der Menschen verändert, als dies bisher vorauszusehen war. Zu dem Schlagwort des vorherrschend mechanisch technischen Zeitalters: ›Mensch und Maschine‹ tritt ein neues symbolhaftes Wort: ›Mensch und Stoff‹.« (Schmidt, Fischbeck 1943, 5) Die Linderung der Abhängigkeiten von Naturstoffen bis hin zu deren gänzlicher Überwindung war oft genug Gegenstand literarischer Darstellungen, die das wissenschaftliche chemische Arbeiten und die verfahrenstechnischen Umsetzungen als heldenhaften Kampf gegen Schwierigkeiten und Hindernisse und nicht zuletzt als nationale – auch: nationalsozialistische – Großtat gegen militärische wie politische Gegner Deutschlands und dabei zugleich als Realisierung chemischer Utopien stilisierten (Schmidt, Fischbeck 1934/1943; auch: Schenzinger 1937; Schenzinger 1953). Die Verwicklung in den Krieg ist Thema, die Kriegsverbrechen der I.G. Farben nicht: »Stickstoff, Buna, Kohlehydrierung waren die Pfeiler der I.G. Farbenindustrie A.G. Auch sie ist nicht an einem Tage gebaut, wohl aber an einem Tage zerschlagen worden.« (Schenzinger 1953, 5). Im gleichen Sinne äußert sich, als Fachbuch gegeben, jedoch im Einzelnen manchmal äußerst fragwürdig, Teltschik in seiner Geschichte der Schmidt, Fischbeck (1943, 4) verwiesen auf die »laufende Aufsatzreihe ›Die Chemie im Dienste der nationalen Rohstoffversorgung‹ in der Chemiker-Zeitung in den Jahren vor dem gegenwärtigen Kriege«.

4

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deutschen Großchemie (Teltschik 1992, 185–212). Dieser Ansatz wurde systemübergreifend verfolgt, allerdings dann mit geänderter Schwerpunktsetzung, nämlich der Schilderung von Arbeitskämpfen und dem Brechen kapitalistischer Monopole durch die Sowjetunion, etwa in einer Romantrilogie: »Roman eines Rohstoffes« oder »Roman eines Werkstoffes« oder »Roman eines Kunststoffes« (Künne 1968; Künne 1979; Künne 1985). Carl Wurster, Vorsitzender des Vorstands der nach dem zweiten Weltkrieg wiedergegründeten BASF, wandelte 1960 substanzorientierte chemische Utopien in funktionenorientierte um. Auf deren Basis ermögliche es »die Chemie […] Arbeit [zu] sparen und Zeit [zu] gewinnen«, war also geradezu Voraussetzung für Muße, doch »liegt es bei uns selbst, beim einzelnen Menschen, ob die gewonnene Zeit wirklich zur Muße wird, und man könnte auch hier wieder darüber philosophieren, was denn Muße ist.« (Wurster 1965, 6) Die Veränderungen in den Verfahren der chemischen Produktion stellten die chemische Industrie gleichsam an die Spitze einer geistigen Befreiung des werktätigen Menschen: »Selbst schon die Art der Erzeugung chemischer Güter, also die Arbeit in der chemischen Industrie, hat neue Lebensformen mit sich gebracht durch das Zurücktreten der manuellen Tätigkeit und durch die Automatisierung im weitesten Sinne des Wortes. Die Arbeit des einzelnen hat sich gewandelt vom Schwerarbeiter in übelriechenden chemischen Waschküchenbetrieben – um es bewußt übertrieben auszusprechen – zum intelligenten Beobachter und Bediener hochentwickelter Meßapparaturen für komplizierte chemische Prozesse bei extremen Temperatur- und Druckverhältnissen. Wenn auch die zu Ende gedachte konsequente Einführung der Elektronik für den Ablauf eines Produktionsprozesses fast unheimlich unpersönlich erscheinen mag, so kann man doch sagen, daß wir uns in einem Stadium befinden, wo das Bewußtsein der Verantwortung des einzelnen noch steigt, wo sich das auch in der Verhaltensweise des einzelnen ausdrückt und wo aus der Masse der bei Beginn der industriellen Entwicklung mehr oder weniger noch stumpf arbeitenden Menschen eine neue Gruppe selbstbewußter Menschen, die sogenannte technische Gesellschaft, entstanden ist.« (Wurster 1965, 6 f.)

Vor dem Hintergrund der Etablierung der Kunststoffe in Industrie und Alltag und in der Perspektive ihrer scheinbar allumfassenden Anwendbarkeit zeichneten sich Mitte des 20. Jahrhunderts ältere chemische Utopien in neuem Gewand ab:

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»Bezeichnenderweise sind die Bemühungen der Chemiker nicht allein darauf gerichtet, immer neue wunderbare, knitterfreie Gewebe zu entwickeln oder bessere Mausefallen aus Kunststoff herzustellen. Die Entdeckungen des Chemikers auf dem Gebiet der Hochpolymere gewinnen immer mehr Einfluß auf andere wissenschaftliche Disziplinen wie die Erforschung des Weltalls, die Architektur, Agrikultur und Ozeanographie, die Entwicklung der Computer, die Medizin, Biologie und die Technik. Durch Entwerfen neuer Grundlagen und Verfahren ist es möglich, sich Dinge vorzustellen, die vielleicht schon in den nächsten zehn, dreißig oder fünfzig Jahren [Anm. N. P.: also 1980, 2000 oder 2020] durch die verblüffenden Möglichkeiten der Hochpolymertechnologie entwickelt werden können: preiswerte Häuser aus verschiedenen Schaumkunststoffen, die einfach und schnell zu errichten sind; Kunststoff-Membranen, die Meereswasser oder Abwässer filtern, um ganze Städte zu versorgen und Wüsten zu bewässern; hochleistungsfähige, vollkommen aus Kunststoff hergestellte Motoren, Brennstoff-Elemente, Sonnenbatterien, Kraftfahrzeuge, Boote, Flugzeuge und Nahschnellverkehrszüge; Anlagen, die Informationen verarbeiten, ganze Büchereien in Karteikästen verschwinden lassen und Computer von Zimmergröße auf das Maß eines tragbaren Geräts reduzieren; Reinigungsmittel, die infiziertes Blut von gefährlichen Ablagerungen befreien, ehe diese dem Körper schaden können. Manche Chemiker träumen nicht nur davon, irgendeinen erkrankten Körperteil durch einen besseren künstlichen zu ersetzen; ihr Ziel ist die Überwachung von Krankheit und Vererbung und die künstliche Erzeugung des Lebens selbst.« (Mark, Redaktion 1970, 165 f.)

Chemie als etablierte Wissenschaft nähert sich so von einer anderen Seite dem Begriff der »Kunst«, mit dem sie durch Immanuel Kant belegt worden war (Kant 1786, V-X = Kant 1983, 12–15; Schmauderer 1973b, 138 f.). Kant sprach seinerzeit der Chemie eigentlich den Rang einer Wissenschaft ab, weil er sie als nicht-mathematisierbar verstand. Die Resultate chemischen Schaffens als »Kunst« einzustufen hieße aber gleichwohl, das Ergebnis der Arbeit, wie bei einem Künstler, aus dem freien Willen des Chemikers abzuleiten – eine Vision, die als Utopie etwa 200 Jahre später gleichsam eine Renaissance erlebte. Die Realisierung dieser Utopien ist 45 Jahre später zu einem überwiegenden Teil erfolgt. Abweichungen durch alternative, bessere Verfahren sind gleichwohl zu konstatieren. So hieß es mit Bezug auf die Speicherung und Verarbeitung von Informationen: Es »haben gewisse fotochrome Farbstoffe die Herstellung von Supermikrofilmen ermöglicht, die Bilder auf den vierzigtausendsten Teil ihrer ursprünglichen Größe verkleinern. [… So] ist eine 1245 Seiten umfassende 89 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Bibel Seite für Seite verkleinert auf ein Diapositiv von weniger als fünf Quadratzentimeter Größe gebracht worden, und ein Katalog von 2580 Seiten wurde auf einer reproduzierbaren 7,6 � 12,7 cm großen Karte gespeichert. Das Betrachtungsgerät, das diese außerordentlich verkleinerte Information in lesbarer Größe wiedergibt, ist selbst so klein, daß zum Beispiel Piloten oder Astronauten 50.000 Seiten an Navigationskarten oder technischen Anweisungen in einem handlichen Projektor mit sich führen können, der nicht größer ist als ein Kofferradio.« (Mark, Redaktion 1970, 171) Es ist unschwer ersichtlich, dass diese Utopie aus einer vergangenen Zeit stammt, was es erforderlich machen könnte, das Artefakt eines Kofferradios zu erläutern. Die Entwicklungen der Mikroelektronik ließen aber andere technische Lösungen Realität werden. Chemische Utopien konnten auch im Rahmen anderer Zukunftsvisionen auftreten. Als Beispiel für technokratisch geprägte Vorstellungen ist auf die von Hermann Kahn und Anthony J. Wiener publizierten »Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000« exemplarisch zu verweisen: »Ihr werdet es erleben« (Kahn, Wiener 1967). Dabei verweist der Titel der englischsprachigen Originalausgabe »A Framework for Speculation on the Next Thirty-Three Years« genauer auf die Intention des Werkes, handelte es sich doch um einen Rahmen für die spekulativen Voraussagen. Kahn und Wiener beschrieben 100 Bereiche für neue technische Entwicklungen, bei deren Verwirklichung bis zum Jahr 2000 von jedem allein »eine bedeutsame Veränderung« ausgehen würde und konkretisierten in ihrer dritten Randbedingung: »Jeder Punkt verdient die Bezeichnung technische Neuheit, Revolution oder Umwälzung. Keiner ist nur eine Verbesserung schon bestehender Eigenschaften.« (Kahn, Wiener 1967, 85). Des Weiteren teilten sie die genannten 100 Bereiche, deren wahrscheinliche Realisierung sie als »sehr hoch« einschätzten, in drei Gruppen ein, wobei »die ersten 25 Punkte den Fortschritt repräsentieren – wenigstens für jene, die den Fortschritt begrüßen. Die nächsten 25 Neuerungen hätten eindeutig umstrittene Folgen. […] Die letzten 50 Merkmale sind an sich interessant und sollen auch zeigen, daß sich eine lange Liste von Neuerungen, die bedeutsame Konsequenzen haben, ohne Schwierigkeiten aufstellen läßt.« (Kahn, Wiener 1967, 86). Gemäß dem spekulativen Charakter sind die Voraussagen sehr allgemein, etwa »58. Chemische Methoden zur Verbesserung des Gedächtnisses und der Lernfähigkeit« oder »63. Mechanische und chemische Methoden zur mehr oder weniger direkten 90 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Verbesserung der Denkfähigkeiten des Menschen« 5 oder »62. Verbesserte chemische Kontrolle über manche Geisteskrankheiten und bestimmte Formen der Vergreisung«. Fortschritt erscheint dem Wohlstand gleichgesetzt, wobei der Bereich »26. Allgemeine Anwendung von Atomkraftwerken« bemerkenswerterweise an erster Stelle der strittigen Entwicklungen genannt wird. Neben der mehrfach geäußerten Erwartung hinsichtlich der Entwicklung neuer Werkstoffe oder auch von Geweben treten »Brot« und »Schönheit« mehrfach auf, und zwar unter den »Neuerungen (mit) eindeutig umstrittenen Folgen«: »45. Verbesserte und konkurrenzfähige synthetische Nahrungsmittel und Getränke (z. B. Kohlehydrate {sic!}, Fette, Eiweißstoffe, Enzyme, Vitamine, Kaffee, Tee, Kakao und alkoholische Getränke). […] 48. Physiologisch unschädliche Methoden für unmäßigen Genuß 49. Einfache Methoden für weitgehende und dauerhafte kosmetische Veränderungen (Gesichtszüge, ›Figur‹, vielleicht Hautbeschaffenheit, Hautfarbe, sogar Körperbau)« (Kahn, Wiener 1967, 90).

Bereich 45 wiederholt geradezu die chemischen Utopien von Berthelot, wobei aufgrund der bei Kahn und Wiener eher unspezifischen Aussagen hinsichtlich des Bereichs Energie von einer näheren Diskussion hier abgesehen wird. In der Summe der hier erwähnten »chemischen Utopien« werden zum einen die Kontinuitäten aus der alchemistischen Vorstellungswelt deutlich, zum anderen die wiederholt formulierten Aufgaben, sofern die früher präsentierten Utopien noch nicht eingelöst wurden.

2.

Nomenklatur und Verwissenschaftlichung als Voraussetzungen der Verwirklichung chemischer Utopien

Die Chemiegeschichtsschreibung setzt den Beginn der modernen Chemie gemeinhin mit den Arbeiten Lavoisiers fest, insbesondere mit dem 1789 veröffentlichten Traité élémentaire de chimie (Lavoisier 1789; Frercks 2012). Zeitgleich mit der politischen Emanzipation durch die Französische Revolution startet so die »chemische Moderne«. 6 Diese ist gekennzeichnet durch Produktionsverfahren, die Hierzu kritisch Koch, Keßler 1974. Der mit der Exekution Lavoisiers 1794 sogleich einer der Hauptvertreter zum Opfer fällt.

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auf Basis der vorherrschenden chemischen Theorien zunächst nur schwer einzuordnen sind, andererseits durch die gleichzeitige Herausbildung eines Theoriegebäudes, das die wissenschaftliche Basis für die spätere Produktion bilden sollte und zu der Charakterisierung der chemischen Industrie als »science-based industry« Veranlassung gab. Die Entwicklung der chemischen Theorien war aber ein über Jahrhunderte ablaufender Prozess, der sich im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert deutlich beschleunigte und auf dem neu erlangten Wissen sowie den sich als brauchbar erwiesenen Konventionen kontinuierlich aufbaute und zu einem verbesserten Verständnis von Aufbau und Eigenschaften der Materie führte. Jenseits und vor allem zeitlich vor den verfügbaren Erkenntnissen der Quantenmechanik genügen dafür in weitesten Bereichen einfachste Modellvorstellungen. Sowohl für den Produktionsprozess selbst wie auch für die Beschreibung oder auch Vorhersage der Produkteigenschaften waren selbstverständlich auch Kenntnisse aus Nachbardisziplinen wie Physik, Lebensmittelchemie, Pharmazie, aber auch der zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehenden Materialwissenschaften notwendig (Krätz 1991). Die Entwicklung eines eigenen Systems aus chemischer Fachsprache (Hassenfratz 1787; Hassenfratz 1793) und Zeichensprache beförderte die Formulierung spezifischer Forschungsfragen und Forschungsfelder. 7 Die Chemie emanzipierte sich von der Alchemie, löste sich als eigenständige Disziplin vor allem von der Physik (Stichweh 1984, 94–172; Weyer 1978a), nahm aber auch in der Medizin oder Pharmazie behandelte Gebiete mit auf. An den Universitäten entstanden eigene Lehrstühle, Institute und Laboratorien (Pohl 2013, 388–390), »Chemiker-Kongresse« boten Foren zum wissenschaftlichen Austausch (Tiemann 1893), und eigene Fachzeitschriften formten im Laufe des 19. Jahrhunderts die neue Wissenschaft aus, die ihrerseits nach den drei Subdisziplinen der anorganischen, organischen und physikalischen Chemie im 20. Jahrhundert weitere »Unter«-Disziplinen generierte. Das von Dmitri Mendelejew und Julius Lothar Meyer gegen Ende der 1860er Jahre entwickelte Periodische System der Elemente

Zu den hier nicht zu behandelnden wissenschaftstheoretischen wie philosophischen Aspekten vgl. Simon, Niedersen, Kertscher 1982; Schummer 1996; Psarros 1999; Wünsch 2000.

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half die Vielfalt der chemischen Elemente nach physikalischen und chemischen Gesichtspunkten zu durchdringen und zu ordnen. Die von August Wilhelm Kekulé (Meinel 1984, 66) postulierten Denkmodelle der Bindung des Kohlenstoffatoms und die in Folge des internationalen Chemikerkongresses in Karlsruhe 1860 zur eindeutigen Bezeichnung organischer Chemikalien entstehenden Konventionen führten zur Stereochemie (Hermann 1974; Eliel 1974) von Le Bel (Weyer 1974b) und van’t Hoff (Krätz 1974) und erklärten so in einem vereinfachten Modell die Anordnung der kugelähnlich gedachten, einzelnen Atome einer chemischen Verbindung zueinander und daraus den Aufbau eines Moleküls und seiner Eigenschaften aus räumlicher Betrachtung (Beyer 1976; Quinkert 1992; Quinkert, Egert, Griesinger 1995). So war nun erklärbar, warum bei gleicher elementarer Zusammensetzung Substanzen mit unterschiedlichen physikalischen und chemischen Eigenschaften existieren konnten: es kam auch auf die Struktur der Verbindung und die Anordnung der einzelnen Atome zueinander an. Ein einfaches Beispiel hierfür ist der Unterschied zwischen Ethanol und Ether. Beide Verbindungen weisen die gleiche chemische Zusammensetzung auf (C2H6O), sind aber im Molekülaufbau und damit in den chemischen Eigenschaften wie auch im chemischen Reaktionsverhalten verschieden. C2H5OH steht gegen CH3OCH3. Die für dieses Phänomen der Konstitutions-Isomerie verwendete Bezeichnung geht auf einen Vorschlag von Berzelius aus dem Jahr 1830 zurück, der so auch die Wöhlersche Harnstoffsynthese zu ergründen suchte (Weyer 1978b). Hermann Staudingers Erkenntnisse in Bezug auf die sogenannte makromolekulare Chemie schienen aus chemischer Sicht die Basis des Lebens selbst zu erschließen und eröffneten zugleich den Weg zum Umgang mit einer völlig neuen stofflichen Kategorie: den »Kunst«-Stoffen (Priesner 1979). Die Gründung der IUPAC als einer Institution, die in einer international betriebenen Wissenschaft verbindliche Regeln der Nomenklatur vorgab, erfolgte schließlich in einem von 1918 bis 1920 sich erstreckenden Prozess, mit dem 28. Juli 1919 als allgemein favorisiertem Gründungsdatum (Fennell 1994, 18). Auf Basis der entwickelten Modelle waren also die Zusammensetzung, der Aufbau und die Reaktivität chemischer Verbindungen ansatzweise erklärbar, wobei etwa mit der Molekülorbitaltheorie im 20. Jahrhundert bedeutende Erweiterungen des theoretischen Instrumentariums hinzu traten. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung 93 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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waren dafür auch die stets weiterentwickelten analytischen Methoden für die Umsetzung der Synthesen aus dem Labormaßstab in eine industrielle Produktion, die Fortschritte der Mess- und Regeltechnik sowie der chemischen Verfahrenstechnik.

3.

Neue Stoffe – alte Stoffe

Die Verbindung von Gerhard Quinkerts Credo »Wir machen neue Stoffe mit besseren Eigenschaften!« mit der Verwirklichung chemischer Utopien führt zu der Frage, wodurch »neue Stoffe« besser als »alte« waren und was an ihnen überhaupt »neu« war. Stofflich betrachtet, entwickelte sich die chemische Industrie seit Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert wie auf einer Spirale oder Helix auf ein immer höheres Niveau. Dies gilt für den mengenmäßigen Verbrauch der Materialien für die Zahl der Verfahren, in denen sie zum Einsatz kamen, für die Zahl der Produkte, die aus ihnen hergestellt wurden, wie auch für die Mengen, in denen die Substanzen verfügbar waren und verfügbar wurden. Dies beeinflusste massiv die bislang vorherrschenden Stoffkreisläufe, von der Nutzung bislang nicht nutzbarer Ressourcen hin zur Entstehung bis dahin in ihrer Zusammensetzung unbekannter Abfälle. Die neuen Substanzen waren marktfähig, da sie den bisher eingesetzten Naturstoffen zumindest ähnlich, aber kostengünstiger zu produzieren waren, vor allem, wenn vormaliger Abfall als Ausgangsmaterial diente. Aus der Notwendigkeit heraus, Abfälle bislang unbekannter Zusammensetzung »entsorgen« zu müssen, entwickelten sich neue Synthesewege, die zahlreiche neue Produkte generierten. Und: Recycling, Upcycling und Downcycling gehen gleichermaßen auf betriebsinterne Abläufe der Erdöl verarbeitenden wie der chemischen Industrie und auf die Notwendigkeit gezielter Erfassung und Behandlung von Abfällen zurück (Fuchsloch 2003b). Die neuen Substanzen waren konkurrierend auf neuen Wegen herstellbar, und sie wirkten durch die bloße Möglichkeit ihrer unbegrenzten Herstellung stimulierend auf die Suche nach neuen Anwendungszwecken (Schramm 1991, 53). Als neu galten Substanzen bereits, wenn sie »natur-identisch« waren, aber auf chemischem Wege ohne den Einsatz der bisherigen Ausgangsmaterialien und Rohstoffe herzustellen waren. Den nahezu vollständigen Ersatz von Naturstoffen, deren Eigenschaften in be94 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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stimmten Grenzen auch schwanken konnten, brachten standardisierte Produkte mit immer neuen Eigenschaften. Krönung waren in gewisser Weise die »natur-identischen« Stoffe, die bei exakt gleichen Eigenschaften auf anderem Weg, etwa aus Abfällen anderer Produktionszweige, gewonnen wurden. Die Diskussion über die Eigenschaften »natur-identischer« Substanzen lässt sich bis ins Hochmittelalter zurückverfolgen. Im Fokus stand damals alchemistisches Gold. So schrieb Thomas von Aquin: »Wenn das von den Alchemisten hergestellte Gold oder Silber nicht das wahre Wesen des Goldes oder Silbers hat, ist es ein betrügerischer und ungerechter Verkauf, zumal es einige Vorteile des echten Goldes und Silbers gibt – entsprechend der natürlichen Wirksamkeit jener Metalle –, die nicht für das durch die Alchemie hergestellte unechte Gold gelten; … auch kann das echte Gold häufiger umgesetzt werden und bleibt länger in seinem Reinheitszustand als das unechte Gold. Wenn aber durch die Alchemie echtes Gold hergestellt wird, wäre es nicht verboten, dieses als echtes zu verkaufen, denn nichts steht dem entgegen, daß die Kunst einige natürliche Ursachen benutzt, um natürliche und wahre Wirkungen hervorzubringen.« (Thomas von Aquin 1265/1273 = Thomas von Aquino 1925, 371 = Weyer 1973, 24)

Die Ausgangsstoffe der chemischen Synthesen waren permanent und in ausreichender Menge verfügbar, die Herstellung war zeitlich und von der Menge her präzise zu planen und daher insgesamt unabhängig von allen Einflussfaktoren der landwirtschaftlichen Erzeugung oder sonstiger jahreszeitlicher Veränderungen. Vorhandene Knappheiten lösten sich durch neue Verfahren auf. Der Ersatz bislang verwendeter Ausgangsmaterialien führte zur Umgestaltung bislang erprobter chemischer Synthesen. Ein Beispiel mag genügen: der Ersatz von Holzkohle durch Steinkohle oder Kokskohle. Im 20. Jahrhundert sollte sich dies im Wechsel von der Kohle zum Erdöl wiederholen (Stokes 1994; Karlsch, Stokes 2003; Osteroth 1989). Diese Substitutionen eröffneten zudem alternative Möglichkeiten in der chemischen Herstellung ein und desselben Produktes. Ausgangsstoffe konnten aber auch andere Naturstoffe oder Naturstoffmischungen sein, die bislang verwendete Rohstoffe ersetzten. Ersatzstoffe wurden verfügbar, denen noch die Erfüllung der bisherigen Funktion der ersetzten Stoffe zu eigen war, die aber keine chemische Verwandtschaft mit den bislang verwendeten Ausgangsmaterialien oder Produkten aufwiesen. Es kam zu einem tiefgreifenden Wandel der materialen Basis der chemischen Produktion selbst. 95 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Ältere Ausgaben chemischer Lehrbücher stellen veraltete, auslaufende Verfahren den neuen Synthesen häufig gegenüber (HollemanWiberg 1976; Beyer 1976). Am Ende stand schließlich die Perfektionierung der neu entwickelten Substanzen durch die auch von anderen Wissenschaftsdisziplinen unterstützte Erforschung der Eigenschaften ihrer Stoffklasse – Stahl ist nicht gleich Stahl. Neue Verwendungsmöglichkeiten entstanden, die eine höchstmögliche Reinheit der Substanzen erfordern, etwa in der Medizin, der Nahrungsmittelherstellung oder im Katastrophenschutz. Bewusstseinsbildend wirkte die Herstellung von Chemikalien p.a. durch Heinrich Emanuel Merck auf Anregung von Justus von Liebig. Was unter Reinheit zu verstehen ist, kann jedoch in Grenzen variieren (Schwedt 2013). Die neuen Substanzen wirkten »reiner« besser, denn geringere Mengen ließen aufgrund der gezielten, ausschließlichen Darstellung im chemischen Verfahren die Anwendung in »natürlichen« Stoffgemischen und damit in geringen Konzentrationen der eigentlich wirkenden Substanz zurücktreten. In geringeren Mengen konnten Chemikalien so den gleichen Effekt wie das bislang verwendete Naturprodukt bewirken. Es traten anfangs in der Anwendung – nicht aber auch zwangsläufig in der Herstellung – zumeist keine oder nur erwünschte Nebenwirkungen auf, da die jeweilige Substanz aufgrund ihrer Reinheit besser handhabbar und dosierbar war. Die durch Berthelot entworfenen Zukunftsvisionen scheinen in der Diskussion um »Kunst-Stoffe« erneut auf. Kunststoffe als Substanzklasse wurden wie folgt charakterisiert: »Sie sind leicht, dauerhaft, fest und können praktisch in jede Form gebracht werden; sie sind inert gegenüber den meisten Korrosionsarten, widerstandsfähig gegenüber extremen Temperaturen; sie sind chemisch so ›glatt‹, daß sich Schmutz und Öl von ihnen ablösen, oder von solchem Klebvermögen, daß sie eine ganze Reihe von Bauteilen durch eine starke, andauernde Verkittung zusammenhalten.« (Mark, Redaktion 1970, 171) 8 In der Summe ist dies eine Zusammenfassung für alles »Neue« neuer Substanzen.

Es ist ergänzend darauf zu verweisen, dass nicht alleine Klebstoffe auf Polymerbasis einen Zusammenhalt bewirken können (Braun 2004). Der in den 1950er Jahren durch Artur Fischer (1919–2016) entwickelte Dübel aus Kunststoff eröffnete die Anwendung von Kunststoffen gerade in diesem Bereich neue Felder (popularisierend: Schlupp-Melchinger 2015, 47 f.).

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4.1 Chemie gibt Brot Seit 1850 wuchs die Weltbevölkerung von einem Stand von 1,1 bis 1,4 Milliarden auf etwa 7,6 Milliarden Menschen (ZDF 2017). Obwohl der Hunger weltweit noch nicht beseitigt ist, leben heute mehr Menschen mit Über- als mit Untergewicht (Süddeutsche 2017). Das viel beschworene Leben im Einklang mit der Natur gestaltete sich über Jahrtausende als eine auf dem Gebiet der Ernährung existentielle Abhängigkeit der Menschen von den Jahreszeiten oder regelmäßig wiederkehrenden Naturereignissen wie der Nilschwemme. »Chemie« half seit dem 19. Jahrhundert in vielfältiger Weise, diese Abhängigkeiten zu überwinden. Aus chemischer Perspektive ist auf die Arbeiten von Justus von Liebig (1803–1873) zu verweisen (Brock 1999), auf das Konzept der essentiellen Pflanzennährstoffe Stickstoff, Phosphor und Kalium oder auf das Gesetz vom Minimum, welches besagt, dass ein Mangel eines für das Pflanzenwachstum essentiellen Elementes nicht durch das Übermaß eines anderen ausgeglichen werden kann. Das Gesetz vom abnehmenden Ertragszuwachs beschreibt den Zusammenhang, dass eine gesteigerte Düngergabe ab einer bestimmbaren Menge nicht von einem zur Düngergabe proportionalen Ertragszuwachs begleitet wird, sondern sich der Ertrag einem Grenzwert annähert. Zu beachten ist in der landwirtschaftlichen Praxis aber auch das Vorhandensein von Spurenelementen oder Mikronährstoffen, wie Bor, Kupfer, Mangan, Molybdän, Kobalt, Lithium, Zink, Eisen und Jod, auch von Kieselsäure (Ertl, Birnbeck 1999, 109–121). Ein Rückblick in das 18. Jahrhundert verdeutlicht die Ausgangslage. Die gewachsene Bevölkerung in Europa konnte mit den hinlänglich bekannten Ressourcen nur noch unter immer größeren Anstrengungen versorgt werden. Hunger war die Folge, auch behaglich geheizte Räume konnten im Winter zum Luxus werden. Der von dem englischen Philosophen Thomas Malthus postulierte Zusammenhang zwischen Bevölkerungswachstum und Nahrungsmittelversorgung beschreibt in der so genannten Malthusianischen Schere ein exponentielles Wachstum der Bevölkerung gegenüber einem nur linearen Wachstum der Nahrungsmittelproduktion und somit eine antizipierte Krise in der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln (Malthus 1798/1986). 97 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Voraussetzung für die Verfügbarmachung von Phosphaten war die Steigerung der Produktion an Schwefelsäure, was den Aufschluss von Phosphaterzen als Superphosphat ermöglichte. Die chemische Durchdringung der Eisenproduktion vervielfachte die Stahlproduktion und weitete diese auch auf bislang nicht zu verhüttende phosphathaltige Eisenerze aus, deren vermahlene Rückstände als Thomasmehl die Phosphatnachfrage der Landwirtschaft bedienten. Zugleich gelang die Nutzung des in den Eisenerzen enthaltenen Schwefels zur Schwefelsäureproduktion. Der Durchbruch in der Stickstoffversorgung gelang mit dem Haber-Bosch-Verfahren zur Ammoniakherstellung aus Luftstickstoff. Ammoniak war aber auch Ausgangsstoff in der Sprengstoffproduktion, und erst der Ausbau der Kapazitäten der Ammoniaksynthese mitten im ersten Weltkrieg ermöglichte es dem deutschen Militär, den Krieg überhaupt mehrere Jahre zu führen (Hahn 2001). Dennoch war seit den 1920er Jahren das Problem der Nährstoffversorgung der Ackerpflanzen vom Grundsatz her gelöst. Nebeneffekte stellten sich erst nach Jahrzehnten ein. Durch den Einstieg in die Massentierhaltung in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg erhielten Ackerflächen in einigen Regionen eher die Funktion, dem vormals in Form von Mist und Gülle begehrten Dünger (Hansen 1999) als Entsorgungsflächen zu dienen. Fortwährende weitere Düngergabe führte zur Anreicherung von Nitraten im Grundwasser und zur Eutrophierung von Flüssen und Seen. Die Verwendung phosphathaltiger Waschmittel unterstützte diese Entwicklung noch, so dass auf mehreren Ebenen zugleich seit den 1970er Jahren Abhilfe zu schaffen war. Andererseits waren die bei der Abwasserreinigung anfallenden Klärschlämme aufgrund ihrer Schwermetallbelastung als Dünger zunehmend ungeeignet. Inzwischen muss in Ballungszentren der durch Feuerung, Verkehr und Industrieabgase abgegebene Stickstoff in die Düngergabe der Landwirtschaft einberechnet werden (Forter 2000). Die fortgesetzte Verwendung von Phosphatdünger gemäß des Gesetzes vom Minimum bedingt andererseits auch das Einschleppen von Uran als Begleitstoff in den verarbeiteten Erzen, (Deutschlandfunk 2005) so dass das Umweltbundesamt 2012 unter Vorsorgeaspekten die Verwendung uranarmer Phosphatdünger empfahl und zugleich auf eine ebenfalls zu beobachtende Belastung mit Cadmium aus der gleichen Quelle verwies (Umweltbundesamt 2012, 18). Den Übergang zur landwirtschaftlichen Monokultur beförderten viele Ursachen. Resultat war neben der Entwicklung einer aus98 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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geprägten Agrarchemie, die das Pflanzenwachstum hochgezüchteter, ertragreicher Sorten begleitete, auch der Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln. Für die Entwicklung des inzwischen verbotenen DDS gab es noch 1948 den Nobelpreis für Medizin (Engel 2001). Unter der Sammelbezeichnung der Pestizide entstand eine Vielzahl von Fungiziden, Insektiziden und Herbiziden, die mal mehr und mal weniger spezifisch wirkend zum Einsatz kamen, seit der Monographie von Rachel Carson »Der stumme Frühling« (Carson 1962/ 1964/1990) aber in ihrer Wirksamkeit hinsichtlich der Insekten zunehmend kritisch beurteilt wurden. Der kurze Überblick zur Geschichte und Relevanz chemisch erzeugter Dünger zeigt exemplarisch: »Chemie gibt Brot«. Chemische Produktion zielt damit auf eine gesicherte Versorgung der Gesellschaft mit lebensnotwendigen Gütern und verwirklicht so eine Entgrenzung im menschlichen Dasein, da die Bindung an »natürliche« Voraussetzungen aufhebbar erscheint. Welche Chemie im Brot war, kann als Metapher für die Begründung der Lebensmittelchemie und Lebensmittelkontrolle in Deutschland dienen (Grüne 1994), deren Popularisierung in den 1980er Jahren einen maßgeblichen Schub erhielt (Katalyse-Umweltgruppe 1981/1982). Gerade beim Essen geht aber oftmals im Angesicht des Überflusses das »rechte Maß« 9 verloren. Ende der 1970er Jahre wurde unter dem Markennamen »slim fast« eine Diätstrategie entwickelt, die ohne Chemie undenkbar gewesen wäre. Das 2000 in den UnileverKonzern übergegangene und inzwischen nur noch als Minderheitsbeteiligung gehaltene Unternehmen (Manager Magazin 2000; UNILEVER 2014) realisierte im übertragenen Sinn Berthelots chemische Utopie: »das höchste Problem der Chemie, die Herstellung der Nahrungsmittel auf chemischem Wege« zu lösen. 10

4.2 Chemie gibt Schönheit Chemie hinterfragt keine Schönheitsideale, sondern hilft, sie zu verwirklichen. Dick und fett hielt sich mit mager und schlank sozusagen Seit einigen Jahrzehnten durch den »Körper-Masse-Index«, Body-mass-index zu kalkulieren. 10 Zu den mit dieser Verwirklichung einhergehenden Veränderungen der letzten etwa 150 Jahre Spiekermann 2018. 9

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schon immer die Waage, die sich ab dem 18. und wohl vor allem im 19. Jahrhundert zugunsten der Schlanken senkt (Montanari 1993, 198–205). Dies betrifft Möglichkeiten, die alle Sinne ansprechen. So entspricht eine weitere Bedeutung des Wortstamms des heutigen Wortes Alkohol ursprünglich »aus Antimon bereitete Salbe zum Schwarzfärben der Augenlider« (Barthel, Stock 1994, 37). Die Destillation von Rosenblättern in Wasser ist schon seit dem Altertum bekannt, ebenso sind weitere Riechstoffe darstellbar. Salben, Tinkturen, Schminken, Duftwasser und Parfums bedurften ausgeklügelter Verfahren in der Herstellung, aber auch in der Aufbewahrung und Konservierung. Trat im 20. Jahrhundert an die Stelle des Flacons und des Zerstäubers die mit Treibgas gefüllte Spraydose, so waren es eben auch die als Treibgase fungierenden Fluorchlorkohlenwasserstoffe, die mit ihrer die stratosphärische Ozonschicht beeinträchtigenden Wirkung mehr als einmal Anlass für gezielte Kampagnen gegen »die Chemie« boten. Das Rasieren wie das Epilieren sind zwar eher mechanische Tätigkeiten, in deren materiale Basis – z. B. zur Produktion des Rasiermessers oder des Klebers – gleichwohl chemische Kenntnisse Eingang fanden. »Chemische Utopien« zielen auf die Verschönerung des Umfeldes des Menschen hin bis zu einer idealen Gestaltung des menschlichen Körpers selbst. Der Einflüsse aus der Medizin oder der Biologie auf solche Vorstellungen kann hier aber allenfalls am Rande gedacht werden (Weß 1989; Weingart, Kroll, Bayertz 1992). Dass Schönheitsideale sich in historischen Zeiten wandeln, wird von darauf zielenden »chemischen Utopien« jedoch genauso wenig hinterfragt wie deren geistiger und gesellschaftlicher Ursprung. Immerhin ist auch ein sinnvoller Einsatz der Materialien in der plastischen Chirurgie zur Linderung des Leidens von Opfern von Krieg, Terror und Verfolgung möglich. Schönheit war zeitweise auch gleichgesetzt mit der Anwendung von Praktiken individueller Körperhygiene (Vigarello 1988). Dabei kommt es rückwirkend betrachtet nicht auf die Wirksamkeit der einzelnen Maßnahme an, sondern auf den Einsatz von Chemie. Das Mundwasser des Odolfabrikanten Karl August Lingner versprach, inkommodierende Wirkungen des Mundgeruchs abzustellen. Der aus der Umsetzung dieses Versprechens erzielte Erlös aus dem Verkauf des Mundwassers erbrachte einen genügenden Kapitalstock, um eine – keinesfalls geradlinig verlaufende – Entwicklung zu initiieren, die zur Gründung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden in dem schließlich 1930 eröffneten Museumsneubau führte (Steller 2014, 14). 100 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Ebenfalls findet Chemie Anwendung bei der Korrektur vermeintlicher körperlicher Defizite. Silikongel, Anabolika (Bild 2018a) und »Botox« (Sommer 2016) seien dafür stellvertretend erwähnt. Die Anwendung von für den Bereich der Medizin nicht zugelassenem Silikongel über einen Zeitraum von etwa zehn Jahren hinweg führte zum Konkurs des Brustimplantateherstellers Poly Implant Prothèse (PIP) sowie zur Verurteilung des Unternehmensgründers, eines gelernten Metzgers, zu einer Geld- und mehrjährigen Haftstrafe (Focus 2013; Welt 2016). Ungeachtet aller Debatten um Fragen der Gleichstellung der Geschlechter im umfassendsten Sinn ist in Verbindung mit den Möglichkeiten der sogenannten Schönheitschirurgie die Nutzung der materialen chemischen Basis tagesaktuell (FAZ 2018; Stylebook 2018). Über die Analyse des Aufbaus und der Funktion von Hormonen – und auch deren Synthese – fand auch die Chemie zwischen den Geschlechtern Interesse: »Damit die Chemie stimmt.« (Ratmoko 2010) Das Versprechen ewiger Jugend, zumindest des jugendlichen Aussehens, einzulösen, gaben schon in der Zeit vor Botox Kosmetikprodukte ab. Der älteren Generation sind Werbefilme des Ufa-Stars Marika Rökk für »Hormocenta« noch in bleibender Erinnerung. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit und beispielhaft aus der Zeit der DDR, sind etwa Badusan, Undine, die Kosmetiklinie Action, als Rasierwasser Tüff, Dur, Pitralon, und Pohli, als Haarwasser Zit-Produkte wie Birkenhaarwasser, Brillant als Rasierwasser und Pomade, Florena als Rasierwasser und Rasierseife, Casino-Produkte als Rasierwasser und zur Haarwäsche, Fan-Produkte zur Haarwäsche und als Antischuppenshampoo Wofacutan zu nennen (Dipl.-Bibl. (FH) Angela Kugler-Kießling (Freiberg), pers. Mitt.; Dipl.-Kffr. Ulrike Pohl (Freiberg), pers. Mitt.). Die seit dem »Bildnis des Dorian Gray« (Wilde 1890) – und natürlich schon deutlich vor 1890 – virulente Frage nach einem Einklang von äußerer Erscheinung und inneren Werten wirft »die Chemie« aber gar nicht erst auf.

4.3 Chemie gibt Wohlstand »Wohlstand für alle« (Erhard 1964), lautete eine griffige Formulierung der politischen Zielstellung des Bundeswirtschaftsministers und späteren Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Ludwig Ehrhard, in der er einen »immer wieder ausgesprochenen« Ge101 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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danken aufnahm: »Maßstab und Richter über Gut und Böse der Wirtschaftspolitik sind nicht Dogmen oder Gruppenstandpunkte, sondern ist ausschließlich der Mensch, der Verbraucher, das Volk. Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und nur so lange für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht.« (Erhard 1964, 132, Hervorh. i. Orig.) In diesem Zusammenhang formulierte Erhard eine Definition von anzustrebendem Wohlstand und dabei zugleich sein politisches Credo: »[M]it der Marktwirtschaft nicht etwa nur einzelne Schichten zu begünstigen, sondern der Masse unseres Volkes durch höchste Anstrengung und immer mehr gesteigerte Leistung einen würdigen Lebensstandard zu sichern und diesen fortlaufend zu bessern.« (Erhard 1964, 133, Hervorh. i. Orig.) Materiell abgesicherte Verhältnisse sind sechs Jahrzehnte später nach der Ehrhard’schen Erstausgabe grundsätzlich weltweit für alle Menschen erreichbar, doch steht diese soziale Utopie seit der Weltumweltkonferenz in Rio de Janeiro 1992 immer noch vor der Verwirklichung, Stichwort: millenium goals (United Nations 2000). Dies beinhaltet die Ermöglichung eines sorgenfreien Lebens auf einem Existenzniveau deutlich über der Befriedigung der Grundbedürfnisse. Und wenn Modernisierung als Erweiterung der Möglichkeiten verstanden wird, das individuelle Leben freier gestalten zu können und die Entfaltung der Persönlichkeit voranzubringen, so sind die Leistungen und Entwicklungen der Chemie untrennbar mit dieser Zielstellung verbunden, da sie dafür in vielfältiger Weise, auch zum Teil im Zusammenwirken mit anderen natur- und ingenieurwissenschaftlichen Bereichen, die materiale Basis bereit stellen. Andererseits leiten sich daraus keinerlei Sonderrechte für die chemische Industrie oder irgendeine andere gesellschaftliche Gruppe in einer freiheitlichen Gesellschaft ab. Dies ist vor der grotesken, zeitgenössischen Fehlinterpretation, das Jahr 1990 habe der vormaligen DDR den Kapitalismus gebracht, während in Wirklichkeit die freiheitlichdemokratische Grundordnung in Kraft trat, kontinuierlich zu betonen. Diese nur auf Basis der untergegangenen sozialistischen Wirtschaftsordnung zu verstehende, irrige politische Auffassung erklärt aber zugleich, warum eine Kritik am umweltzerstörenden Gebaren der chemischen Industrie der DDR in jedem Fall als Kritik an den Grundlagen der Diktatur der Arbeiterklasse wahrgenommen werden konnte. Sie stellte implizit heraus, dass ein volkseigener Betrieb eine gegen die existenziellen Grundlagen des Volkes gerichtete Misswirtschaft betrieb. Das Aufzeigen dieser Missstände durch Um102 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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weltaktivisten bedeutete zugleich für diese die Inkaufnahme großer persönlicher Gefahren und möglicher Beeinträchtigungen in der persönlichen Lebensführung durch den diktatorischen Staat (Rüddenklau 1992; Knabe 1993; Deutscher Bundestag 1999, 586–592; Beleites 2016). Die Erfolgsgeschichte der chemischen Industrie im Bestreben der Sicherung der materiellen Versorgung der Bevölkerung durch neue Produkte mit besseren Eigenschaften ist vielfach – vor allem auch von Autoren aus der chemischen Industrie selbst – beschrieben worden, wenn auch unter differenzierenden, zum Beispiel nationalen Aspekten (Strube 1995, insb. 46 f.; Quadbeck-Seeger 1992). Gemeinsam ist diesen Darstellungen stets die Betonung der durch die Chemie als Wissenschaft entwickelten und durch die Produktion der chemischen Industrie umgesetzten materialen Basis des Wirtschaftslebens und der gesellschaftlichen Lebensgestaltung. Wohlstand in gesamtgesellschaftlicher Perspektive, ablesbar an unterschiedlich definierten Indices, lange Jahre am Bruttosozialprodukt, ist aber nicht zwangsläufig mit Wohlstand für das Individuum verknüpft. Ebenso ist – relativer – rein materieller Wohlstand prinzipiell auch in politisch unfreien Gesellschaften wie der DDR denkbar, wobei die Grundlage dafür die Beherrschung der Natur auf Grund »eine(r) außerordentlich hohen Stufe des wissenschaftlichen Eindringens in die Zusammenhänge und Gesetze der Natur« und die Produktion »eine(r) riesigen Menge von Gütern« »mit einer hochentwickelten Technik« war. Freiheit bedeutet Herrschaft über die Natur, formuliert das Lehrbuch für den Unterricht in Staatsbürgerkunde und erläutert: »Was versteht der Marxismus unter Freiheit? Freiheit ist ein reales, praktisches Verhältnis. Freiheit erweist sich nicht daran, irgend etwas denken oder sagen zu können, sondern daran, Naturprozesse und gesellschaftliche Zusammenhänge zu beherrschen.« (Hahn, Kosing, Rupprecht 1988, 416, die anderen Zitate: 418, 417) In der Bundesrepublik Deutschland ist Wohlstand untrennbar mit politischer Freiheit verbunden und mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verknüpft. Für die künftige Gestaltung der Gesellschaft stehen jedoch Wohlstandsmodelle zur Diskussion, die gemäß der Losung »Gut leben statt viel haben« (Opaschowski 2009, 26) eine gesicherte Befriedigung der Grundbedürfnisse voraussetzen. Im Kern auf die jüdisch-christliche Tradition verweisend, ist die Botschaft dennoch jeglicher religiöser Bezüge entkleidet. Mit Bezug »auf die Vorliebe der Natur für die Zahl fünf« und in Anlehnung an die 103 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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mit dem Begriff »Überleben« belegte erste Stufe der von Abraham Maslow aufgestellten Pyramide der »Grundbedürfnisse des Menschen aus sozialpsychologischer Sicht« definiert Quadbeck-Seeger diese als Nahrung, Gesundheit, Kleidung, Wohnung und Kommunikation (Quadbeck-Seeger 1992, 89–91). Tatsächlich lassen sich Grundbedürfnisse gemäß Epikur (Epikur 1983) definieren als solche, deren Nichterfüllung »Schmerzen« bereitet. Ein schmerzfreies Leben hat in vorindustrieller Zeit den Rang eines Gottesgeschenks. Aus der verstreichenden Zeitspanne, die bei gleichzeitiger Nichterfüllung der epikureischen Bedürfnisse zum Tode führt, lassen sich Atmen, Regulierung des körperlichen Wärmehaushalts, Schlafen, Trinken, Regulierung der körperlichen Ausscheidungen, Essen und die Wahrnehmung von Sonnenschein ableiten (vgl. Haber 2010). Durch die Kontrolle der Belastung von Luft und Wasser kommt der chemischen Industrie also gerade in zwei entscheidenden, von Quadbeck-Seeger nicht benannten Bereichen eine besondere Verantwortung zu. Und wenn gemäß der von Opaschowski verbreiteten »sieben Thesen zum Wohlstandsdenken der nächsten Generation« und in Anlehnung an Maslow »soziales Wohlbefinden […] als Erweiterung des materiellen Wohlstands begriffen« wird, wenn künftig das »Leben nach Maß« im Fokus der Lebensgestaltung steht, wenn »(es) gilt, gut und glücklich zu leben«, dann können die von ihm zum Kontrast angeführten Prophezeiungen des »Ministeriums für Überfülle« aus Orwells Roman 1984 keine Anziehungskraft mehr entfalten (Opaschowski 2009, 26 f.). So bliebe der chemischen Industrie lediglich die Aufgabe, das erreichte Niveau materiellen Wohlstands zu sichern und dabei Aspekten des Umwelt- und Naturschutzes, die die Umstände der Produktion wie der Anwendung der Produkte betreffen, breitesten Raum zu gewähren und sich ansonsten gemäß Ludwig Erhard als essentieller Teil der Wirtschaft zu verstehen, denn: »Eine Atomisierung der Volkswirtschaft in Gruppeninteressen ist […] nicht zu dulden.« (Erhard 1964, 133) Exemplarisch ist noch eine mit Kunststoffen und Chemiefasern verbundene chemische Utopie zu erwähnen. Denn positive Zukunftserwartungen und die Entgrenzung menschlicher Möglichkeiten schienen mit der neuen Substanzklasse eng verbunden: »Wir leben im Zeitalter der Kunststoffe. […] Die Kunststoffe haben der Menschheit aus einer bedrohlichen Rohstoffklemme geholfen und das Tempo des technischen Fortschritts erst ermöglicht. Im Haushalt wie im Raumschiffbau, im Sport wie in der Computertechnik sind syntheti104 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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sche Materialien unentbehrlich geworden.« (Mark, Redaktion 1970, 2). Und der Ankündigungstext für eine weitere Publikation des Rowohlt-Verlags fasst zusammen: »Chemiefasern […] haben das Zeitalter der natürlichen Rohstoffe überwunden.« Die materielle Garantie des Fortschritts ging einher mit der Überwindung der Grenzen der Abhängigkeit des Menschen von der Natur. »Ein modernes Werk für Polyacrylnitrilfasern produziert auf 25.000 Quadratmetern Fläche, einem vierzigstel Quadratkilometer, 150 Tonnen Fasern am Tag. Für die gleiche Leistung wären 12 Millionen Schafe nötig gewesen, die das gesamte Bundesland Nordrhein-Westfalen als Weidefläche beansprucht hätten.« Und: »Daß wir in zwanzig Jahren nicht wie Adam und Eva herumlaufen müssen, wird allein der Chemiefaserindustrie zu verdanken sein.« (Meyer-Larsen 1972, 76)

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Chemie und Umwelt – Neue Stoffe mit schlechten Eigenschaften

Karl Winnacker, Vorsitzender des Aufsichtsrates der Farbwerke Hoechst AG, mahnte zu Beginn der 1970er Jahre: »Wenn die Chemie so viel dazu beitragen konnte, den Menschen vor Hunger und Krankheit zu schützen und seine Lebenserwartung zu verlängern, so wird sie auch in der Zukunft dabei helfen können, den Mißbrauch und die Fehler zu beheben, die durch eine allzu schnelle Industrialisierung in unserer Umwelt entstanden sind. Auch das ist eine neue wissenschaftliche Aufgabe, der man sich in Lehre und Forschung bewußt werden muß.« (Winnacker 1974, 477) Teltschik ergänzte zwei Jahrzehnte später: »Die Umweltschützer haben zweifellos bei der Auffindung von umweltschädigenden Stoffen ihre Verdienste, auch wenn sie mit unkonventionellen Methoden arbeiten und ihre Behauptungen nicht immer zutreffen. Vor allem haben sie es mit ihren hartnäckigen Forderungen fertiggebracht, daß der Umweltschutz zu einer deutschen Domäne wurde. Wie vor hundert Jahren in der Chemie, so dominieren heute die Deutschen in der Umwelttechnologie; wieder stellt Deutschland Europa und der Welt Ideen und Pioniertechnik zur Verfügung.« (Teltschik 1992, 344 f.) Wechselwirkungen zwischen Chemie und Umwelt stehen in Darstellung und Analyse häufig unter dem Vorzeichen einer Verschmutzungsgeschichte. Sie beziehen sich auf Regionen wie die 105 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Rheinprovinz (Henneking 1994) oder Basel und sein Umfeld (Forter 2000), seltener steht die Entwicklung in ihrer Gänze im Fokus (Henseling 1992; Ross, Amter 2010). Der Umweltaspekt findet sich eingegliedert in eine auf diese Weise mit kritischen Untertönen vermerkten Erfolgsgeschichte wieder (Wagner 1999, 135–138, 214–215, passim; Blaschke 1999, 35–43; Ahlefeld, Molder, Werner 1996, 112, 115, 119) oder wurde in früheren Schriften (vgl. nur: Bäumler 1963) im Gegensatz zu späteren Jubiläumsbänden (Verg, Plumpe, Schultheis 1988, passim) sogar gänzlich ignoriert. Von bemerkenswerter Offenheit ist die Behandlung von Umweltproblemen in der Werksgeschichte des VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« (Kreisleitung der SED des VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« 1986). Immerhin hatten sich die Aktivitäten nicht nur in das 1957 verkündete Chemieprogramm der DDR einzufügen, sondern auch »Fortschritte bei der Bewältigung der Probleme des wissenschaftlich-technischen Fortschritts« (ebd., 199) aufzuweisen. Doch ausgerechnet im Leninjahr traten vielfältige Probleme auf: »Den Fortschritten, die in der Kombinatsentwicklung im ersten Halbjahr gemacht wurden, standen eine Reihe ungelöster Probleme gegenüber, wie eine gemeinsame Analyse der Kreisleitung der SED und des Kreisvorstandes der IG Chemie, Glas und Keramik ergab. Als wesentliche Ursache der Diskontinuität in der Planerfüllung in den einzelnen Bereichen und im Werksmaßstab stellte sich die ungenügende Beherrschung der Produktionsanlagen in den Schwerpunktbereichen heraus. Das führte auch gehäuft zu Havarien, Störungen und Bränden. Neben den genannten objektiven Gründen waren auch ungenügende Sorgfalt und mangelnde Qualifikation des Bedienungspersonals häufige Ausgangspunkte für derartige Vorfälle.« (ebd., 199)

Zu der durchaus vergleichbaren Situation in der Bundesrepublik urteilte Teltschik: »Den Managern der chemischen Industrie mangelte es in den siebziger Jahren noch an Selbstkritik. Die Fähigkeit, auch schädliche Folgen der Chemie zu erkennen, war noch unterentwickelt.« (Teltschik 1992, 280)

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Bedeutungen, Relevanz und Wirkungen bestimmter Elemente und Verbindungen

Die Ansätze der Verschmutzungsgeschichte leiteten in historischen Darstellungen zu »Stoffgeschichten« über, also der Frage nach Bedeu106 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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tungen, Relevanz und Wirkungen bestimmter Elemente und Verbindungen (Tegethoff 2001; Reihe Stoffgeschichten, z. B. Marschall 2008; Marschall 2018; Ertl, Soentgen 2015). Die einerseits feststellbare Vielfalt der Eigenschaften der chemischen Elemente reizte bei ihrer gleichermaßen begrenzten Zahl auch zu »Biographien« der Elemente (Engels, Nowak 1977; Gray 2010), einzelner Metalle aus eher kultureller und kunsthistorischer Sicht (Krysko 1979; Bachmann 2006) und auch einiger Verbindungen, die wie Asbest (Bönisch, Gößwald, Jacob, Bezirksamt Neukölln 1990; Deutsches Hygiene-Museum Dresden 1991; Büttner 2004; Höper 2008) oder wie Dioxine (GALUmweltgruppe 1984; Weidenbach, Kerner, Radek 1984; Schäfer 1987; auch: Kortenkamp 1990; Wassermann 1994) als problematische, oder wie Psychopharmaka und andere als »prekäre« Stoffe (Balz, von Schwerin, Stoff, Wahrig 2007) charakterisiert wurden. Somit rückten auch Nachteile neuer Stoffe in den Blick, die sich ungeachtet der häufig als »Schwarzmalerei« diffamierten Einwände am Beginn einer Nutzungsgeschichte oftmals erst in Folge längerer Anwendungen offenbarten. Als Beispiele können mit Flammschutzmitteln versehene Verkleidungen und Wärmedämmstoffe aus Styropor an Hauswänden, die ungeachtet dessen am 14. Juni 2017 zur Katastrophe am Hochhaus »Grenfell Tower« mit mindestens 71 Toten führte (Zeit online 2017), Amalgamfüllungen als Zahnersatz oder die Verwendung von Tributylzinn als Konservierungsstoff in der Textilindustrie gelten. Die ebenfalls als Wundersubstanzen angesehenen Fluorchlorkohlenwasserstoffe seien nochmals erwähnt. Die Verleihung des Nobelpreises für Chemie 1995 an Frank Sherwood Rowland und Mario José Molina würdigte die Arbeiten zum Nachweis der Umweltrelevanz der die stratosphärische Ozonschicht zerstörenden Substanzen (Fuchsloch 2001, 956 f.). 11 Ihren Ersatz regelte ein internationales Abkommen, das 1987 ausgehandelte und 1989 in Kraft getretene Montreal-Protokoll (UNEP 2016). Nachteilige Wirkungen waren im Einzelfall nur zu vermeiden, nicht aber vollkommen auszugleichen, so dass es häufig für die weitere Produktion und Anwendung wie aber auch für deren Ende der besonderen Begründung bedarf, etwa im Fall des DDTs oder des Glyphosats. Die Erwartung, der Einsatz des seit den 1980er Jahren verbotenen DDTs würde den Welthunger beenden und Krankheiten wie Der dritte Preisträger, Paul Crutzen, erhielt den Preis für seine Arbeiten zur Aufklärung der Atmosphärenchemie.

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Malaria gleich mit vom Erdboden verschwinden lassen, war immerhin Grundlage für die Verleihung des Nobelpreises für Medizin an Paul Hermann Müller 1948 (Engel 2001). Aktuell ist eine Debatte über die zukünftige Verwendung des im Mai 1970 erstmals hergestellten Glyphosats (Dill et al. 2010), dessen Eigenschaften der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland e. V. knapp so charakterisiert: »Glyphosat ist das meistverkaufte Unkrautvernichtungsmittel der Welt und ein sogenanntes ›Totalherbizid‹. Es tötet jede Pflanze, die nicht gentechnisch so verändert wurde, dass sie den Herbizideinsatz überlebt.« (BUND 2018) Obwohl schon Jahrzehnte in Gebrauch, scheint erst jetzt die Zeit der Abwägung und der Berücksichtigung auch der Nachteile der Anwendung gekommen, die bis hin zum Verbot des Einsatzes führen könnte. Seit Beginn der Industrialisierung trübten die feststellbaren Umweltbelastungen das positive Bild der Chemie, verstärkt durch den Einsatz chemischer Kampfstoffe im ersten Weltkrieg und in weiteren militärischen Auseinandersetzungen (Fuchsloch 2003a). Heute besteht gewissermaßen Konsens, das Erscheinen der Publikation von Rachel Carson: »Der stumme Frühling«, 1962 unter dem Titel »Silent spring« erstveröffentlicht, als Wegmarke zu definieren, ab der eine tiefgreifende Verunsicherung über die Folgen der Errungenschaften der Chemie und der chemischen Industrie sich ausbreitete. Die auf das Verschwinden der Singvögel im Frühling zielende Kritik des Einsatzes von Pestiziden in der Landwirtschaft (Carson 1990) fand in den folgenden Jahrzehnten durch Chemieunfälle wie 1976 in Seveso (Koch, Vahrenholt 1980) oder 1984 in Bhopal mit über 3000 Todesopfern weitere Nahrung und thematisiert heute den »Plastikmüllstrudel« im Pazifischen Ozean (Butler 2015, passim). Stellt in der öffentlichen Wahrnehmung jeder einzelne dieser Vorfälle für sich genommen einen »Skandal« dar, so scheint diese Vereinzelung der Ereignisse doch den Blick auf einen größeren Zusammenhang zu verstellen. Dieser ergibt sich aus dem Wechselspiel zwischen der Produktion einer einzelnen Substanz, der dabei entstehenden Kuppelprodukte im Verlauf des Syntheseweges und des Umgangs gerade mit diesen, zumeist nicht intendiert entstehenden Substanzen. Die Kunststoff-Euphorie (Fenichel 1997; Meikle 1997) der 1970er Jahre wurde mit dem Ölpreisschock 1973/1974 und nach Vorlage des ersten Umweltprogramms einer Bundesregierung 1971 (Deutscher Bundestag 1971a,b) unter wachsenden Müllbergen begra108 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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ben. Der umweltpolitische Lösungsansatz war halbherzig und zielte in Form des so genannten Dualen Systems, synonym als Ausdruck zum in vielerlei Farben auftretenden »Grünen Punkt« gebraucht, in Yin-Yang analoger Symbolik und dadurch fernöstlich-mystisch angehaucht, nur auf die Verringerung des Verpackungsmülls durch nicht näher spezifizierte Formen der Verwertung, nicht aber auf eine Verwertung und Weiternutzung der Kunststoffabfälle insgesamt. Rückblickend ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, das System habe nur deshalb eine derart umständliche Form erhalten, um nachzuweisen, dass durch das Verbraucherverhalten ein Recycling unmöglich wäre. Symptom dafür ist die ernsthafte Forderung, den Plastikabfall gereinigt in die Mülltonne – oder den ersatzweise bereitgestellten Kunststoffsack – zu geben. »Die Deutschen: das einzige Volk der Welt, das seinen Abfall spült, bevor es ihn wegwirft! Kein Wunder, dass unsere Nachbarn wieder Angst vor uns haben!«, hieß es dazu im thüringischen Karneval der 1990er Jahre. Das SEROSystem der Wertstofferfassung der DDR war innerhalb kürzester Zeit zusammengebrochen – andererseits sahen sich die damals neuen Länder der Bundesrepublik ungeahnten Problemen in der Beseitigung von Verpackungsmüll gegenüber. Tatsächlich wurden die getrennt gesammelten Abfälle als Ersatzbrennstoffe in Müllverbrennungsanlagen oder Zementwerken zugelassen – getrennt sammeln, vereint deponieren oder verbrennen – oder als Material zum Anlegen von Baugrund zur Fundamentierung von Hochhäusern nach SüdOst-Asien exportiert. Nicht zuletzt generierte die auch außerhalb Deutschlands mangelhafte Erfassung der in Umlauf gebrachten Plastikartefakte, etwa der Plastiktüten, das heute als »Müllstrudel« bekannte Umweltproblem, das in der Analyse des Mageninhalts verendeter Tiere stets aufs Neue eine traurige Bestätigung findet. Der »Plastikmüllstrudel« im Pazifik und im Stillen Ozean ist so dem Klimawandel ebenbürtig, der »Nano-Bluff« (Meier 2014) hat noch Entwicklungspotential, doch besteht bereits das erste Verbot des Einsatzes von Mikroplastik in Kosmetika (Bild 2018b). Der Einsatz von Pestiziden und von Düngemitteln in der Landwirtschaft und der Verbleib von Abbaustoffen und nicht abgebauten Resten pharmazeutischer Substanzen in der Umwelt und damit eine »Verweiblichung« der Natur sowie die Gefährdung der Versorgung mit unbelastetem Trinkwasser durch Reste von Hormonen und Pharmazeutika treten dahinter aktuell zurück.

109 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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7.

Von der chemischen Utopie zur Umweltverträglichkeitsprüfung und Technikfolgenabschätzung

Die »neuen Stoffe mit besseren Eigenschaften« traten als Ersatz bislang verwendeter Naturstoffe auf. Doch das Bewusstsein für eine überlegene Qualität der Substitute stellte sich, wenn überhaupt, erst langfristig ein. Wenn nicht, wie im Fall des Bakelits, mit anfangs ästhetischen Verwendungen eine auch zweckorientierte Nutzung einherging, so überzeugte der Neuigkeitswert nicht in jedem Fall sofort. Beispiele und Gegenbeispiele halten sich aber die Waage. Sie reichen von der Anwendung von Ersatzstoffen wie PVC in der Herstellung von Lederprodukten, wie Vanillin an Stelle der Vanilleschote, wie das weniger atmungsaktive Polyesterhemd in der Textilindustrie statt des bis dahin noch verwendeten Leinens, wie Kunststoffflaschen statt Glasflaschen hin zur Verwendung des besser dosierbaren Cyanids statt des Quecksilbers in der Goldgewinnung, des Nylons in der Textilindustrie oder von Sexuallockstoffen in der Borkenkäferbekämpfung. So führte Quinkert mit unnachahmlichem Perspektivwechsel in der Argumentationsebene aus: »Der Streit, was besser ist, Margarine oder Butter, ist noch nicht entschieden. Doch, er ist entschieden. Margarine schmeckt nicht so gut, sie ist daher gesünder, denn man wird weniger davon essen.« (Quinkert 1983) Die grundsätzliche, in der Kunst und Literatur häufig dargestellte Möglichkeit, dass die Verwirklichung eines Wunsches, eines Traums oder einer Utopie auch von unerwünschten Ereignissen und Effekten begleitet sein kann – König Midas sei gedacht –, mithin »die Dinge« vom Ende her bedacht gehören, nimmt auch die Chemie nicht aus. Das Schlafmittel Contergan ist dafür ein noch immer mahnendes Beispiel. Methoden der Umweltverträglichkeitsprüfung und auch der Technikfolgenabschätzung können heute Entscheidungshilfen in Form differenzierter Szenarien entwickeln, um unerwünschten Effekten entgegentreten zu können. Es sollte am Ende aber stets bedacht werden, was das Erreichen einer postulierten Kennzahl in der Wirklichkeit bedeutet.

8.

Chemische Utopien heute

Chemie heute soll grün, sanft, ökologisch, moralisch und vielleicht noch anderes mehr sein. Diese aufgezählten Zuschreibungen, auch 110 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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das in Analogie zu sozialen Verhältnissen zeitweise verwandte »prekär« sind keine ontologischen Kategorien, sondern bringen lediglich moralisch verkleidete Wunschvorstellungen verschiedener Interessengruppen in einen Diskurs über künftige chemische Utopien – oder die Ausrichtung der chemischen Industrie – ein. Dieser Diskurs ist an wenigen Beispielen aufzuzeigen.

8.1 »low carb« Ein Beispiel aus jüngster Zeit, das die diskutierten Aspekte chemischer Utopien aufnimmt, ist die unter der Überschrift »low carb« geführte Debatte. Damit ist nicht eine der vielen untauglichen Diäten gemeint, sondern die Diskussion über den Einsatz von kohlenstoffhaltigen Substanzen, sowohl im Hinblick auf die (deutsche) Gesellschaft insgesamt (Enquete-Kommission »Schutz der Erdatmosphäre« des Deutschen Bundestages 1995), aber auch etwa für Fragen der Gestaltung von Mobilität, wie im Hinblick auf Unternehmen (Utermöhlen 2015, 146–157) und im speziellen Fall auf die chemische Industrie (Leimkühler 2010). Im weitesten Sinne zielt die Diskussion auf den schonenden Umgang mit Ressourcen sowie auf Bemühungen, die Abgabe klimaverändernder Substanzen in die Erdatmosphäre zu verringern (Leggett 2000; Lester 2012) – von unterbinden kann aber im eigentlichen Sinne keine Rede sein. Die Diskussion richtet sich zwar in erster Linie auf den Verbrauch an fossilen Energieträgern. »Low carb« bedeutet hier in der politischen Umgangssprache, einen Übergang zu gestalten, in Deutschland diskutiert unter dem Schlagwort der »Energiewende«, weg vom Einsatz von Kohle, Gas und Erdöl als nur in geologischen Zeiträumen erneuerbarer fossiler Energieträger hin zur Ausnutzung von Sonnenenergie, von Wind- und Wasserkraft oder von Geothermie. Zusätzliche Randbedingung ist, dass aufgrund des nicht geklärten Umgangs mit den entstehenden Abfällen die eigentlich ebenfalls als »low carb« zu charakterisierende Atomenergie in allen ihren Varianten keine Rolle spielen darf. Ohne diese Diskussion hier im Detail zu führen, sei angemerkt, dass nach anfänglicher Euphorie auch hier die umwelt- und naturschutzrelevanten Nebeneffekte, vor allem bei der Wasser- und insbesondere der Windkraft, und hier wiederum der »Landschaftsverbrauch« (Etscheit 2016) und die Fragen nach den Herstellungsbedingungen, der Energiebilanz und der Entsorgung entsprechender (Solar-)Module nach Ende der Ge111 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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brauchszeit mehr und mehr in den Blick geraten. Verfahren der Umwandlung von einem Energieträger in einen anderen, also von Braunkohle in gasförmige Substanzen, haben im historischen Rückblick entweder eine miserable Umweltbilanz – Stichworte: Benzin aus Braunkohle, Reppe-Chemie, Giftküche Espenhain – und können hinsichtlich der Energieversorgung keinen Fortschritt im Hinblick auf »low carb« bewirken. Auch das seit über einem halben Jahrhundert immer mal wieder vorgebrachte Argument, die materiale Basis chemischer Produktion zu verändern, indem eine weitere Ressource als Ausgangsmaterial erschlossen wird (MDR 2018), nämlich Braunkohle, verfängt nicht, da eine Reduktion des Kohlenstoffverbrauchs nicht erreicht wird, sondern nur unter geostrategischen Gesichtspunkten die Abhängigkeiten vom Import von Gas oder Erdöl verringert werden. Es ist offensichtlich, dass eine Etikettierung im einleitend kritisierten Sinn nicht weiterführend ist. In Erweiterung der auf den Energiesektor gerichteten Diskussion wäre aber zu fragen, inwieweit »low carb« für den Bereich der chemischen Industrie auch im Hinblick auf die Produkte Bindungswirkung entfalten kann, und sei es nur im Sinne der Erfüllung einer allgemeinen politischen Zielvorgabe. Dieser Diskussionsprozess hat gerade erst begonnen (UNCTAD 2010; Tamminen 2011; Xue 2014), und welche Resultate im Hinblick auf die eigentlichen Herstellungsprozesse erreichbar sein werden, ist nicht absehbar. Für die Materialität einiger Wirtschaftszweige, etwa der Textilindustrie, scheint eine Forderung nach »low carb« nur wenige bis keine Möglichkeiten der Verbesserung zu enthalten. 12 Sowohl die hauptsächlich eingesetzten Naturfasern wie auch die »Kunstfasern« unterscheiden sich in ihrem Kohlenstoffgehalt nicht substantiell. Im Ergebnis dürfte für beide Bereiche, sowohl die Energieversorgung wie auch die chemische Produktion, eine Entlastung im Sinne von »low carb« nur bei Verringerung des Konsums zu verzeichnen sein. Damit schlösse sich aber ein Kreis zum Beginn der Umweltdiskussion seit den 1970er Jahren, als auf der Umweltkonferenz der Vereinten Nationen im Juni 1972 in Stockholm bereits die Frage nach Ressourcenverbrauch, Verteilung des Reichtums zwischen den Nationen, von Konsummöglichkeiten und Konsumverhalten in weltweiter Perspektive aufgeworfen wurde. Wie oben diskutiert, spielte hier auch die Frage des Verhältnisses von Chemie zu Wohlstand hinein. »Low 12

Zu Alternativen in der Textilproduktion: Engelhardt 2012.

112 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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carb« hat somit das Format einer noch Jahrzehnte währenden chemischen Utopie, die Industrie wie Gesellschaft gleichermaßen neue, absolut zu befolgende Verhaltensvorschriften aufzwingen könnte. Auch der Energie- und Materialeinsatz in der Nahrungsmittelerzeugung, vor allem der Fleischproduktion, könnte einen Einstieg in »low carb« bedeuten. Die Herabsetzung des Fleischkonsums, der weitgehende Verzicht auf bestimmte Fleischarten, vor allem auf Rindfleisch, soll als Stichwort hier genügen. Ansätze dafür weist die Geschichte der Menschheit zur Genüge auf, denn die vielen Fastenzeiten der verschiedenen Weltreligionen wirken genau auf dieses Ziel hin, ohne es, chemisch basiert, explizit zu formulieren. Der Vorschlag eines »veggi days«, also der Bestimmung eines Wochentages, an dem Kantinenessen nur ohne Fleisch angeboten werden soll (Veggiday 2018), mutet vor diesem Hintergrund weniger seltsam an, da mit dem Freitag in den christlichen Konfessionen ein solcher Tag bereits bestimmt ist. Dennoch präsentierte Katrin Goering-Eckardt, ehemals (2009–2013) Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (Deutscher Bundestag 2018), den Vorschlag mutlos ohne religiösen Bezug der Öffentlichkeit – für den »veggi day« schlug sie den Donnerstag vor. Auch andere Weltreligionen sehen im Übrigen Zeiten fleischloser Ernährung vor oder schließen diese sogar gänzlich aus. Die Verbindung von »low carb« und Klimawandel wäre problematisch. Es entstünde ein Problem, an dem sich die nachfolgenden Generationen Sisyphus gleich abarbeiten könnten. Hulme sieht »eine politische Blockade von gigantischen Ausmaßen« schon in der Diskussion über die Frage des Klimawandels und erhebt diesen selbst in der »gewöhnlichen Formulierung« mit Verweis auf Carley und Christie in die Kategorie eines »bösartigen Problems«. Ein »bösartiges Problem« ist charakterisiert durch »Unsicherheit, durch widersprüchliche und unklar definierte Bedürfnisse, Vorlieben und Werte, durch unklares Verständnis der Mittel, Folgen oder kumulativen Wirkungen kollektiver Handlungen und durch unbeständige Mitwirkung, in der verschiedene parteiische Teilnehmer Ressourcen in schwankendem Umfang zur Problemlösung bereitstellen« (Carley, Christie 2001, 156; Hulme 2014, 315). Ursächlich ist für Hulme, dass Klimawandel als »Metaerzählung« »immer weitere Probleme unserer Welt an sich zieht«, vor allem »endemische Armut, nicht nachhaltige Energie, Klimarisiken, Nahrungsmittelsicherheit, Strukturanpassungen, exzessiver Konsum, Regenwaldabholzung, Verlust von Biodiversität« (Hulme 2014, 314). Vertreter dieser »Metaerzählung« (wie Ekardt 2016) 113 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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erschweren die Definition »gut definierte[r] und erreichbare[r] Endstadien« (Hulme 2014, 315). Beispielhaft für eine trotz nur geringer Erfolgsaussichten geglückte Problemlösung ist für Hulme der Stopp des stratosphärischen Ozonabbaus (Hulme 2014, 315).

8.2 Responsible Care – die Utopie der chemischen Industrie Als Antwort auf die festgestellte Vertrauenskrise der Gesellschaft zur chemischen Industrie seit den 1970er Jahren (früh: Winnacker 1974; Anonymus 1988) entwickelten die Verbände der chemischen Industrie in internationaler Kooperation das Programm »responsible care« (VCI 2016). Knapp zusammengefasst besteht dessen Bedeutung in einer Selbstverpflichtung, die Gesetzgebung zu respektieren – was die Gesellschaft in ihrem grenzenlosen Optimismus immer erwarten darf – und womöglich überzuerfüllen, d. h. vorhandene Spielräume, etwa in der Erlaubnis der Emission umweltrelevanter Substanzen, nicht auszuschöpfen. Ihren Ausgang nahm diese Entwicklung durch die Festlegung anfangs noch wenig tauglicher Grenzwerte, die eine maximale Abgabe einer Substanz, in diesem Fall von Salzsäure, an die Umgebung, unter Berücksichtigung des betroffenen Umweltmediums, festlegten (Dingle 1988). Damit sind die bislang skizzierten Randbedingungen chemischer Produktionsverfahren um eine wesentliche Variable ergänzt. Vermieden werden soll eine Entsorgung in den Markt, also der Verkauf von Substanzen, die eigentlich Abfälle darstellen, als Produkte (Sutter 1991). Die Entwicklung der Grenzwertkonzeption wie auch ihre Umsetzung war ein sich über Jahrzehnte hinziehender, stets kritisch begleiteter Prozess. 13 Mit diesem zusätzlichen Einflussparameter ergibt sich der Handlungsspielraum eines Chemiewerkes beziehungsweise einer Verbundproduktion. Es war und ist permanent zu prüfen, ob im Rahmen einer Synthese unerwünscht entstehende Substanzen oder Substanzgemische an einer anderen Stelle in eine wirtschaftliche Verwertung einzubringen sind. Zusätzliche Parameter in der Gesamtbetrachtung, die das eine oder andere Verfahren forcieren, sind das Angebot an Wasser sowie die Verfügbarkeit über »Energie«. In der Kortenkamp, Grahl, Grimme 1990; Büschenfeld 1997; Büschenfeld 1998; Janich, Thieme, Psarros 1999; Reinhardt 2010.

13

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Summe gleicht dieser Handlungsspielraum einem autokatalytischen Prozess, der sich selbst erhält und im Einzelfall in einer sich steigernden Geschwindigkeit verläuft, wobei der Verlauf durch eine sich verändernde Zufuhr an Material oder auch durch den Ersatz oder den Austausch einiger Substanzen verändert werden kann. »Verwertungskaskaden«, »Stoffbäume« oder Kreislaufszenarien sind Beispiele für die theoretischen Lösungsansätze dieser Problematik. »Wer neue Produkte entwickelt, muß auch schon an ihr Ende denken. Dies gilt nicht nur für Kunststoffe, sondern für alle chemischen Erzeugnisse wie Lacke, Wasch- und Reinigungsmittel, Kosmetika, für Produkte der Reproduktionstechnik, für Düngemittel, Pflanzenschutzmittel und Pharmazeutika.« (Teltschik 1992, 302) Obwohl grundsätzlich Problembewusstsein seit mehreren Jahren besteht, muss als chemische Utopie formuliert werden, dass das Ende eben auch die Frage nach den Folgen des Verbleibs in technischen, biologischen und geologischen Kreisläufen für alle Substanzen und daraus hergestellte Produkte beinhalten muss. Diese Fragen sind aufgrund der anzunehmenden Fachkompetenz zuvörderst von Vertretern der Chemie und chemischen Industrie im Rahmen eines Stoffstrommanagements aufzuwerfen und zu beantworten. Es kann nicht im Sinne des angenommenen gesellschaftlichen Auftrags sein, dass sie stets aufs Neue von außen an Wissenschaft und Industrie herangetragen werden müssen. Die Vorgänge um den seit etwa zehn Jahren sich entwickelnden »Diesel-Skandal« in Deutschland und anderen Ländern zeigen zumindest für die Automobilbranche, dass eine derartige Geisteshaltung nicht selbstverständlich ist. Vielleicht entsteht sie ja in der Chemie ohne die Verwirklichung des 58. und 63. Bereichs der Kahn-Wiener’schen Zukunftsprognose. Nur dann kann responsible care in der Anwendung von Kennzahlen für Umweltstandards, um nicht den schwammigen Begriff der Nachhaltigkeitskriterien zu bemühen, mehr sein als eine umweltpolitische Nebelkerze.

9.

Fazit

Das in den Titel des Beitrags aufgenommene Motto der Chemiekonferenz des ZK der SED, durchgeführt am 3. und 4. November 1958 (ZK der SED 1958), bringt, gesellschaftsformenübergreifend, den in der deutschen chemischen Industrie wie auch in der Wissenschaft vorhandenen Anspruch und Fortschrittsoptimismus prägnant zum 115 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Ausdruck. Anspruch chemischen Arbeitens war und ist es, die Menschen aus einigen ihrer Abhängigkeiten von der Natur zu lösen, aus denen sie sich als biologisches Lebewesen ansonsten nicht befreien könnten. Dies belegen auch die exemplarisch vorgestellten Selbstzeugnisse und Fremdzuschreibungen an »die Chemie« aus verschiedenen Epochen. Formuliert wurden damit »chemische Utopien« schlechthin. Den eröffneten Freiräumen stehen für die Gesamtgesellschaft jedoch auch Einschränkungen gegenüber, namentlich unerwünschte Wirkungen produzierter und eingesetzter Chemikalien. Umweltschutz zu verwirklichen und negative Wirkungen auf die menschliche Existenz wie auf die Umwelt auch mittelbar zu vermeiden gehört zu den von außen an »Chemie« und »chemische Industrie« herangetragenen Utopien, ablesbar an der Einstufung der Entwicklung des »Umweltschutzgedanken[s] von einer nachsichtig belächelten Marotte zum beherrschenden Thema der Politik« (Teltschik 1992, 345). Die von den Fabrikstandorten und auch von den Produkten ausgehenden Umweltbeeinträchtigungen und latenten Gefahren bewusst zu machen und ihnen entgegenzutreten, Strategien zur Gefahrenabwehr zu entwickeln, ist seit den Katastrophen von Seveso 1976 und Bhopal 1984 zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen »Chemie-Diskurses« und damit auch aktueller »chemischer Utopien«. Chemie kann Brot, Wohlstand und Schönheit geben. Ob es tatsächlich dazu kommt, ist aber keine wissenschaftsimmanente oder den Unternehmensvorständen der chemischen Industrie obliegende Entscheidung, sondern wird auf vielen Ebenen des gesellschaftlichen Miteinanders und auch Gegeneinanders entschieden werden.

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Der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr als Motor der Modernisierung des internationalen Postwesens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1.

Einführung – Die Revolution des Verkehrs und das internationale Postwesen

Der internationale Postverkehr war seit jeher eng mit der technischen Entwicklung des Verkehrswesens verbunden, doch niemals zuvor – und wohl auch niemals danach – wurde diese Verknüpfung so deutlich wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Befand sich das Postwesen zu Beginn dieses Zeitraums eben gerade aufgrund des ausbleibenden verkehrstechnischen Fortschritts in einer schweren Krise, wurden die folgenden Jahrzehnte eine Epoche bis dato unvorstellbaren Aufschwungs. Die Erfindung der dampfbetriebenen Eisenbahn führte nicht nur zur grundlegenden Reform des Verkehrs, sondern auch zu einer Revolution des Postbetriebs. Binnen weniger Jahrzehnte entstanden in den verschiedenen europäischen Staaten sukzessive engmaschige und leistungsfähige Transportnetze, welche die Grundlage für ein internationales Postwesen lieferten, das diesen Namen auch verdiente. Gemeinsam mit betrieblichen Weiterentwicklungen entstand so eine ganz besondere Infrastruktur, die einen wichtigen Beitrag zur Integration der sich ausdehnenden Wirtschaftsräume leistete (Neutsch 1996; Benz 2013).

1.1 Der europäische Postverkehr bis zur Erfindung der Eisenbahn Die epochale Bedeutung der Eisenbahnen für das Postwesen verdeutlicht ein kurzer Blick auf die Zeit davor. Insbesondere in Kontinentaleuropa verlief der Postverkehr aufgrund der schlechten Straßenverhältnisse nur sehr schleppend. Während in Großbritannien immerhin bereits 1784 mit der »stage coach« eine schnellere Postkutsche eingeführt wurde, erfolgte der Brieftransport hier noch immer gesondert 128 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr

vom Personen- und Sachtransport durch Reitposten. Bis 1830 entstand dann auch jenseits des Ärmelkanals ein Netz von Eilpostwagenkursen, bei dem Brief- und Personentransport zusammengelegt wurde. In Deutschland geschah dies mit der Einführung von Schnellposten auf den von Napoleon angelegten Chausseen. Die Vorteile dieser Neuerungen wurden allerdings in Teilen durch große Verzögerungen beim Umladen aufgehoben. Alleine dieser Prozess machte mehr als ein Drittel der Beförderungszeit aus (Kalmus 1937). Ein postalischer Massenverkehr war aber auch aufgrund der Kapazitätsbegrenzungen kaum möglich. Der hierfür notwendige strukturelle Wandel konnte erst mit dem Aufkommen der Eisenbahnen eintreten. Dies geschah, nachdem sich die Vorteile des Eisenbahntransports – höhere Geschwindigkeit bei zugleich niedrigeren Tarifen – sehr schnell beim Güterverkehr bewährt hatten. Wie bereits bei den Schnellposten war Großbritannien auch in Bezug auf den Posttransport per Eisenbahn der Vorreiter. Schon wenige Wochen nach der Premierenfahrt fand am 18. November 1830 auf der Strecke Liverpool-Manchester die erste Postbeförderung mittels Eisenbahnen statt. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich in Großbritannien die mail coaches auf ihrem Höhepunkt. Doch binnen weniger Jahre setzte sich ein rasanter Prozess in Gang, »the victory by steam over horse« (Kay 1951, 62). Entscheidend befördert wurde die Entwicklung dadurch, dass von Beginn an fast sämtliche Eisenbahnlinien auch für die Postbeförderung genutzt wurden. Die sich immer schneller ausdehnenden Eisenbahnnetze wurden so zu den »Pulsadern des Postverkehrs« (Geistbeck 1895, 410), die sukzessive die Landpostkurse ersetzten. Zwar besaß gerade in Deutschland der Pferdepostdienst Mitte des Jahrhunderts noch erhebliche Bedeutung. Doch wurden die Landstraßen immer mehr zu Zufahrtswegen der Eisenbahnen degradiert. Bevor wir uns mit dem Ablauf des Postverkehrs auf der Eisenbahn näher befassen, soll zunächst auf zwei Aspekte eingegangen werden, welche für den Fortschritt des Bahnpostverkehrs äußert bedeutsam waren: die Frage des Eisenbahnsystems und das Verhältnis zwischen Eisenbahnen und Postverwaltungen.

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Andreas Benz

1.2 Die Entstehung nationaler Eisenbahnsysteme und ihr Verhältnis zur Post Insgesamt wurde die Entwicklung des Eisenbahnverkehrs ab Mitte der 1830er Jahre von den europäischen Postanstalten mit gemischten Gefühlen betrachtet. Einerseits erkannte man den großen Nutzen, den die Eisenbahnen für die Postbeförderung boten, anderseits sah man in dem neuen Verkehrsmittel auch eine Gefahr, da es die beherrschende Stellung der Post im gesamten Verkehrswesen in Frage stellte. Die Post befand sich allerdings in der formidablen Position, für die teilweise Aufgabe ihrer Rechte – festgelegt in Postregal und Postzwang 1 – Gegenleistungen einzufordern. Ohne auf nationale Einzelheiten einzugehen, lässt sich sagen, dass das Regal zur Personenbeförderung schon frühzeitig und selbiges zum Versand von Sachen sukzessive gelockert bzw. aufgehoben wurde. Dagegen blieb das alleinige Recht der staatlichen Post zur Beförderung von Briefen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts grundsätzlich in allen europäischen Staaten bestehen. Die Folge war, dass in den meisten Ländern die Beförderung von Paketen und Frachtstücken gar nicht mehr durch die Post geschah. Im Gegenzug erhielt die Post in vielen Ländern bei den Briefen das Recht, die Eisenbahnen unentgeltlich für den Transport zu nutzen. Hinzu kam häufig eine Mitsprache bei Entscheidungen des Strecken- und Fahrplanbetriebs (o. V. 1900). Das Verhältnis zwischen Eisenbahn und Post stand in engem Zusammenhang zu der jeweiligen Eisenbahnpolitik. Wenngleich die revolutionäre Wirkung aus verkehrstechnischer Sicht für die meisten Länder ähnlich bedeutsam war, entstanden doch grundverschiedene Systeme, die sich zudem im Laufe der Zeit wandeln konnten. Ein Hauptaspekt war die Eigentumsstruktur, also die Frage, ob der Eisenbahnbau privatwirtschaftlich oder staatlich finanziert bzw. betrieben wurde. Ein zweiter Punkt war darüber hinaus, in welchem Ausmaß der Staat in die Entwicklung des Eisenbahnwesens eingriff, also ob er eine Interventions- oder Laissez-faire-Politik betrieb. Hierunter fallen auch die gesetzlichen Regelungen in Bezug auf Streckenbau, Betriebsablauf und Vorrechte gegenüber der Post (Klenner 2002).

Während das Postregal das alleinige Recht des Staates zum Betreiben postalischer Einrichtungen bezeichnet, werden unter Postzwang die Gegenstände verstanden, welche ausschließlich durch die (staatliche) Post befördert werden dürfen.

1

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Als Beispiel für eine extreme Laissez-faire-Politik kann Großbritannien gelten mit einem bis zur Unlauterkeit gesteigerten Wettbewerb zwischen einer Vielzahl privater Gesellschaften, denen von staatlicher Seite weder finanzielle Unterstützung gewährt noch eine rechtliche Beschränkung auferlegt wurde. Die systemlose Konzessionierung förderte einerseits die zügige Ausdehnung der Verkehrsinfrastruktur. Andererseits entstand aber ein regelrechtes »Eisenbahnfieber«, das durch Aktienspekulationen schon nach wenigen Jahren jäh beendet wurde. Es folgte ein Fusionsprozess, aus dem etwa ein Dutzend Gesellschaften hervorgingen, die den größten Teil der Strecken des Landes unter sich aufteilten. Im Rahmen dieser oligopolistischen Struktur nutzten die Betriebe ihre Einflussmöglichkeiten auf die Politik aus, was unter anderem dazu führte, dass die Eisenbahnen in den Verhandlungen mit der Postverwaltung sehr hohe Beförderungstarife durchsetzen konnten (Stürmer 1872; Cohn 1874). Dagegen vollzog sich der Ausbau des Eisenbahnnetzes in Deutschland und insbesondere in Preußen deutlich langsamer. Da die Rentabilität des neuen Verkehrsmittels keineswegs bewiesen war, blieb der Staat sehr zurückhaltend. Dies zeigte sich in der im preußischen Eisenbahngesetz von 1838 vollzogenen Gratwanderung, den Eisenbahnbau einerseits der Privatinitiative zu überlassen, den Gesellschaften aber andererseits möglichst viele administrative Hindernisse in den Weg zu stellen. Gerade die Postinteressen wurden mit außerordentlicher Hartnäckigkeit verteidigt, was den Konzessionierungsprozess in manchen Fällen um mehrere Jahre verzögerte. Mit Gründung des »Ministeriums für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten« im Jahre 1848, in welchem neben der Abteilung für Eisenbahnangelegenheiten auch die Postverwaltung angesiedelt war, kam es zu einer Wende in der preußischen Eisenbahnpolitik hin zu einer sukzessiven Verstaatlichung, welche im Jahre 1853 gesetzlich untermauert wurde (Kech 1911; Paul 1938). Die nachfolgende Tabelle fasst die Situation grob zusammen, wobei auf Belgien und die Niederlande weiter unten noch eingegangen wird.

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Andreas Benz Preußen / Dt. Reich

Belgien

Niederlande

Großbritannien

Struktur des nationalen Eisenbahnwesens im zeitlichen Verlauf

zunächst zunächst Mischsystem Privat-, später Staats-, später Mischsystem Mischsystem

Privatsystem

Charakter der nationalen Eisenbahnpolitik

interventionistisch

gemäßigt interventionistisch

zunehmend interventionistisch

laissez-faire

Postregal für Briefpost ja

ja

ja

ja

Briefpostdienste durch Post

Post

Post

Post

Briefpost – unentgelt- ja licher Transport durch Eisenbahn

ja

ja

nein

Postregal für Paketpost teilweise

nein

nein

nein

Paketpostdienste durch (staatl.) Post & staatl. Eisen- (staatl.) Post & Privatanbieter Privatanbieter bahnen & Privatanbieter (staatl. Post Privatanbieter erst ab 1883) Paketpost – unentgelt- teilweise licher Transport durch Eisenbahn

nein

nein

nein

Tabelle 1: Zusammenfassung nationaler Eisenbahnsysteme und die Auswirkungen auf den Brief- und Paketposttransport in ausgewählten Staaten im 19. Jahrhundert (eigene Zusammenstellung).

1.3 Allgemeine Charakteristik des Bahnpostwesens Nachdem die wichtigsten strukturellen Aspekte für den Postverkehr auf der Schiene in Mitteleuropa erläutert wurden, soll der Frage nachgegangen werden, wie es den Eisenbahnen gelang, binnen kurzer Zeit eine derart überragende Bedeutung für die Gestaltung des gesamten Postbetriebs zu erlangen. Der Schlüssel liegt im Verfahren der Bahnpost. Ziel der Bahnpost war es, neben der geringeren Beförderungszeit auch den Postbetriebsdienst zu beschleunigen und so einen wirtschaftlich rentableren Transport zu ermöglichen. Der Postbeförderungsdienst umfasste dabei neben der Zustellung der einzelnen Sendungen auch die Gruppierung der insgesamt zu befördernden Postmenge. Letztere galt es, in lohnende Ortsbunde zusammenzu132 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr

fassen, die zwischen zwei Postanstalten ausgetauscht wurden, die sog. Kartenschlüsse (Küsgen 1927). Zunächst erfolgte die Postbeförderung auf der Eisenbahn wie auf dem Landpostkurs, indem die Postanstalten untereinander direkte Kartenschlüsse austauschten. Dieses Verfahren funktionierte aber nur bei kurzen Verbindungen. Nachdem sich die Bahnlinien dann zu immer engeren Netzen ausbildeten, war eine ›Umspedition‹ nicht mehr möglich, da die Zahl der Kartenschlüsse ins Unermessliche wuchs. Gelöst wurde dieses Problem dadurch, dass man das Umarbeiten während der Fahrt im Bahnpostwagen ausführte. Hierzu wurden die Briefbeutel geöffnet (»entkartet«) und die in den Beuteln enthaltenen Briefpostbunde nach den auf der Strecke gelegenen Zielorten oder für weiterführende Bahnpoststrecken sortiert. Dieser Vorgang wiederholte sich bei jeder Haltestation, da stets neue Briefbeutel aufgenommen wurden. Durch die Bearbeitung der Briefpost während der Fahrt fielen zahlreiche Kartenschlüsse weg, die zuvor jedes Postamt hatte fertigen müssen. Es genügte nun ein einziger Beutel für die Bahnpost (Schulz 1873; Sautter 1912). Die Idee war keineswegs neu. So wollte der spätere britische Generalpostmeister Rowland Hill bereits 1826 derartige Vorrichtungen bei der Postkutsche vornehmen. Doch erst mit der Eisenbahn wurde das »Travelling Post Office« realisiert, erstmals am 6. Januar 1838 auf der Verbindung zwischen London und Birmingham (Hemmeon 1912). Das Verfahren, mit dem die verkehrstechnischen Vorteile der Eisenbahn eine optimale postbetriebliche Ergänzung fanden, wurde sukzessive von allen großen europäischen Postverwaltungen übernommen, in Belgien und Frankreich 1841 bzw. 1846 als sog. »Bureau ambulant«, in Preußen 1849 zunächst als »Speditionsbureau«, später als Eisenbahn-Postamt (Schmelzle 2006). Die ersten dieser Bahnpostwagen waren noch sehr dürftig ausgestattet und hatten zahlreiche Mängel, die allerdings im Laufe der Zeit behoben wurden. So passte man die Wagen auch den Bedürfnissen der vorwiegend nachts stattfindenden Arbeit an. Die Besatzung stand im Verhältnis zum beförderten Briefumfang. Anfangs war es teilweise nur ein Beamter, später stieg die Zahl parallel zum Sendungsaufkommen auf über zwanzig. Da den Eisenbahnen nicht daran gelegen war, dass sich die Reisegeschwindigkeit durch übermäßig lange Aufenthalte an den Bahnhöfen verzögerte, musste der Postaustausch in kürzester Zeit vonstatten gehen. Zugleich wechselten mit

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Bild 1: »Innenansicht Bahnpostwagen um 1860« aus Schmelzle (2006), S. 34

dem permanenten Zu- und Abgang auch die zur Sortierung genutzten Fächer ständig (Miosga 1976). »›Post fertig?‹ ertönt, oftmals nur zu früh, der fragende Ruf des Zugführers, und mit dem Pfiff der Lokomotive beginnt von Neuem die fieberhafte Arbeit der Bahnpost. Jetzt entleeren die neu angekommenen Briefsäcke ihren Inhalt auf dem schmalen stets hin- und hergerüttelten Sortiertisch. Aufrecht stehend, mit gespreizten Beinen, wie auf Deck eines Schiffes bei stürmischer See, füllen die Beamten die Hände mit Büscheln von Briefen, um sie fast ebenso schnell mit gewandten Fingerbewegungen zu entleeren. Wie ein Kartenspiel aus den Händen des Taschenspielers fliegen die Briefe in die kleinen Sortierfächer, keiner darf sich auf diesem kurzen Wege verirren, wenn er nicht auf seiner Weiterreise vielleicht hunderte von Meilen abkommen soll von seinem Ziele. […] Die nächste Station naht, und von Neuem beginnt die Hast des Verpackens und die Gefechts-Bereitschaft für den nächsten Ansturm. So geht es fort von Station zu Station ohne Rast und ohne Pause.« (Veredarius 1885, 185 f.)

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Der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr

2.

Der grenzüberschreitende Bahnpostverkehr und der Wandel des internationalen Postwesens

2.1 Grenzüberschreitender Bahnpostverkehr und die Weiterbeförderung auf dem Seeweg Sehr bald setzte auch ein grenzüberschreitender Bahnpostverkehr zwischen Auswechslungspostanstalten verschiedener Länder ein. Da jedoch der Machtbereich einer Postverwaltung an der jeweiligen Staatsgrenze endete, bedurfte es vertraglicher Regelungen. Hier gilt es zu berücksichtigen, dass der internationale Postverkehr Mitte des 19. Jahrhunderts ausschließlich auf bilateralen Verträgen beruhte und zwar sowohl was den Austausch von Sendungen mit dem benachbarten Ausland als auch den Durchgangs- oder Transitverkehr betraf. Eine Ausnahme bildeten lediglich die ab 1850 im DeutschÖsterreichischen Postverein zusammengeschlossenen Staaten im Verkehr untereinander (Helbok 1943; Münzberg 1984). Unabhängig davon, ob es sich wie zumeist bei der Briefpost um intergouvernementale Staatsverträge oder wie bei der Paketpost üblich um interadministrative Verwaltungsabkommen handelte, lässt sich allgemein sagen, dass die Verständigung mühsam und schwierig war. Jede Seite versuchte ihre finanziellen und verkehrsbedingten Vorteile zu maximieren, was zur Folge hatte, dass die Höhe der Gebühren den Verkehr stark belastete. Entsprechend waren auch die Transitrechte und deren Vergütung Kernprobleme bei der Verhandlung sämtlicher Postverträge. Die Eisenbahngesellschaften blieben als ausführende Organisationen – ganz gleich ob sie zu einer unentgeltlichen Beförderung verpflichtet waren oder nicht – an diesen Verträgen unbeteiligt und hatten sich den Bestimmungen in der Regel unterzuordnen (Stephan 1859). Zum betrieblichen Ablauf ist zunächst zu sagen, dass die Kartenschlüsse an Grenzauswechsel-Postämtern nach Rücksprache dem Dienst der Nachbarländer zugeführt wurden. Die Kartenschlüsse des Transitverkehrs wurden dabei entweder ›offen‹ zur Umarbeitung oder als bereits gefertigte Beutel (›geschlossener Transit‹) übergeben. Während von der Möglichkeit, an den Grenzen plombierte Abteile zu übergeben, nur wenig Gebrauch gemacht wurde, entstanden schon früh grenzüberschreitende Bahnposten im interkonnektiven Sinne. Hier traten die Postanstalten der angrenzenden Länder nicht nur unmittelbar miteinander in Berührung, sondern setzten die Umarbei135 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Bild 2: Übersichtskarte Eisenbahn- und Schiffsverbindungen in Nordeuropa, aus Schulze (1903)

tungsarbeiten zum Teil auch auf dem Gebiet des Nachbarstaates fort (Benz 2013). In bestimmten Fällen führten die Kurse bis an die Häfen, wo die Sendungen per Schiff weiter versandt wurden. Unter dem Begriff ›Schiffspost‹ ist dabei die Beförderung auf Dampfschiffen zu verstehen, welche nicht durch Postbeamte begleitet wurden. Hier fiel den Schiffsoffizieren die Verantwortung für die Post zu. Der Postdienst beschränkte sich auf die Übernahme und Weitergabe. Dagegen handelte es sich bei den ›Seeposten‹ um mit der Bahnpost vergleichbare Einrichtungen, bei denen der Postdienst durch Postamte an Bord ausgeführt wurde (Matz 1960). Die erste Seepost wurde allerdings erst im Jahre 1869 auf Dampfern des Österreichisch-Ungarischen Lloyds zwischen Triest und Korfu eingerichtet. In der Folge fand das Verfahren dann vor allem im transatlantischen Verkehr Anwendung (Koch 1964). Zwischen dem europäischen Festland und Großbritannien handelte es sich dagegen durchgehend um reine Schiffspostverbindungen, d. h. die Postsendungen blieben auf ihrem Weg zu Wasser unbearbeitet.

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2.2 Die Bahnpost Köln-Verviers-Ostende und ihre Fortführung über Dover nach London Vor Beginn des Eisenbahnzeitalters erfolgte der preußisch-englische Postverkehr auf dem Seeweg ausschließlich über die Nordsee. Da Preußen keinen unmittelbaren Zugang zum Meer besaß, war es zunächst auf Schiffe anderer Staaten angewiesen. So wurde bereits im Jahre 1835 ein entsprechendes Übereinkommen mit dem Hamburger Senat geschlossen. Neben den sich hieraus ergebenden Umwegen auf dem Landweg litt der Verkehr unter den unregelmäßigen und in großem zeitlichen Abstand verkehrenden Schiffsverbindungen. Hinzu kam das Problem enorm hoher Gebühren (Stephan 1859). Eine Alternative bot die Einrichtung dreier Dampfschiffverbindungen am Ärmelkanal von Ostende, Calais und Boulogne. Während Boulogne aus geographischen Gründen ausschied, wäre die Verbindung Calais-Dover prinzipiell nutzbar gewesen. Dass sie für den preußisch-britischen Postverkehr lange Zeit keine Rolle spielte, lag nicht nur an der im Vergleich zu Ostende ohnehin längeren Gesamtfahrtzeit, welche sich im Verspätungsfalle der Dampfschiffe aufgrund der ungünstigen Zugverbindungen von Calais nach Brüssel weiter erhöhte. Vor allem fielen hier zusätzlich die französischen Transitgebühren an, wodurch die Strecke wirtschaftlich unrentabel wurde. So kam es, dass sich nahezu der gesamte Postverkehr Nord-, Ost- und Mitteldeutschlands auf Ostende verlagerte. Diese Position sollte die belgische Stadt über mehrere Jahrzehnte innehalten (Lathe 1912). Ermöglicht wurde die Anschlussverbindung mit Großbritannien durch den Bau einer quer durch Belgien verkehrenden Eisenbahn, die in Ostende begann und über Gent, Löwen, Lüttich und Verviers bis zur preußischen Grenze bei Herbesthal führte. Sie war zentraler Bestandteil des von der belgischen Regierung auf Staatskosten errichteten Eisenbahnnetzes (Nicolai 1885). Belgischerseits betrachtete man den Bau von Beginn an als ein internationales Projekt zur Handelssteigerung des jungen Staates und erwartete eine Anbindung auf preußischer Seite (Dresemann 1905). Diese Hoffnung war nicht unberechtigt, da bereits im Juni 1833 rheinische Kaufleute einen Antrag auf Konzession für die Verbindung Köln-Aachen-Herbesthal gestellt hatten. Bei der Realisierung traten jedoch erhebliche Verzögerungen auf, so dass die Pläne erst mit Gründung der Rheinischen Eisenbahngesellschaft (REG) im Juni 1836 verwirklicht werden konnten (Kumpmann 1910). Die Gesell137 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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schaft geriet in große finanzielle Schwierigkeiten und der preußische Staat machte keinerlei Anstalten, sich an der Finanzierung der Strecke zu beteiligen. Es war vielmehr die belgische Regierung, die 1839 durch einen Aktienkauf die REG und damit auch das Streckenprojekt am Leben hielt. Vier Jahre später, im Oktober 1843, konnte die 86 Kilometer lange Strecke von Köln über Düren und Aachen bis Herbesthal an das belgische Netz angeschlossen werden (GStA PK 1843). Zur Belgischen Staatsbahngesellschaft pflegte die REG seit ihrer Gründung ein enges Verhältnis, was durch eine Übereinkunft hinsichtlich des »Ineinandergreifens der beiderseitigen Betriebsverhältnisse« unterstrichen wurde (Dresemann 1905, 113). Die Beförderung der Post erfolgte zunächst bis zur Station in Verviers, die bald zu einem zentralen Knotenpunkt des europäischen Postverkehrs wurde. Hier trafen die Sendungen aus Belgien, Frankreich und Spanien mit der Korrespondenz von und nach Deutschland, der Schweiz und Italien zusammen. Die preußischen Beamten bestiegen dort den Zug und bearbeiteten die Post auf dem Weg nach Aachen vor. Erschwert wurde dies dadurch, dass die komplizierten Taxen berücksichtigt und der Dienstverkehr in fremder Sprache dokumentiert werden mussten (Körting 1984). Die Verlängerung der Bahnpoststrecke bis nach Köln erfolgte im Jahre 1852. Nun wurde für die Strecke das Eisenbahn-Postamt Nr. 10 eingerichtet, welches binnen weniger Jahre zum Inbegriff für deutsche Postbeziehungen zum Ausland wurde. Das Amt tauschte fortan Briefkartenschlüsse mit Postanstalten aus Russland, Belgien, Frankreich, Spanien, Großbritannien und den USA aus. Alleine die zweimal wöchentlich mit den Postämtern in New York und Boston ausgewechselten Kartenschlüsse hatten einen Umfang von bis zu 20.000 Briefen (o. V. 1952). Dieser Austausch vollzog sich über die seit 1834 viermal wöchentlich verkehrenden Postdampfschiffe zwischen Ostende und Dover. Von Dover führte die Schiffsgesellschaft »English, French & Belgian Royal Mail Company«, aufgrund ihres Eigentümers zumeist Churchward genannt, die Posttransporte durch. Von Ostende aus erfolgten sie durch die »British and Continental Express Parcels Agency« mit Sitz in London und Brüssel, kurz Continentalagentur. Im Jahre 1863 sollte es der belgischen Regierung gelingen, die Verbindung vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich aber ohnehin bereits zehn der 13 zwischen Ostende und Dover verkehrenden Schiffe in belgischem Besitz (GStA PK 1863). 138 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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In Dover bestand Anschluss an die South Eastern Railway, die im Februar 1844 eine rund 140 Kilometer lange Eisenbahnverbindung nach London errichtet hatte. Mit der Fertigstellung der Zuganbindung stieg der Hafen zu einem der wichtigsten Verbindungen mit dem Kontinentalverkehr auf (Nock 1961). Allerdings dauerte es bis zum Jahre 1860 bis auf der Verbindung London-Dover ein »Travelling Post Office« eingerichtet wurde, die erste an den kontinentalen Postverkehr angeschlossene Bahnpost überhaupt (Kay 1951). Nachdem sich der Umfang an Briefpost auf der Strecke KölnVerviers zwischen 1849 und 1853 von weniger als 15 auf 24 Kilogramm je Fahrt gesteigert hatte, wurden die in jeder Richtung eingesetzten Postwagen von täglich zwei auf drei und die Anzahl der arbeitenden Postbeamten auf 25 erhöht. Doch auch dies führte zu keiner spürbaren Entlastung. Das Hauptproblem bestand vielmehr darin, dass der Transport der preußisch-britischen Briefpakete mit den gewöhnlichen belgischen Posten erfolgte, was bedeutete, dass die in Verviers übergebene Post ohne weitere Bearbeitung durch das belgische Gebiet befördert wurde. Somit musste weiterhin die gesamte Post durch die Bahnpost Köln-Verviers bearbeitet werden, was innerhalb der knapp drei Stunden Fahrzeit bald nicht mehr zu schaffen war (GStA PK 1853). Symptomatisch für das fiskalisch geprägte Postwesen jener Zeit war, dass eine Verlängerung der Strecke bis nach Lüttich aufgrund der belgischen Forderung nach einer Sondervergütung von 30 Francs je Fahrt nicht zustande kam. Die Weigerung hatte zur Folge, dass bei Verspätungen weiterhin die Gefahr bestand, die Dampfschiffverbindung in Ostende zu verpassen, was eine Verzögerung von 24 Stunden zur Folge hatte. Doch selbst bei pünktlicher Ankunft bestand mitunter nur zehn Minuten Zeit für die Verladung der Post auf die Dampfschiffe (GStA PK 1854). In Gegenrichtung mussten preußische Beamte im Verspätungsfalle teilweise mehrere Tage in Verviers auf die Überseepost warten. Aus diesem Grund richtete das Eisenbahn-Postamt 10 zum Jahresbeginn 1854 dort ein Filialbüro ein. Hierdurch konnte man auch die fehlende Ausdehnung der Bahnposten bis nach Ostende einigermaßen kompensieren. Anstelle einer zunächst auf drei Monate befristeten Übergangszeit entwickelte sich das Büro in Verviers zu einer festen Einrichtung, die in den kommenden Jahren auch in personeller Hinsicht sukzessive ausgebaut wurde (Meissner 1902). Durch den kontinuierlichen Anstieg der Schiffsverbindungen 139 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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und Verbesserungen im Eisenbahnbetrieb nahm die Bedeutung der Linie weiter zu. Dank des Einsatzes von Schnellzügen gelang es der belgischen Staatsbahn, die Fahrzeit für die Strecke Köln-Ostende auf zwölf Stunden zu reduzieren. Hinzu kamen jeweils zwölf weitere Stunden für die Schiffsverbindung nach Dover sowie die Eisenbahnfahrt von Dover nach London. Damit betrug die Fahrzeit von London nach Berlin noch immer fast fünfzig Stunden. Eine direkte Verbindung zwischen den beiden Hauptstädten kam mit Fertigstellung der Rheinbrücke im Jahre 1859 zustande. Gemeinsam mit weiteren Verbesserungen im Betriebsablauf der Eisenbahnen gelang es, die Fahrzeit zunächst auf 35 Stunden und in den kommenden zwei Jahrzehnten um weitere fünf Stunden zu reduzieren (Ditgen 1998). Der Verkehr auf der Route des Eisenbahn-Postamtes 10 schwoll derweil immer mehr an. So musste das General-Postamt im Februar 1871 schließlich feststellen, dass die Briefpostmenge einen derartigen Umfang angenommen hatte, dass die Leitung und Beaufsichtigung des Dienstbetriebs nur noch mit Schwierigkeiten erbracht werden konnte (BArch 1871). Dies verwundert nicht, betrug das Gewicht der auf der Strecke Köln-Verviers bearbeiteten Sendungen in beiden Richtungen mittlerweile im Durchschnitt jeweils gut 70 Kilogramm und damit fast dreimal so viel wie zwanzig Jahre zuvor. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass der tatsächliche Umfang ausgetauschter Sendungen bedeutend größer war, da die Statistiken nur die auf dem Teilstück umgearbeitete Post erfassten, nicht aber die direkten Kartenschlüsse, die über die Bahnpost Köln – Verviers ›hinweggingen‹ (Lathe 1912). Der durch den Einsatz der Bahnpost ermöglichte Umfang des grenzüberschreitenden Briefverkehrs war zweifellos beeindruckend. Doch wurde zugleich augenscheinlich, dass eine weitere Steigerung kaum möglich erschien, solange sich am komplexen Postvertragssystem nicht grundlegend etwas ändern würde. Denn nach wie vor belasteten den Betrieb vor allem die langwierigen bürokratischen Verfahren, welche die Taxen-Berechnung für die verschiedenen Zielorte mit sich brachte (Holzamer 1878).

2.3 Der Wandel des internationalen Postwesens vom extremen Bilateralismus zum multilateralen Weltpostverein Es war der preußische Geheime Postrat Heinrich Stephan, der wie kein zweiter führender Postbeamter dafür kämpfte, sämtliche Einzel140 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Bild 3: »Personal der Zweigstelle Verviers« aus der Festschrift (o. V.) von 1952, S. 8

verträge durch einen Einheitsvertrag zu ersetzen und dadurch das System des Bilateralismus zu überwinden. Die zentralen Anforderungen an einen solchen Einheitsvertrag brachte er im Jahre 1868 in einer Denkschrift zum Ausdruck. Die wichtigsten Ziele waren ein einheitliches Verkehrsgebiet, einheitliches Briefporto und Briefgewicht, der ungeteilte Gebührenbezug und die Abschaffung der Transitgebühren (Stephan 1871). Von zentraler Bedeutung war, dass es im Februar 1872 zu einem neuen deutsch-französischen Postvertrag kam. Dessen Bedeutung für das internationale Postwesen war deshalb so beträchtlich, weil Frankreich bis dahin wie kein anderes Land auf eine Maximierung der Einnahmen aus dem grenzüberschreitenden Verkehr ausgerichtet war. Die Zugeständnisse, die es nun erstmals machte, hatten Signalwirkung für die übrigen Staaten und bildeten nicht weniger als den Auftakt zu einem Paradigmenwechsel in der internationalen Postpolitik (Wendt 2010). Kurz nach Abschluss des Vertrags mit Frankreich erneuerte Stephan – inzwischen Generalpostminister des Deutschen Reichs – zusammen mit der schweizerischen Regierung seine Initiative zum Ab141 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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schluss eines multilateralen Postvertrags. Die Beratungen fanden auf Grundlage der Stephan’schen Denkschrift in Bern statt und wurden am 9. Oktober 1874 mit der Unterzeichnung des »Allgemeinen Postvereinsvertrags« abgeschlossen. Mit Ausnahme der Unentgeltlichkeit des Transits wurden alle wichtigen Vorschläge der Denkschrift realisiert (Reichskanzler-Amt 1875). Mit dem zum 1. Juli 1875 in Kraft getretenen Vertrag endete die Ära bilateraler Abkommen mitsamt ihren zum Teil stark abweichenden Bestimmungen. Insgesamt vollbrachte es das Werk, mehr als eintausend Einzelverträge und hunderte Seiten an Reglementierungen zu bündeln und auf ein Minimum zu reduzieren. An ihre Stelle trat eine multilaterale Regelung, durch die internationale Mindeststandards sichergestellt wurden. Zugleich wurde der Allgemeine Postverein gegründet, der vier Jahre später offiziell den Namen ›Weltpostverein‹ – im Original: Union Postale Universelle (UPU) – annahm. Kennzeichnend für die UPU in den ersten drei Jahrzehnten ihres Bestehens war ihre kontinuierliche Erweiterung hinsichtlich Mitgliedschaft und Umfang an Postdiensten. Mit der Schaffung von Zusatzabkommen, etwa für Postpakete im Jahre 1885, und der stetigen Ergänzung des bestehenden Vertrages wurden die Vereinbarungen quantitativ und qualitativ weiterentwickelt. Den Vorteilen eines weltweit geregelten Postdienstes konnten sich immer weniger Länder dauerhaft verschließen, so dass die Zahl der Mitglieder von ursprünglich 21 bis zum Jahre 1906 auf 71 anstieg. Damit war die UPU zur mitgliederstärksten und räumlich umfassendsten, zwischenstaatlichen internationalen Organisation geworden (Codding 1964). Die Verdienste des 1885 in den Adelsstand erhobenen »Schöpfer [s] der Weltpost« Heinrich von Stephan wurden bereits von Zeitgenossen erkannt und gewürdigt (Fischer 1897). Was dagegen bisher praktisch unbeachtet blieb, ist, dass die Bahnpostverbindung KölnVerviers bei seinen Überlegungen eine wichtige Rolle zu spielen schien. Die Zeit als junger Beamter der Oberpostdirektion Köln Anfang der 1850er Jahre hatte bei Stephan nachhaltigen Eindruck hinterlassen. So erkannte er, dass der grenzüberschreitende Bahnpostverkehr sein enormes Potential aufgrund der Unzulänglichkeiten des damaligen internationalen Postwesens nicht erzielen konnte. Es erscheint sehr plausibel, dass er bereits »während seines Wirkens in Cöln die erste Anregung zu seiner bahnbrechenden, erlösenden That« erhielt (Meissner 1902, 27). Dass wiederum der Bahnpostverkehr bei der wissenschaftlichen 142 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Bewertung der UPU-Gründung bisher kaum eine Rolle spielt, kann auch daran liegen, dass das Vertragswerk für die Eisenbahnen keine expliziten Regelungen enthielt – im Gegensatz zu den später zusätzlich in den Vertrag aufgenommenen »Bestimmungen für die Luftpost«. Das Fehlen eines solches Passus dürfte vielmehr alleine der Tatsache geschuldet sein, dass es sich beim postalischen Fernverkehr auf dem Landwege in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahezu ausschließlich um Eisenbahntransporte handelte und alle Vertragspunkte für den grenzüberschreitenden Bahnpostverkehr galten.

2.4 Die Bahn- und Schiffspost Oberhausen – Boxtel – Vlissingen – Queensborough Nach Gründung der UPU nahm der weltweite Postverkehr in Folge der spürbaren Vereinfachungen und Verbilligungen stark zu. Die Auswirkungen waren auch für den Bahnpostverkehr auf der Verbindung Köln-Verviers von gravierender Bedeutung. Trotz der Erleichterungen bei der Bearbeitung gelang es nun nicht mehr, die Briefmassen während der Fahrzeit zu bewältigen, so dass oftmals noch Stunden nach der Ankunft in Köln weiter gearbeitet werden musste (Meissner 1902). Dies lag auch daran, dass es weiterhin zur Dampfschiffverbindung Ostende-Dover für den norddeutschen Postverkehr gen Großbritannien und Übersee keine Alternative gab. Doch bereits kurze Zeit später sollte eine Konkurrenzverbindung über das niederländische Vlissingen entstehen, welche zu dem nördlicher als Dover gelegenen Queensborough führte. Zwar war die Fahrzeit mit rund sechs Stunden um ein Drittel länger, doch bestanden in Queensborough deutlich bessere Anschlüsse an das britische Eisenbahnnetz (Mulvany 1873). Für den internationalen Postverkehr konnte die Schiffsverbindung aber erst dann von Nutzen sein, wenn auch auf niederländischer Seite eine Eisenbahnanbindung bestand. Im Gegensatz zu Belgien konzentrierten sich die Niederlande aber lange Zeit auf ihr leistungsstarkes Netz natürlicher und künstlicher Wasserstraßen und schenkten dem Eisenbahnwesen keine besondere Bedeutung. Zwar wurde schon 1837 durch die »Holländische Eisenbahngesellschaft« (HSM) eine der ersten Verbindungen auf dem Kontinent errichtet. Doch diese nur wenige Kilometer lange Strecke nahe Amsterdam blieb für 143 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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viele Jahre die einzige Eisenbahn. Es dauerte bis zum Jahre 1863 ehe die »Gesellschaft für den Betrieb der niederländischen Staatsbahnen« (SS) gegründet und damit der Auftakt zur Schaffung eines flächendeckenden Netzes gelegt wurde (Claus 1883). Doch bis selbiges entstand, vergingen weitere Jahre. Es sollte bis 1872 dauern, ehe Vlissingen mittels einer 75 Kilometer langen Linie nach Roosendaal mit dem Rest des Landes eisenbahntechnisch verbunden war (Kautz 1933). Zu diesem Zeitpunkt bestand noch keine grenzüberschreitende Eisenbahn mit dem Deutschen Reich. Erst im Mai 1878 wurde die insgesamt 230 Kilometer lange Verbindung der neu gegründeten »Nordbrabantischen Bahn« über Boxtel nach Wesel fertig gestellt. Nun war die für den Bahnpostverkehr notwendige Interkonnektivität gegeben und Vlissingen an das deutsche Eisenbahnnetz angebunden (LA NRW 1878b). Von Beginn an setzte die Deutsche Reichspost in Absprache mit der niederländischen Postverwaltung auf der Strecke Oberhausen-Boxtel einen besonderen Schaffnerdienst ein. Dieser war dem Bahnpostamt 8 in Köln unterstellt und regelte in der Anfangszeit auch die Überführung der deutschen Briefpost für Großbritannien (LA NRW 1878a). Unterdessen hatte auf niederländischer Seite die Schiffsgesellschaft Zeeland zum 1. Juni 1876 den Betrieb auf der Strecke Vlissingen-Queensborough aufgenommen. Dabei wurde auch ein Vertrag zwischen der Gesellschaft mit der niederländischen Postverwaltung abgeschlossen, der in den kommenden Jahrzehnten mehrmals erneuert werden sollte (ten Brink 1969). Durch das Aufkommen der Alternativroute über Vlissingen bekam der Grundsatz der schnellsten Beförderung der UPU für den deutsch-britischen Verkehr eine neue Bedeutung. Erstmals gab es neben dem Weg über Belgien eine Verbindung, die sich als ebenbürtig erweisen konnte. Zunächst war ein Versand über die Niederlande aber nicht attraktiv genug. Während man für die Strecke Berlin – London über Ostende 1879 knapp dreißig Stunden benötige, waren es über Vlissingen noch 34 Stunden (Jahn 1910). Wohl auch deshalb entwickelte sich der deutsch-britische Postverkehr auf der Strecke über Vlissingen anfangs nur mäßig. Im Laufe der Jahre wurden die Zuganschlüsse immer mehr verbessert, wodurch die Linie zunehmend mehr Bedeutung für den europäischen Postverkehr erhielt. Ein wichtiger Schritt war die Fertigstellung der durchgehenden Verbindung Boxtel-Wesel bis nach Berlin im Mai 1881. Damit wurde ein direkter Kartenschlussaus144 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr

Bild 4: »Anhalter Bahnhof um 1900« vom Museum für Kommunikation

tausch zwischen der deutschen Hauptstadt und London über die Vlissinger Route möglich. Der Schaffnerdienst wurde nun durch reguläre Bahnposten ersetzt (LA NRW 1881a). Da die britische Postverwaltung über Vlissingen keine Briefpost nach Deutschland versandte, trat der Dienst zunächst nur einseitig in Richtung Großbritannien in Kraft (LA NRW 1881b). Im März 1885 verständigten sich die London-Chatham-Dover Railway und Zeeland darauf, eine zweite tägliche Schiffsverbindung einzurichten. Hierum hatte bereits zwei Jahre zuvor die Deutsche Reichspost die niederländische Postverwaltung gebeten. Es dauerte allerdings noch bis zum 1. Juli 1887, ehe neben der Nacht-, auch eine Tagesfahrt zwischen Vlissingen und Queensborough eingesetzt wurde (o. V. 1913). Fast zur gleichen Zeit nahm eine neue Schnellzugverbindung zwischen Berlin und Köln den Betrieb auf. Dadurch war die Fahrzeit zwischen Berlin und London auf der Vlissinger Linie mit 24 Stunden um sechs Stunden kürzer als über Ostende. Das ReichsPostamt reagiert prompt, indem es eine Umleitung eines wesentlichen Teils der Post zwischen Norddeutschland und Großbritannien auf die Vlissinger Linie anordnete (LA NRW 1887). So wurde die Vlissinger Linie schlagartig zu einer der bedeutendsten Bahnpostverbindungen Europas. 145 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Denn nach der deutschen entschloss sich jetzt auch die britische Postverwaltung, Teile der für das europäische Festland bestimmten Briefpost über die Strecke Queensborough-Vlissingen zu versenden. Dies hatte eine beträchtliche Verkehrssteigerung zur Folge, so dass ab Oktober 1887 eine gemeinsame Bahnpost der deutschen und niederländischen Postverwaltung auf der Strecke Oberhausen-Vlissingen eingesetzt wurde. Nun konnte die gesamte Verbindung zur Umarbeitung genutzt werden, was zugleich bedeutete, dass deutsche Beamte die Post nicht mehr nur bis zur Grenzstadt Boxtel begleiteten, sondern durch die gesamten Niederlande (Jahn 1910). Die Übertragung der deutschen Post auf die Vlissinger Linie erfolgte »trotz der kräftigen Gegenwehr Belgiens, das um seinen Hafen Ostende besorgt war« (Blöcker 1926, 226). Damit wuchs gleichzeitig der Druck auf die belgische Postverwaltung, ebenfalls den Anfangspunkt der Bahnposten zu verlegen. Nun zeigte man sich deutlich kooperativer als noch in den 1850er Jahren und stimmte einer Ausdehnung der Bahnposten bis nach Ostende zu. Ab dem 1. Juli 1889 konnte die gesamte Strecke zur Umarbeitung der Post genutzt und so die Arbeitszeit um fünf Stunden erhöht werden (o. V. 1902). Parallel zur Vlissinger Route gelang es nun auch beim Weg über Belgien, die verkehrstechnischen Möglichkeiten in der postalischen Praxis zu nutzen. Die enorme Steigerung des internationalen Postverkehrs nach Gründung der UPU machte es möglich, dass der Umfang der beförderten Post auf der Vlissinger Linie trotz der belgischen Gegenmaßnahmen kontinuierlich zunahm. Schon im ersten Jahr nach der Erweiterung der Dienste verdreifachte sich die Menge an Briefpost. In den folgenden zehn Jahren verdoppelte sie sich erneut (o. V. 1910). Detaillierte Angaben zu den auf beiden Verbindungen beförderten Brief- und Paketpostmengen liegen leider nicht vor. Doch können zum gesamten Postumfang zwischen dem Deutschen Reich, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien bzw. den Vereinigten Staaten relativ exakte Aussagen getroffen werden. Die hier zu beobachtenden Tendenzen dürften in großem Maße mit der Entwicklung der Bahnpostverbindungen über Ostende bzw. Vlissingen übereinstimmen. Bis zur Jahrhundertwende erhöhte sich die Zahl der täglich verkehrenden deutsch-belgischen Bahnposten auf 54, von denen 26 bis nach Ostende liefen. Damit war auch eine Flexibilität geschaffen, eventuelle Verspätungen der Dampferlinien zu kompensieren und so den Postaustausch zu gewährleisten (o. V. 1902). 146 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr

60 50 40 30 20 10 0 Großbritannien Niederlande Belgien Diagramm 1: Entwicklung des Briefpostaustauschs mit ausgewählten Ländern von und nach dem Deutschen Reich (in Mio. Stück pro Jahr; ohne Württemberg und Bayern) (eigene Zusammenstellung anhand der Statistik der Deutschen Reichspost und Telegraphenverwaltung 1870–1906)

Die Konkurrenz beider Linien trug maßgeblich dazu bei, dass man sich um eine weitere Beschleunigung bemühte. Hierbei griffen verschiedene Maßnahmen wie die Verbesserung der Eisenbahnanbindungen, die Ausweitung des Schiffsverkehrs, der Kauf neuer Dampfer oder die Optimierung der Bahnposten ineinander. All dies führte dazu, dass die ursprünglich 50-stündige Fahrzeit von Berlin nach London über Ostende (1.172 Kilometer) bis zum Jahre 1906 auf rund 21 Stunden reduziert werden konnte. Die Beförderungszeiten über Vlissingen (1.064 Kilometer) wichen hiervon nur geringfügig ab (o. V. 1906). Dank des stetig steigenden Gesamtumfangs konnte die Linie Köln-Verviers ihre Position behaupten. Zugleich kann man feststellen, dass der Kurs Oberhausen-Vlissingen eine Bedeutung besaß, die dieser kaum noch nachstand. Diese Entwicklung hielt bis zum Jahre 1914 an, ehe im Zuge des Krieges der gesamte regelmäßige Schiffsverkehr und damit auch die Bahnpostverbindungen zwischen dem Kontinent und Großbritannien zum Erliegen kamen (Blöcker 1926). 147 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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3.

Schluss: Die »zeitversetzte Revolution« des internationalen Postwesens

Die revolutionäre Entwicklung des Verkehrs nach Erfindung der Eisenbahnen hatte einen nachhaltigen Einfluss auf das internationale Postwesen. Durch die kombinierte Nutzung der immer zahlreicheren Bahn- und Schiffsverbindungen entstand die Möglichkeit, zwischen weiten Teilen (Nord-)Europas, dem Vereinigten Königreich und dessen Kolonien sowie den Vereinigten Staaten ein Netz für den Briefund Paketverkehr zu errichten. Eine vertragliche Regelung war hierfür die Voraussetzung, was lange Zeit zwischen jedem Staat bzw. jeder Postverwaltung in mühevollen Einzelabsprachen geschah. Dem eigentlichen Leistungsvermögen, welches die Eisenbahnen dem Postwesen schon frühzeitig bot, wurden diese bilateralen Verträge nicht gerecht. Umso beachtlicher sind die Kapazitätssteigerungen zu bewerten, die der Postverkehr bereits in den frühen 1850er Jahren erfuhr. Dies lag – zumindest in Bezug auf den deutsch-britischen Verkehr – nicht unwesentlich am Deutsch-Österreichischen Postverein, dessen Bestimmungen in vielerlei Hinsicht Vorbildcharakter für die weitere Entwicklung hatten. Ansonsten setzte sich die Überzeugung nur sehr langsam durch, dass die Post auch einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Wohle von Bevölkerung und Volkswirtschaft leisten konnte. Die finanziellen Interessen der Einzelstaaten hatten Vorrang, weshalb eine tiefer gehende Zusammenarbeit der europäischen Postverwaltungen bis Ende der 1860er Jahre ausblieb. Dabei darf keineswegs vergessen werden, dass der grenzüberschreitende Bahnpostverkehr schon in seiner Frühzeit einen wichtigen Beitrag zur Integration des internationalen Postwesens leistete. Die Tatsache, dass preußische Beamte bereits Mitte der 1850er Jahre auf belgischem Boden ihrer Arbeit nachkamen und gemeinsam mit ihren belgischen Kollegen die Ausführung des Postaustauschs gewährten, ist ein Beleg hierfür. In den kommenden zwei Jahrzehnten wurde die Rückständigkeit des Postwesens angesichts des expandierenden Eisenbahnbetriebs jedoch immer offensichtlicher. Statt sich die technische Entwicklung vollends zu eigen zu machen, blieb man in einem System mit komplexen, überteuerten Tarifen und hinderlichen Betriebsvorschriften gefangen. Zugleich trug dieser Antagonismus zwischen Eisenbahn und Post aber letztlich dazu bei, dass der verkehrstechnischen Revo148 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Der grenzüberschreitende Eisenbahnverkehr

Bild 5: »Postübernahme in Vlissingen« aus der Festschrift (o. V.) von 1952, S. 14

lution mit 40-jähriger Verzögerung auch eine »postalische Revolution« folgte. Der Allgemeine Postvertrag von 1874 ersetzte die Vielzahl bestehender bilateraler Verträge und wurde für das internationale Postwesen zur verbindlichen Richtschnur. Gleichzeitig ließ er den nationalen Akteuren genügend Spielraum hinsichtlich der praktischen Umsetzung. Mit dem Weltpostverein (UPU) entstand zudem eine intergouvernementale Vereinigung mit denkbar einfachen Strukturen ohne großen Verwaltungsaufwand, in der alle Mitgliedsstaaten gleichberechtigt nebeneinander standen. Ihre Hauptaufgabe war es, die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Postaustausches durch gemeinsame Grundsätze zu vertiefen. Vor allem aber wurde der bis dahin dominierende Grundsatz einzelstaatlicher Fiskalität überwunden und fortan dem Ziel einer kollektiven Verkehrsbelebung untergeordnet. Die einheitliche Regelung von Porto und Transitgebühren hatte zur Folge, dass die Postverwaltungen fortan frei wählen konnten, welche der zur Verfügung stehenden Routen sie für den Versand nut149 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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zen wollten. Der Weltpostvereinsvertrag lieferte somit die Grundlage dafür, dass ausschließlich betrieblich-technische Aspekte wie Geschwindigkeit, Zuverlässigkeit und Organisationsvermögen darüber entschieden, welche Strecke als Leitweg diente. Wie am Beispiel des deutsch-britischen Verkehrs aufgezeigt, führte dies zu einem offenen Wettbewerb zwischen den einzelnen Verbindungen. Dadurch wurde es den Eisenbahnen endlich auch in der Praxis möglich, »Motor« des internationalen Postwesens zu werden.

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Hans Friesen

Die moderne Einheit von Kunst und Technik Technikeinsatz und seine Kritik in der Architektur des 20. Jahrhunderts

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Die Vorgeschichte der modernen Architektur

Für die erste Weltausstellung, eine internationale Ausstellung von ›Kunst und Gewerbe‹ in London, errichtete Joseph Paxton im Jahre 1851 im Hyde Park den Kristallpalast als Ausstellungshalle, die aus einem mit Glas ausgefachten gusseisernen Gerüst bestand. Während die maximale frei überspannte Weite beim Kristallpalast immerhin 22 m betrug, wurde bereits 1889 beim Bau der ›Galérie des Machines‹ für die Weltausstellung in Paris eine stützenfreie Überspannung des Raums von 115 m erreicht. Mit dieser Spannweite und einer Höhe von 43 m verkörperte der Bau der Galérie des Machines den endgültigen Einzug der Eisenkonstruktion in die Architektur des Hallenbaus und stellte eine weitere Stufe der Rationalisierung im Bauwesen dar (Schneider 1989). Aber der Vergleich mit dieser Reihe wirklich fortschrittlicher Gebäude bestärkte bei den individualistischen Künstlern in der Architektur zunächst den im 19. Jahrhundert generellen Eindruck der Unsicherheit im Stilgefühl. In der Architektur des 19. Jahrhunderts wird nicht nur die Stilsicherheit früherer Zeiten, sondern der Stilbegriff überhaupt zum Problem. Unter größter Anstrengung muss dieses Jahrhundert seinen Stil suchen. An dieser Suche beteiligen sich jedoch nicht alle, die mit dem Bauen zu tun haben, sondern mehr oder weniger nur die Architekten. Die Ingenieure, die sich von den Architekten absetzen und selbständig werden, haben ganz andere Probleme. Ihre Aufmerksamkeit gilt hauptsächlich Fragen der technischen Bewältigung, der Spannweite, der Tragfähigkeit, des Materialaufwands usw.; Stilfragen und Ästhetik spielen in diesem Zusammenhang kaum eine Rolle. Insofern bleibt es in erster Linie den Architekten überlassen, den Stil der Zeit zu suchen und zu bestimmen. Die in diesem Sinne »stilbildenden« Architekten sind vor allem in den Ländern Frankreich, England und Deutschland angesiedelt. Von diesen drei Ländern wird die 154 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Die moderne Einheit von Kunst und Technik

Architektur des 19. Jahrhunderts entscheidend in ihrer Gesamtgestalt geprägt, wozu aber neben der Architektur das Ingenieurwesen in Form des Ingenieurbaus gehört und zunehmend an Bedeutung gewinnt, weil in der Moderne des 20. Jahrhunderts die Technik ein zentraler Faktor der Entwicklung des Bauens wird. Bereits seit den zwanziger Jahren ist zunehmend deutlich geworden, wie bemerkenswert viele Seiten des modernen Lebens von der technischen Entwicklung beeinflusst werden. Die Ablehnung des handwerklich sowie industriell gefertigten Ornaments und die Betonung der ›reinen‹ Zweckform, wie sie von Adolf Loos (1964, 15–21) 1 ausgehend gefordert wird, ist nur eine Variante in dem Bemühen, »nach der Ablösung der traditionellen Stileinheit ein neues verpflichtendes Zentrum der Stilorientierung zu suchen« (Renner 1988, 59). Eine andere Variante findet man in dem 1923 begonnenen Versuch von Walter Gropius, eine neue ›Einheit von Technik und Kunst‹ hervorzubringen. Ein markantes Beispiel hierfür lieferte die von seinem Lehrer Peter Behrens 1909 erbaute AEG-Turbinenfabrik in Berlin. Die Giebelfront dieses Gebäudes wird von zwei sich nach oben verjüngenden Eckpylonen flankiert. Das vieleckige Giebelfeld mit dem Firmensignet scheint dem Mittelfenster aufzusitzen; tatsächlich jedoch handelt es sich bei dem Dach um ein Tragsystem aus mit Zugbändern versehenen Dreigelenkbögen, die auf den seitlichen Stützen aufliegen. An der Seitenfront zwischen den Stützen neigen sich die großen Glasfenster leicht zurück. Die Stützen von außen betrachtet erscheinen als Vollwandprofile. In Wirklichkeit aber bestehen die mächtig und massiv wirkenden Fassadenelemente nur aus einer dünnen Betonhaut, die von einem Stahlgitterwerk gehalten wird. Da sie keine tragende, sondern lediglich raumabschließende Funktion haben, verweisen diese Elemente auf die Künstlichkeit der eingesetzten Mittel. Für Behrens muss die Formgebung in der Industriekultur immer über die rein konstruktiven Erfordernisse hinausgehen (vgl. Buddensieg 1979, 2006). Der künstlich erzeugte Ausdruck einer geschlossenen Körperlichkeit aus Glas, Eisen und Beton, die Hervorhebung der Funktionen des Tragens und Lastens, die Gestaltung der Fassade, die an einen modernen Tempel denken lässt – all diese Punkte verweisen auf eine Vereinigung von Kunst und Technik, die vom Betrachter eine ästhetische RezepVgl. dazu auch Sedlmayr 1985, S. 49: Das Ornament »hat in dem allgemeinen Streben nach Reinheit keinen Platz«.

1

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tion verlangt. Behrens interessiert sich jedoch nicht nur für Baumaterialien und ihre ästhetische Wahrnehmung durch den Betrachter; was ihn besonders beschäftigt, sind die Bedingungen einer solchen Wahrnehmung in der modernen Welt, Bedingungen, die in erster Linie mit der Schnelligkeit dieser Zeit zu tun haben. In einer programmatischen Schrift bringt er das vortrefflich zum Ausdruck: »Eine Eile hat sich unserer bemächtigt, die keine Muße gewährt, sich in Einzelheiten zu verlieren. Wenn wir im überschnellen Gefährt durch die Straßen unserer Großstadt jagen, können wir nicht mehr die Details der Gebäude gewahren. Ebensowenig wie vom Schnellzug aus Städtebilder, die wir im schnellen Tempo des Vorbeifahrens streifen, anders wirken können als nur durch ihre Silhouette. Die einzelnen Gebäude sprechen nicht mehr für sich. Einer solchen Betrachtungsweise unserer Außenwelt, die uns bereits zur steten Gewohnheit geworden ist, kommt nur eine Architektur entgegen, die möglichst geschlossene, ruhige Flächen zeigt, die durch die Bündigkeit keine Hindernisse bietet« (zitiert nach Renner 1988, 60). Die Maschine und ihr Sinn, die Bewegung bzw. Dynamik, sind das, was die Zeit um die Jahrhundertwende entscheidend mitgeprägt hat. Insbesondere im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts sind neuartige Entwicklungen wie die ›Verbrennungskraftmaschine‹ und die ›Dynamomaschine‹ zu beobachten, die nicht nur eine gewaltige Produktionssteigerung in den Fabriken ermöglichten, sondern auch den Einzug des elektrischen Lichts in jede Wohnung erlaubten und das Stadtbild in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer weiter veränderten bzw. modernisierten. Für den Hochhausbau in der ersten Hälfte des Jahrhunderts war die Erfindung des elektrisch betriebenen Fahrstuhls von entscheidender Bedeutung (vgl. Oth 1998, 105–120). Eine andere wichtige Voraussetzung für den Hochhausbau war die Einführung von Stahlbeton als Baumaterial. Stahlbeton ist eine Verbindung aus den Komponenten Stahl für die Aufnahme von Zugkräften und Beton; Beton besteht aus einem Gemisch aus Kies und Sand, das unter Zugabe des Bindemittels Zement und Wasser ein druckfestes Material ergibt. Für Le Corbusier haben die neuen Maschinen in Dampfschiffen, Flugzeugen und Automobilen einen »neuen Geist« (»Esprit Nouveau«) erweckt, von dem zu lernen die Architekten bereit sein müssten. Erste Erfolge zeigten sich schon bald in der Architektur, jedoch nicht nur in der Form, dass die neuen Denkweisen, moderne Materialien für moderne Zwecke zu benutzen, lediglich widergespiegelt bzw. 156 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Die moderne Einheit von Kunst und Technik

inaktiv übernommen werden, sondern ebenso darin, dass versucht wird, diesen Zeitereignissen aktiv zu begegnen, d. h. sie zu reflektieren und zu verarbeiten, konkret etwa in den architektonischen Entwürfen bei der Fassadengestaltung. Ein besonders gutes Beispiel hierzu sind die Eckgebäude von Hans Poelzig, Paul Wolf oder Paul Mebes, die vor 1914 realisiert werden. Erich Mendelsohn beschäftigt sich damit auch theoretisch und bringt seine Einschätzung in einem Aufsatz exakt auf den Punkt: »Wie es [das Verlagshaus Rudolf Mosse] im ganzen Ausdruck sichtbar das schnelle Tempo der Straße, die bis zum äußersten gesteigerte Bewegungstendenz zur Ecke, aufnimmt, so bändigt es gleichzeitig durch die Ausgeglichenheit seiner Kräfte die Nervosität der Straße und der Passanten« (Mendelsohn 1930, 28). Auch bei anderen Architekten finden sich grundsätzliche Darstellungen architekturphilosophischer Natur über die Rolle der Technik in der Baukunst. Beispielsweise schreibt Ludwig Mies van der Rohe in einem programmatischen Aufsatz von 1923 über »Industrielles Bauen«, dass er es nicht nur für »die Rationalisierung überkommener Werkmethoden«, sondern vor allem für »die grundlegende Umgestaltung des Bauwesens« nutzen möchte (Mies van der Rohe 1923, 8 ff.). Während Frankreich im 19. Jahrhundert in erster Linie auf der Ebene der geometrischen Organisation von Körper und Raum wirkt, macht sich England sowohl verdient um ein Neuaufleben der Antike als auch um ein neues Naturverständnis im Bauen. Hieraus entstand der englische Park, der keine Achsen kennt wie der französische Park, sondern natürlich anmutende Wege und Pfade, die sich durch Felder und Wälder ziehen und dort kleine Pavillionbauten, gotische Ruinen, griechische Tempel und chinesische Pagoden passieren. Die englische Antikenbegeisterung, die auf ein besonders ausgeprägtes Interesse für den italienischen Architekten und Architekturtheoretiker der Spätrenaissance Andrea Palladio zurückzuführen ist, führt zu einem Klassizismus, der nicht mehr »visionär«, sondern »archäologisch« begründet ist (Hitchcock 1994, 104). Der englische Klassizismus ist aber keineswegs eine einheitliche Erscheinung. Es gibt durchaus gegensätzliche Positionen in dieser Stilform, beispielsweise zwischen den Konservativen und den Modernisten. John Nash ist ein Vertreter der Konservativen, anders John Soane, der als einer der Modernisten bekannt ist (Pevsner 2002, 123). Obwohl sich beide also erheblich voneinander unterscheiden, lässt sich bei ihnen aber auch bereits die Verwendung von Eisen feststellen, allerdings handelt es sich hier noch 157 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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um eine »versteckte bzw. verkleidete Verwendung« dieses Baumaterials (ebd.). Während sich Nash in stilistischer Hinsicht einwandfrei klassizistisch versteht, ist die Position Soanes dadurch gekennzeichnet, dass er versucht, Formen zu finden, die nicht einfach durch das Dorische, Ionische usw. vorherbestimmt sind. Denn Soane, einer der ersten Antikenreisenden, ist der Meinung, dass die wirkliche Verehrung der Antike diese nicht einfach nachahmen darf, sondern die Unterschiedlichkeit und Unvereinbarkeit der beiden weit auseinanderliegenden Epochen akzeptieren sollte. Seine Verehrung versucht er auf seine Weise zum Ausdruck zu bringen, nämlich durch eigenständige Entwurfsleistungen, die er in freier Anlehnung an die Antike, nicht durch deren bloße Nachahmung erbringt (Pevsner 1989, 412). An der von ihm entworfenen Bank von England lassen sich Einzelformen beobachten, die gegenüber dem antiken Vorbild erstaunlich frei sind (Schuhmann-Bacia 1990). Auch der französische Architekt Claude Nicolas Ledoux hatte es abgelehnt, die antiken Vorbilder in der Architektur einfach zu übernehmen. Der deutsche Klassizismus, der aus diesen Entwicklungen zunächst seine Anregungen holt, geht schließlich über den englischen und französischen hinaus und wird um die Jahrhundertwende zum Bildungsklassizismus, der in seiner Spätphase von der literarischen Bewegung der Romantik beeinflusst wird und deshalb seine absolute Stellung als Stil der Zeit beenden muss. Ein Vertreter par excellence dieses Stils ist der vor allem in Berlin tätige Architekt Karl Friedrich Schinkel (Büchel 1994). 2 Dank großer Bauaufträge konnte er seinen eigenen sowohl am Vorbild der klassischen Antike als auch der Gotik geschulten Stil entwickeln und zu einer Art »Schinkelschule« ausbauen, aus der Nachfolger wie Persius, Stüler und Strack hervorgingen. Der Stilbegriff ist aber nicht der einzige Differenzierungspol in der Architektur des 19. Jahrhunderts. Denn in diesem Jahrhundert treten die Spezialisierungen im Bauwesen deutlich auseinander. Das führt schließlich dazu, dass der Ingenieur, der im Barock noch dem Architekten unterstellt war, selbständig tätig wird (Klotz 1995, 203 ff., Giedion 1992, 157 ff.). Er verlagert sein Interesse z. B. auf die

Vgl. dazu Reitzenstein 1956, S. 195, 209, 195: »Tatsächlich ist der Klassizismus, wie ihn Schinkel vertritt, romantisch, und also nicht mehr absolut. […] Der Klassizismus glaubte an die allgemeine zeitlose Gültigkeit eines Stiles, des klassischen. In seiner durch die Romantik gebrochenen Spätphase entledigte er sich der Dogmatik. […] Schinkel glaubt Antike und Gotik miteinander versöhnen zu können.«

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Weltausstellungsarchitektur, in der Bauten für kurze Fristen, d. h. für den Abriss gebaut werden (Schriefers 1999). Einige davon gibt es allerdings noch heute. Bei dieser Version von Architektur, ob wir dabei nun an den vom gelernten Gärtner Joseph Paxton für die Londoner Weltausstellung von 1851 entworfenen Kristallpalast, für den erstmals Bauteile in Serienproduktion gefertigt und am Bauplatz montiert wurden, oder an den vom französischen Ingenieur Gustave Eiffel errichteten Eiffelturm für die Pariser Weltausstellung von 1889 denken, handelt es sich um eine Demonstrationsbauweise gegen die schwere, dumpfe Baumasse. Es kommt erstmals eine Architektur der Durchsichtigkeit, der Transparenz zum Tragen, die insbesondere, wie gesagt, dem Hallenbau zugutekommt. Transparenz wird beispielsweise durch in Glas gehüllte Gebäude oder durch neuartige schlanke Eisenkonstruktionen geschaffen. Eine weitere Persönlichkeit in der Architektur des 19. Jahrhunderts ist Gottfried Semper (Semper 1966). Er kam als politischer Flüchtling nach England und wurde dort 1851 mit der Weltausstellungsarchitektur konfrontiert, die er allerdings nicht schätzte. Semper ist aber keineswegs als ›Klassizist‹ zu bezeichnen, der sich nur auf die italienische Renaissancearchitektur beschränkt, sondern versucht (gerade auch in seinem theoretischen Werk »Der Stil«) geschichtlich zu denken. Diese Hinwendung zum geschichtlichen Denken darf als allgemeines Phänomen des 19. Jahrhunderts betrachtet werden (Scharabi 1993, 14 ff.). In diesem Zusammenhang kommt es dann auch in der Architektur zu einer systematischen Erforschung der Antike, mit der sich im deutschsprachigen Raum Leo von Klenze und Jacob Ignatz Hittorf besonders ausgiebig beschäftigt haben. Die allgemeine Konsequenz dieser Auffassung von historischer Bildung ist ein Relativismus, d. h. auf der Stilebene der Architektur der Historismus. Das Kernproblem des Historismus lässt sich am besten feststellen mit einem Hinweis auf die Schrift von Heinrich Hübsch, die schon im Titel die Frage stellt: »In welchem Style sollen wir bauen?« Diese Frage nach dem Stil wird im 19. Jahrhundert zu einem allgemeinen und damit zu einem ernsthaften Problem. Das führt beispielsweise dazu, dass selbst Schinkel für den Entwurf der Werderschen Kirche in Berlin drei Entwürfe vorlegt, den ersten im ›klassischen‹, den zweiten im ›Gotik-Stil‹ und den dritten im ›Renaissance-Stil‹, wobei der zweite schließlich zur Ausführung gelangt. Auch Leo von Klenze hat für das Projekt der Münchener Glyptothek drei Entwürfe (im griechischen, römischen und Renaissance-Stil) 159 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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produziert (Mignot 1983, 18). Diese Situation führte im Laufe der Zeit zu immer weiteren Übertreibungen, man könnte auch sagen, zu völlig wahllosen stilistischen Gestaltungen. Die extremen Übertreibungen bewirken schließlich die Auflösung des Historismus. Diese Lage führt dann nach 1890 zur Entstehung einer neuen Erscheinung in der Architektur, zur Entstehung des »Jugendstils«, der in Österreich »Sezessionsstil«, in England »Modern Style« und in Belgien und Frankreich »Art Nouveau« genannt wurde.

2.

Die Architektur der ersten industrialisierten Moderne

Das Formgefühl des Jugendstils orientiert sich nicht mehr an historischen Vorbildern, sondern vielmehr an bestimmten Naturphänomenen, so etwa an Pflanzen (Lilien, Ranken) und Tieren (Schwäne), oder etwa an langem wallenden Frauenhaar. Es sind einerseits Wesen oder Erscheinungen von voluminöser Natur, deren Darstellung andererseits aber äußerst fragil ist (vgl. Russell 1982, Benevolo 1964). Der Jugendstil, dessen Wesen sich in einem stark individualistisch und kunsthandwerklich geprägten Moment ausdrückt, eignet sich wenig zur Behandlung der wirklichen Probleme seiner Zeit. Die zentralen Bauaufgaben Anfang des Jahrhunderts, wie Siedlungsbau, Fabrikbau und Bürobau, erfordern Wiederholung gleicher Elemente und billigste Ausführungsverfahren (vgl. Junghanns 1994). Das hat weitreichende Folgen, auch für das Ornament. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts kann man sich nicht mehr unproblematisch zum Ornament verhalten. Bei Adolf Loos und Tony Garnier beispielsweise läuft die Kritik des Ornaments auf dessen radikale Verwerfung hinaus. Aber auch ein Architekt wie Henry van de Velde muss sein Verhältnis zum Ornament überdenken. Wahrhaftigkeit in der Behandlung der Konstruktion wird nämlich zum obersten Gebot der Zeit erhoben. Bei Gropius, aber auch schon bei Perret, führt das dazu, dass das tragende Eisenbetonskelett von der nichttragenden Hülle oder der vorgehängten Außenschale aus Glas und Leichtmetall optisch unterschieden wird. Beide nehmen dem Bau seinen massiven Charakter und machen ihn transparent. Die Anwendung der Skelettbauweise und die Forderung nach Konstruktionsgerechtigkeit führen dann auch zum so genannten freien Grundriss. Eine flexible Tragstruktur erlaubt Innenräume frei unterteilbar zu machen. Zur Verwirklichung dieser Vorstellungen kommen erstmals die Gedanken 160 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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an eine industrielle Vorfertigung und an den »Montagebau« auf; das stellt eine Entwicklung dar, die von den überlieferten Baumethoden in erheblichem Maße abweicht. Die Idee bestand darin, in der Fabrik vorgefertigte Bauelemente aus Beton, die mit dem LKW angeliefert werden, auf der Baustelle präzise zu versetzen, d. h. zu montieren, wobei die wichtigen Elemente wie Decken und Wände einen hohen Qualitätsstandard gewährleisten. Diese neuen Auffassungen prägen dann auch Schlagworte wie »Neues Bauen« oder »Internationaler Stil«. Die modernen Konstruktionsvorstellungen, die im russischen Konstruktivismus noch um ihrer selbst willen verwendet wurden, werden im »Neuen Bauen« und im »Internationalen Stil« ausschließlich in wirtschaftlicher und funktioneller Hinsicht beurteilt. Dies mündet dann im Postulat der seriellen, vollkommen rational geplanten »Wohnmaschine«. Mit dem Schlagwort der Wohnmaschine wollte Le Corbusier darauf hinweisen, dass der Architekt mit der gleichen Einstellung an das Problem des Wohnungsbaus heranzugehen habe, wie der Ingenieur an das Problem des Schiffs- oder Flugzeugbaus oder der Fahrzeugfertigung in der Automobilindustrie (vgl. Corbusier 1963). Ein berühmtes Foto aus dem Jahre 1927 zeigt eine elegante Frau mit ihrem Benz Typ 838 vor einem der beiden ›Le-CorbusierHäuser‹ aus der Stuttgarter Weißenhofsiedlung. 3 Es ging Le Corbusier aber nicht darum, die Formen der Maschinen nachzuahmen, sondern um eine dem »Esprit Nouveau« entsprechende Denkweise für die Architektur hervorzubringen, die geeignet war zur Schaffung einer neuen Ordnung für das Gebäude und die Stadt. Dabei eröffnete vor allem der Stahlbetonbau bisher nicht gekannte gestalterische und konstruktive Möglichkeiten, etwa wenn Le Corbusier als erster Architekt die Abdrücke der hölzernen Schalungen im Beton nicht entfernte, sondern ästhetisierte, gerade indem er den Beton in seinem Rohzustand erhielt und offen zeigte. In diesem Sinne muss auch die von Gropius herausgegebene Parole »Kunst und Technik – eine neue Einheit« gesehen werden, womit die Hinwendung der Gestaltung auf die Industrie gemeint ist. Mit den neuen maschinellen Produktionsmethoden und der Verwendung neuer Baumaterialien sollten Räume und Gebäude hervorgebracht werden, die das Verhältnis des Menschen zu seiner Wohn-Umwelt radikal verändern und so im Sinne einer Verbesserung der Lebensqualität wirken würden. Als beispielhaft gelungen bezeichnet man in der Architekturgeschichte den Bau 3

Vgl. dazu das Foto in: Gössel, Leuthäuser (1994, 169).

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der Villa Savoye von Le Corbusier. Ebenso wie das Gebäude in Stuttgart ist dieses in einer Stahlbeton-Skelettkonstruktion ausgeführt worden. Le Corbusiers Leitmotiv bestand darin, Transparenz und Schweben in diesem Bau zu verwirklichen (vgl. Curtis 1989, 186 ff.). Er erreicht das insbesondere durch die auf »Pilotis« errichtete bzw. aufgestockte Wohnzone und den Dachgarten, wodurch der Bau insgesamt nicht nur optisch, sondern auch tatsächlich vom Boden abgelöst wirkt, was allerdings auch zu heftigen Angriffen führte. Man war in konservativen Kreisen der Ansicht, dass die durch »Pilotis« (d. h. durch eine offene bzw. sichtbare Pfeilerkonstruktion des Erdgeschosses) erreichte Ablösung des Baukörpers vom Boden eine radikale Entwurzelung des traditionellen Wohnens zur Folge haben könnte. Trotzdem hat diese Kritik die moderne Architektur nicht aufhalten können, sondern im Gegenteil ihre Haltung bekräftigt, die Tradition zu überwinden und den Blick auf die technologische Zukunft des Bauens zu richten. Der enorme Anstieg der Wohnraum suchenden Bevölkerung einerseits und das parallel dazu gesteigerte Tempo der Urbanisierung andererseits sprachen deutlich für eine zunehmende Industrialisierung des Bauwesens, wie sie Mies van der Rohe schon 1923 gefordert hatte. In besonderem Maße gilt das für die Nachkriegszeit. Die Industrialisierung des Bauens führt in dieser Zeit allerdings zu besonders negativen sozialen Auswüchsen. Gerade in den ersten Nachkriegsjahrzehnten kommt die »Geschichtslosigkeit der modernen Architektur« der »Geschichtslosigkeit vieler Nachkriegsdeutschen« besonders gut entgegen. Die Weigerung, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, führt im Städtebau zu einer einseitig ideologischen Bevorzugung der architektonischen und städtebaulichen Modelle der 1920er Jahre (vgl. Moos 1990, 121). Für diese Modelle setzt der Wiederaufbau den Abriss voraus. In der Folgezeit entstanden diverse vor allem in der Baumethode des Stahlbetonbaus (unter Verwendung vorgespannter Bauteile) sowohl im Montagebau als auch im Fertigbau ausgeführte Trabantenstädte wie beispielsweise in Berlin das »Märkische Viertel«, »Marzahn Nord« und die »Gropius-Stadt« oder in Bremen die Großsiedlung »Neue Vahr«. Zum großen Teil entstanden solche Projekte, die oft als Produkt reiner ökonomischer Effizienzberechnung zu betrachten sind, nicht nur an der Peripherie der Städte, sondern auch ohne jedes soziale Leitbild. Dadurch wurde das öffentliche Leben nicht nur der innerstädtischen Bereiche in etlichen Fällen ausgetrocknet, sondern auch in den Großsiedlungen am Stadtrand, wo infolgedessen neue 162 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Möglichkeiten von Kriminalität verursacht wurden (Lukas 2010). Es gibt diese Großsiedlungen aber nicht nur in der BRD, sondern sie sind ebenfalls in der DDR (vgl. Hoscislawski 1991) zu beobachten. In der BRD setzte Mitte der 1970er Jahre allmählich ein Umdenken ein, das zwar nicht zu einer grundsätzlichen Veränderung der Auffassung von Architektur führen sollte, aber dennoch (jedenfalls in mehreren Ausnahmefällen) zur Favorisierung sowohl ästhetisch als auch technologisch überzeugender Lösungen im Bauwesen beitrug. 4

3.

Die Architektur der Nachkriegszeit: Bauwirtschaftsfunktionalismus

Die großen Flächenbombardierungen des Zweiten Weltkrieges schufen allererst die Voraussetzung dafür, die radikalen Ideen des modernen Städtebaus, von denen in der Vorkriegszeit so gut wie nichts realisiert wurde, wieder aufzugreifen (vgl. Moos 1990). Der Wiederaufbau von Rotterdam gehört zu den positiv herausragenden Beispielen moderner Stadtplanung in der Nachkriegszeit (vgl. Westfälischer Kunstverein Münster 1993). Bombardierungen hatten hier das städtische Gebiet total verwüstet. In den ersten Nachkriegsjahren entschloss man sich zu einer konsequenten funktionalistischen Lösung hinsichtlich des Wiederaufbaus. Das hierin sichtbare radikale städtebauliche Bekenntnis zur funktionalistischen Moderne hatte jedoch auch eine starke Zeichenfunktion im Sinne eines verkörperten Antifaschismus, so dass recht schnell nicht nur in den westeuropäischen Ländern, sondern auch in den sozialistischen Staaten großzügige Planungen erfolgen konnten. Die schlichte Geometrie des Neuen Bauens erschien vielen nach 1945 als die einzige noch annehmbare und ehrliche Architektursprache. Allerdings spielten neben den politischen Vorstellungen insbesondere die wirtschaftlichen Möglichkeiten die entscheidende Rolle für eine bauliche Umsetzung der ArchitekturUtopien der 1920er Jahre. Zwar waren bereits in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die bauwirtschaftlichen Grundlagen vorhanden, um große städtebauliche Vorstellungen zu realisieren, doch erst im wirtschaftlichen Boom der 1960er Jahre wurden Großtafelbauweise, Scheibenhochhaus und Zeilenbau zum Inbegriff der Vgl. Schreiber 1986, S. 7–22. In diesem Band werden positive Ausnahmeerscheinungen von Architektur in der Bundesrepublik vorgestellt.

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modernen Stadt. Aber die meisten formunbewusst arbeitenden Ingenieure und funktionalistischen Architekten, die sowohl individuelle als auch gesellschaftliche »Ansprüche begreifen und in technisch und ökonomisch realisierbare Ordnungs- und Inszenierungskonzepte umsetzen« sollten, waren in dem Anspruch, »die Inhalte zu ästhetischen Werten sinnlich zu transzendieren« (Marg 2000, 52), völlig überfordert. Im durchschnittlichen Wohnungsbau verkümmerte die Typologie der modernen Architektur recht bald zu einem einfallslosen Schematismus, dem die Schreckbilder sozialer Entfremdung, Monotonie und schutzlosen Ausgeliefertseins folgten, was wiederum zum Anstieg von Vandalismus und Verbrechen in den Wohnsiedlungen führte (vgl. Moos 1990). Technikeinsatz im Bauwesen ohne eine zugrunde liegende soziale Idee menschlichen Wohnens führte also zu ›Schreckbildern sozialer Entfremdung‹, wie sie aber nicht nur in Deutschland und Europa, sondern desgleichen vor allem in den USA beobachtet werden konnten (vgl. Habermas 1985). Die technokratischen Planungsstrategien der rein konstruktionsbewussten Ingenieure und rein funktionalistischen Architekten hatten ihre Überzeugungskraft eingebüßt, weil der ihren Ansätzen zugrunde liegende instrumentelle Rationalismus 5 von den Menschen allgemein erkannt worden war, und wurden seit Mitte der 1960er Jahre zunehmend in der Öffentlichkeit der westlichen Welt kritisiert. Es sind im deutschsprachigen Raum insbesondere zwei Bücher, die auf eher konservativem Niveau eine architekturtheoretische Auseinandersetzung mit dem Thema Stadt einführten, nämlich das 1964 erschienene Werk »Die gemordete Stadt« von Wolf Jobst Siedler und das 1977 veröffentlichte Werk »Das kurze Leben der modernen Architektur« von Eberhard Schulz, die nicht nur in Fachkreisen der Soziologie und Psychologie eine breitere Diskussion in der Öffentlichkeit beginnen, die zwar in den folgenden Jahren eine Veränderung der öffentlichen Meinung über Architektur und Städtebau bewirkte, aber leider keine durchschlagende Erneuerung hinsichtlich der Praxis des Bauens nach sich zog. Darauf hinzuwirken, d. h. die in der Praxis tätigen Architekten und Ingenieure bereits in ihrer Ausbildung entsprechend zu mo-

Vgl. Kücker (1976, 112): Das betrifft allerdings nicht alle Funktionalisten, denn für »den als platten Funktionalisten mißverstandenen Sullivan war die Befriedigung emotioneller Bedürfnisse auch eine Funktion. Weil die funktionelle Architektur die Emotionen des Individuums mißachtete, zog es sich in eine sentimentale Welt des schönen Scheins zurück.« Damit ist wahrscheinlich die Postmoderne gemeint.

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tivieren, wäre auch die Aufgabe einer Architekturtheorie gewesen, die die Welten von Technik und Kunst verbindet und sich daneben ihrer soziokulturellen Verantwortung bewusst ist. Doch eine solche philosophisch bestimmte Architekturtheorie gab es in den 1970er Jahren noch nicht, obwohl der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich schon 1965 mit seinem Pamphlet »Die Unwirtlichkeit unserer Städte« zum Unfrieden anstiftete, d. h. zum Nachdenken über unsere Städte anregte, leider jedoch wie andere Architekturkritiker nur wenig Gehör fand (vgl. Mitscherlich 2008).

4.

Ansätze einer postmodernen Kritik der Moderne

Trotz der unterschiedlichen Akzentsetzung war den Architekten der Moderne sicherlich eines gemeinsam, nämlich das Leben durch funktionale Architektur reformieren zu wollen. Aber ihr Einfluss auf die internationale Architekturentwicklung rückte ihre Konzeptionen nachträglich in ein zwiespältiges Licht. In diesem Lichte wurde in den 1970er Jahren dann immer sichtbarer, dass in der Moderne eine Dialektik zum Tragen kommt: Die Vision der Moderne, die die soziale Ungleichheit unter den Menschen, die sie zu Recht als Ungerechtigkeit anklagten, durch eine »Architektur der industriell produzierten Gleichheit« aufheben wollte, schlug in eine Uniformierung des Lebens ihrer Bewohner um. Dies ist heute gut zu erkennen an den Hochhäusern und Trabantenstädten, die in den 1950er und 1960er Jahren in aller Welt entstanden. Nicht ohne Grund begann die Kritik an der Moderne, die später in den Postmodernismus mündete und allgemein bekannt wurde, in diesem Zeitraum (vgl. Wolfe 1986). Die moderne Architektur gründet auf der Illusion einer prinzipiell technischen Bestimmbarkeit und Darstellbarkeit von Formen bewohnbarer Räumlichkeit. Sie ist sogar davon überzeugt, dass sich die Wohnenden darin auch verändern würden. Heute zeigt sich jedoch deutlich, dass sie die Bedürfnisse nicht hatten, die sie den modernen Architekten zufolge eigentlich haben sollten. Der Irrsinn der Modernen von 1919 bis 1933 bestand darin, dass sie die Realität an ihre Ideen anzugleichen suchten. Erst viel später sind einige ihrer Schüler, wie z. B. Philip Johnson, auf den Gedanken gekommen, diese Ideen mit den wirklichen Bedürfnissen der Wohnenden zu vergleichen. Es ist heute kein Geheimnis mehr, dass die funktionale Formgebung der Einrichtungsgegenstände, wie sie von Le Corbusier, von 165 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Mies van der Rohe und von Breuer entworfen wurden, nur in der Theorie den Körperbewegungen angepasst worden ist. Aus diesem Grunde kann Paolo Portoghesi auch behaupten, die Bauhaus-Möbel würden »eine genetische Mutation der menschlichen Rasse voraussetzen« (Portoghesi 1982, 31). Die funktionale Formgebung von Räumen und Möbeln orientiert sich in der modernen Architektur an den geometrischen Grundformen, vor allem am Würfel, »von dem durch Vereinfachung oder Hinzufügung alle Grundelemente des funktionalen Vokabulars abgeleitet werden können …«, wie Portoghesi (1982, 9) sagt. Die Frage ist nur, verbessern funktional konzipierte Räume und Möbel das Leben der Benutzer überhaupt? Sicherlich nicht eindeutig (nach unserem heutigen Erfahrungsschatz), denn Räume, die nach Maßgabe eines vorher festgelegten funktionalen Modells gebaut und eingerichtet worden sind, üben auf die Benutzer einen vorschreibenden Einfluss aus und verhindern die Entfaltung ihrer eigenen Kreativität bei der zweckmäßigen Verbindung von Form und Funktion, was in der Praxis häufig eine Abweichung von der vorgesehenen Raumverwendung zur Folge hat. Um 1910 hielt Adolf Loos einen Vortrag mit dem Titel »Ornament und Verbrechen«, der die Ornamentlosigkeit an den Gebrauchsgegenständen und in der Architektur zum neuen Stil ausruft. Fünfzig Jahre später findet diese Tendenz der Moderne in dem Wiener Maler Hundertwasser einen ihrer schärfsten Kritiker. Er spricht von der »moralischen Unbewohnbarkeit« der modernen Architektur, die im Vergleich mit der »materiellen Unbewohnbarkeit der Elendsviertel« eine wesentliche Verschlechterung aufzeigen könne, weil »in den sogenannten Elendsvierteln nur der Körper zugrunde gehe«, »in der angeblich für den Menschen geplanten Architektur« aber »seine Seele zugrunde« gehen würde (vgl. Hundertwasser 1964). Gegen alle strengen Funktionalisten will er das »unnütze Formenspiel« verteidigen, denn Formenreichtum der Architektur sei Maßstab ihrer Bewohnbarkeit. Würde man die Intentionen der Funktionalisten etwas genauer betrachten, könnte man erkennen, dass die Verdrängung des Ornaments durch die »gerade Linie« mit einer Kritik an der Bildersprache bürgerlicher Repräsentation zu tun hat, zu deren Hauptbegriffen die ornamentalen Prunkfassaden gehörten. Trotzdem ist Hundertwasser wohl Recht zu geben, denn die Funktionalisten verstanden es nicht, ihre Kritik an der bürgerlichen Architektur des 19. Jahrhunderts zur Fertigung bewohnbarer moderner Architektur 166 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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zu nutzen. Tatsächlich entsteht der Eindruck, dass Le Corbusiers Forderung nach Verbesserung der Wohnverhältnisse in Wahrheit die Reproduktion der Arbeitskraft verbessern sollte und dass Mies van der Rohe mit seinen Wohnhochhäusern nur einem Bedürfnis der neuen Massengesellschaft entgegenkam. Für Mies ist es letztlich nicht relevant, ob man als Architekt sozialen Wohnungsbau oder Villen für die Oberschicht macht, sondern ob man sich angemessen auf die Frage der Gestaltung, d. h. auf die Formfindung aus Material, Konstruktion, Funktion oder Zweck, konzentriert. Angesichts der wachsenden ökonomischen Zwänge am Anfang des Jahrhunderts eine Angleichung der Lebensformen an den Standard der industriellen Massenproduktion zu fordern, wie Gropius das 1913 in einem Aufsatz über die Entwicklung der modernen Industriebaukunst getan hat (und daher könnte man ihn auch als ambivalente Figur betrachten), ist durchaus als Zynismus zu bewerten: »Aber auch vom sozialen Standpunkt aus ist es nicht gleichgültig, ob der moderne Fabrikarbeiter in öden, häßlichen Industriekasernen oder in wohlproportionierten Räumen seine Arbeit verrichtet. Er wird dort freudiger am Mitschaffen großer gemeinsamer Werte arbeiten, wo seine vom Künstler durchgebildete Arbeitsstätte dem einen jeden eingeborenen Schönheitsgefühls entgegenkommt und auf die Eintönigkeit der mechanischen Arbeit belebend einwirkt. So wird mit der zunehmenden Zufriedenheit Arbeitsgeist und Leistungsfähigkeit des Betriebes wachsen.« (Gropius 1913, 20) Trotz aller Kritik gilt für Walter Gropius insgesamt jedoch, was Max Bill bereits gegen Ende der 1960er Jahre über Ludwig Mies van der Rohe festgestellt bzw. anerkannt hat: »Es geht mir mit Mies wie mit einer mir fremden Religion, die mich dennoch fesselt. Denn gewiß ist er einer der großen Priester der neuen Architektur. Dies entrückt ihn der Kritik mit den normalen Maßstäben, gleich seinen Generationsgenossen Le Corbusier und Walter Gropius. Jeder von ihnen hat der Entwicklung der neuen Architektur solch wesentliche Impulse gegeben, daß sie als deren drei Propheten wirken.« (Bill 1969, 970) Der amerikanische Architekturtheoretiker Charles Jencks, der die Moderne mit dem Instrumentarium der Linguistik analysiert, ist dagegen der Meinung, dass die Architektur vom Bauhaus bis zum International Style eine Sprache entwickelt hatte, die nicht in die ihrer Benutzer übersetzbar war. Die einfache Codierung dieser Sprache wurde getragen vom Mythos einer Sozialreform, der in der Hoffnung bestand, die Gesellschaft, ohne eine politische Revolution an167 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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zustreben, mittels einer technologisch fortschrittlichen Architektur, die auf Vorfertigung und serielle Produktion der Baumaterialien setzt, zu verändern. Diese Auffassung von Architektur sollte radikal den Verunreinigungen durch Tradition entsagen und gewissermaßen aus sich selbst heraus die Architektur und die Gesellschaft neu entstehen lassen. Gegen diesen Mythos haben die ersten Vertreter der Postmoderne (Robert Venturi, Philip Johnson, Charles Moore, James Stirling, Michael Graves, Aldo Rossi etc.), die die Bedürfnisse der Benutzer besser zu erkennen glaubten, eine andere Richtung eingeschlagen, in der sich die Konturen einer Architektur abzuzeichnen begannen, die in den Schoß der Geschichte zurückgekehrt war. Die Postmoderne in der Architektur »leugnet die moderne Tradition nicht«, wie Paolo Portoghesi sagt, »aber interpretiert sie frei, integriert sie und durchläuft kritisch ihre Ruhmestaten und ihre Fehler. Im Gegensatz zu den Dogmen der Einwertigkeit, der persönlichen stilistischen Kohärenz, des statischen und dynamischen Gleichgewichts, im Gegensatz zur Reinheit und zum Fehlen jeglichen volkstümlichen Elements, wertet die Architektur der Postmoderne die Doppeldeutigkeit und die Ironie wieder auf, die Vielfalt der Stile, den doppelten Kodex, der einerseits erlaubt, dem Volksgeschmack durch geschichtliche und mundartliche Zitierungen zu entsprechen, und andererseits sich an die Fachleute wendet durch ausführliche Offenlegung des Aufbaus eines architektonischen Objekts« (Portoghesi 1982, 36). Mit dieser Auffassung, der andere radikal gegenüberstehen, wurde die Moderne, die hier als eindimensional dargestellt wird, sehr energisch in Frage gestellt zugunsten der Postmoderne.

5.

Argumente für eine Revision der Moderne

Über die Postmoderne in der Architektur gibt es im Wesentlichen zwei Theorien. Erstens die des Architekturtheoretikers Charles Jencks, der den Begriff »Postmoderne« in seinem 1977 erschienenen Buch »The Language of Post-Modern Architecture« (»Die Sprache der postmodernen Architektur«) eingeführt hat (Jencks 1988). Er geht davon aus, dass die Moderne ein abgeschlossener Zeitraum ist, dessen Ende er als »Tod der modernen Architektur« bezeichnet. Jencks setzt ihn mit der Sprengung einer Hochhaussiedlung in St. Louis am Anfang der 1970er Jahre gleich, welche nach Prinzipien der Moderne erbaut worden war. Diese radikale Auslöschung einer 168 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Die moderne Einheit von Kunst und Technik

ganzen Siedlung bedeutet für ihn das Eingestehen eines fundamentalen Irrtums, der menschliche Wohnbedürfnisse weitgehend vernachlässigt hatte. Erst danach entsteht laut Jencks die Postmoderne. Sie stellt etwas ganz Neues und Anderes dar und beruft sich auch nicht mehr positiv auf die Moderne. Der Architekturtheoretiker Heinrich Klotz dagegen sieht in der Postmoderne eine Revision der Moderne, die auf eine »Zweite Moderne« hinausläuft (Klotz 1984, 1994, 1996). Etwas »revidieren« bedeutet, es einer Prüfung zu unterziehen und danach Korrekturen und Änderungen vorzunehmen. Die Theorien und Werke der Moderne wurden also geprüft und ihre guten Ansätze (nicht die Ideen des Bauwirtschaftsfunktionalismus) in der Postmoderne wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Somit kann für Klotz die klassische Moderne nicht als abgeschlossen betrachtet werden. In seinen zahlreichen Büchern, in denen der Versuch, »Argumente für eine Revision der Moderne« zu finden und zu erläutern, immer im Vordergrund steht, verdeutlicht Klotz seine Theorie anhand von konkreten Beispielen von Architekten und ihren Werken.

6.

Erfordernisse einer industrialisierten High-Tech-Moderne

Die Halle für die deutsche Industrieausstellung in Khartum 1961, die von Georg Lippsmeier und F. Reiser entworfen wurde, kann als erstes Zeugnis der High-Tech-Architektur nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtet werden. Die Wurzeln der High-Tech-Architektur reichen bis in die Zeit der ersten industriellen Revolution zurück. Man kann auf jeden Fall eine durchgehende Linie von den frühen Ingenieurbauten des 19. Jahrhunderts über die Standardisierung von Bauteilen im Neuen Bauen der 1920er Jahre bis zu den jüngsten High-Tech-Gebäuden von Rogers und Foster ziehen. Die spätmoderne High-TechArchitektur der 1960er Jahre ist insofern nicht neu, sondern wird als eine unter anderen Fortsetzungen der Moderne betrachtet. Zwar stehen die Bauingenieure bei den meisten Bauvorhaben in zweiter Reihe, aber wenn es etwa um den Brückenbau geht, sind sie nicht nur für die »Statik«, sondern auch für die »Ästhetik« allein verantwortlich. Der Zusammenhang von technischer Bau- und ästhetischer Lebenswelt zeigt sich hier nicht als Leistung des Architekten, sondern des Ingenieurs, der sich in einem technischen und ästheti169 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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schen Sinne mit den Bedürfnissen und Erfordernissen der Region zu beschäftigen vermag, in der das Bauwerk errichtet wird. 6 Der Bauingenieur Jörg Schlaich beispielsweise, der für Projekte von Frei Otto, Fritz Trautwein und Frank O. Gehry die statischen Berechnungen geliefert hat, hat den genannten Zusammenhang von Ästhetik, Statik und Kultur- bzw. Lebenswelt ausdrücklich mit seinem Entwurf der Hooghly-Brücke Vidyasagar Setu, die in der indischen Metropole Kalkutta über den westlichen Mündungsarm des Ganges, dem Hooghly River, führt, hergestellt und auch die notwendigen Konsequenzen bei der Ausführung daraus gezogen. So hat er bei der Realisierung der rund 500 Meter langen Seilbrücke nicht die hochentwickelte Schweißtechnologie aus dem Westen zum Einsatz gebracht, sondern ließ dieses in fünfzehnjähriger Bauzeit 1993 fertig gestellte Brückenprojekt vollständig nieten, um damit sowohl bei der Konstruktion auf die landesüblichen Standards Rücksicht zu nehmen als auch beim Bau mit den Aufträgen und der Arbeit so weit wie möglich im Lande bleiben zu können (Bögle 2004, 191–195). Nicht wie Schlaich auf die Gegebenheiten der landesüblichen Bauwirtschaft, sondern auf jene des Baugeländes ist Behnisch beim Bau des Münchener Olympiazeltes erkennbar eingegangen. Er übernimmt das von Frei Otto entwickelte bautechnische Zeltprinzip. Dessen Ziel war, für seine zahlreichen Arbeiten im Leichtbau mit Seilnetzen, den sogenannten »zugbeanspruchten Konstruktionen« (Otto 1962, 1966), ein effizientes und ressourcensparendes Bauen zu ermöglichen. Über die verschiedenen Sportstätten in München, die er für bzw. mit Behnisch entwarf, wölben sich solche riesenhaften Seilnetze. Zwischen den einzelnen Masten, die von den Besuchern im Hintergrund stets zu sehen sind, spannt sich ein Netz aus Stahlseilen, auf dem eine aus Plexiglastafeln zusammengesetzte Schuppenhaut liegt, die Frei Otto entwickelte. Weiche Formen ersetzen in diesem Bauwerk alles Kantige und Rechtwinklige. Architektur und Landschaft bilden hier keinen Gegensatz, sondern können dadurch ineinanderfließen. Funktional notwendige Gebäudeteile und Sportstätten werden in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsarchitekten Wolfgang Leonhardt entweder in Geländemulden eingebaut oder verschwinden völlig unter der Erde. Das sicherlich bedeutendste Monument der spätmodernen Diese Auffassung vertritt Leonhardt 1982, S. 9, sowie im 2. Kapitel: Zu den Grundfragen der Ästhetik, S. 11–31.

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High-Tech-Architektur ist das Centre Pompidou in Paris. Äußerlich gleicht es einer großen Maschine. Um im Inneren einen möglichst vielseitig nutzbaren Raum zu haben, hat man die ganzen Versorgungselemente wie Rolltreppen, Aufzüge, Wasserleitungen, Lüftungen und Stromkabel nach außen verlagert. Die Außenseite des Gebäudes ist übersät von farbig akzentuierten Rohrleitungen. An der Fassade ist eine verglaste Rolltreppe erkennbar. Man könnte das Gebäude als Höhepunkt der aus dem Ingenieurbau des 19. Jahrhunderts stammenden Maschinenfaszination der Moderne, oder aber auch als Ausdruck eines ›technologischen Exhibitionismus‹ bezeichnen. Die Vorliebe für Technizismen Anfang der 1970er Jahre steht sicherlich im Zusammenhang mit der ersten Mondlandung im Jahre 1969, die in der Weltöffentlichkeit als Triumph der Technik allgemein in Erscheinung getreten ist. Die unverkleideten Rohrleitungen und Lüftungsschächte des Centre Pompidou werden vor diesem Hintergrund zu Kennzeichen einer neuen ›High-Tech-Ästhetik‹. Weil sich die Architekten hier bewusst nicht um eine Anpassung ihres Baus an die historische Bebauung der Umgebung bemüht haben, kann deren Anblick manche Betrachter nicht überzeugen. Wie auch immer man das Centre Pompidou beurteilt, auf jeden Fall kann man es in eine Tradition rücken, die mit dem Londoner Kristallpalast im Jahre 1851 beginnt und über die »Galerie des Machines« für die Pariser Weltausstellung von 1889 bis zur Hongkongund-Shanghai-Bank, die 1986 fertiggestellt wird, führt. Weitere Exemplare dieser Gattung sind seit den 1990er Jahren in aller Welt errichtet worden. Das Bedeutendste ist sicher das von Norman Forster genannte Gebäude der Hongkong- und Shanghai-Bank. Fosters Bankgebäude in Hongkong ist tatsächlich eine High-Tech-Maschine auf dem damalig allerneuesten technologischen Stand. So werden, nachdem neue Baustoffe wie nichtrostender Stahl, Eternit und Kunststoffe bereits in den 1970er Jahren Einzug in das Bauwesen hielten, hier nun auch Leichtmetall-Materialien aus dem Schiffs- und Flugzeugbau verwendet. Die ganze Technik wird an die Außenseite verlagert, wodurch eine ununterbrochene Bürofläche geschaffen werden konnte. Nur die Mitte bleibt frei für einen über alle Geschosse reichenden Lichthof. Die gesamte Konstruktion ist an tragenden Masten aufgehängt. Die nüchterne technische Sprache dominiert dieses Gebäude auch in ästhetischer Hinsicht und artikuliert sich dabei völlig frei von historischen Bezügen der Architektur. 171 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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7.

Technische Utopien der Moderne für die Stadt der Zukunft

In einem ebenfalls nicht auf historische Rückbezüge blickenden gesellschaftskritischen Sinne sind die architektonisch-technischen und städtebaulichen Utopien des 18. und 19. Jahrhunderts zu verstehen. Die für die Architektur dieser Zeit aufschlussreichsten, aber zugleich völlig unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Beispiele sind die Entwürfe von Tony Garnier zur »Cité Industrielle« und die von Theodor Fritsch 1896 konzipierte »Stadt der Zukunft« (Fritsch 1896). Fritsch verband mit der Publikation seiner Ansichten den Zweck, bessere Grundlagen für den Städtebau der Zukunft bereit zu stellen. Die Großstädte im ausgehenden 19. Jahrhundert hatten sich seiner Meinung nach zu »Pestbeulen« der modernen Kultur entwickelt, in denen sich der Mangel an Licht und Luft sowie die Emission von Rauch, Staub und Lärm bis zur Unerträglichkeit steigern würde. Fritsch teilt in seinen Entwürfen die Baulichkeiten der Stadt in verschiedene Kategorien ein. Diese werden dann bestimmten Zonen zugeordnet. Den Mittelpunkt bildet ein Platz, um den sich die öffentlichen Bauten gruppieren. In der zweiten Zone schließen sich vornehme villenartige Privatbauten an. Die dritte Zone besteht aus den besseren Wohnhäusern, die vierte aus Wohn- und Geschäftshäusern, die fünfte aus den Arbeiterwohnungen, die sechste aus Fabriken, Bahnhöfen usw. und die letzte Zone aus Gärtnereien und Mietgärten. Fritsch propagiert in seiner Gartenstadttheorie eine heile Welt, in der die unangenehmen Bestandteile möglichst weit an den Stadtrand gedrängt werden. Ebenso wie die Ideen seines angelsächsischen Zeitgenossen Ebenezer Howard gründen die des Deutschen Theodor Fritsch auf der naiven und konservativen Ablehnung der negativen Folgen der Industriegesellschaft und der verdichteten Großstadt. In krasser Opposition zu solchen anti-technischen und anti-urbanen Theorien entwickelte der französische Architekt Tony Garnier im Jahre 1901 das Projekt einer imaginären »Cité industrielle«, in dem die Vorstellung einer humanen und rational geplanten Industriestadt zur Idealstadt des modernen Zeitalters erklärt wird (Garnier 1917). Eine solche Idee liegt auch dem von Ludwig Hilberseimer 1927 veröffentlichten Werk »Großstadtarchitektur« zugrunde. In dieser Utopie einer Großstadtarchitektur werden keine Kathedralen, Tempel und Paläste mehr gebaut, sondern nur noch Wohnbauten, Geschäftshäuser und Fabriken. Außerdem soll bei ihm zukünftig die Gestal172 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Die moderne Einheit von Kunst und Technik

tung der Großstadt als solcher zu den wichtigsten Aufgaben des Architekten gehören (Hilberseimer 1963). Allerdings bleibt bei den rationalen Planungsmethoden von Hilberseimer letztlich die Frage offen, ob seine utopischen Vorstellungen einer idealen vertikalen Großstadt, die ein gesundes Wohnen versprechen, dieses auch wirklich einlösen könnten. Blieben die architektonischen Utopien der Vergangenheit des 19. Jahrhunderts noch im Bereich der menschlichen Maßstäbe, so wurden die utopischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts immer großartiger und gewaltiger; ihnen geriet der Standpunkt des Menschen völlig aus dem Blickwinkel. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bruno Taut mit seiner radikalen Utopie einer alpinen Architektur bereits eine ganze Generation junger Architekten inspirieren konnte, überraschte in den 1960er Jahren ein Team junger englischer Architekten, die sich den Namen »Archigram Group« gaben, das architekturinteressierte Publikum mit einer Reihe von stark überspannten, technisch-utopischen Modellen, die alle konstruktiven Neuerungen zusammenfassten und daraus eine vollkommen phantastische Welt aus Röhren, Kapseln und Gerüsten erfanden (vgl. Cook 1972). Für die Mitglieder der Gruppe bedeutete dies so viel wie ein erlösender Ausbruch aus der Sackgasse einer nach ihrer Ansicht erdrückenden Tradition. Was die Mitglieder der Gruppe, wie Peter Cook, Mike Webb, David Greene, Warren Chalk oder Ron Herron, einte, war das Unbehagen am Bauwirtschaftsfunktionalismus der Nachkriegszeit, der die utopischen Manifeste der frühen Moderne bewusst missverstanden hatte, um auf diese Weise geschickt eine offensichtlich schlechte Architektur raffiniert zu rechtfertigen. Es gelang der Gruppe jedoch nicht, eine wirklich überzeugende und sowohl die Architekten und Ingenieure als auch die Bevölkerung erreichende gesellschaftskritische Einstellung einzunehmen. Ganz im Gegenteil entwickelten sie einen unbeschränkten Technologie-Optimismus und verbanden diesen mit einer undistanzierten Medienfaszination. Inspiriert von der damaligen Raumfahrt, die schon die High-Tech-Architektur fasziniert hatte, spielte bei Archigram die technische »Kapsel« eine zentrale Rolle. In allen Entwürfen wird die »Wohnkapsel« das ideale mobile Element, das an großformatige stationäre Trägersysteme, den sogenannten »Plug-in-Cities«, angestöpselt werden kann. Die von Peter Cook damit beabsichtigte globale Mobilisierung der Bevölkerung kann mit Ron Herrons Entwurf einer »Walking City« noch einmal überboten werden, weil die Mobilität der einzelnen Einsteck-Kapsel hier auf die 173 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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gesamte Stadt übertragen wird und dadurch eine völlige Veränderung der besiedelten Erdoberfläche evoziert. Alle Kritik, die sich solche Utopien gefallen lassen müssen, sollte dennoch nicht dazu führen, denjenigen allein das Feld der Architektur zu überlassen, die die Stadt der Zukunft als Resultat reiner Effizienzberechnungen von Investoren betrachten (vgl. Schlaffer 2013). Nur wenn sich Kalkulation, Konstruktion und Utopie auf faire Art und Weise begegnen und Kooperation nicht verweigert wird, kann ein Optimum für die Architektur und das Leben in der Stadt erreicht werden. Sicherlich müsste bzw. sollte in diesem Zusammenhang auch das Ingenieurwesen seinen bestimmten Platz haben. Denn die Architektur kann sich heute und in Zukunft nur auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bilden und erneuern. Insofern sind Befürchtungen, die Technik könne die Architektur überholen und in den Schatten stellen, unbegründet. Denn durch Technik konnte in der Architektur dazu beigetragen werden, dass von den Ingenieuren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für immer größere Bauten immer weniger Material gebraucht wurde. Und das hat schließlich dazu geführt, dass im Prinzip für die gleiche Leistung mit jedem neuen Fortschritt weniger Kosten anfallen sollten, was in der Realität allerdings so leider nicht fortlaufend der Fall war bzw. ist, weil sich die Kosten im Bauwesen für die Planung und Ausführung von Bauobjekten allgemein enorm hoben und weil die Kostenkontrolle aufgrund der Nicht-Einhaltung der Kostenvorgaben seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts immer häufiger den Boden verlor.

8.

Dekonstruktion der Technik

In einem völlig anderen Sinne als die Utopisten bringen die ebenso visionär eingestellten Dekonstruktivisten völlig ›neue Anmutungsqualitäten‹ ihrer Gebäude hervor, die auf einer ›Ästhetik des Schrägen und Schiefen‹ basieren. Die klaren körperlichen Dimensionierungen der traditionellen Architektur werden hier gänzlich in Frage gestellt und durch bizarre Formen ersetzt. Solche ungewöhnlichen Formen, die mit Hilfe von computergestützten Entwurfsprogrammen gezeichnet werden, bereiten dem Architekten dank des Computers hinsichtlich der Gebäudestatik sowie der Baustellenlogistik heute offensicht-

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lich keine unlösbaren Probleme mehr, wie zahlreich ausgeführte Beispiele beweisen. 7 In der Zusammenarbeit mit dem Philosophen Jacques Derrida versuchte Mitte der 1980er Jahre bereits der Architekt Bernard Tschumi (vgl. Papadakis 1989, 171–191), Architektur und Philosophie jenseits der starren Ausdifferenzierung bzw. Trennung der Moderne in eine neue Beziehung zur Technik zu setzen. Diesen Versuch nennt man »dekonstruktive Architektur«. Dekonstruktion heißt hier jedoch nicht nur, Architekturen abzubauen; sie bedeutet vor allem, neuartige, andersartige Architekturen aufzubauen: Dekonstruktion will – um es in Derridas Worten zu sagen – aus der ›Verrücktheit der Architektur‹ eine ›Architektur der Verrücktheit‹ machen. Dabei tritt sie nicht als »höhere« Methode auf, mit der man sozusagen von oben auf ein System herabblicken und es beherrschen könnte, sondern verwendet genau dieselben (technischen) Prinzipien, die sie dekonstruieren will. Sie stellt sich also nicht außerhalb eines Systems, um es mit einer »überlegenen« Vernunft zu vereinnahmen; sie versucht vielmehr innerhalb des jeweiligen (technischen bzw. architektonischen) Systems dieses aufzubrechen. Eine solche Dekonstruktion stabilisiert kein System mehr, sondern reflektiert einen neuen Typ von (technisch-architektonischer) »Vielheit« (vgl. Derrida 1988, 215–232), die Hierarchien ablehnt und daher nicht entsprechend der traditionellen Form eines Baumes des Wissens konzipiert ist und dargestellt werden kann, sondern die »sowohl in differenten Vielheiten wie in Zusammenhängen« (Kuhn 2005, 63) zugleich gedacht werden muss. Der allerdings sowohl aus technischen als auch aus wirtschaftlichen Gründen Plan gebliebene Entwurf für das Max-Reinhardt-Haus in Berlin ist und bleibt dennoch das Modell einer visionären Architektur, mit dem Eisenman zeigen wollte, wie seine an der Philosophie von Foucault, Derrida und Deleuze angelehnte Idee der »Falte« oder der »Faltung« (vgl. Deleuze 1987, 131 ff.) in einer konkreten Architektur in Erscheinung treten bzw. umgesetzt werden könnte. Das Gebäude nimmt hier die Form eines »Möbius-Bandes« an und bildet damit ein Kontinuum, das einerseits vom Boden abhebt und andererseits zugleich in einer um die eigene Achse gedrehten Form wieder auf ihn zurückkehrt. Hinweisen möchte ich an dieser Stelle auf das 1998 fertiggestellte UFA Cinema Center in Dresden von COOP Himmelblau und Frank Gehry und auf ein 1995 errichtetes Bürogebäude in Prag.

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Eisenmans dekonstruktive Architekturentwürfe, die zugleich als Werke der Technik und als Kunstwerke zu sehen sind, unterstreichen noch einmal den fiktionalen und visionären Charakter seiner Architektur (vgl. Papadakis 1989, 119–134, 140–149). Man kann diese Architektur als eine Vision deuten, die uns sagen soll, dass wir in der Welt der Architektur nicht stehen bleiben dürfen und dass wir uns zugleich von jeder Orthodoxie des Reflektierens befreien müssen. Diese Vision der Dekonstruktion war allerdings auch schon diejenige der ersten Moderne im frühen 20. Jahrhundert und erinnert beispielsweise an Gropius und seine Idee einer neuen Einheit von Kunst und Technik oder an die Entwurfsmethode der russischen Konstruktivisten Jakob Tschernikow und Iwan Leonidow (vgl. Papadakis 1989, 48 ff., 60 ff.).

9.

Abriss und Ausblick

Eisenmans Architekturzeichnungen, die nicht nur einen hohen technischen Standard in seinen Gebäuden verraten, sondern die auch als Kunstwerke zu sehen sind, heben noch einmal den fiktionalen und visionären Charakter seiner Architektur hervor. Wie wir herausgearbeitet haben, kann man diese als eine Vision verstehen, die uns mitteilen soll, dass wir mit unseren technischen Möglichkeiten in der Architektur nicht stehen bleiben dürfen. Im Gegenteil müssen wir uns stets von jeder Unbelehrbarkeit des Gedankenganges befreien. Diese Vision der Dekonstruktion ist, wie wir gezeigt haben, allerdings auch schon diejenige der Moderne in den 1920er Jahren, in der Modulsysteme aus Beton und Stahl entwickelt wurden, die die fast vollständige Vorfertigung von sämtlichen Gebäudeteilen in der Fabrik ermöglichten (vgl. Pahl 1999, 37 ff., 186 ff.). Damit sind wir am Ende unserer Rekonstruktion der Architektur des 20. Jahrhunderts angelangt. Erinnern wir uns an den Anfang. Dort wurde die Frage gestellt, was die Architektur mit der Technik verbindet und damit zum Bild bzw. Verständnis unserer Zeit beitragen konnte. Wird es in Zukunft auch eine mit Technik stark verbundene Architektur gehen? Oder wird sie sich davon weitgehend befreien und mehr ästhetisierend auftreten und wirken? Blicken wir heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, auf die architekturale Welt des letzten Jahrhunderts zurück, können wir ein Nebeneinander moderner, spätmoderner, postmoderner und dekon176 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Die moderne Einheit von Kunst und Technik

struktiver Stilrichtungen beobachten, wobei in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts im klassischen Sinne »modern« kaum noch gebaut wurde (die berühmteste Ausnahme bildeten die weißen Bauten von Richard Meier). Dennoch kann die klassische Moderne nicht als abgeschlossen bezeichnet werden, denn alle Richtungen nach der Moderne des Neuen Bauens und des Bauhauses am Anfang des letzten Jahrhunderts bleiben in positiver oder negativer Weise auf diese bezogen. Die Postmoderne beispielsweise ist nicht nur als radikal neuer Stil, sondern auch als Revision einer Moderne, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf einen Bauwirtschaftsfunktionalismus hinausgelaufen war, verstanden worden. Auch die High-Tech-Architektur orientierte sich in kritischer Durcharbeitung an Ideen der Moderne. Damit ergibt sich für das gesamte Jahrhundert ein Bild, das man vielleicht als »Abarbeiten an der Moderne« designieren könnte. Das heißt: Architektur und Ingenieurbau, die schon Ende des vorletzten Jahrhunderts getrennt wurden, werden sich vor dem Hintergrund weiterer großer technologischer Entwicklungen einerseits und einer sich unter den Randbedingungen der Globalisierung stark verändernden Gesellschaft andererseits einigen einflussreichen Herausforderungen gegenübergestellt sehen, die mit Gewissheit besser in ihrer Vereinigung als in ihrer Trennung zu bewältigen sein werden. Diese Herausforderungen ergeben sich zum einen aus der weiteren natürlichen Bevölkerungsentwicklung und den gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderungen und zum anderen auch aus der technischen Entwicklung, weil beispielsweise von der zunehmenden Mobilität eine starke Auswirkung auf Gesellschaft und Siedlungsformen ausgehen wird. Wenn man davon ausgeht, dass »die Krise der Architektur […] eine Krise der Gesellschaft« 8 ist und dass die Architektur ihre Zeit in Gebäuden erfasst darstellt oder dass sich in der Stilentwicklung die Epochenentwicklung spiegelt, und wenn man mit dieser Sichtweise den gegenwärtigen Entwicklungsstand in der Architektur, wie wir das hier getan haben, beleuchtet, dann kann man sehr wohl erkennen, dass es viel deutlichere Anzeichen dafür gibt, in der Frage der wei-

»Noch immer wurde letztlich nur das gebaut, was die jeweilige Gesellschaft für notwendig und richtig hielt. Das ganze Elend unseres Planens und Bauens ist eine Folge der Entscheidungen dieser Gesellschaft – oder auch ihres Unvermögens sich zu entscheiden: die Krise der Architektur ist eine Krise der Gesellschaft.« (Kücker 1976, 140)

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teren Epochenentwicklung auf eine »zweite technologisch orientierte Moderne« als auf eine »bloß ästhetizistische Postmoderne« zu setzen. Aber diese neue Epoche, die wir damit anfangen, sollte nicht eine sein, die nur aus bloßen Veränderungen des Überlieferten entsteht, sondern eine der radikalen (technologischen und ökologischen) Neuerung. Wenn wir die Zeichen richtig deuten, dass die nächste Epoche eine der radikalen Neuerungen sein wird, sollten wir trotz des in der Architektur herrschenden Theoriedefizits heute schon dazu aufrufen, diese Zeit durchdacht zu antizipieren. Aber bei einem solchen »Antizipieren« der nächsten Epoche in der Architektur kann es, das sollte man als sich mit Architektur befassender Philosoph, der über die Zukunft der Architektur in einer veränderten Welt nachdenkt, hinzufügen, gewiss noch nicht um deren konkrete »Produkte oder Werke« gehen, sondern zugegeben in abstrakterer Hinsicht »um Dynamik, die Grundrichtung, um Vision, um das Erkennen von Dingen, die wirklich neu und bedeutsam sind, und das ist unsere Chance« (Drucker 1969, 960).

10. Epilog: Die Stellung der Technik in der Stadt der Moderne In der Moderne des 20. Jahrhunderts hat die Technik in allen oben genannten Stilrichtungen der Architektur, insbesondere jedoch im sozialen Wohnungsbau der 20er Jahre sowie der High-Tech-Architektur in den 70er Jahren und dem Dekonstruktivismus der 90er Jahre, eine ganz besondere Bedeutung gespielt. Dies ist sicher nicht nur deshalb der Fall, weil mit dem Verbundwerkstoff Eisenbeton bzw. Stahlbeton schlagartig eine neue Form des Bauens ermöglicht wurde, sondern auch weil infolge der technischen Innovationen des späten 19. Jahrhunderts (etwa der Metallverarbeitung, der Elektrotechnik, der chemischen Industrie und im Massentransport) vor allem in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts und nach dem zweiten Weltkrieg weltweit ein wahrer Bauboom entfacht werden konnte. Daher könnte die Geschichte des Stahlbetonbaus einerseits als eine wahre Erfolgsgeschichte erzählt werden, wäre andererseits nicht auf die Schattenseite dieser Entwicklung zu verweisen, nämlich dass die Zementherstellung zu den energieintensivsten Produktionsbranchen mit einem mächtigen Ausstoß von Kohlendioxid gehört. Dennoch muss gesagt werden, dass die Handhabung des Stahlbetons die Bautätigkeit inter178 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Die moderne Einheit von Kunst und Technik

national vervielfachte und dadurch wesentlich das Bild der Stadt im 20. Jahrhundert prägte. Das wäre gewiss nicht möglich geworden, ohne dass »ein gewisses Maß an Vereinheitlichung der Nutzungskontexte, ein hohes Maß an Arbeitsteilung und die Einrichtung von Infrastruktur, die auf Massennutzung angewiesen ist« (Passoth 2008, 93), weiträumig durchgesetzt wurde. Obwohl die Gewinnung und Nutzung von Stahl, Beton, Öl, Gas und Elektrizität einerseits beträchtliche Unterschiede darstellen, gibt es andererseits aber doch Berührungspunkte, denn diese Entwicklungen bringen »eine ganze Reihe von neuen Kombinationen« hervor, wodurch sich »die Tendenz zur Standardisierung« und »die Bildung organisierter Strukturen« (ebd.) nicht nur im Kohlebergbau und in der Stahlindustrie, sondern desgleichen im Siedlungsbau auffällig erhöhen können. Das kennen wir etwa aus dem sozialen Wohnungsbau der 1920er Jahre in Frankfurt am Main, wo man vorgefertigte Bauteile aus Eisenbeton bzw. Stahlbeton verwendete. Besonders interessant aber ist die genannte ›Reihe von neuen Kombinationen‹ der verschiedenen technischen Entwicklungen vornehmlich in der Stadtplanung. Denn in diesem Kontext kann am besten gezeigt werden, wie die Technik in der Stadt des 20. Jahrhunderts zur Geltung kommt. Es ist, wie gesagt, nicht allein die Verwendung von Stahlbeton im Siedlungsbau bzw. Hochhausbau, durch den es in der zweiten Jahrhunderthälfte weltweit zu einer auffällig gesteigerten Verstädterung kommt, sondern auch die Verbesserung und Ausweitung der Infrastruktur der Städte mit Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, »die zentralisiert wird, um überhaupt handhabbar zu bleiben« (ebd., 94). Weiterhin sind in diesem Kontext die Entsorgung von Müll, die Versorgung mit Gas und Wärme sowie mit Elektrizität zu nennen. Ohne diese Infrastrukturtechniken wäre es wohl nicht zu den hohen Wachstumsraten der innerstädtischen Bevölkerung gekommen. Immerhin leben heute bereits mehr Menschen in den Städten als auf dem Land. Diese Entwicklung, die sich in den nächsten Jahrzehnten noch steigern wird, hätte ohne die Einführung neuer Techniken im Bauwesen bzw. in der Stadtplanung nicht stattfinden können und wäre daher nach dem letzten Weltkrieg wahrscheinlich auf eine weltumfassende Wohnungsnot und katastrophale hygienische Bedingungen in den Städten hinausgelaufen.

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Karsten Weber

Computer als omnipotente Herrschaftsinstrumente: Hoffnungen, Ängste und realer Wandel in Politik und Gesellschaft »The question to which they thought they had formulated an answer therefore is still with us; what is the nature of the relationship between technological change and political change?« (Savigear 1971, 160)

1.

Einleitung

Der folgende Beitrag ist ganz wesentlich durch Joachim Radkaus Buch Die Geschichte der Zukunft (2017) beeinflusst; darin zeigt Radkau faktenreich und detailliert, dass die Zukunft stets anders verläuft, als man erhofft oder befürchtet. Wenn überhaupt, so erscheinen die Wandlungen der bereits lange vergangenen Vergangenheit über die Gegenwart zur Zukunft nur aus der Retrospektive schlüssig, erklärbar – ja, irgendwie sinnhaft. Vermutlich liegt dies darin begründet, dass wir solche Entwicklungslinien im Lichte unseres gegenwärtigen Wissens entsprechend sinngebend rekonstruieren. Aus Sicht der in der Vergangenheit auf die Zukunft hin Handelnden jedoch gilt meist: Es kommt anders als man denkt. Nun kann hier schon aus Platzgründen keine schlüssige Weiterführung oder gar eine Widerlegung dessen geleistet werden, was Joachim Radkau mit seiner Rückschau auf frühere bundesrepublikanische Zukunftsvorstellungen vorgelegt hat, so dass die folgenden Anmerkungen zur Rolle der Computertechnik für den gesellschaftlichen Wandel vor allem in den 1950er bis 1970er Jahren eher als Ergänzung dazu verstanden werden sollten. Radkau hat entsprechend den Gepflogenheiten eines Historikers eine Fülle von Quellen verwendet – allein schon dafür lohnt sich die Lektüre seines Buches für alle, die sich bspw. mit Technikgeschichte beschäftigen möchten. Doch da er sich in erster Linie auf die Geschichte der Zukunft der Bundesrepublik Deutschland konzentriert, sind Hinweise auf inter183 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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nationale Diskussionen verständlicherweise eher rar. Diese Lücke soll im Folgenden wenigstens teilweise geschlossen werden. Es ist klar, dass ein Sammelbandbeitrag nur bedingt dazu geeignet ist, umfassend die relevante Literatur zu einem so komplexen und facettenreichen Thema zu verarbeiten, aber einen gewissen Einstieg können der vorliegende Text und das dazu gehörende Quellenverzeichnis sicher leisten. Dabei soll als thematischer Hintergrund eine Spannung dienen, die sich recht gut durch den Abgleich popkultureller Inhalte mit wissenschaftlichen Debatten verdeutlichen lässt. So schreiben Dutton und Danzinger (1982, 1, kursiv im Original) zur Situation in den 1960er bis 1980er Jahren: »Computers and electronic data-processing systems are major tools of modern organizations and components of many other technologies. Occasionally a dramatic image of the computer has captured the public’s imagination, as did the uncontrolled and threating computers in the films 2001: A Space Odyssey, The Demon Seed, and Colossus: The FORBIN Project.«

Da Duttons und Danzingers Text bereits 1982 erschien und damit viele Filme der restlichen 1980er Jahre von den Autoren nicht berücksichtigt werden konnten, könnte man noch hinzufügen: Tron (1982), War Games (1983) oder Terminator (1984); nähme man noch Welt am Draht (1973) und Logan’s Run (1976) aus den 1970er Jahren hinzu, käme schon eine recht ansehnliche Zahl von Filmen zustande, in denen wildgewordene und/oder machthungrige Computer eine Hauptrolle spielen. Ergänzte man eine solche Aufzählung noch um jene Computer aus der Science Fiction-Literatur, die in den entsprechenden Geschichten eine zumindest ambivalente Rolle spielen, würde diese Liste recht lang werden. 1 In den populären Medien hatten Computer seit deren Erfindung 2 also durchaus ein zwiespältiges Image, denn sie werden oft in einer Weise dargestellt, dass sie sich In der englischen Wikipedia findet sich eine entsprechende Liste unter https://en. wikipedia.org/wiki/List_of_fictional_computers, zuletzt besucht am 13. 07. 2017. Interessanterweise nehmen Post und Kroeker (2000) an, dass die in Filmen und Büchern vorgestellten Computer die technische Entwicklung wesentlich beeinflusst hätten – also eine umgekehrte Wirkungskette bestünde, die sich dadurch auszeichnen würde, dass die Fiktion die Realität bestimmt. 2 Diese Formulierung suggeriert, dass es einen klar definierten Zeitpunkt oder doch zumindest einen scharf umrissenen Zeitraum gegeben hätte, zu oder in dem Computer erfunden worden wären. Dem ist jedoch nicht so: Die Entwicklung des Computers, so wie wir entsprechende Geräte heute verstehen, findet über einen vergleichsweise 1

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aus der Verfügungsmacht der Menschen befreien und diese selbst, wenn nicht unterjochen, so doch zumindest in irgendeiner Weise kontrollieren, steuern, überwachen oder schlicht beherrschen (bspw. Ower 1974). Selbst wenn in sachlichen Debatten jenseits der massenmedialen Auseinandersetzung nicht solche Extreme behauptet wurden, so wird Computertechnik doch oftmals äußerst kritisch gesehen (z. B. Genrich 1975). Am deutlichsten wird dies wohl an der vehementen Kritik Joseph Weizenbaums in Bezug auf Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft (1977). Solchen fast schon apokalyptischen Sichtweisen wiederum steht die Hoffnung gegenüber, dass Computer ein Werkzeug sein könnten, um Verwaltungsoder Produktionsprozesse effizienter, kostengünstiger und auch humaner gestalten zu können. Wie Radkau herausarbeitet, wurden aber noch viel weitergehende Hoffnungen an den Einsatz von Computern gerichtet, so bspw. die Revitalisierung der Demokratie durch computergestützte Partizipation (z. B. Krauch 1972). Auch wenn dies nicht mehr Gegenstand des vorliegenden Aufsatzes sein soll, ist letztere Hoffnung immer noch virulent, allerdings auch die entsprechend entgegengesetzten Befürchtungen. Hier nur einige deutschsprachige Titel, die seit Beginn der 2000er Jahre erschienen sind, die insbesondere das Verhältnis von neuen Medien wie dem Internet und der Demokratie thematisieren: Demokratie und Internet (Gellner 1998), E-Demokratie = Ende der Demokratie? (Koziol 2001), Digitale Demokratie: Mythos oder Realität? (Egloff 2002), Digitale Medien – neue Möglichkeiten für Demokratie und Partizipation? (Fleissner, Romano García 2007), Internet = Demokratie? (Weber 2013). Schon diese wenigen Titel verdeutlichen, dass auch gegenwärtig beileibe noch nicht ausgemacht ist, welche politischen Wirkungen (vernetzte) Computer sowie allgemein moderne Informations- und Kommunikationstechnologie haben – insofern ist es gar nicht so falsch, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel im Zusammenhang mit dem Internet von »Neuland« sprach, denn das Potenzial dieser Technologien in Hinblick auf die Stimulierung sozialen Wandels ist mit den Veränderungen, die wir bereits erlebt haben und gerade erleben, sicher nicht einmal im Ansatz ausgeschöpft. Was sich nun fast schon nach einer technikdeterministischen Sicht auf die Wirkung des Technikeinsatzes im Allgemeinen und langen Zeitraum und alles andere als geradlinig statt (bspw. Agar 2003; Goldstine 1993; Hally 2006; Ifrah 2001).

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Computern im Speziellen anhört, wird sich im Folgenden jedoch deutlich komplexer darstellen, denn es wird sich weisen, dass Computerentwicklung und sozialer Wandel miteinander verwoben sind, ohne dass klar eine Wirkungsrichtung erkennbar wäre. Anders formuliert: Die jeweiligen sozialen Bedingungen ermöglichen, befördern vielleicht sogar die Entwicklung von Technik im Allgemeinen und Computertechnik im Speziellen, doch umgekehrt gilt auch, dass die jeweils verfügbare (Computer-) Technik sozialen Wandel befördert – wobei dies in der Rückschau aber nicht notwendigerweise positiv erscheinen muss. Es wird sich zudem erweisen, dass die Möglichkeiten der Computertechnik dazu beitrugen, gesellschaftlichen Wandel zu stoppen oder doch mindestens zu verlangsamen. Was sich allerdings ebenfalls zeigen wird, ist, dass schon in der Frühzeit der Computertechnik die erhofften und/oder befürchteten Möglichkeiten und Wirkungen der jeweils zukünftigen Technik ganz wesentlich zu gesellschaftlichen Debatten geführt haben, die dann die Trajektorien der Technikentwicklung beeinflussen konnten.

2.

Kybernetik, Computer und Computernetze in der Sowjetunion: Zwischen Ideologie und Notwendigkeit

Obwohl sich viele (populär)wissenschaftliche Texte zur Computertechnik darauf beschränken, deren Entwicklung ausschließlich oder doch zumindest stark fokussiert aus westlicher Perspektive zu beschreiben und dabei – ob gewollt oder ungewollt – im Wesentlichen darauf abgehoben wird, dass Computer, abgesehen vielleicht von frühen Vorläufern, eine US-amerikanische Erfindung seien, ist dies nur ein Teil der historischen Wahrheit. Denn tatsächlich war die Zeit bis zur Dominanz von IBM eine durch Vielfalt geprägte historische Periode. In vielen Ländern entstanden Firmen, die Computer und computerähnliche Maschinen bauten; in vielen Ländern wurden Computer in Unternehmen und Verwaltungen sowie an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen entwickelt und gebaut. Da solche Maschinen zu Anfang meist Einzelfertigungen darstellten und viele theoretische wie technische Konzepte an verschiedenen Stellen nicht nur einmal erfunden wurden, wäre die Behauptung, dass Digitalrechner eine Erfindung eines einzigen Landes waren, schlicht nicht haltbar. In seinem zwar eher populärwissenschaftlich gehaltenen, aber nichtsdestotrotz lesenswerten Buch zeigt Mike Hally (2006), dass 186 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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der Fortschritt der (digitalen) Rechentechnik nicht nur in den USA, sondern auch in Großbritannien, Australien oder Deutschland vorangetrieben wurde. Ganz besonders interessant ist aber die technische Entwicklung in der Sowjetunion, da dort der Widerstreit zwischen der Notwendigkeit der Nutzung entsprechender Technik auf der einen und widerstreitende ideologische Haltungen und Interessen auf der anderen Seite ganz besonders deutlich werden. Hally (2006, 135–160) widmet diesem Aspekt ein ganzes Kapitel und weist gleich zu Beginn darauf hin, dass allein schon die Erforschung und Weiterentwicklung der Kybernetik als theoretischem Grundstein von Digitalrechnern dort auf große Hindernisse stieß (Hally 2006, 142). Doch Hally nimmt vor allem auf die Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Bezug; tatsächlich aber beginnt dieser Konflikt weitaus früher. In einem erst kürzlich erschienen Aufsatz beschreiben Valery V. Shilov und Sergey A. Silantiev (2014), wie die Oktoberrevolution 1917 nicht nur die politische Landschaft Russlands und letztlich der ganzen Welt total veränderte, sondern wie sich diese Veränderungen bis in die (formalen) Wissenschaften hin auswirkten. Die Autoren berichten von Pavel Khrushchev, einem russischen Wissenschaftler, der um die Jahrhundertwende herum eine Version der sogenannten ›logical machine‹ nach dem Vorbild von Stanley Jevons baute, einem britischem Logiker des 19. Jahrhunderts. 3 Mit dieser Maschine konnten Probleme der Boole’schen Algebra schneller gelöst werden als dies ein Mensch konnte; Khrushchev erforschte diese Maschine, da er an Kognitionsprozessen interessiert war. Ihre Popularisierung, aber auch wissenschaftliche Weiterentwicklung erfuhr die logische Maschine schließlich durch Alexander Schukarev, der sie nicht nur erweiterte und verbesserte, sondern sie in der Öffentlichkeit vorführte und wissenschaftliche Abhandlungen über sie veröffentlichte. Bei ihm heißt das Gerät nun ›denkende Maschine‹ – hieran wird wohl recht deutlich, dass Schukarev vermutlich der Ansicht war, dass dieses Gerät Denkprozesse, die bis dahin dem Menschen vorbehalten waren, nun technisch realisieren konnte – immerhin 36 Jahre vor Alan Turings bahnbrechendem Aufsatz Computing machinery and intelligence Goldstine (1993, 272) und Ifrah (2001, 204) gehen beide auf Jevons ein, jedoch nicht auf Khrushchev oder Schukarev – ein sehr deutliches Beispiel für die Vernachlässigung nicht-westlicher Beiträge zur Computerentwicklung (vgl. dazu auch die Bemerkungen in Nitusov 2011). Lippe (2013) konzentriert sich für die Zeit nach 1945 zwar ebenfalls auf die US-amerikanischen Entwicklungen, verweist aber ausdrücklich und vergleichsweise ausführlich auch auf Projekte in vielen anderen Ländern.

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(1950). Gerade hierin lag jedoch aus ideologischer Sicht ein wesentliches Problem, wie Shilov und Silantiev (2014, 197) schreiben: »The main Orlov thesis was – ›he [Schukarev – Auth.] wants to convince us in the formal character of thinking and possibility of its mechanization by logical machine‹. Orlov declared that conception of formal character of thinking ›drastically contradicts to the dialectic materialism‹. Orlov ascribes to Schukarev the statement that ›machine will think instead of man‹.«

Die politische Großwetterlage schlug also direkt auf die wissenschaftliche Arbeit Schukarevs durch. Tatsächlich verschärften sich die Angriffe auf ihn (Shilov, Silantiev 2014, 199) zunehmend: »Schukarev and his colleagues were named ›the open agents of bourgeois philosophy, who … spit on our reality‹. Communists demanded to summon the Worker-Peasant Inspection and CheKa (›punishing sword of Revolution‹) for the struggle with ›the demonstration of ideology which is alien to the proletariat‹.«

1931 musste Schukarev schließlich in den Ruhestand gehen, seine Arbeiten wurden mehr oder weniger vergessen. Ähnlich wie Hally (2006, 142) bemerken auch Shilov und Silantiev (2014, 200), dass man sich an die Arbeiten Pavel Khrushchevs und Alexander Schukarevs sowie an die Kybernetik selbst erst wieder erinnerte, als auch in der Sowjetunion eine intensive Debatte über die Frage begann, die Alan Turing in seinem schon zitierten Aufsatz gestellt hatte. Vermutlich kommt hinzu, dass Stalins Tod und die Machtübernahme durch Nikita Chruschtschow innenpolitisch eine gesellschaftliche Entspannung nach sich zogen – die Zeit der massiven Repressionen war zunächst vorbei. In der DDR fanden 1963 ähnliche Prozesse statt, als mit der Einführung des »Neuen Ökonomischen Systems (NÖS) zur Planung und Leitung der Volkswirtschaft« auch die Idee einherging, Erkenntnisse der Kybernetik sowie Computer dazu zu nutzen, die Wirtschaft gezielter und effizienter zu steuern. Daher hörte man auf, die Kybernetik als »idealistische Pseudowissenschaft« (vgl. Görlich 1971, 419) zu diffamieren, sondern begann dieser Wissenschaft einen wichtigen Stellenwert beim Aufbau des Sozialismus einzuräumen: »Der umfassende Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik, der seinen theoretischen Niederschlag in dem vom VI. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands beschlossenen Programm gefunden hat, stellt den marxistischen Philosophen große Aufgaben … In dem Teil des Programms, der der Rolle der Wissenschaft bei der um-

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fassenden Verwirklichung des Sozialismus gewidmet ist, heißt es deshalb: ›Die Kybernetik ist besonders zu fördern‹ […].« (Klaus 1963, 693, zitiert nach Görlich 1971, 419)

Görlich schreibt weiter, dass der Kybernetik als »bürgerlicher Wissenschaft« in der DDR zunächst nur Desinteresse entgegengebracht wurde, aber »[n]achdem [sie] auch im Rahmen der Dokumente des XXII. Parteitags der KPdSU zu den vollkommensten Mitteln für die materiell-technische Basis des Kommunismus […] zählt […], […] man sie auch in der DDR als eine ›ihrem Wesen nach spezifisch kommunistische Wissenschaft‹« (Görlich 1971, 421) verstand. Zum einen fällt hier natürlich der politische Opportunismus der SED ins Auge, denn kaum, dass der große Bruder aus dem Osten neue Parolen ausgibt, interessieren die eigenen früheren Standpunkte nicht mehr. Zum anderen aber ist es fast schon erschreckend, in jedem Fall aber bemerkenswert, wie politische Rahmenbedingungen unmittelbar auf die wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten durchschlagen. Beide Beispiele – der Umgang mit Khrushchev und Schukarev ebenso wie mit der Kybernetik – lassen allerdings auch mehr als deutlich werden, wie inadäquat eine rein deterministische Sicht auf den Fortgang von Wissenschaft und Technik wäre. Denn es wird offenkundig, dass unter bestimmten Bedingungen deren gesellschaftliche und/oder politische Steuerung durchaus möglich ist – sie muss nur gewollt sein. Diese Steuerungsmöglichkeit, das muss wohl auch sehr klar gesagt werden, ist aber nicht notwendigerweise positiv zu bewerten. Doch hier ist die Geschichte über das Wechselspiel von Technik und Ideologie in der Sowjetunion noch lange nicht an ihr Ende gekommen. Am Beispiel vernetzter Computer lässt sich erneut sehr gut erkennen, wie Technik zum gesellschaftlichen Wandel beitragen könnte, aber politische Kräfte den Status quo durch Verhinderung technischer Entwicklungen zu retten versuchten. Der Fortgang von Wissenschaft, Technik und Gesellschaft bzw. Politik sind nicht unabhängig voneinander, sondern ineinander verwoben – in welcher Weise dabei Wirkungen aufeinander ausgeübt werden, lässt sich vermutlich nur durch willkürliche Grenzziehungen in Bezug auf den Zeitraum, den man betrachten möchte, entscheiden. Weiter oben war bereits vom XXII. Parteitag der KPdSU die Rede. In diese Zeit fällt die Veröffentlichung des Buches Kibernetiku – na sluzhbu kommunizmu (engl.: Cybernetics in the Service of Communism) von Anatolii Kitov im Jahr 1961. Slava Gerovitch (2008, 335) schreibt dazu: 189 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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»This book outlined the great potential benefits of applying computers and cybernetic models in a wide range of fields […]. In particular, the entire Soviet economy was interpreted as ›a complex cybernetic system, which incorporates an enormous number of various interconnected control loops.‹ Soviet cyberneticians proposed to optimize the functioning of this system by creating a large number of regional computer centers to collect, process, and redistribute economic data for efficient planning and management. Connecting all these centers into a nationwide network would lead to the creation of ›a single automated system of control of the national economy.‹«

Für die Sowjetunion war der Einsatz vernetzter Computersysteme allerdings nichts grundlegend Neues, denn schon aus militärischen Erwägungen heraus wäre ein Verzicht auf diese Technik kaum zu begründen gewesen. Gerovitch (2008, 338) nennt eine Reihe vernetzter Computersysteme, die unterschiedlichen militärischen Zwecken dienten: ein System zur Luftraumüberwachung und Flugabwehr, ein System zur Raketenabwehr und ein weiteres zur Überwachung des Weltraums. Insbesondere das System zur Flugabwehr hatte das USamerikanische Computersystem SAGE (Semi-Automatic Ground Environment) zum Vorbild (vgl. Dittmann 2016). 4 Darüber hinaus gab es in der Sowjetunion schon recht früh intensive Bemühungen, wissenschaftliche Einrichtungen mit untereinander vernetzten Computern auszustatten, damit die entsprechende Forschung effizient unterstützt werden konnte (vgl. Shirikov 2011). Doch was nun Kitov in seinem oben bereits genannten Buch vorschlug, war von ganz anderer Qualität: »He proposed first to install computers at several large factories and government agencies, then to link them together to form ›large complexes,‹ or networks, and ultimately to create a ›unified automated management system‹ for the national economy. […] The computerization of economic management, he argued, would ›make it possible to use to the full extent the main economic advantages of the socialist system: planned economy and centralized control. The creation of an automated management system would mean a revolutionary leap in the development of our country and would ensure a complete victory of socialism over capitalism.‹« (Gerovitch 2008, 339)

Redmond und Smith (2000) beschreiben sehr ausführlich und lesenswert die Entwicklung von SAGE als Bilderbuchbeispiel eines F & E-Projekts in Kooperation zwischen Regierung, Militär, Wissenschaft und Industrie.

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Die ursprünglich von Kitov vorgeschlagene Vernetzungsidee wurde dann von Viktor Glushkov weiter vorangetrieben (Gerovitch 2008, 341 ff.), stieß aber sehr bald aus ganz unterschiedlichen Richtungen auf massive Widerstände, deren Ursprung man mit einem Wort zusammenfassen kann: Kontrollverlust – und zwar auf allen Ebenen der politischen und ökonomischen Hierarchie. Zum ersten gab es Ökonomen, die diesen Kontrollverlust begrüßten bzw. bewusst herbeizuführen suchten, indem sie marktwirtschaftliche Elemente in die sowjetische Kommandowirtschaft integrieren wollten, um so die Effizienz zu steigern, was aber zum politischen Kontrollverlust beigetragen hätte. Zum zweiten wehrten sich die Manager der Staatsbetriebe gegen ein solches System, da sie sich darum sorgten, dass die Ineffizienz, Ressourcenverschwendung und vermutlich auch Korruption in ihren Betrieben sichtbar werden würde. Zum dritten befürchtete der bürokratische Apparat nicht nur einen Kontrollverlust, sondern auch den (teilweisen) Verlust seiner Existenzberechtigung, da viele der Aufgaben dieses Apparates mit seinen privilegierten Arbeitsplätzen dann von dem Computersystem übernommen worden wären. Gerovitch (2008, 343) fasst dies so zusammen: »The idea of automated economic management threatened to upset the existing hierarchy of power in the economic sphere: information-collecting through a network of computer centers would challenge the role of the Central Statistical Administration, while automated planning would undermine the monopoly of the State Planning Committee (Gosplan) on toplevel economic decisions.«

Nachdem Nikita Chruschtschow von Leonid Breschnew gestürzt worden war, wurde das gesamte Projekt eines vernetzten ökonomischen Planungssystems zunächst ad acta gelegt. Ende der 1960er Jahre, angeregt durch die US-amerikanische Entwicklung des ARPANET (vgl. Hafner, Lyon 1997) schlug Glushkov dann die Entwicklung eines ›Statewide Automated Management System for Collection and Processing of Information for the Accounting, Planning, and Management of the National Economy‹, kurz: OGAS 5, vor (Gerovitch 2008, Eine ausführliche Beschreibung von OGAS in russischer Sprache liefert, laut englischem Abstract, Kuteinikov (2012). McHenry und Goodman (1986) erzählen die Geschichte in etwas anderer Weise, kommen aber zu ähnlichen Schlüssen wie Slava Gerovitch. Goodman (1987) bettet OGAS und andere Systeme in eine Übersicht des Stands der Informations- und Kommunikationstechnik in der Sowjetunion der 1980er Jahre ein und kommt ebenfalls zu ernüchternden Ergebnissen.

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344). Doch schließlich scheiterte auch dieses Projekt, denn Glushkovs Hoffnung, dass ein solches System die sowjetische Planwirtschaft von oben herab reformieren könnte, musste aus Sicht der Machthaber bedrohlich erscheinen: »The Soviet leadership also realized that the OGAS project had direct political implications, which threatened to upset the established balance of power.« (Gerovitch 2008, 345). Sicherlich wäre noch sehr viel mehr über die Entwicklung von (vernetzten) Computern in der Sowjetunion zu erzählen, doch aus dem bisher Gesagten sollte bereits ersichtlich sein, wie unklar das Verhältnis von Technik, Gesellschaft und Politik letztlich ist. Es kann beileibe nicht davon gesprochen werden, dass in diesem Beispiel Technik im Allgemeinen und Computertechnik im Speziellen den Motor des gesellschaftlichen Wandels oder gar der Modernisierung dargestellt hätte. Vielleicht hätte OGAS tatsächlich zur Reform der sowjetischen Wirtschaft beitragen und so den Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990 Jahre verhindern oder doch zumindest verzögern können. Aber eine solche durch Technik ermöglichte oder gar vorangetriebene Reform wäre nicht im Interesse großer Teile der sowjetischen politischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Eliten gewesen und wurde daher verhindert – und damit letztlich auch die damit verbundene technische Entwicklung selbst. Gleich, ob man dies nun positiv oder negativ bewerten möchte: Entscheidend ist, dass es keinen Automatismus in diesem Beispiel gab. Nur weil die Technik die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Veränderung in sich trug, wurde sie nicht schon realisiert. Einen verlässlichen Motor der Modernisierung sucht man hier also vergebens und Ähnlichkeiten zu den wildgewordenen Supercomputern in den anfangs genannten Filmen und Büchern der Science Fiction existieren nicht einmal ansatzweise – die Phantasie der Filmemacher und Autoren findet keinerlei Korrelat in der Realität der Frühzeit der Computertechnik. Dies gilt auch für die andere Seite des Eisernen Vorhangs, wie gleich zu sehen sein wird.

3.

Effizienz und Reform in Politik und Verwaltung durch Computer: Hoffnung und Realität im Westen

Vielleicht sollte man Filme wie Colossus: The FORBIN Project nicht wörtlich, sondern metaphorisch verstehen. In der Geschichte wird ein US-amerikanischer Supercomputer porträtiert, der – ursprünglich 192 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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zur Verteidigung gebaut – zusammen mit seinem sowjetischen Gegenstück die Weltherrschaft an sich reißt und nun jeden Aspekt des menschlichen Lebens kontrollieren will, um die Menschen zum Glück zu führen. 6 Die Anleihen bei George Orwells Buch 1984 sind offensichtlich, denn der Computer steht hier in erster Linie stellvertretend für eine gesichtslose Machtmaschine, die mithilfe einer übermächtigen Bürokratie die Geschicke jedes Menschen bis ins kleinste Detail bestimmen will – dieser Topos, folgt man Corbett (1995, 476 ff.), findet sich in vielen Filmen, in denen Computer eine wichtige Rolle spielen, wieder. So verstanden warnt der Film und das ihm zugrundeliegende Buch gar nicht vor einer konkreten technischen Entwicklung, sondern vor der Haltung, die eine solche Technik und deren inhumane Nutzung überhaupt erst möglich werden lässt. Computer im Speziellen und Technik im Allgemeinen werden damit zu Ermöglichungsbedingungen eines bürokratischen Totalitarismus im Namen des Glücks der Menschen. In den 1960er und 1970er Jahren hatte dies tatsächlich einen realen Bezug, da in dieser Zeit, nicht selten affirmativ, von ›Technokratie‹ (z. B. Lenk 1972, Maier 1970, Moser 1971, Putnam 1977) und ›Planification‹ (bspw. die Beiträge in Naschold & Väth 1973, Görlitz 1969, 101 ff.) gesprochen wurde – also von der Idee, dass ausgehend von einer minutiösen Wirtschaftsplanung (bspw. Höller 1969) die Gesellschaft vollständig plan- und gestaltbar sei und dass Markt- und Planwirtschaft unweigerlich konvergierten. 7 Der Computer als Planungsinstrument wurde damals durchaus als Motor der Modernisierung verstanden, denn Technokratie und Planification wurden als Modernisierung begriffen. Tatsächlich aber ist die Idee sehr alt: In Platons Politeia gibt es zwar keine Computer, aber die Grundidee ist die gleiche – Kontrolle bringt Glück. Nicht umsonst galt Platons Politeia für Karl Popper (1992) als Musterbeispiel tota6 In seinem Buch Also sprach Golem (1984) macht sich Stanisław Lem in gewisser Wiese lustig über solche Phantasien, weil er unterstellt, dass dabei illegitimerweise menschliche Charaktereigenschaften auf die Technik projiziert werden würden. 7 Die Rückschau lässt viele Dinge harmloser und vor allem ganz anders erscheinen. Hermann Lübbe (1998) beschreibt nicht nur den Charakter der Technokratie, sondern äußert zudem den Gedanken, dass die Technisierung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den totalitären Tendenzen der Technokratie durch Zentralisierung entgegenstünde und im Gegenteil eine Dezentralisierung und Föderalisierung befördert hätte – in der Anfangszeit des Internets hegten aber sehr viele Leute solche Hoffnungen. Ähnlich argumentiert auch Fred Turner (2008), wenn er die vermeintliche Verwandlung von Computern und Computernetzen von einem Herrschaftsinstrument zu einem Werkzeug zur Herstellung von Freiheit und Gleichheit beschreibt.

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litären Denkens. Robert Putnam (1977, 383) bringt Hoffnungen und Befürchtungen bzgl. der Technokratie wie folgt auf den Punkt: »Some have hailed technocracy as the wise and disinterested rule of philosopher-kings, whereas others have fulminated against technocrats as despots of a new and peculiarly inhuman sort.« Insbesondere die auch heute wieder kontrovers geführte Debatte um den Verlust von Arbeitsplätzen durch Automatisierung – derzeit wird vor allem von ›Digitalisierung‹ gesprochen – und die Einführung von Computern am Arbeitsplatz spielte schon recht früh eine wichtige Rolle in der entsprechenden Literatur (vgl. Radkau 2017, 379 ff.). 8 Tatsächlich soll dieses Thema aber im vorliegenden Beitrag nicht weiter beleuchtet werden; im Vordergrund wird stattdessen die Frage nach Gestaltungs- und Steuerungsmöglichkeiten der Gesellschaft, gesellschaftlicher Institutionen und staatlicher Einrichtungen bzw. von Verwaltungen in Hinblick auf die Computernutzung stehen. In dieser Frage haben bspw. Kraemer und King (1986, 489) eine klare Haltung: »[G]enerally speaking, computing by itself in [sic!] insufficient to affect organization structure in significant ways. An organization will not centralize or decentralize merely because computing begins. This does not mean, however, that computing plays no role in the structure of organizations. Computing can be a powerful tool for facilitating structural changes determined for other reasons.«

Dies deutet darauf hin, dass Computer allein keinen sozialen Wandel auslösen, sondern nur als Werkzeug zur Durchsetzung entsprechender Interessen dazu beitragen, dass sich soziale Verhältnisse verändern. Ähnliche Einschätzungen finden sich auch an anderer Stelle. So bemerken Dutton und Kraemer (1982, 113 ff.), dass insbesondere Finanzfragen mitbestimmten, ob und in welcher Weise Computer in der Verwaltung beschafft und eingesetzt wurden. Das heißt nichts anderes als dass die Rationalität der Entscheidungen gar nicht so sehr In seinem augenscheinlich als Lehrbuch aufgebauten Werk beschreibt Sanders (1972, 411) schon recht früh drei Gründe für Widerstände bei der Einführung von Computertechnik, die auch heute noch relevant sind: Angst vor Arbeitsplatzverlust, vor Veränderungen und vor Deprofessionalisierung (ähnlich auch Frantzich 1982, 78 ff.). Sanders hebt hervor, dass die Angst vor Deprofessionalisierung alle Hierarchieebenen und Qualifikationsniveaus beträfe und daher vom Management nicht automatisch erwartet werden könne, den Computereinsatz mit vollem Einsatz voranzutreiben. Im Grunde unterschieden sich damit die Widerstände in Ost und West kaum, ungeachtet der sehr verschiedenen politischen Systeme.

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in den technischen Möglichkeiten des Computereinsatzes zu finden war, sondern in der Antwort auf die Frage, wer wie deren Anschaffung bezahlen konnte. In den späten 1940er und frühen 1950er Jahren wird das ganz besonders sichtbar an der Verschränkung von Industrie, Militär, Wissenschaft und Politik. Agar (2003, 263 ff.) beschreibt eindrücklich, wie die immensen Mittel, die für den Kalten Krieg im Westen und zumal in den USA für Rüstung und Rüstungsforschung ausgegeben wurden, zum ersten die Gestalt der Technik ganz wesentlich bestimmten, zum zweiten jenen Firmen, die an entsprechenden Projekten zur militärischen Nutzung von Computern beteiligt waren, eine dominante Rolle auch auf dem zivilen Markt verschafften und zum dritten dadurch die politische Stellung des Militärs erheblich veränderten. 9 In allen drei Aspekten zeigt sich erneut, dass das bloße Vorhandensein einer bestimmten Technik oder deren Einsatzmöglichkeiten allein nicht zu deren Nutzung und Weiterentwicklung führte, sondern dass mehrere der Technik externe Faktoren zusammenkommen mussten, damit ein bestimmter Pfad beschritten wurde. Einer dieser Faktoren, den Agar in seinem Buch immer wieder betont, ist Misstrauen: Misstrauen gegenüber dem militärischen und ideologischen Gegner jenseits des Eisernen Vorhangs, Misstrauen von Regierungen und Verwaltungen gegenüber den eigenen Bürgern, wechselseitiges Misstrauen von Abteilungen und Personen innerhalb von Organisationen. Computer zu nutzen war, so Agar, ein Weg, mit diesem Misstrauen umzugehen bzw. jenen Opponenten, denen man misstraute, Herr zu werden. Demzufolge liegt der eigentliche Treiber für den Einsatz von Computern in sozialen Verhältnissen, nicht in der Technik selbst. Sie ist damit nicht der Motor von Wandel, sondern eher noch ein Werkzeug zur Stabilisierung des Status quo. Allerdings darf diese Aussage nicht absolut gesetzt werden, denn am Beispiel der Einführung spezialisierter Textverarbeitungsmaschinen und Personal Computern zeigt Agar (2003, 380), dass die Einführung dieser Technik Hierarchien bspw. in Verwaltungen aufbrechen konnte und somit sich die bis dahin unhinterfragten (Macht-)Verhältnisse zumindest zu einem gewissen Grad nach und nach veränderten. Bezogen auf den Einsatz von Computern in Stadtplanungsprozessen führt Richard Klosterman (1987, 443, vgl. Michael 1968, 1183) aus, dass es nicht die Technik selbst ist, die die Probleme ihres Einsatzes löst: Vor allem die ersten beiden Punkte werden in dem Bericht über die Entwicklung von SAGE sehr deutlich (Redmond, Smith 2000).

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»The first lesson to be learned is that the most important obstacles to computer-aided planning will not be solved by technological advances alone, for even the most ambitious of the early development models rarely exceeded the computational limits of the mainframe computers of the era. The real problems lie in the other dimensions of technology – knowledge, technique and organisation.«

Zumindest aus sozial-, politik-, organisations-, planungs- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive muss man hinsichtlich des Computereinsatzes bspw. in der Verwaltung, bei Planungsprozessen oder der Unterstützung politischer Entscheidungen feststellen, dass vielfältige Chancen zur Veränderung dieser Prozesse bestehen und damit auch für sozialen Wandel und Modernisierung (vgl. Black 1983). Doch immer wieder muss betont werden, dass es keinen Automatismus gibt – das bloße Vorhandensein der Technik bringt diese nicht zur Verwendung und löst allein noch keine Probleme – weder diejenigen, die durch den Computereinsatz gelöst werden sollten noch jene, die erst durch diesen Einsatz entstehen. Klosterman (1987, 448) betont, dass Computer und deren Verwendung stets politisch seien, also normativ aufgeladen, was erneut verdeutlicht, dass wir in diesem Zusammenhang mit einer Gemengelage von technischen und sozialen Faktoren konfrontiert sind. Angesichts dieser doch recht differenzierten Sichtweisen, die schon sehr früh geäußert wurden und damit verfügbar waren, muss es aber doch verblüffen oder sogar irritieren, wie in eher populärwissenschaftlichen und/oder politischen Kontexten über den Einsatz von Computern nachgedacht wurde. Dort finden sich vor allem Extreme des euphorischen wie apokalyptischen Denkens. Dieser Form der Auseinandersetzung mit ihren teils extremen Hoffnungen und Befürchtungen bzgl. der Computernutzung soll nun der Rest des Textes gewidmet werden.

4.

Computermanichäismus: Das Denken in Extremen

Sowohl im dritten wie im elften Kapitel von Joachim Radkaus Geschichte der Zukunft (2017) tauchen die Verheißungen und Bedrohungen der Automatisierung, Computerisierung und Digitalisierung auf; dabei pendeln bspw. die Zeitungsartikel und populärwissenschaftlich bzw. politisch orientierten Quellen, die Radkau zitiert, meist zwischen Extremen: Euphorie hier, Verzweiflung da. Doch die196 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Computer als omnipotente Herrschaftsinstrumente

se Einsicht in die Irrungen und Wirrungen der Vergangenheit kann man nicht nur in der Jetztzeit durch Rückschau gewinnen, denn schon die damaligen Zeitgenossen wussten zu berichten, dass die Diskussion um diese Themen polarisiert geführt wurde. So schreibt Wolfgang Hartenstein (1977, 120): »Welche Techniken der Planung, Prognose, Simulation und Entscheidungsfindung lassen sich sinnvoll einsetzen? Kann dabei die Datenverarbeitung, die Informationen bereithält, verdichtet, verknüpft und darstellt, wirksame Hilfe bieten? Das Feld der Meinungen ist breit und mitnichten einhellig. Das Pendel der Urteile und Vorurteile hat sich in den letzten Jahren zwischen Euphorie und Zynismus bewegt: sowohl was die Möglichkeit als auch was die Nützlichkeit des Computers für politische Planung betrifft.«

Auch der Rest von Hartensteins Beitrag ist sehr sachlich gefasst und steht damit in scharfem Kontrast zur darin anfangs enthaltenen Bestandsaufnahme. Dass es dafür Gründe gab und diese auch nach Hartensteins Analyse noch lange weiter existierten, kann man nach dem bisher Gesagten bereits ahnen. So zeichnen die Beiträge zum 16. Wissenschaftlichen Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (siehe Hartwich 1985) da, wo sie wertend gehalten sind, ein eher düsteres Bild des Einflusses der Technik auf die Politik. Grimmer (1986, 9) wiederum schreibt gleich im zweiten Absatz der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband: »Die Maschinisierung und Automatisierung des Verwaltungshandelns ist einer der bedeutenden politischen Vorgänge in den letzten Jahren. Es ist ein ›schleichender Prozeß‹ […], welcher in den 50er Jahren begonnen, zunehmend alle Verwaltungsbereiche erfaßt hat und dessen Ende noch nicht abzusehen ist: Das Ergebnis kann ein Umbau des administrativen Systems und eine Neubestimmung seiner gesellschaftlichen Funktion sein. Es handelt sich dabei nicht nur um Entwicklungen, die mit Schlagworten wie ›Überwachungsstaat‹ oder ›gläserner Bürger‹ belegt werden, sondern auch um subtilere und umfassendere Veränderungen […].«

Auch wenn die Worte in Anführungsstrichen gesetzt sind, so ist der mahnende Unterton nicht zu überhören: Es droht größtes Ungemach. Bedenkt man die oben angeführten Bemerkungen zu den Widerständen der Einführung von Computern, so können die aufgeführten Nachteile nur noch wenig überraschen, denn Grimmer (1986, 22) ist der Ansicht, dass »sich mit Anwendungen bisheriger Informationsund Kommunikationstechnik immer auch Nachteile wie die reduzierte Fähigkeit, auf einzelfallspezifische Probleme einzugehen, die Stan197 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Karsten Weber

dardisierung und Formalisierung von Verfahren, der Verlust von sozialen Kontextbezügen, die Rigidität von Verwaltungsablaufen [verbinden].« 10 Das ist zwar noch keine apokalyptische Sichtweise, aber auffällig ist schon, dass hier unter der Hand letztlich der Verlust von Macht, vielleicht sogar von Willkür, aufseiten der Verwaltung beklagt wird. Böse formuliert: Bürokratien und Verwaltungen sind sich über alle Systemgrenzen hinweg recht ähnlich. Damit kein Missverständnis entsteht: Die Warnungen, die von Grimmer und vielen anderen ausgesprochen wurden, waren – und es muss hinzugefügt werden: sind es immer noch – ohne Zweifel berechtigt; man muss nur an die Diskussion um die Volkszählung in und seit den 1980er Jahren denken. Dennoch kann man sich an vielen Stellen nicht des Eindrucks erwehren, dass es den Mahnenden um die grundsätzliche Verhinderung des Computereinsatzes ging, weil dieser ihren eigenen Interessen zuwiderlief – anders lässt sich kaum erklären, dass in den damaligen Texten zwar viel gemahnt, aber so selten nach konkreten Lösungen zu den angesprochenen Herausforderungen und Gefahren gesucht wurde. Schließlich soll noch auf je ein Beispiel von Euphorie und Verzweiflung eingegangen werden, die – ebenso wie viele andere Themen, die bisher angesprochen wurden – bis heute wirkmächtig sind. In gewisser Weise bieten die damit verbundenen Grundhaltungen jene gerade eingeforderten Lösungen an, aber diese scheinen der Komplexität der Probleme kaum angemessen, denn weder unbedingte Akzeptanz noch komplette Ablehnung der Computertechnik stellten damals und stellen heute eine gangbare oder sinnvolle Lösung dar. Zunächst der euphorische Part: Helmut Krauch veröffentlicht 1972 im VDI-Verlag (!) sein Buch Computer-Demokratie und eröffnet damit in Deutschland eine Debatte, die allerdings erst viel später mit der allgemeinen Verfügbarkeit des World Wide Web richtig in Schwung kam. Tatsächlich kam das Buch zur falschen Zeit, weil viel zu früh, denn die Technik, die partizipative politische Prozesse ermöglichen sollte – also die unmittelbare Einbindung der Bürger bei politischen Entscheidungen –, gab es in den 1970er Jahren eigentlich nur in ersten Ansätzen. Computer dieser Zeit waren zentralisierte Geräte, der PC war noch lange nicht erfunden. Damit war der partizipative politische Prozess von einer technischen InfrastrukÄhnlich ist der Tenor des Beitrags von Grimmer, Jungesblut und Schäfer (1986) im gleichen Sammelband.

10

198 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Computer als omnipotente Herrschaftsinstrumente

tur abhängig, die selbst gerade nicht von unten – bottom-up – aufgebaut werden konnte. Im Wesentlichen ignoriert Krauch jedoch solche Einwände und schwelgt stattdessen in der Vorstellung, dass seine Idee zu einer Politik ohne Politiker führen könnte. Sie kann, so behauptet er (1972, 3), »die Spaltung zwischen Erfahrungswelt und Scheinwelt der Medien aufheben, weil die Medien in direkter Beziehung mit allen Bürgern stehen und von diesen gesteuert werden.« Dazu wäre allein schon medien- wie politiktheoretisch viel (Kritisches) zu sagen, doch dafür fehlt hier der Platz. Seine Zeitgenossen indes waren hinsichtlich der Bewertung dieser Idee doch eher zurückhaltend bis skeptisch. So schreibt Reinhard Hujer (1974, 95), dass »[d]iese Partizipation in einer ›Computer-Demokratie‹ […] jedoch letztlich unverbindlich [bleibt], da eine Integration in den politischen Entscheidungsprozeß ausbleibt und die Ergebnisse lediglich Informationen widerspiegeln, die von den Entscheidenden entsprechend den bestehenden Machtverhältnissen interpretierbar sind und auch in diesem Sinne ihre Verwendung finden.« Anders formuliert: Solange nur die Werkzeuge und nicht der Prozess selbst verändert wird, ändert sich politisch eben nichts. Buse und Nelles (1975, 105) erklären Krauchs Ideen kurzerhand zur »technischen Utopie«, Mettler-Meibom (1986, 278) spricht ebenso deutlich von »sozialutopische [n] Hoffnungen«. Doch trotz dieser Skepsis hält die Diskussion bis heute an, man denke bspw. an die von der Piratenpartei propagierte »liquid democracy« (bspw. Vogelmann 2012) – der Wunsch nach anderen und direkteren Formen der politischen Mitwirkungsmöglichkeit besteht nach wie vor. Bleibt noch eine kurze Bemerkung zu den apokalyptischen Haltungen zur Computernutzung. Joseph Weizenbaum wurde bereits am Beginn des Beitrags genannt; ohne jeden Zweifel kommt ihm der große Verdienst zu, vor einer allzu unkritischen Haltung Computern gegenüber gewarnt zu haben. Aber wie so vielen anderen kann und muss man ihm vorwerfen, dass er irgendwann begann, selbstgerecht und pauschal über andere zu urteilen 11 – vielleicht aus Enttäuschung und Verzweiflung darüber, dass er nur in bestimmten Kreisen gehört wurde. Daher ist es wenig verwunderlich, wenn sich gleich zwei Texte Weizenbaums in einem Sammelband (Müllert 1984) mit Beiträgen

Das ist eine Entwicklung, die bspw. in der Umwelt- oder Friedensbewegung nicht gerade selten war.

11

199 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Karsten Weber

finden, in denen Computer, Kernwaffen und Technik ganz allgemein auf die gleiche Stufe gestellt werden. Darin drückt sich ein manichäisches Denken aus, das allen, die in den 1970er und 1980er Jahren die Anfänge der Umwelt- und/oder Friedensbewegung miterlebt haben, bekannt vorkommen wird – man gehörte entweder zu den Guten oder zu den Bösen. Ähnlich wie das utopische bzw. euphorische Denken in Bezug auf Computer hat auch diese dystopische bzw. apokalyptische Haltung allerdings bis heute überlebt – man denke bspw. nur an Neil Postmans Das Technopol (1992) oder an Manfred Spitzers Digitale Demenz (2012).

5.

Schlussbemerkungen

Es bliebe noch viel zu sagen über all das, was in diesem kurzen Text nicht angesprochen werden konnte. 12 Denn die Verfügbarkeit von vergleichsweise leistungsfähigen Computern – gemessen an den damaligen Standards und Erwartungen –, zumindest an vielen Universitäten und Forschungseinrichtungen, führte nicht nur zu jenen Diskussionen und Entwicklungen, die hier skizzenhaft dargestellt wurden. Darüber hinaus begann bspw. eine intensive wissenschaftliche Debatte über Computer als Erkenntnisinstrument, 13 die zum ersten Mal in den Auseinandersetzungen um das Buch The limits to growth (Meadows et al. 1972) kulminierte. Der Grundtenor dieser Debatte lässt sich recht gut mit dem folgenden Zitat wiedergeben (Freeman 1973, 7 f.):

So konnte hier bspw. nicht auf Klaus Haefners (1984) Versuch einer Gesamtschau mit Lösungsvorschlägen für alle lokalen und globalen Probleme der Computernutzung eingegangen werden – dieses Buch, das nicht nur von der umfassenden Kenntnis Haefners in Bezug auf die damalige Computertechnik kündet, sondern auch von dessen Hybris zeugt, wäre eine eigene Abhandlung wert. Ebenso könnte und sollte man fragen, warum in der Technikphilosophie so lange allgemein von ›Technik‹ oder ›Technologie‹ gesprochen (exemplarisch die Texte in Bugliarello, Doner 1979; Durbin, Rapp 1983; Mitcham, Mackey 1972), aber nur sehr selten und dann auf sehr abstraktem Niveau auf Computer im Speziellen (bspw. Mitcham, Huning 1986) eingegangen wurde, obwohl doch bereits in den 1960er Jahren immer deutlicher wurde, welche weitreichenden Veränderungen in allen Lebensbereichen mit dieser Technik verbunden waren. 13 Zu einigen sozial- und geschichtswissenschaftlichen Aspekten von Computersimulationen als Erkenntnisinstrument siehe bspw. Weber (2007a, 2007b). 12

200 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Computer als omnipotente Herrschaftsinstrumente

»Sie [die Autoren von The limits to growth, KW] behaupten, daß Computer-Modelle hinsichtlich des Verstehens des Verhaltens komplexer Systeme große Vorzüge haben. Diese Ansicht ist angesichts der Anzahl Variablen, komplexen Wechselwirkungen und der Rechengeschwindigkeit nicht zu beanstanden. Daraus kann sich aber gefährlich schnell jene Übertreibung entwickeln, die am besten mit ›Computer-Fetischismus‹ charakterisiert wird. […] Eine gesunde Reaktion auf den Computer-Fetischismus kommt in dem knappen Ausdruck ›Garbage in, garbage out‹ […] zum Ausdruck.«

Damit lässt sich die gesamte hier aufgezeigte Diskussion um die Computernutzung in Politik und Verwaltung zusammenfassen. Dort getroffene Entscheidungen werden im Hinblick auf ihre Qualität nicht durch das verwendete Werkzeug besser, denn diese hängt von den Informationen ab, mit denen Computer arbeiten – das hat sich bis heute nicht geändert. Die Versachlichung der in der Frühzeit der Computer zuweilen alles andere als sachlich geführten Diskussion wäre uns deshalb ebenfalls zu wünschen. Denn der technische Fortschritt von den Mainframe-Computern über PCs und Laptops zu vernetzten mobilen Endgeräten hat keines der damals aufgeworfenen Probleme wirklich gelöst, sondern allenfalls verschärft und neue hinzugefügt. Selbst wenn man Technik als Motor des sozialen Wandels und der Modernisierung verstehen möchte, muss ein Motor stets gesteuert werden; lernen sollte man aus der oben skizzierten Geschichte aus der Frühzeit der Computer, dass der Technikeinsatz viel weitergehend steuerbar ist, als dies gemeinhin behauptet wird.

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Nele-Hendrikje Lehmann

»Ein Mittel im Kampf um den technischen Fortschritt«? Technische Museen in der DDR in den 1950er und 1960er Jahren 1.

Einleitung

Als der Direktor des Rostocker Schifffahrtsmuseums, Martin Heyne, 1988 über »Stand und Aufgaben« der technischen Museen referierte, zog er ein ernüchterndes Fazit. Unter den insgesamt 714 Museen der DDR befanden sich nur 43 technische Museen, die durchschnittlich mit deutlich weniger Beschäftigten auskommen mussten als andere museale Einrichtungen. Auch die Besucherzahlen gaben wenig Anlass zu Euphorie. Zwar existierten einige gut besuchte Einrichtungen in den Bezirken Dresden und Karl-Marx-Stadt, insgesamt entfielen jedoch nur sechs Prozent der jährlichen Museumsbesucher auf die technischen Museen. Da sich diese darüber hinaus sehr ungleich auf die verschiedenen Bezirke verteilten, war eine flächendeckende Vermittlungsarbeit, wie sie Heyne angesichts eines zunehmenden Technikpessimismus in der Bevölkerung vorschwebte, kaum zu gewährleisten (Heyne 1988, 256 f.). Mit seiner Einschätzung war er nicht allein. Auch der Rat für Museumswesen sah im Bereich der technischen Museen einen großen Nachholbedarf: »Während 82 Kunstmuseen etwa der kulturellen Gewichtung entsprechen, dürften die im Verhältnis selbst zu ihnen wenigen naturkundlichen und technischen Museen sowohl dem Vorkommen von Sachzeugen als auch dem Informations- und Wissensbedarf der Gesellschaft nicht mehr gerecht werden.« (Olschewski et al. 1989, 164) Die Situation der technischen Museen Ende der 1980er Jahre stand in auffälliger Diskrepanz zu den Erwartungen, die man aufgrund der großen Fortschritts- und Technikeuphorie in den Jahrzehnten zuvor in sie gesetzt hatte. Seit Ende der 1950er Jahre gehörte die technische Entwicklung zu den zentralen Komponenten im Systemwettstreit zwischen Ost- und Westdeutschland. Entsprechend sollte das Bildungsniveau der Bevölkerung im technischen Bereich erweitert und diese so für den technischen Fortschritt gewonnen werden 206 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

»Ein Mittel im Kampf um den technischen Fortschritt«?

(vgl. Ley 1955, 320 f.). Da Ausstellungsbesuche zum Pflichtprogramm der »kulturellen Massenarbeit« in der DDR gehörten, galten die Museen als wichtiges »Massenkommunikationsmittel«, das außerhalb der Schule technische und naturwissenschaftliche Grundkenntnisse vermitteln und gleichzeitig das gesellschaftliche Technikbild prägen sollte. Doch inwieweit konnten und wollten die Museen die politischen Vorgaben überhaupt umsetzen? Auf welche Weise wurde Technik in den Museen präsentiert? Während die Geschichtsund Heimatmuseen der DDR mittlerweile gut erforscht sind, ist die Geschichte der technischen Museen sowie die durch sie vermittelten Technik- und Geschichtsbilder noch immer ein Desiderat der Forschung. Im Folgenden werden deshalb zunächst die Konzeption sowie der Aufbau technischer Museen in den 1950er und 1960er Jahren nachgezeichnet. Im Anschluss daran wird exemplarisch die Darstellung der Technik in verschiedenen Museen erörtert.

2.

Vom technischen zum polytechnischen Museum

Als Ende der 1940er Jahre die Neuorganisation des Museumswesens in der DDR begann, standen technische Museen nicht auf der Agenda der staatlichen Museumspolitik. Die wenigen technischen Museen, die im späteren Staatsgebiet der DDR bestanden hatten, wie das Sächsische Eisenbahnmuseum in Dresden oder das Postmuseum in Berlin, waren durch den Krieg zerstört worden. Sie wurden zunächst nicht wiederaufgebaut, bzw. man beschränkte sich auf den Erhalt der Bausubstanz. 1 Eine 1951 vom sächsischen Landesamt für Volkskunde und Denkmalpflege erstellte Liste der Museen in Sachsen verzeichnete zum Beispiel kein einziges technisches Museum (HStAD, 11598, Nr. 211, o. S.). Wie bereits in den 1920er Jahren waren es auch in der DDR Ingenieure und technische Hochschulen, die die Initiative zur Errichtung technischer Museen ergriffen. Nachdem im März 1952 die neue Hochschule für Verkehrswesen in Dresden gegründet worden war, setzte sich der Rektor beim Ministerium für Verkehr für den Aufbau eines Museums ein. Dort sollten die ausgelagerten Ausstellungsstücke des früheren Sächsischen Eisenbahnmuseums untergebracht werden. Die Gründung erfolgte nur drei Monate später. 1954 Einen guten Überblick über die in der Anfangszeit der DDR bestehenden Museen bietet A. Knorr (1963).

1

207 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nele-Hendrikje Lehmann

wies der Rat der Stadt Dresden dem Verkehrsmuseum mit dem Johanneum einen Teil des ehemaligen Schlosskomplexes zu, der nach der Sanierung 1956 bezogen werden konnte (Rehbein 1966, 43; HStAD, 13457, Nr. 35 und Nr. 73). Der schnelle Erfolg sollte ein Einzelfall bleiben. Bereits im März 1951 hatte auch der Rektor der Technischen Hochschule Dresden, Kurt Koloc, gefordert, im Zuge der Neugestaltung der Dresdner Innenstadt ein zentrales Technisches Museum im geplanten Museumsviertel einzurichten (UAD, XVIII, Nr. 224, o. S.; Weber, Engelskirchen 2000, 117). Die Idee eines Zentralmuseums orientierte sich an den Gründungen der großen nationalen Technikmuseen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wie dem Deutschen Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaften und Technik in München, dem Technischen Museum für Industrie und Gewerbe in Wien oder dem Technischen Nationalmuseum Prag. Entsprechend war es als Prestigeobjekt gedacht, das die Errungenschaften des Sozialismus im Bereich der Technik demonstrieren und letztlich selbst das Deutsche Museum in München in den Schatten stellen sollte (Weber, Engelskirchen 2000, 190). Der Aufruf fand keine Resonanz, auch, weil für den Aufbau eines Museums die Objekte fehlten. Die wichtigste Vorarbeit bestand somit darin, geeignete technisch-historische Gegenstände zu sammeln und zu erfassen. Diese Aufgabe übernahm zunächst die 1953 an der Technischen Hochschule gegründete Zentrale Ausstellungsleitung, ab 1954 das Institut für die Geschichte der Naturwissenschaften und Technik (UAD, XVIII, Nr. 224, o. S.). Beide arbeiteten eng mit der Dresdner Arbeitsstelle des Instituts für Denkmalpflege zusammen. Der Chefkonservator, Hans Nadler, hatte bereits 1951 mit der systematischen Erfassung und Dokumentation technischer Denkmale begonnen. Dabei verzeichnete er neben den ortsfesten auch die beweglichen Denkmale, die sich für eine museale Nutzung anboten (UAD, XVIII, Nr. 219, o. S.). Eine erste kleine Ausstellung mit dem Titel »Technische Kulturdenkmale« konnte 1952 in den Städtischen Kunstsammlungen Görlitz eröffnet werden. Unter dem gleichen Titel konzipierte Nadler drei Jahre später eine Wanderausstellung, die an 23 Orten gezeigt und von über 400.000 Menschen besucht wurde (Wächtler, Wagenbreth 1989, 15). Trotz der Erfolge, die im Bereich der technischen Denkmalpflege bereits erzielt worden waren, war das Interesse an einem Technischen Museum von staatlicher Seite zunächst gering. Das Staatssekretariat für Hochschulwesen wies lediglich den Sonderbeauftragten für wis208 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

»Ein Mittel im Kampf um den technischen Fortschritt«?

senschaftliche Museen in Dresden an, den Gedanken des Technischen Museums zu unterstützen und stellte geringfügige Mittel für die Sammlung und den Ankauf weiterer technischer Gegenstände zur Verfügung (UAD, XVIII, Nr. 224, o. S.). Die Einstellung der Regierung änderte sich erst mit den Vorbereitungen des zweiten Fünfjahresplans, in dem Wissenschaft und Technik eine Schlüsselrolle einnahmen. Aufgrund des Arbeitskräftemangels sollte die Produktivität durch die Einführung neuer Technik gesteigert und so die Angleichung an den westlichen Lebensstandard erreicht werden (vgl. Steiner 2007, 96). Damit wurde die technische Entwicklung zu einem entscheidenden Faktor in der Systemkonkurrenz. Programmatisch verkündet hatte dies der Sekretär des Zentralkomitees der SED, Gerhart Ziller, bereits auf dem 1. Kongress der Kammer der Technik im Dezember 1955: »Wir haben die Aufgabe gestellt, nicht nur auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch in der Technik das Weltniveau zur erringen. Wir müssen dazu übergehen, dort, wo uns die kapitalistischen Länder in der technischen Entwicklung voraus sind, diese Entwicklung zu erreichen und zu überholen.« (Ziller 1956, 115) Er rief dabei nicht nur die Ingenieure auf, »führend am wissenschaftlich-technischen Fortschritt« mitzuwirken, sondern forderte auch die Einrichtung polytechnischer Museen. Darunter verstand er kein technisches Zentralmuseum, sondern standortgebundene Ausstellungen in den Industriezentren. »In solchen Museen kann für die Jugend, für alle Werktätigen gezeigt werden, und zwar an Hand von technisch-historischen Originaldokumenten, Funktionsmodellen und grafischen Darstellungen, unter welchen Bedingungen und wie sich die Produktivkräfte der Gesellschaft entwickelten. […] Man kann auch die Schwerpunkte der gegenwärtigen und künftigen Entwicklung veranschaulichen und damit zugleich große Erziehungsarbeit leisten.« (Ziller 1956, 117). Die Vorarbeiten für den Aufbau der Museen sollten die Kammer der Technik sowie das Institut für die Geschichte der Technik und Naturwissenschaften übernehmen. Zillers Ausführungen waren richtungsweisend. 1958 entschied das ZK der SED, den Plan eines Zentralmuseums fallen zu lassen und wies stattdessen an, polytechnische Museen auf Bezirksebene aufzubauen (Leuschner 1959, 209). Dies bedeutete eine strukturelle wie inhaltliche Neuausrichtung. Die Museen waren primär nicht mehr als Institutionen des Sammelns und Bewahrens, sondern als Bildungseinrichtungen gedacht, bei denen die Ausstellungstätigkeit 209 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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im Mittelpunkt stand. 2 Entsprechend lag die Verantwortung für den Aufbau der polytechnischen Museen nicht beim Ministerium für Kultur, sondern beim Ministerium für Volksbildung. Das dezentrale Prinzip war gleichzeitig ein früher Versuch, ein einheitliches Museumsnetz in der DDR zu etablieren. Die einzelnen Museen sollten sich dabei durch inhaltliche Schwerpunktsetzung und klar abgegrenzte Sammlungsbereiche unterscheiden, die durch einen typischen regionalen Wirtschaftszweig vorgegeben waren. Geplant waren folgende Bereiche: Schiffsbau (Rostock), Landtechnik (Neubrandenburg), Bautechnik und Elektrotechnik (Berlin und Potsdam), Schwermaschinenbau (Magdeburg), Hüttenwesen (Frankfurt/Oder), Chemie (Halle), Polygraphie (Leipzig), Kraftfahrzeugtechnik (Erfurt), Feinmechanik und Optik (Gera), Werkzeugmaschinenbau und Textiltechnik (KarlMarx-Stadt), Braunkohletagebau (Cottbus), Atomtechnik, Flugzeugbau (Dresden). Das Dresdener Museum sollte darüber hinaus die Wechselbeziehungen zwischen Naturwissenschaft und Technik behandeln und als eine Art Leitmuseum fungieren (Leuschner 1959, 209 f.). Obwohl das Institut für die Geschichte der Technik und Naturwissenschaften die Idee eines Zentralmuseums nicht gleich aufgeben wollte, schwenkte es relativ schnell auf den offiziellen politischen Kurs um. Das polytechnische Museum galt nun als konsequente Weiterentwicklung des technischen Museums und als einzige angemessene Museumsform für den Sozialismus: »Die Erfahrungen aus der Sowjetunion beweisen, daß die Aufgaben in einem sozialistischen Staat nur von polytechnischen Museen – als einer qualitativ höheren Stufe der technischen Museen – ausreichend erfüllt werden können.« (Leuschner 1959, 206) Die beiden Reisen, die Fritz Leuschner 1958 zum Technischen Nationalmuseum Prag und 1959 zum Technischen Museum Wien unternommen hatte, dürften maßgeblich zur Festigung dieser Meinung beigetragen haben. »Die technischen Museen beschränken sich im allgemeinen auf die Darstellung der Geschichte der Technik und zeigen dabei die Technik um ihrer selbst willen. Die polytechnischen Museen dagegen bemühen sich, die technischen Probleme in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang auf marxistisch-leninistischer Grundlage zur Darstellung zu bringen« (Leuschner 1959, 207). Binnen kürzester Zeit avancierte auch das DeutNach Helmuth Trischler war ein »auffälliger Präsentabilismus« bereits Anfang des 20. Jahrhunderts ein Merkmal der technischen Museen (vgl. Trischler 2015, 47).

2

210 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

»Ein Mittel im Kampf um den technischen Fortschritt«?

sche Museum mit seiner »personalisierenden Fortschrittserzählung« (Hartung 2007, 50) vom Vorbild zum Negativbeispiel. Seine didaktische Ausrichtung, naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse anhand von Experimenten und beweglichen Modellen zu vermitteln, galt jedoch weiterhin als vorbildlich (Riesel 1955, 213). So war das polytechnische Museum als ein Museum zum »Begreifen« gedacht, in dem die Besucher möglichst viel anfassen und ausprobieren sollten. Bei der Erstellung inhaltlicher Leitlinien orientierte sich das Institut am Polytechnischen Museum Moskau. Dies bedeutete eine Abwendung von einer rein historischen Darstellung der Technik. Zwar sollte eine Abteilung zur geschichtlichen Entwicklung der Naturwissenschaften und Technik beibehalten werden, doch dürfe diese nicht mehr als 20 % der Ausstellungsfläche einnehmen. »Die Geschichte der Technik wird nur benutzt, um die zum besseren Verständnis der neuzeitlichen Technik nötige Einführung zu geben.« (Leuschner 1959, 207) Damit lag der Fokus auf der Darstellung der neusten Technik und ihrer Entwicklungstendenzen. Ähnlich wie in Moskau sollte sie dazu genutzt werden, die Erfolge der Fünfjahrespläne in technischer und ökonomischer Beziehung zu demonstrieren. Als inhaltlicher Schwerpunkt der Museen waren die Themen »Mechanisierung und Automatisierung« gedacht, bei denen sie als Multiplikatoren wirken sollten. »Er [der Besucher, N. L.] wird angeregt, die durch den Besuch des Polytechnischen Museums gewonnenen Erkenntnisse in seinem Arbeitsbereich praktisch anzuwenden, um wiederum zur Weiterentwicklung der Technik beizutragen.« (Ley 1955, 321)

3.

Der Aufbau polytechnischer Museen in den 1960er Jahren

Der Aufbau eines einheitlichen Netzes polytechnischer Museen auf Bezirksebene war ein ehrgeiziges Projekt. Die Umsetzung, so prophezeite Leuschner, würde sich keinesfalls sofort realisieren lassen. Neben Räumen, Kadern und finanziellen Mitteln fehlte es auch an Fachkenntnissen im musealen Bereich (Leuschner 1959, 210). Deshalb schlug er vor, eng mit den Heimatmuseen zu kooperieren und Vertreter der Bezirks- und Kreisheimatmuseen in die vorbereitenden Arbeitsgruppen der zu gründenden polytechnischen Museen aufzunehmen (vgl. Leuschner 1959, 211). Diese Maßnahme diente gleichzeitig der Abgrenzung von Kompetenzen, denn die Darstellung der indus211 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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triellen Entwicklung und die Vermittlung polytechnischer Kenntnisse galten in der DDR keinesfalls als exklusive Aufgaben der polytechnischen Museen, sondern wurden ebenfalls von den technischen Spezialmuseen sowie den Heimatmuseen erwartet. Verantwortlich für die Heimatmuseen war die beim Ministerium für Kultur angegliederte Fachstelle für Heimatmuseen. Deren Leiter, Heinz Arno Knorr, bemühte sich bereits seit Ende der 1940er Jahre um eine Neuausrichtung der Museen und hatte seine Vorschläge in zahlreichen Artikeln und Vorträgen publik gemacht (Scheunemann 2009, 91 ff.). Das alte bürgerliche Heimatmuseum, das »sich zusammensetzt aus Heimattümelei, Individualismus und Materialverzettelung«, sollte durch ein neues sozialistisches Heimatmuseum überwunden werden (Knorr 1989, 203). Gemäß den geschichtspolitischen Vorgaben der SED sollte es einen starken Gegenwartsbezug aufweisen und die »revolutionären Kämpfe« der deutschen Arbeiterbewegung in die Geschichtsbetrachtung miteinbeziehen (Scheunemann 2009, 366.). Darüber hinaus forderte Knorr eine größere Beachtung der Geschichte der Produktivkräfte, wobei sowohl die gesellschaftliche als auch die technische Seite der Produktion berücksichtigt werden sollte (UAD, XVIII, Nr. 222, o. S.). Die Darstellung der Technik könne sich nicht mehr nur auf »Kuriositäten« beschränken, sondern bilde einen »festen Bestandteil der Thematik eines Heimatmuseums im Zuge der Darstellung der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft überhaupt« (UAD, XVIII, Nr. 222, o. S.). Damit wollte Knorr die Heimatmuseen keinesfalls in Technikmuseen verwandeln, der Fokus sollte einer Geschichte der Produktivkräfte entsprechend auf den ökonomischen Strukturen und lokalen Wirtschaftszweigen liegen. Für das Museum Lauchhammer hieß dies zum Beispiel statt des Eisenkunstgusses die Braunkohlekokerei in den Mittelpunkt zu stellen, während das Museum Hoyerswerda »aufklärend und belehrend für das große Vorhaben des Kombinats Trattendorfer Heide (Schwarze Pumpe)« wirken sollte (UAD, XVIII, Nr. 222, o. S.). Die Vorgaben Knorrs wurden nur zögerlich umgesetzt. Zum einen widersprach der staatliche Lenkungsanspruch dem Selbstverständnis vieler Museumsleiter (Scheunemann 2009, 367). Zum anderen fehlten den Museen aussagekräftige Ausstellungsstücke, mit denen sich eine Geschichte der Produktivkräfte hätte erzählen lassen (UAD, XVIII, Nr. 222, o. S.). So waren es zunächst nur wenige der insgesamt 465 Heimatmuseen, die in enger Verbindung mit den lokalen Industriebetrieben die gewünschte Neuausrichtung vornah212 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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men. Da eine zentrale Anleitung für die Umgestaltung fehlte und zudem recht unterschiedliche Kooperationsverhältnisse bestanden, waren die Konzeptionen äußerst heterogen. »Obwohl von gleichen Grundgedanken ausgegangen worden ist […] spiegeln sich bereits in Auffassung und Durchführung des Themas die vielseitigen Möglichkeiten und unterschiedlichen Standpunkte deutlich wider, die es hierbei geben kann«, stellte Wolfgang Häring von der Fachstelle bei der Betrachtung von drei neu geschaffenen Ausstellungen in den Heimatmuseen Pirna, Zeitz und Brandenburg fest (Häring, Winkler 1962, 113 f.). Hatte man in Brandenburg die Darstellung der lokalen Industrie in den zeitgeschichtlichen Abschnitt integriert, so hatte man in Zeitz eine eigene polytechnische Abteilung und in Pirna gleich ein ganzes »Polytechnisches Kunstseidemuseum« geschaffen. Die Ausstellungen gaben Einblicke in die Produktion und verdeutlichten die Fortschrittlichkeit der sozialistischen Wirtschaft anhand von Statistiken zur Planerfüllung und Produktionssteigerung. Die dargestellten wirtschaftlichen Erfolge wurden zum Teil durch plakative Nachwuchswerbung für die lokale Industrie flankiert. Unter dem Motto »Die Chemie ruft die Jugend« zeigte z. B. das Heimatmuseum Zeitz die verschiedenen Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten in Chemieberufen und warb so für das 1958 beschlossene »Chemieprogramm«, das mit dem Slogan »Chemie gibt Brot, Wohlstand und Schönheit« in der gesamten DDR propagiert wurde. Neben einer Karte mit den Chemiefach- und Chemiehochschulen verdeutlichte die Ausstellung die Ausbildungsmöglichkeiten im örtlichen Hydrierwerk am Beispiel einer sozialistischen Jugendbrigade. Mittelpunkt der Inszenierung war die Porträtreihe »Vorbilder, denen es nachzueifern gilt«, welche Produktionsarbeiter, Wissenschaftler und Techniker des Werkes zeigte (Häring, Winkler 1962, 109 f.). Nicht immer verlief die viel gepriesene »Gemeinschaftsarbeit« so reibungslos wie in Zeitz, denn die beteiligten Kooperationspartner hatten durchaus unterschiedliche inhaltliche Vorstellungen. Tatsächlich bot die Rede von der technischen und gesellschaftlichen Seite der Produktivkräfte einen relativ weit gesteckten Interpretationsrahmen, in dem sowohl technik- als auch wirtschaftshistorische Ansätze umgesetzt werden konnten. Dies zeigte sich z. B. beim Aufbau der polytechnischen Abteilung am Kulturhistorischen Museum Magdeburg, die als erste solche Einrichtung bereits im Herbst 1958 eröffnen konnte. Entstanden war die Abteilung, die als Vorstufe für ein eigenständiges polytechnisches Museum gedacht war, auf Initiative der Ar213 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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beitsgemeinschaft »Geschichte der Technik«. Die Integration der Technik in den Bereich der Kultur war auch in der DDR keineswegs selbstverständlich und hatte im Vorfeld zu hitzigen Debatten geführt (Lange 1959, 152). Der Aufbau der Abteilung lag in den Händen einer Kommission, die sich aus Technikern, Historikern und Museologen zusammensetzte. Da die Techniker die Planung der Abteilung lange Zeit alleine vorgenommen hatten, stand bei Arbeitsaufnahme der Kommission die Aufstellung der schweren Maschinen bereits fest, was die weiteren Darstellungsmöglichkeiten deutlich einschränkte (Lange 1959, 151). Ähnliche Erfahrungen musste auch Heinz Arno Knorr beim Aufbau des Zweitakt-Motorrad-Museums in Augustusburg machen. Die Idee des 1961 eröffneten Museums war Mitte der 1950er Jahre im Motorrad-Werk Zschopau entstanden. Für den Aufbau des Museums hatte das Werk die Fachstelle für Heimatmuseen sowie das Institut für Geschichte der Technik und Naturwissenschaften der TH Dresden um Unterstützung gebeten. Während letzteres den Auftrag für die Erarbeitung eines Drehbuchs erhielt, war die Fachstelle überwiegend für museologische Beratung und die ideologische Ausrichtung der Ausstellung verantwortlich: »Der Inhalt eines Werkmuseums in unserer Republik darf sich nicht auf eine Ausstellung technischer Objekte, die mit technischen Kennziffern versehen sind, beschränken, sondern er muß, da er unter anderem zur polytechnischen Bildung und Erziehung aller Bevölkerungsschichten beitragen soll, naturwissenschaftliche, weltanschauliche, technische, technologische und ökonomische Grundlagenkenntnisse vermitteln«, fasste Knorr die weitgesteckten Vermittlungsziele zusammen (UAD, XVIII, Nr. 205, o. S.). Neben zwei historischen Teilen, in denen die Geschichte der Antriebsmaschine sowie die Entwicklung des Zweitaktmotors von den Anfängen bis zur Gegenwart dargestellt werden sollte, war auch eine »polytechnisch durchgearbeitete Gegenüberstellung des Viertakt- und Zweitakt-Otto-Motors, sowie des Dieselmotors« geplant, die jedoch nicht wie gewünscht umgesetzt werden konnte. Die Ausarbeitung, die in den Händen eines Technikers des Motorradwerkes gelegen hatte, »tendierte sehr stark nach einer rein formal technologischen Darstellung, die sich in nichts von dem (sic!) im Deutschen Museum unterscheidet, d. h. speziell vom Standpunkt der Volksbildung ist zu wenig darin«. Der Name »Polytechnik« hatte nach Knorrs Auffassung so »keine Berechtigung« mehr (UAD, XVIII, Nr. 205, o. S.). Die verschiedenen Ausstellungskonzepte, die als »polytech214 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

»Ein Mittel im Kampf um den technischen Fortschritt«?

nisches Museum« bzw. »polytechnische Abteilung« firmierten, stifteten Verwirrung. Dies galt umso mehr als Mitte der 1960er Jahre zwei der geplanten Museen auf Bezirksebene in Schwerin und Dresden eröffnen konnten. »Die unterschiedliche Konzipierung der jeweiligen Gründungen [läßt] vermuten, daß eine zentrale Anleitung für den Aufbau der Museen nicht vorhanden ist«, kritisierte die Zeitschrift »Jugend und Technik« und forderte eine einheitliche Unterstellung und Finanzierung der Museen (Huste 1966, 926). Tatsächlich hatte der Beschluss des Zentralkomitees der SED zwar die Weichen für den Aufbau polytechnischer Museen gestellt, die genauen Zuständigkeiten jedoch nicht abschließend geklärt. Träger der Museen waren die Räte der jeweiligen Bezirke. Für den Aufbau zeichnete ab 1958 jedoch das Ministerium für Volksbildung verantwortlich, das durch die Arbeitsgruppe »Technische Museen und Denkmalpflege« des Instituts für Geschichte der Technik und Naturwissenschaften der TH Dresden unterstützt wurde (Leuschner 1959, 207). Die Anleitung der polytechnischen Abteilungen der Heimatmuseen übernahm hingegen das für sie zuständige Ministerium für Kultur. Die technischen Spezialmuseen unterstanden darüber hinaus weiterhin den fachlich zuständigen Ministerien, wie z. B. das Verkehrsmuseum Dresden dem Ministerium für Verkehrswesen. Wie eine von der Zeitschrift »Jugend und Technik« initiierte Umfrage zu Tage förderte, bestand selbst bei den Museumsleitern sowie den verschiedenen staatlichen Stellen kaum Einigkeit in der Zuständigkeitsfrage (Huste 1966, 926 f.). Eine von der Kammer der Technik geforderte »rasche Klärung der Frage, welches staatliche Organ für die Anleitung, Unterhaltung und Kontrolle der polytechnischen Museen verantwortlich ist«, war Mitte der 1960er Jahre nicht in Sicht (Huste 1966, 926 f.). 215 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Das Ziel »ein in seiner Gesamtstruktur einheitliches sozialistisches Museumswesen zu schaffen, um damit allen Zufälligkeiten künftiger musealer Entwicklung Einhalt zu gebieten, und ein in sich abgestimmtes Museumsnetz in der DDR zu entwickeln« (Heyne 1981, 94) ließ sich im Bereich der technischen Museen zunächst nicht verwirklichen. So schritt die Polytechnisierung der Heimatmuseen deutlich schneller voran als die Einrichtung der geplanten polytechnischen Museen. Gründe hierfür waren nicht nur fehlende finanzielle Mittel, sondern auch das geringe Engagement der Bezirke (HStAD, 13457, Nr. 22, o. S.). Ausschlaggebend für die Einrichtung polytechnischer Museen blieben lokale Initiativen sowie Kooperationen mit der Industrie. Entsprechend unterschiedlich war die regionale Verteilung der Museen. Ende der 1980er Jahre konzentrierten sie sich vor allem auf die Bezirke Dresden, Magdeburg und Rostock. Die für die Bezirke Erfurt, Frankfurt (Oder), Leipzig und Potsdam geplanten Museen wurden hingegen bis 1989 nicht verwirklicht (Heyne 1988, 257).

4.

Die »Dialektik von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt« oder die Grenzen musealer Darstellbarkeit

Wenn die (poly)technischen Museen in den 1960er Jahren noch kaum dem entsprachen, was sich ihre Leiter selbst unter einem »sozialistischen Museum« vorstellten, dann lag dies nicht nur an den unklaren Unterstellungsverhältnissen, sondern auch an einem »Mangel an theoretischen Erkenntnissen zur Problematik der Polytechnik im Museum« (Seidel 1972, 86). Einen ersten Vorstoß wagte die Leiterin des Dresdner Verkehrsmuseums, Elfriede Rehbein. In der Zeitschrift »Neue Museumskunde« beschrieb sie ihre Institution als polytechnische Bildungsstätte und rief gleichzeitig dazu auf, im Rahmen der Zeitschrift »über grundsätzliche Probleme der Gestaltung polytechnischer Museen zu diskutieren« (Rehbein 1966, 47). Die Resonanz war bescheiden. Sie beschränkte sich auf eine kurze Diskussion zwischen Rehbein und dem Leiter des Polytechnischen Museums Schwerin, Ernst-Albert Krüger. Die Gemeinsamkeiten überwogen die Diskrepanzen bei weitem. So betonten beide den Gegenwarts- und Gesellschaftsbezug als wichtigstes Merkmal, durch das sich das sozialistische vom bürgerlichen Technikmuseum unterscheiden sollte. Wie die Kritik Krügers an der Dauerausstellung des Verkehrsmuseums 216 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

»Ein Mittel im Kampf um den technischen Fortschritt«?

jedoch verdeutlichte, lagen Anspruch und Realität noch weit auseinander (Krüger 1967, 62). Das Verkehrsmuseum war das größte und besucherstärkste technische Museum in der DDR. Bereits vor Eröffnung der Dauerausstellung hatte es mit Sonderausstellungen auf sich aufmerksam gemacht. Nachdem es anlässlich der 750-Jahrfeier der Stadt Dresden 1956 eine Ausstellung über die Entwicklung des Verkehrswesens gezeigt hatte, folgte im Jahr darauf eine Schau über »Moderne Technik im Verkehrswesen« (Seidel 1957). Sie zeigte die neusten Entwicklungen im Bereich der Schifffahrt, des Kraftverkehrs und der Eisenbahn. Dabei war sie nicht auf Vollständigkeit angelegt, sondern erzählte sozialistische Erfolgsgeschichten wie den Auf- und Umbau von Werften oder die Einführung des Werkstoffes Duroplast für den Karosseriebau. Die Inszenierung kontrastierte dabei alte Technik und Arbeitsweisen mit modernen Verfahren. So zeigte z. B. der Ausstellungsteil »Verkehrsdienst«, der unter dem Leitsatz »Transportrationalisierung durch Mechanisierung des Stückgutumschlages durch den Einsatz von Transportbehältern« stand, die neue Technik als Erlösung von schwerer körperlicher Arbeit (Seidel 1957, 17). Die Dauerausstellung, die 1958 mit der Abteilung »Eisenbahnverkehr« eröffnet und bis Mitte der 1960er Jahre sukzessive um die Abteilungen Schifffahrt (1959), Kraftverkehr (1962) und städtischer Nahverkehr (1966) ergänzt wurde, versuchte beide Perspektiven und somit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verbinden. Dafür nutzte das Museum gängige Präsentationsformen wie die »technische Entwicklungsreihe«. Diese Darstellungsweise, die dem Ideal eines linearen technischen Fortschritts entsprach, hatte sich in den europäischen Technikmuseen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchgesetzt (vgl. Trischler 2015, 55). Wie die älteren Technikmuseen ergänzte auch das Verkehrsmuseum Originalobjekte mit Modellen, Schnittmodellen, Grafiken und Texten. Da viele der Originalobjekte aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert stammten, überwog die alte Technik die neue bei weitem, was dem Museum noch in den 1970er Jahren den Vorwurf einer zu stark »traditionsgebundenen historisierenden Darstellung« einbrachte (HStAD, 13457, Nr. 22, o. S.). Trotz wiederholter Kritik des Ministeriums für Verkehrswesen ließ sich die historische Ausrichtung nicht so schnell ändern, denn neue Technik war für das Museum nur schwer erhältlich (HStAD, 13457, Nr. 73, o. S.). So waren trotz »entsprechender Anweisungen« des Ministeriums von Seiten der Industrie Auskünfte verweigert und 217 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Modelle, Zeichnungen und Skizzen nicht ausgehändigt worden (HStAD, 13457, Nr. 73, o. S.). Gleichzeitig fehlte es dem Museum an Magazinen, um Objekte, die keine »eindeutige marxistisch-leninistische Aussage« zuließen, aber dennoch erhalten werden sollten, aus der Ausstellung zu entfernen und so Platz für neue Exponate zu schaffen (HStAD, 13457, Nr. 35, o. S.). »Die dringende Notwendigkeit zur Neugestaltung der Ausstellung Kraftverkehr ist allen klar, das wie jedoch noch nicht«, bemerkte Rehbein anlässlich des 20-jährigen Jubiläums des Verkehrsmuseums und brachte damit das Dilemma des Museums treffend auf den Punkt (HStAD, 13457, Nr. 35, o. S.). Die Präsentationsstrategie des Verkehrsmuseums, die den Fokus auf das technische Objekt und die Erläuterung von Funktionsweisen legte, erschwerte die gleichzeitige Darstellung von technischer und gesellschaftlicher Entwicklung. Die vornehmlich »zufällig vorhandenen Sachzeugen«, die den Grundstock der Ausstellungen Anfang der 1960er bildeten, waren »sehr unterschiedlich in ihrer Aussage einmal zum marxistisch-leninistischen Weltbild – das VMD 3 sollte ja ein sozialistisches Museum sein und zum anderen in der technischen Aussage – das VMD sollte ja auch ein technisches Museum sein« (HStAD, 13457, Nr. 35, o. S.). Deshalb konnte, so Rehbein, zunächst »keine Übersicht über die historische Entwicklung mit ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen sichtbar gemacht« werden (HStAD, 13457, Nr. 35, o. S.). Hinter den offensichtlichen praktischen Schwierigkeiten verbarg sich ein grundlegendes methodisches Problem. Die marxistische Geschichtsauffassung ging von einer gesetzmäßigen Entwicklung der Produktivkräfte aus. An den Produktionsmitteln sollten sich sowohl die Entwicklung menschlicher Arbeitskraft als auch die gesellschaftlichen Verhältnisse ablesen lassen. Doch wie konnten gesetzmäßige historische Prozesse und Erscheinungen mit zufällig überlieferten Sachzeugen dargestellt werden? Diese Frage beschäftigte in den 1960er Jahren nicht nur die technischen Museen. Auch die Heimatmuseen hatten große Schwierigkeiten die geschichtspolitischen Vorgaben umzusetzen, was in einer unübersehbaren Tendenz zum »Papiermuseum« zum Ausdruck kam. So enthielten die Gegenwartsabteilungen vieler Museen kaum Objekte und glichen eher einem an die Wand geklebten Lehrbuch (Kaiser 1964; Czichon 1964a). Das Resultat waren »langweilige Ausstellun3

VMD = Verkehrsmuseum Dresden.

218 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

»Ein Mittel im Kampf um den technischen Fortschritt«?

gen« und unzufriedene Besucher (Kaiser 1964, 127). Diese grundlegenden Probleme bemühte sich die Fachstelle für Heimatmuseen mit den 1964 erschienenen »Thesen zur Museumswissenschaft« zu lösen. Sie sahen die Spezifik des Museums in seiner »Gegenständlichkeit« und erhoben den »originalen Sachzeugen« zum genuinen Forschungsgegenstand einer zu begründenden Museumswissenschaft (Czichon 1964b). Die Forderung war insofern brisant, als sie die Frage aufwarf, ob die »originalen Sachzeugen« oder eine »wissenschaftlichtheoretische Konzeption« die Thematik der Ausstellung bestimmten (Scheunemann 2009, 335). Die politische Kontroverse, die folgte, unterband eine weitere Diskussion der Thesen. Insbesondere das Museum für Deutsche Geschichte sah die Gefahr, die Museen durch die Ausrichtung auf den »originalen Sachzeugen« von der marxistischleninistischen Geschichtswissenschaft zu lösen (Scheunemann 2009, 336 f.). Eine »Darstellung gesetzmäßiger historischer Prozesse und Erscheinungen« sei nicht ausschließlich mit »originalen Sachzeugen« möglich (Gülzow 1964, 35). So sage zum Beispiel eine Maschine von sich nichts über die gesellschaftlichen Verhältnisse aus. »Um die Maschine ›zum Sprechen‹ zu bringen, um das Neue, das Wirken neuer Gesetzmäßigkeiten unter den Bedingungen der antifaschistischdemokratischen Ordnung an ihr zu erkennen, muß zusätzliches Material verwendet werden. […] Das Einzelne, d. h., das konkret-historische Ereignis, in dem sich das Allgemeine, also das Gesetz verwirklicht, ist nicht auszudrücken durch einen Gegenstand oder durch ein Exponat.« (Gülzow 1964, 37 f.) Das »zusätzliche Material« beschränkte sich zumeist auf Texttafeln. Im Verkehrsmuseum hatte man sich zudem mit Lesepulten beholfen, an denen interessierten Besuchern die größeren wirtschaftlichen Zusammenhänge erläutert wurden (Rehbein 1966, 45). Gleichwohl dominierten die technischen Objekte die Ausstellung bereits durch ihre Größe und lenkten so die Aufmerksamkeit der Besucher (vgl. Rehbein 1969, 310). Die damit verbundenen Schwierigkeiten hatten sich auch bei der Einrichtung des Magdeburger Museums gezeigt. So war es nicht gelungen, die Darstellung der gesellschaftlichen Entwicklung aussagekräftig genug zu gestalten, »um ein Gleichgewicht zu den Maschinen herstellen zu können« (Lange 1959, 152 f.). Statt die behauptete Einheit von »technischem und gesellschaftlichem Fortschritt« zu vermitteln, liefen die Erzählungen von technischer und gesellschaftlicher Entwicklung auseinander. Die Lösung des Problems bestand für Rehbein, die selbst den Lehrstuhl für Ge219 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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schichte des Verkehrswesens an der Hochschule für Verkehrswesen innehatte, nicht in einer methodischen Grundsatzdiskussion, sondern in einer engeren Verzahnung von Museum und Fachwissenschaft. »Noch existiert keine wirklich brauchbare Technikgeschichte als Grundlage derartiger Zusammenstellungen, noch fehlt uns auch eine umfassende Geschichte der Produktivkräfte«, lautete ihr Vorwurf (Rehbein 1969, 310). Diese Lücke zu schließen, so Rehbein, könne jedoch nicht die Aufgabe der wenigen wissenschaftlichen Kräfte in den technischen Museen sein. »Hier müssen sich vielmehr die einschlägigen Lehr- und Forschungskollektive der Universitäten und Hochschulen und die Akademieinstitute mit einschalten. Von ihnen müssen die exakten Unterlagen kommen, die die Museen in die Lage versetzen ihren Besuchern ein Höchstmaß an Wissen zu vermitteln.« (Rehbein 1969, 310 f.)

5.

Schlussbemerkung

Die Initiative zur Einrichtung technischer Museen ging in der DDR zunächst nicht von der Regierung, sondern von den Ingenieuren und technischen Hochschulen aus. Das staatliche Interesse wuchs erst mit der Vorbereitung des zweiten Fünfjahresplanes, in dem Wissenschaft und Technik eine zentrale Rolle einnehmen sollten. Der Vorschlag der SED, polytechnische Museen in den Industriezentren aufzubauen, veränderte die Museumskonzeption grundlegend. Die polytechnischen Museen waren weniger als klassische Museen, denn als Bildungseinrichtungen gedacht, die naturwissenschaftliches und technisches Grundlagenwissen verbreiten und das gesellschaftliche Technikbild prägen sollten. Aufgrund des polytechnischen Bildungsideals war die Darstellung der industriellen Entwicklung und die Vermittlung technischer Kenntnisse jedoch keine exklusive Aufgabe der polytechnischen Museen, sondern wurde ebenfalls von den technischen Spezialmuseen sowie den Heimatmuseen erwartet. Da sich der Aufbau der polytechnischen Museen aus finanziellen Gründen verzögerte, waren es zunächst die Heimatmuseen, die polytechnische Abteilungen in die Ausstellungen integrierten. Dabei entstanden sehr unterschiedliche Inszenierungen, die von lokalen Industriegeschichten bis zu stärker technikhistorischen Ansätzen reichten. Aufgrund der institutionellen Vielfalt und der unterschiedlichen Unterstellungsverhältnisse ließ 220 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

»Ein Mittel im Kampf um den technischen Fortschritt«?

sich im Bereich der technischen Museen das Ziel eines »einheitlichen sozialistischen Museumswesens« zunächst nicht verwirklichen. Konzeptionell sollte sich das sozialistische von dem bürgerlichen Technikmuseum klar durch seinen Gegenwarts- und Gesellschaftsbezug unterscheiden. Wie das Beispiel des Verkehrsmuseums Dresden zeigt, bereitete beides in den Anfangsjahren große Schwierigkeiten, denn dem Museum fehlten für die Umsetzung geeignete Ausstellungsstücke. Die gewünschte lineargenetische Technikerzählung blieb so stärker in der Vergangenheit verhaftet, als es die Gründer des Museums gefordert hatten. Mit zufällig überlieferten Sachzeugen gelang es nicht, die vorgeblich gesetzmäßige Entwicklung der Produktivkräfte in eine museale Ausstellungsform zu übersetzen. Statt die behauptete Einheit von »technischem und gesellschaftlichen Fortschritt« zu vermitteln, liefen die Erzählungen von technischer und gesellschaftlicher Entwicklung auseinander.

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Abbildungsnachweis Huste, W.: Wer sorgt fürs Polytechnische Museum? In: Jugend und Technik 14 (1966), Nr. 7, S. 646–648.

223 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Überwindung von Raum und Zeit? Digitale Technologien im Kontext moderner Gesundheitsdiskurse

Zu den zentralen Kategorien der Beschreibung von Modernisierungsprozessen gehören Raum und Zeit (vgl. die Wahrnehmungen der Auswirkungen der Eisenbahn im 19. Jahrhundert). Modernisierung führt zwar nicht wirklich zu deren »Überwindung«, wie bisweilen verlautbart wird, aber doch zu ihrer Relativierung. Ein Beispiel für derartige Visionen bietet die berühmte Darstellung von Fritz Kahn aus dem Jahr 1926 (siehe Abbildung). Sie zeigt den Arzt am Schaltpult der medizinischen Macht, der die Vitaldaten von Patienten überwacht (wo immer sie sein mögen). Seine Instrumente sind Monitore, Lautsprecher, Kurvenschreiber und eine Armada von weiteren Apparaturen. Die dargestellten Techniken (Elektrokardiographie, Röntgentechnik, Blutdruckmessung etc.) waren damals bereits vorhanden, Kahn hat sie nur nach seiner Vorstellung weitergedacht bzw. zusammengeführt. Dem heutigen Betrachter stellt sich hier die Frage, ob Kahn eine Utopie oder Dystopie porträtierte? Das Bild vom »Arzt der Zukunft« kann dabei als ein Beispiel für »die unhinterfragte technikdeterministische Annahme, dass Wissenschaft und Technik Kernprobleme moderner Gesellschaften lösen und damit gesellschaftlicher Fortschritt auf technischen und wissenschaftlichen Neuerungen basiert«, betrachtet werden (Kehrt 2016, 41). Eine solche Sichtweise gilt mittlerweile als obsolet, zumal die gesellschaftlichen Einflüsse, die soziale Seite der Technik (in welcher Abstufung auch immer) umfassend geschildert worden sind (Degele 2002). Modernisierungsprozesse bringen auf gesellschaftlicher Ebene ständig neue Verunsicherungen hervor: Wirtschaftliches Wachstum durch Wissenschaft und Technik kann zum Beispiel soziale Ungleichheit oder Umweltverschmutzung generieren. Hier trifft die Modernisierung dann »auf sich selbst« und wird damit reflexiv (Beck, Bonss 2001). Es sind die eigenen Grundlagen der Moderne, die gleichzeitig neue Gefährdungslagen generieren und eben diese Grundlagen selbst infrage stellen (Heßler 2012). Solche Auswirkungen werden im Feld 224 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Überwindung von Raum und Zeit?

der Technikfolgen-Abschätzung diskutiert (Gleich 2013). Zentrale Fragen sind hier aus sozialethischer Sicht der (unterschiedliche) Zugang zu den neuen Technologien, Kosten und Nutzen, möglicher Missbrauch oder Fragen der Berechenbarkeit. Zentral für die Folgenabschätzung ist die Szenarienentwicklung für Diffusionsprozesse und Nutzerverhalten. Neue Technologien wecken Zukunftsvisionen. Besonders spektakuläre Beispiele stellen aktuell die Gentechnik oder diverse Formen der Nanotechnologien dar. Hier sind Szenarien entwickelt worden, die sich vielfach auch einer metaphorischen Sprache bedienen, um die projizierten Potentiale anschaulich zu kommunizieren, die von der gezielten Genomveränderung mit der »Genschere« (Crispr-Cas) bis hin zum möglichen »Besiegen« zahlloser Krankheitsbilder reichen. Derartige Visionen lassen sich angesichts des Möglichen nicht einfach als Science Fiction diskreditieren. Insbesondere in der Anfangsphase einer Invention / Innovation kann es durch Visionen und perspektivische Einsatzszenarien zu einem produktiven Schub in der technischen Entwicklung kommen. Futuristische Bilder und technikzentrierte Narrationsformen eröffnen gerade in dieser Phase der frühen Forschung »neue symbolische Ressourcen und wirken auf Wis225 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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senschaft und Technikentwicklung zurück«. Damit wiederum haben sie »eine mobilisierende Wirkung und produktive Funktion«, die zur verstärkten Forschung und Entwicklung gerade im Bereich des bisher nur Gedachten anregen (Kehrt 2016, 39). Auch die Wechselwirkungen von Mensch und Technik, von Fiktionen und Fakten, beginnen bereits bei der Formulierung von Szenarien vor den ersten technischen Schritten (Felt 2007; Lucht, Erlemann, Ruiz Ben 2010). Erwartungen werden formuliert, »Geschichten über die Zukunft« (Felt 2007, 291) erzählt, die ein Ausgangspunkt für Forschungsaktivitäten werden können (Borup et al. 2006; Konrad et al. 2017). Allerdings muss immer auch eine gewisse Anschlussfähigkeit zu bestehenden Techniken und Wissensstandards hergestellt und für »die Zukunft in der Gegenwart Platz gemacht« werden, wie es Ulrike Felt formuliert hat (Felt 2007, 290). Ausschlaggebend sind einerseits Szenarien des technisch Machbaren (bzw. des technisch Vertretbaren), aber ebenso bereits ökonomische Faktoren wie Kosten-Nutzen-Rechnungen oder die Konzentration auf potentielle Märkte. Vor diesem Hintergrund werden zahllose technische Lösungen für Zukunftsanwendungen ausprobiert, Pfade eingeschlagen, modifiziert und wieder verworfen. Wegweisende Auswirkungen auf die Bewertung solcher Szenarien und die ihnen entlehnten neuen Technologien hat das jeweilige »Framing« (Potthoff 2012; Zillich 2011), etwa die Verortung zwischen »Risiko- und Ethik-Frame« (Kastenhofer 2013). Besondere Wirkkraft haben mediale Inszenierungen: Spektakuläre Titelgeschichten bzw. bereits Titelbilder einflussreicher Zeitschriften führen zu entsprechenden »Hypes«. Man denke an knallbunte Hirnscans (»Dem Menschen beim Denken zusehen«) im Bereich der Neurotechnologien oder Darstellungen zum Genom-Editing mit der allgegenwärtigen Doppel-Helix (Heßler 2007). Bilder der Doppel-Helix suggerieren dabei, dass die Wissenschaft die Gene »im Griff« habe und (fast) alles machbar sei. 1 Diese Inszenierung von Wissenschaft ist keineswegs neu. Ein erster medialer Hype dieses Ausmaßes entwickelte sich, als Andrea Esser verwies auf der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates 2016 mit Blick auf die ethische Beurteilung des Genom-Editing auf »einen markanten Sprach- und Bildgebrauch insbesondere im medial vermittelten Diskurs: Wenn Experimente an Mäusen mit Bildern von Menschen illustriert werden, wenn Hände in die Doppelhelix greifen (wie im Fall des Werbeplakates der Jahrestagung) oder anderorts vom ›Ausradieren‹ die Rede ist, dann zeigt sich, so Esser, bereits auf der Ebene der Problemdarstellung eine trügerische Verquickung von Grundlagenforschung und Anwendungsvision« (Burmeister 2017).

1

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Überwindung von Raum und Zeit?

im Jahr 1895 die »X-Strahlen« publik wurden (Martin, Fangerau, in print). In tausenden Beiträgen (von hochwissenschaftlichen Journalen bis zum Boulevard-Blatt) wurden die scheinbar unendlichen Möglichkeiten der neuen Technik ausgemalt. Auch wenn sich in Bezug auf die Strahlen und ihr Wirken als Allheil- und Diagnosemittel gerade wegen ihrer tödlichen Nebenwirkungen bald eine gewisse Ernüchterung einstellte, nahm hier eine einzigartige technische Entwicklung ihren Ausgang, die bis heute anhält. Insbesondere im medizinischen Bereich haben Zukunftsszenarien wie die geschilderten einen hohen Stellenwert, geht es hier doch um fundamentale menschliche Belange. (Techno-)Wissenschaft, insbesondere zukünftige, muss entsprechend gemanagt werden, wobei es zu einer immer engeren Verschränkung zwischen den Systembereichen der Wissenschaft, der Politik und der Wirtschaft kommt. Das lässt sich nicht nur an Geldflüssen und Kooperationen, an Fragen etwaiger Patentierung oder Vermarktungen festmachen, sondern auch an der Konstruktion von Zukunft selbst. Nicht zuletzt müssen die Politik und Wirtschaft bei der »Erfindung der Zukunft« einsteigen, um diese (in einem bestimmten Sinn) Realität werden zu lassen. Wie dies im Einzelnen vor sich gehen kann und diskursiv gerahmt wird, soll im ersten Teil dieses Beitrags am Beispiel der Telemedizin dargestellt werden. Denn hier waren es bestimmte Narrative, die u. a. die Entwicklung vorantrieben: insbesondere das der »alternden Gesellschaft« einerseits, das eines bestehenden bzw. drohenden »Ärzte- und Pflegemangels« besonders in ländlichen Regionen andererseits. Telemedizin wurde gleichsam zum »gesellschaftlichen Auftrag« erklärt, und damit auch zum Motor für die Modernisierung der Gesellschaft. Etwas anders liegen die Dinge beim Krankheitsmonitoring mittels Technologie, was am Beispiel des Diabetes im zweiten Teil erläutert werden soll. Hier sind Begriffe wie »Cyborg« oder »Hybridisierung« von Relevanz, die in ihrer Ausrichtung ein bestimmtes Zukunftsszenario evozieren. Eberhard Wolff (Wolff 2018, 48) hat jüngst in einer lesenswerten Historisierung des »quantified self« am Beispiel der Blutdruckselbstmessung festgestellt, dass auch wir Autoren dieses Beitrags eine eher skeptische Perspektive eingenommen haben und setzte ihr eine »offenere Interpretation« entgegen. Diesem Weg wollen wir uns nicht verschließen und werden beide Szenarien am Ende kontrastieren und in ihren durchaus gegenläufigen und widersprüchlichen Tendenzen diskutieren.

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1.

Telemedizin

Mit dem Begriff »Telemedizin« werden verschiedenartige ärztliche Versorgungskonzepte bezeichnet, die »unter Zuhilfenahme von IKT [IKT = Informations- und Kommunikationstechnologien] das Ziel haben, medizinische Leistungen der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in den Bereichen Diagnostik, Therapie, Rehabilitation und der ärztlichen Entscheidungsberatung über räumliche Entfernungen und/oder zeitlichen Versatz hinweg zu erbringen« (Brauns, Loos 2015). Als der älteste telemedizinische Dienst Deutschlands gilt der »Telemedical Maritime Assistance Service«, dessen Aufgabe in der »Sicherstellung einer weltweiten notfallmedizinischen Hotline zur direkten und sofortigen funkärztlichen Beratung durch in der maritimen Medizin besonders erfahrene Fachärzte im 24-Stunden-Betrieb« besteht und dessen Anfänge auf das Jahr 1931 zurückgehen (Flesche, Jalowy, Inselmann 2004). Neben diesem maritimen Sonderfall sind weitere Vorläufer in Hausnotrufsystemen oder im Funkverkehr in der Unfallrettung (beides in der BRD seit den 1970er Jahren) zu finden. Telemedizin im engeren Sinne nahm ihren Anfang in den 1990er Jahren. Das Herz- und Diabeteszentrum NRW in Bad Oeynhausen etwa war ein wichtiger Pionier der kardiologischen Telemedizin. In einer Selbstdarstellung zu ferndiagnostischen Leistungen hieß es 2009: »Vitalparameter wie EKG, INR-Werte, Blutzuckerwerte, Gewicht, Blutdruck, Herztöne und Daten zur akuten Herz-Kreislauf-Situation und zur Stoffwechsellage des Patienten können direkt vom Patienten zuhause an die Klinik übermittelt und dort beurteilt werden. Insbesondere das akute Koronarsyndrom, ein drohender Apoplex, kann auf diese Weise frühzeitig erkannt und der adäquaten Diagnostik und Therapie zugeführt werden. Die telemedizinische Kontrolle (bzw. telemedizinische Visite) eignet sich aber auch besonders gut für alle anderen Formen von Herz- und Diabeteserkrankungen« (Paulus, Romanowski 2009). Derartige Telemonitoring-Systeme bestehen im Prinzip aus drei Komponenten: a) körperassoziierten Messgeräten (bzw. implantierte Sensoren), die Vitalparameter aufzeichnen, b) einer »Basisstation« (z. B. in der Wohnung), die diese Werte erfasst und an den telemedizinischen Dienstleister (Arzt, Klinik) weiterleitet, wo c) die Datenspeicherung und -auswertung stattfinden und zuletzt ggf. Maßnahmen ergriffen werden können (Martin, Fangerau 2015). 228 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Überwindung von Raum und Zeit?

In den letzten zehn Jahren wurden zahllose Projekte dieser Art (zum Monitoring der unterschiedlichsten Krankheitsbilder) ins Leben gerufen. Im Vordergrund stehen chronische Erkrankungen wie Diabetes, kardio-vaskuläre Leiden oder chronische Schmerzen (Biermann 2009; Nau 2017; Schmidt et al. 2010). Eine wesentliche Triebfeder für den Einsatz von Telemedizin war und ist die Verbesserung der Versorgungsqualität (Schmidt, Grimm 2009; Schrappe 2016). In einer grundlegenden Studie von van den Berg u. a. werden als zentrale Anwendungsfelder für »telemedizinische Funktionalität« genannt (van den Berg 2015, 368): – engmaschiges Monitoring relevanter Parameter bei chronisch kranken Patienten, – Monitoring der Adhärenz zur Medikationseinnahme oder zu nicht-medikamentösen Therapien, – Unterstützung in Fällen, bei denen eine Sicherstellung der Akutversorgung nicht oder nicht ausreichend gewährleistet werden kann, – Vermeidung von Behandlungsbrüchen, insbesondere bei Übergängen zwischen Sektoren z. B. nach Krankenhausentlassung. Es wird indes noch für eine Erweiterung plädiert: Telemedizin soll nicht nur »Interaktionen mit Ärzten, sondern auch mit weiteren Leistungserbringern (z. B. Pflege, Physiotherapeuten, MFAs, Logopädie, Rettungsassistenten) sowie mit spezialisierten Dienstleistern (z. B. kommerziellen Telemedizinzentren) mit einbeziehen. Auch einige Krankenkassen bieten die Teilnahme an einem telemedizinischen Betreuungskonzept an, oft für Patienten mit Herzinsuffizienz« (van den Berg 2015, 368). Hier werden mehrere Felder angesprochen, auf denen mobilisierende Effekte für die Entwicklung der Gesellschaft zu erwarten sind: die (Gesundheits-)Wirtschaft, die Erweiterung der personalen Zuständigkeiten, der Wohnungsbau, die Infrastruktur. Der Stadtplaner Stefan Fritzsche hat im Rahmen eines Forschungsprojektes »Vernetzte Gesundheit planen« den »Einfluss von Telemedizin auf den Raum« analysiert. Telemedizinische Zentren, die für eine Region aufgebaut werden, wirken als »zentrale Orte«, von denen aus die Versorgung in der Fläche koordiniert und überwacht wird (Fritsche 2014, 194 ff.). Hier wird ein weiterer Aspekt angesprochen, der die Telemedizin zu einem »Motor« für die gesellschaftliche Entwicklung (Arbeitsmarkt, Versorgungslage etc.) werden lassen kann. Entgegen einer weit verbreiteten Prognose, über telemedizinische Maßnahmen werde ausschließlich Personal eingespart, 229 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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eröffnen sich auch andere Möglichkeiten. Mittels Telemedizin in Kombination mit der zunehmenden Einbeziehung nicht-ärztlichen Fachpersonals soll den »Versorgungsdisparitäten« zwischen Stadt und Land begegnet werden (Hartweg et al. 2017). Zudem entstehen neue Berufsbilder im Gesundheitswesen, indem eine Ausdifferenzierung und weitergehende Qualifizierung ermöglicht wird. Geschultes Fachpersonal soll in vielfältiger Weise die Ärzteschaft entlasten, etwa bei administrativen Aufgaben (Dokumentation) oder beim Fallmanagement (Durchführung messender Verfahren, persönliche Gespräche / Aufklärung etc.). Nicht zuletzt entfaltet sich so ein Impuls für die Hochschullandschaft in Deutschland, abzulesen an der Gründung der ersten Hochschule für Gesundheit in Bochum. Mit Blick auf das Ruhrgebiet haben in diesem Kontext Heinze und Beck die Gesundheitswirtschaft als einen heimlichen »Gewinner« des Strukturwandels und als einen »der wichtigsten Zukunftsmärkte überhaupt« bezeichnet. Im Ruhrgebiet sind mittlerweile 14,5 % aller Erwerbstätigen in der Gesundheitswirtschaft tätig, was etwa dem Anteil in den klassischen Industriebranchen entspricht (Heinze, Beck 2017, 206). Hier bildet sich ein »Cluster«, über das sich zukunftsfähige »Leitmärkte« entwickeln. Dabei wurden zahlreiche Projekte zur Telemedizin implementiert, die in der »Landesinitiative eGesundheit.nrw« gebündelt und durch ein »Zentrum für Telematik und Telemedizin« wissenschaftlich begleitet werden (Wichterich et al. 2016). Dies gilt nicht nur für Medizintechnik oder medizinische Versorgungssysteme im engeren Sinn, sondern weit darüber hinaus. So »verlagert sich bspw. die gesundheitliche Versorgung immer stärker in die häusliche Umgebung, der Haushalt entwickelt sich so zum dritten Gesundheitsstandort. Vernetzte Wohnlösungen breiten sich projektartig in verschiedenen Städten aus, nun gilt es, integrierte Versorgungssysteme auf breiter Basis aufzubauen und diese zunehmend als ›Normallösungen‹ zu etablieren« (Heinze, Beck 2017, 206). Die »Verknüpfung von selbstständigem Leben im Alter mit Medizintechnik und Telemedizin könnte exemplarisch ein interessantes Handlungsfeld für soziale Innovationen und für neue Wertschöpfungsallianzen im Zuge des demografischen Wandels werden. ›Homecare‹ oder ›vernetztes Wohnen‹ gelten als innovative Zukunftstechnologien. Das hat nicht zuletzt Auswirkungen auf die regionale Wirtschaftsförderungspolitik« (Heinze, Beck 2017, 212). Dabei hat die Förderung neuer »Leitmärkte« in erster Linie indirekte Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt: Aus ehemaligen Berg230 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Überwindung von Raum und Zeit?

leuten oder Stahlarbeitern werden in der Regel keine Pflegekräfte. Eine boomende Gesundheitswirtschaft wirkt indes aber dennoch stimulierend auch auf andere Bereiche, im Falle der Telemedizin / Ambient Assisted Living (AAL) etwa auf Handwerk, Infrastruktur und Baubranche.

2.

Diabetes

Auch in der Behandlung des Diabetes kommt der Telemedizin wachsende Bedeutung zu (Biermann 2009). In einer aktuellen Studie zu digitalen telediabetologischen Versorgungssystemen werden deren Ansätze wie folgt zusammengefasst: »Die gesundheitliche Versorgung von insulinpflichtigen Diabetikern ist aus gesellschaftlicher Perspektive mit einer immensen Kostenlast verknüpft. Diese umfasst nicht nur die Behandlung des Diabetes mellitus an sich. In die Betrachtungen sind insbesondere die ambulanten und stationären gesundheitlichen Versorgungen der mit dem Diabetes mellitus verbundenen Folgeerkrankungen einzubeziehen. Ergänzt um den kontinuierlichen jährlichen Anstieg der Zahl der insulinpflichtigen Diabetiker gelangen die bisherigen Versorgungskonzepte zunehmend an ihre Grenzen. Wenn es schon nicht gelingt, mittels primärpräventiver Ansätze der Verbreitung des Diabetes mellitus Einhalt zu gebieten, dann kann dieser Entwicklung nur mit innovativen Konzepten der Versorgung insulinpflichtiger Diabetiker begegnet werden.« (Burchert et al. 2017, 67)

Der Diabetes mellitus zählt in Deutschland zu den so genannten Volkskrankheiten. Die Zahl der gezählten Diabetiker beläuft sich je nach Schätzung oder Studie zwischen 6 und 10 Mio. Kindern und Erwachsenen bzw. liegt bei 7,3 bis 12 % der Gesamtbevölkerung (Heidmann et al. 2013). Die Zahl der Neuerkrankungen pro Jahr steigt stetig an. Die chronische und lebenslange Krankheit wird in verschiedene Typen unterteilt. Der Typ-1-Diabetes (ca. 6 % der Betroffenen) tritt häufig bereits im Kindes- oder Jugendalter auf und ist durch einen absoluten Mangel an Insulin gekennzeichnet. Dieser wird durch die autoimmunologische Zerstörung von Insulin-bildenden Zellen (den Langerhansschen Inseln) der Bauchspeicheldrüse hervorgerufen. Der Typ-2-Diabetes (ca. 94 %), früher auch als Altersdiabetes bezeichnet, ist vor allem durch eine verminderte Insulinsensibilität des Organismus gekennzeichnet. Dieser wird neben genetischer Prädisposition nach gängiger Lehrmeinung vor allem durch 231 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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eine falsche Ernährung, Übergewicht und Bewegungsmangel ungünstig beeinflusst. Neben der primären Diabetes-Erkrankung sind für das Krankheitsbild vor allem auch die diversen Folgeerkrankungen relevant, die meist Folge einer Angiopathie sind (Herz-KreislaufErkrankungen mit Herzinfarkten, Schlaganfällen, Nephropathien, Retinopathien verbunden mit einem Erblindungsrisiko, Neuropathien und das diabetische Fußsyndrom mit drohender Amputation usw.) (Robert-Koch-Institut 2015, 60 ff.). Wesentlich für das Krankheitsmanagement beim Diabetes sind Therapieadhärenz und eine konsequente Überwachung der Zuckerwerte. Diese müssen möglichst lückenlos und kontinuierlich erhoben werden, was derzeit nur über eine Selbstkontrolle erfolgen kann. Notwendig ist zudem eine Unterstützung, Beratung, Schulung etc. der Patienten durch Fachpersonal. Arztpraxen und Kliniken verfügen indes nicht über entsprechende Kapazitäten, sodass versucht wird, eine Unterstützung der Diabetesversorgung über eine »Telediabetologie« zu etablieren. Zahlreiche Studien haben mittlerweile den positiven Nutzen von Telemedizin für Diabetiker nachgewiesen (Kempf, Martin 2012). Die Strukturen sind dabei analog zu dem in Teil 1 Dargestellten: In einem Diabetes-Zentrum werden die unterschiedlichen Maßnahmen koordiniert, zentraler Ausgangspunkt sind aber auch hier die in Eigenregie erhobenen Messwerte. Wie bei kaum einem anderen Krankheitsbild haben für Diabetiker messende Verfahren eine fundamentale Bedeutung. Die Anfänge der entsprechenden Messtechniken reichen in die 1940er-Jahre zurück, als erstmals der Glukosegehalt im Urin bestimmt werden konnte. Rund 20 Jahre später wurden dann erste Methoden zur Bestimmung der Glukose im Blut anhand eines Farbumschlags auf einem Teststreifen entwickelt. Wenige Jahre darauf folgte das erste Blutzucker-Messgerät (Kempf, Martin, Heise 2009). Bis in die 1980er Jahre war die Messung des Blutzuckers ein relativ aufwendiges Verfahren, das nur in der ärztlichen Praxis durchgeführt werden konnte, Messabstände von einem Monat waren durchaus üblich. Erst mit dem »Reflolux«, einem batteriebetriebenen Teststreifen-Lesegerät für den Heimgebrauch, das 1983 in Deutschland auf den Markt kam, konnten Patienten ihren Blutzucker selbst zu Hause kontrollieren. Seit einigen Jahren ist die tägliche mehrfache Selbstmessung der Blutglukose (SMBG) zum Monitoring und zur Adjustierung beispielsweise einer Insulintherapie Standard. Dabei »sollte man sich der Limitationen solcher ›Spotmessungen‹ zu 3–6 Zeitpunkten pro 232 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Tag bewusst sein«, so ein Diabetologe, der bereits im Jahr 2006 einen weiteren Ausbau der Überwachung forderte: »Vom Verlauf der Glukosekonzentration über den ganzen Tag hinweg (›Glukoseprofil‹) werden nur kurze Ausschnitte betrachtet, all die möglichen Schwankungen der Glykämie in den Zeiten dazwischen werden nicht erkannt. Da deren Variabilität mittlerweile nicht nur als akutes Problem betrachtet wird, sondern anscheinend auch eine Bedeutung für die Langzeitprognose von Patienten mit Diabetes hat, wird eine weitere Optimierung der Stoffwechselkontrolle angestrebt. Ein kontinuierliches Monitoring des Glukosespiegels sollte wesentlich zur Reduzierung von Schwankungen im Blutzucker beitragen und gleichzeitig helfen, aktuelle Stoffwechselentgleisungen noch weitgehender zu vermeiden«. (Heinemann 2006)

Der Diabetes verläuft zunächst weitgehend symptomfrei und wird erst spürbar, wenn der Blutzucker entweder sehr hoch (Hyperglykämie) oder sehr niedrig (Hypoglykämie) ist. Mit dem Aufkommen der selbstmessenden Verfahren verfügten Diabetiker über ein Arsenal technischer Hilfsmittel, um auch zwischen diesen Spitzen ihre Blutzuckerwerte zu bestimmen: Zu den eigentlichen Messgeräten kommen Nadeln bzw. Stechhilfen, Lanzetten, Teststreifen, Kontrolllösungen, Spritzen bzw. Insulin-Pens, Infusionssets, Setzhilfen, Insulinpumpen bzw. Pumpenzubehör, Diabetikertaschen uvm.; Diabetiker wurden zu ihren eigenen »Labortechnikern«, wie es bei Annemarie Mol heißt (»[…] one’s own laboratory technician and adopt the necessary skills […]«), die alle notwendigen technischen wie bio-medizinischen Kenntnisse erwerben mussten. Und sie erläutert zu den Auswirkungen: »Using the device may shift people’s attention away from their physical sensations towards the numbers measured, but it may also help them to increase their own physical self-awareness. Self-monitoring finally (something that the devices have made possible) makes patients less dependent on professionals, but it requires them to engage in selfdisciplining and binds them to the outcomes of their measurement activities: their own blood sugar levels« (Mol 2000, 9). Die Diabetiker übernahmen das Management ihres Körpers selbst, wobei ihr Tagesablauf und ihr Bezug zu Ihrem Körper wesentlich über Techniken und Messwerte determiniert wurde. So entstand eine gewisse Unabhängigkeit (von Ärzten, medizinischen Einrichtungen), aber auch die Figur des »unternehmerischen Selbst« (Bröckling 2007), das sich Formen der Selbstüberwachung, Selbstsorge und Selbstregierung zum Zwecke

233 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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des Selbstmanagement bedient (Brunnett 2007; Bröckling 2008). Diese Entwicklung wurde und wird noch weiter forciert durch die digitale Transformation des Diabetes-Monitorings. Zum Übergang von »Blut zu Daten« konstatiert Lisa Wiedemann: »aus dem immer wieder zu generierenden Blutstropfen wird der permanente Gewebekontakt, aus dem Teststreifen ein Sensor, aus dem Piksen das Scannen und aus Blutzuckerwerten werden Daten« (Wiedemann 2016, 302). Christiano Storni hat zahlreiche ethnografische Studien unter Diabetikern durchgeführt und kommt zu dem Schluss, dass es sich beim Diabetes nicht nur um eine Krankheitsform, sondern um einen »Lifestyle« (»Diabetes as a lifestyle«) handelt, der das Alltagsleben komplett bestimmt: »When interacting with affected people, the fact that diabetes is so ubiquitous and ever-present that it takes the form of a lifestyle becomes immediately evident. The effects of the disease are so intrinsically intertwined with everyday life that it is practically impossible to separate the disease from daily mundane activities or thoughts« (Storni 2014, 403). Betroffene berichten, sie assoziieren etwa den Anblick von Lebensmitteln nicht mit einem bestimmten Geschmack, sondern mit Kohlenhydraten (in Grammzahl). 2 Bei sportlichen Aktivitäten planen sie genau, wie die Insulindosis an den Sport anzupassen sei. Der Diabetes ist allgegenwärtig. So schreibt eine Bloggerin: »Diabetes ist da. Jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde, Minute, Sekunde. In jeder Situation fordert er Aufmerksamkeit. Auch in solchen, in denen man ihn wirklich am wenigsten gebrauchen kann.« Sie führt zahlreiche Beispiele an und schließt: »Als Diabetiker bleibt einem quasi nichts übrig, als sich tagtäglich zu überlegen, was wohl die liebe Bauchspeicheldrüse tun würde, wenn sie denn noch richtig funktionieren würde. Ein Schokoriegel zwischendurch, was würde die Bauchspeicheldrüse tun? Danach ein strammer Spaziergang, was würde die Bauchspeicheldrüse tun? Think like a Pancreas eben.« 3

In (West-)Deutschland und Österreich existierte viele Jahre die künstliche »Broteinheit« (eine BE entspricht 12 Gramm Kohlenhydraten), die 2010 aus allen gesetzlichen Regelungen entfernt wurde, aber bis heute von vielen Betroffenen genutzt wird. Sie ist ein markantes Beispiel, wie versucht wurde, quantifizierende Verfahren (etwa über »Broteinheit-Tabellen«) zu internalisieren. 3 https://www.blood-sugar-lounge.de/2015/01/warum-diabetes-ueber-einen-fingerpieks-hinaus-geht-part-1/; https://www.blood-sugar-lounge.de/2015/02/warum-dia betes-ueber-einen-finger-piks-hinaus-geht-part-2/ [12. Dezember 2017]. 2

234 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Tatsächlich ist eine funktionierende Bauchspeicheldrüse der entscheidende Punkt. Und da diese sich bei Diabetikern nicht »wiederherstellen« lässt und Insulin angepasst an den aktuellen Bedarf zugeführt werden muss, stehen technische Lösungen zum Management des Bedarfs und zur Substitution im Mittelpunkt des Interesses. Zentrales Forschungsfeld sind hier Geräte zur kontinuierlichen Glukosemessung (»Continuous Glucose Monitoring«, CGM). Dabei wird ein Glukosesensor durch die Haut des Oberarms oder Bauchs gestochen, der dort bis zu 14 Tage verbleiben kann. Hinzu kommen eine kleine Elektronikeinheit (»Sender«), die auf der Haut fixiert wird, und ein separates Anzeige- und Speichergerät (»Empfänger«), heute zumeist ein Smartphone. Die kontinuierliche Datenübertragung erfolgt zumeist via Bluetooth. Bei direkter Kombination des CGM-Systems mit einer Insulinpumpe (die am Gürtel getragen wird) dient das Display der Pumpe, über die Insulin appliziert wird, gleichzeitig als Anzeige der Glukosemessdaten (Gehr 2017). Über die Koppelung von Insulinpumpe und der kontinuierlichen Glukosemessung wird ein sogenanntes »Closed-loop-System« und damit prinzipiell eine »künstliche Pankreas« angestrebt. Besonders geschätzt wird von den Diabetikern bei der CGM die grafische Aufbereitung des Verlaufes der Zuckerwerte, die Visualisierung möglicher drohender Über- oder Unterzuckerung durch »Trendpfeile«, sowie (bei Überschreitung bestimmter Grenzwerte) eine akustische Alarmfunktion. Gerade diese Sicherheitssysteme sorgten dafür, dass die neue Technik in der Diabetiker-Community auf große Begeisterung stieß. Es bildeten sich Initiativen wie »CGM für alle« und Blogs, in denen Tipps zur Finanzierung der relativ teuren Technik gegeben wurden. Denn die Kassen weigerten sich zunächst, die Kosten zu übernehmen. So wurde eine günstigere viel genutzte Variante, der Freestyle Libre, auch als »CGM für Arme« bekannt (Wiedemann 2016, 303). Ein wesentlicher Unterschied zwischen den Systemen liegt darin, dass der Freestyle nicht automatisch misst, sondern der Patient selbst den Sensor scannt. Dies muss nicht unbedingt ein Nachteil sein. Eine Bloggerin schreibt über das Wechselspiel von Mensch und Technik: »So oft wie ich allein in den letzten Tagen den Sensor gescannt habe, habe ich gefühlt die letzten Jahre nicht gemessen. Ich bin hochmotiviert und finde es einfach toll, wie einfach sich der Verlauf auf dem Libre darstellen lässt. Über den Messvorgang wird die Aufmerksamkeit gegenüber dem eigenen Körper gesteigert.« Eine andere Bloggerin berichtet über die Auswirkungen eines CGM-Gerätes: »Mit ihm an der Seite fühle ich 235 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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mich wie ein neuer Mensch: kraftvoll, gefestigt, sicher, entspannt, behütet« (Zit. nach Wiedemann 2016, 307). Neben Kampagnen aus den Reihen der Betroffenen werden auch zahlreiche Studien zur Evidenz der CGM-Systeme dazu geführt haben, dass der gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Juni 2016 beschlossen hat, die »kontinuierliche interstitielle Glukosemessung mit Real-Time-Messgeräten (rtCGM) […] für Diabetikerinnen und Diabetiker, die einer intensivierten Insulinbehandlung bedürfen« zu einer »Leistung der gesetzlichen Krankenkassen« zu machen. 4 Aus der hoch-aktiven Diabetiker-Community kommen immer wieder Anregungen zur forcierten bzw. gezielten Nutzung von Technologien. So berichtet Lutz Heinemann, Erster Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Diabetes & Technologie (AGDT), in seinem Überblick zu neuen Diabetestechnologien u. a.: »[…] hier entwickelt sich eine eigenständige Welt, die von vielen Patienten, insbesondere vermutlich von Computer-affinen jüngeren Typ-1-Patienten genutzt wird. Streng genommen müsste solche Software, wenn sie in die Therapie eingreift und damit zum Medizinprodukt wird, von den Zulassungsbehörden geprüft werden. In Anbetracht der Entwicklungsdynamik dieses gesamten Bereiches gibt es einen ziemlichen Kontrast zur vergleichsweise langsamen Zulassungsprozedur bei Medizinprodukten. Dieses Dilemma führt dazu, dass Patienten ihre eigenen Strukturen entwickeln, um hier und heute Zugang zu technischen Optionen zu haben. So haben es beispielsweise Eltern ermöglicht, die Blutzuckerwerte ihrer Kinder mit Diabetes immer im Blick zu haben, indem sie die entsprechende Software »gehackt« haben (Nightscout). Die damit einhergehenden rechtlichen Konsequenzen werden als weniger wichtig eingestuft als die Sicherheit der Kinder« (Heinemann 2016, 227).

Unter dem Hashtag »#wearenotwaiting« firmiert ein Zusammenschluss von Betroffenen (Eltern von erkrankten Kindern), die das Projekt »Nightscout« ins Leben gerufen haben. Sie wollten nicht mehr länger (bzw. vergeblich) auf Angebote aus der Industrie warten, sondern selbst initiativ werden und technische Lösungen entsprechend der eigenen Bedürfnisse vorantreiben. Der Name »Nightscout« bezieht sich auf den Hintergrund des Projektes, die Überwachung des Blutzucker-Verlaufes der eigenen an Diabetes Typ 1 erkrankten Kinder während der Nacht (Lee, Hirschfeld, Wedding 2016). In einer Pressemitteilung des G-BA vom 16. Juni 2016: https://www.g-ba.de/institution/ presse/pressemitteilungen/623/ [12. Dezember 2017].

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Selbstdarstellung heißt es: »Nightscout (CGM in the Cloud) is an open source, DIY project that allows real time access to a CGM data via personal website, smartwatch viewers, or apps and widgets available for smartphones.« 5 Auch die wohl bekannteste Diabetes-App, mySugr, die mittlerweile in den Rang eines Medizinproduktes der Risikoklasse 1 (in der EU wie den USA) aufgestiegen ist, geht auf ein Digital Health Startup zurück, das 2012 in Wien von Betroffenen gegründet wurde. 6 Im Sommer 2017 kam es zu einer Kooperation von Roche Diabetes Care und mySugr, wobei das Startup eigenständig bleiben soll. Wie das Unternehmen angab, wird mySugr eine offene Plattform bleiben, damit Diabetiker die App mit ihren Medizin-Geräten verbinden können. 7 MySugr gibt sich betont jugendlich (Motto: »Make Diabetes Suck Less!«) und bedient sich Elementen der Gamification: Eine zentrale Figur ist das »Diabetes-Monster«, dass »gezähmt« werden soll, Wettbewerbe wie die »Snack’n Check Challenge« (2016) werden ausgerufen (wer regelmäßig in seiner App seinen Blutzucker nach den Mahlzeiten dokumentiert, erhält für einen Monat kostenlos einen Zugang zu mySugr Pro), Besucher der Website werden persönlich angesprochen (»Diabetes kennt keine Pause. Wir sind da, damit du auch zwischen deinen Arztbesuchen den Diabetes locker im Griff hast.«). Das Diabetes-Monster geistert mittlerweile in zahllosen Varianten durch das Internet, da sich gezeigt hat, dass gerade hier große Potentiale für die Motivation (insbesondere jüngerer) Diabetiker zur disziplinierten Kontrolle der Zuckerwerte liegen. Heute gibt es unzählige Plattformen, Foren, Blogs etc. zum Thema Diabetes, wobei die technischen Möglichkeiten ein zentrales Themenfeld darstellen, das weit über den medizinischen Bereich im engeren Sinne (nämlich die Kontrolle des Blutzuckers) hinausgeht. So wird unter dem Slogan »Pimp your Diabetes« eine Vielzahl an Lifestyle-Produkten wie Hüllen (analog zu den Smartphones) für die Geräte oder Fixtapes (mit

Vgl. die Homepage: http://www.nightscout.info/ [5. November 2017]. So heißt es auf der Homepage u. a.: »Ein Großteil des mySugr-Teams lebt mit Diabetes, viele bereits seit ihrer Kindheit. So bringt die Truppe Erfahrung und Wissen in die Produktentwicklung und steckt viel Liebe und Kreativität in die Projekte. Wir leben unsere Produkte.« https://mysugr.com/de/about-us/ [05. November 2017]. 7 https://www.gruenderszene.de/allgemein/roche-kauft-diabetes-startup-mysugr [05. November 2017]. 5 6

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zahllosen Motiven) zum Bekleben der Oberarm-Sensoren angeboten. Es scheint so, als hätten Diabetiker eine besonders enge Beziehung zu »ihrer« Technik. In einem Überblick zur aktuellen Diabetestechnologie heißt es beispielsweise: »Der Wunsch aller an Diabetes erkrankten Patienten ist die Entwicklung eines geschlossenen (autonomen) Kreislaufsystems mit automatischer Glucosemessung und angepasster Insulinabgabe. In diesem Jahr wird in den USA mit der Markteinführung einer solchen ›künstlichen Bauchspeicheldrüse‹ (›artificial pancreas‹, AP) gerechnet. […] Die Strategie der Diabetestherapie verändert sich dahingehend, dass die Anpassung der Insulinzufuhr kontinuierlich anhand der Tendenzen der Blutzuckerwerte erfolgt. Damit ist der erste Schritt zum geschlossenen Kreislauf (›closed loop‹) erreicht. Der nächste Schritt ist dann der Einsatz selbstlernender Algorithmen (›intelligente Maschinen‹), die bereits jetzt in zahlreichen Studien getestet werden.« (Mirza, Mönkemöller, Weiß 2017, 691)

Handelt es sich damit bei den an Diabetes Erkrankten um eine Form der »Avantgarde« von Cyborgs? Wenn wir einen Cyborg als MenschMaschine-Hybrid (mit organischer Basis, die technisch ergänzt wird) begreifen, dessen Ziel eine wie auch immer geartete »Verbesserung« des »Ist-Zustandes« darstellt, dann haben wir es hier wohl mit »Cyborgisierung« in diesem Verständnis zu tun (Heilinger, Müller 2007). Dierk Spreen, der sich an mehreren Stellen mit dem Thema befasst hat, führt aus: »Als Sammelbezeichnung für invasive Körpertechnologien ist der ›Cyborg‹ nicht Zeichen posthumaner Evolutionssprünge, sondern Thematisierungsfeld zunehmend möglicher Technik-Körper-Grenzverschiebungen in der modernen Gesellschaft, die jedoch im Rahmen des Menschenmöglichen verbleiben.« Er nennt den Cyborg eine »Diskursfigur der reflexiven Moderne« (Spreen 2010, 167f.; Spreen 2004; Weber, Zoglauer 2015). In diesem Sinne impliziert der Begriff neue Möglichkeiten wie Risiken. Dabei ist der Cyborg in der heutigen Gesellschaft (abgesehen von einigen ScienceFiction-Fans oder den sogenannten Transhumanisten) überwiegend negativ konnotiert. Augenfällig wird dies bei der Darstellung der Verbindung von Menschen mit Exoskeletten: entsprechende Bilder evozieren wahlweise Vorstellungen von hybriden »Kampfmaschinen« oder »Arbeitsrobotern« (Braune 2016). Im Kontext von Brain-Machine-Interfaces / »Tiefe Hirnstimulation« wiederum scheinen Szenarien der mentalen Fremdbestimmung auf. Aber auch auf den ersten Blick positive Beispiele, wie die weitgehende Wiederherstellung des Hörvermögens mittels Cochlea-Implantaten, lösen mitunter heftige 238 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Proteste (als Angriff auf die Gehörlosenkultur oder zwangsweise Normalisierung) aus (Spöhrer 2015; Blume 2010). Dessen ungeachtet wächst seit einigen Jahren die Zahl der Selbstoptimierer rasant, die über technische Verfahren ihre Leistungsfähigkeit in allen möglichen Bereichen registrieren und potentiell verbessern wollen (Selke 2016). »Lifelogging« und »Self-Tracking« sind die Trends unserer Zeit und können durchaus zur Herausbildung neuer »Techno-Identitäten« führen (Martin, Griemmert 2017). Marie Lena Heidingsfelder hat derartige Technologien als »Indikatoren für die Cyborgisierung des Menschen« beschrieben, wobei sie anmerkt, dass diese Verfahren auch »perfekt in die neoliberale Logik« der Selbstoptimierung passen (Heidingsfelder 2016, 126). Die Soziologin Deborah Lupton betont den Effekt der Reflexivität, wonach die vom eigenen Körper »produzierten« Daten zum Ansporn für das Verhalten werden (Lupton 2012, 237). Mit Foucault kann man solche Praktiken der Selbstoptimierung als »Technologien des Selbst« beschreiben, also als jene »Formen, in denen das Individuum auf sich selbst einwirkt« (Foucault 1993, 27). Diese Form der Selbstwirksamkeit kann zur »Selbstregierung« führen, aber auch zu durchaus positiven Ergebnissen für das eigene Krankheitsmonitoring. Gerade die oben angeführten Beispiele der Diabetestechnologien zeigen, dass und wie eine möglichst lückenlose »Selbstüberwachung« für die Betroffenen mitunter lebensnotwendig ist. Die »Selbsttechnisierung des Menschen durch technologische Substitutionen seiner organischen Anteile«, von Heilinger und Müller als »Sonderfall« bezeichnet (Heilinger, Müller 2007, 23), wird von der Diabetiker-Community durchaus angestrebt. Die technische Entwicklung wird aus Kreisen der Betroffenen heraus eingefordert bzw. vorangetrieben. Patienten betonen also die wesentlich erhöhte Lebensqualität und Sicherheit durch die Technik und nicht die negativen Szenarien, die mit einer »Cyborgisierung« verbunden werden.

3.

Fazit

Projekte wie Nightscout oder mySugr (auch wenn letzteres mittlerweile Teil der Großindustrie ist) sind Beispiele für bottom-up-Innovationen, die auf Initiative Betroffener basieren, sich Methoden des auch außerhalb der Medizin boomenden (Wolf 2018, 72 f.) Do-ityourself bedienen sowie digitale Technologien (mobile Geräte, cloud 239 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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computing etc.) nutzen. Häufig sind sie »offen« angelegt, indem sie ihre Angebote über social media bzw. open source verbreiten und so eine Mitarbeit ermöglichen. Derartige Formen der Innovation finden sich (durch eben diese Möglichkeiten) zunehmend neben den klassischen top-down-Modellen, bei denen Innovationen aus der Industrie bzw. Wissenschaft hervorgehen. Im Kontrast zu bottom-up-Innovationen aus dem Umfeld von an Diabetes Erkrankten stehen die politisch geforderten und gelenkten Initiativen zur Telemedizin oder den Altersgerechten Assistenzsystemen (früher Ambient Assisted Living). Hier wird scheinbar »von oben« auf offensichtliche Notwendigkeiten (Sicherstellung der Versorgung etc.) reagiert. Demografische wie epidemiologische Entwicklungen (alternde Gesellschaft, Zunahme chronischer Erkrankungen) waren der »Auslöser«, Politik wie Verbände griffen »regulierend« in die Entwicklung ein, die Industrie partizipierte in vielfältiger Weise an millionenschweren Förderprogrammen (Medizintechnik, Infrastruktur, Wohnungsbau etc.). Beide Technologiefelder und beide Ansätze können dabei als ineinandergreifende »Motoren« der Modernisierung verstanden werden. Zum einen, weil sie sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich Teil der Gesundheitsökonomie sind. Insbesondere die Medizintechnik gilt als eine der dynamischsten Branchen im heutigen Wirtschaftssystem mit dem Potential, »die nächste große Wachstumsmaschine der Wirtschaft im 21. Jahrhundert sein« zu können (Kickbusch 2008, 52). Zum anderen weil die geschilderten Technologiefelder neben der ökonomischen Seite auch einen erheblichen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen ausüben. Sie sind zentrale Anwendungsfelder der Digitalisierung, die vom öffentlichen bis in den persönlichen Bereich hineinreichen. In der Massenprävention von Volkskrankheiten einerseits wie auch im persönlichen Monitoring von diagnostisch relevanten Zeichen andererseits werden zum Beispiel früher physisch zu absolvierende Wege (zwischen Patient und Arzt / Klinik) zu einem erheblichen Teil durch Datenströme abgelöst. Menschen werden über die Erhebung und Speicherung ihrer Vitalparameter in Daten »zerlegt« und neu zu »data doubles« zusammengesetzt (Martin, Griemmert 2017, 105 f.). In beiden Bereichen, Telemedizin und Diabetesbehandlung, kommt es zu einer neuen, qualitativ wie quantitativ intensivierten Verbindung von Mensch und Technik. Das hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Dimensionen Raum und Zeit im Gesundheits240 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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sektor, aber auch auf die jeweilige Persönlichkeit der Beteiligten. Der Hoffnung, dass die medizinische Grundversorgung und die Volksgesundheit durch Technisierung und Digitalisierung ebenso verbessert werden wie das individuelle Krankheitsmonitoring, stellen Kritiker mögliche negative Folgeerscheinungen entgegen, die vor allem im sozialen Bereich zu verorten sind. So wird befürchtet, dass Technisierung und Digitalisierung in letzter Konsequenz Entfremdungstendenzen (zwischen Arzt und Patient, zwischen Patient und eigenem Körper / Selbstwahrnehmung etc.) hervorbringen oder Patienten, indem ihnen zwar eine aktivere Teilhabe an ihrer Gesundheitsversorgung eingeräumt wird, diese mit der Pflicht zu präventivem Verhalten bezahlen. Diese Pflicht wiederum wird dabei auch noch über technische Verfahren in den Körper, der selbst regiert werden soll, implantiert. Hier eröffnet sich eine spannungsgeladene Dialektik zwischen Empowerment und Freiheit auf der einen und einer Technikabhängigkeit auf der anderen Seite. Prozesse der Modernisierung werden im Gesundheitsbereich (Gesundheitsversorgung, Diagnostik und Therapie) wesentlich über »Technik« determiniert. Das umfasst zahllose Bereiche und Anwendungsfelder, die als Medikalisierung durch Technik oder Technisierung der Medizin verstanden werden können, deren gegenseitige Verschränkung wir an anderem Ort als »Technikalisierung« bezeichnet haben (Martin, Fangerau 2015; Fangerau, Martin 2014). Eine derartige Technikalisierung kann große Chancen für die Krankenbehandlung, Prävention und das Selbstmonitoring mit sich bringen. Gleichzeitig droht die Gefahr der selbstauferlegten Überwachung oder die Steuerung des Gesundheitsverhaltens durch Stellen, die außerhalb des eigenen Selbst stehen. Ein differenzierter Blick auf Technikalisierungsprozesse und ein beständiges vorgezogenes Durchspielen von Anwendungsszenarien erscheint notwendig, auch wenn dies wie eine Verzögerung einer erwünschten und extrem hilfreichen Modernisierung wirken mag.

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246 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nina Köberer, Matthias Rath

Medientechnik als Motor oder Realisierung der Modernisierung? Zur Aktualität einer ethisch notwendigen Medienkompetenz 1.

Einleitung

Die Vermutung, dass es einen Motor der Modernisierung gäbe, vielleicht sogar nur einen Motor der Modernisierung gäbe, ist so selten nicht. Ein Blick in eine Suchmaschine wie Google belehrt den Suchenden schnell, dass die Formulierung »Motor der Modernisierung« sehr beliebt sein muss. Und was als Motor der Modernisierung angeboten wird, lässt den Suchenden ratlos zurück. Die algorithmisch zufällig ausgewählten Top Ten dieser Modernisierungsmotoren sind in absteigender Reihenfolge ihrer Listung Technik, Städte, Sport, Medien, Militär, E-Government, Tradition, die Pest, der öffentliche Dienst sowie – angesichts der unserer jeweiligen Filterblase geschuldeten Reihung – last but not least die Schule. All diesen gesellschaftlichen, materiellen, handlungsorientierten, verwaltungsabhängigen und gesundheitlichen Kandidaten kommt »die Technik« geradezu intuitiv plausibel daher. Technik scheint, sucht man nach den Details der oben genannten »Motoren«, immer mit von der Partie, als Bedingung der Realisierung, der Verbreitung, der Ausprägung. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, was »Technik« eigentlich jeweils meint. Einen pragmatischen Zugang zu dieser Frage findet die einschlägige VDI-Richtlinie 3780 (VDI 2000, 2), die klassisch zwischen den Gegenständen (Geräte, Maschinen) sowie den menschlichen Handlungen, die diese »Artefakte« herstellen, und den Handlungen, die diese Gegenstände nutzen, trennt. Diese Unterscheidung vor allem der Handlungen wird für unsere weitere Argumentationslinie wichtig sein. Technisches Gerät entsteht durch technisch kompetentes Handeln und wird wirksam durch technisch kompetente Benutzung. Technik wird aber nicht an sich und wirkt nicht an sich. Hier kommt die griechische Wurzel des Wortes Technik zum Vorschein, téchne (τέχνη), was gemeinhin mit Kunst im Sinne von Kunstfertigkeit oder Handwerk übersetzt wird. Technik ist also weniger das Arte247 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nina Köberer, Matthias Rath

fakt selbst, sondern das Artefakt als ein (vom Menschen) gemachtes und genutztes. Erst in dieser Intentionalität des technischen Geräts, seiner Vertrautheit, wird es, wie Heidegger 1927 es nannte, zur »Zeugganzheit« (Heidegger 1979, 78). Ein Artefakt wird zu dem, was es sein soll, durch den Gebrauch. Damit wird die Praxis, und zwar die intendierende (des Konstrukteurs) ebenso wie die realisierende (des Nutzers), essentiell für die Realität und Wirksamkeit einer Technik als Artefakt. Diese, auf den ersten Blick recht abstrakt scheinenden Überlegungen sollen deutlich machen, dass wir im Folgenden keinem verkürzten Materialismus aufsitzen, der das Artefakt in seiner bloßen Existenz zum Thema nimmt. Uns geht es um die Frage nach den Praktiken des Menschen, die nicht nur durch technische Innovationen geprägt werden, sondern die selbst erst die innovativen Artefakte hervorbringen. In der folgenden Diskussion der »Technik als Motor der Modernisierung« werden wir Modernisierung als einen epochalen Prozessbegriff deuten, der nicht am Artefakt festgemacht werden kann, sondern nur an der dieses Artefakt realisierenden Praxis – einer konstruktiven ebenso wie einer gebrauchenden.

2.

Mediatisierung als Motor der Modernisierung

Im Fokus dieses Beitrags wird die mediale Modernisierung stehen. Dabei soll nicht ausführlich die Frage bearbeiten werden, ob Modernisierung nun eine deskriptive oder eine normative Epochenbezeichnung meint. Die Diskussion um Verwendung, Sinn und Bedeutung des Modernisierungsbegriffs überhaupt wird seit den 1980er Jahren vor allem in der Geschichtswissenschaft und Soziologie rege geführt und scheint schwer final entscheidbar (vgl. im Überblick Schildt 2010). Sicher ist, dass »Moderne« zunächst ein Reflexionsbegriff ist, der die eigene Gegenwart von der Tradition abhebt (vgl. Lepsius 1977) und als dynamische Selbstreferenz diese Reflexion als Unterscheidung gegen eine in der Reflexion selbst wieder traditionell erscheinende Gegenwart gewendet wird (Beck, Giddens, Lash 1996). Modernisierung hingegen wird im Folgenden prozessual verstanden. Nun ist es zwar möglich und nachvollziehbar, wenn die Herausgeber in ihrem Exposé des vorliegenden Bandes feststellen, dass

248 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Medientechnik als Motor oder Realisierung der Modernisierung?

»Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durch neue Medien, Informations- und Kommunikationstechnologien eine zweite Modernisierungswelle in Gang gesetzt [wurde], aus der eine global vernetzte Wissensgesellschaft erwächst.«

Allerdings wird der Prozess der medialen Modernisierung im Folgenden mit Krotz (2001, 2007) nicht epochal, sondern grundsätzlich die Geschichte des Menschen begleitend verwendet. Beschränkte man ihn auf die genannte Epoche des 19. und 20. Jahrhunderts, vielleicht noch bis heute anhaltend, könnte der Eindruck entstehen, dass der Umgang mit Medien für den Menschen historisch kontingent sei – es ging und ginge auch ohne Medien. Ja stärker noch, das Selbstverständnis des Menschen wäre unabhängig von Medialität (vgl. Rath 2014, 63–82) zu denken, er sei als Mensch in seinem Wesen und seinem konkreten Sosein der Medialität und den Medien gegenüber indifferent. Insofern wäre die aktuelle Moderne eine mediale, aber als solche in technischer Hinsicht letztlich austauschbar. Dem gegenüber werden wir die These vertreten, dass der Mensch nur als medial agierendes und sich selbst medial verstehendes Wesen zu begreifen ist, so dass die aktuelle Selbstdefinition zumindest in den technisch und ökonomisch entwickelten Nationen als »global vernetzte Wissensgesellschaft« die historisch aktuelle Ausprägung technischer Medialität überschätzt. Damit wird von uns zugleich vorausgesetzt, dass die menschliche Lebenswelt gar nicht anders als medial gedacht werden kann. Von hier aus muss man auch den einer historisch realisierten Medialität vorauszusetzenden Medienbegriff im oben allgemein ausgeführten Sinne spezifizieren. Ein sinnintendiertes Artefakt ist so lange kein Medium, solange es nicht als Medium verstanden und genutzt wird. Ein Medium, das nicht als Medium verstanden wird, ist kein Medium, weil es keine Position gibt, von der her es als Medium »verstanden« (vgl. ebd., S. 6–9) würde. Medien sind demnach Ausdruck einer grundsätzlichen Medialität des Menschen, die sich auch in der Weise der individuellen Ausgestaltung von Lebenswelt bemerkbar macht. Aufgrund dieser anthropologischen Medialität ist keine vormediale Lebenswelt denkbar, vielmehr hat der Mensch, noch allgemeiner gesprochen als im Sinne von Lebensweltanalysen konkreter soziohistorischer Bedingungen medialer Praxis, eine Welt, die anthropologisch nur medial gedacht werden kann, aber historisch sich je unterschiedlich »mediatisiert«. 249 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nina Köberer, Matthias Rath

Diese Wortwahl greift explizit die medienwissenschaftliche Charakterisierung des kommunikativen Handelns in der je eigenen Lebenswelt des Menschen als »Mediatisierung« von Friedrich Krotz auf (vgl. Krotz 2001). Er fasst dabei »Mediatisierung« terminologisch als Bezeichnung für das Phänomen, »dass durch das Aufkommen und durch die Etablierung von neuen Medien für bestimmte Zwecke und die gleichzeitige Veränderung der Verwendungszwecke alter Medien sich die gesellschaftliche Kommunikation und deshalb auch die kommunikativ konstruierten Wirklichkeiten, also Kultur und Gesellschaft, Identität und Alltag der Menschen verändern« (Krotz 2007, 43).

Zugleich beschränkt Krotz aber diesen Prozess nicht auf eine vermeintlich historisch eindeutig definierbare »Mediengesellschaft«. Vielmehr bezeichnet »Mediatisierung« »eine Vielfalt von übergreifenden, zum Teil bereits Jahrhunderte dauernden Entwicklungen, die schon vor der Erfindung der Schrift begonnen haben und mit der Erfindung der heute vorhandenen Medien noch lange nicht beendet sind« (ebd., S. 12).

Technikphilosophisch relevant ist solch eine Rekonstruktion des Prozesses der menschlichen Medienentwicklung, da sie die Medialität unabhängig von historischen Formen medialer Technik zum Ausgangspunkt medialer Praxis macht. Krotz konstruiert die Mediatisierung als »Metaprozess« (ebd., S. 11 u. ö.), mit dem er nicht nur die Aneignung von Medien durch den Menschen beschreibt, sondern diesen Aneignungsprozess als Gestaltungsprozess menschlicher Kommunikation versteht. Denn »Metaprozess« bedeutet für Krotz, »dass Mediatisierung weder räumlich noch zeitlich noch in seinen sozialen und kulturellen Folgen begrenzt ist und auch, dass auch die Konsequenzen dieser Entwicklung nicht als getrennt zu untersuchende Folge verstanden werden können, sondern einen konstitutiven Teil von Mediatisierung ausmachen«. (Krotz 2012, 12)

Als weitere Metaprozesse nennt Krotz z. B. Globalisierung und Individualisierung – wir können für diesen Beitrag hinzufügen Modernisierung. Diese ist aber immer wieder neu anzusetzen. Schon die Charakterisierung allein unserer Gegenwart als Mediengesellschaft wird der Tatsache nicht gerecht, dass Mediatisierung da beginnt, »wo die Menschen Zeichen benutzen, die über situative Wahrnehmbarkeit hinausgehen« (Krotz 2012, 37, Herv. i. Orig.). Damit sind Medien 250 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Medientechnik als Motor oder Realisierung der Modernisierung?

»spezifische Techniken« (ebd., S. 45, Herv. i. Orig.) im Sinne von Artefakten, die Menschen »für ihr kommunikatives Handeln benutzen und sie auf je spezifische Weise erst zu Medien machen« (ebd., Herv. i. Orig.). Die Mediatisierungsthese stellt demnach technikphilosophisch verstanden ein Konstrukt dar, das es erlaubt, den historisch gewordenen und von konkreten Rahmenbedingungen abhängigen Prozess der Realisierung grundsätzlicher menschlicher Medialität (im Sinne Cassirers animal symbolicum, vgl. Rath 2002) zu rekonstruieren. Krotz hebt auf die theoretische Fruchtbarkeit seiner Mediatisierungsthese als Vermittlungskonstrukt ab, indem er deutlich macht, wie sie erlaubt, den Medienwandel als »Wandel der individuellen, der institutionellen, gruppenbezogenen und der gesellschaftlichen Kommunikation zu untersuchen« (ebd., Krotz 2007, 47, Herv. i. Orig.). Somit stellt Mediatisierung den dynamischen Aspekt der Realisierung einer anthropologischen Bestimmung des Menschen als mediales Wesen dar. Damit wird deutlich, dass Modernisierung zwar technologydriven gedacht werden kann und dass Modernisierung als Konstitutionsprozess der Gegenwart an Medien- und Kommunikationstechnologie festgemacht werden kann. Die Frage ist jetzt, ob sich damit wirklich ein signifikanter Technologieunterschied festmacht, oder ob diese Fokussierung auf eine media-driven society vielleicht weniger mit den realen Konstitutionsbeziehungen der Gegenwart zu tun hat als mit unserem Bewusstsein davon. Die hier vertretene These ist, dass alle Bereiche des menschlichen Lebensvollzugs medial verfasst sind. Aber ist dies nicht nur eine von vielen möglichen sozialen Selbstdefinitionen? Die Liste der gesellschaftlichen Definitionen ist lang und es lassen sich verschiedene, z. T. auch philosophisch reflektierte Kategorisierungen unterscheiden: – historische Kategorisierungen (angefangen von Marx’ Kapitalismuskritik über Jaspers’ »Sattelzeit« bis hin zu Foucaults Ende der Epoche des Subjekts), – ressourcenspezifische Kategorisierungen (wie Bronze- und Eisenzeit, aber auch »digitale«, »Informations-« oder »Wissensgesellschaft«) – normative oder handlungsorientierende Kategorien (z. B. »Erlebnis-« oder »Risikogesellschaft«) 251 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nina Köberer, Matthias Rath

– praxeologische Kategorisierungen (Industrialisierung, wissenschaftlich-technisches Zeitalter) und schließlich – kommunikative Kategorien (wie »Massen-«, »Öffentlichkeits-« und »Mediengesellschaft«). Alle diese Definitionen, darauf hat Gerhard Vowe (2010) hingewiesen, sind Ausdruck der Wahrnehmung eines bestimmten, die jeweilige Epoche prägenden Faktors, sie sind aber vor allem bis in die Moderne hinein post hoc Definitionen. Für unsere Gegenwart hingegen ist symptomatisch, dass wir solche Definitionen auf uns selbst beziehen – wir nehmen uns gegenwärtig selbst in den Blick und erfassen uns im knappen Schlagwort einer Selbstbeschreibung. Über die Sinnhaftigkeit solcher Selbstdefinitionen kann man trefflich streiten, sie alle zeichnen sich aber dadurch aus, dass der Rahmen unserer Selbstbetrachtung, also der Kontext, in dem solche Selbstdefinition auf ihre Plausibilität reflektiert wird, der mediale Diskurs ist. Was heißt das für unsere heutige Moderne? Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1820 den Horizont aufgerissen, vor dem eine Antwort auf diese Frage als sinnvoll angesehen werden kann. »Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit, so ist auch die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst« (Hegel 1979, 26). Die Philosophie, auch die Technikphilosophie, hat also die Grundmerkmale oder die Signatur einer Epoche zu erfassen und sich bewusst zu machen. Denn, und auch das sagt Hegel an gleicher Stelle in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, Philosophie ist eben nicht überzeitlich, sondern abhängig von der Epoche, in der sie gedacht wird. Die Erfassung ihrer Zeit ist keine außerepochale Leistung der Philosophie, sondern es ist das Bewusstmachen der eigenen Abhängigkeit. Es scheint uns offensichtlich, dass Medien unser gesamtes Handeln bestimmen. Allerdings ist diese Funktion der Medien als Weltvermittler und Weltbildgeneratoren, die unser Bild von Welt und Mensch gestalten und prägen, wie wir gesehen haben, kein gegenwärtiges Phänomen, sondern die gegenwärtige Erkenntnis eines grundlegenden Phänomens: Friedrich Krotz (2001) hat diese Bedeutung medialer Konstruktion mit dem Terminus der »Mediatisierung« belegt. Mediatisierung ist für Krotz ein grundlegender »Metaprozess sozialen und kulturellen Wandels« (Krotz 2007, 12) – und damit auch 252 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Medientechnik als Motor oder Realisierung der Modernisierung?

Prozess der Modernisierung als innovative Veränderung bestehender gesellschaftlicher, kultureller und individueller Lebensverhältnisse. Medialität ist also allgegenwärtig, jede Epoche, jedes Zeitalter war in diesem Sinne »medial«. Daher sind auch Definitionen wie Wissensgesellschaft oder Mediengesellschaft wenig aussagekräftig. Aus philosophischer Sicht jedoch wird unsere Gegenwart zum »medialen Zeitalter« erst durch die bewusste Zuwendung zu diesem Sachverhalt, zur »Erfassung unserer Zeit in Gedanken«. Medialität umgibt uns so weit, dass keine Kommunikation als nicht medial gedacht werden kann. Insofern ist unser Zeitalter »medial«, als es sich selbst als »mediatisierte Welt« rekonstruiert. Und insofern muss sich jede Reflexion auf die Weise des Umgangs mit Welt dieser grundsätzlichen Medialität bewusst sein. Das Neue des medialen Zeitalters ist also nicht die Abhängigkeit von Medien, womöglich nur von so genannten Neuen oder interaktiven Medien. Diese Abhängigkeit bestand immer schon, wenn auch jeweils unter anderen Realisierungsbedingungen. Das Neue des medialen Zeitalters ist das Bewusstsein von dieser medialen Abhängigkeit, von der Vermittlung unserer Welt an uns und untereinander durch Zeichensysteme, die jeweils zu kodieren und zu dekodieren sind. Alles was unser Handeln bestimmt, ist medial erzeugt und symbolisch vermittelt. Die Mediatisierungsthese eignet sich damit in zweifacher Weise die unausgesprochene Frage dieses Bandes, nämlich, ob überhaupt Technik als Motor der Modernisierung angesehen werden kann – und dann, ob dies in unserem Falle die Medien- und Kommunikationstechnik wäre –, zu beantworten: allgemein auf der Ebene der medialen Rekonstruktion von Welt, speziell auf der Ebene der medialen Realität. – Auf der Ebene der medialen Rekonstruktion von Welt ist Mediatisierung nicht nur ein historischer Realisierungsfaktor, sondern eine Reflexionskategorie. Mit anderen Worten, es ist für unsere Epoche zentral, sich der grundsätzlichen Medialität des Menschen bewusst zu sein – und uns selbst medial zu konstruieren. – Auf der Realitätsebene hingegen erlaubt die Mediatisierungsthese, den Prozess der technology-driven Modernisierung im Hinblick auf die Praxis der Menschen hin aufzubrechen. Wenn Medien ohne die Intention und die Nutzung als Medien nicht sind, dann ist die Modernisierung als Prozess der innovativen Verviel253 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nina Köberer, Matthias Rath

fältigung der Möglichkeiten von Medialität zu verstehen. Am relevantesten (neben einer Vielzahl unterschiedlicher Artefakte) ist nach unserer Auffassung die damit einhergehende Auflösung der für mediale Kommunikation lange Zeit konstitutiven Trennung zwischen Sender und Empfänger, zwischen Produzent und Rezipient. Quintessenz eines »medialen Zeitalters« ist nicht die Tatsache der Medialität als solche: diese gab es immer. Alle Formen menschlicher Welterfassung waren von jeher medial. Konstitutiv für unsere Moderne sind das Bewusstsein und die Praxis, immer auch produzierender, und nicht nur rezipierender Nutzer medialer Technik sein zu können.

3.

Digitale Mediatisierung als »Produsage«

Die oben kurz benannte grundlegende Medialität erhält über den historischen Prozess der Mediatisierung ihre Realisierung in der Weise des Umgangs mit und damit der Aneignung von Medien. Die aktuell dominante Digitalisierung ist dabei nicht nur eine mögliche technische Weiterentwicklung, sondern sie hat die Vielfalt der Medien selbst grundlegend verändert. Medien »erscheinen« uns zwar in ihrer jeweiligen besonderen Gestalt als Text, Bild, Bewegtbild und Ton, doch sind sie nicht mehr analog an eine bestimmte spezifische Materialität (Papier, Zelluloid, Stein, Leinwand etc.) oder vordigitale Technologie gebunden, sondern der mediale Inhalt wird digitalisiert und ist erst über einen technischen Übersetzungsprozess wieder analog zu präsentieren, z. B. ausgedruckt, und dann zu rezipieren. Digital online können Medien und ihre Inhalte darüber hinaus ortsunabhängig vorgehalten, aufgerufen und bearbeitet werden. Dabei ist das Internet ein Meta-Medium: Es ist selbst technisches Medium, zugleich aber auch Ort oder »Adresse« (vgl. Andriopoulos, Schabacher, Schumacher 2001) anderer Medien. Über das Internet lassen sich andere digitalisierte Medien finden und abrufen. Diese technische Integration der Medien in das Netz ist nicht nur universal, sondern verändert herkömmliche Medien grundlegend, denn die digitale und interaktive Gestalt entzieht Medieninhalte zwar der haptischen und materiellen Realität, eröffnet aber zugleich für jeden und jede die Möglichkeit, Medien digital zu bearbeiten, zu verändern oder überhaupt erst zu erstellen (vgl. Rath 2003). Die klassische Rollenunterscheidung medialer Akteure zwischen 254 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Medientechnik als Motor oder Realisierung der Modernisierung?

professionellem Produzenten und Nutzer ist nur mehr analytisch von Bedeutung. Die Rollenverteilung zwischen Produzent, Distributor und Rezipient löst sich demnach auf, verschmilzt im non-professionellen Produser (Bruns 2006): Die Digitalität des Web 2.0 und insbesondere produktiv orientierter Plattformen wie YouTube bieten jedem Medienakteur die Möglichkeit, selbst Medieninhalte zu gestalten, zu produzieren und diese zu veröffentlichen – Bruns (2006) benennt diesen Prozess der Produktion medialer Inhalte durch die Nutzer mit dem Kunstwort »Produsage«. Schon die Kommentarfunktion in der Online-Präsenz klassischer Offline-Medien stellt eine eigene Produktionsebene dar, die nicht nur einen zusätzlichen Kommunikationskanal zwischen Rezipient und Produzent öffnet, sondern ein eigenes mediales Format darstellt (vgl. Reich 2011). Dies ist zunächst kein neuer Gedanke – bereits 1980 griff Alvin Toffler die Entwicklung einer zunehmenden Verschränkung zuvor getrennter Sektoren der marktförmigen Produktion einerseits und der marktfernen, eigenaktiven Tätigkeiten von Konsumenten andererseits unter dem Begriff Prosumption auf. Die partizipative (Netz-)Kommunikation hat darüber hinaus ökonomisch basierte, institutionalisierte Hierarchien und Barrieren abgebaut. Unter den Bedingungen der Digitalisierung führt diese Verschränkung aber zu tiefgreifenden und rasanten Veränderungen der modernen Medienkultur: Produktion wird professionsunabhängig und erfolgt medienübergreifend. Mizuko Ito (2010) diagnostiziert hierbei eine grundlegende Verschiebung bisheriger Machtverhältnisse zwischen amateur media und professional media. Dies wirft auch Fragen hinsichtlich einer Ethik der Produsage auf (vgl. Köberer 2016a). Im Folgenden sollen drei Beispiele für solche Produsage auf den drei von der Mediatisierungsforschung in den Blick genommenen Ebenen (vgl. Krotz 2012, 37) des gesellschaftlichen Wandels knapp entfaltet werden: auf der individuellen, identitätsdefinierenden Mikroebene, auf der ökonomischen, institutionalisierten Mesoebene sowie auf der politischen Makroebene.

3.1 »Broadcast yourself«: Produsage auf YouTube Das Internet bietet vielfältige Partizipationsmöglichkeiten auf kommunikativ orientierten Plattformen (z. B. Facebook, Skype, WhatsApp), bei denen Vernetzung und Austausch im Mittelpunkt stehen, oder auch auf produktiv orientierten Plattformen (z. B. Flickr, My255 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nina Köberer, Matthias Rath

Space, YouTube), bei denen es insbesondere um die Präsentation eigener Werke als Ausgangspunkt für Interaktion geht (vgl. Wagner, Brüggen, Gebel 2009). Allein die unüberschaubare Anzahl von Clips auf YouTube liefert auf gewisse Weise den digital-materiellen Beweis einer neuen globalisierten Convergence bzw. Participatory Culture (vgl. Jenkins 2006a, 2006b). Als ein Beispiel dieser Entwicklung – und als eine zentrale Ausdrucksform des User Generated Content –, die sich im Spannungsfeld zwischen amateurhafter und professioneller Produktion bewegt, nennen Burgess und Green (2009) Videoblogs (Kurzform: Vlogs). Solch ein Vlog »as a genre of communication invites critique, debate and discussion. Direct response through comment and via video is central to this form of engagement« (ebd., S. 94). Eine mittlerweile fest etablierte Plattform und Anlaufstelle für Bewegtbilder, die auch für die Verbreitung von Videoblogs als wichtige Angebotsform des Identitätsmanagements im Social Web (vgl. Schmidt 2009) genutzt wird, ist YouTube. Unter dem Motto Mitmachen und Spaß haben lädt YouTube dazu ein, auch selbst produktiv zu werden: »Vergiss nicht: Du bist ein Teil unserer Community. Es sind unsere Nutzer, die YouTube einmalig machen – also leg los und mach mit! Dank unserer zahllosen Videokünstler und ihrer fantastischen Ideen gibt es hier eine Menge zu entdecken. Du könntest einer von ihnen sein! Das nötige Equipment wird immer günstiger, und auch die Handhabung ist so einfach wie noch nie. Also – worauf wartest du noch? […] Ob du Kommentare verfasst, Inhalte bewertest, Videos beantwortest oder deine Ideen mit anderen austauschst – es gibt unzählige Möglichkeiten zur Interaktion, und es wird niemals langweilig.« (YouTube 2017)

Auf dieser Mikroebene bietet die Präsentation individueller digitaler Produkte zugleich die Möglichkeit, sich selbst narrativ zu thematisieren. Das Konzept der »narrativen Identität« (Ricœur 1987, Rath 2016a) wird hier in qualitativer wie quantitativer Hinsicht medial globalisiert. YouTube vereinfachte den ehemals technisch aufwendigen Prozess Bewegtbild ins Netz zu stellen, inzwischen finden sich hier Videos, die »aus professionellem TV-Kontext stammen, von Unternehmen zu Werbezwecken produziert oder von Privatpersonen ins Netz gestellt worden [sind]« (Koch, Liebholz 2014). Die ehemals »nur« passiven Rezipienten sind heute (inter-)aktive Nutzer, produzieren vielfach selbst Content und stellen (Produkt-)Informationen zur Verfügung. Wie sich zeigt, haben die erfolgreichen YouTube Stars 256 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Medientechnik als Motor oder Realisierung der Modernisierung?

»Talent als Alleinunterhalter, sie werden vor der Kamera immer besser, lernen Schnitt, Video- und Musikproduktion, machen alles selbst« (Niggemeier 2014).

3.2 Ökonomisierung des Selbst: Produsage als Werbemittel Dies hat auch Auswirkungen auf das Tätigkeitsfeld von Werbetreibenden: Heute wird klassische, professionell produzierte Werbung gewissermaßen ergänzt durch beispielsweise persönliche Empfehlungen bzw. die Bewertung von Produkten in Haul-Videos. Damit sind wir auf der Mesoebene, da es nicht mehr um den Wandel individueller Identitätsnarrative geht. Das »self-monitoring« (Harnish, Bridges 2016) der Jugendlichen wird vielmehr in ein komplexes ökonomiegetriebenes Werbesystem integriert (vgl. Sykes, Zimmerman 2014), das speziell auf die jüngere Generation als Zielgruppe ausgerichtet ist. Als Haul-Videos (englisch Beute, Fang) werden Clips auf YouTube bezeichnet, bei denen Jugendliche sich in den eigenen vier Wänden vor die Kamera stellen, ihre Einkäufe (Kosmetikprodukte, Kleidung) vorstellen und unter anderem Styling- und Schminktipps geben. Die Jugendlichen werden bei diesem Format zu einer Art »Stiftung Warentest von und für Pubertierende«, indem sie ein Service-Angebot machen, neue Trends und Produkte vorstellen und diese bewerten (vgl. Köberer 2015). Darüber hinaus erzählen sie auch Privates, lassen die Zuschauer an ihrem Leben teilhaben und versuchen über authentische Kommunikation ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Je nach Beliebtheit und Bekanntheit der Hauler unterscheiden sich die Klick-Zahlen. Dem YouTube Channel von HaulStars wie Bethany Mota folgen aktuell etwa 10 Millionen User (Stichtag 1. 2. 2018) und ihre Videos haben in der Regel zwischen 300.000 und 600.000 Views (vgl. Halperin 2014). Dabei ist meist nicht ersichtlich, wo Werbung bzw. Marketing beginnen, so dass die Problematik der Schleichwerbung auf YouTube wächst, da Werbeinhalte nicht immer als solche gekennzeichnet werden. Die Werbewirtschaft hat bereits auf das Format Haul-Video reagiert und stellt YouTubern Gratisprodukte zur Verfügung, die sie einbinden können, und Unternehmen gehen immer häufiger Kooperationen mit YouTubern ein und profitieren von ihrem großen Bekanntheitsgrad und der hohen Nutzerbindung. Den Ergebnissen der aktuellen JIM-Studie (2017, 33) zufolge nennen zwischen 55 und 257 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nina Köberer, Matthias Rath

69 % der Internet-Nutzer spontan die Videoplattform YouTube auf die Frage »Und was nutzt Du im Internet am liebsten?«. Haul-Videos leben wie andere Vlogs auch »von der Präsenz und dem subjektiven Selbstausdruck des bzw. der Videoproduzentin selbst« (Schumacher 2011, 158). Der Erfolg von Haul-Videos lässt sich auch dadurch erklären, dass die Hauler »ohne jeden Filter von außen Dinge erzählen, die ihnen wichtig sind, und an denen andere Menschen Anteil nehmen« (Niggemeier 2014). Das schafft Sympathie, suggeriert Nähe und lässt die Hauler-Persönlichkeiten glaubwürdig und authentisch wirken. Da private Meinungen und persönliche Empfehlungen ehrlicher wirken als beispielsweise Werbesendungen zu den neusten Produkten, wird auf Rezipientenseite Vertrauen in die Informationen bzw. Produktbewertungen aufgebaut. Dabei präsentieren die Hauler sich ambivalent: Einerseits »als Experten auf ihrem Gebiet, die sich ihr Wissen der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung stellen, andererseits als Freundinnen, die mittels Video die Kommunikation innerhalb einer Community aufrechterhalten« (Schumacher 2011, 160 f.). Diese Kombination aus inszenierter Amateurhaftigkeit und dargestellter Professionalität lässt die Protagonisten vor der Kamera authentisch wirken und macht mitunter den Erfolg des Formats aus. Haul-Videos informieren also nicht nur, sie bieten auch die Möglichkeit, mit den Haulern zu kommunizieren, sich auszutauschen und Feedback zu geben. Wichtig ist dabei die Kommentarfunktion. Die Hauler bewerten und bewerben nicht nur unterschiedlichste Produkte, sondern sie bewerben zugleich sich selbst, indem sie Anschlusskommunikation mit ihren Zuschauern suchen und auf eine wachsende Fangemeinschaft hoffen (vgl. ebd., S. 164–165). Als drittes Beispiel, das den Makrobereich erschließt, soll abschließend hier auf eine Form der Produsage verwiesen werden, die eine innovative Form medialer Partizipation darstellt, die als Medienpraxis die Technik der digitalen Eigenproduktion und Distribution aus der individuellen und instrumentellen Nutzung auf eine politische Wirkung hin übersteigt.

3.3 Produsage als vernetzte Öffentlichkeit der Beteiligung Durch die mobilen und digitalen Vernetzungsmöglichkeiten, das Weitertragen von Informationen und Meinungen, die sich über Shar258 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Medientechnik als Motor oder Realisierung der Modernisierung?

ing-Funktionen in verschiedenen Foren, Netzwerken oder Portalen innerhalb kürzester Zeit (öffentlich) verbreiten lassen, ist es möglich, verhältnismäßig schnell und auch über nationale Grenzen hinweg eigene politische Positionen zu kommunizieren, zu Protesten zu mobilisieren und Reichweite aufzubauen. In der politischen Nutzung der Möglichkeiten technisch-digitaler Medien haben sich neue öffentliche Formen der Meinungsäußerung und Beteiligung etabliert. So findet die strategische Protestmobilisierung zunehmend über Soziale Netzwerke und Plattformen wie YouTube statt. Ein Beispiel ist die digitale Thematisierung des Lebensmittelkonzerns Nestlé, der mithilfe viraler Protestvideos immer wieder wegen der Nutzung von Palmöl aus auf illegal gerodetem Regenwald in Indonesien errichteten Palmöl-Plantagen stark kritisiert wird. Neben solchen Formen online organisierter Protest-Kultur finden sich mit Online-Petitionen auch Beteiligungsmöglichkeiten im Internet, die im Kern eher klassischen Partizipationszugängen entsprechen. Organisationen wie MoveOn.org, AVAAZ, Change.org oder CAMPACT nutzen neue digitale Formen der Informationsvermittlung im Web 2.0, um Kampagnen und Petitionen zu organisieren, bei denen man sich via Internet an gesellschaftlichen Debatten beteiligen kann (vgl. Köberer in Druck). Der Erfolg der Online-Aktivitäten von AVAAZ und Co., die aktuell über 46 Millionen Mitglieder haben, beruht dabei vor allem auf der Nutzung von E-Mails, über die Informationen zur Verfügung gestellt werden. Dadurch sollen (potenzielle) Unterstützer mobilisiert werden, aktiv zu werden, indem sie sich online an Petitionen beteiligen oder auch selbst Petitionen initiieren. Thematische Beispiele sind etwa die Massentierhaltung oder das »Bienensterben«. Für viele gesellschaftliche und politische Initiativen sind die neuen Partizipationsstrukturen via YouTube sowie Organisationen wie Change.org und AVAAZ sehr nützlich, da sie es schaffen, Themen in den öffentlichen Diskurs einzubringen bzw. zu stärken. Dies bringt jedoch auch die »neue Unübersichtlichkeit« (Habermas 1985) und Unkontrollierbarkeit digitaler Kommunikation mit sich, da jede und jeder Themen setzen, seine und ihre Meinung verbreiten und sich beteiligen kann. Philosophisch ist diese neue Subjektivität nicht eindeutig qualifizierbar. So finden subjektive Vorstellungen des »guten Lebens« Eingang in den öffentlichen Diskurs und prägen diesen mit – eine Entwicklung, die schon Hans Krämer (1992) in vordigitalen Zeiten unter dem Schlagwort »Integrative Ethik« als dialektische Rückkehr der antiken Lebenskunst-Ethik in der Moderne 259 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nina Köberer, Matthias Rath

gegen die Kantische Pflichtenethik ins Feld führt. Diese Subjektivität wird hier jedoch unter den Möglichkeiten der digitalen eigenen Distribution der Produsage zu einem kritischen Diskurs von unten ausgeweitet. Dabei wird die Legitimität der jeweiligen Gemeinschaft und ihrer Ziele unter Rückbezug auf die Vorstellung eines zu realisierenden »Guten« bzw. einer zu realisierenden gerechten Ordnung unterstellt. Aus ethischer Perspektive schließt hier natürlich die Frage an, was das dahinterstehende »Gute« ist, welches die jeweiligen Interessen und das jeweilige Handeln legitimiert, und welche Kriterien für die Abgrenzung von zulässiger und unzulässiger Parteilichkeit formuliert werden können (vgl. Köberer in Druck). Mit Blick auf NonProfit-Organisationen wie CAMPACT oder AVAAZ ist insbesondere zu klären, wer darüber entscheidet, mit wem und mit welchen Themen man sich über Online-Petitionen solidarisch zeigt – und mit welchen nicht (vgl. Köberer, Sehr 2016). Insgesamt erhalten (politische) Interessensgruppen und Lobbys verstärkt und unkontrolliert Zugang zum politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess, z. B. auch über soziale Netzwerke. So treffen diese Produktionsund Distributionsmerkmale z. B. auch auf die Informationsstreuung und Propagandamaßnahmen über Social Media von beispielsweise Terrororganisationen wie dem Islamischen Staat (IS) zu. Mit anderen Worten: Die Entprofessionalisierung der Medienproduktion (vgl. Rath 2016b) – und damit z. B. die Entfunktionalisierung des Journalismus (vgl. Rath 2010) und auch sich hieraus ergebende normative Fragestellungen (Köberer, Sehr 2017) – ist eine Begleiterscheinung der aktuellen digitalen Mediatisierung, deren Funktionsverlust des Professionellen in der Produsage notwendig zur Frage der ethischen Notwendigkeit breiter Medienkompetenzvermittlung an die Produsers führt (vgl. Rath 2013, Köberer 2016b).

4.

Fazit und Ausblick: Medienbildung als Zieldimension der Produsage

Heute kann jeder Produser sein: Web 2.0 und insbesondere produktiv orientierte Plattformen wie YouTube bieten die Möglichkeit, selbst Medieninhalte zu gestalten, zu produzieren und diese zu veröffentlichen. Medienformen, die von den Konsumenten selbst gestaltet bzw. produziert werden und/oder sich durch die freiwillige Unterstüt260 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Medientechnik als Motor oder Realisierung der Modernisierung?

zung von Rezipienten online verbreiten, lösen sich aus der Abhängigkeit klassischer Medien. Hier ist Medientechnik als Artefakt in der Digitalisierung von Geräten, Programmen und Systemen Triebkraft der medialen Modernisierung. Doch diese Modernisierung wird erst in der zweiten und dritten Bedeutung von Technik real, in der Praxis der Hervorbringung dieser Artefakte, vor allem aber in der Anwendung. Produsage als das Verschmelzen der klassischen Rollen von Medienakteuren, nämlich entweder Produzent bzw. Anbieter von medialen Inhalten und Diensten zu sein oder aber als Nutzer diese medialen Inhalte und Dienste in Anspruch zu nehmen, führt zu neuen medialen Praxen. Die Modernisierung der gegenwärtigen Medienrealität ist technology-driven. Insofern eignet sich ein verkürzter Begriff von Technik als Artefakt zumindest für die Einschätzung, Technik sei der Motor dieser Modernisierung. Die »moderne« Realisierung menschlicher Medialität hingegen, die im Sinne der Mediatisierungsthese erst diesen Wandel von Medien und Kommunikation ausmacht, ist an die konkrete, die technischen Artefakte hervorbringende und dann verwendende Praxis gebunden. Technik als Artefakt ist in gewisser Weise weder modern noch antiquiert, weder werthaft noch wertfrei – das Artefakt entzieht sich dieser axiologischen Semantik. Das Handeln aber, die Praxis, kann und muss bewertet werden und ist damit Objekt ethischer, hier medienethischer Reflexion. Dabei stellen sich aus medienethischer Perspektive Fragen hinsichtlich der Zuschreibung und Übernahme von Verantwortung neu. Tendenziell verlagert die Produsage, z. B. in Werbeformen wie Haul-Videos, die sich durch Interaktivität auszeichnen, die Verantwortung mehr und mehr auf die Produser (vgl. Köberer 2017). Die strukturellen Veränderungen medialen Handelns erweitern damit auch die Aufgabenfelder der Medienbildung. Es ist wichtig, dass insbesondere jugendliche Produser einen kompetenten Umgang mit dem Web 2.0 erlernen, der einerseits auf die Ausbildung einer medienkritischen Rezeptionshaltung und andererseits auf eine kritische Haltung bei der Gestaltung und Produktion von Medieninhalten abzielt (vgl. Köberer 2011). Grundsätzlich ist daher der Erwerb von Kritik und Selbstkritik als Bestandteil der Förderung von Medienkompetenz zu verstehen (vgl. Rath, Köberer 2014). Das bedeutet: Medienkompetenz kommt grundsätzlich ethische Relevanz zu, weil in einer kompetenzorientierten Medienbildung die Klärung normativer Aspekte medialer Produktion und Rezeption 261 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

Nina Köberer, Matthias Rath

eine fundamentale Dimension dieser Kompetenz ausmacht. Dabei lässt sich Medienkompetenz in der Teilkompetenz Medienkritik immer auch als Werturteilskompetenz verstehen (vgl. Rath, Köberer 2013). Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass schon Kinder und Jugendliche einen kompetenten Umgang erlernen, der über den Bereich der Nutzungskompetenz hinausgeht und vor allem auf eine kritische Haltung im Kontext der Gestaltung und Produktion sowie der Veröffentlichung eigener (und fremder) Medieninhalte abzielt (vgl. Köberer 2011).

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265 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Andreas Benz, Dr. phil. Institut für Industriearchäologie, Wissenschafts- und Technikgeschichte (IWTG) TU Bergakademie Freiberg Silbermannstraße 2 09599 Freiberg [email protected] http://tu-freiberg.de/fakult6/technikgeschichte-und-industriearchaeologie/zentrale-einrichtungen/kustodie Andreas Benz studierte an der Universität Mannheim Politische Wissenschaften, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Neuere Geschichte. 2008 bis 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Siegen. Von 2014 bis 2016 arbeitete er als wissenschaftlicher Projektmitarbeiter am Technoseum – Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. Seit 2016 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Industriearchäologie, Wissenschafts- und Technikgeschichte an der TU Bergakademie Freiberg. Als Leiter der Kustodie und Sammlungsbeauftragter der Universität befasst er sich mit Fragen der Museologie, insbesondere der Sammlungsgeschichte. Weitere Forschungsgebiete sind die Verkehrs- und Infrastrukturgeschichte. Heiner Fangerau, Prof. Dr. med. Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Universitätsstr. 1 40225 Düsseldorf [email protected] Studium der Humanmedizin an der Ruhr-Universität Bochum; 1999 3. Staatsexamen Humanmedizin, 2000 Promotion zum Dr. med. am 266 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Institut für Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum; 2000–2002 AiP; Stipendiat des Graduiertenkollegs GRK 246 »Pathogenese von Krankheiten des Nervensystems« an der Universitätsklinik Bonn; 2002–2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Georg-August-Universität Göttingen; 2003–2008 wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; 2007 Habilitation im Fach Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; 2008–2014 Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm; 2015 Direktor des Institutes für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Köln; 2016 Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf. Hans Friesen, Prof. Dr. phil. habil. Institut für Philosophie und Sozialwissenschaft Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg Erich-Weinert-Str. 1 03044 Cottbus [email protected] 1999–2001 Privatdozent für Architektur- und Kunsttheorie an der BTU, 2002–2005 Dozent für Wirtschaftsethik am Zentrum für lebenslanges Lernen C3L der Universität Oldenburg, 2006–2009 Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Sozialwissenschaften und Philosophie der Hochschule Vechta, 2010–2013 Gastprofessur an der BTU Cottbus, ab 2013 Leiter des Fachgebiets Kulturphilosophie. Arbeitsgebiete sind Ästhetik, Kunsttheorie, Architekturtheorie, Stadttheorie, Stadtsoziologie, Geschichte der Philosophie, Allgemeine Ethik und Angewandte Ethik (Medizinethik und Wirtschaftsethik), Anthropologie, Sozialphilosophie, Kulturphilosophie, Kulturgeschichte. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a.: Spannungsfelder der Diskurse. Philosophie nach 1945 in Deutschland und Frankreich (Mitherausgeber), 1987; Die philosophische Ästhetik der postmodernen Kunst, 1995; Architektur im Zwischenreich von Kunst und Alltag (Mitherausgeber), 1997; Philosophische Dimensionen des Problems der Virtualität in einer globalen Mediengesellschaft (Mitautor), 2001; Dimensionen Praktizierender Philosophie. Lebenskunst, Philosophische Praxis, Angewandte Ethik (Mitherausgeber), 2003; 267 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Angewandte Ethik im Spannungsfeld von Begründung und Anwendung (Mitherausgeber), 2004; zahlreiche Aufsätze zur Kunstgeschichte, Architekturtheorie, zur Ästhetik, Ethik und zur Philosophie der Kultur und Technik der Moderne. Nadine Kleine, M.A. Institut für Sozialforschung und Technikfolgenabschätzung (IST) Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg Galgenbergstraße 24 93053 Regensburg [email protected] Nadine Kleine studierte von 2008 bis 2012 an der Universität Potsdam Soziologie im Hauptfach und Politik und Verwaltung im Nebenfach (B.A.) und von 2012–2015 an der BTU Cottbus-Senftenberg Kultur und Technik (M.A.). Seit 2015 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung und Technikfolgenabschätzung (IST) der OTH Regensburg. Ihre Forschungsgebiete sind gesellschaftliche Auswirkungen von soziotechnischen Innovationen, Technikakzeptanz und Technikfolgenabschätzung, insbesondere von assistiven Technologien. Nina Köberer, Dr. phil. Niedersächsisches Landesinstitut für schulische Qualitätsentwicklung (NLQ) Keßlerstraße 52 31134 Hildesheim [email protected] Nina Köberer studierte Philosophie, Germanistik, Geographie und Erziehungswissenschaft (Erste Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen), anschließendes Magisterstudium in den Fächern Philosophie und Germanistik, Dissertation im Fach Philosophie (Medienethik). Seit 2016 arbeitet sie als Referentin für Medienethik und Politische Bildung am NLQ in Hildesheim. Sie ist zweite Sprecherin der Fachgruppe Kommunikations- und Medienethik der DGPuK, zweite Vorsitzende des Vereins zur Förderung der publizistischen Selbstkontrolle e. V. (FPS) und arbeitet in der Forschungsgruppe Medienethik an der PH Ludwigsburg mit. Arbeitsschwerpunkte: Medienethik, narrative Ethik, Medienbildung.

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Nele-Hendrikje Lehmann, Dipl.-Kult. Deutsches Hygiene-Museum Dresden Projekt »Sächsische Landesausstellung 2020« Lingnerplatz 1 01069 Dresden [email protected] Nele-Hendrikje Lehmann studierte in Frankfurt/Oder, Sevilla und Berlin Kulturwissenschaften und Geschichte. 2009 bis 2017 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Industriearchäologie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der TU Bergakademie Freiberg. Seit 2017 ist sie wissenschaftlich-kuratorische Mitarbeiterin am Deutschen Hygiene-Museum Dresden. Sie forscht zu wissenschafts- und technikhistorischen Themen sowie zur Industriekultur in Sachsen. Michael Martin, Dr. phil. Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Universitätsstr. 1 40225 Düsseldorf [email protected] Studium der Geschichte, Wirtschafts- und Technikgeschichte, Pädagogik an der Ruhr-Universität Bochum; 1994 Abschluss mit dem Magister Artium; 2001 Promotion zum Dr. phil. am Historischen Institut der Ruhr-Universität Bochum; 1995–2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität Bochum sowie bei der Stiftung Museum Schloss Moyland (Bedburg-Hau); 2005–2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; 2009–2014 am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universität Ulm; 2015 am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Köln; seit März 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; seit März 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Instituten in Köln und in Düsseldorf.

269 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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Norman Pohl, Dr. rer. nat. Institut für Industriearchäologie, Wissenschafts- und Technikgeschichte (IWTG) TU Bergakademie Freiberg Silbermannstraße 2 09599 Freiberg [email protected] http://tu-freiberg.de/fakult6/technikgeschichte-undindustriearchaeologie/team/norman-pohl Norman Pohl studierte in Frankfurt am Main und Hamburg Chemie und Geschichte der Naturwissenschaften. Er war von 1988 bis 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Environmental Protection Encouragement Agency (EPEA), Büro Hamburg und von 1994 bis 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der BTU Cottbus, Professur für Technikgeschichte. Seit 1. Oktober 1997 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Industriearchäologie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der TU Bergakademie Freiberg tätig und seit 2005 Leiter des Historicums. An der HTWK Leipzig, der HTW Mittweida und an der BTU Cottbus nahm er verschiedene Lehraufträge aus den Bereichen Technikgeschichte und Technikfolgenabschätzung wahr. Er ist Ehrenmitglied und Träger der Ehrenmedaille des Vereins Deutscher Ingenieure. Seine Forschungsgebiete sind vor allem Umweltgeschichte, Geschichte der TU Bergakademie Freiberg und Geschichte der Chemie. Matthias Rath, Prof. Dr. Dr. Institut für Philosophie und Theologie Forschungsgruppe Medienethik Pädagogische Hochschule Ludwigsburg Reuteallee 46 71634 Ludwigsburg [email protected] https://www.ph-ludwigsburg.de/11346+M5d022fabf44.html Matthias Rath studierte Philosophie, Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie und Germanistik. Nach Promotion (1984) und Habilitation (1992) in Philosophie war er im Management des internationalen Medienkonzerns Bertelsmann tätig. Seit 1996 ist Rath Professor für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und leitet dort die Forschungsstelle Jugend – Medien – Bildung sowie die Forschungsgruppe Medienethik. Seine Forschungsgebiete 270 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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sind Medienethik, empirische Medien- und Medienbildungsforschung, Grenzfragen zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften und narrative Ethik. Karsten Weber, Prof. Dr. phil. habil. Institut für Sozialforschung und Technikfolgenabschätzung (IST) Ostbayerische Technische Hochschule Regensburg Galgenbergstraße 24 93053 Regensburg [email protected] https://www.oth-regensburg.de/IST/ https://hps.hs-regensburg.de/wek39793/ Karsten Weber studierte in Karlsruhe Philosophie, Informatik und Soziologie. 1996 bis 1999 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Karlsruhe (TH), 1999 bis 2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). 2006 bis 2012 arbeitete er als Professor für Philosophie an der Universität Opole, Polen. Seit 2007 hält er eine Honorarprofessur für Kultur und Technik an der BTU Cottbus-Senftenberg. 2008 bis 2009 war er Gastprofessor für Informationsethik und Datenschutz und 2009 bis 2011 vertrat er die Professur für Informatik und Gesellschaft an der TU Berlin. Von 2011 bis 2016 vertrat er den Lehrstuhl für Allgemeine Technikwissenschaften an der BTU Cottbus-Senftenberg. Seit 2013 lehrt Prof. Weber an der OTH Regensburg Technikfolgenabschätzung und ist dort Ko-Leiter des Instituts für Sozialforschung und Technikfolgenabschätzung (IST). Seine Forschungsgebiete sind vor allem Technikfolgenabschätzung, Informations- und Medienethik, Bürgerrechte in der Informationsgesellschaft sowie wissenschaftstheoretische Fragen neuer Medien. Zu diesen Themen hat er zahlreiche Publikationen vorgelegt. Thomas Zoglauer, Prof. Dr. phil. habil. Institut für Philosophie und Sozialwissenschaften Brandenburgische Universität Cottbus-Senftenberg Erich-Weinert-Str. 1 03044 Cottbus [email protected] Thomas Zoglauer lehrt Philosophie an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Er studierte Mathematik, Physik und Philosophie an der Universität Stuttgart und promovierte 271 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .

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dort 1991 in Philosophie mit einer wissenschaftstheoretischen Arbeit. Er unterrichtete als Lehrbeauftragter an der Universität Stuttgart und als Gymnasiallehrer am Lise-Meitner-Gymnasium in Remseck und wurde 1993 an der BTU Cottbus als Studienrat im Hochschuldienst eingestellt (später: akademischer Rat, Oberrat). Dort habilitierte er 1997 und wurde 2006 zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Aufenthalte an der State University of New York at Binghamton (1989) und an der Universität Erfurt (Vertretungsprofessur 2002–2003). Seine Forschungsgebiete sind die Wissenschaftstheorie, Technikphilosophie, Theoretische und Angewandte Ethik. Wichtigste Veröffentlichungen: Einführung in die formale Logik für Philosophen (5. Auflage 2016), Normenkonflikte (1998), Verbesserte Menschen (zusammen mit Karsten Weber, 2015), Ethische Konflikte zwischen Leben und Tod (2017).

272 https://doi.org/10.5771/9783495817223 .