Soziale Ungerechtigkeit: Analysen zu Lateinamerika 9783964563378

Mit verschieden weitgefasstem Begriffsverständnis und aus unterschiedlichen Blickwinkeln - Politik, Soziologie, Volkswir

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German Pages 276 Year 2002

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Soziale Ungerechtigkeit: Analysen zu Lateinamerika
 9783964563378

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Soziale Ungerechtigkeit: ein lateinamerikanisches Grundübel. Zu diesem Sammelband
Soziale (Un-)Gerechtigkeit: Begriffe und Sichtweisen
Frauen und soziale (Un-)Gerechtigkeit in Lateinamerika
Soziale Ungleichheit und Sozialstruktur in Lateinamerika
Soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika: weiterhin eine Herausforderung
Modernität und Prekarisierung. Die Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse in Lateinamerika
Neoliberalismus und soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika
Politökonomische Transformationsprozesse und Sozialpolitik in Lateinamerika
Soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika? Probleme demokratischen Regierens in der dritten Transition
Wege aus der Ungerechtigkeit? Antworten aus der Zivilgesellschaft
Politische Partizipation und Selbsthilfepotenziale. Die Armen in den Städten Chiles
Die Unterdrückten als Protagonisten. Indígenas als neue politische Akteure im mittleren Andenraum
Soziale Ungerechtigkeit und politische Gewalt. Why men and womert rebel
Soziale Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit in Zentralamerika
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Citation preview

Petra Bendel / Michael Krennerich (Hrsg.) Soziale Ungerechtigkeit

Analysen zu Lateinamerika

Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde - Hamburg Band 57

Petra Bendel / Michael Krennerich (Hrsg.)

Soziale Ungerechtigkeit Analysen zu Lateinamerika

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main 2002

Institut für Iberoamerika-Kunde - Hamburg

Verbund Stiftung Deutsches Übersee-Institut Das Institut für Iberoamerika-Kunde bildet zusammen mit dem Institut für Allgemeine Überseeforschung, dem Institut für Asienkunde, dem Institut für Afrika-Kunde und dem Deutschen Orient-Institut den Verbund der Stiftung Deutsches Übersee-Institut in Hamburg. Aufgabe des Instituts für Iberoamerika-Kunde ist die gegenwartsbezogene Beobachtung und wissenschaftliche Untersuchung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Lateinamerika. Das Institut für Iberoamerika-Kunde ist bemüht, in seinen Publikationen verschiedene Meinungen zu Wort kommen zu lassen, die jedoch grundsätzlich die Auffassung des jeweiligen Autors und nicht unbedingt die des Instituts darstellen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. (Schriftenreihe des Instituts für Iberoamerika-Kunde, Hamburg; Band 57) ISBN 3-89354-616-2

Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 2002 Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Konstantin Buchholz Gedruckt auf säure- und chlorfrei gebleichtem, alterungsbeständigen Papier Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis Petra Bendel / Michael Krennerich Soziale Ungerechtigkeit: ein lateinamerikanisches Grundübel. Zu diesem Sammelband

7

Michael Krennerich Soziale (Un-)Gerechtigkeit: Begriffe und Sichtweisen

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Linda Helfrich-Bernal Frauen und soziale (Un-)Gerechtigkeit in Lateinamerika

29

Heinrich-W. Krumwiede Soziale Ungleichheit und Klassenstruktur in Lateinamerika

57

Rolando Franco / Klaus Heynig Soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika: weiterhin eine Herausforderung 81 Jürgen Weller Modernität und Prekarisierung. Die Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse in Lateinamerika

114

Andreas Boeckh Neoliberalismus und soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika

137

Johannes Jäger Politökonomische Transformationsprozesse und Sozialpolitik in Lateinamerika

154

Dieter Nohlen Soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika? Probleme demokratischen Regierens in der dritten Transition

177

Petra Bendel Wege aus der Ungerechtigkeit? Antworten aus der Zivilgesellschaft

194

Jaime R. Sperberg Politische Partizipation und Selbsthilfepotenziale. Die Armen in den Städten Chiles

205

Andreas Steinhauf Die Unterdrückten als Protagonisten. Indígenas als neue politische Akteure im mittleren Andenraum

228

Michael Krennerich Soziale Ungerechtigkeit und politische Gewalt Why men and women rebel

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Martin Wolpold-Bosien Soziale Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit in Zentralamerika

260

Autorenverzeichnis

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Petra Bendel und Michael Krennerich

Soziale Ungerechtigkeit: ein lateinamerikanisches Grundübel Zu diesem Sammelband Die Diskussion um soziale Ungerechtigkeit kann nicht nur auf eine lange ideengeschichtliche Tradition zurückblicken, sondern sie ist auch hoch aktuell - gerade (aber nicht nur) in Lateinamerika. Soziale Ungerechtigkeit ist dort ein zählebiges Grundübel, das strukturelle Ursachen hat und - vor dem Hintergrund tiefgreifender Umbrüche von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in den 80er und 90er Jahren - die aktuellen politischen Systeme vor große Herausforderungen stellt. Der vorliegende Band greift das Thema der sozialen Ungerechtigkeit auf. Forscher und Forscherinnen vornehmlich der Politikwissenschaft, aber auch der Volkswirtschaft, der Soziologie und der Ethnologie, widmen sich ihm aus unterschiedlichen Blickwinkeln und zum Teil sogar mit einem verschieden weit gefassten Begriffsverständnis von sozialer (Un-)Gerechtigkeit. Auch unterscheiden sie sich hinsichtlich der Bewertung einzelner Aspekte, etwa den sozialen Folgen der in den einzelnen lateinamerikanischen Ländern in variierendem Maße und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit eingeführten neoliberalen Wirtschaftspolitiken. Ihnen allen aber ist gemein, dass sie in Phänomenen sozialer Ungerechtigkeit strukturelle Probleme lateinamerikanischer Gesellschaften erkennen, die sich in den aktuellen Umbruchphasen erneut Bahn brechen. Dabei verharrt keine(r) der Autorinnen in einer reinen Bestandsaufnahme sozialer Ungerechtigkeit; sie alle scheuen sich nicht, die politischen Implikationen des Problems herauszuarbeiten und Spielräume für politisches Handeln auszuleuchten. Implizit oder explizit wird die Politik in die Pflicht genommen, soziale Ungerechtigkeiten abzubauen, werden die politischen Perspektiven sozial benachteiligter Gruppen benannt. Mitunter sprechen die Autoren sogar offen Politikempfehlungen aus oder tragen normative Appelle vor. 7

Der Einleitungsbeitrag des Politikwissenschaftlers Michael Krennerich eröffnet den Band und fuhrt in Begriffe und Sichtweisen sozialer (Un-)Gerechtigkeit ein. Er plädiert für ein weites Begriffsverständnis, das sich auf die Verteilung sowohl materieller als auch immaterieller Güter bezieht. Demgemäß könne soziale (Un-)Gerechtigkeit vielfältige - sozioökonomische, ethnische, kulturelle, politische etc. - Dimensionen aufweisen. Der Artikel benennt Schnittpunkte zwischen „sozialer Ungerechtigkeit" und „sozialer Ungleichheit", ohne die beiden Begriffe gleichzusetzen. Nicht jede Erscheinung sozialer Ungleichheit sei auch sozial ungerecht. Hinsichtlich der Bewertung sozialer Ungleichheiten als gerecht/ungerecht bzw. legitim/illegitim unterscheidet der Autor normative und empirische Gerechtigkeitstheorien. Normative Ansätze zielten auf die Entwicklung wünschenswerter oder als gültig postulierter Gerechtigkeitsgrundsätze ab, empirische Ansätze hingegen erfassten die bestehenden Gerechtigkeitsauffassungen in den jeweiligen Gesellschaften. In beiderlei Hinsicht sei die lateinamerika-bezogene Diskussion unterentwickelt. Abschließend verknüpft der Autor die Gerechtigkeitsproblematik mit dem Menschenrechtsdiskurs und tritt für eine pragmatische, politik-orientierte Gerechtigkeitsdebatte ein, die sich an den grundlegenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten ausrichtet, wie sie in internationalen Abkommen niedergelegt sind. Diese stellten Mindestbedingungen sozialer Gerechtigkeit dar, ohne die es keine gerechte Ordnung gebe. Ein ebenfalls multidimensionales Verständnis von sozialer Gerechtigkeit liegt dem Beitrag der Politikwissenschaftlerin Linda Helfrich-Bernal zugrunde. Der Artikel untersucht die Geschlechterrelevanz verschiedener Dimensionen sozialer (Un-)Gerechtigkeit. Aus dem gen Jer-Blickwinkel beleuchtet er das Problem als ökonomische, als politische und als kulturelle Benachteiligung. Die theoretische Bedeutung des Beitrags besteht u.a. darin, dass die Autorin über die Kategorie gender die Bereiche Ökonomie, Politik und Kultur verknüpft - Bereiche, die in der Gerechtigkeitsdebatte oft getrennt voneinander behandelt werden. Empirisch werden aus der Geschlechterperspektive sozioökonomische Aspekte wie Bildung, Armut, Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Sozialleistungen thematisiert. Die politische Perspektive erfasst u.a. Diskriminierungsverbote, Frauenwahlrecht, Quotengesetze, die Beteiligung von Frauen an der politischen Macht und den Einsatz von Frauen für Menschenrechte. In kultureller Hinsicht stehen Diskriminierungen schwarzer und indigener Frauen im Mittelpunkt. Der Beitrag beschränkt sich nicht nur auf eine Bestandsaufnahme der Benachteiligung von Frauen, sondern geht vor allem auch auf die gesellschaftspolitischen Bemühungen von Frauen(-organisationen) ein, die sozialen Ungerechtigkeiten in ihren verschiedenen Dimensionen zu überwinden. Der Artikel endet mit einem Ausblick auf die Perspektiven lateinamerikanischer Frauenpolitik für mehr soziale Gerechtigkeit. Die nachfolgenden Aufsätze fokussieren ausgewählte Dimensionen und Probleme sozialer Ungerechtigkeit. Der Schwerpunkt liegt hierbei auf soziostruktu8

relien und sozioökonomischen Aspekten, die in der gegenwärtigen Diskussion zu Lateinamerika am stärksten diskutiert werden. Heinrich W. Krumwiede, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Augsburg und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, trägt anregende Überlegungen zur Konzipierung einer der sozialen Realität Lateinamerikas angemessenen Sozialstrukturanalyse vor. Deren Aufgaben seien: zum einen das Schichtungsgefüge der sozialen Ungleichheit in seinen „objektiven" wie „subjektiven" Dimensionen aufzuzeigen und dessen Bestimmungsgründe offen zu legen; zum anderen sozialstrukturelle Formationen und Prozesse im Hinblick auf ihre politischen Folgen zu untersuchen und die politischen Möglichkeiten zur Veränderung von Ungleichheitskonstellationen auszuloten. Der Beitrag ist Forschungsprogramm und Analyse in einem. Krumwiede entwirft anhand der verfügbaren, lückenhaften Daten zu Lateinamerika eine Skizze der sozial ungleichen Sozialstrukturen - ihrer Charakteristika, Bestimmungsgründe und Wandlungen. Dabei diskutiert er im Detail u.a. die Erhebungen der UNWirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Comisión Económica para América Latina y el Caribe, CEP AL). Abschließend geht der Artikel auf die politischen Implikationen der lateinamerikanischen Sozialstrukturen ein. Bei aller Skepsis gegenüber der Organisations- und Bündnisfahigkeit sozial unterprivilegierter Schichten sieht der Autor, dank der (Re-)Demokratisierung des Subkontinents, Anlass zu einem „partiellen Zukunftsoptimismus": Die Wahlstimme sei eine nicht gering zu schätzende politische Ressource sozial Unterprivilegierter. Rolando Franco und Klaus Heynig - der eine Direktor, der andere wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für Soziale Entwicklung der CEPAL in Santiago de Chile - geben einen Überblick über die Entwicklung des Wirtschaftswachstums, der Arbeitsverhältnisse und der Armut gegen Ende des 20. Jahrhunderts in Lateinamerika und widmen sich dann gezielt der extrem ungleichen, regressiven Einkommensverteilung. Sie stellen fest, dass die Art und Weise, in der das Wirtschaftswachstum in Lateinamerika erzielt wird, in den meisten Fällen nicht geholfen habe, die Ungleichheiten zu mindern, welche die Region schon immer prägten. Allerdings resultierten die Probleme nicht aus dem aktuellen Entwicklungsmodell. Ihnen lägen vielmehr grundlegende strukturelle Ursachen zugrunde. Weltwirtschaftliche Entwicklungen träfen hier mit spezifischen, kurzfristig nicht veränderbaren Faktoren zusammen, welche die Einkommenskonzentration erklärten: u.a. die höchst ungleiche Vermögensverteilung und nicht zuletzt die Bildung. Auch wirkten sich ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht und Alter auf die soziale Lage der Menschen aus. Abschließend diskutieren die beiden Autoren die Perspektiven der Politik - und hierbei vor allem der Sozialpolitik, die drei Hauptfunktionen zu erfüllen habe: die Schaffung von human capital, die Förderung sozialen Ausgleichs sowie einen Beitrag zur Integration der Individuen in die Gesellschaft. Die Autoren machen deutlich, dass

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für sie Wirtschaftswachstum, Demokratie und Abbau sozialer Ungerechtigkeiten eng zusammengehören. Der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Weller, in der Abteilung für Wirtschaftliche Entwicklung der CEPAL in Santiago de Chile beschäftigt, legt in differenzierter Form die Heterogenität der Beschäftigungsverhältnisse in Lateinamerika dar. Aufbauend auf einer Skizze der Entwicklung seit den 50er Jahren untersucht er, inwieweit aktuelle globale technologische, wirtschaftliche, politische und soziale Prozesse eine weitere Heterogenisierung auf den Arbeitsmärkten nach sich ziehen und welche Ausprägungen diese empirisch in Lateinamerika aufweisen. Er stellt eine polarisierte Entwicklung der Beschäftigungsstruktur fest: Einerseits schafften expandierende oder sich modernisierende Branchen neue Arbeitsplätze, vornehmlich für qualifizierte Arbeitskräfte; andererseits entstehe der Großteil der neuen Arbeitsplätze in wenig produktiven Bereichen und verschlechterten sich in verschiedenen Hinsichten die Bedingungen für Lohnarbeit. Die Heterogenisierung der aktuellen Umbruchphase fände auf der Grundlage historisch gewachsener „struktureller Heterogenität" statt und führte - in Verbindung mit einer extrem ungleichen Einkommensverteilung und einer schwach ausgeprägten gesellschaftlichen Kohäsion - zu sozialer Exklusion bedeutender Teile der Bevölkerung und zu gesellschaftlichen Zerfallsprozessen. Der Politik empfiehlt der Autor, den negativen Aspekten dieser Heterogenisierung entgegenzuwirken. Jenseits der Sachzwänge des Weltmarktes bestünden politische Spielräume, um die Teilhabe der Bevölkerung am Wirtschaftswachstum zu fordern, die Bildung und Ausbildung der Menschen zu verbessern und arbeitsmarktrelevante Institutionen zu reformieren. Der Beitrag des Tübinger Professors für Politikwissenschaft Andreas Boeckh behandelt den viel diskutierten Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und sozialer (Un-)Gerechtigkeit in Lateinamerika. Der Autor tritt populären Polemiken entgegen, die den Übergang zu einem stärker marktorientierten Wirtschaftsmodell - ungeachtet seiner unterschiedlichen Ausprägungen - als sozial ungerecht geißeln. Dabei erfolgte in Lateinamerika, so Boeckh, die aktuelle Transformation zur Marktökonomie nur in wenigen Fällen nach einem strikt neoliberalen Muster, das ohnehin nicht mehr in Reinform vertreten werde. Der Autor sieht auch keine Belege dafür, dass die mehr oder minder radikale Umstellung auf eine Marktsteuerung in den 90er Jahren zu einer Verschärfung der sozialen Krise des Subkontinents geführt habe. Allerdings habe sie auch nicht zum Abbau der historisch gewachsenen sozialen Polarisierung beigetragen. Dies sei jedoch nicht Aufgabe des Marktes, sondern der Sozialpolitik, die nicht zuletzt deswegen versage, weil die Politik den alten klientelistischen Legitimationsmustern und den Verteilungsvorstellungen der Eliten verhaftet bleibe. Hinzu seien externe Schocks gekommen, welche die Wohlfahrtsgewinne aufgebraucht hätten. Insgesamt wird deutlich, dass der Autor - gerade auch angesichts des Scheiterns des alten Entwicklungsmodells der Staatssteuerung und der Binnenorientierung - keine tragfähige Alternative zur Marktwirtschaft in Lateinamerika 10

sieht, aber die Politik in die Pflicht nimmt, mittels einer effektiven und zielgerichteten Sozialpolitik zum Abbau von sozialer Ungerechtigkeit beizutragen. Das Thema der Sozialpolitik greift der Volkswirt Johannes Jäger auf, der wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien ist. Er stellt die Entwicklung der Sozialpolitik in Lateinamerika vor dem Hintergrund der sich verändernden politökonomischen Strukturen und den damit einhergehenden Interessenkonstellationen und Machtverhältnissen dar. Dabei kombiniert er den Überblick über die gesamte Region mit vertiefenden Analysen zu den beiden sozialpolitischen „Pionierstaaten" Chile und Uruguay. Der Beitrag zeigt zunächst die sozialpolitischen Anfange im 20. Jahrhundert und den massiven Ausbau der Sozialpolitik in der anschließenden peripherfordistischen Phase (1930-80) auf, bevor er sich der politischen Ökonomie der aktuellen Transformationsphase widmet, die im Rahmen einer tiefen ökonomischen Krise zu Beginn der 80er Jahre einsetzte. Die sozialpolitischen Umbrüche - in Chile früher und radikaler als in anderen Ländern - werden kritisch beleuchtet, ihre Auswirkungen werden problematisiert. Dabei wird deutlich, dass der Autor die neoliberalen Politiken weit negativer bewertet als zuvor Boeckh. Theoretisch bedeutsam ist, dass Jäger zeigt, wie eng Sozialpolitik mit dem jeweiligen Entwicklungsmodell und der Ausgestaltung des Verhältnisses von Staat, Ökonomie und Gesellschaft verbunden ist - und wie sehr sie durch gesellschaftspolitische Akteure beeinflusst wird. Die Herausbildung eines neuen kollektiven Bewusstseins und neuer kollektiver Akteure, die sich - quasi anlog zur einstigen Arbeiterklasse - formieren, sind Jäger zufolge eine Voraussetzung für substanzielle Veränderungen hin zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Der Heidelberger Professor für Politische Wissenschaft Dieter Nohlen behandelt den komplexen Zusammenhang zwischen Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. Aufgezeigt wird zunächst die Diskrepanz zwischen demokratischer, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung in Lateinamerika seit der Redemokratisierung. Auf politischer Ebene sei die Demokratie inzwischen etabliert, auf makroökonomischer Ebene eine Erholung eingetreten, die soziale Entwicklung aber hinke hinterher. Die sozialen Missstände würden - obwohl ererbt oder kontingent - der Demokratie selbst angelastet, was sich auf die Legitimität des politischen Systems auswirke und die Demokratiekritik nähre. Eine Krise der Demokratie leitet der Autor daraus nicht ab; vielmehr erkennt er eine Krise demokratischen Regierens in der Phase des Übergangs; sie sei Folge der Ungleichzeitigkeiten in der politisch-institutionellen und der politisch-kulturellen Entwicklung während der Transition von einem staatszentrierten zu einem pluralistischen Politikmodell. Diese „dritte Transition" - nach der politischen hin zur Demokratie und der wirtschaftlichen hin zu mehr Markt - sei politikwissenschaftlich bisher wenig beachtet worden, obgleich sie für die Demokratieentwicklung in Lateinamerika und für die Frage der sozialen Gerechtigkeit von großer Bedeutung sei. Mit ihr breche die traditionelle Fixierung der Politik auf den (aufgeblähten und ineffizienten) Staat auf, dessen Institutionen es traditio11

nell zu kontrollieren galt, um öffentliche Ressourcen in klientelistischer und populistischer Manier zu verteilen. Infolge der „Entstaatlichung der Politik" sieht Nohlen die Chance, dass anstelle der Befriedigung von Partikularinteressen Handlungsmaxime treten, die sich am Gemeinwohl orientieren. Die Ablösung des alten Politikmodells stelle eine „kreative Übergangsphase" dar, die aber nicht frei sei von Paradoxien, Reformbedarf und von Gefahren ftir die Demokratie. Die Politikwissenschafitlerin Petra Bendel, Geschäftsführerin des Zentralinstituts für Regionalforschung der Universität Erlangen-Nürnberg, argumentiert in ihrem Beitrag zur Zivilgesellschaft, dass die im Rahmen der Demokratisierung mittlerweile vielfaltig organisierten zivilgesellschaftlichen Gruppen nicht als Heilsbringer sozialer Gerechtigkeit betrachtet werden dürfen. Zwar seien deren Strategien der politischen Einflussnahme über policy networks und „runde Tische" oft eleganter und flexibler als manch' traditionelle Wege, Politik zu betreiben. Auch trügen sie Sachverstand in die politische Arena und brächten Interessen sozialer Gerechtigkeit zum Ausdruck, ja, übernähmen vormals vom Staat getragene Kompetenzen. Dennoch: Der Autorin zufolge stehen bereits die Eigenheiten dieser Organisationen selbst (Fragmentierung, Personalismus, schwache Vernetzung und Bündnisfähigkeit etc.) deren politischen Durchsetzungsfähigkeit entgegen. Erschwert werde diese noch durch die marktwirtschaftlichen Bedingungen, die ehemals geeintes, politisches und soziales Protestpotenzial entlang neu entstehender Konfliktlinien voneinander spalteten. Weiterhin bestehe die traditionelle Asymmetrie zugunsten ressourcenstarker Verbände fort, und die staatlichen Antworten auf Forderungen der Zivilgesellschaft seien nicht immer progressiv. Daher fordert der Beitrag, den zivilgesellschaftlichen Akteuren ausreichende und faire Partizipationschancen einzuräumen und in einen verlässlichen Dialog mit den von den sozialpolitischen Umbrüchen Betroffenen zu treten. Umgekehrt müssten die zivilgesellschaftlichen Gruppen ihrerseits die Anbindung an die politischen Parteien als denjenigen Organisationen suchen, die für die Übersetzung der sozialpolitischen Interessen in die politische Arena zuständig sind. Ebenfalls mit der Zivilgesellschaft beschäftigt sich der Politikwissenschaftler Jaime R. Sperberg. Auf der Basis einer empirischen Untersuchung in chilenischen Slum- und s^waiter-Siedlungen untersucht er Kontextbedingungen und Erklärungsfaktoren für die politische Partizipation von Armen in den Städten. Besondere Aufmerksamkeit wird den sich verändernden Beziehungsmustern zwischen Staat und pobladores zuteil. Der Autor stellt fest, dass sich in den 90er Jahren unter demokratischen Vorzeichen in der Tat zivilgesellschaftliche Organisationen herausbildeten, sich aber vor dem Hintergrund neoliberaler Muster fragmentierten. Die Wahrnehmung der Stadtteilorganisationen und ihrer soziopolitischen Betätigung jedoch variiere je nach sozialer Schichtung sehr stark. Wenngleich sich unter den pobladores eine allgemein prodemokratische Werthaltung feststellen lasse, kontrastiere diese mit einer negativen Bewertung offenbar als wenig responsiv eingeschätzter staatlicher Institutionen und politi12

scher Parteien. Sperbergs Untersuchung lässt eine Typologisierung verschiedener, in unterschiedlichem Maße erfolgreicher politischer Aktivitäten und Strategien unter den Selbsthilfegruppen Chiles zu. Es zeigt sich, dass sich innerhalb der städtischen Armen eine große Vielfalt an politischen Einstellungs- und Partizipationsformen nachweisen lässt. Sperberg fordert abschließend von der Politik, politische Partizipationsformen der städtischen Armen stärker zu institutionalisieren und dabei deren Selbsthilfepotenziale und Bürgerrechte ernster zu nehmen. Der Ethnologe Andreas Steinhauf, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg, widmet sich den indígenas im mittleren Andenraum (Bolivien, Ekuador, Peru). Dabei verharrt er nicht in der Analyse der - weithin bekannten - Unterdrückung und Diskriminierung indigener Bevölkerungsteile in Lateinamerika, sondern zeigt auf, wie die indígenas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusehends als Protagonisten des sozialen Wandels in Erscheinung traten. Erläutert wird, wie ausgehend von einer massiven Binnenmigration die indígenas zunächst die Urbanisierungsprozesse im mittleren Andenraum bestimmten und von dort gesellschaftliche Bereiche besetzten, die ihnen vormals verwehrt waren. Dabei schufen sie neue wirtschaftliche Räume, vor allem im informellen Sektor, und bildeten soziale Netzwerke heraus, die gesellschaftsbildend wirkten. Der Autor legt dar, wie die indigenen Bewegungen - zum Teil in gewaltsamer Auseinandersetzung mit dem Staat sich schließlich auch als eine politische Kraft etablierten, die heute in den labilen politischen Regimen der mittleren Andenregion eine nicht zu vernachlässigende Rolle spielt. Dabei agieren, so Steinhauf, die indígenas nicht mehr nur innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens, sondern zusehends auch international. Indigene Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit seien mittlerweile globalisiert. Alles in allem wirft der Beitrag den Blick auf die neue Protagonistenrolle der traditionell unterdrückten indígenas in Bolivien, Ekuador und Peru. Der zweite Beitrag von Michael Krennerich in diesem Band ist - wie bereits der erste - methodisch-konzeptioneller Art. Aufbauend auf der Unterscheidung zwischen Gewaltverhältnissen und Gewalttaten sowie zwischen verschiedenen Erscheinungsformen der Gewalt widmet sich der Artikel dem Zusammenhang zwischen sozialer Ungerechtigkeit und politischer Aufstandsgewalt. Der Beitrag zeigt, illustriert am Beispiel Zentralamerikas, dass die Entstehung revolutionärer Unruhen nicht nur von Art und Ausmaß sozialer Missstände abhängt, sondern auch davon, wie diese wahrgenommen, bewertet und verarbeitet werden, über welche Organisations- und Handlungsressourcen die Akteure jeweils verfügen und welche alternativen Orientierungs- und Handlungsformen ihnen zur Verfugung stehen, um wahrgenommene Missstände zu beheben oder deren Behebung einzufordern. Der Autor legt dar, dass die Gerechtigkeitsvorstellungen in einer Gesellschaft für die Entfaltung sozialer Konflikte insofern von großer Bedeutung sind, als sie in die Bewertung „objektiver" sozialer Ungleichheiten einfließen und die Frage berühren, welche Handlungs- und Konfliktaustragungsformen 13

die jeweiligen Akteure als legitim erachten. Zurzeit sieht der Autor wenig Anzeichen dafür, dass sich die - in Lateinamerika weit verbreitete - soziale Unzufriedenheit in politische Aufstandsgewalt umsetzt, wie dies in Zentralamerika vor allem in den 80er Jahren der Fall war. Soziale Konflikte hätten inzwischen einen gut Teil ihrer Politik- oder zumindest Staatsbezogenheit verloren, verliefen nunmehr politisch weniger strukturiert und drückten sich eher in einer depolitisierten, „veralltäglichten" Gewalt aus. Abgeschlossen wird der Band mit einem Beitrag von Martin Wolpold-Bosien, Koordinator für Mittelamerika und Mexiko von FIAN-International - einer internationalen Menschenrechtsorganisation, die für die Durchsetzung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte (WSK-Rechte) eintritt, besonders des Rechts auf Nahrung bzw. sich zu ernähren. Der Aufsatz mit dem Titel „Soziale Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit in Zentralamerika" schließt den Kreis zu dem Einleitungsbeitrag, in dem bereits Gerechtigkeits- und Menschenrechtsdiskurs verbunden wurden. Der Autor zeichnet die neue Debatte über die WSKRechte und die aus den Menschenrechten resultierenden Staatenpflichten nach und veranschaulicht an zentralamerikanischen Beispielen die staatlichen Respektierungs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten bezüglich des Rechts auf Nahrung. Abschließend plädiert Wolpold-Bosien für einen entwicklungspolitischen Perspektivenwechsel von basic needs hin zu basic rights, von Grundbedürfnissen zu Grundrechten. Der menschenrechtliche Ansatz betont in diesem Sinne, dass Menschen, die ihre Grundbedürfnisse nicht stillen können, nicht nur als Bittsteller auftreten, sondern als Menschen, die legitimerweise die Respektierung, den Schutz und die Gewährleistung ihrer Rechte einfordern. Armutsorientierung nationaler und internationaler Politiken sei unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten nicht nur eine politische Zielvorgabe, sondern zugleich eine völkerrechtliche Verpflichtung. In den staatlichen Verpflichtungen gegenüber den WSK-Rechten, so schließt der Autor, stecke das Potenzial, zur Schaffung eines Mindestmaßes an sozialer Gerechtigkeit beizutragen. Der Sammelband erhebt selbstverständlich nicht den Anspruch, das große Thema der sozialen Ungerechtigkeit in Lateinamerika umfassend, geschweige denn abschließend zu behandeln. Es sei nicht verschwiegen, dass einige Bereiche, die den Herausgebern am Herzen lagen, nicht abgedeckt werden konnten, allen voran die soziale Lage von Kindern. Gleichwohl hoffen Herausgeber und Autoren, fundierte Beiträge und neue Sichtweisen zu präsentieren, die eine Diskussion um soziale Ungerechtigkeit in Lateinamerika aufrechterhalten und vorantreiben. Dies ist nötiger denn je - nicht allein, weil die sozialen Probleme in Lateinamerika so gravierend sind, sondern auch, weil hierzulande das öffentliche Interesse an dem Subkontinent im Sinken begriffen ist. Gerade in der akademischen Landschaft ist die Ignoranz groß und wird die Expertise zu Lateinamerika, ja zur „Dritten Welt" allgemein, kaum mehr gefragt. Umso mehr bedanken sich die Herausgeber bei den Autoren für ihre Bereitschaft, an dem Band mitzuwirken. Denn so unterschiedlich auch die in dem Buch vertretenen Ansich14

ten sein mögen: Herausgebern und Autoren ist die Sorge um Lateinamerika und seinen Menschen gemein. Die Idee für den vorliegenden Band geht auf ein Kolloquium zum Thema Soziale (Un-)Gerechtigkeit zurück, das die Sektion Lateinamerika des Zentralinstituts für Regionalforschung der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg im Wintersemester 2000/01 veranstaltete. Eine Auswahl der Vorträge wurde für diesen Band zusammengetragen und um eine Reihe weiterer Beiträge ergänzt; der Band wurde in Zusammenarbeit mit dem Institut für IberoamerikaKunde in Hamburg veröffentlicht. Jens Urban und Nina Grabe übernahmen dankenswerterweise das Layout des Buches. Der Stiftung Wirtschaft und Gesellschaft e. V. in Erlangen sei herzlich für die finanzielle Unterstützung der Veröffentlichung gedankt.

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Michael Krennerich

Soziale (Un-)Gerechtigkeit: Begriffe und Sichtweisen „Vieles nennt man gerecht oder ungerecht: nicht nur Gesetze, Institutionen und Gesellschaftssysteme, sondern auch die verschiedensten Handlungen, z.B. Entscheidungen, Urteile und moralische Bewertungen. Auch Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen wie auch diese selbst, nennt man gerecht oder ungerecht. Wir haben es aber mit der sozialen Gerechtigkeit zu tun. Für uns ist der erste Gegenstand der Gerechtigkeit die Grundstruktur der Gesellschaft, genauer: die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen."

Mit diesen Worten begann John Rawls (1990: 23) in seinem Buch A Theory of Justice das einleitende Kapitel über den Gegenstand der Gerechtigkeit. Im Folgenden entwickelte der Philosophieprofessor aus Harvard, anknüpfend an die vertragstheoretischen Reflexionsformen der politischen Philosophie der Neuzeit, auf einigen hundert Seiten eine komplexe Gerechtigkeitstheorie. Die Behauptung, Rawls hätte damit zur Wiedergeburt oder Renaissance der politischen Philosophie beigetragen, mag zwar übertrieben sein. Doch immerhin wurde seine Gerechtigkeitstheorie unter dem Label „egalitärer Liberalismus" als anspruchsvoller philosophischer Ausdruck eines „sozialliberalen politischen Programms" (Kersting 1993: 21) verstanden, das die Gewährung grundlegender Freiheiten mit weitreichenden sozialstaatlichen Grundsätzen verbindet, allerdings unter dem Vorrang der Freiheit1. Nun soll an dieser Stelle weder der normative Rawlsche Entwurf (einmal mehr) diskutiert noch die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte (erneut) aufgegriffen werden, die sich an Rawls Gerechtigkeitstheorie entzündete. Und schon gar nicht soll Rawls auf Lateinamerika angewandt werden. Der vorliegende Beitrag möchte zunächst nur aufzeigen, wie der Begriff der sozialen

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Zur genauen Formulierung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze und der damit verbundenen Vorrangsregeln siehe Kapitel 46, und hier Rawls 1990: 336f.

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(Un-)Gerechtigkeit verwandt und diskutiert wird. Zur Umschreibung unseres Gegenstandes bietet Rawls dabei eine erste Hilfe, denn er hebt ausdrücklich auf soziale Gerechtigkeit ab. Wenn wir von „sozialer Gerechtigkeit" sprechen, geht es uns nämlich nicht um den personalen, individuellen Sinn von Gerechtigkeit, mittels dessen wir die Attribute „gerecht" oder „ungerecht" einzelnen Personen oder Handlungen zuschreiben. Und schon gar nicht beschäftigt uns der religiöse oder metaphysische Sinn von Gerechtigkeit, demgemäß z.B. das Schicksal oder der Weltenlauf als gerecht oder ungerecht erachtet werden. Unser Gegenstand ist die „soziale Gerechtigkeit", die als moralische Leitidee dafür dient, wie die gesellschaftlichen Institutionen und Systeme innerhalb eines Gemeinwesens materielle und immaterielle Güter verteilen 2 . Das Feld entsprechender Institutionen und Systeme ist naturgemäß weit - und reicht von Ehe und Familie bis hin zu Wirtschaft, Staat und Politik3. Nicht minder weit ist der Bereich der zu verteilenden Güter. Moderne Gesellschaften stellen sich immerhin „[...] als komplizierte Verteilungsapparate dar, die ihren Mitgliedern vielerlei Güter zuteilen: Rechte und Pflichten, Ansehen, Macht und Sicherheit, Freiheit, Bildung und Berufschancen, Einkommen, Unterstützung und Selbstachtung, und die durch die Zuteilung dieser Güterbündel die Entwicklungsmöglichkeiten und Lebensaussichten der Individuen entscheidend prägen." (Kersting 1997: 92)

Derart umfassend verstanden, berührt die Frage der sozialen Gerechtigkeit nicht nur die materiellen sozioökonomischen Dimensionen der Gerechtigkeit, wie etwa die höchst ungleiche Einkommens- und Besitzverteilung in Lateinamerika, sondern auch die Verteilung immaterieller bzw. ideeller Güter und Vorteile, „[...] wie Macht, Sicherheit, gesellschaftliche Anerkennung, vielleicht auch Selbstachtung, nicht zuletzt Freiheiten und Chancen zur Selbstverwirklichung" (Höffe 1995: 147) 4 . Auch in diesem Sinne liegt die Verteilungsgerechtigkeit in 2

An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich den Begriff des Sozialen in einem weiten Sinne verwende, den Begriff des Politischen aber in einem engen, eher systemtheoretischen Sinne, demgemäß das politische System ein Teilsystem der Gesellschaft ist. Anders ausgedrückt: Das Soziale fungiert hier als Oberbegriff, der sich auf das gesellschaftliche Zusammenleben von Menschen bezieht und als solcher auch das Politische umfasst. In diesem Sinne stellt sich die Politikwissenschaft als eine Sozialwissenschaft dar. Würde ich stattdessen einen weiten Politikbegriff anlegen, der das Soziale als Teilaspekt des Politischen ansieht, dann würde mein Artikel im Wesentlichen von politischer Gerechtigkeit handeln.

3

Rawls selbst beschränkt sich auf die „Grundstruktur der Gesellschaft" und damit auf die „wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen". Zum Institutionenbegriff bei Rawls siehe Kapitel 2 seiner Theorie der Gerechtigkeit (Rawls 1990: 74f.).

4

Rawls (1990: 83) betrachtet als die hauptsächlichen Grundgüter der Gesellschaft, die es zu verteilen gilt: Rechte, Freiheiten und Chancen, Einkommen und Vermögen. Später nimmt er auch das Grundgut der Selbstachtung hinzu. Bei Gütern wie Gesundheit und Lebenskraft, Intelligenz und Phantasie handle es sich hingegen um natürliche Güter, die von der Grundstruktur der Gesellschaft nur mittelbar beeinflusst würden.

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Lateinamerika im Argen. Daher stellt sich der Kampf um soziale Gerechtigkeit auf dem Subkontinent nicht nur als ein Kampf um materielle Ressourcen dar, sondern auch, wie Linda Helfrich-Bernal in ihrem Beitrag für diesen Band herausstreicht, als ein Kampf um politische und soziale Rechte sowie als Kampf gegen die kulturelle Beherrschung und gesellschaftliche Diskriminierung von Minderheiten. Dabei ist auch und gerade in Lateinamerika offenkundig, dass die Verteilung materieller und immaterieller Güter empirisch betrachtet eng miteinander zusammen hängen und sich gegenseitig bedingen. Kurz: Es bestehen Wechselwirkungen. Nun ist zu beachten, dass Sozialwissenschaftlerlnnen, die sich mit sozialer Ungerechtigkeit in Lateinamerika beschäftigen, in der Regel nicht alle gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Institutionen in den Blick nehmen und auch nicht die Verteilung aller oben genannten Güter thematisieren. Die meisten Autoren heben auf die politisch umstrittene Einkommens- und Besitzverteilung und auf die klassischen Bereiche der Sozialpolitik ab. Dies hat verschiedene Gründe: Politisch betrachtet, stehen gegenwärtig die Wirtschaftsordnung und die Wirtschafts- und Sozialpolitik im Zentrum der Debatte über soziale (Un-)Gerechtigkeit in Lateinamerika. Die Diskussion speist sich ganz wesentlich aus der Kritik am Neoliberalismus und seinen sozialen Folgen. Die Menge entsprechender Publikationen ist groß und stammt nicht nur aus der Feder ausgewiesener linker Sozialwissenschaftlerlnnen. Stellvertretend sei hier ein kürzlich erschienener Sammelband mit dem Titel „Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit für Lateinamerika" genannt (Jiménez Carvajal u.a. 2000). Forschungspragmatisch betrachtet, ist es zudem leichter, die materiellen Dimensionen sozialer (Ungerechtigkeit zu erfassen als die immateriellen, die sich schwerer operationalisieren lassen. Und schließlich wird aus analytischen Gründen der Begriff „sozial" oft enger gefasst als dies im soziologischen und sozialethischen Sprachgebrauch üblich ist (wo „sozial" in Abgrenzung zu „individuell" oder „natürlich" benutzt wird und sich auf das gesellschaftliche Zusammenleben von Menschen bezieht). Gerade in der politikwissenschaftlichen Diskussion zielt der Begriff „sozial" vorrangig auf sozioökonomische und sozialpolitische Aspekte ab, in Abgrenzung etwa zu rein wirtschaftlichen, politischen, ethnischen und kulturellen Problemen. An der politisch und analytisch begründeten Fokussierung verschiedener Autoren auf die materiellen sozioökonomischen Dimensionen sozialer Gerechtigkeit muss sich allerdings keine akademische Wortklauberei entzünden, zumindest dann nicht, wenn durch eine enge Begriffswahl nicht der Blick für ein hier eingefordertes - umfassendes Verständnis von sozialer Gerechtigkeit verstellt wird. Allerdings sollte stets deutlich werden, wie der Begriff der sozialen Gerechtigkeit jeweils verwandt wird und auf welche Dimensionen und Güter er sich jeweils bezieht. Wird er - wie in der sozialphilosophischen Diskussion üblich - in einem weiten Sinn benutzt und umfasst er ein breites Bündel materiel18

ler wie immaterieller Güter und damit auch vielfaltige (politische, sozioökonomische, kulturelle etc.) Dimensionen sozialer Gerechtigkeit? Oder liegt ein engeres Begriffsverständnis zu Grunde, das sich nur auf einzelne, z.B. sozioökonomische Dimensionen der sozialen Gerechtigkeit beschränkt?

Soziale Ungleichheit und soziale Ungerechtigkeit Sozialwissenschaftliche Studien, die sich mit sozialer Ungerechtigkeit in Lateinamerika beschäftigen, setzen in der Regel an der ausgeprägten sozialen Ungleichheit in der Region an. Es erscheint mir daher angebracht, kurz auf den Begriff der sozialen Ungleichheit einzugehen, der ebenfalls unterschiedlich weit oder eng gefasst wird. Der Soziologe Stefan Hradil (1999: 26) bietet uns folgende Definition an: Soziale Ungleichheit liege dann vor, „[...] wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefiigen von den , wertvollen Gütern' einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten". So einfach die Definition klingt, sie beinhaltet dem Verständnis von Hradil (1999: 24ff.) zufolge bereits einige wichtige systematische Gesichtspunkte: Der Begriff „soziale Ungleichheit" bezieht sich, erstens, auf die Verteilung von Gütern, die innerhalb einer Gesellschaft als wertvoll gelten. Der Grad der Verfügbarkeit dieser gesellschaftlich wertvollen Güter bestimmt dabei nicht einfach wertneutrale soziale Unterschiede, sondern impliziert immer auch ein Besser- oder Schlechter-, Höher- oder Tiefergestelltsein in sozialen Hierarchien. Die Verteilung dieser Güter ist, zweitens, ungleich, wobei die soziologische Terminologie primär auf die absolute Verteilung abzielt (z.B. absolute Einkommensunterschiede) und nicht auf die relative (z.B. weniger Einkommen für dieselbe Arbeit). Schließlich liegt die ungleiche Verteilung in der gesellschaftlichen Stellung von Menschen begründet. Die soziale Ungleichheit ist daher, zumindest analytisch, nicht gleichzusetzen mit natürlichen, individuellen oder momentanen bzw. vorübergehenden Ungleichheiten, auch wenn entsprechende Wechselwirkungen vorliegen. Es liegt auf der Hand, dass unterschiedliche Güter in unterschiedlichen Gesellschaften als unterschiedlich „wertvoll" gelten können. Hradil (1999: 27) zufolge gibt es allerdings drei Basisdimensionen sozialer Ungleichheit, die sich unbeschadet ihrer unterschiedlichen Ausprägungen und Gewichtungen - in allen bekannten Gesellschaften finden lassen. Hierzu gehörten: materieller Wohlstand, Macht und Prestige. Hinzu komme spätestens mit der Herausbildung von Wissens- und Informationsgesellschaften die Bildung als vierte Basisdimension. Diese grundlegenden Dimensionen sozialer Ungleichheit beeinflussten in hohem Maße die Realisierung gesellschaftlich anerkannter Werte und Zielvorstellungen 5 .

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Die bessere oder schlechtere Stellung eines Menschen bezüglich der verschiedenen Dimension sozialer Ungleichheit wird von Soziologen üblicherweise als „Status" bezeichnet (Wohlstand-, Macht-, Prestige-, Bildungsstatus etc.). Die Statusverteilung wiederum wird

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Nun ließe sich darüber streiten, ob die genannten Basisdimensionen so zutreffen und vor allem ausreichen, denn selbstverständlich gibt es vielfaltige Möglichkeiten, gesellschaftlich wertvolle Güter zu erfassen und zu gewichten. Wichtig ist mir aber an dieser Stelle, dass auch der soziologische Begriff der sozialen Ungleichheit - ähnlich wie der sozialphilosophische Begriff der sozialen Ungerechtigkeit - mit der Verteilung gesellschaftlicher „Güter" arbeitet und dass er dabei nicht nur auf materielle Güter abhebt. Mit Macht, Prestige und Bildung sind beispielsweise einige grundlegende immaterielle Güter benannt, die auch in den Begriff der sozialen Gerechtigkeit einfließen. Und obwohl Hradil weder die ungleiche Verteilung von Rechten, Freiheit(en) und Sicherheit(en) noch den Aspekt der Selbstachtung thematisiert, ist doch festzuhalten, dass der soziologische Begriff der „sozialen Ungleichheit" eine sinnvolle Ausgangsbasis für empirische Untersuchungen zur sozialen Ungerechtigkeit bilden kann. Denn bei der Frage der sozialen Gerechtigkeit geht es just um die Verteilung jener „wertvollen" materiellen und immateriellen Güter, die sich prinzipiell auch über den Begriff der sozialen Ungleichheit erfassen lassen. Allerdings sei auch an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass etliche Sozialwissenschaftler ihre Untersuchungen zur sozialen Ungleichheit im Wesentlichen auf - leicht operationalisierbare - materielle Güter (Einkommen- und Besitzverteilung etc.) fokussieren und die immateriellen bzw. ideellen Güter mitunter ausblenden. Alles in allem gilt aber, dass die soziologischen Begriffe und Konzepte, mittels derer soziale Ungleichheit erfasst und strukturiert wird (Status, Stände, Klassen, Schichten, Lebenslagen, Milieus etc.), geeignete Ansatzpunkte bieten, um das Problem der sozialen Gerechtigkeit „überindividuell" zu diskutieren. Denn die Diskussion über soziale Gerechtigkeit ist darauf angewiesen, Individuen gemäß ihrer sozialen Positionen zu gruppieren, zumindest sofern entsprechende Gerechtigkeitstheorien nicht nur präferenzindividualistisch ausgelegt sind6. Erst so ergibt sich eine hinreichend allgemeine Betrachtungsweise. Die Auswahl dieser sozialen Positionen und Aggregate wirkt sich dabei maßgeblich auf die Diskussion um die soziale Gerechtigkeit aus, ja, sie ist selbst Teil einer jeden Gerechtigkeitstheorie. So kann es beispielsweise einen wesentlichen Unterschied machen, ob die Klassenverhältnisse, die Geschlechterverhältnisse oder

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durch vielfältige Determinanten bestimmt, die für sich genommen keine Besser- oder Schlechterstellung darstellen (müssen), diese aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nach sich ziehen (Beruf, Geschlecht, Konfession, Herkunft, ethnische Zugehörigkeit etc.). In diesem Sinn wendet Rawls beispielsweise seine Gerechtigkeitsgrundsätze explizit nicht auf einzelne, konkrete Menschen an, sondern auf repräsentative Personen, die verschiedene soziale Positionen oder Ämter innehaben, die im Rahmen der gesellschaftlichen Grundstruktur errichtet werden (vgl. Kapitel 11 und vor allem das Kapitel 16 der Theorie der Gerechtigkeit). Die Ermittlung gerechter Verteilungen erfolgt gemäß dem Rawlschen Differenzprinzip „[...] also nicht im Hinblick auf die Individualität der Gesellschaftsmitglieder, sondern allein in Hinblick auf ihre Klassen-, Gruppen- oder Schichtenzugehörigkeit" (Kersting 1997: 98).

die ethnische Segmentierung einer Gesellschaft als Ausgangspunkt für eine Diskussion über soziale Gerechtigkeit dienen. Bisher haben wir festgestellt, dass die Bezugnahme auf soziale Ungleichheit für unser Thema von großer Bedeutung ist. Das heißt allerdings nicht, dass „soziale Ungleichheit" und „soziale Ungerechtigkeit" gleich zu setzen wären. Die Konzepte unterscheiden sich. Ersteres entstammt dem soziologischen Sprachgebrauch, letzteres dem Bereich der Sozialethik. Beide sind nicht deckungsgleich. Vereinfacht gesprochen: Nicht jede Erscheinung sozialer Ungleichheit ist auch sozial ungerecht. „Im Unterschied zum landläufigen Gebrauch des Begriffs .soziale Ungleichheit', in dem stets ein Beiklang von Ungerechtigkeit' mitschwingt, lässt es der soziologische Begriff .soziale Ungleichheit' offen, inwieweit es sich bei den bezeichneten Erscheinungen um problematische, da illegitime Ungleichheiten handelt, oder inwiefern sie als gerechtfertigt erscheinen" (Hradil 1999: 25). Die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit ist daher immer mit der Bewertung sozialer Ungleichheiten verbunden und berührt als solche die Legitimität oder Illegitimität dieser Ungleichheiten.

Soziale Gerechtigkeit aus normativer und empirischer Perspektive Nun lässt sich die Frage nach der Legitimität sozialer Ungleichheiten entweder stärker normativ oder stärker empirisch diskutieren. Normative Diskussionen gehen von der Grundannahme aus, dass die Gesellschaft - im Unterschied zur Natur - für ihr Handeln verantwortlich ist. Das heißt: Die Verteilung gesellschaftlicher Grundgüter ist menschlichen Ursprungs und als solche begründungsbedürftig und begründungsfähig. Das Anliegen normativer Gerechtigkeitstheorien ist es daher, Gerechtigkeitsgrundsätze und -kriterien dafür zu entwickeln, wie gesellschaftliche Güter nach moralischen Gesichtspunkten zu verteilen sind. Diese Grundsätze können objektiv vorausgesetzt werden, etwa über das Naturrecht, oder rational begründet werden, wie dies klassische oder neuere Vertragstheorien (von Thomas Hobbes bis John Rawls), die praktische Philosophie Kants oder auch Vertreter einer utilitaristischen Ethik ä la John Stuart Mill getan haben. Auch Habermas' Theorie des kommunikativen Handelns ließe sich hier einordnen. Rationalen Moralbegründungen ist, vereinfacht ausgedrückt, die Vorstellung gemein, dass moralische Standards dann begründet sind, wenn sie von allen Beteiligten als rationalen Personen angenommen werden können. Demgegenüber bestreiten die Vertreter eines „moralischen Relativismus" die allgemeine Gültigkeit moralischer Standards, versuchen aber mitunter, solche Standards durch Berufung auf weithin verbreitete, sozial tradierte Einstellungen plausibel zu machen oder für sie einzutreten (vgl. Koller 1995: 66). 21

Im Unterschied zu normativen Ansätzen zielt eine empirische Herangehensweise nicht auf die Entwicklung normativ wünschenswerter oder als gültig postulierter Gerechtigkeitsgrundsätze ab, sondern geht von den empirisch vorfindbaren Gerechtigkeitsvorstellungen innerhalb verschiedener politischer Kulturen aus und nimmt so die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Wahrnehmungen und Bewertungen sozialer Verhältnisse in Augenschein. Die empirische Gerechtigkeitsforschung erhebt und rekonstruiert dabei die oft reichlich diffusen Gerechtigkeitsüberzeugungen, die in verschiedenen Gesellschaften bestehen oder bestanden haben, zeigt womöglich ihren Wandel, ihre sozialen Bestimmungsgründe oder sogar ihre Auswirkungen auf das Verhalten von Menschen auf. Nun ist es offenkundig, dass sich die Gerechtigkeitsvorstellungen zwischen und innerhalb von Gesellschaften erheblich unterscheiden können 7 - und sie so recht unterschiedliche Antworten auf die grundlegende Frage geben, „was und wie viel steht wem, warum, wann und unter welchen Umständen zu" (Hildebrandt 2001: 36). Hier kommen zeitgeschichtlich, kulturell, milieu- oder auch lebenstil-geprägte Vorstellungen vom Wünschenswerten und vom „guten Leben" zum Tragen, die eine Vielfalt von Gerechtigkeitsvorstellungen begründen können. Schon die Verteilungskriterien können sich erheblich unterscheiden. „(S)o eröffnet sich im interkulturellen Vergleich sowie in der Analyse multikultureller Gesellschaften ein weites Feld von Distributionskriterien, wie z.B. Abstammung, Herkunft, Rasse, Geschlecht, Seniorität, Tugend, Leistung, Bedürftigkeit, Schuld und Unschuld etc." (Hildebrandt 2001: 36). Selbst innerhalb ein und derselben Gesellschaft kommen ganz unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen zur Geltung, die nicht immer vereinbar sind und je nach zu verteilender Güterart verschiedene „Sphären der Gerechtigkeit" (Walzer 1992) herausbilden. Der gesellschaftspolitische Kampf um soziale Gerechtigkeit dreht sich daher nicht nur um die zu verteilenden materiellen wie immateriellen Güter, sondern auch um die konkurrierenden bzw. dominierenden Verteilungskriterien und Gerechtigkeitsauffassungen. Das Spannungsverhältnis von Leistungs-/ Besitzstandsgerechtigkeit versus Chancen-/Bedürfnisgerechtigkeit prägt beispielsweise bis heute die Diskussion um eine gerechte wirtschafts- und sozialpolitische Ordnung in Lateinamerika. Dabei sei am Rande erwähnt, dass die lateinamerikabezogene GerechtigkeitsDiskussion traditionell weit stärker unter dem Paradigma von Mangel und Knappheit geführt wird als hierzulande, wo gerade in den 80er Jahren auch der Überfluss thematisiert wurde, der die Wohlstands- und Erlebnisgesellschaften charakterisiere. Und obwohl auch Lateinamerika ein Übermaß an Reichtum und Luxus, dort freilich in den Händen einiger Weniger, kennt, geht es doch für große Teile der Bevölkerung, zugespitzt formuliert, vorrangig ums Überleben und

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Vgl. etwa die empirischen Untersuchungen von bzw. in: Haller 1989, Kluegel u.a. 1995, Müller/Wegener 1995.

nicht ums Erleben. Noch pointierter: Nicht Neid, sondern Not nährt die Gerechtigkeitsdiskussion in Lateinamerika. Das hängt maßgeblich damit zusammen, dass der Subkontinent seit jeher von tiefgreifenden Erfahrungen mit Marginalität und sozialer Exklusion geprägt ist - Phänomene, die hierzulande erst ab den 90er Jahren wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein rückten, seitdem „[...] mit den wirtschafts- und sozialpolitischen Umbrüchen unter den Bedingungen globalisierter Interdependenz Armut und Ausgrenzung als neue soziale Frage in die hochindustrialisierten oder gar postindustriellen Länder zurückgekehrt sind" (Imbusch 2 0 0 1 : 4 9 ) .

Mit der Benennung normativer und empirischer Herangehensweise an das Thema der sozialen Gerechtigkeit stoßen wir jedoch bereits an die Grenzen dieses einleitenden Beitrags. Der normative philosophische Diskurs über soziale Ungerechtigkeit in Lateinamerika ist, soweit der Autor dies einschätzen kann, noch unterentwickelt. Zudem liegen meines Wissens keine empirischen Erhebungen vor, die über die Gerechtigkeitsvorstellungen in den lateinamerikanischen Gesellschaften hinreichend Aufschluss gäben. 8 Der vorliegende Beitrag kann nun diese Lücken lediglich benennen, nicht aber schließen. Es bedürfte eingehender philosophischer Studien, um eine normative Gerechtigkeitstheorie zu entwickeln, die dem lateinamerikanischen Kontext gerecht wird, und groß angelegter Forschungsanstrengungen, um nur einen Bruchteil der Gerechtigkeitsauffassungen in Lateinamerika empirisch zu erfassen. Was ist also zu tun? Nicht nur in Ermangelung entsprechender normativphilosophischer Studien und empirischer Erhebungen plädiert der vorliegende Beitrag abschließend für einen pragmatischen Ansatz aus menschenrechtlicher Perspektive. Denn - so wünschenswert dies auch wäre man muss nicht unbedingt in sozialphilosophische Höhen aufsteigen oder groß angelegte Umfragen durchfuhren, um das Problem der sozialen (Un-)Gerechtigkeit in Lateinamerika zu diskutieren. Das Problem lässt sich auch tiefer hängen und pragmatischer handhaben. Die Menschenrechte bieten erste Anknüpfungspunkte für eine normative Diskussion und lassen zum Teil Rückschlüsse auf empirisch vorfindbare Gerechtigkeitsauffassungen zu.

g Im Unterschied hierzu gibt es z.B. für die USA und für Europa empirische Erhebungen über (einzelne Dimensionen von) Gerechtigkeitsvorstellungen in der Bevölkerung oder unter politischen Eliten; vgl. z.B. Hochschildt 1981, Haller 1989, Noll 1992, Kluegel u.a. 1995, Müller/Wegener 1995, Mau 1997, Pioch 2000.

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Soziale Ungerechtigkeit - eine Menschenrechtsperspektive Erste Ansatzpunkte für eine Gerechtigkeitsdiskussion aus der Sicht der Menschenrechte bieten u.a. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 sowie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 (Zivilpakt) und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt), ebenfalls von 1966, die beide 1976 in Kraft traten. Die dort festgeschriebenen Menschenrechte beziehen sich nämlich im Wesentlichen auf eine allgemeine Mindestausstattung mit jenen Gütern, die unter dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit diskutiert werden. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass sich soziale Gerechtigkeit in der Frage der Menschenrechte erschöpft. Auch lässt sich über die Menschenrechtsproblematik allein nicht die Komplexität der Gerechtigkeitsproblematik erfassen. Dennoch stellen die erwähnten politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte Mindestbedingungen sozialer Gerechtigkeit dar, deren Beachtung oder NichtBeachtung die Legitimität oder Illegitimität sozialer Ungleichheiten berührt. Denn die Rechtfertigung sozialer Ungleichheiten hängt maßgeblich davon ab, ob die über die Menschenrechte erfassten gesellschaftlichen Grundgüter bestimmten Bevölkerungsteilen vorenthalten oder allgemein verfügbar sind. Vereinfacht formuliert: Dort, wo grundlegende politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte (im Sinne der o.g. Abkommen) systematisch verletzt und missachtet werden, wird man schlechterdings nicht von einer gerechten Ordnung sprechen können. Ein solcher Standpunkt mag zwar nicht den Ansprüchen philosophischer Begründungen genügen, intuitiv nachvollziehbar ist er jedoch allemal. Die Menschenrechte können daher im gesellschaftspolitischen Diskurs als normativer Bezugspunkt einer Diskussion um soziale Gerechtigkeit dienen, zumal in ihnen ein beachtlicher Wertekonsens zum Ausdruck kommt, sie als politisch einforderbare Ordnungsprinzipien dienen (können) und sie zum Teil Rechtsbindungen erzeugen. Norberto Bobbio (1998: 9) erachtete die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sogar als den bisher größten historischen Beweis für den consensus omnium gentium hinsichtlich eines bestimmten Wertesystems 9 . Der universalistische Anspruch der Menschenrechte wird allerdings dadurch relativiert, dass den Menschenrechten der unterschiedlichen „Generationen" noch immer nicht die gleiche Bedeutung zugesprochen wird. Die im Zivilpakt Der Form nach handelt es sich bei der Erklärung zwar um eine Resolution der UNGeneralversammlung, die nur empfehlenden Charakter hat und als solche keine Rechtsbindungen hervorbringt. Allerdings gelten vielen Völkerrechtlern die in der Erklärung aufgezählten Rechte als authentische Auslegung der entsprechenden Passagen (Art. 55 und 56) der - bindenden - UN-Charta. Anderen Rechtsauffassungen zufolge gehören alle oder zumindest ein Teil der in der Erklärung verkündeten Menschenrechte zum Völkergewohnheitsrecht und sind als solche normativ bindend. Unbestreitbar rechtsverbindlich sind für die Unterzeichnerstaaten zudem der Zivilpakt und der Sozialpakt.

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festgeschriebenen bürgerlichen und politischen Rechte (Menschenrechte der ersten Generation), die sich im Wesentlichen als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe in die persönliche Rechtssphäre (Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit, Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit etc.) sowie als Staatsbürger- und politische Mitwirkungsrechte (Recht auf Staatsangehörigkeit, Wahlrecht, Recht auf Zugang zu öffentlichen Ämtern etc.) darstellen, stoßen am ehesten auf allgemeine Akzeptanz, zumal Inhalt, Ausmaß und Tragweite der Rechte vergleichsweise detailliert umschrieben sind. Diese Rechte beziehen sich - einem weiten Begriffsverständnis zufolge - auf die politischen Dimensionen sozialer Gerechtigkeit, und zwar insofern, als es auch hier um die Verteilung gesellschaftlicher Grundgüter geht, namentlich um den offenen Zugang zur politischen Macht und die Gewährung politischer Freiheiten, Beteiligungs- und Schutzrechte. Auf die sozioökonomischen und kulturellen Dimensionen sozialer Gerechtigkeit beziehen sich hingegen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (WSK-Rechte), die im Sozialpakt erfasst sind (Menschenrechte der zweiten Generation). Sie umfassen beispielsweise das Recht auf Gleichberechtigung von Mann und Frau, auf Arbeit, auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, auf gewerkschaftliche Organisation, auf den Schutz von Familien und Müttern, auf Soziale Sicherheit, auf angemessenen Lebensstandard, auf körperliche und geistige Gesundheit, auf Bildung und auf Teilhabe am kulturellen Leben und am wissenschaftlichen Fortschritt. Den WSK-Rechten wird allerdings nicht selten der Charakter als „echte", einforderbare Rechte abgesprochen. Sie gelten vielfach nur als soziale Zielvorstellungen, deren Umsetzung nicht zuletzt an die wirtschaftlichen Möglichkeiten der jeweiligen Staaten geknüpft ist. Aber immerhin erfuhren sie in den vergangenen Jahren eine beachtliche normative Aufwertung, wie Martin Wolpold-Bosien in diesem Band zeigt. Mehr und mehr setzt sich die Auffassung durch, dass nicht nur der Zivilpakt, sondern auch der Sozialpakt einen Kanon unmittelbar verpflichtender Rechte enthält (vgl. Riedel 1999: 18). Für unser Thema ist dies schon deswegen von herausgehobener Bedeutung, als die lateinamerikabezogene Debatte um soziale Gerechtigkeit vor allem auf sozioökonomische und gelegentlich auch kulturelle Dimensionen abhebt, die aufs Engste mit den WSK-Rechten verknüpft sind. Abschließend sei noch erwähnt, dass auch die abstrakten Menschenrechte der „dritten Generation" wie das Recht auf Entwicklung, Frieden, Schutz der Umwelt etc. für eine normative Diskussion um Gerechtigkeit nutzbar gemacht werden können, berühren sie doch einige in der Gerechtigkeitsdebatte vernachlässigte Bereiche, z.B. „das Verhältnis der Staaten zueinander und das der jetzt lebenden zu den künftigen Generationen" (Höffe 1995: 146). Die Menschenrechtsperspektive bietet aber nicht nur Anknüpfungspunkte für eine normative Diskussion um soziale Gerechtigkeit. Von der Respektierung und vor allem Umsetzung der Menschenrechte lassen sich auch Rückschlüsse 25

auf die empirisch vorfindbaren Gerechtigkeitsvorstellungen der maßgeblichen Eliten ziehen. Dies gilt gerade auch für Länder, in denen keine entsprechenden empirischen Umfragedaten vorliegen. Vereinfacht ausgedrückt: Die Frage, inwiefern und auf welche Weise die gesellschaftspolitischen Institutionen eines Landes (oder einer Region) die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und/oder kulturellen Menschenrechte respektieren, schützen und zu gewährleisten versuchen, sagt einiges darüber aus, welche Gerechtigkeitsvorstellungen die herrschenden Eliten umzusetzen willens oder fähig sind. Der gesellschaftspolitische Kampf um die Mindestausstattung mit gesellschaftlichen Grundgütern, die in den Menschenrechten der unterschiedlichen Generationen ihren Ausdruck findet, gibt des Weiteren Aufschluss darüber, inwiefern die gesellschaftspolitische Realität mit Gerechtigkeitsvorstellungen von mehr oder minder großen Teilen der Bevölkerung (und entsprechender Gegeneliten) kollidiert. Allgemeiner formuliert: Verteilungskonflikte um gesellschaftliche Grundgüter sagen etwas darüber aus, welche sozialen Ungleichheiten als legitim und welche als illegitim erachtet werden. Die Konfliktforschung lehrt uns nämlich, dass die Wahrnehmung und Bewertung sozialer Ungleichheiten als gerecht oder ungerecht ein wesentliches Element in der Entfaltung sozialer (hier im Sinne überindividueller) Konflikte ist10. So hat Barrington Moore (1987) auf beeindruckende Weise zu zeigen versucht, wie sehr sich die historisch geprägten Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit darauf auswirken, ob Menschen, denen es schlecht geht, aufbegehren und revoltieren. In diesem Sinne stellen sich in Lateinamerika die Kämpfe um politische Demokratisierung und um die Errichtung eines effizienten und unparteiischen Rechtsstaates, um die Befriedung von Grundbedürfnissen und um die Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand, um die gesellschaftliche Anerkennung kultureller Minderheiten und um die Gleichberechtigung von Mann und Frau als Kämpfe um die verschiedenen Dimensionen sozialer Gerechtigkeit dar - zumindest wenn man diese in einer umfassenden Weise versteht.

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Zur den verschiedenen Ebenen der Entfaltung sozialer Konflikte bis hin zur Entstehung von Bürgerkriegen vgl. Krennerich 1996: 98ff. Siehe auch den zweiten Beitrag des Autors in diesem Band.

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Linda Helfrich-Bernal

Frauen und soziale (Un-)Gerechtigkeit in Lateinamerika Am Ende des 20. Jahrhunderts haben in den meisten lateinamerikanischen Ländern Transformationsprozesse stattgefunden, die auf demokratische politische Systeme und neoliberale Wirtschaftsordnungen abzielten. Gleichzeitig konstatierten Lateinamerikaforscher wie Dieter Nohlen (1999: 249 und viele Autorinnen dieses Bandes) zunehmende gesellschaftliche Ungleichheit, wachsende Armut sowie tiefgehende soziale Werteverschiebungen. Politikerinnen und Verbände stellten die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit. Der Inhalt dieses mehrdeutigen Konzeptes war allerdings umstritten. Gemeinsam war den meisten Interpretationen lediglich ihr ökonomistischer bias. Hinzu kam, dass die Debatte über soziale Gerechtigkeit zunächst weitgehend geschlechtsblind geführt wurde. Dabei ist es gerade auch dem Zugang der Feministinnen zu diesem Thema zu verdanken, den Blick für ein Verständnis des Terminus eröffnet zu haben, das die weit verbreitete ökonomielastige Auffassung zwar nicht unberücksichtigt lässt, aber zusätzlich auf andere (politische und kulturelle) Lesarten hinweist. Der diachrone Wandel des sozialphilosophischen Hintergrundes des Konzeptes lässt sich an den variierenden Auslegungen der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (Comisión Económica para América Latina y el Caribe, CEPAL) nachvollziehen, mit denen sich Leopoldo Mármora (1994) bereits zu Beginn der 90er Jahre beschäftigt hat. In ihren neuesten Veröffentlichungen setzt die CEPAL (2001) - nicht zuletzt angeregt von den Studien ihrer Frauensektion (Unidad de Mujer y Desarrollo) - auf ein multidimensionales Konzept sozialer Gerechtigkeit, das neben den ökonomischen, politische, soziale und kulturelle Rechte umschließt, die auf einer spezifischen Definition des citizenship-Konzeptes basieren und mit verschiedenen Dimensionen des Menschenrechtsdiskurses verknüpft sind1. Soziale Gerechtigkeit ist insofern ein relationa1

Vgl. zum citizenship-Konzept: Helfrich-Bemal 2002: lff.; zum konzeptionellen Wandel der CEPAL: Blank 2002: 61ff. und 89ff. sowie zur Verknüpfung von Menschenrechtsdiskurs und sozialer Gerechtigkeit die Einleitung von Michael Krennerich in diesem Band.

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ler Begriff. Der Maßstab zu seiner Beurteilung und „Messung" ist sowohl regionen-, kultur- (Kramer 1992: 102) als auch (so ergänzten feministische Theoretikerinnen) geschlechtsspezifisch anzulegen.

Dimensionen sozialer (Un-)Gerechtigkeit und ihre Geschlechterrelevanz In der Diskussion um soziale Gerechtigkeit lassen sich grundsätzlich verschiedene Auffassungen unterscheiden, die in der Realität selbstverständlich Überschneidungen erfahren. Die naheliegendste, bereits erwähnte, ist ein Verständnis von sozialer Ungerechtigkeit, das in den wirtschaftlichen Strukturen der Gesellschaft begründet liegt. Sie kann dann überwunden werden, wenn die ökonomischen Verhältnisse der Staatsbürger zu einem gerechten Ausgleich gekommen sind. Die Gewährung von ökonomischen und sozialen Rechten für rund die Hälfte der Bevölkerung eines jeweiligen Staates war keinesfalls selbstverständlich. Erst die Frauenbewegung rückte sie u.a. durch den Hinweis auf ihren Beitrag zum Kampf um den Wohlfahrtsstaat stärker ins Blickfeld. Denn die mit dem Konzept der sozialen Gerechtigkeit verbundene „soziale Frage" wurde traditionell als Topos der Klassen- und nicht der Geschlechterverhältnisse diskutiert. Sie kreiste um eine neue Verteilungsgerechtigkeit zwischen (angeblich) geschlechtsneutralen Klassen bzw. Schichten, um Ausbeutung, wirtschaftliche Marginalisierung und Deprivation. Im ökonomischen Verständnis hat soziale Gerechtigkeit vor allem das Ziel, die Ungleichgewichte und Disproportionalitäten, die die Marktentwicklung mit sich bringt, auszugleichen, abzuschwächen oder von vornherein zu vermeiden. Diese Aufgabe fallt in (sozialen) Marktwirtschaften in der Regel dem Staat zu. Ein wichtiges Instrument sind über fiskalische Einnahmen geleistete Transferzahlungen an die sozial Schwächeren oder nicht (mehr) Leistungsfähigen, im Rahmen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Steueranreize und -Vergünstigungen, Arbeitsbeschaffungsprogramme, Fürsorge-, Versorgungs-, und Versicherungsmaßnahmen, Renten- und Lastenausgleichszahlungen, Lohnersatzzahlungen, Familienunterstützung, Wohngeld- und Wohnungsbauzuschüsse, Subventionen, Wiedergutmachungsleistungen etc. dienen der Konkretisierung der Chancengerechtigkeit und der sozialen Sicherheit (Kramer 1992: 103). So leistet der Staat seinen Beitrag zum Ausgleich zwischen ökonomischer Tragfähigkeit, Effizienz und sozialer Gerechtigkeit (Thibaut u.a. 1997: 516) - zumindest tat er dies in der (nicht neoliberalen) Vergangenheit in begrenztem Maße auch in Lateinamerika. Zweitens lässt sich eine Linie verfolgen, die den Einsatz für soziale Gerechtigkeit als Kampf um politische und soziale Rechte begreift. Als ein Konzept der kontributiven Gerechtigkeit zielt es auf aktive Teilhabe am staatlichen und am Gesellschaftsleben. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen die Begriffe Partizipation, citizenship, Menschenrechte, Verfahrensgerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit etc. Sie kreist um die gleichberechtigte Integration aller sozial Benachteiligten, 30

aus feministischer Sicht vor allem diskriminierter Frauen, in die formalen Institutionen des politischen Systems und die Überwindung demokratiehinderlicher informeller Institutionen. Ein Kernbestand individueller und sozialer Rechte ist dabei vom Staat zu garantieren (Lauth 2000: 186) - und dies in gleichem Maße für Männer und für Frauen. Meist wird auch hier auf ein Mindestmaß materieller Standards gedrängt, die allen die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben und Partizipieren einräumen sollen. Grundsätzlich finden sich in dieser politischen Linie sowohl Vertreter der klassischen Soziallehre (Giers 1981) als auch politische Gerechtigkeitstheoretiker (Höffe 1989), die allerdings die spezifischen Belange von Frauen nicht gesondert berücksichtigen. Dagegen haben die Feministinnen bereits seit den Debatten der Suffragetten bis hin zum Einsatz für mehr Staatsbürgerinnenrechte (ciudadanía) auf diese Gerechtigkeitsdimension hingewiesen - in Europa ebenso wie in Lateinamerika (Bruch 1998, León 1998, Sarmiento 1998). Als dritter Strang steht den beiden oben genannten ein kulturelles, symbolisches Verständnis von (Un-)Gerechtigkeit gegenüber, das in den sozialen Mustern der Anerkennung, Interpretation und Kommunikation seine Wurzeln findet. Dieser Strang der Auseinandersetzung ist verbunden mit den Begriffen der kulturellen Dominanz, der Missachtung und der Diskriminierung von Minderheiten, wie sie die Multikulturalismus-Forscherinnen schon seit langem führen (Young 1990, Taylor 1993, Kymlicka 1997). Forderungen nach einem kulturellen Wandel im doppelten Sinne formulierten in Europa und den USA vor allem die „women of color" (Williams 1991). Diese waren innerhalb der Frauenbewegung selbst eine Minderheit. Die verborgenen ethnischen, klassen- und schichtspezifischen Differenzen innerhalb der Kategorie gender trugen so die Gerechtigkeitsdebatte auch ins Innere der „Bewegung". In Lateinamerika war diese Diskussion aufgrund der Heterogenität der Organisationen bereits seit den Anfängen der „neuen Frauenbewegung" in den 70er Jahren präsent. Allerdings rückte sie auch hier erst in den 90er Jahren stärker ins Zentrum des Interesses, als schwarze und indigene Frauen auf ihre besonderen Schwierigkeiten hinwiesen, die sie sowohl mit Frauen- als auch mit ihren jeweiligen ethnischen Organisationen hatten. Viele Gerechtigkeitstheoretikerlnnen und Praktikerinnen verstehen sich aber auch als Vermittlerinnen zwischen den aufgezeigten Welten: John Rawls etwa vertritt eine Auffassung von sozialer Gerechtigkeit, die sich darum bemüht, eine Gleichverteilung von Eigentum und Vermögen herzustellen, um auf dieser Basis gleiche politische Freiheit für alle realisieren zu können. Der Autor verknüpft so die Idee der politischen Freiheit mit der ökonomischen Dimension von sozialer Gerechtigkeit (Nothelle-Wildfeuer 1999: 45f.). Oder von feministischer Seite Nancy Fräser (1997), die sich um eine Verbindung von Verteilungs- und kultureller Gerechtigkeit bemüht. Eine vollständige Integration aller Dimensionen des Konzeptes zu einer facettenreichen Theorie, die die Geschlechterkategorie berücksichtigt, ist allerdings bisher nicht gelungen. Dennoch lässt sich über die 31

Kategorie gender eine Verknüpfung erreichen, da sie als Strukturprinzip die Ökonomie, die Politik und die Kultur durchzieht. Aus ökonomischer Perspektive strukturiert die Geschlechterkategorie die Einteilung in bezahlte produktive und unbezahlte reproduktive/häusliche Arbeit. Zwar galt und gilt in Lateinamerika (im Unterschied zu Europa) das Modell des männlichen Familienernährers, auf dem auch wohlfahrtsstaatliches Gedankengut begründet war, oft nur als kulturelles Ideal. In der Praxis war es auf einen Teil der Frauen aus der oberen Mittel- und Oberschicht begrenzt. Bei der Mehrzahl der Haushalte reichte ein Einkommen nicht aus, wobei der Zugang auf den „formalen" Arbeitsmarkt für sozial schlechter gestellte Frauen schwierig blieb. Aber dennoch sind Frauen in Lateinamerika hauptsächlich für die unbezahlten Tätigkeiten verantwortlich. In der Regel gehen sie nicht „nur" (wie europäische) vor allem vor der Geburt des ersten Kindes und nach der Einschulung des jüngsten Kindes einer Erwerbstätigkeit nach, sondern (mit Ausnahme einer kurzen Mutterschaftsphase) ständig (Arriagada 1997: 12). Sie stehen dem Arbeitsmarkt deshalb grundsätzlich zur Verfügung, müssen aber zugleich häusliche, reproduktive und kommunitäre Arbeiten überwiegend alleine bzw. (je nach sozialem Status) mit Unterstützung von anderen (weiblichen) Familienangehörigen oder Freunden (Mütter, Kinder, Tanten, Nachbarinnen) oder meist schlecht bezahlten und unzureichend abgesicherten „Haushaltsgehilfinnen" und „Kindermädchen" erledigen. Das Privileg, Dienstleistungen sozial schwächer gestellter Gleichgeschlechtlicher zu billigen Preisen zu erwerben, verhinderte eine breite Solidarisierung der Frauen untereinander. Die Forderung nach einer Abschaffung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung nahm dort, wo Delegation häuslicher Lasten auf Frauen aus der Unterschicht möglich war, deshalb zunächst nur einen begrenzten Raum in der Debatte der Frauenorganisationen ein. Zudem strukturiert gender die Einteilung in besser und schlechter entlohnte (gleichwertige) Arbeit. So werden geschlechtsspezifische Formen der Ausbeutung, Marginalisierung und Deprivation erzeugt, gegen die sich lateinamerikanische Frauenorganisationen zur Wehr setzten, in dem sie gleiches Geld für gleiche Arbeit forderten. So verstandene Gerechtigkeit erfordert letztlich die „Aufhebung von gender" (Braig 1999: 175f.). Aus politischer Perspektive entscheidet (u.a.) das Geschlecht über die Partizipationschancen. Zwar erreichte die „Frauenbewegung" nach einem langen Kampf um Staatsbürgerinnenrechte fast überall auf der Welt formal gleiche Zugangsmöglichkeiten zu den politischen Institutionen. Aufgrund ökonomischer, politischer und kultureller Rahmenbedingungen etablierten sich aber patriarchalische Strukturen in Staat und Gesellschaft sowie formale und informelle Mechanismen, die vor allem den Eintritt in Führungspositionen erschwerten oder verhinderten. Ein Grundzug gender-bezogener Ungerechtigkeit ist der Androzentrismus. Als kulturelle Konstruktion von Normen werden die mit Männlichkeit assoziierten eher privilegiert und alles, was feminin codiert ist, wird strukturell abgewertet. Dazu zählen neben der Darstellung von Frauen als unpolitisch 32

und schwach, sexuelle Gewalt, zum Objekt herabsetzende Werbung etc. Sie tragen dazu bei, die halbierte Gerechtigkeit in Gesellschaft und Staat aufrechtzuerhalten (Fräser 1997). Diese Betrachtung überschneidet sich mit der Strukturierung von Kultur durch die Geschlechterkategorie. Neben den genannten allgemeinen Faktoren werden besonders solche kulturellen Gruppen benachteiligt, die neben dem Geschlecht noch andere Merkmale aufweisen, aufgrund derer sie gesellschaftlich abgewertet werden können. Dazu zählen Frauen indigener und afroamerikanischer Herkunft, die meist auch noch der Gruppe der sozial und ökonomisch Marginalisierten angehören. Deutlich wird die von solchen Frauen erfahrene „dreifache Diskriminierung" (Kühhas 2000: 15) nicht nur im Hinblick auf die Kolonial- und Versklavungsgeschichte, sondern auch bei der Betrachtung der Lebenssituation ethnischer Gruppen im heutigen Lateinamerika.

Soziale Ungerechtigkeit als ökonomische Benachteiligung Mit der Einberufung der Weltfrauendekade (1975-85) erkannten viele Staaten in Afrika, Lateinamerika und Asien sowie die internationalen Geberorganisationen in den Frauen wichtige Akteurinnen im Entwicklungsprozess (Women in Development-Ansatz, WID). Mit Ausnahme des Gleichheitsansatzes von Carolin Moser (1989) ging es bei den WID-Konzepten der Armutsbekämpfung und Effizienzsteigerung weniger um eine soziale Statusverbesserung für Frauen. Als Strategie ihrer Integration in die Entwicklung wurde vielmehr die Erhöhung ihrer ökonomischen Produktivität ausgemacht (Rodenberg 1999: 38ff). Zahlreiche lateinamerikanische Regierungen begannen deshalb Unterabteilungen in Agrar-, Wirtschafts- oder Planungsministerien sowie spezielle Organe einzurichten 2 . Vielfach wurden auch Programme für Landfrauen aufgelegt. Ihnen wollten die Regierungen den Zugang zu Krediten erleichtern. Sie erhielten Hilfestellungen bei der Kommerzialisierung ihrer Produkte. Grundsätzlich zielte dieses Konzept auf die Nutzung bisher „brachliegenden" Arbeitspotenzials.

2

Dazu zählt beispielsweise der in Kolumbien 1980 gegründete Consejo Nacional para la Integración de la Mujer al Desarrollo (Nationaler Rat für die Eingliederung von Frauen in die Entwicklung), vgl. Ramírez 1995: 21.

33

Tab. 1: Human Development Index (HDI) und gender-related Development Index (GDI) lateinamerikanischer Staaten Land

Rang GDI

Rang HDI

Land

Rang GDI

Rang HDI

Uruguay

31

38

Brasilien

56

62

Costa Rica

39

34

Ekuador

78

73

Kolumbien

41

53

Peru

80

86

Panama

42

45

Paraguay

89

91

Venezuela

43

46

El Salvador

103

114

Chile

46

31

Bolivien

110

116

Argentinien

48

36

Guatemala

113

111

Mexiko

49

49





...

Quelle: Zusammengestellt nach HDI 1998 und GDI, http://www.undp.org/hdro/98gdi.htm. Die Anzahl der evaluierten Staaten beträgt 174. Je niedriger der Rang, desto höher das Entwicklungsniveau.

In Lateinamerika spielte die „Frauenbewegung" im Hinblick auf den überwiegend friedlichen Kampf um alle genannten Formen der sozialen Gerechtigkeit eine nicht zu unterschätzende Rolle. Zum Teil ging sie auf die Vorschläge der internationalen Entwicklungsorganisationen ein und beteiligte sich an der Armutsbekämpfung. Frauen fanden sich in Selbsthilfe- und Nachbarschaftsorganisationen (movimientos de sobrevivencia) zusammen. Sie kümmerten sich in Suppenküchen, Einkaufskooperativen und alternativen Kindertagesstätten - wie sie etwa während der Diktatur in Chile entstanden waren - darum, die größte Not für Familien in solchen Krisenzeiten zu lindern. Sie bezeichneten sich selbst meist als „apolitisch" oder standen traditionellen (oft klientelistischen) Parteien nahe und waren keineswegs für einen radikalen Feminismus bekannt. Sie wurden deshalb zum Teil als Handlanger des Staates und der internationalen Entwicklungsagenturen verurteilt, spielten jedoch innerhalb der „Frauenbewegung" auch deshalb eine wichtige Rolle, weil sie ihr den Zugang zu den marginalisierten Schichten ermöglichten und dadurch eine gewisse Breite und Legitimität als soziale Bewegung garantierten. Für einen geschlechtergerechten ökonomischen Ausgleich setzten sich vor allem „autonome" Frauenorganisationen sowie weibliche Mitglieder von „linken" Parteien und Guerillagruppen in der 60er und 70er Jahren ein. Sie erkannten in den Kategorien Bildung und Armut zwei wichtige Faktoren, die die Stellung der Frau in der Wirtschaft definierten und den Zugang zum Arbeitsmarkt strukturierten (vgl. dazu auch: Braig 1999: 169ff). Strategien und Mittel zur Verbesserung der sozialen Lage von Frauen und die dazu nötigen Programme hingen vom jeweiligen politischen Hintergrund der Organisationen ab. Die staatlich geforderte Bildungsexpansion seit den 70er Jahren erhöhte den Ausbildungsstand von Frauen schließlich derart, dass weibliche Erwerbstätige 34

heute oft ein höheres Niveau aufweisen als Männer. Dies betrifft sowohl die Sekundarschulbildung als auch die universitäre Bildung. Bereits seit den 50er Jahren wuchs die Beteiligung der Frauen an der ökonomisch aktiven Bevölkerung. Allerdings verlief der Prozess in der Region sehr heterogen: Während in Mexiko, Brasilien, Kolumbien, Chile, Argentinien und Uruguay die Anzahl der weiblichen Beschäftigten stark zunahm, verringerte sich die Kluft zwischen Männern und Frauen in Ekuador, Costa Rica und Guatemala kaum 3 . Die Beschäftigungsexpansion im Dienstleistungssektor war ein wesentlicher Faktor für den Anstieg der Erwerbsbeteiligung von Frauen (CEPAL 1997: 54, Weller 2000: 13ff.). Frauen arbeiten, u.a. gefördert durch das importsubstituierende Entwicklungsmodell der 70er Jahre, im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich sowie im Haushalt, aber auch im Handel, in Banken, in der öffentlichen Verwaltung und im Verwaltungsbereich von Unternehmen sowie in der Hotelbranche meist in typischen Frauenberufen. Tab. 2: Frauenanteil an bezahlter Arbeit im Industrie- und Dienstleistungssektor in ausgewählten lateinamerikanischen und karibischen Ländern Land

Frauenanteil in %

Land

Frauenanteil in %

Jamaika

50

Argentinien

40

Bahamas

49

Trinidad & Tobago

39

Honduras

47

Costa Rica

38

Barbados

47

Bolivien

37

Kolumbien

46

Mexiko

36

Panama

44

Chile

36

Brasilien

44

Venezuela

35

Paraguay

41

Peru

33

Ekuador

40

El Salvador

32

Quelle: http://laborsta.ilo.org und verschiedene ILO Labour Statistics Yearbooks, jeweils aktuellstes erhältliches Zahlenmaterial, Stand: 01.10.2001.

Die Ausbildungsanstrengungen des weiblichen Geschlechts ermöglichten aber nicht automatisch einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Führungspositionen und gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Allerdings verringerte sich zwischen 1980 und 1997 in den meisten Ländern der gender gap bei Löhnen des Industrie- und Dienstleistungssektors. Nur in Chile, Mexiko und Vene-

3

Vgl. dazu auch die Tabellen in Gàlvez 2001: 25 ff.

35

zuela vergrößerte sich die Lücke zwischen den Geschlechtern sogar noch 4 . Nach Schätzungen der Facultad Latinoamericana de Ciencias Sociales (FLACSO) waren Ende der 90er Jahre in Lateinamerika lediglich zwischen 15% und 20% der Führungspositionen von Frauen besetzt (Guía de las Mujeres 2000 ohne Jahr: 26f.). Hinzu kommt, dass Frauen vor allem in Krisenzeiten stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sind als Männer. Obwohl sich kaum verlässliche geschlechterspezifische Daten zur Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung finden lassen, die der realen Arbeitssituation gerecht werden, belegen bereits die verfügbaren offiziellen Statistiken, dass die Arbeitslosigkeit unter Frauen erheblich größer ist als unter Männern 5 . Da es sozial vielerorts akzeptiert wird, dass Frauen keiner bezahlten Beschäftigung nachgehen, geben zudem Arbeitssuchende weiblichen Geschlechts oft früher auf als Männer und werden deshalb mitunter statistisch erst gar nicht erfasst. In einigen wenigen Ländern Lateinamerikas hatten die Regierungen wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen wie Sozialversicherungen eingeführt. Deren Deckungsweite war allerdings begrenzt. Von einem einigermaßen ausgebauten System konnte man in den 80er Jahren lediglich in Argentinien, Brasilien, Chile, Costa Rica, Kuba und Uruguay sprechen (Mesa-Lago 1994: 22f., Busquets 2000: 3ff.). Die nur für wenige Erwerbsbereiche funktionierende Sozialversicherung des (männlichen) Familienvorstandes (hier vor allem die Krankenversicherung) schloss in vielen Ländern Frauen und Kinder aus, die nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften angehörten. Ausnahmen von dieser Regel waren beispielsweise Kolumbien und Mexiko. Nachdem der ohnehin schmale „Wohlfahrtsstaat" seine Relevanz an die internationale Flexibilisierung abgetreten hatte, war immer mehr Frauen und Männern der Zugang zu solchen staatlichen Leistungen verwehrt. Hinzu kam, dass im Zuge der Wirtschaftsreformen der 90er Jahre die formalisierten Beschäftigungsverhältnisse abnahmen (Aguigah 2001: 13, Braig 1999: 175). Obwohl viele der „traditionellen" sozialstaatlichen Maßnahmen einen paternalistischen Touch hatten, machen heute Frauenorganisationen verstärkt mobil gegen deren Demontage. Denn: Die Auswirkungen der Reformen betreffen gerade Frauen bzw. von ihnen direkt abhängige Familienmitglieder. Die Diskriminierung durch die geschlechtsspezifischen Muster der staatlichen Sozialsysteme, die in aller Regel die Erwerbsarbeit und die Lebensform Ehe privilegiert hatten, wurde ersetzt durch eine generelle Benachteiligung aller Beschäftigten über den Wegfall bzw. die Privatisierung dieser Systeme. Frauenorganisationen forderten die dafür staatlicherseits Verantwortlichen in den 90er Jahren auf, spezifische Maßnahmen zu ergreifen, um die durch die „Deregulierung" entstandenen Marktpressionen abzuschwächen. Gleichzeitig warben sie 4

5

36

Vgl. dazu die Tabelle der Internationalen Arbeitsorganisation: WISTAT, version 4; ECLAC 1998, Table 39, http://laborsta.ilo.org. Vgl. die Daten in World's Women 2000 (www.un.org/Depts/unsd/ww2000/tables.htm) oder Gälvez 2001: 32.

weiterhin für eine Entkoppelung sozialstaatlicher Transferleistungen von der Erwerbsarbeit und forderten Kompensationsmechanismen für Zeiten, in denen sich Frauen reproduktiven Tätigkeiten widmen (Braun/Jung 1997: 8ff., Birgin/Pautassi 2001:47). Im Hinblick auf die sozialen Investitionsfonds, die im Zuge der Abfederung der ersten Reformwelle eingerichtet wurden, stellt Renate Rott (ohne Jahr: 8) bei ihrer Untersuchung der Fallbeispiele Nikaragua und Guatemala fest: „Women as well as the relevance of gender aspects have been verbally included into the design of Funds. However in reality the presence of women has been practically invisible in the case of Guatemala, and has been tolerated but not especially supported on the Community level in Nicaragua, where there would have been an active possibility."

Die Wirtschaftskrise der 80er und die Neustrukturierung von Ökonomie und Staat der 90er Jahre gefährdeten also einen Teil der zuvor erreichten Standards. Neoliberale begriffen Fragen der sozialen Sicherung nicht wie Frauenorganisationen im Kontext sozialer Staatsbürgerinnenrechte und als Mittel zur Kompensation der Aggression des Marktes, sondern als Verursacher ökonomischer Kosten. Die Reformen führten dazu, dass die Einkommensschere heute immer weiter auseinander klafft und alle Frauen negativ betrifft - auch gut ausgebildete. Die Qualität der Arbeitsplätze hat sich verschlechtert. Frauen sind mehr denn je gezwungen, ein niedriges Schutzniveau, die Nichteinhaltung bestehender Normen, hohe Arbeitszeiten, niedrige Arbeitsplatzsicherheit, Unfallgefahr, Gesundheitsrisiken, unzureichende soziale Absicherung und den Verlust von Mitbestimmungsregelungen hinzunehmen. Nur Bolivien wies für Frauen günstigere Indikatoren der Beschäftigungsqualität auf als für Männer. Allerdings ist der Anteil der Lohnempfangerinnen dort insgesamt sehr gering (CEPAL 1999a, Weller 2000: 18f.). Durch die neoliberalen Reformen wurde im sozialen Sektor gekürzt, zu dessen Arbeitsplätzen sich Frauen verstärkt Zugang verschafft hatten. Sie mussten ihre Aktivitäten auf andere Tätigkeitsbereiche ausdehnen und fanden meist nur im informellen Sektor eine Alternative (Guia de las Mujeres 2000 ohne Jahr: 24f.). Die Anzahl der sogenannten cuentapropistas nahm zu, was in den meisten Fällen auf die Ausweitung informeller Wirtschaftsaktivitäten zurückzufuhren ist. Nach Angaben der internationalen Arbeitsorganisation (ILO) entstanden dort in den 90er Jahren sechs von zehn städtischen Arbeitsplätzen (Angaben der ILO, zitiert nach Weller 2000: 11). Im informellen Sektor fehlen soziale Mindeststandards. Das Arbeitsrecht existiert nicht. Vertreter neoliberaler Ansätze hoben die nach den Reformen neu entstandenen Beschäftigungen im Handelsbereich dennoch als positive Entwicklung hervor. Doch auch hier entfallen die meisten Arbeitsmöglichkeiten auf den Kleinhandel (Weller 2000: 11 ff.). Solche (stark von der Nachfrage, von Standortfaktoren und von Marktnischen abhängigen) Jobs setzen in der Regel keine Ausbildung voraus und werden mangels Alternativen ergriffen. 37

Als eine der Segnungen der neuen internationalen Arbeitsteilung im Rahmen des Globalisierungsprozesses bezeichnen neoliberale Ökonomen die Weltmarktfabriken. Die in Mexiko, in Zentralamerika, in einigen Staaten der Karibik (Haiti, Dominikanische Republik) und in geringerem Maße auch in den Ländern des Cono Sur eingerichteten maquilas lassen sich durch eine strenge Geschlechterhierarchie kennzeichnen. Die Mehrheit der Beschäftigten sind weiblich, in El Salvador beispielsweise 88% (Alvarenga Jule 2001: 34). Zumeist arbeiten die Frauen in der Bekleidungs- und Schuhindustrie. Im Agrar- und Automobilsektor der Lohnveredelungsbetriebe sind dagegen viele Männer tätig. Die Mehrzahl der Frauen wird in den untersten Beschäftigungsrängen als ungelernte Arbeiterinnen eingestellt. Sie verdienen weniger als ihre männlichen Kollegen. In El Salvador erhielten 42% der maquiladora-Arbeiterinnen lediglich den Mindestlohn von US$ 144 im Monat. Im restlichen Industriesektor (industria manufacturera) stieg er dagegen auf USS 219. 21% verdienten sogar weniger als den Mindestlohn, davon 23% Frauen und 11% Männer. Die Frauen arbeiteten 47 statt der regulär vorgesehenen 44 Wochenstunden, viele ohne formale Arbeitsverträge. Als Einstellungsgründe gaben die Arbeitgeber an: Frauen beschwerten sich weniger, arbeiteten härter und organisierten sich kaum in Gewerkschaften. Zu den meist langen Arbeitszeiten kommen die ungenügende soziale Absicherung und schlechte Arbeitsbedingungen hinzu. Einige klagen über berufsbedingte Krankheiten, physischen und psychischen Stress sowie über sexuelle Übergriffe. 68% der in der maquila in El Salvador Beschäftigten sind Haushaltsvorstände, davon wiederum 88% Frauen. Die Alleinerziehenden fehlen oft an ihrem Arbeitsplatz, da sie ihre Kinder im Krankheitsfall versorgen müssen. Dafür werden sie im Wiederholungsfall von den Arbeitgebern zum Teil mit harten Sanktionen belegt. Kindertagesstätten wurden von den internationalen Firmen bisher nicht eingerichtet, obwohl die salvadorianische Verfassung bestimmt, dass die Unternehmer dafür mit verantwortlich sind (Alvarenga Jule 2001: 34). In Zentralamerika haben sich Frauenorganisationen aus Honduras, Guatemala, Nikaragua und El Salvador zur Red Centroamericana en Solidaridad con las Trabajadoras de la Maquila zusammengeschlossen. Sie kämpfen für einen von ihnen entworfenen Ethikcode, durch den Regierungen und Arbeitgeber sich zur Einhaltung der Rechte der Arbeitnehmerinnen verpflichten (Guía de las Mujeres 2000 ohne Jahr: 27).

Soziale Ungerechtigkeit als politische Benachteiligung Als erstes lateinamerikanisches Land verankerte Mexiko im Jahre 1917 explizit die individuelle Gleichheit in der Verfassung. In den 60er Jahren folgten Venezuela, Honduras und Bolivien mit Verfassungen, die die Diskriminierung aufgrund von Rasse und Geschlecht verboten. Bis zum Ende der 90er Jahre schlössen sich alle lateinamerikanischen Staaten den frühen Vorreitern an, bis auf das Schlusslicht Chile, das den Gleichheitsgrundsatz erst im Jahr 2000 bei einer 38

Verfassungsreform einführte (Deere/Leön 2000: 155). In Kolumbien gingen die Verfassungsgeber 1991 sogar weiter und ergänzten das Prinzip der grundsätzlichen Gleichheit aller Bürger und das Antidiskriminierungsgebot6 durch positiveaci/on-Maßnahmen für diskriminierte Gruppen, darunter auch für Frauen7. Eine der wohl gravierendsten Benachteiligungen der Lateinamerikanerinnen bestand in der Beschneidung ihrer Staatsbürgerinnenrechte. Sie verfügten nicht über die Möglichkeit, an zentralen politischen Schaltstellen die Weichen für die Zukunft ihrer Länder mit zu stellen. Zunächst wurden sie lange Zeit an der formalen politischen Partizipation gehindert. Die Bewegung der Suffragetten leistete im Lateinamerika der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts substanzielle Vorarbeiten, die nach und nach zur Einführung des aktiven und passiven Wahlrechtes für Frauen führten (Helfrich-Bernal 2001). Tab. 3: Einführung des Frauenwahlrechtes in Lateinamerika und der Karibik im Vergleich Land

Jahr

Land

Jahr

Ekuador

1929

Haiti

1950

Uruguay

1932

Grenada

1951

Brasilien

1932

Bolivien

1952

El Salvador

1939

Mexiko

1954

Kuba

1940

Belize

1954

Dom. Republik

1942

Kolumbien

1954**

Panama

1945

Honduras

1954

Venezuela

1946*

Peru

1955

Argentinien

1947

Nikaragua

1957

Costa Rica

1949

Paraguay

1967

Chile

1949

Quelle: Nohlen 1993. *1945 kommunales Wahlrecht. **1957 erstmals ausgeübt.

6

Dazu heißt es in Artikel 13 der kolumbianischen Verfassung: „Alle Menschen sind frei und gleich vor dem Gesetz geboren. Ihnen widerfahrt der gleiche Schutz und die gleiche Behandlung von den staatlichen Autoritäten und sie haben die gleichen Rechte, Freiheiten und Lebenschancen, ohne aufgrund ihres Geschlechtes, ihrer Rasse, ihrer Abstammung und familiären Herkunft, ihrer Sprache, ihrer politischen und weltanschaulichen Meinungen diskriminiert zu werden." (Übersetzung L.H.)

7

Deshalb heißt es in Artikel 13 der kolumbianischen Verfassung weiter: „Der Staat fordert die Bedingungen, damit diese Gleichheit real und effektiv ist und ergreift Maßnahmen zugunsten von diskriminierten und marginalisierten Gruppen." (Übersetzung L.H.)

39

Frauenorganisationen waren in Lateinamerika vor allem in Reform- und Transformationsperioden erfolgreich, in Uruguay während der Batlle-Reformen, in Kuba unter dem Machadato (1929-34), in Brasilien beim Fall der alten Republik 1932, in Guatemala und Venezuela Mitte der 40er Jahre. Die Mobilisierung der Frauen für Reformen in Regime und Staat war in der Regel nicht begleitet von ihrem Zugang zu wichtigen Schaltstellen staatlicher Entscheidungsfindung. Dafür fehlten wesentliche kulturelle, ökonomische, soziale und oft auch politische Voraussetzungen. In den Ländern revolutionären Umbruchs wie Mexiko, Bolivien oder Kuba mussten die engagierten Frauen feststellen, dass ihr Einsatz „im Namen des Volkes" oder der „Klasse" die männliche Vormachtstellung nicht grundsätzlich in Frage stellte. Die zugrunde liegenden sozioökonomischen Gesellschaftsstrukturen waren nur durch einen konstanten Einsatz aufzuweichen (Miller 1991: 187). Die „neue Frauenbewegung" im Lateinamerika der 70er Jahre, der sich nun vermehrt Frauen verschiedener sozialer Herkunft anschlössen und die sich seit ihrem ersten Treffen 1981 in Bogotá in regelmäßigen Abständen über gemeinsame Zielvorstellungen bei kontinentalen Treffen austauscht8, war deshalb zunächst für viele vor allem ein Vehikel zur Sozialkritik und damit auch Teil der ökonomischen Dimension von sozialer Gerechtigkeit. Dies wurde in den Befreiungsbewegungen Nikaraguas, El Salvadors und Guatemalas sowie im Widerstand gegen die diktatorischen Regime im Cono Sur deutlich. Zwar erreichten diese Bewegungen zum Teil ihre gesellschaftstransformatorischen Ziele. Aber Frauen, die sich Guerillaorganisationen oder kommunistischen Parteien angeschlossen hatten, mussten bald feststellen, dass die Sozialrevolutionären Ideologien kein Patentrezept gegen den machismo in der Gesellschaft lieferten. Auch in den genannten Organisationen blieben Frauen nicht selten aus Führungsgremien ausgeschlossen. Sie mussten sich dem Politikstil ihrer männlichen Kollegen unterordnen. In Ländern, in denen es ihnen gelang, meist über verwandtschaftliche und klientelistische Netzwerke, in die Frauensektion (rama femininá) der Parteien und ins Parlament Einzug zu halten, handelte es sich aus liberaldemokratischer Perspektive zunächst nicht um die reformorientiertesten Formationen. Das gilt beispielsweise für die Beteiligung von Frauen in der Liberalen oder Konservativen Partei Kolumbiens, dem Partido Revolucionario Institucional (PRI) in Mexiko oder in der Kommunistischen Partei Kubas, die 1961 von Fidel Castro gegründet worden war. Die Diskussion um ihre Staatsbürgerinnenschaft war auch nach den Transformationsprozessen der 80er und 90er Jahre mit dem Übergang zur „Demokratie" keineswegs beendet. Jetzt legten die „Frauenbewegungen" in den verschiedenen Ländern die Konsolidierungsschwächen der neuen Regime offen - vor allem auch im Hinblick auf die fehlenden Grundvoraussetzungen für eine substanzielle Partizipation. Dadurch zeigten sie wiederum die Verbindung zwischen der ökonomischen und der politischen Variante der sozialen Gerechtigkeit auf. 8

Vgl. dazu die Übersicht bei Valdés 2000: 73.

40

Erstaunlicherweise verschwanden nach der „Redemokratisierung" viele der während der Transition engagierten Frauen aus der öffentlichen Sphäre (Jaquette/Wolchik 1998). Die neu geschaffenen Institutionen wurden in aller Regel nur dort für Frauen zugänglicher, wo ihre Organisationen sich für die Reform von Wahl- und Parteiengesetzgebung - oft unterstützt durch positive-action-Maiinahmen wie Quotengesetze - eingesetzt hatten. Tab. 4: Quotengesetze in Lateinamerika Land

Jahr der Einführung

Kammer

% Frauen vor dem Quotengesetz

% Frauen nach dem Quotengesetz

Argentinien

1991

Repräsentantenhaus

6

27

Bolivien

1997

Repräsentantenhaus

11

12

Senat

4

4

7

6

Brasilien

1997

Repräsentantenhaus

Costa Rica

1997

Einkammerparlament

14

19

Dom. Republik

1997

Repräsentantenhaus

12

16

Ekuador

1997

Einkammerparlament

4

15

Mexiko

1996

Repräsentantenhaus

17

16

Senat

15

16

Panama

1997

Einkammerparlament

8

10

Paraguay

1996

Repräsentantenhaus

3

3

Senat

11

18

11

20

Peru

1997

Einkammerparlament

Venezuela

1998

Repräsentantenhaus

6

13

Senat

8

9

Quelle: WLCA 2001.

41

Es gelang den organisierten Frauen in einigen Parteien Argentiniens, Boliviens, Brasiliens, Costa Ricas, Ekuadors, Panamas, Perus, Venezuelas, Nikaraguas, Chiles, El Salvadors, Paraguays und der Dominikanischen Republik Quoten zwischen 20% und 40% zu verankern (Htun 1998: 9). In Kolumbien verbietet die Verfassung die Einmischung in die internen Angelegenheiten der Parteien. Das Vorhaben eines parteibezogenen Quotengesetzes, das von der Senatorin Piedad Córdoba für die Liberale Partei angeregt worden war, scheiterte deshalb (Interview am 19.09.2001). Allerdings wurde in dem Andenstaat auf der Ebene der staatlichen Führungspositionen ein Gesetz eingeführt, das eine 30prozentige Beteiligung von Frauen vorschreibt (Ley No. 581 del 2000 o ley de quotas). Natürlich war auch die Verankerung dieser Norm keine Garantie für ihre Umsetzung 9 . Obwohl das Verfassungsgericht festgelegt hatte, dass sich die 30%Marge auf jede einzelne Division der staatlichen Administration zu beziehen hatte (Sentencia 371/00), zog sich Präsident Andrés Pastrana darauf zurück, dass insgesamt in der Exekutive genügend Frauen beschäftigt seien, da in einigen Dependenzen Frauenüberschuss herrsche. Eine Reihe von in einem Netzwerk zur Begleitung der Umsetzung des Quotengesetzes zusammengeschlossenen Frauenorganisationen (Observatorio Mujer y Participación Política) verklagte am 8. März 2001 (dem internationalen Frauentag) den kolumbianischen Präsidenten, allerdings bisher ohne Erfolg. Die acción de cumplimiento wurde sowohl vom Verwaltungsgericht als auch in zweiter Instanz vom Staatsrat abgelehnt 10 . Die Wirksamkeit all dieser Gesetze hing insgesamt vom Wahlsystem und den politischen, sozioökonomischen sowie kulturellen Rahmenbedingungen ab. Sie trugen ebenfalls dazu bei, ob eher traditionellere oder progressivere Frauen in die Parlamente gelangten.

9

10

42

Vgl. zum Folgenden: Gobierno no cumple la cuota feminina (2001), A cumplir ley de cuotas para las mujeres (2001), Acción contra el Presidente (2001), Observatorio Mujeres y Participación Política (ohne Jahr). Vgl. Acción de Cumplimiento, Expediente A.C. No. 01-155 Tribunal Administrativo de Cundinamarca, Sección Primera, Subsección B vom 06.06.2001 und: Consejo de Estado, Sala de lo Contencioso Administrativo, Sección Cuarta, Acción de Cumplimiento 950, 16.07.2001.

Tab. 5: Beteiligung von Frauen an der politischen Macht in Amerika und der Karibik 3 Land

Kanada

Ministerinnen in % 27 b

USA

32

Barbados

13

Abgeordnete Senatorinin % nen in %

BürgerDurchschnitt meisterinnen in % in % 12 23

21

32

14

13

21

20

11

33

n/a

19

Jamaika

12

13

24

23

18

Costa Rica

18

19

n/a

9

15

Kuba

10

28

n/a

T

15

Honduras

26

9

n/a

10

15

Panama

25

10

n/a

10

15

El Salvador Trinidad & Tobago Kolumbien

25

10

n/a

8

14

11

11

32

0

14

19

12

13

6

13

Mexiko

16

16

16

4

13

Chile

25

11

4

6

12

Venezuela

21

10

n/a

4

12

Argentinien

8

27

3

7

11

Peru Dom. Republik Nikaragua

7

20

n/a

2

10

8

16

7

6

9

8

10

n/a

10

9

Ekuador

7

15

n/a

3

8

Paraguay

8

3

18

3

8

Bolivien

0

12

4

6

6

Guatemala

8

9

n/a

1

6

Uruguay

0

12

10

0

6

Brasilien

0

6

7

6

5

Quelle: WLCA 2001. Anmerkungen: n/a= nicht anwendbar; a) Die Zahlen beziehen sich auf Frauen in Machtpositionen im Jahr 2000 mit Ausnahme der Bürgermeisterinnen in der Dominikanischen Republik. Dort war nur Datenmaterial fiir 1998 erhältlich; b) Die Zahl bezieht sich auf den Frauenanteil im Kabinett des früheren Präsidenten Bill Clinton, der im Januar 2001 sein Amt niederlegte. Im Kabinett seines Nachfolgers George W. Bush arbeiten 24% Frauen; c) Die Zahl bezieht sich auf die Gouverneure der Provinzen.

43

In den Gewerkschaften war der Organisationsgrad von Frauen traditionell gering. Vor allem aber waren sie auch in den Verbänden selten in Führungspositionen vertreten. Erst in den 90er Jahren zogen vor allem auf Druck der internationalen Gewerkschaftsbewegung mehr Frauen in die Direktorien ein. Es entstanden interessante Projekte zur Frauenförderung. Dazu zählt die Casa de la Mujer Trabajadora der Gewerkschaftszentrale Central Unitaria de Trabajadores (CUT) in Kolumbien, die Frauen seit mehreren Jahren in ihrer Escuela de líderes auf gewerkschaftliche Führungspositionen vorbereitet (Interview mit Marta Buritica, Casa de la Mujer Trabajadora, CUT, 21.03.2001). Ein wichtiger Aspekt der politischen Dimension der sozialen Gerechtigkeit liegt in der Etablierung eines funktionierenden Rechtsstaates. Nur so werden wichtige Grundrechte und der für beide Geschlechter gleiche Zugang zur Justiz garantiert. Neben den in vielen Ländern des Subkontinentes üblichen Zugangsbeschränkungen setzten sich die Frauenorganisationen gegen die Nichteinhaltung der Menschenrechte während der Diktaturen ein. Dieses Anliegen trugen vor allem die Madres de Plaza de Mayo aus Argentinien in ihrem Rückgriff auf den Mütterlichkeitsdiskurs in die Welt. Für ähnliche Ziele kämpften in El Salvador die COMADRES (Comité de Madres y Familiares de Presos, Desaparecidos y Asesinados Políticos de El Salvador), in Guatemala der Grupo de Ayuda Mutua (1984 gegründet) und die Coordinadora Nacional de Viudas de Guatemala (CONAVIGUA, 1988)11. Die Auszeichnung des kolumbianischen Frauennetzwerks Ruta Pacífica de las Mujeres por la Negociación Política del Conflicto en Colombia am 8. März 2001 durch Unifem (http://www.unifem.undp.org) und International Alert (http://www.international-alert.org) mit dem Friedenspreis des Jahrtausends macht deutlich, dass der Kampf um die Menschenrechte mit dem Niedergang der Diktaturen des Cono Sur und mit dem Regimewandel in Zentralamerika keineswegs erloschen war (Camacho B. 2001: 1/21; Interview mit Maria Eugenia Sánchez, Ruta Pacífica..., 25.03.2001). Die neuen Regierungen hatten zwar in Folge internationaler Abkommen und auf Druck der Frauenorganisationen wichtige Gesetze zur Nicht-Diskriminierung von Frauen und im Hinblick auf die reproduktiven Rechte unterzeichnet. Bis zur Erfüllung der Forderungen der „Frauenbewegung" ist in einigen Ländern aber noch ein weiter Weg zurückzulegen. Im Februar 2000 veranstaltete CEPAL in Lima die 8. Regionalkonferenz der lateinamerikanischen und karibischen Frauen. Dort wurden die von den einzelnen Landesregierungen erzielten Ergebnisse bei der Umsetzung der Plattform der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 und die daraufhin eingeleiteten Regionalprogramme evaluiert. Die Frauenorganisationen, die in Lima präsent waren, gaben am 7. Februar eine eigene Erklärung ab:

11

44

Vgl. auch die Übersicht bei Valdés 2000: 65.

„Durante estos cinco años hemos observado avances en el plano legislativo, en la formulación de planes nacionales de igualdad, en la creación de mecanismos gubernamentales a favor de la mujer y el reconocimiento de los derechos ciudadanos. Sin embargo, estos logros han sido desiguales de país a país y en algunos casos se advierten graves retrocesos que afectan las condiciones de vida de las mujeres y el clima democrático de la región" (Guía de las Mujeres 2000 ohne Jahr: 35).

Die in der Plattform von Peking festgehaltenen Rechte können nach Ansicht der Frauen nicht im Rahmen eines neoliberalen Wirtschaftsmodells mit Substanz gefüllt werden. Gleichzeitig gibt es bei der „lateinamerikanischen Frauenbewegung" ein Bewusstsein darüber, dass der politische Wandel von einem kulturellen und symbolischen begleitet sein muss. Diese Doppelstrategie verbreitete sich spätestens mit der von der chilenischen „Frauenbewegung" geprägten Formel der Herstellung von „Demokratie im Haus und im Land" über die Netzwerke des gesamten Kontinents. Der Kampf um Anerkennung, Nichtdiskriminierung und Differenz war zu einem Bildungsschwerpunkt geworden, den die Frauen mit unterschiedlichen Ausrichtungen in den verschiedenen Ländern und Organisationen am eigenen Lebensmodell, in der Klein- und Großfamilie, aber auch in der Gesellschaft betreiben wollten 12 . Dadurch sollte ein neues Verhältnis zwischen den Geschlechtern, zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Ethnien und sozialen Klassen propagiert, Geschlechtergerechtigkeit im privaten und im öffentlichen Raum kulturell verankert werden.

Soziale Ungerechtigkeit als kulturelle Benachteiligung Die kulturelle Dimension der sozialen (Un-)Gerechtigkeit wird vor allem bei der Diskriminierung von schwarzen und indigenen Frauen deutlich, deren Organisationen auf ihre doppelte Diskriminierung hinweisen. Ihr Ursprung liegt in der kolonialen und feudalen Vergangenheit des Subkontinents. Die in Lateinamerika zur (reproduktiven) Arbeit gezwungenen Sklavinnen mussten neben der allgemein grausamen Behandlung, die ihnen aufgrund ihrer Ethnie zuteil wurde, zusätzlich die geschlechtsspezifischen Missachtungen ihrer Menschenwürde hinnehmen. Sie wurden in der Regel unfreiwillig geschwängert und gezwungen, Kinder von unterschiedlichen Männern auszutragen. Ihre „Herren" entrissen den Sklavinnen die Nachkommen, um sie zu verkaufen. Wenn sie die versklavten Frauen veräußerten, wurde der Bauch getrennt vom Rest des Körpers gehandelt. Eine Frau und ihr Unterleib konnten so unterschiedlichen Männern gehören. Auch wenn sie legal zur Freiheit gelangten, war es dem Sklavenhalter vorbehalten, testamentarisch das Schicksal ihrer Fortpflanzungsorgane festzulegen. Eine Frau konnte also theoretisch frei sein, ein Teil des Körpers aber in Gefangen12

Dazu wurden u.a. Frauen- und gender-Programme an zahlreichen Universitäten eingerichtet. 1991 gab es in Brasilien beispielsweise bereits an 23 Hochschulen solche Studiengänge (Valdes 2000: 79). 45

schaft bleiben. So übten die „Besitzer" Macht auf die nachfolgenden Generationen aus. Viele Frauen versteckten deshalb ihre Neugeborenen oder brachten sie erst gar nicht zur Welt. Andere praktizierten den sogenannten cimarronaje doméstico, widersetzten sich im Haus des Sklavenhalters seiner Macht in alltäglichen Dingen. Frauen leisteten aber auch militärischen Widerstand wie die jamaikanische Nationalheldin Nanny oder die brasilianische Luiza Mahim, die sich am Sklavenaufstand in Salvador do Bahía beteiligte. Doch auch nach der Abschaffung der Sklaverei litten die Frauen unter ihrer mangelnden Integration in die Nation und unter dem in den Köpfen von Mestizen und Weißen verankerten Rassismus. Ihr Zugang zur Bildung und zum Arbeitsmarkt blieb beschränkt, oft aufgrund von struktureller und geographischer Marginalisierung in ihren meist in der Peripherie gelegenen Lebensräumen, in die sie vor den Sklavenhaltern geflohen waren. Aber auch den schwarzen Frauen in den Städten gelang der soziale Aufstieg nur begrenzt. Sie endeten in der Regel in den Armenvierteln, in der Arbeitslosigkeit oder im informellen Sektor. 1980 lag der Analphabetismus der Afrofrauen in Brasilien mit 48% doppelt so hoch wie der der Weißen. 85% lebten unter dem Armutsniveau. Die Feminisierung der Armut trifft auch heute noch besonders die schwarze und indigene Bevölkerung (UNIFEM 1995). Der Organisationsprozess der schwarzen Frauen begann in den 80er Jahren sehr zögerlich. Zwar stand die „Frauenbewegung" der Länder den Afroamerikanerinnen grundsätzlich offen gegenüber. „Weiße" und schwarze Frauen nahmen beispielsweise gemeinsam an den Weltfrauenkonferenzen teil, doch sahen diese ihre spezifischen (vor allem die Diskriminierung aufgrund ihrer Hautfarbe betreffenden) Interessen in den meisten Frauenorganisationen nur begrenzt vertreten. Gleiches galt für die männlich dominierten „Schwarzenbewegungen", die zum Teil erst in den 90er Jahren eigene Frauendivisionen gründeten. 1984 fand in Esmeralda (Ekuador) der Primer Encuentro de la Mujer Negra en América Latina statt. Im Juli 1992 schlössen sich Afroamerikanerinnen schließlich in der Dominikanischen Republik {Primer Encuentro de Mujeres Negras de América Latina y el Caribe) im Rahmen des Widerstandes gegen die von Spanien gefeierte „Entdeckung" des Subkontinentes zum kontinentalen Netzwerk Red de Mujeres Afrocaribeñas y Afrolatinoamericanas zusammen. Sie koordinieren es von Costa Rica aus und geben die Zeitschrift Cimarronas heraus. Daran sind alle lateinamerikanischen und karibischen Länder beteiligt, in denen die Nachfahren ehemaliger Sklaven leben, u.a. die Organisation Geledes aus Brasilien, El Movimiento de Identidad de la Mujer Negra aus der Dominikanischen Republik und die Frauensektion der alternativen lateinamerikanischen Presseagentur ALAI (Agencia Latinoamericana de Información) in Ekuador. Die schwarzen Frauen hatten festgestellt, dass wichtige statistische Daten, die es erlauben würden, ihre spezielle Situation besser zu erfassen, von den Institutionen ihrer Länder nicht separat erhoben wurden. Diese und andere Forderungen zur Überwindung des Rassismus brachten sie auch auf der Weltfrauenkonferenz in Peking ein. Das zweite kontinentale Treffen fand 1996 in Costa Rica statt, das dritte im Jahr

46

2000 in Kolumbien. Dort wurden Strategien vorgeschlagen, wie die speziellen Bedürfnisse und Anliegen von schwarzen Frauen bei der Umsetzung der Aktionsplattform von Peking berücksichtigt werden konnten (Cimarronas, Nr. 8, Mai 2000: 6ff., Guia de las Mujeres 2000 ohne Jahr: 39f., Valdés 2000: 74). Die erzielten Fortschritte sind bisher allerdings bescheiden. Den Beginn der Diskriminierung indigener Frauen verortet Barbara Kühhas (2000: 22ff.) mit der Ankunft der Spanier in Lateinamerika 1492. Sie mussten den neuen Herren als Zwangsarbeiterinnen (tezines) dienen. Junge Mädchen wurden entführt und vergewaltigt. Witwen wurden häufig gezwungen, ihre Kinder zu verlassen und sich als Sklavinnen auf den Landgütern der Konquistadoren zu verdingen. Nach der Unabhängigkeit begann für die indigenen Gemeinschaften Lateinamerikas der Kampf um die Erhaltung bzw. Ausweitung der ihnen zugestandenen Territorien sowie für das Recht auf Gleichheit und NichtDiskriminierung bei gleichzeitiger Anerkennung kultureller Differenz und für die Gewährung damit verbundener sozialer, wirtschaftlicher und politischer (Sonder-)Rechte (Helfrich-Bernal 2001: 309ff.). Die meisten indígena-Frauen stellten geschlechtsspezifische Forderungen zugunsten allgemeiner Forderungen nach indigenen Menschenrechten im Rahmen der Organisationsstrukturen ihrer Gemeinschaften zurück. In ihrem Rekurs auf Ältesten- und Prestigestrukturen schlössen die Sprecher der traditionellen Repräsentationsorgane Frauen zunächst aus öffentlichen Ämtern aus. Der Kampf für die Rechte des „Kollektivs" ließ die besondere Situation der indigena-Frauen als „dreifach Diskriminierte" unberücksichtigt und wurde um den Preis der „dreifachen invisibilidad" geführt: Weder die Männer ihrer Gemeinschaften noch die hegemoniale Mestizenkultur oder die Weltöffentlichkeit nahmen ihre spezifischen Anliegen wahr. Erst die Verleihung des Friedensnobelpreises an die guatemaltekische Menschenrechtsaktivistin Rigoberta Menchú rückte die Unterdrückung indigener Frauen stärker ins Bewusstsein. Spätestens jedoch seit dem Aufstand in Chiapas und der Ausweitung der ley revolucionaria der zapatistas wurden die Anliegen indigener Frauen u.a. über die mexikanische Frauenpresseagentur CIMAC (comunicación e información de la mujer, http://www.cimac.org.mx) und das Internet (international) verbreitet. In ihrem Forderungskatalog vertreten die Frauen ein mehrdimensionales Konzept von citizenship. Sie beziehen sich neben allgemeinen Fragen der ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Teilhabe auch auf ihre reproduktiven Rechte - beispielsweise auf den Einsatz von natürlichen oder chemischen Verhütungsmethoden. Sie forderten, dass sie nicht diskriminiert oder bestraft werden dürften, wenn sie keine männlichen Nachkommen zeugten. Alleinerziehende Mütter seien zu respektieren, die Prostitution in den indigenen Gemeinschaften zu verbieten. Die indígenas regten das Verbot des Anbaus und Konsums von Drogen an, der nicht selten die Gewalt gegen Frauen stimulierte.

47

Sie kritisierten die außerehelichen amourösen und sexuellen Beziehungen ihrer Männer 13 . Ein zentrales Anliegen der zapatistas, das um seine geschlechtsspezifische Komponente erweitert wurde, galt in allen Ländern Lateinamerikas (gleiches gilt übrigens auch für Afrika) als wichtige Voraussetzung für die Wahrnehmung der citizenship, gerade für die stark marginalisierte indigene und afroamerikanische Bevölkerung: der Kampf um Land- und Eigentumsrechte. Auch Frauen sollen nach dem Willen der mexikanischen indígenas eigenständige Landrechte und Kredite erhalten, eheliche Güter bei einer Trennung gleichberechtigt aufgeteilt werden. Die Ungerechtigkeit im ruralen Lebensraum war lange Jahre durch unzureichend oder gar nicht durchgeführte Agrarreformen zementiert worden. Die Regierungen, die sich zu solchen Umverteilungsleistungen entschlossen, berücksichtigten mit Ausnahme Kolumbiens (1991), Mexikos (1984) und Kubas (1988) die Belange von Frauen nicht. Deren Zugang zu Landrechten ist nach wie vor stark eingeschränkt (Deere/León 2000: 129f.). Eine der wesentlichen Forderungen der indígenas und Afroamerikanerinnen richtete sich dabei auf die Anerkennung und Legalisierung kollektiver Landtitel, die nicht individuell, sondern an Gemeinschaften vergeben werden. 1996 kam es deshalb zum Encuentro de Trabajadoras Rurales de América Latina y el Caribe, einem ersten Treffen von Landfrauen aus 20 Staaten in Brasilien, bei dem auch indígena-Frauen teilnahmen. Die am kontinentalen Kongress Beteiligten gründeten zur Koordination und Verstärkung ihrer Forderungen das Netzwerk Red Latinoamericana y del Caribe de Mujeres Trabajadoras Rurales.

13

48

Vgl. http://www.nodo50.org/raz/ezln/leymujeres.htm. http://www.actlab.utexas.edu/~geneve/zapwomen/enter.html

Tab. 6: Kollektive Landrechte in lateinamerikanischen Verfassungen und Agrargesetzen Land

Anerkennung der indigenen Forderungen nach Landrcchten

Anerkennung Anerkennung Möglichkeit der des Gewohn- der Privatisiekollektiven heitsrechtes rung Landrechte kollektiver Landrechtc

Verfassung Gesetz Bolivien

1994

1996

Ja

Ja

Nein

Brasilien

1998

Nein

Nein

Nein

Nein

Chile

Nein

Ja

Nein

Ja (1979) Nein (1993)

Kolumbien

1991

1994

Ja

Ja

Nein

Costa Rica

Nein

Ekuador

1998

1994

Ja

Ja

Ja (1994) Nein (1998)

El Salvador

Nein

Guatemala

1998

Ja

Ja

Nein

Honduras

Nein

Ja

Nein

Nein

Mexiko

1992

Ja

Teilweise

Ja

Nikaragua

1987

Ja

Ja

Nein

Peru

1993

Ja

Ja

Ja

1992

1995

Quelle: Deere/León 2000: 295.

Die gemachten Fortschritte stagnierten dabei in einigen Ländern in den 90er Jahren, in Kolumbien beispielsweise durch die Zuspitzung des Gewaltkonfliktes, der die Landbewohnerinnen zur Flucht aus ihren angestammten Regionen zwingt. Die Führungsfiguren der comunidades negras e indígenas in Kolumbien werden ebenso bedroht bzw. ermordet wie die der Landlosenbewegung in Brasilien. Die strukturelle Benachteiligung der indígenas führte nach und nach zur Gründung von Frauensektionen in den lateinamerikanischen Indianerorganisationen - wie Mitte der 80er Jahre beispielsweise in Ekuador. Die Frauen spielen in ihren Organisationen und bei der sozialen Mobilisierung der Bevölkerung eine zunehmend wichtige Rolle. Dies wurde beispielsweise beim Aufstand 1990 in Ekuador deutlich, als weibliche Mitglieder der indigenen Zusammenschlüsse ECUARRUNARI, COMFENAIE und CONAIE Führungs- und Mobilisierungsfunktionen übernahmen (Valdés 2000: 62). Im Dezember 1997 fand außerdem

49

in Mexiko der zweite Encuentro Continental de Mujeres de las Naciones de Abya-Laya statt. Daran beteiligten sich Ethnien aus Bolivien, Chile, Kolumbien, Ekuador, Mexiko, Peru und Venezuela (Guia de las Mujeres 2000 ohne Jahr: 26f. und 41 f.). Auch diese Veranstaltung sollte den kontinentalen Zusammenhalt zwischen indigenen Frauen stärken und die mexikanischen Ideen über die Landesgrenzen hinaus verbreiten. Der Kampf der Frauen gegen Rassismus und Diskriminierung kommt allerdings nur langsam voran. Dennoch gibt es bescheidene Erfolge: Im Schlussdokument der 23. Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom Juni 2000 (Peking + 5) wurde rassistisch motivierte Gewalt verurteilt. Und: Die guatemaltekische Regierung setzte in ihrem Menschenrechtsbüro eine eigene Abteilung für die Menschenrechte der indigenaFrauen (Defensoria de la mujer indigena) ein (United Nations 2001: 20, 22).

Perspektiven lateinamerikanischer Frauenpolitik für mehr soziale Gerechtigkeit Im Lateinamerika der 80er und 90er Jahre liefen gleichzeitig widersprüchliche Prozesse im Hinblick auf die verschiedenen Dimensionen der sozialen Gerechtigkeit und deren Auswirkungen auf die Frauen des Kontinents ab. Zum einen verschlechterten Globalisierung und neoliberale Strukturreformen die ökonomischen Rahmenbedingungen. Dies wiederum hatte nicht nur negative Konsequenzen für die ökonomische, sondern auch für die politische und kulturelle Dimension der sozialen Gerechtigkeit. Im Zentrum der Auseinandersetzungen um die Folgen neoliberaler Politik und die Zuspitzung von Gewaltkonflikten standen nicht zuletzt indigene und schwarze Frauen. Dies traf sowohl auf den indigenen Aufstand in Chiapas zu als auch auf die Proteste in Ekuador und die Verlagerung des kolumbianischen Krieges in die peripheren Regionen des Landes. Andererseits scheint die „Frauenbewegung" heute eine gewisse (für den Staat wichtige) Expertise erworben zu haben. Die neuen politischen Rahmenbedingungen erlaubten eine Annäherung zwischen Staat und den unterschiedlichen Frauenorganisationen. Die zivilgesellschaftlichen Gruppen erreichten, dass die meisten Regierungen des Subkontinents und der Karibik mit wenigen Ausnahmen die einschlägigen internationalen Konventionen unterzeichneten und vielfach auch ratifizierten 14 . Einige haben Menschenrechtsinstitutionen (Defensorias

14

Den internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966 haben mit Ausnahme von Kuba, St. Kitts und Nevis sowie St. Lucia alle lateinamerikanischen und karibischen Staaten ratifiziert. Den internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der gleichzeitig verabschiedet worden war, ratifizierten alle Parlamente bis auf die Legislativen von Kuba, Belize, Haiti, St. Kitts und Nevis sowie St. Lucia. Die CEDAW-Konvention (Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women) von 1979 wurde von 33 Ländern ratifiziert. Das optionale Protokoll zur CEDAW-Konvention aus dem Jahr 1999 hatten bis Oktober 2001 nur Bolivien, Costa Rica,

50

del Pueblo) eingerichtet - mit ihrer Unterabteilung für Frauenangelegenheiten (Defensoría de la Mujer). In verschiedenen Ländern kam es zur Gründung von parlamentarischen Kommissionen, die sich speziell mit den reproduktiven, sozialen, ökonomischen und politischen Rechten von Frauen beschäftigen und sich für eine entsprechende Gesetzgebung einsetzen. Nicht wenige Administrationen legten eigens Programme zur Gleichstellung von Frauen auf und organisierten gender-Trainings für staatliche Angestellte15. Die Lobbyarbeit der Frauenorganisationen (vor allem in Folge der internationalen Frauenkonferenzen) führte auch zur Etablierung staatlicher Institutionen, die sich um Gleichstellung und Nichtdiskriminierung bemühen. Eine erste „Welle" solcher Einrichtungen entstand nach der Weltfrauenkonferenz 1975 in Mexiko. Dazu zählte beispielsweise die Comisión Asesora Presidencial sobre la Mujer in Venezuela. Eine zweite Gründungswelle lösten die politischen Transformationsprozesse aus. In diesem Rahmen wurde der Conselho Nacional dos Direitos da Mulher (CNDM) 1985 in Brasilien als Dependenz des Justizministeriums ins Leben gerufen. Der chilenische Servicio Nacional de la Mujer (SERNAM) entstand 1990 auf Drängen der Frauenbewegung beim Übergang zur Demokratie. In Kolumbien schuf die Regierung Gaviria 1990 durch das Dekret 1878 im Rahmen eines breiten Reformprozesses die Consejería Presidencial para la Juventud, la Mujer y la Familia. Die Nachfolge-Regierung Samper wandelte sie in die Dirección Nacional de Equidad para las Mujeres (DINEM, Dekret 1440 von 1995) um. Diese Abteilung war in der Administration relativ autonom. Die Direktorin stammte aus der „Frauenbewegung". Sein Nachfolger Andrés Pastrana hielt schließlich eine dem Präsidialamt unterstellte Abteilung ohne viel Einfluss und ohne eigenen Haushalt für ausreichend (Wills 2000: 59, Helfrich-Bernal 2000: 3ff.). Eine dritte Welle der Institutionalisierung setzte nach der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 ein. Präsident Fujimori gründete 1996 den Ministerio de Promoción de la Mujer y Desarrollo Humano (PROMUDEH). In Mexiko richtete die Regierung im gleichen Jahr den Programa Nacional de la Mujer (PRONAM) ein (Htun 1998: 12ff.). Die konkreten Fortschritte, die diese Institutionen für die Frauen ihrer Länder erzielten, hingen von den jeweiligen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen ab. „Si bien tales agencias tienen el potencial de ser instrumentos efectivos en la promoción de los intereses de la mujer, no es menos cierto que para obtener la cuota de poder que lo haga posible deben darse primero ciertas condiciones. Con frecuencia la eficacia de los servicios de la mujer esta determinada por el interés personal del primer mandatario y otras altas autoridades, por la relación que tengan con el ministerio del cual dependen, por la estabilidad de las asignaciones presu-

15

die Dominikanische Republik, Panama, Paraguay, Peru und Uruguay ratifiziert. Es war allerdings von 18 Regierungen bereits unterzeichnet worden. Vgl.: http://www.un.org/womenwatch/daw/cedaw und Daeren: 2001: 29ff. Vgl. dazu die Übersicht bei Daeren 2001: 48. 51

pestarias y por la credibilidad que tengan ante el movimiento de mujeres, cuyo apoyo a nivel nacional es clave. Sin esas condiciones, las agencias de la mujer se pueden convertir en ghettos en donde los temas de la mujer permanecen aislados del centro de la actividad del estado, o bien en instrumentos para promover los intereses del partido gobernante y no los de la mujer" (Htun 1998: 12).

So hat in Chile und Paraguay die Leiterin des Servicio Nacional de la Mujer den Rang einer Ministerin und wird an den Kabinettsbesprechungen beteiligt. Diese Verortung garantiert den Direktorinnen einen relativ hohen Stellenwert innerhalb des Staates. Frauenorganisationen in Peru kritisierten dagegen, dass PROMUDEH lediglich Teil der Wahlmaschinerie Fujimoris gewesen sei. Der Einfluss des mexikanischen PRONAM im Staat war zunächst gering, da die Institution über keinen autonomen Haushalt verfugte. Der chilenische SERN AM sah sich den Angriffen der politischen Rechten des Landes ausgesetzt. Viele dieser Institutionen zeichnen sich durch eine „traditionelle" Frauen- und Familienpolitik aus. Die dort durchgeführten Programme basieren oft nicht auf einer Gesellschaftsanalyse, die die geschlechterimmanenten Machtkonstellationen berücksichtigt und zu verändern sucht. Nationale oder sektorale Gleichstellungspläne (Planes de Igualdad de Oportunidades) wurden von Frauenorganisationen vorgeschlagen und als Folge internationaler Diskussionen vom Staat als Instrumente geschlechtergerechter Planung zunehmend Ernst genommen. Solche equality plans verabschiedeten mit Ausnahme Uruguays alle lateinamerikanischen und karibischen Länder 16 . Einige Regierungen entschieden sich für zusätzliche Programme im Arbeitssektor 17 oder im Bereich der Planung ländlicher Entwicklung 18 . Frauenorganisationen kritisierten in den 90er Jahren vor allem die mangelnde Umsetzung der Pläne und der internationalen Abkommen. Sie forderten u.a. die Einlösung der in der CEDAW-Konvention gemachten Zusagen. Ein weiteres Anliegen war die pünktliche Berichterstattung über die Einhaltung der staatlichen Verpflichtungen. Hinzu kam die Ratifizierung des CEDAWZusatzprotokolls und die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes, der u.a. die Defizite der nationalen Rechtsstaatlichkeit kompensieren soll. Doch unabhängig von den Schwächen, auf die hier im Detail nicht weiter eingegangen werden kann, reflektiert die neue staatliche Frauenpolitik die gesteigerte Wahrnehmung der Belange von Frauen in Lateinamerika, immerhin die Hälfte der Bevölkerung des Subkontinents. Ihre Umsetzung scheiterte in den 90er Jahren nicht nur am politischen Willen der Regierungen und deren Prioritätensetzung, sondern auch an den leeren Staatskassen. Als wichtige Stützen oder als Bremser von Programmen zur Förderung von mehr sozialer Geschlechtergerechtigkeit in all' ihren Dimensionen könnten sich deshalb die internationalen Geber- und Kreditorganisationen entpuppen - je nachdem, wie sie ihre finan16

17

18

52

Über Grenada standen keine Informationen zur Verfügung, vgl. Daeren 2001: 14. Dazu zählten Argentinien, Brasilien, Costa Rica, Kuba, Mexiko, Paraguay und Peru. Dazu gehörten Chile, Costa Rica, Kuba und El Salvador.

z i e l l e n und inhaltlichen Schwerpunkte setzen. Der Erfolg hängt aber auch v o m Z u s a m m e n h a l t der „ F r a u e n b e w e g u n g " und ihrem Organisationsniveau ab. Ihr wird v o r g e w o r f e n , dass sie nicht mehr ausreichend für Frauenrechte u n d s o z i a len W a n d e l mobilisiert, sondern, reduziert a u f Nichtregierungsorganisationen, ihr Experten w i s s e n an den neoliberal verschlankten Staat verkauft ( A l v a r e z 1999). N i c h t zuletzt liegt die A u f h e b u n g der halbierten Gerechtigkeit in den H ä n d e n der Regierungen: S i e k o m m e n d i e s e m A n l i e g e n der Frauenorganisationen ein Stück näher, in d e m sie die Bürgerinnen als w i c h t i g e politische u n d s o ziale Akteure s o w i e als v o l l w e r t i g e Mitglieder der N a t i o n e n anerkennen und integrieren, o h n e dabei ihre individuellen, s o z i a l e n und kulturellen D i f f e r e n z e n zu v e r w i s c h e n .

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Heinrich-W. Krumwiede

Soziale Ungleichheit und Sozialstruktur in Lateinamerika Hauptziel des Beitrages ist es, zur Konzipierung einer der sozialen Realität Lateinamerikas angemessenen Sozialstrukturanalyse beizutragen. Denn nur mit ihrer Hilfe lässt sich auf differenzierte Weise einschätzen, welche politischen Implikationen das Ungleichheitsproblem hat und inwieweit politische Chancen zu seiner Korrektur bestehen. Zunächst wird aber mit einer Skizze der in Lateinamerika herrschenden extremen Einkommensungleichheit und Massenarmut deutlich gemacht, warum Lateinamerika nach wie vor zu Recht als „ungerechte Gesellschaft" (Mols/Öhlschläger 1997) bezeichnet werden kann. Zwar bildet die extreme Einkommensungleichheit ein Grundcharakteristikum aller lateinamerikanischen Länder (Waldmann 2000: 51 f.), und in allen lateinamerikanischen Ländern leben beträchtliche Teile der Bevölkerung in einer Situation der Armut. Aber die sozioökonomischen Unterschiede, vor allem in Bezug auf den Entwicklungsstand, zwischen den lateinamerikanischen Ländern 1 sind doch erheblich (vgl. Tabelle 1), z.B. größer als diejenigen unter den EU-Staaten 2 . Deshalb muss neben Gemeinsamkeiten auch auf Unterschiede eingegangen werden. Hier interessieren weniger Unterschiede zwischen dem relativ „entwickelten" und dem „unterentwickelten" Lateinamerika als Unterschiede innerhalb des relativ „entwickelten", Urbanen Lateinamerikas. Die Auswahl der vier Länder, die näher behandelt werden sollen (Brasilien, Chile, Costa Rica und Mexiko), reflektiert dieses Interesse. Mit Brasilien und Mexiko werden die beiden bevölkerungsreichsten Staaten Lateinamerikas berücksichtigt, in denen über die Hälfte 1

2

Mit „Lateinamerika" ist hier generell, falls nichts anderes vermerkt, Iberoamerika (ohne Kuba) gemeint. So übertraf 1999 das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der drei wohlhabendsten EU-Länder (Dänemark, Österreich und Deutschland) jenes der drei ärmsten (Spanien, Griechenland und Portugal) um das 2,4fache. Demgegenüber war das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen der drei reichsten Länder Lateinamerikas (Argentinien, Uruguay und Chile) um das 8,3fache größer als dasjenige der drei ärmsten (Bolivien, Honduras und Nikaragua). Berechnet nach World Bank 2001: 274f.

57

der Lateinamerikaner leben (Brasilien: rund 35%, Mexiko: rund 20%). Chile gilt vielen als Modell erfolgreicher Strukturanpassung (vgl. z.B. die Publikation der Weltbankexperten Perry/Leipziger 1999). Costa Rica könnte wegen seiner günstigen Sozialwerte (sie sind besser, als es bei dem Pro-Kopf-Einkommen des Landes zu erwarten wäre) als eine Art „Schweden Lateinamerikas" bezeichnet werden 3 . Extreme Einkommensungleichheit und Massenarmut als Grundcharakteristika des modernen Lateinamerika 4 In Lateinamerika, das in Bezug auf Entwicklungs- und Wohlstandsniveau zu der „Mittelklasse" der Entwicklungsregionen gehört, sind die Einkommen ungleicher verteilt als in allen anderen Regionen, nicht nur jenen, in denen die modernen Industrieländer beheimatet sind5. Aus westeuropäischer Perspektive erscheint die in Lateinamerika herrschende Einkommensungleichheit als krass. So weisen die lateinamerikanischen Länder fast durchweg Gini-Koeffizienten von mehr als 0,5 auf (vgl. Tabelle l) 6 , während sich die westeuropäischen um 0,3 bewegen 7 . Im Vergleich zu der in Westeuropa herrschenden - durchaus stark ausgeprägten - Einkommensungleichheit ist die lateinamerikanische in der Tat extrem. Während in Deutschland, das mit einem Gini-Wert von 0,3 einen Mittelplatz in Westeuropa einnimmt, das oberste Einkommensdezil mehr als 20% des Gesamteinkommens auf sich konzentriert und auf das unterste Dezil nur gut drei Prozent entfallen, belaufen sich die entsprechenden Relationen für Brasilien, Chile und Mexiko auf mehr als 40%, also das Doppelte, und weniger als 1,6%, also die Hälfte (vgl. hierzu und zum folgenden UNDP 2001: 182f.).

3

Costa Rica wird wie Chile von der UNDP (2001: 257) der Ländergruppe mit einem high

human development-lmlex zugerechnet. 5

6

7

58

Ausführlicher wird zur Thematik Stellung genommen in: Krumwiede 2002. Mit „moderne Industriegesellschaften" sind hier die Gesellschaften wohlhabender OECDLänder gemeint, die wohl korrekter als „industrielle Dienstleistungsgesellschaften" (zum Terminus siehe Geißler 1996: 138) zu bezeichnen wären. Da es aber in der Entwicklungsländerliteratur üblich ist, von „Industrieländern" als Gegenpol zu „Entwicklungsländern" zu sprechen, werden hier die Termini „moderne Industrieländer" bzw. „moderne Industriegesellschaften" benutzt. Die in Tabelle 1 wiedergegebenen, von der CEPAL ermittelten Gini-Werte würden etwas niedriger ausfallen, wenn ein anderes Berechnungsverfahren zur Anwendung käme. So würde der Gini-Wert für Brasilien (1999) statt 0,640, wie in der Tabelle angegeben, 0,623 nach dem OECD-Verfahren, 0,614 nach dem US-amerikanischen Verfahren und 0,611 nach häufig in Westeuropa benutzten Verfahren (Luxemburger Einkommensstudie) betragen. Vgl. CEPAL 2001a: 84. Der Gini-Koeffizient beschreibt die Abweichung der tatsächlichen Einkommensverteilung (oder auch von der Vermögensverteilung, wenn diese bekannt ist) innerhalb einer Gruppe, meist der Bevölkerung eines Landes, von der völligen Gleichverteilung (Gini-Koeffizient = 0). Je höher der Gini-Koeffizient, desto ungleicher die Verteilung. Bei einem Wert von 1 hat einer alles, die anderen haben nichts.

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0,542 0,440 0,559 0,640 0,539 0,498 0,557 0,473

Sozialversicherte Gini-K. der Einkommensin % der Bev. verteilung (1989-98/ (1999)*

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11999

Quelle: CEPAL " Argentinien, Brasilien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Paraguay, Uruguay, Venezuela.

Was die Chancengleichheit angeht, so kann auch die geographische oder regionale Zugehörigkeit eine hohe Rolle spielen. So kommt Armut eher auf dem Lande vor als in der Stadt (64% gegenüber 37% der Bevölkerung), obwohl die Zahl der in den Städten lebenden Armen fast doppelt so hoch liegt wie die der auf dem Land lebenden (134 Mio. gegenüber 77 Mio.); dies ist Ergebnis des tiefgreifenden Urbanisierungsprozesses, dem die lateinamerikanischen Länder in der Vergangenheit unterworfen waren. Zu Beginn der 90er Jahre lag die Hauptsorge der Lateinamerikaner bei der hohen Inflation. Die Regierungen, denen eine Stabilisierung der Inflationsrate gelang, erhielten auch bei Wahlen starke Unterstützung (Mora y Araujo 1992). 96

Nur einige wenige Gruppierungen, insbesondere die im öffentlichen Dienst Beschäftigten, reagierten negativ auf die relativen Einbußen ihrer Löhne, Gehälter und Privilegien, wie die CEPAL (1997a) belegt hat. Die übrige Bevölkerung setzte auf die Zukunft, auf die Hoffnung, dass auch sie einen Teil der Früchte des Wirtschaftswachstums würde ernten können. Heute hingegen herrscht vor allem Unsicherheit vor. Die zuvor beschriebene wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage hat dazu beigetragen, Hoffnungen zu zerschlagen und vielfach den Überdruss angesichts der ständigen Anpassungsprogramme zu nähren. Meinungsumfragen, die in 16 Ländern durchgeführt wurden, zeigen, dass etwa 67% der Befragten die Verteilung des Reichtums für ungerecht halten, und 61% der Meinung sind, ihr Land würde sich nicht entwickeln (CEPAL 1998a). Selbstverständlich basieren diese Ansichten stark auf der persönlichen Erfahrung der jeweils Befragten. Diejenigen, die zu den aufsteigenden Schichten zählen oder die soeben der Armut entflohen sind, denken natürlich nicht genauso wie jene Mitglieder der Mittelschichten, die heute zu den Verarmten zählen und die ihren derzeitigen Lebensstandard mit dem zuvor erfahrenen vergleichen können. Ferner bestehen Generationsunterschiede. Die derzeitige Generation empfindet ihre Chancen als geringer im Vergleich zu der vorangegangenen, aber auch zur nachfolgenden Generation (Latinobarömetro 2000: 11). Unter Jugendlichen ist Unmut über die Schwierigkeiten, denen sie auf dem Arbeitsmarkt bei der Suche nach einer adäquaten Stelle begegnen, recht verbreitet. Diese Wahrnehmung entspricht den Tatsachen, insbesondere, was die Entwicklung des Arbeitsmarktes und die Probleme der mittleren und kleineren Unternehmen betrifft. In Chile, wo die Wirtschaftsreformen mehr als in anderen Ländern reifen konnten und hohe Wachstumsraten erzielt wurden, ist - anstelle der Wahrnehmung von Armut als Knappheit von Mitteln - eine zunehmende Betroffenheit der Bevölkerung über die Ungleichheit zu verzeichnen. „Dieser Wandel bedeutet, dass die Bevölkerung der unterschiedlichen Geschwindigkeit besondere Aufmerksamkeit zuteil werden lässt, in der die Vorteile des wirtschaftlichen Fortschritts die einzelnen Schichten unserer Gesellschaft erreichen" (ManziCatalän in: Toloza/Lahera 1998: 555). Die Befragten der unteren und mittleren Einkommensschichten meinen, dass das Niveau an Armut und derzeitiger Ungerechtigkeit dem bereits erreichten Wirtschaftswachstum nicht entspräche. Sie sind der Meinung, dass diese Inkongruenz aus der Dynamik des Systems selbst und aus der Politik der Entscheidungsfinder resultiere, die sie wegen ihrer sozialen Insensibilität kritisieren. Ferner fordern sie eine aktivere Rolle des Staates in der Wirtschaft. Die Bürger haben sich, so scheint es, von der Politik distanziert, sei es aus Enttäuschung oder weil sie die Verbände nicht mehr als geeignete Instanzen zur Wahrnehmung ihrer Interessen akzeptieren. Dennoch wird die Demokratie als bestes Regierungssystem nach wie vor akzeptiert, auch wenn nur 37% der Lateinamerikaner mit deren Leistung zufrieden sind (Latinobarömetro 2000: 6). 97

Perspektiven der Politik Politik muss durch adäquate Entscheidungen im Wirtschafts- und Sozialbereich ihren Teil dazu beitragen, die Ziele von Wachstum und Gerechtigkeit zu erreichen. Eine gute Wirtschaftspolitik hat auch positive soziale Auswirkungen, da das Wirtschaftswachstum die grundlegende Bedingung zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Steigerung der Gehälter ist. Selbst wenn nur Beschäftigungen mit niedriger Produktivität und Einkommen geschaffen werden, wie es in diesen letzten Jahren vorwiegend der Fall war, konnten die armen Haushalte ihre Beschäftigungsdichte erhöhen und entsprechend ihr Pro-Kopf-Einkommen, so dass sie aus der Armut herauskommen konnten. Die Bedeutung, die ein zweites Einkommen im Haushalt erlangen kann, ist ausgesprochen hoch; dies wird ganz besonders augenfällig, wenn man die äußeren Quintile an den Polen der Einkommensverteilung betrachtet (Abbildung 11). Das Wachstum schafft seinerseits auch wieder höhere öffentliche Einkünfte, die man dann dazu benutzen kann, Sozialpolitiken zu finanzieren. Abb. 11: Kernfamilien mit mehr als einem Einkommen, 1999 (%) 172,1

Guatemala

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Uruguay Mexiko

78,7 | 54,6

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Honduras

170,6

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Bolivien Brasilien

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Costa Rica Kolumbien

173,7 172,6

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Argentinien

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Chile Dom. Rep. 0,0

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• 70,9 68,1

20,0

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Quelle: CEPAL

98

71,9

40,0

50,0

60,0

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70,0

80,0

90,0

Was die Sozialpolitiken angeht, so ist evident, dass nicht sie allein das Ziel der Gerechtigkeit verfolgen können. Die Schaffung von Wohlstand ist nicht ihre ausschließliche Verantwortung, sondern auch die der Wirtschaftspolitik. Die Sozialpolitiken beeinflussen direkt oder indirekt die Armutsminderung und die Verbesserung der Lebensbedingungen über die drei grundlegenden Funktionen: Investition in das human capital, sozialen Ausgleich, soziale Integration und Kohäsion. Die CEPAL geht davon aus, dass Sozialpolitik dreierlei Prinzipien verfolgen sollte: Universalität, Solidarität und Effizienz (CEPAL 2000b). Diese sind ganz zweifellos wichtig, schließen aber die Auswirkungen von Sozialpolitik nicht ein: Allein ihretwegen lohnt sich ja gesellschaftliche Betätigung. Außerdem handelt es sich bei den drei Prinzipien um willkürliche Konzepte, die sich wandeln, je nach dem, wer sie verwendet. So ist der Universalismus Teil des traditionellen Diskurses lateinamerikanischer Regierungen, Grundlage für ein soziales Sicherungssystem, das einige wenige bevorzugt und viele ausschließt. Daher haben viele Autoren auch von einem „ausschließenden Universalismus" gesprochen oder auch von einem „sozial differenzierten Universalismus". Der erste Ausdruck verweist auf diejenigen, die von jeglicher Sicherung ausgeschlossen werden; der zweite legt den Akzent darauf, dass es zwar viele gibt, die durch das System bedient werden, dass die Leistungen aber in Höhe und Qualität beachtlich schwanken, und zwar nicht, weil die Bedürfnisse sich so unterschieden, sondern je nach dem sozialen Status der Nutznießer: Im Allgemeinen werden diejenigen, die ohnehin mehr besitzen, auch besser bedient. Der Universalismus wird nun aber eigentlich als die Bemühung verstanden, ein öffentliches Angebot für alle gleichermaßen erreichbar zu machen. Dies ist offenkundig nicht gelungen, wie diejenigen herausstellen, die die soziale Differenzierung der Leistungen kritisieren; die Unterschiede sind unabhängig von den Bedingungen und Bedürfnissen der Empfänger und tragen bestenfalls dazu bei, die bereits bestehenden Unterschiede zu reproduzieren. Daher ist ein richtig verstandener Universalismus jener, der bemüht ist, die Bedürfnisse zu befriedigen und dabei die zuvor bestehenden Unterschiede zu kompensieren. Um dies zu erreichen, muss man Leistungen notwendigerweise gezielt bündeln. Diese Konkretisierungen erscheinen uns deshalb notwendig, weil in den vergangenen Jahren viele selbsternannte Progressisten „ein großes Durcheinander" um dieses Thema geschaffen haben, da sie die Instrumente - wie eben das der gezielten Bündelung von Maßnahmen für bestimmte Gruppen oder auch die Privatisierung des öffentlichen Sektors - mit den Prinzipien durcheinanderbringen, die die Reformen im Sozialbereich leiten sollten (Ocampo 2001). Solidarität ist im natürlichen Sinne ein Gefühl, dass die Menschen dazu bringt, sich gegenseitig zu helfen, das Gegenteil also von Egoismus. Aber wenn es sich um ein Prinzip der Sozialpolitik handelt, wird derselbe Begriff für etwas ganz anderes benutzt. Der positive Inhalt, den er im common sense erhält, wird 99

dabei aufgeweicht, da es sich dann in Wirklichkeit um etwas Erzwungenes und durch den Staat Aufgesetztes handelt, dem sich die Bürger nicht entziehen können und dessen Höhe sie nicht bestimmen können (Salas Rosso 2000). Das Verhältnis zwischen den Nutzen dieser Sozialpolitik (gemessen in Gütern und Dienstleistungen) und der dabei entstehenden Kosten wird als Effizienz bezeichnet. Die Politik sucht nach Alternativen, welche das Kosten-NutzenVerhältnis optimieren. Aber man muss sich bewusst sein, dass die Produkte kein Zweck an sich sind. Um Bildung und Ausbildung bereit zu stellen, muss man Schulen bauen, die Lehrer bezahlen, aber diese Tätigkeiten sind nur Mittel, um das eigentliche Ziel zu erreichen, nämlich, den zu Erziehenden Kenntnisse und Werte zu vermitteln. Daher ist ein Schlüssel der Sozialpolitik - was die oben angeführte Aufzählung der Prinzipien vernachlässigt - die Auswirkung, welche in der Höhe des Nutzens in der Zielgruppe der Bevölkerung liegt, je nach den Zielsetzungen der je spezifischen Politiken. Ein weiteres Diskussionsthema ist die Rolle, die der Staat in der Sozialpolitik zu spielen habe. Einige meinen, dass dieser an seiner Fähigkeit, Armut zu bekämpfen, in der Folge der Strukturanpassungspolitiken sehr verloren habe. Dennoch gab es keine solche Reduzierung des sozialen Apparates des Staates. Ein gutes Indiz ist hierfür die Höhe der Sozialausgaben. Nachdem viele, aber längst nicht alle Staaten diese in den 80er Jahren beträchtlich reduziert hatten - und entgegen anders lautenden Informationen ohne Analyse der vorhandenen Daten - , hat die Region die höchsten Ressourcen ihrer Geschichte auf das Soziale verwandt, sowohl, was den Anteil des BIP (Abbildung 12) angeht, als auch in ProKopf-Ausgaben (Abbildung 13). Die Sozialausgaben pro Einwohner nahmen in den 90er Jahren um 50% zu und wuchsen im regionalen Durchschnitt von US$ 360 auf US$ 540 pro Kopf an; inflationsbereinigt verzeichneten nur zwei Länder eine Verringerung dieser Ausgaben. Somit stieg über die Dekade hinweg die relative Bedeutung des Anteils, der auf das Soziale entfiel von 10,4% auf 13,1% des BIP. Hierbei müssen jedoch die bedeutenden Schwankungen bei der Höhe der Ausgaben nach Ländern beachtet werden. Während Argentinien und Uruguay mehr als US$ 1.500 pro Einwohner ausgaben, erreichten Honduras, Nikaragua, El Salvador und Guatemala nicht einmal US$ 100.

100

Abb. 12: Lateinamerika (17 Länder): Öffentliche Ausgaben in Prozent des BIP, 1990 und 1999

10 • 1990

15

20

25

11999

Quelle: CEPAL, Division de Desarrollo Social, auf der Grundlage der Daten zu den Sozialausgaben. ai Letzte Angabe fur 1998. b/ Erste Angabe für Bolivien fur 1995, für El Salvador für 1994.

101

Abb. 13: Lateinamerika (17 Länder): Sozialausgaben pro Einwohner, 1990 und 1999 (in US-Dollar von 1997)

El Salvador b)

^

Nikaragua

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Honduras 0

200

400

600 • 1990

800

1000

1200

1400

1600

1800

1 1999

Quelle: CEPAL, Division de Desarrollo Social, auf der Grundlage der Daten zu den Sozialausgaben. a) Letzte Angabe fiir 1998. b) Erste Angabe fiir Bolivien für 1995, fur El Salvador fiir 1994.

102

Die Sozialausgaben sind redistributiv (Abbildung 14). Wenn man den monetären Wert für die Leistungen hinzu zählt, die die Menschen von den öffentlichen Politiken erhalten, so verbessert sich die Verteilung. Die 20% ärmsten Haushalte erhalten einen Anteil an den Sozialausgaben - ausgenommen die Krankenversicherung - , der im Schnitt ihren Anteil am Primäreinkommen um das Sechsfache überschreitet (28,2% der Sozialausgaben im Vergleich zu 4,8% der Gesamteinkommen). Diese Transferleistungen stellen 43% der Einkommen der geringer Verdienenden dar (Abbildung 15). Abb. 14: Einkommensverteilung, bezogen auf Primäreinkommen, Gesamteinkommen und Sozialausgaben, in Haushalts-Quintilen"

Quelle: CEPAL a) Letzte Angabe für 1998. b) Erste Angabe für Bolivien für 1995, für El Salvador für 1994.

103

Abb. 15: Lateinamerika (8 Länder): Umverteilungseffekt der Sozialausgaben ohne soziale Sicherung auf das Haushaltseinkommen (Gesamteinkommen = 100)

Quintil I

Quintil II

Quintil III

Quintil IV

Quintil V

ü' Soziale Sicherung H Sozialausgaben ohne soziale Sicherung • Haushaltseinkommen ohne soziale Sicherung

Q u e l l e : C E P A L . D a s Q u i n t i l I entspricht d e m ä r m s t e n Q u i n t i l , Q u i n t i l V d e m r e i c h s t e n .

Dennoch sind die Sozialausgaben nicht in ausreichendem Maße redistributiv. Die am wenigsten Bedürftigen bekommen noch immer einen enormen Anteil an den Sozialausgaben (Abbildung 16). Hier trifft definitiv das Sprichwort den Nagel auf den Kopf, nach dem „viel ausgeben (oder mehr ausgeben) nicht notwendigerweise sinnvoll ausgeben" bedeutet (Abbildung 17). Die noch ausstehenden Aufgaben der lateinamerikanischen Sozialpolitiken lauten: höhere Effizienz, höhere Effektivität und gezieltere Programme und Ressourcen. Somit ist es vor allem notwendig, sich um eine stärkere Bündelung zu bemühen.

104

Abb. 16: Entwicklung der Sozialausgaben in Lateinamerika nach Sektoren (Sozialausgaben in Prozentanteil des BIP)

14 CL

m 8

10

a

s

•c

6•

10

A 4 -

-o c o CL

CT (0 D .S N O .2

£0

13,1

12

2,6

2,9 1,2

2i

1,4

0 Gesamte Sozialausgaben

Bildung

e 1990-1991

Gesundheit

Soziale Sicherung

Wohnungswesen und sozialer Wohlstand

11998-1999

Quelle: CEPAL, División de Desarrollo Social, auf der Grundlage der Daten zu den Sozialausgaben.

Man muss sich auch bewusst machen, dass dieses window of opportunities, das durch die Steigerung der Sozialausgaben geöffnet wurde - und das den demographischen Bonus 6 begleitet, von dem die Region profitiert - nicht in ausreichendem Maße genutzt wurde, indem nämlich die öffentlichen Ressourcen für Tätigkeiten verwandt wurden, die wohl kaum als vernünftig und prioritär bezeichnet werden können 7 , oder auch für Sozialprogramme, die schlecht entwickelt und kaum zielgerichtet waren.

6

7

Unter einem demographischen Bonus versteht man den Vorteil, der sich für die Region Lateinamerika aus dem langsameren Wachstum der Bevölkerung ergibt. Dieser verursacht einen Anstieg der erwachsenen Bevölkerung im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung; damit verringert sich, zumindest theoretisch, der Anteil der Nichterwerbs- an der Gesamtbevölkerung (CEPAL/CELADE/BID 1996). Dem Umfrageinstitut Equis zufolge gibt es eine nie gekannte Ungleichheit zwischen den Einkommen der Provinzabgeordneten und nationalen Abgeordneten und den Armen in den jeweiligen Wahlkreisen, was „proportional zur Armut in der von den Parlamenten vertretenen Gemeinden steigt." Ein Extrem findet sich in der Provinz Formosa, wo sich die Kosten für einen Provinzabgeordneten auf US$ 1.58 Mio. belaufen, 5.722 Mal das Einkommen eines armen Menschen aus dieser Region. Dies ist kein Einzelfall. In anderen Provinzen (Corrientes, Tucumän, Santa Fe, Chaco, Buenos Aires) belaufen sich die Kosten für jeden einzelnen Abgeordneten auf US$ 1 Mio. und 1,5 Mio; siehe La Nation, Buenos Aires, 17.01.2001 und 27.03.2001, www.lanacion.com.ar).

105

Abb. 17: Lateinamerika (8 Länder): Verteilung der Sozialausgaben ohne soziale Sicherung in Quintilen der Haushalte (Gesamtausgaben = 100)

30,0 26,1%

0,2%

20,5%

I

18,0%

I

15,2%

I

17,1% 3,2%

10,0

9.1%

10,5%

Quintil I

Quintil II

Quintil III

Quintil IV

Quintil V

I Sozialausgaben ohne soziale Sicherung «: Ausgaben für soziale Sicherung Quelle: CEPAL

Die Rolle der Sozialpolitiken Sozialpolitik hat drei Hauptfunktionen: a) die Schaffung von human capital, b) die Förderung sozialen Ausgleichs sowie c) den Beitrag zur Integration der Individuen in die Gesellschaft. Diese Funktionen sollen im Folgenden näher betrachtet werden: a) Investition ins human capital: die Bildung. Wenn der Haupt-Produktionsfaktor Bildung und Ausbildung sind, so lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass hier ein höheres Maß an Gleichheit gefragt ist. Hier ist es nicht mehr nötig, lediglich auf ethische, philanthropische Argumente oder auf die Solidarität zu rekurrieren. Länder können dann nicht wettbewerbsfähig sein, wenn sie keine entsprechend ausgebildeten und befähigten Arbeitskräfte haben, die ihre Kenntnisse in ihre Arbeit einbringen können. Wettbewerbsfähigkeit und Gerechtigkeit können aber als Ziele dargestellt werden, die zugleich verfolgt werden sollten und sich gegenseitig ergänzen können. Außerdem ist eine Sozialpolitik, die in 106

human capital investiert, eine Grundvoraussetzung für wirtschaftliches Wachstum. Bildung ist selbstverständlich auch ein Schlüssel für die einzelnen Menschen. Es muss jedoch eingestanden werden, dass sie (insbesondere ihre Qualität) ein Gut ist, das vererbt wird. Die Chancen auf Wohlstand vererben sich von Generation zu Generation (CEPAL 1998a), wobei die Herkunft über die Dauer der Bildung und Ausbildung entscheidet, über den Beschäftigungstypus und das Wohlstandsniveau, das die neuen Mitglieder im Verlauf ihres Lebens zu erreichen vermögen. Es ist insbesondere das Elternhaus, das die entscheidende Rolle für die Schulbildung spielt. Mehrere Faktoren beeinflussen dies: das sozioökonomische Niveau; das Ausbildungsklima, das die Zahl der Ausbildungsjahre der Erwachsenen im Haushalt bezeichnet; die Wohnbedingungen; die familiäre Situation (Ein-Elternfamilie, Zwei-Eltern-Familie, wobei die Art und Weise ihrer Verbindung eine Rolle spielen kann). Zweitens ist die Bildung die Schlüsselstufe auf der Treppe der Ungleichheiten, da sie mit den Unterschieden fertig werden muss, die die Schüler aus ihren Elternhäusern mitbringen, wie sie sich in der Abbrecher- und Wiederholerzahl bzw. im höheren oder geringeren Nutzen ausdrücken, der jeweils aus dem Unterricht gezogen werden kann. Wenn auch die Politiken zur Verbesserung der Bildungsqualität von Bedeutung sind, die darauf abzielen, Schlüsselelemente des Systems zu verändern (wie die Ausbildung der Lehrer, Veränderungen der Schulzimmer und der pädagogischen Methoden, Bibliotheken, Lehrwerke etc.), so reichen sie allein nicht aus, um die mangelnde Gerechtigkeit zu überwinden. Um den Ertrag der Schulausbildung zu verbessern, müssen außerschulische Faktoren berücksichtigt, müssen die Unterschiede überwunden werden, die mit den Elternhäusern der Schüler zusammenhängen; hier liegt die einzige Chance zu vermeiden, dass das Bildungssystem die bereits bestehenden Ungerechtigkeiten noch reproduziert. Zwei weitere Phänomene tangieren die unterschiedlichen Möglichkeiten im Bildungsbereich: die Abwertung gewisser Bildungsstufen und der Bildungsrahmen. Die Abwertung von Bildung besteht darin, dass gewisse Bildungsniveaus an Bedeutung verlieren, sobald sie für eine breitere Masse erreichbar werden. Dies fuhrt dazu, dass immer längere formale Ausbildungen notwendig werden, um dieselbe Beschäftigung zu erreichen bzw. ein ähnliches Lohnniveau wie die vorangegangene Generation zu erzielen. Die Erfahrung zeigt, dass je höher das Bildungsniveau ist, desto höher auch seine Devaluierung. Der Bildungsrahmen bezeichnet hier die Zahl der Jahre, die mindestens notwendig ist, um im jeweiligen Moment eine Beschäftigung zu erzielen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit (90%) Armut im Verlauf des Lebens vermeidet. Dieser „Rahmen" liegt heute in Lateinamerika - zumeist - bei zwölf Jahren formaler Ausbildung (CEPAL 2000b), was nur ein Drittel der Jugendlichen in den Städten bzw. ein Zehntel auf dem Lande erreicht. 107

Die Beschäftigung ist mit den bereits erwähnten Stufen verkettet. Wer weniger als acht Jahre Schulausbildung genießt, wird in der Regel nur niedriger bezahlte Beschäftigungen erhalten, die um die zweieinhalb Linien der Armut herum angesiedelt sind und somit unzureichend, um ein Minimum an Wohlstand zu erlangen. Am entgegengesetzten Pol sind diejenigen, die über zwölf und mehr Jahre Ausbildung verfugen, als Techniker, Manager oder Grundeigentümer tätig. Als solche erlangen sie Einkünfte, die oberhalb der vierten Armutslinie liegen. Diejenigen, die in einer mittleren Position liegen (neun bis elf Jahre Ausbildung), arbeiten meist als Verkäufer oder in ähnlichen Beschäftigungen und erhalten ein Einkommen, das ihnen in bestimmten Lebensphasen - wenn sie eine Familie ernähren müssen und ihre Kinder das Jugendalter erreichen - kein adäquates Wohlstandsniveau zu sichern vermag (CEPAL 1998a). Aus gesellschaftlicher Sicht lassen sich die Kosten der Menschen ohne Ausbildung als ungenutztes Wachstumspotenzial des human capital definieren (Cohen 1996). Hier wird schon früh über die Zukunft der neuen Generationen entschieden: Die Integrierten werden von den Ausgeschlossenen geschieden. Letztere erlangen nur unzureichende Bildung, somit auch keine gut bezahlten Tätigkeiten und können daher kein adäquates Wohlstandsniveau erreichen. Sie können auch nicht zur Wettbewerbsfähigkeit oder zur Entwicklung des technischen Fortschritts beitragen, weil ihnen schlicht die nötigen Kenntnisse und die notwendige Flexibilität fehlen. b) Soziale Kompensation: Netze sozialer Sicherung. Der Kampf um die Überwindung der Armut und absoluten Armut ist und bleibt das zentrale Anliegen. Die Netze sozialer Sicherung gewinnen immer mehr an Bedeutung, das heißt, jene „Gefüge kompensatorischer Interventionen, welche die Einkommen und andere Aktiva über gezielte Transfers erhöhen, und die speziell zur Aufrechterhaltung oder Erhöhung des Wohlstandes der armen oder verletzlichen Bevölkerungsgruppen in Phasen von wirtschaftlichem Übergang oder wirtschaftlicher Krise entwickelt wurden" (Graham 1994: 15). Einige Forscher glauben gar, dass diese auch öffentlichen Rückhalt für den Prozess des wirtschaftlichen Übergangs gewinnen können, solange eine adäquate Kommunikation bestünde und die Beteiligung der Nutznießer dieser Programme gefördert sowie ihre Organisationsfähigkeiten gestärkt würden. Diese Netze sollten stabil, in die dauerhaft bestehenden Institutionensysteme eingegliedert sein, über ausgebildetes Personal und über Wahlmöglichkeiten verfugen, über Projektvorhaben und Möglichkeiten, diese zu evaluieren etc. Im gegenteiligen Falle können sie nicht entsprechend auf die Notwendigkeiten sozialer Sicherung eingehen, wie sie in Krisenzeiten entstehen können. Seit den 80er Jahren basiert diese soziale Sicherung auf Programmen zu kurzfristig notwendigen Beschäftigungsmaßnahmen, Programmen zur Bekämpfung der Armut, und den sogenannten Nothilfefonds oder sozialen Investitionsfonds (fondos de emergencia, fondos de inversiön social), mittels derer man versuchte, die traditionellen Programme der sozialen Sicherung zu ergänzen. Aber zugleich 108

sollte man auch auf Mittel zurückgreifen, die eher auf Investitionen im Infrastrukturbereich zielen oder öffentliche Bauvorhaben in solchen Gemeinden fördern, die Opfer von Naturkatastrophen oder von ungünstigen Wirtschaftsentwicklungen wurden (Iglesias 2000). Als Hauptkriterium dieser Programme muss das antizyklische Handeln gelten, wobei ihre Spannweite und die Nutznießer in Rezessionsphasen auszudehnen sind. Daher müssen jene Titel ausfindig gemacht werden, die keinesfalls beschnitten werden dürfen oder sogar in Krisenzeiten der Aufstockung bedürfen. c) Soziale Kohäsion. Als integrierte Gesellschaft gilt eine, deren Bevölkerung sich gemäß den gesellschaftlich anerkannten Mustern verhält und innerhalb derer sich kulturelle Ziele, die Chancen zu ihrer Erreichung und die Ausbildung der individuellen Möglichkeiten zu ihrer Nutzung einander annähern. Sicherlich gibt es immer Verhaltensweisen, die diesen Richtlinien nicht folgen, die also Desintegrationsprozesse fördern können, Verhaltensweisen, die gewöhnlich mit Phänomenen sozialer Exklusion zusammenhängen, das heißt, mit Umständen, in denen die Gesellschaft den jeweiligen Mitgliedern nicht die entsprechenden Mittel (Chancen) zur Verfügung stellt, damit diese die von der Kultur gesetzten Ziele erreichen können (CEPAL 1997b: 111.73). Die Besorgnis um die Kohäsion bedeutet nicht zugleich die Suche nach Homogenisierung. Im Gegenteil geht es darum, den Respekt vor der eigenen kulturellen Identität zu sichern und dabei gerade die Unterschiedlichkeit jeder kulturellen Gruppierung schätzen zu lernen. Eine sozial kohärente Gesellschaft ist somit eine solche, die allgemeine Ziele und Normen teilt und zugleich Raum lässt für eine große Spannbreite an einzelnen, sowohl individuellen als auch kollektiven Zielsetzungen. Dies gilt ganz besonders für multi-ethnische und multikulturelle Gesellschaften. Die Einbeziehung der durch verschiedenartige (ethnische, geschlechtliche etc.) Diskriminierungen Ausgeschlossenen gehört zu den ausstehenden Aufgaben. Darunter sind affirmative action oder positive Diskriminierung wegweisende Maßnahmen, um die aufgrund von familiärer, ethnischer Abstammung oder Geschlechtszugehörigkeit zugewiesene sozialen Ungerechtigkeiten zu überwinden 8 . Zu den traditionellen Problemen geringer sozialer Integrationsfahigkeit, welche in der Region vorzufinden sind (Armut und andere bereits genannte Faktoren, ethnische Diskriminierung, soziale Segmentierung, Wohnsiedlungs-Ghettoisierung) kommen noch andere hinzu, wie die Gewalt in ihren unterschiedlichen Ausprägungen, öffentliche Unsicherheit, Drogenhandel, Korruption. Probleme, die vielleicht nicht neu sind, aber in der Gegenwart eine ausgesprochen hohe Bedeutung erlangt haben.

g Dieses Thema wurde von Aldo E. Solan bearbeitet, und es ist in den CEPAL-Studien durchaus präsent. Es wurde auch von der Presse aufgenommen; vgl. La Tercera, Santiago de Chile, 24.09.2000.

109

Schlussbemerkung Das Ende des Jahrhunderts war für Lateinamerika im sozialen Bereich alles andere als zufriedenstellend. Wenngleich man den Pfad des Wirtschaftswachstums wiederfinden konnte, so erlangte dieses dennoch nicht die notwendige Geschwindigkeit, um das Lebensniveau für die breite Bevölkerung zu heben. Die Sozialpolitiken ihrerseits haben zwar bedeutende Ressourcen hinzugewonnen, die sich schwerlich aufrechterhalten lassen, wenn man nicht zugleich zu einem höheren Wirtschaftswachstum gelangt, und die auf alle Fälle der Effizienzsteigerung in Bezug auf ihre Nutzung bedürfen sowie der Effektivitätssteigerung bei ihrem Einsatz für die gesetzten Ziele und dem Ergebnis für die nutznießende Bevölkerung. Hierbei ist die Bedeutung der Demokratie und deren Qualität hervorzuheben. Diese ist eine Grundlage der „guten Gesellschaft". Demokratien von Analphabeten sind keine soliden Demokratien und öffnen mit Leichtigkeit Tür und Tor für Klientelismus und Populismus. Gesellschaften von Ausgeschlossenen sind außerdem Nährboden für Gewalt und öffentliche Unsicherheit. Sie berühren letztlich auch die Funktionsweise der Demokratie. Zugleich verschlechtern sie nicht allein die Lebensbedingungen der Armen, sondern auch die der „Integrierten", die schließlich im Bunker leben, die sich nicht mehr wagen, in Ruhe in ihrer eigenen Stadt umherzugehen, und die Industrie durch sichere private Investitionsbedingungen zu fördern. Eine der aktuellen Debatten in Europa dreht sich um die Zweidrittelgesellschaft, das heißt, jene Gesellschaft, in die nur zwei von drei Personen integriert sind. In Lateinamerika hingegen herrscht heute die Eindrittel-Gesellschaft vor. Wie Dahrendorf (1996: 2) meint, „[...] (z)ur gleichen Zeit Wachstum, Kohäsion und Freiheit zu erlangen, kann schwierig sein; es kann sogar die Quadratur des Kreises bedeuten, und selbstverständlich kann es nicht perfekt sein, aber es ist durchaus möglich, uns ihm zu nähern." Damit dies möglich wird, müssen die Leitlinien der Entwicklung in Lateinamerika „entlang der Hauptachse ,Gerechtigkeit' neu angeordnet werden, das heißt, mit dem Ziel der Reduzierung sozialer Ungerechtigkeit in ihren vielfaltigen Ausprägungen"; dies ist „die grundlegende Messlatte zur Messung der Qualität von Entwicklung" (CEPAL 2000b: 15).

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113

Jürgen Weller

Modernität und Prekarisierung Die Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse in Lateinamerika Der Titel dieses Beitrags mag Kenner Lateinamerikas irritieren: „Heterogenisierung" in einer Region, die doch seit jeher von „struktureller Heterogenität" (Pinto 1998) geprägt ist? Auch dieser Aufsatz steht in einer Forschungstradition, nach der berücksichtigt werden muss, dass die Produktivstruktur Lateinamerikas seit langem von hohen Produktivitäts- und damit zusammenhängend seine Sozialstruktur von hohen Einkommensunterschieden gekennzeichnet ist. Gegenwärtige Prozesse der Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse stehen also in einer Kontinuität der Wirtschafts- und Sozialentwicklung der Region. Gleichzeitig ist es in den letzten zwei Jahrzehnten aber zu Brüchen in dieser Entwicklung gekommen. Integrierende Tendenzen der Nachkriegszeit, auf deren Grundlage eine zunehmende Homogenisierung nach dem Muster der Industrieländer angestrebt wurde, haben sich erschöpft, und seit dem Ausbruch der Schuldenkrise zu Beginn der 80er Jahre bildet sich ein neues Muster wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung heraus. Die Erwartungen, dass die Wirtschaftsreformen der 80er und 90er Jahre bestehende Segmentierungen überwinden und Polarisierungen abbauen würden, haben sich jedoch nicht erfüllt. Vielmehr entwickelten sich neue Heterogenitätsmuster der Beschäftigungsverhältnisse. Die dieser Entwicklung zugrunde liegenden Prozesse sind zumeist regionale Ausprägungen globaler Prozesse, einige sind eher lateinamerikaspezifisch. Mit dem Begriff „Beschäftigungsverhältnisse" werden hier die Vertragssituation (abhängig vs. unabhängig) und die Stellung im Produktionsprozess (untergeordnet vs. autonom) der Beschäftigten bezeichnet sowie die Gesamtheit der Elemente, welche die Arbeitsbedingungen charakterisieren, wie Arbeitseinkommen, Arbeitszeiten, soziale Sicherung, Arbeitshygiene und -Sicherheit usw. Die Beschäftigungsverhältnisse werden entscheidend beeinflusst von der Dynamik und den Charakteristika der Arbeitskraftnachfrage (aggregiertes und sektorspezifisches Wachstum, Technologie, direkte und indirekte Lohnkosten)

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und -angebot (demographische Entwicklung, Partizipationsraten, Migration, Eigenschaften des „Humankapitals") sowie den institutionellen Regelungen (nationale, zum Teil supranational eingebundene Gesetzgebung, Tarifverhandlungen auf unterschiedlichen Ebenen, spezifische Praktiken auf Unternehmensebene). Im folgenden Abschnitt wird zunächst kurz die Heterogenität der Beschäftigungsverhältnisse in Lateinamerika skizziert, wie sie die Entwicklung zwischen 1950 und 1980 prägte, und es werden die diesbezüglichen Auswirkungen der Schuldenkrise zu Beginn der 80er Jahre hervorgehoben. Anschließend wird auf der Grundlage der internationalen Diskussion untersucht, inwieweit aktuelle globale technologische, wirtschaftliche, politische und soziale Prozesse Tendenzen erhöhter Heterogenität auf den Arbeitsmärkten erwarten lassen und welche Ausprägungen diese Prozesse in Lateinamerika aufweisen. Dann werden einige empirische Ausprägungen der zunehmenden Heterogenität der Beschäftigungsverhältnisse in Lateinamerika präsentiert. Abschließend werden auf der Grundlage der wichtigsten Ergebnisse einige Schlussfolgerungen diskutiert, insbesondere hinsichtlich daraus resultierender Politikempfehlungen.

„Strukturelle Heterogenität" und die Entwicklung der lateinamerikanischen Arbeitsmärkte Die Jahrzehnte zwischen 1950 und 1980 waren in Lateinamerika von einem vergleichsweise hohen Wirtschaftswachstum von jährlich mehr als 5%, einem noch schnelleren industriellen Wachstum und einem beschleunigten Urbanisierungsprozess geprägt - Tendenzen, die auf dem Arbeitsmarkt nicht ohne Folgen blieben. Der Anteil der Landwirtschaft an der Erwerbsbevölkerung sank in diesem Zeitraum von 55% auf 32,1%, während die Industrie ihren Anteil von 19,3% auf 25,7% steigerte und Handel und Dienstleistungen mit einer Zunahme von 25,7% auf 42,2% zum größten Sektor in der Beschäftigungsstruktur wurden (PREALC 1982). In der Tat entstanden in den neuen Industrien Arbeitsplätze in ähnlichem Umfang, wie es in den Industrieländern in einer vergleichbaren Phase ihrer Entwicklung zu beobachten war (Tokman 1991), und auch moderne Dienstleistungen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Sektor, wiesen ein hohes Beschäftigungswachstum auf (Kaztman 1984, Ramos 1984). Diese Dynamik war weitgehend vom hohen Wirtschaftswachstum geprägt und somit nachfragegeleitet, was sich in einem deutlichen Wachstum des formellen nicht-landwirtschaftlichen Sektors niederschlug. Dieser weitete seinen Anteil an der Beschäftigungsstruktur zwischen 1950 und 1980 von 32% auf 47% aus1. Gleichzeitig verringerte sich der Anteil des kleinbäuerlichen (campesino) Sektors an der Gesamtbeschäftigung von 32% auf 18% (PREALC 1991), was angesichts der Tatsache, dass es sich um den Sektor mit der niedrigsten 1

Dabei wuchs der Anteil formeller Privatunternehmen von 26% auf 37%, der des öffentlichen Dienstes von 6% auf 10% (PREALC 1991).

115

Durchschnittsproduktivität und den niedrigsten Arbeitseinkommen handelt, durchaus relevant für die Sozialentwicklung der Region war 2 . Gleichzeitig verschwanden weitgehend die quasi-feudalen Arbeitsbeziehungen, in deren Mittelpunkt die haciendas standen und die jahrhundertelang die ländlichen Gegenden vor allem der Andenregion geprägt hatten 3 . Frauen integrierten sich zunehmend vor allem in die Urbanen Arbeitsmärkte. In den 70er Jahren wuchs die weibliche Partizipationsrate in den Städten von 22,8% auf 28,6% (CELADE 1992: 21). Gleichzeitig verbesserte sich das Bildungsniveau, und der Analphabetismus, von dem 1950 noch zwischen einem Fünftel und zwei Dritteln der erwachsenen Bevölkerung betroffen waren, nahm rapide ab. Schließlich stieg die gesamtwirtschaftliche Durchschnittsproduktivität der Arbeit jährlich um fast 3% (Weiler 1998a: 19), was sich auch in tendenziell steigenden Reallöhnen niederschlug, wenn diese generell auch hinter dem Produktivitätswachstum zurückblieben und immer wieder von Phasen steigender Inflation bedroht wurden 4 . Zur Förderung der sozialen Integration wurden u.a. arbeitsmarktspezifische Instrumente entwickelt, die sich an die Erfahrungen der Industrieländer anlehnten, um dem Anstieg der Lohnarbeitsbeziehungen und den in diesem Zusammenhang aufkommenden sozialen Forderungen zu begegnen (Candia 1994). Es ist dabei vor allem an die Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung, an die Mindestlohngesetzgebung und an den Aufbau staatlicher Institutionen der beruflichen Bildung zu denken. Dabei ging die Arbeitsmarktgesetzgebung generell von einem strukturellen Ungleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt aus, das einen besonderen Schutz der Arbeiter/innen erfordere. Die genannten Homogenisierungstendenzen stießen jedoch auf strukturelle Hemmnisse, die ihrer Verallgemeinerung entgegenstanden. Große intra- und intersektoriale Produktivitätslücken bestanden fort. Der informelle urbane Sektor erhöhte seinen Anteil an der Beschäftigungsstruktur. Und die Instrumente zur sozialen Integration auf dem Arbeitsmarkt unterschieden sich in Charakteristika und Wirkung von den Vorbildern der Industrieländer: Erstens umfassten sie nur den formellen Teil des Arbeitsmarktes; zweitens wurden die institutionellen 2

4

Dies soll nicht heißen, dass der in vielen Ländern starke urban bias zuungunsten der campesino-Wirtschaft der sozialen Entwicklung förderlich war. Politiken, die das Potenzial der ca/wpes/HO-Wirtschaft genutzt und gefördert hätten, wären diesbezüglich sicher sinnvoller gewesen; vgl. z.B. Figueroa 1991. Der Abbau dieser traditionellen Arbeitsbeziehungen schlug sich vor allem im Rückgang der weiblichen Partizipationsrate nieder, welche zwischen 1950 und 1970 etwa in Bolivien von 59,9% auf 19,5%, in Chile von 25% auf 18,1% und in Peru von 34,3% auf 26% sank, während sie in nicht-andinen Ländern im gleichen Zeitraum anstieg; vgl. Weller 1998a: 11, auf der Grundlage von Zahlen von CELADE. Es ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass die traditionellen Messmethoden die Frauenarbeit in der campesinoWirtschaft nicht hinreichend erfassen. 1980 lagen die realen Durchschnittslöhne in der Industrie in zehn Ländern über dem Niveau von 1965, in sieben Ländern darunter, wobei in vielen Fällen starke Schwankungen zu beobachten sind (PREALC 1982: 149-151).

116

Regelungen auf dem Arbeitsmarkt in einem stärkeren Ausmaß von populistischen oder korporativistischen Regimen „von oben" begründet, was den Spielraum der Tarifpartner zugunsten politischer Konfliktlösungen einschränkte; drittens standen speziell die Gewerkschaftsbewegungen oft in Abhängigkeit von Parteien und/oder dem (populistischen) Staatsapparat; viertens dominierten in vielen Ländern mit schwacher produktiver Basis autoritäre und repressive Arbeitsbeziehungen; und fünftens brachten auch in Ländern mit stärker entwickelter produktiver Basis wirtschaftliche und politische Umwälzungen zuweilen autoritäre Regime hervor, die die genannten Integrationsprozesse abbrachen (Dombois/Imbusch 1997: 28-31, Weller 1998b: 25). Die Instrumente zur sozialen Integration und Homogenisierung auf dem Arbeitsmarkt griffen also kurz und waren instabil. Sowohl was die Beschäftigungsstruktur als auch was die Arbeitsbeziehungen betrifft, kann die Entwicklung zwischen 1950 und 1980 daher als „gleichzeitige soziale Integration und Exklusion" (PREALC 1991: 2) charakterisiert werden: Ein wachsender Anteil der Erwerbsbevölkerung integrierte sich in moderne Produktivitätsstrukturen und formelle Arbeitsbeziehungen, während ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung in Aktivitäten niedriger Produktivität arbeitete und nicht von den Instrumenten zur Integration und Homogenisierung auf dem Arbeitsmarkt erfasst wurde 5 . Mit der Wirtschaftskrise der 80er Jahre brach dieser parallele Prozess von Integration und Exklusion ab. Das geringe Wirtschaftswachstum drückte sich in einer geringen Nachfrage nach Arbeitskräften seitens der Unternehmen des formellen Sektors aus, und ein überwältigender Anteil der neuen Arbeitsplätze entstand im Zuge steigender Partizipationsraten im informellen Sektor (PREALC 1991). In diesem Zusammenhang sanken die durchschnittliche Arbeitsproduktivität - vor allem im tertiären Sektor, in dem sich die informellen Tätigkeiten konzentrierten - sowie die Realeinkommen sowohl im formellen als auch im informellen Sektor. Zudem verschlechterte sich die funktionale Einkommensverteilung. Mit der zunehmenden Informalisierung der Beschäftigungsstruktur und der Finanzkrise der öffentlichen Haushalte nahm die Reichweite der Instrumente zur sozialen Integration auf dem Arbeitsmarkt ab. Speziell die Mindestlohnpolitik stand in den meisten Ländern eher in Funktion der Inflationsbekämpfung, als dass sie der Einkommenssicherung diente. Die Gewerkschaftsbewegungen verloren im Zusammenspiel von Wirtschaftskrise, politischen Konflikten und eigenen Fehlern an Einfluss. Die marktorientierten Wirtschaftsreformen der 80er und 90er Jahre hatten zwar vor allem makroökonomische Gleichgewichte und mikroökonomische 5

In diesem Zusammenhang muss hervorgehoben werden, dass auch in den Industrieländern Nordamerikas und Europas die Tendenzen zur sozialen Homogenisierung beschränkt waren, diese vielmehr im Wesentlichen für „den weißen Mann" galten, während die Teilhabe von Frauen sowie Angehörigen ethnischer Minderheiten von wirtschaftlichen und sozialen Barrieren behindert wurde. 117

Effizienz zum Ziel, beides mit der Erwartung höheren Wirtschaftswachstums. Aber es wurde davon ausgegangen, dass die Überwindung bestehender Marktverzerrungen auch zu einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Homogenisierung beitragen würde, z.B. durch die Eliminierung von Segmentierung auf bestimmten Märkten (v.a. Kapital- und Arbeitsmarkt) und die Verminderung von Lohnspreizungen. Die Grundlagen dieser Überlegungen waren zum einen handelstheoretischer Art. Die Wirtschaftsreformen würden demnach vor allem Aktivitäten mit komparativen Kostenvorteilen begünstigen, also diejenigen, die vor allem den massiv verfugbaren Produktionsfaktor, im Fall Lateinamerika die relativ wenig qualifizierte Arbeitskraft, nutzen würden. Die Reformen sollten somit mittels eines stärkeren Wirtschaftswachstums und einer höheren Beschäftigungselastizität die Arbeitskraftnachfrage stimulieren; dies sollte speziell niedrig qualifizierte Arbeitskräfte begünstigen, was sich positiv auf deren absolute und relative Löhne auswirken würde. Reformen der Arbeitsmarktgesetzgebung, welche - nach einem Insider-Outsider-Modell - für die Segmentierung dieses Marktes verantwortlich gemacht wurden, sollten diesen Homogenisierungsprozess fördern6. Wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden wird, stand einer solchen Homogenisierung jedoch eine Vielzahl anderer Tendenzen entgegen, und die erwarteten Wirkungen traten nicht ein.

Prozesse verstärkter Heterogenisierung - weltweit und in Lateinamerika Die internationale Diskussion hat auf eine Vielzahl von Prozessen aufmerksam gemacht, die zu einer stärkeren Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse führen. Viele von ihnen sind auch für die lateinamerikanische Entwicklung relevant, wenn auch zum Teil modifiziert. Im Folgenden sollen die wichtigsten dieser Prozesse kurz diskutiert werden. Es ist kaum umstritten, dass die Entwicklung neuer Technologien, vor allem im Informations- und Kommunikationsbereich, eine zentrale Rolle für die Heterogenisierung der Produktions- und Beschäftigungsstruktur spielt (Castells 1997, ILO 2001). Sie ermöglichen eine deutlich höhere Flexibilität im Produktionsprozess, was u.a. zu einer Neudefinition von Skalenvorteilen geführt hat, mit der die jahrzehntelang währende Überlegenheit standardisierter, tayloristischer Produktionsmethoden mit ihren homogenen Beschäftigungsmustern in vielen Branchen ein Ende gefunden hat. In einem Wechselspiel mit einer sich verändernden Konsumnachfrage hat diese Entwicklung zu einer parallelen Expansion von global standardisierten - wenn auch zuweilen lokal angepassten - Produkten einerseits und der Entwicklung differenzierter Märkte mit spezialisierter Nischenproduktion andererseits geführt. 6

Vgl. Weller 2000b: 21-37 für eine Diskussion der im Zuge der Wirtschaftsreformen entwickelten Erwartungen bezüglich der Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt.

118

Ein Aspekt der vom technologischen Wandel begünstigten Flexibilisierung und Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse ist ihre Polarisierung. Auch wenn die These nicht unumstritten ist, wird in der internationalen Diskussion weitgehend akzeptiert, dass dieser technologische Wandel die Nachfrage nach qualifizierter Arbeitskraft begünstigt, während in den Industrieländern jene Arbeitsplätze vernichtet werden, für die typischerweise weniger qualifiziertes Personal nachgefragt wird. Für letzteres wird neben dem technischen Wandel mit unterschiedlichem Gewicht - der zunehmende Handel mit der „Dritten Welt" verantwortlich gemacht 7 . In der Folge dieser Umstrukturierung der Nachfrage stieg die Arbeitslosigkeit an und/oder nahm die Lohnspreizung zwischen den verschiedenen Qualifikationsgruppen zu. Während sich die Diskussion um den Charakter des aktuellen technischen Wandels zunächst auf die Industrieländer konzentrierte, argumentierte Robbins (1994, 1996) bereits frühzeitig, dass der technologische Wandel auch in Ländern der „Dritten Welt", speziell in Lateinamerika, einen polarisierenden Effekt habe. Entgegen den handelstheoretisch fundierten Erwartungen, dass die Wirtschaftsreformen wegen der relativen Knappheit der Produktionsfaktoren zu einem Anstieg der Nachfrage vor allem nach wenig qualifizierter Arbeitskraft - mit entsprechend positiven Auswirkungen auf die Einkommensverteilung - führen würden, begünstigte die Arbeitskraftnachfrage offensichtlich vor allem höher qualifiziertes Personal. Dies erklärte Robbins mit dem Import neuer Technologie und Kapitalgüter, die im Zuge des aktuellen technischen Wandels einen bias zugunsten dieser Beschäftigtenkategorie aufwiesen. In jüngerer Zeit fanden auch Berman/Machin (2000) Belege dafür, dass der technische Wandel nicht nur in den Industrieländern, sondern auch in Ländern mittleren Einkommens die relative Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften verstärkt. Während die Entwicklung auf der Nachfrageseite die Heterogenisierung also befördert, ist die Entwicklung auf der Angebotsseite zwiespältig. In Zeiten tiefgreifenden technologischen Wandels pflegt ein „Wettlauf' zwischen der starken Nachfrage nach neuen Qualifikationsmustern und dem knappen Angebot entsprechender Arbeitskraft stattzufinden 8 . Viele Industrieländer, allen voran die USA, begegnen dem mit der massiven Einwanderung hochqualifizierten Personals, ohne dass dies bislang die entsprechende Nachfragelücke geschlossen hätte. Gleichzeitig erleben viele dieser Länder jedoch den Zustrom weniger qualifizierter Arbeitskräfte, vor allem aus Ländern der „Dritten Welt", ohne dass in diesem Segment des Arbeitsmarktes eine entsprechende Expansion der Nachfrage stattfindet. Diese Heterogenisierung des Arbeitsmarktangebots fördert zusätz-

7

Vgl. etwa die Diskussion in The Quarterly Journal of Economics, No. 1/1992, Wood 1997 und Berman/ Bound/Machin 1998. Vgl. Psacharopoulos 1988: 106f., auf der Grundlage von Tinbergen.

119

lieh die bereits erwähnte Lohnspreizung zwischen den Qualifikationsniveaus 9 . In Lateinamerika findet zum einen eine Homogenisierung des Arbeitsmarktangebots statt, insofern das allgemeine Bildungsniveau steigt (tendenzielles „Verschwinden" des Analphabetismus, weitgehende Deckung des Primärschulsystems, Ausweitung der Deckung des Sekundarschulniveaus) 10 , zum anderen fehlt es auch hier an hochqualifizierten Arbeitskräften, was die zunehmende Lohnspreizung begünstigt. Angesichts eines allgemein steigenden Bildungsniveaus werden die entsprechenden Anforderungen an die Beschäftigten häufig auch dann erhöht, wenn es keine technischen oder betriebsorganisatorischen Gründe dafür gibt (Gälvez/Pollack 1998). Entsprechend ist die „Lohnprämie" für formelle Schulbildung unterhalb der abgeschlossenen Sekundärschule häufig nur sehr niedrig". Schließlich befördert eine starke einkommensspezifische Segmentierung des lateinamerikanischen Bildungswesens die Heterogenität des Arbeitskraftangebots. Ein wichtiger Aspekt der technologischen Entwicklung ist, dass sie, gefördert von Reformen nationaler Gesetzgebung und internationalen Abkommen, die Mobilität von Kapital und Technologie deutlich erhöht. Stützte sich der „fordistisch-keynesianische" Konsens zwischen Staat, Unternehmen und gewerkschaftlich organisierter Arbeiterschaft, in dessen Zusammenhang die homogenisierenden Effekte der Produktionsstruktur verstärkt wurden, vordem auf die Dynamik der nationalen Märkte, mit der Binnennachfrage als entscheidendem Wachstumsmotor' 2 , so höhlte die erhöhte Mobilität von Kapital und Technologie diese institutionellen Regulierungen zunehmend aus (Reich 1991). Die zunehmende Orientierung auf externe Märkte und die wachsende ausländische Konkurrenz machten die Möglichkeit zur Produktionsverlagerung zu einem immer währenden Drohpotential gegenüber Forderungen nach Lohnsteigerungen und anderen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen. Dies gilt vor allem für weniger qualifiziertes Personal. Dessen Position auf dem Arbeitsmarkt, bereits von der technologisch induzierten geringen relativen Nachfrage betroffen, wird dadurch weiter geschwächt (Rodrik 1997), was sich wiederum in verschlechterten Arbeitsbedingungen (Instabilität des Arbeitsplatzes, Lohnverluste, Stress)

9

10

11

12

Interessanterweise wird über Irland berichtet, dass Mitte der 90er Jahre unter den Immigranten qualifizierte Arbeitskräfte überwogen, was zu einer abnehmenden Lohnspreizung führte; vgl. Barret/FitzGerald/Nolan 2000. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Schulsysteme vieler lateinamerikanischer Länder starke qualitative Mängel aufweisen. Während der Lohnzuwachs mit steigender Bildung bis zu einem Niveau von sieben bis neun abgeschlossenen Schuljahren gemeinhin eher gering ist, ist bei der nächsten Stufe (zehn bis zwölf abgeschlossene Schuljahre) typischerweise ein deutlicher Einkommenssprung zu registrieren (Weller 2000b: 166-168). Zwar expandierten auch die Exporte, aber im Zusammenhang homogener Produktionsstrukturen und wachsender Produktivität forderte auch dies über steigende Löhne die Massenkaufkraft und damit den Binnenmarkt.

120

ausdrückt (Aaronson/Sullivan 1998). In Lateinamerika wird die wirtschaftliche Instabilität der Haushalte, begründet durch Arbeitsplatzunsicherheit und damit einhergehender Einkommensunsicherheit und mit entsprechenden Konsequenzen für das allgemeine Wohlbefinden großer Teile der Bevölkerung, durch die Abwesenheit sozialer Sicherungssysteme verschärft (Rodrik 2001). In der lateinamerikanischen Produktionsstruktur ist die erhöhte Mobilität von Kapital und Technologie im massiven Anstieg der Direktinvestitionen in den 90er Jahren und im verstärkten Technologieimport (Katz 2000: 169-187) zu beobachten. Am krassesten drückt sie sich jedoch in bestimmten Typen von Lohnveredelungsindustrien (maquila) aus, die in einer scharfen Kostenkonkurrenz stehen, welche weitgehend von Niedriglöhnen und schlechten Arbeitsbedingungen charakterisiert ist und bei der die Drohung von Produktionsverlagerungen ständig präsent ist13. Viele Unternehmensstrategien zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit haben in jüngster Zeit zu einer Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse beigetragen. Viele von ihnen sind durch neue Technologien möglich geworden, im Mittelpunkt stehen jedoch betriebsorganisatorische Maßnahmen. Die Ausgliederung von Betriebsteilen fuhrt häufig zu einer geringeren Jobqualität der Beschäftigten der „ausgegliederten" Betriebsbereiche. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit, etwa über Zeitbanken oder veränderbare Schichtsysteme, ersetzt die Standardarbeitszeit, gültig für einen Großteil der Beschäftigten eines Betriebs, durch eine Vielzahl flexibel gehandhabter Arbeitszeitmuster. Arbeit unter den Bedingungen von Scheinselbständigkeit verbindet die Abhängigkeit des Lohnarbeiters mit dem Zwang, das Risiko eines Unternehmers zu tragen. Im Gegensatz zu diesen, hier nur vereinfacht und beispielhaft erwähnten betriebsorganisatorischen Maßnahmen, die eher zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Betroffenen führen, werden die neuen Technologien häufig auch mit einer verstärkten Beteiligung der Beschäftigten an der Organisation des Produktionsprozesses und einer höheren Selbständigkeit in Verbindung gebracht, da sich nur so ihr Produktivitätspotenzial voll ausschöpfen lasse. Dies begünstigt im Wesentlichen höher qualifiziertes Personal, vor allem im modernen Dienstleistungssektor. Auf diese Weise polarisiert sich die Beschäftigungsstruktur zwischen den „Symbolanalysten" (Reich 1991) in einem Extrem und den gering qualifizierten persönlichen Dienstleistern im anderen. Mit diesen Prozessen eng verbunden und die Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse fördernd ist der globale sektorale Strukturwandel, der in vielen Branchen stärker standardisierte Arbeitsplätze vernichtet, während neue vor allem in heterogeneren Dienstleistungsaktivitäten entstehen (Castells 1997). In 13

Zu den Arbeitsbedingungen in der Lohnveredelungsindustrie in Zentralamerika und der Dominikanischen Republik vgl. Altenburg 1995 und OIT 1996. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass innerhalb der Lohnveredelungsindustrien der Region ein Differenzierungsprozess im Gang ist und nicht alle Segmente die genannten Charakteristika aufweisen; vgl. dazu Altenburg/Qualmann/Weller 1999: 33-38.

121

der Tat schrumpfte in den Ländern der OECD in den 90er Jahren die Beschäftigung im Primär- und Sekundärsektor (mit der Ausnahme der Bauwirtschaft), und neue Arbeitsplätze wurden fast ausschließlich im tertiären Sektor geschaffen. In Lateinamerika war die Entwicklung ähnlich, und etwa 90% der im vergangenen Jahrzehnt entstandenen Arbeitsplätze sind diesem Sektor zuzurechnen (Weller 2001). Schließlich besteht ein weitgehender Konsens darüber, dass der skizzierte technologische und wirtschaftliche Wandel auch institutionelle Veränderungen mit sich bringt, und diese ihn zum Teil beschleunigen. Im Mittelpunkt steht dabei die Notwendigkeit einer höheren Flexibilität der Arbeitsmärkte. Es besteht jedoch keineswegs Einvernehmen darüber, was im Mittelpunkt dieser Flexibilisierung zu stehen habe - etwa die Flexibilisierung der Arbeitskraft durch erhöhte Qualifizierung und stärkere Mitspracherechte am Arbeitsplatz oder die Flexibilisierung von Einstellungs- und Entlassungsmechanismen, von Arbeitszeit und Löhnen - und wie diese neuen institutionellen Regelungen zu entwickeln seien. Die entsprechenden Reformen der Arbeitsgesetzgebung in Lateinamerika begünstigten im Allgemeinen eine Flexibilisierung der Vertragsbedingungen, mit der Tendenz einer „Entlaboralisierung" (Morgado 1999) der Arbeitsverträge, also einer zunehmenden Gleichsetzung mit Verträgen, wie sie auf anderen Märkten abgeschlossen werden. In einigen Fällen kam es zu einer „Aufweichung" der Bestimmungen der Arbeitsgesetzgebung für die mag«i7a-Industrien14. Gleichzeitig wurden jedoch auch Reformen vorgenommen, welche die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und den Schutz bestimmter Gruppen von Beschäftigten zum Ziel hatten, vor allem im Zusammenhang der Demokratisierungsprozesse der 80er und 90er Jahre (CEPAL 2000a: 145f.). Viele Veränderungen der Arbeitsbeziehungen wurden auf Ebenen „unterhalb" der nationalen Gesetzgebung durchgesetzt, vor allem auf Betriebsebene. Häufig geschah dies weitgehend einseitig durch die Geschäftsführung, während generell der gewerkschaftliche Einfluss abnahm, was typischerweise die Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse begünstigt. Es lassen sich jedoch auch Fälle finden, in denen die Umstrukturierung der Arbeitsverhältnisse unter Beteiligung von Gewerkschaften stattfand, denen es gelang, neue Strategien zu entwickeln, die auf den neuen wirtschaftlichen Kontext eingehen und das entsprechende Potenzial für die Beschäftigten in den Mittelpunkt stellen (Dombois/Pries 1998). Im folgenden Abschnitt werden einige empirisch beobachtbare Heterogenisierungstendenzen der 90er Jahre vorgestellt, in denen die hier genannten Prozesse sichtbar wurden.

14

Zum Beispiel wurde in Honduras die maquila mit öffentlichen Dienstleistungen gleichgestellt, was einem Streikverbot gleichkommt (OIT 1996: 16).

122

Empirische Ausprägungen der Heterogenisierungsprozesse der 90er Jahre Die Nachfrage nach Arbeitskraft war in Lateinamerika in den 90er Jahren durch zwei Charakteristika geprägt: durch ihre quantitative Schwäche und durch ihren bias zugunsten mittel- und hochqualifizierten Personals. Erstere war gesamtwirtschaftlich nicht Ausdruck eines jobless growth, denn erstens unterschied sich die Beschäftigungselastizität des Wachstums nicht wesentlich von derjenigen, die zwischen den 50er und den 70er Jahren zu beobachten war15. Zweitens herrscht in Gesellschaften ohne Schutzmechanismen wie etwa Arbeitslosenversicherungen ein enger Zusammenhang zwischen demographischer Entwicklung und Beschäftigung16. Und drittens war das Wirtschaftswachstum auch in den 90er Jahren, neben der demographischen Entwicklung, ein entscheidender Faktor zur Erklärung der unterschiedlichen Performance auf den Arbeitsmärkten der Länder Lateinamerikas17. Das in vielen Ländern und in Lateinamerika insgesamt im Vergleich zu den 50er bis 70er Jahren geringere Wirtschaftswachstum und die in einigen Branchen - vor allem solchen, die handelbare Güter produzieren massive Arbeitsplatzvernichtung im Zuge der außenwirtschaftlichen Öffnung begrenzten jedoch die Nachfrage der Unternehmen nach Arbeitskraft. Da gleichzeitig im Zuge der Wirtschaftsreformen die Beschäftigung des öffentlichen Sektors relativ zurückging, konzentrierten sich die neuen Arbeitsplätze im informellen Sektor18. Je nach Quelle wird geschätzt, dass zwischen 60% (OIT 2000) und 70% (CEPAL 2000a: 72) der in den 90er Jahren entstandenen Arbeitsplätze diesem Sektor zuzurechnen sind, zu dem unabhängig Beschäftigte (ohne akademische und technische Berufe), Arbeiter in Kleinstunternehmen, Hausangestellte und unbezahlte Mitarbeiter in Familienbetrieben gezählt werden19. Dabei gab es deutliche Unterschiede zwischen den Ländern der Region. 15

16

17

18

19

Die 80er Jahre wiesen aufgrund des niedrigen Wirtschaftswachstums und des Angebotsdrucks auf dem Arbeitsmarkt, der zu einer explosiven Expansion des informellen Sektors führte, eine sehr hohe Beschäftigungselastizität auf. Aufgrund der Krisensituation ist dieses Jahrzehnt jedoch diesbezüglich weder mit den vorherigen Jahrzehnten noch mit den 90er Jahren zu vergleichen. Dieser ist geringer, allerdings weiterhin positiv, wenn anstelle der Gesamtbeschäftigung die Lohnarbeit in Betracht gezogen wird. Vgl. Weller 2000b: Kap. 4, wo ein Großteil der in diesem Artikel zitierten empirischen Informationen ausführlich präsentiert wird. In deutscher Sprache sind Teilergebnisse in Weller 2000a veröffentlicht. Es gibt innerhalb und außerhalb Lateinamerikas eine breite Diskussion über den theoretischen und empirischen Nutzen der Beibehaltung dieses Konzepts. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Besonders relevant war der relative Rückgang der Beschäftigung im öffentlichen Dienst, von 15,5% (1990) auf 13% (1999) der städtischen Beschäftigung Lateinamerikas; die Beschäftigung im privaten formellen Sektor sank im gleichen Zeitraum von 41,7% auf 40,6% (OIT 2000: 59).

123

Der informelle Sektor wuchs am stärksten in den Ländern mit geringem Wirtschaftswachstum, was sich positiv auf die Entstehung von Arbeitsplätzen im formellen Sektor auswirkte. Beschäftigte im formellen Sektor verdienen im Durchschnitt das Doppelte des Durchschnittseinkommens des informellen Sektors, beim Vergleich von Lohnarbeitern in beiden Sektoren lässt sich immer noch ein Unterschied von 50% feststellen (CEPAL 2000a: 80)20. Die Schwäche der Arbeitskraftnachfrage drückte sich weiterhin dadurch aus, dass die Arbeitslosigkeit im Zuge der 90er Jahre zugenommen und gegen Ende des Jahrzehnts das Niveau überschritten hat, das auf der Höhe der Schuldenkrise der 80er Jahre erreicht wurde (CEPAL 2001) - und das, obwohl aus demographischen Gründen die Zuwachsraten der Erwerbsbevölkerung rückläufig waren. In der Perspektive einer Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse ergibt sich aus der verminderten Absorptionsfähigkeit des formellen Sektors die Konsequenz eines downgrading der Beschäftigungsstruktur, also einer Heterogenisierung „nach unten", sei es durch eine Erhöhung des Anteils der Beschäftigten, die schlechten Arbeitsbedingungen unterworfen sind, sei es durch den völligen Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen von Arbeitseinkommen. Beide Phänomene haben zudem insofern längerfristige Effekte, als sie die Heterogenisierung perpetuieren: Beschäftigte im informellen Sektor erwerben nicht oder in geringerem Maße als Beschäftigte im formellen Sektor die fachlichen Kompetenzen, die den Zugang zu produktiveren Arbeitsplätzen in der Zukunft erleichtern. Zunehmende Langzeitarbeitslosigkeit und vor allem die in Lateinamerika üblicherweise besonders hohe Jugendarbeitslosigkeit können zu dauerhaftem Herausfallen aus dem Arbeitsmarkt führen, jedenfalls die Aufnahme produktiver und angemessen entlohnter Beschäftigung erschweren. Die Schwäche der Arbeitskraftnachfrage hat seit langem schon zu einer massiven Arbeitsemigration gefuhrt, vor allem aus Mexiko, Zentralamerika 21 und der Karibik in Richtung USA, aber auch innerhalb der Region (etwa von Nikaragua nach Costa Rica, von Peru nach Chile und von Paraguay nach Argentinien und Brasilien). In den letzten Jahren kamen verstärkte Versuche der legalen und illegalen Migration nach Europa dazu, etwa aus Ekuador, Kolumbien, Argentinien und Uruguay. Wie oben erwähnt, wurde aufgrund vorrangig handelstheoretischer Überlegungen erwartet, dass mit der zunehmenden Weltmarktintegration von Regionen wie Lateinamerika die Arbeitsnachfrage tendenziell die weniger qualifizierten Arbeitskräfte begünstigen würde, was homogenisierende Auswirkungen hätte. 20

21

Dies hängt unter anderem mit der unterschiedlichen Qualifikation der Beschäftigten in beiden Sektoren zusammen. Zwischen 1990 und 1997 nahmen die Einkommensunterschiede zwischen dem formellen und dem informellen Sektor um 9% zu. In den 90er Jahren folgte eine grundsätzlich wirtschaftliche begründete Migration der seit Ende der 70er Jahre vorherrschenden, von den internen Konflikten in Zentralamerika provozierten, vorrangig politisch-militärisch motivierten Emigration (Castillo 2000).

124

In der Tat reduzierte sich in den 80er Jahren die Lohnkluft zwischen höher und niedriger Qualifizierten in den meisten Ländern Lateinamerikas (Psacharopoulos/Ng 1992: 15). In den 90er Jahren kehrte diese Tendenz sich jedoch wieder um, und die Lohnspreizung nahm in den meisten Ländern zu (Lora/Olivera 1998, Weller 2000b: 166f.). Dies drückte sich auch darin aus, dass in einem Kontext, in dem die durchschnittlichen Reallöhne sich in den meisten Ländern erholten, niedrig Qualifizierte nicht oder nur wenig davon profitierten oder - wo die Durchschnittslöhne sanken - die härtesten Einbußen hinnehmen mussten, wie Tabelle 1 zeigt 22 . Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass - in einem Kontext generell zunehmender Polarisierung der Löhne - in Bolivien, Chile und Peru die niedrigste Qualifikationsgruppe eine etwas günstigere Lohnentwicklung aufwies als die unmittelbar höher qualifizierte Gruppe (vier bis sechs Schuljahre). Dies mag daran liegen, dass in diesen drei Ländern im jeweiligen Untersuchungszeitraum die Mindestlöhne vergleichsweise deutlich erhöht wurden, was vor allem den am niedrigsten Qualifizierten zugute kommt. Tab. 1: Jährliches Reallohnwachstum, nach Bildungsniveau 90er Jahre, in %

Land und Zeitraum

Abgeschlossene Schuljahre 0-3

4-6

7-9

10-12

13-15

16 u. mehr

Total

Bolivien, 1989-96

0,6

-0,1

-0,8

1,0

8,0

5,6

3.2

Brasilien, 1992-97

5,6

6,2

7,6

6,4

5,4

7,6

7,4

Chile, 1990-96

3,3

1,1

2,0

3,7

4,1

5,5

4,3

Costa Rica, 1990-96

-0,7

0,7

1,0

1,0

1,0

0,6

1,3

Kolumbien, 1988-95

-5,8

-2,9

-1,3

-0,8

0,1

1,1

-1,3

Mexiko, 1991-97

-7,4

-6,4

-10,6

-2,7

-1,3

-1,3

-5,3

1,1

-1,3

3,1

2,7

4,3

7,1

3,2

Peru, 1991-97

Quelle: Weller 2000b: 170. Anmerkung: Die Zahlen beziehen sich auf das ganze Land, außer in Argentinien (städtische Gebiete), Bolivien (Departementshauptstädte und El Alto) und Brasilien (sechs metropolitane Gebiete).

Die zunehmende Lohnkluft verweist darauf, dass sich in den 90er Jahren neben der Heterogenisierung „nach unten" auch Tendenzen einer Heterogenisierung „nach oben" entwickelten, zum Teil im Kontext der Entstehung neuer Arbeits22

Es ist zu berücksichtigen, dass die Daten der verschiedenen Länder nur begrenzt vergleichbar sind, da sie häufig spezifische Situationen widerspiegeln. So begann in Brasilien 1992 eine Erholung der Reallöhne, die erst 1996 den scharfen Einbruch wettmachte, den sie vorher erlitten hatten; der Lohnrückgang in Mexiko spiegelt die Krise von 1994/95 wider.

125

plätze in expandierenden Branchen 23 , zum Teil durch ein upgrading der Produktions- und Beschäftigungsstruktur. So wuchs der Anteil der akademischen und technischen Berufe an der Beschäftigung im privaten formellen, nichtlandwirtschaftlichen Sektor zwischen 1990 und 1997 von 23,1% auf 24,5% 24 . Wie bereits erwähnt, wird für die zunehmenden Lohnunterschiede auch in Ländern der „Dritten Welt" zumeist der technische Wandel verantwortlich gemacht, der tendenziell arbeitskraftsparend ist und speziell die Nachfrage nach weniger qualifiziertem Personal senkt, während die Nachfrage nach höher Qualifizierten zumindest relativ steigt. Diese Argumentation konzentriert sich zumeist auf den technologischen und organisatorischen Wandel in der verarbeitenden Industrie und auf die damit verbundenen wachsenden Importe von technologisch höherwertigen Kapitalgütern. In der Tat lässt sich die steigende Lohnspreizung auch in der verarbeitenden Industrie vieler Länder nachweisen 25 . Allerdings sprechen zwei Argumente dagegen, dass die Umwälzungen in der verarbeitenden Industrie im Mittelpunkt dieser Tendenzen stehen. Erstens hat etwa Morley (2000) keinen Anstieg der Kapitalintensität gefunden, wie er aus den genannten Argumenten zu erwarten gewesen wäre. Zweitens lässt sich für die Industrie kein relevanter Anstieg der Nachfrage nach höher qualifizierten Arbeitskräften nachweisen 26 . Hinter der wachsenden Lohnkluft scheinen vielmehr vorrangig andere intra- und intersektoriale Umwälzungen zu stehen, vor allem die Expansion und Modernisierung des Dienstleistungssektors. Eine Dekomposition der Entwicklung der Lohnarbeit nach Qualifikationsniveau in den 90er Jahren hat gezeigt, dass die internen Verschiebungen in Handel und Dienstleistungen 68% des Anstiegs der Beschäftigung des hochqualifizierten Personals (mindestens 13 Jahre Ausbildung) „erklären" (Weller 2000b: 159-162). Weitere 37% dieses Anstiegs beruhen auf der Ausweitung dieser Branchen in der Beschäftigungsstruktur, während der schrumpfende Anteil vor allem der verarbeitenden Industrie die Nachfrage nach hochqualifiziertem Personal negativ beeinflusste und die internen Umstrukturierungen in der verarbeitenden Industrie, wie erwähnt, im Saldo keine nennenswerten Auswirkungen hatten. Der vorrangig vom tertiären Sektor ausgehende bias der Arbeitskraftnachfrage zugunsten höher qualifizierten Personals führt dazu, dass die Segmentierung entlang der Qualifikation der Erwerbsbevölkerung vertieft wird. Wie Tabelle 2 23 24 25 26

Vgl. z.B. zur Entwicklung in Zentralamerika Pérez Sáinz 2000. Eigene Berechnung nach CEPAL 2000a: 70. Vgl. etwa Ramirez/Núñez 2000 zu Kolumbien und Weller 2000b: 169 zu Mexiko. Vgl. Weller 2000b: 161. Dabei mag sich eine von der Einfuhrung neuer Technologien stimulierte wachsende Nachfrage nach qualifiziertem Personal mit der Eliminierung hochqualifizierter Arbeitsplätze in bestimmten Bereichen, wie etwa in den Forschungsabteilungen der Unternehmen (Katz 2000), kompensieren; im Mittelpunkt der in den 90er Jahren vorherrschenden defensiven Strategien auf Untemehmensebene (Moguillansky/Bielschowsky 2000) stand jedoch die Kostensenkung mittels des Abbaus der Beschäftigung niedriger qualifizierten Personals.

126

zeigt, konzentrieren sich die in den 90er Jahren entstandenen Lohnarbeitsplätze auf Personal mittleren und hohen Bildungsniveaus - ein eindeutiger Hinweis für ein upgrading der Beschäftigungsstruktur - , während weniger Qualifizierte in großem Umfang in anderen Beschäftigungskategorien Zuflucht suchen mussten. Allerdings weisen der nördliche und der südliche Teil der Region diesbezüglich deutliche Unterschiede auf, da in Mexiko, Zentralamerika und der Karibik mit der maquila ein Segment der Produktionsstruktur expandierte, das gerade weniger qualifiziertes Personal nachfragt 27 . Tab. 2: Zusammensetzung der zusätzlichen Beschäftigung, Lohn- und Nichtlohnarbeit in den 90er Jahren, nach Schulbildung, Medianwerte für 7 Länder, in % Besehäftigungskatcgorien

Schulbildung (abgeschlossenen Schul- und Universitätsjahre) bis 9 Jahre

10-12 Jahre

mind. 13 Jahre

Total

Beschäftigte

32,3

46,6

35,3

lou,o

- Lohnarbeit

8,8

31,8

21,9

62,2

16,2

11,2

10,4

37,4

- Nichtlohnarbeit

Quelle: Weller 2000b: 157. Anmerkung: Da es sich um Medianwerte handelt, summieren sich die Zahlen für die Lohnarbeit und die Nichtlohnarbeit nicht notwendigerweise zum Gesamtwert.

Bezüglich der Tabelle 2 ist zu berücksichtigen, dass die bildungsspezifische Zusammensetzung der Netto-Neubeschäftigung, nicht der Gesamtbeschäftigung gezeigt wird. Der relativ hohe Anteil der mittleren und der hohen Qualifikationsgruppe ist für die aggregierte Beschäftigung also im Wesentlichen Resultat zweier Prozesse: erstens des Ausscheidens älterer Beschäftigter mit vergleichsweise niedrigem Bildungsstandard und zweitens des Arbeitsmarkteintritts von jungen Leuten mit - im Vergleich zu den vorhergegangenen Altersgruppen hoher Bildung. Das Interessante an den Zahlen der Tabelle ist daher nicht die Zusammensetzung auf dem aggregierten Niveau, sondern wie die NettoNeubeschäftigung sich zwischen der Lohnarbeit und der Nichtlohnarbeit unterscheidet. Die zu Beginn dieses Abschnitts erwähnte Konzentration eines Großteils der neuen Arbeitsplätze in informellen Beschäftigungen beruht somit vor allem auf der mangelnden Arbeitsnachfrage des formellen Sektors28, während der bias

27

Vgl. Stallings/Weller 2001: 19-25 zu den Implikationen für die Entwicklung der Arbeits28 märkte in beiden Subregionen. Dies könnte leicht nach einer Tautologie klingen. Doch ist zu bedenken, dass es auch andere Gründe fiir eine überdurchschnittliche Expansion des informellen Sektors geben könnte, 127

dieser Nachfrage zugunsten höher qualifizierten Personals diese Segmentierung entlang des Bildungsniveaus vertieft. Da ältere Beschäftigte im Durchschnitt ein niedrigeres Bildungsniveau aufweisen, sind diese typischerweise in informellen Tätigkeiten überrepräsentiert. Die Schwäche und der bias der Arbeitskraftnachfrage äußern sich auch in einer polarisierten und gleichzeitig schichtspezifisch segmentierten Entstehung von Arbeitsplätzen. Nach Berechnungen der International Labour Organization (ILO) stieg die Beschäftigung mit jährlich etwa 5% am kräftigsten in armen Haushalten, jedoch lagen diese neuen Arbeitsplätze zu etwa 80% im informellen Sektor 29 . In den reichsten Haushalten nahm die Zahl der Arbeitsplätze jährlich etwa 3,5% zu, davon etwa zu 70% im formellen Sektor. In den Haushalten der Mittelschichten wuchs die Zahl der Arbeitsplätze lediglich um 3%, und zwei Drittel dieser neuen Beschäftigungsmöglichkeiten lagen wiederum im informellen Sektor. Angesichts dieser schichtspezifisch segmentierten Entwicklung der Arbeitsplätze und der ungleichmäßigen Lohnentwicklung nach Bildungsniveau wundert es nicht, dass sich die Realeinkommen für die Angehörigen wohlhabender Haushalte deutlich günstiger entwickelten als diejenigen der Angehörigen anderer sozialer Schichten (Klein/Tokman 2000: 21 f.). Neben niedrig Qualifizierten und Älteren sind typischerweise auch Frauen im informellen Sektor überrepräsentiert; vor allem durch die hohe Bedeutung der (vor allem weiblichen) Haushaltsgehilfen. In den 90er Jahren nahm der Frauenanteil an der Beschäftigung im informellen Sektor jedoch ab, denn wenngleich die städtische Informalität weiblicher Erwerbstätigkeit von 47,4% auf 50% zunahm, geschah dies doch in geringerem Maße, als es bei den Männern der Fall war, bei denen die Informalität von 39,4% auf 43,9% anstieg (OIT 2000: 59). Dazu trug das vergleichsweise starke Wachstum der Lohnarbeit von Frauen mit hoher schulischer Qualifikation bei, welches sich auch entscheidend auf die Verringerung der Kluft der Durchschnittslöhne von Männern und Frauen auswirkte (Weller 2000b: 171-173). Die Verbesserung der Position von Frauen in der Beschäftigungs- und Lohnstruktur war in den 90er Jahren die einzige Tendenz mit Elementen einer Homogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse 30 . Allerdings zeigt der Vergleich der Entwicklung der Lohnkluft zwischen Männern und Frauen desselben Bildungsniveaus gemischte Ergebnisse, so dass nicht von einer generellen Reduzierung der Lohndiskriminierung von Frauen gesprochen werden kann. Die Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit verweist auch insofern auf ambivalente Elemente, als sie in vielen Fällen eine erzwungene Reaktion auf eine Verschlechterung der

29

30

etwa ein beschleunigtes Wachstum des Arbeitskraftangebots bei gleichbleibender Nachfrage des formellen Sektors. Berechnungen auf der Grundlage der Entwicklung der städtischen Beschäftigung in neun Ländern, zwischen 1990 und 1996; vgl. Klein/Tokman 2000: 21 f. Zu verschiedenen Aspekten der, wenn auch begrenzten, Verbesserung der relativen Position der Frauen auf dem lateinamerikanischen Arbeitsmarkt vgl. OIT 1999: 21-40.

128

materiellen Situation der Haushalte darstellt. Als Ergebnis dieser verschiedenen Tendenzen lässt sich eine Polarisierung insbesondere der weiblichen Beschäftigungsstruktur feststellen 31 . Ein weiterer Aspekt der Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse ist der Rückgang des Anteils der „normalen", sozialversicherten Lohnarbeit mit unbefristetem Vertrag. Zwar war diese „Normalität" in den meisten Ländern Lateinamerikas - wie im zweiten Abschnitt dieses Artikels dargestellt - stets nur einer Minderheit vorbehalten, aber diese Minderheit wuchs bis zur Krise der 80er Jahre kontinuierlich, und ihre „Normalität" galt weithin als gesamtgesellschaftliche Zielvorstellung 32 . Die Auflösung dieser Normalität hat - neben der bereits erwähnten Schwäche der Arbeitskraftnachfrage des formellen 33 und der Konzentration der neuen Arbeitsplätze im informellen Sektor verschiedene Facetten, die Filgueira (2001) anhand der Begriffspaare abhängig vs. unabhängig beschäftigt und untergeordnet vs. autonom tätig analysiert. Während das erste Begriffspaar eine ökonomische Zuordnung bedeutet, verweist das zweite auf die Organisation des Arbeitsprozesses. Gegenüber dem „normalen", abhängigen und untergeordneten Lohnarbeitsverhältnis gewinnen die anderen drei Kombinationen als Folge neuer Unternehmensstrategien an Gewicht 34 : erstens, die unabhängige, aber untergeordnete Beschäftigung, z.B. in Subkontraktverhältnissen 35 ; zweitens, die unabhängige, autonome Beschäftigung, z.B. bei spezialisierten Dienstleistungen für Unternehmen; drittens, die abhängige und autonome Beschäftigung, etwa in Heimarbeit 36 . Wie bereits erwähnt, wurde dieser Aspekt der Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse in vielen Ländern von Reformen der Arbeitsgesetzgebung gefördert, die auf eine Gleichstellung der Arbeitsverträge mit Verträgen auf anderen Märkten zielten, also tendenziell die Besonderheit der Vertragsbeziehungen auf dem Arbeitsmarkt leugneten (Morgado 1999). Die unter diesen neuen Vertragsverhältnissen entstehenden Arbeitsplätze müssen nicht von „schlechter

31

32 33

34

35

36

Vgl. hierzu Wichterich 2000. Herkömmlich galt diese Ziel vorstellung jedoch nur für Männer. In diesem Zusammenhang ist der relative Rückgang der Beschäftigung im öffentlichen Dienst besonders relevant, da dort typischerweise die Charakteristika der „normalen" Lohnarbeitsverhältnisse am weitesten verbreitet sind und seine Expansion historisch entscheidend zur Herausbildung der lateinamerikanischen Mittelschicht beitrug (Klein/Tokman 2000: 24f). In Tokman/Martinez (1999b) finden sich Studien über die Resultate der Unternehmensstrategien zur Senkung der Lohnkosten in der verarbeitenden Industrie mittels der Ersetzung unbefristeter Arbeitsverhältnisse durch andere Vertragsformen. Dabei ist zwischen der Subkontraktion der Produktion und der Subkontraktion der Beschäftigung (etwa über Zeitarbeitsfirmen) zu unterscheiden; vgl. Echeverria/Uribe (1998). Vgl. dazu die vergleichende Studie von Tomei (1999).

129

Qualität" sein 37 , allerdings überwiegen instabile Beschäftigungen und Einkommen ohne oder mit geringer sozialer Sicherung (Abramo 1997). Empirisch drücken sich diese Tendenzen zum Beispiel in den Veränderungen der Charakteristika der Arbeitsverträge aus. In vielen Ländern nimmt die Lohnarbeit ohne formellen oder mit zeitlich befristetem Arbeitsvertrag zu, während unbefristete Arbeitsverhältnisse rückläufig sind (Tokman/Martinez 1999a). Ein anderer Indikator ist der Rückgang von Lohnarbeitsverhältnissen mit Komponenten von sozialer Sicherheit. Die Tabelle 3 zeigt für einige Länder die tendenzielle Prekarisierung dieser Aspekte unter Lohnarbeitsverhältnissen auf. Tab. 3: Indikatoren für die soziale Sicherheit der Lohnarbeit, 1990-99, in % der Lohnarbeit Land

Lohnarbeiter ohne Arbeitsvertrag, städtische Gebiete

Lohnarbeiter mit Beitragszahlungen zur Sozialversicherung

1990

1998/99

1990

1998/99

Argentinien

21,9

33,0

61,9

57,5

Brasilien

35,1

46,3

74,0

67,0

Chile

15,1

22,2

79,9

77,4

Costa Rica

78,5

75,2

Ekuador

55,1

46,6

Kolumbien

37,5

31,0

62,2

67,1

Mexiko

32,4

37,7

58,5

69,9

53,6

56,0

Uruguay

82,6

79,4

Venezuela

70,6

66,4

Lateinamerika

66,6

65,7

Paraguay Peru

64,9 29,9

41,1

Quellen: CEPAL 2000b: 100, OIT 2000: 65f.

37

Vgl. zur Diskussion und empirischen Anwendung des Konzepts der Beschäftigungsqualität Infante (1999). Sowohl Echeverria/Uribe (1998) als auch Garcia/Mertens/Wilde (1999) und Tomei (1999) verweisen darauf, dass sich unter den von ihnen untersuchten Vertragsformen auch Arbeitsplätze „guter Qualität" finden und dass es ein Potenzial gibt, den Anteil dieser „guten" Arbeitsplätze auszuweiten.

130

Unter der Lohnarbeit weiten sich Beschäftigungsverhältnisse ohne Arbeitsvertrag aus, während in den meisten Ländern die Deckung der Krankenversicherungen rückläufig ist. Es gibt jedoch Ausnahmen, was darauf verweist, dass es sich nicht um einheitliche Prozesse handelt und dass es Spielräume gibt, Anforderungen an erhöhter Flexibilität und Ansprüche an Mindeststandards von sozialer Sicherung zu verbinden.

Schlussfolgerungen Generell lässt sich zusammenfassend festhalten, dass in den 90er Jahren globale Prozesse technologischer, wirtschaftlicher und politisch-institutioneller Art entgegen den Erwartungen, die im Zusammenhang der Wirtschaftsreformen gehegt wurden, die Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse gefordert haben. Zur Heterogenisierung der Beschäftigungsverhältnisse trug eine polarisierte Entwicklung der Beschäftigungsstruktur bei. Am oberen Ende der Skala der Beschäftigungen entstanden mit beträchtlicher Dynamik neue Arbeitsplätze in expandierenden oder sich modernisierenden Branchen; in diesem Zusammenhang bildete sich ein bias der Arbeitskraftnachfrage nach qualifiziertem Personal heraus, der sich in der wachsenden Lohnspreizung ausdrückte. Andererseits konzentrierte ein Großteil der neuen Arbeitsplätze sich in wenig produktiven Beschäftigungen, und in der Lohnarbeit lassen sich Prekarisierungstendenzen feststellen. In diesem Kontext ist die verstärkte Frauenerwerbstätigkeit die wichtigste tendenziell homogenisierende Tendenz, auch wenn sie widersprüchliche Elemente enthält und sich in polarisierter Form entwickelt. In Umbruchsituationen ist allerdings auch nichts anderes als das Aufbrechen bestehender Strukturen zu erwarten, und es macht keinen Sinn, eine Heterogenisierung als solche anzuprangern und ihr eine angebliche gesellschaftliche Homogenität entgegenzuhalten, wie sie zumal in Lateinamerika nie existierte. Die Heterogenisierung fuhrt jedoch zu Exklusionstendenzen, die in Industrieländern ebenso wie in Lateinamerika bedeutende Teile der Bevölkerung betreffen. In Lateinamerika finden die neuen Heterogenisierungsprozesse auf der Grundlage historisch gewachsener „struktureller Heterogenität" statt, die in der Krise der 80er Jahre in vielen Ländern vertieft wurde. Hier, wo die Einkommensverteilung extrem ungleich und die gesellschaftliche Integration schwach ist, bedrohen diese Prozesse in ihrer polarisierten Ausprägung zusätzlich die soziale Kohäsion und fördern gesellschaftliche Zerfallsprozesse. Es handelt sich bei den in diesem Artikel behandelten Tendenzen und ihren Auswirkungen jedoch nicht um „eherne Gesetze", die keine Spielräume zur Begrenzung der negativen Aspekte der Heterogenisierungsprozesse zuließen. Viele Aspekte der Entwicklung der Beschäftigungsverhältnisse unterliegen der Einflussnahme gesellschaftlicher und politischer Akteure. Ohne den Druck zu leugnen, den die Wettbewerbssituation auf zunehmend transnational integrierte Märkte ausübt, ist festzuhalten, dass Spielräume jenseits der Anerkennung der 131

Sachzwänge des Weltmarkts bestehen. Abschließend soll kurz auf einige in diesem Zusammenhang relevante Politikfelder hingewiesen werden. Eine zentrale Rolle spielt erstens die Teilhabe von wachsenden Gruppen der Bevölkerung an der Wachstumsdynamik, sei es über die Schaffung von Lohnarbeitsplätzen in wettbewerbsfähigen, arbeitsintensiven Unternehmensstrukturen, sei es über die Verbesserung des Zugangs zu produktivem Eigentum und die wachsende Produktivität der Klein- und Mittelunternehmen 38 . Zweitens müssen Bildung und Ausbildung quantitativ und qualitativ verbessert und stärker miteinander verknüpft werden, nicht nur wegen ihrer zunehmenden Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit, sondern auch, weil ein zunehmendes Angebot qualifizierter Arbeitskraft der Ausweitung der Lohnspreizung entgegenwirkt. Drittens müssen die arbeitsmarktrelevanten Institutionen reformiert und ausgebaut werden, um zum einen auf die neuen wirtschaftlichen Bedingungen zu reagieren, zum anderen aber der zunehmenden Prekarisierung entgegenzuwirken39: •

Die globale Normsetzung nimmt tendenziell zu und ist ein zentrales Instrument gegen einen „Wettlauf nach unten" bei der Bestimmung von arbeitsrechtlichen Standards (Peripherie Nr. 75). Eine angemessene Kombination von globalen Mindestnormen und die jeweilige nationale Situation widerspiegelnden nationalen Bestimmungen vermeidet protektionistischen Missbrauch (Bekerman/Camillo 1999). Auf nationaler Ebene herrschen Spielräume zur Anpassung der Institutionen an neue Flexibilitätsanforderungen, ohne dass die Schutzbestimmungen massiv abgebaut werden müssten (Beccaria/Galin 1998, Hyman 1999). Auch auf Unternehmensebene ist die Entwicklung der angemessenen Kombination von Flexibilisierung-, Partizipations- und Protektionsmechanismen ein Prozess mit offenem Ausgang, der nicht auf ein eindeutig vorher bestimmbares Optimum ausgerichtet werden kann 40 - ganz davon zu schweigen, dass es sich dabei um soziale Prozesse handelt, deren Ergebnisse von spezifischen Traditionen und den jeweiligen Kräfteverhältnissen abhängen (Lauth/Thiery 1997).





38

39

40

Altenburg/Qualmann/Weller (1999) diskutieren Möglichkeiten und Spielräume in Kleinund Mittelunternehmen, in der Lohnveredelungsindustrie und für mit dem Primärsektor verknüpften Aktivitäten. Pérez Sáinz (2000) schlägt das Konzept der ciudadanía laboral als Grundlage einer Restrukturierung der Beschäftigungsverhältnisse vor, die unter anderem die Chancen der Globalisierung maximiert und die mit ihr verbundenen Risiken minimiert, die Relevanz unterschiedlicher territorialer Ebenen berücksichtigt, die vielfältigen Akteure - vor allem auch die Unternehmer - einbezieht und die Rechte der Beschäftigten einklagt. Zum Beispiel sind die Anforderungen der Unternehmen an Beschäftigungsflexibilität unterschiedlich, j e nachdem, ob der kurzfristige oder der langfristige Zeithorizont in ihrem Kalkül überwiegt. Ähnliches lässt sich auch für die Beschäftigten sagen.

132

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Andreas Boeckh

Neoliberalismus und soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika Wer „Neoliberalismus" mit „capitalismo salvaje" übersetzt, und dies tut man gerne in Lateinamerika, für den sind „Neoliberalismus" und „soziale Gerechtigkeit" Gegensatzpaare. Mit „Neoliberalismus" werden „soziale Kälte", „Ellenbogengesellschaft" bzw. „Zweidrittelgesellschaft" assoziiert, aber bestimmt nicht „soziale Gerechtigkeit". Mehr noch: Nach gängiger Lesart verschärft der Neoliberalismus soziale Polarisierungsprozesse und trägt somit zur sozialen Ungerechtigkeit bei. Gerade die Transformationen in Lateinamerika scheinen als Experimentierfeld für neoliberale Anpassungspolitiken der schlagende Beweis für dieses Argument zu sein, sind doch die sozialen Resultate der neuen Wirtschaftspolitik alles andere als überzeugend und steht die Begleichung der vielbeschworenen „sozialen Schuld" nach wie vor aus. So populär diese Sichtweise auch ist, trägt sie wenig dazu bei, die Entwicklungsprobleme und die Problematik der sozialen Gerechtigkeit in Lateinamerika wirklich zu verstehen, und dies gleich aus einer Reihe von Gründen: Erstens wird nie wirklich geklärt, was mit „Neoliberalismus" gemeint ist. „Neoliberalismus" ist ein Kampfbegriff derer, die ihn kritisieren. Es gibt aber kaum jemanden, der ihn für sich in Anspruch nimmt. Oft wird er als Synonym für die Durchsetzung der volkswirtschaftlichen Marktsteuerung gebraucht. Eine Marktwirtschaft kann jedoch viele Gesichter haben, einigermaßen soziale und weniger soziale. Falls mit „Neoliberalismus" tatsächlich „Marktwirtschaft" gemeint ist, dann muss man zweitens darauf verweisen, dass das alte Entwicklungsmodell der Staatssteuerung und der Binnenorientierung nicht gerade an seinem Erfolg zugrunde gegangen ist. Wer also den Übergang zu einer stärkeren Marktsteuerung ökonomischer und gesellschaftlicher Allokationsprozesse für das eigentliche Übel hält, müsste den Nachweis führen, dass entweder das alte Modell hätte stabilisiert, oder aber in ein anderes überführt werden können, das bessere soziale Resultate hervorgebracht hätte. Drittens wird unterstellt, dass alle Länder Lateinamerikas weitgehend identischen und als „neoliberal" zu charakterisierenden Reformen unterzogen worden sind. Die Richtung, in die sich 137

die Transformationen bewegen, ist zwar dieselbe, doch sind die Modalitäten und Tempi keineswegs identisch (Bardos 1999). Gerade im Hinblick auf die sozialen Komponenten der Transformationsstrategien gibt es erhebliche Varianzen. Die lateinamerikanische Diskussion um das „rheinische Modell" des Kapitalismus macht deutlich, dass diese Unterschiede auch wahrgenommen werden (Albert 1993/94). Es bliebe zu klären, welchen der Transformationspfade man als „neoliberal" zu bezeichnen wünscht. Viertens fallt auf, dass der Neoliberalismus und seine Folgen gerade in solchen Ländern besonders heftig beklagt werden, die sich noch am wenigsten und wenn, dann nur sehr langsam und vorsichtig, auf Marktreformen eingelassen haben. Man denke hier an Ekuador und Venezuela, aber auch an Brasilien. Dies weckt den Verdacht, dass sich der Widerstand der alten Entwicklungskoalitionen und der Gruppen, die man heute als rentseekers bezeichnet, u.a. als Kritik am „Neoliberalismus" äußert. Wenn etwa in Brasilien die Bezieher von üppigen Mehrfachrenten die überaus mühsamen und zaghaften Rentenreformversuche der Regierung als neoliberal und antisozial kritisieren, darf man durchaus Zweifel hegen. In anderen Worten: Will man nicht Polemiken folgen und interessenbezogenen Standpunkten auf den Leim gehen, muss man den im Titel angedeuteten Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und sozialer Gerechtigkeit in einer Weise untersuchen, dass das Ergebnis nicht schon von vornherein feststeht. Bevor wir uns an diese Aufgabe machen, müssen wir zunächst einmal klären, was wir unter „Neoliberalismus" verstehen wollen und worin dieser sich von anderen Arten der Marktsteuerung unterscheidet. Zum Kern neoliberalen Gedankenguts gehört der Glaube an die umfassende Steuerungsfähigkeit des Marktes. Je schneller der Übergang zur Marktwirtschaft bewerkstelligt wird, und je weniger der Staat in diesem Prozess interveniert, desto besser für alle Beteiligten. Wirtschaftswachstum, Konkurrenzfähigkeit und mittelfristig auch Wohlfahrtsgewinne, die allen zugute kommen, lassen sich nach neoliberalem Credo am besten durch das freie Spiel der Marktkräfte erzielen. Auf dem Hintergrund staatsinterventionistischer Erfahrungen in Lateinamerika ist daher das zentrale Thema der Rückzug des Staates als Unternehmer und als ökonomische Steuerungsinstanz. Im sogenannten „Washington Konsens" (Williamson 1990, 1993) geht es vor allem um diesen Rückzug, d.h. es wird hervorgehoben, was der Staat alles nicht tun und was er alles dem Markt überlassen soll. Insofern kann dieser Konsens als Quintessenz neoliberaler Politikempfehlungen gelten, wenngleich dort nirgendwo steht, dass die Transformationen schlagartig zu erfolgen hätten, und wenngleich der Konsens auch Elemente enthält, die man normalerweise nicht mit „Neoliberalismus" assoziieren würde. Zusätzlich zu der eher negativen Bestimmung der Staatsaufgaben in dem Konsens kommen nach liberaler Auffassung dem Staat die Aufgaben zu, den ordnungspolitischen Rahmen abzusichern, für Berechenbarkeit und Regelverlässlichkeit zu sorgen und bestimmte öffentliche Güter bereitzustellen. Allerdings wird der Bereich, in dem der Staat öffentliche Güter zur Verfügung stellen soll, 138

inzwischen immer enger gefasst. Ferner hat er sozialpolitisch diejenigen Mitglieder abzusichern, die im Transformationsprozess sonst zugrunde gehen würden und die auch in einer funktionierenden Marktwirtschaft nicht für sich sorgen können. Hohe Sozialleistungen sind nach liberalem Credo nur in der Phase des Übergangs zu erwarten. Funktioniert der Markt, werden nur noch wenige Mitglieder der Gesellschaft der staatlichen Hilfe bedürfen. Die Sozialpolitik sollte sich auf punktgenaue, assistenzialistische Maßnahmen beschränken, welche nur den wirklich Bedürftigen zugute kommen. Dies wird mit dem Begriff der Zielgruppenorientierung der Sozialpolitik umschrieben. Eine soziale Grundversorgung und Konsumsubventionen, wie sie früher üblich waren, werden abgelehnt. Dies impliziert auch die Privatisierung der sozialen Sicherungen (Krankenkassen und Rentenversicherungen). Auch hier kommt der Staat nur noch für diejenigen auf, die sich eine private Absicherung nicht leisten können (Boeckh 1997, Mesa Lago 1997, Sottoli 1999). Im Unterschied dazu sehen Vertreter der neostrukturalistischen Richtung die Aufgaben des Staates anders. Sie bezweifeln, dass sich internationale Konkurrenzfähigkeit allein über den Markt herstellen lässt (Eßer u.a. 1996), und sie verweisen darauf, dass die anti-etatistische Stimmung nach dem Kollaps des alten Entwicklungsmodells den Staat auch auf solchen Gebieten in Frage gestellt hat, auf denen er dringend Leistungen erbringen muss, wie etwa bei der Regulierung von privaten Firmen, die öffentliche Güter bereitstellen. Auch sozialpolitisch wird seine Rolle anders definiert: Bei struktureller Armut reichen assistenzialistische Maßnahmen nicht aus: Vielmehr müssen vor allem die Markt- und Arbeitsmarktzugangschancen gerade der Armen gezielt verbessert werden. Investitionen im Bildungswesen kommt hierbei eine zentrale Rolle zu (CEPAL 1997, Ocampo 2000). Der „Washington Konsens" wurde spätestens mit dem Weltentwicklungsbericht der Weltbank von 1997 aufgekündigt, der stark der „Neuen Institutionellen Ökonomie" verpflichtet ist (Weltbank 1997). Auch im Jahresbericht 2000 der Interamerikanischen Entwicklungsbank ist fast nur noch vom Staat und den entwicklungsforderlichen Staatsaufgaben die Rede, die der Staat in Lateinamerika zu erbringen hätte, aber nicht erbringt (Inter-American Development Bank 2000). Dies bedeutet jedoch, dass in und für Lateinamerika heute kaum noch neoliberale Konzepte in ihrer reinen Form vertreten werden, und dass die neoliberale Phase selbst auf der Ebene der konzeptionellen Diskussion nicht lange angedauert hat. Nun kann man diese Kontroversen im Kontext von marktwirtschaftlichen Diskursen für ein belangloses Gerangel im Käfig halten, da es allemal um Marktwirtschaft gehe. Dann allerdings wäre die Frage nach funktionsfähigen Alternativen jenseits der Marktwirtschaft zu stellen. Der eingangs geäußerte Verdacht, dass die Transformationen zur Marktökonomie in Lateinamerika nicht überall und vermutlich sogar in der geringeren Zahl der Fälle nach neoliberalem Muster erfolgt ist, lässt sich nun erhärten: Am ehesten entsprechen die von der chilenischen Militärdiktatur im Jahre 1975 139

durchgesetzte Marktöffnung und Sozialpolitik neoliberalen Konzepten: Sie erfolgte rasch, umfassend, sie führte zum Verschwinden von ganzen Branchen, zu hoher Arbeitslosigkeit und zu einem explosionsartigen Anstieg der Armut, die durch staatliche, rein assistenzialistisch angelegte Sozial- und Arbeitsbeschaffungsprogramme abgefedert wurde. Es wurden für die Bevölkerung starke Anreize geschaffen, um von staatlichen zu privaten Systemen der sozialen Sicherung überzuwechseln. Banken und Staatsbetriebe wurden privatisiert, allerdings mit Ausnahme des Kupfersektors. Andere Länder, die sich, wenn auch nicht mit derselben Radikalität wie Chile, auf neoliberale Anpassungsstrategien eingelassen haben, sind Argentinien (nach 1991), Bolivien (nach 1985) und Peru (ebenfalls nach 1991). Die mexikanischen Transformationen waren zwar ebenfalls recht radikal, verbanden sich aber mit Kompensationsprogrammen, die weit über das hinausgingen, was eine neoliberale Strategie zulassen würde. Kolumbien nimmt bezüglich der Wirtschaftsliberalisierung und der Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme eine mittlere Position ein (Mesa Lago 2000), in Venezuela ist ein neoliberaler Ansatz nach kurzer Zeit politisch gescheitert, und das größte und wichtigste Land des Subkontinents, nämlich Brasilien, hat erst spät und dann sehr zögerlich mit Marktreformen begonnen, die aber beim besten Willen nicht als „neoliberal" charakterisiert werden können. Alles in allem ist die Bilanz keineswegs einheitlich, und man muss sich daher davor hüten, die insgesamt sehr bescheidenen sozialen Resultate der ökonomischen Transformationen in Lateinamerika komplett auf das Konto des Neoliberalismus zu verbuchen. Wenn wir nach den Ursachen für die anhaltend hohe und zum Teil noch zunehmende Armut in Lateinamerika und die immer noch hohe Einkommensungleichheit forschen, dann sollten wir offen verfahren. Wir müssen untersuchen, ob und welchen Einfluss die spezifischen ökonomischen Transformationsstrategien auf die soziale Entwicklung haben, ob sie überhaupt die entscheidende Variable bei der Erklärung von Armut und Einkommensverteilung sind, und welche anderen Faktoren hier eine Rolle spielen. Um dies leisten zu können, müssen wir uns zunächst einiger Sachverhalte bezüglich der Armutsentwicklung und der Einkommensverteilung vergewissern.

2. Armut und Einkommensverteilung Nicht nur die Einkommensniveaus sind in Lateinamerika sehr bescheiden, die Einkommen sind zudem noch ungerechter verteilt als in jeder anderen Region der Welt. Wäre die Einkommensverteilung in Lateinamerika mit der in Ostasien vergleichbar, würde sich die Zahl der in Armut lebenden Personen in Lateinamerika halbieren. Ausgerechnet das industriell am weitesten entwickelte Land des Subkontinents, nämlich Brasilien, hat nach Gabun die schlechteste Einkommensverteilung der Welt aufzuweisen, und der Präsident dieses Landes hat den bemerkenswerten Satz formuliert, Brasilien sei kein unterentwickeltes, sondern ein ungerechtes Land. 140

Abb. 1: Gini-Koeffizienten (städtische Bevölkerung), 1980-1997

0,55

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111980 0,45

0,4

0,35

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