Erkundungen zu Lateinamerika: Identität und psychosoziale Partizipation 9783964567048

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Erkundungen zu Lateinamerika: Identität und psychosoziale Partizipation
 9783964567048

Table of contents :
INHALT
Einleitung
Danksagung
I. Teil: Identität und psychokultureller Kontext
Volkskirche in Lateinamerika. Vom Opium der Religion zur Befreiung durch den Glauben
Antagonismen, Anomie und religiöser Dualismus in Zentralamerika
Selbstbildnis der Venezolaner. Das Negative und das Positive
Peru: rassistische Segregation und klassenspezifische Marginalisierung
Literatur und Identität: Lateinamerikaner in Europa
Exil und soziokulturelle Identität. Zwei Generationen von Südamerikanern in Europa
Identität, Exil und Sexualität
II. Teil: Partizipation und psychosoziale Gesundheit
Der Begriff der psychosozialen Gesundheit in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Lateinamerikas
Die psychosoziale Gesundheit in Lateinamerika: ein epidemiologischer Ansatz
Die Einstellung gegenüber psychiatrischen Erkrankungen. Eine Studie aus Nicaragua
Nicaragua: Klinische Psychologie in der Praxis
Erdbeben in Mexiko - 1985. Naturkatastrophe und psychosoziale Konfliktbewältigung
Leitmotiv des Symposiums: Zweiter Band
Abstracts
Personalia

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Riquelme (Hrsg.) Erkundungen zu Lateinamerika

Horacio Riquelme (Hrsg.)

Erkundungen zu Lateinamerika Identität und psychosoziale Partizipation

Vervuert Verlag • Frankfurt am Main

1990

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes »Traum eines Sonntagnachmittags im Alameda Park« 1947-1948 von Diego Rivera

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerika / Horacio Riquelme (Hrsg.). - Frankfurt am Main : Vervuert. Neben!.: Kultur und psychosoziale Situation in Südamerika NE: Riquelme, Horacio [Hrsg.]

Bd. 2. Erkundungen zu Lateinamerika . - 1990 Erkundungen zu Lateinamerika : Identität und psychosoziale Partizipation / Horacio Riquelme (Hrsg.). Frankfurt am Main:Vervuert, 1990 (Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerika ; Bd. 2) ISBN 3-89354-045-8

© Vervuert Verlag, Frankfurt am Main 1990 Alle Rechte vorbehalten Printed in West-Germany

INHALT

Horacio Riquelme, Einleitung 7 Danksagung

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I. Teil: Identität und psychokultureller Kontext Ignacio Martín-Baró, Volkskirche in Lateinamerika. Vom Opium der Religion zur Befreiung durch den Glauben 13 Heinrich Schäfer, Antagonismen, Anomie und religiöser Dualismus in Zentralamerika 53 Maritza Montero, Selbstbildnis der Venezolaner. Das Negative und das Positive 87 Luis G. Lumbreras, Peru: rassistische Segregation und klassenspezifische Marginalisierung 102 Horacio Riquelme, Literatur und Identität: Lateinamerikaner in Europa 118 Claudio Bolzman, Exil und soziokulturelle Identität. Zwei Generationen von Südamerikanern in Europa 140 Enrique Bustos, Identität, Exil und Sexualität 169 II. Teil: Partizipation und psychosoziale Gesundheit Hernán San Martin F., Der Begriff der psychosozialen Gesundheit in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Lateinamerikas 179 Rodrigo Rojas Mackenzie, Die psychosoziale Gesundheit in Lateinamerika: ein epidemiologischer Ansatz 194

Trinidad CalderalUlises Penayo, Die Einstellung gegenüber psychiatrischen Erkrankungen. Eine Studie aus Nicaragua 225 Ingridingeborg

Koop, Nicaragua: Klinische Psychologie in der Praxis 240

Mario Campuzano, Erdbeben in Mexiko - 1985. Naturkatastrophe und psychosoziale Konfliktbewältigung 247 Leitmotiv des Symposiums: Zweiter Band 268 Abstracts 271 Personalia 275

Einleitung

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Horacio Riquelme U.

Einleitung Die kulturelle und psychosoziale Situation in den verschiedenen Regionen Lateinamerikas gestaltet sich außerordentlich vielfältig und kaum verallgemeinerbar. Ein erkenntnisgeleitetes Verständnis der unterschiedlichen Umstände und Zusammenhänge auf dem Gebiet der geistigen Gesundheit (mental health) ist also nicht durch globalisierende Theorieansätze bzw. hegemoniale Praxisbestrebungen zu erreichen. Die Frage nach Identität und psychosozialer Partizipation erlaubt jedoch einen systematischen Ansatz zur Erkundung dieser wechselvollen Wirklichkeit aus der Sicht der Betroffenen. Auf diese Weise entsteht eine Verständnisgrundlage, damit eine gezielte Hinterfragung der spezifischen Interaktion zwischen Kultur und geistiger Gesundheit im jeweiligen Kontext erfolgen kann. Diese »Erkundungen zu Lateinamerika« bilden, für den psychosozialen Bereich, den Teil eines umfangreichen Projektes, das bereits eine vielversprechende Verwurzelung in den Humanwissenschaften, so in der Philosophie und Soziologie, erfahren hat. Die Aufsätze dieses Buches verstehen sich als ein Versuch der präzisen Beobachtung und der kreativen Synthese im Bereich der geistigen Gesundheit. Europäische und lateinamerikanische Sozialwissenschaftler, Psychologen und Psychiater widmen sich hier der problembezogenen Forschung und der theoretischen Reflektion über die thematische Interaktion zwischen Identität und psychosozialer Partizipation. Somit wird die Reihe der auf Deutsch und Spanisch erscheinenden Publikationen des interdisziplinären Symposiums »Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerika« an der Universität Hamburg (siehe Leitmotiv am Ende des Buches) fortgeführt, die 1990 im gleichen Verlag mit dem Band I »Zeitlandschaft im Nebel. Menschenrechte, Staatsterrorismus und psychosoziale Gesundheit in Südamerika« begonnen hat. Ebenso wie beim ersten Band ist der spanische Titel dieses Buches eine semantische Übersetzung: »Buscando América Latina. Identidad y participación psicosocial«. Diese Einleitung soll, wie auch schon beim ersten Band, nicht fertig

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Horacio

Riquelme

gedachte Schlußfolgerungen einem fernen Publikum zugänglich machen, sondern vielmehr versuchen, beim Leser als aktivem Teilnehmer am Erkenntnisprozeß sowohl ein thematisches Interesse, als auch die Bereitschaft zur Diskussion zu wecken. Deswegen werden hier nicht die Arbeiten einzeln angeführt, sondern die thematischen Kernpunkte strukturierend dargestellt. 1. Sich selbst erkennen bedeutet, sowohl die psychokulturelle Verwurzelung als auch die Handlungsperspektiven des eigenen Seins und Werdens erfassen und vermitteln zu können. Für die Lateinamerikaner gehören hierzu so unterschiedliche Problemfelder wie »Religiosität und soziale Praxis«, »Selbsterkenntnis als Individuum oder als historisch-soziales Wesen«, oder »Das Leben im Ausland als psychosoziale Gratwanderung«. Diesen Zusammenhängen widmet sich der erste Abschnitt, der von Identität und dem psychokulturellen Kontext handelt: - Das Thema der Religion im psychosozialen Bereich scheint bis jetzt Objekt einer, wenn nicht tabuisierten, dann zumindest sehr diskreten und wenig substantiellen Behandlung gewesen zu sein. Als ob die überdeutliche Präsenz des Phänomens Religiosität, in fast allen Bereichen des täglichen Lebens in Lateinamerika, eine systematische Beobachtung paradoxerweise verschleierte und nicht greifbar machte. Nichtsdestotrotz wird im realen Leben der Bevölkerungsmehrheit immerzu die Wichtigkeit des Numinosen - tremendum et fascinans, Arteche/Cárdenas 1989 - unter Beweis gestellt, und fortwährend vollzieht sich die Integration von Kategorien des Göttlichen und des Menschlichen in den kulturellen Darstellungen und in der Artikulation des gesellschaftlichen Lebens. - Die Kultur der Unterjochung (la cultura de la dominación, Salazar-Bondy 1969) bildet, mit verschiedenen Ausdrucksformen, ein charakteristisches Merkmal des soziokulturellen Netzes in den verschiedenen Regionen Lateinamerikas und ruft, als Reflex bei den Betroffenen, Verhaltensweisen der passiven Anpassung oder des direkten Widerstandes hervor (im mexikanischen Spanisch entstand das Verb »ningunear« - zu einem Niemand machen -, um die explizite Verneinung der kulturellen Identität auszudrücken, die durch die hegemoniale Kultur herbeigeführt wird). Da sich der Einfluß der Kultur der Unterjochung im allgemeinen Sozialisationsprozeß als prägend erweist, wächst die Notwendigkeit, diese Kultur und ihre Auswirkungen - so z.B. auf die Bildung von Vorurteilen und sozialen Einstellungen im lateinamerikanischen Kontext - genauer wahrzunehmen. - Das Leben im Ausland wird in Lateinamerika, dessen Bevölkerung vielerorts unter organisierter Gewaltanwendung und allgemein unter

Einleitung

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einer massiven Pauperisierung leidet, mittlerweile als eine fast übliche Existenzmöglichkeit angesehen, was schon direkte Konnotationen in der Alltagssprache gefunden hat und diese Erfahrung vom Individuellen ins gesellschaftlich Anerkannte übergehen läßt. Dazu hat die massive Präsenz von Lateinamerikanern in Europa, in den letzten 20 Jahren, zu einem Potential an gesellschaftlichen Erfahrungen ohnegleichen geführt; eine Migration, die zweifellos die soziale und kulturelle Entwicklung in den verschiedenen Regionen Lateinamerikas nachhaltig beeinflussen wird. In den Arbeiten hierzu wird nicht nur hinterfragt, wie es z.B. zu Exil und Entwurzelung gekommen ist, sondern auch, wie sich die neue Existenz in Europa artikuliert und welche Perspektiven zur Erarbeitung neuer Werte und zum Aufbau einer neuen Identität sich unter diesen Umständen abzeichnen. Die regungslose Symbologie der aztekischen Dichtung stellt das Problem der Identität in folgendem Bild dar: »Sein Name kommt von Nirgendwo (er ist schon hier: der Spiegel aus Stein). Unter den Spiegeln aus Stein gibt es einen durchsichtigen und leuchtenden... das ist der Gute, ein Stein, in dem man sich sehen kann. Der andere ist trübe und verschließt sich dem Licht, man sagt von ihm, er sei ein schlechter Spiegel, ein Spiegel, der mit dem Gesicht Streit anfange« (Der Spiegel aus Stein, aztekische Glosse aus dem florentinischen Kodex). Für die heutige Zeit zeigt ein anderer Dichter, Ernesto Cardenal (1982), eine neue Perspektive auf für den Prozeß der Selbsterkenntnis: »Diejenigen, die alphabetisieren gingen (in Nicaragua), brachten zurück in ihren Rucksäcken die mündlichen Traditionen unseres Volkes, alte Gesänge, Geheimnisse medizinischer Kräuter aus tiefer Vergangenheit, alte Ratschläge und Mythen...« Auf ähnliche Weise streben die Autoren des ersten Abschnittes dieses Buches an, eine rein kontemplative Identitätsauffassung, wie in der aztekischen Version angeführt, zu überwinden, indem sie die psychosoziale Realität in einigen ihrer essentiellen Ausdrucksformen erforschen und das Hauptgewicht auf die jeweiligen, soziokulturellen Hintergründe legen. 2. Die Teilnahme der Bevölkerung an der Gestaltung von Gesundheitsprogrammen ist seit mindestens drei Jahrzehnten eine abstrakte Forderung in den meisten Staaten Lateinamerikas. Bei genauerer Betrachtung der Partizipation vor Ort zeigt sich diese Forderung sehr oft eher als eine inhaltsleere Bekundung guter Absichten, als daß sie eine Möglichkeit der sozialen Artikulation von Ressourcen zur Verbesserung des Gemeinwohles eröffnete (Riquelme 1985). Trotz dieser offensichtlichen Rückschläge in der Verwirklichung von Partizipation gewinnt die Einsicht immer mehr an

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Horacio Riquelme

Bedeutung, daß die psychosoziale Gesundheit nur unter aktiver Beteiligung der Bevölkerung gefördert werden kann. Dieser Thematik nimmt sich der zweite Abschnitt dieses Buches an: - Für eine angemessene Behandlung des Themenkomplexes »Partizipation und psychosoziale Gesundheit in Lateinamerika« sind folgende Fragen grundlegend: a) Welche Ähnlichkeiten und welche Unterschiede können in einer, anscheinend so widersprüchlichen, psychosozialen Situation ausgemacht werden?, und b) Welchen Aspekten dieser Realität kommt besonders große Bedeutung zu, wenn diese Wirklichkeit nach psychosozialen Gesichtspunkten nachvollziehbar gemacht werden soll? So wird es möglich, zum einen die sozialen und kulturellen Koordinaten zu erarbeiten, welche die psychosoziale Situation bedingen, sowie zum anderen den bestimmenden Einfluß der Triade Elend-Alkohol-Gewalt auf den Prozeß Gesundheit/Krankheit auf dem Subkontinent festzustellen. - Darauffolgend werden beispielhafte Situationen in zwei Ländern dargestellt: Nicaragua in den achtziger Jahren, wo die psychosoziale Gesundheit als ein Grundbedürfnis betrachtet wurde, und, um diese zu erreichen, die aktive Beteiligung der Bevölkerung ausdrückliche Förderung fand (siehe hierzu auch Riquelme 1989); und Mexiko, nach dem Erdbeben von 1985, wo gerade das Fehlen staatlicher Maßnahmen zur Behandlung von Überlebenden und Angehörigen der Opfer dieser Naturkatastrophe Psychologen und Psychiater die Initiative übernehmen ließ. Durch den fachlichen Umgang mit den Betroffenen in Basisgruppen und die gemeinsame Überwindung der staatlichen Vernachlässigung wurde ein großes Potential an Selbsthilfe und Solidarität aktiviert, was tiefe Spuren in der mexikanischen Gesellschaft hinterlassen hat. Die Arbeiten dieses Abschnitts scheinen einer Suchhaltung verpflichtet, die Alejo Carpentier (1976) in seiner thematischen und methodischen Definition folgendermaßen beschreibt: »Ich stellte fest, daß die nazistische Tendenz viel, sehr viel gezeigt, aber wenig sichtbar gemacht hatte. In zwanzig,nazistischen' Romanen wird uns von einem dörflichen Begräbnis erzählt; in einem Haus auf dem Land weinen die Frauen, und alle die üblichen Details; aber niemand hatte uns in diesen Romanen erzählt, welche Auffassung vom Tod in diesem Haus herrschte, und für mich war es sehr viel interessanter, die uralte Auffassung vom Tod (bei den Beteiligten) zu ergründen, als die Beerdigung selbst zu beschreiben.« In Anlehnung an diese Suchhaltung stellen die Arbeiten dieses Abschnittes beispielhafte Erfahrungen über psychosoziale Partizipation dar und bekräftigen somit die Ansicht, daß das Ziel »Gesundheit für alle« nur erreicht werden kann, wenn die Gesundheit den Rang eines unantastbaren Rechtes bekommt und als Recht durch gemeinsame soziale Anstrengung - auf der

Einleitung

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Basis einer direkten Kenntnis der Kultur der Beteiligten - gefördert wird. Insgesamt zeugen die »Erkundungen zu Lateinamerika« von den thematisch konzertierten Bemühungen einiger Wissenschaftlern, im psychosozialen Bereich dieseits und jenseits des Atlantiks, die sich der Erforschung einer einzigartig beeindruckenden, sozialen Wirklichkeit gewidmet haben. Daß diese Realität von Menschen mit wenig Interesse an einer solchen Tätigkeit des »Verstehen, um zu verändern« massiv beeinflußt wird - weil sie einen unwürdigen status quo offenkundig macht -, kommt in aller Deutlichkeit zum Ausdruck in dem heimtückischen und vorsätzlichen Mord an dem Jesuitenpater Ignacio Martín-Baró, Autor des ersten Aufsatzes dieses Buches, der, zusammen mit sieben anderen Personen, im November 1989, von salvadorianischen Militärs umgebracht wurde. Dieser Meuchelmord ist nicht ein tragisches Ereignis, das man als Produkt der immanenten Gewalt in Lateinamerika betrachten könnte. Diese Gewalt hat nichts mit Tragik zu tun, sie erhält das menschenunwürdige Unterdrückungssystem aufrecht und wird weiterhin ihren Tribut an Leben und Leid fordern, solange ihre eindeutig identifizierbaren Vertreter ihr vernichtendes Werk ungehindert fortsetzen können und den Unterworfenen Schweigen und Vergessen als einzige Überlebensmöglichkeit brutal aufzwingen. Ignacio Martín-Baró, in Spanien geboren und in El Salvador gestorben, stellte seine hellsichtige Intelligenz in den Dienst der sozialen Gerechtigkeit, gegen Obskurantismus und Unterdrückung. Sein Werk lebt weiter. Dieses Buch möchte seiner gedenken und zu einem wachsenden Verständnis der psychosozialen Situation in Lateinamerika beitragen. Hamburg, im April 1990 Arteche, M. & R. Cánovas: Antología de la poesía religiosa chilena. Santiago 1989. Cardenal, E.: Rede vor der Weltkonferenz zur Kulturpolitik. Tlatelolco, México D.F., 28.Juli 1982. Carpentier, A.: Interview mit R.Campra & I.Herrera. Rom 1976. Riquelme, H.: »Vier Thesen zur Partizipation im Gesundheitsbereich lateinamerikanischer Länder«. In: Nahua Script 8. Wuppertal 1985. Riquelme, H.: Nicaragua, Psychosoziale Versorgung im Aufbauprozeß, in: ders.: Aus dem Gedächtnis des Windes, Frankfurt: Vervuert 1989 Salazar Bondy, A.: »La cultura de la dominación«. In: J. Matos Max et. al. Perú Problema. Lima 1969.

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Horacio

Riqueime

Danksagung Während dieser zweite Band aus der Publikationsreihe über »Kultur und psychosoziale Situation in Lateinamerika« gleichzeitig auf Deutsch und Spanisch in Druck geht, muß ich voll Anerkennung an die vielen Personen und Institutionen denken, die zum zufriedenstellenden Gelingen des Symposiums und der Veröffentlichungen beigetragen haben. Dieses Buch möchte die Bedeutung unterstreichen, die das gemeinsame Unterfangen von Europäern und Lateinamerikanern inzwischen erreicht hat, um die herkömmlichen Grenzen der persönlichen Kommunikation und der akademischen Interaktion zu überwinden und für Verständigung Sorge zu tragen, gerade auf einem so wenig einheitlichen Gebiet wie dem der geistigen Gesundheit, wo der Kampf gegen Vorurteile und Mißverständnisse dem Studienobjekt immanent zu sein scheint. Folgende Personen und Institutionen haben zu dieser Veröffentlichung direkt beigetragen: - Die psychiatrische Universitätsklinik Hamburg hat bereits für drei Symposien ihre Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, und der Fachbereich Medizin leistete hierzu konkrete Unterstützung. - Der internationale Solidaritätsfonds gewährte eine finanzielle Beihilfe zur Durchführung dieses Unternehmens. - Maritza Montero, Herausgeberin des Buches »Psicologia Politica Latinoamericana« (Caracas: Panapo 1987), gab ihre freundliche Zustimmung zu der Veröffentlichung des Essay von Ignacio Martin Barö über die Sozialpsychologie der Religiosität in Lateinamerika. - Brigitta Hoffmann, Sven Olsson, Ursula Rammelt und Imme Scholz führten die für diesen Band notwendigen Übersetzungsarbeiten vom Spanischen ins Deutsche durch (besonders gekennzeichnet am jeweiligen Textende). - Matthias Lucks, Ursula Niebling, Katrin Schümann-R. und Ruth Waniek überprüften die Texte in Deutsch, auf daß sprachliche und thematische Verständlichkeit gewahrt werde. Ihnen allen sei hiermit gedankt. Den Leser ersuche ich um Nachsicht für die möglichen Fehler, die meiner Aufmerksamkeit entgangen sind. Horacio Riquelme U.

Volkskirche in Lateinamerika

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Ignacio Martin-Barö

Volkskirche in Lateinamerika Vom Opium der Religion zur Befreiung durch den Glauben. Eine sozialpsychologische Studie.

»Wenn wir vor der Entscheidung stehen, mit einem Pseudofrieden, mit einer falschen Ordnung zusammenzuarbeiten und uns dabei auf Unterdrückung und Angst stützen zu müssen, dann müssen wir uns daran erinnern, daß Gott nur die Ordnung und den Frieden will, die sich auf die Wahrheit und die Gerechtigkeit stützen. An diesem Scheideweg ist unsere Option klar: Wir werden dem Befehl Gottes und nicht dem der Menschen gehorchen.« Erzbischof Romero, Predigt vom l.Juli 1979 1. Die Religion in Lateinamerika Die iberischen Eroberer sahen sich selbst mehrheitlich als Träger einer religiösen Mission, die darin bestand, die heidnischen Völker der Neuen Welt dem christlichen Glauben zu unterwerfen, sie im wahren Glauben zu evangelisieren. Es wäre naiv anzunehmen, daß die Evangelisation das Hauptmotiv der Conquista darstellte; es wäre aber auch falsch, die zentrale Rolle zu ignorieren, die die Ausbreitung der Religion spielte, und zwar nicht nur im Sinne der Rechtfertigung der Eroberung von Ländern und Völkern, sondern auch als gesellschaftlich bedeutsame Zielsetzung, die Willen und Energien mobilisieren konnte. In der Tat sind die Gesellschaften, die aus der iberischen Kolonisierung entstanden sind, stark religiös geprägt, sowohl durch die gesellschaftliche Macht der institutionellen Kirche als auch durch die besondere Dynamik, die sich aus der Religiosität der Völker ergibt.

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Ignacio

Martín-Baró

Die Bedeutung der Religion in Lateinamerika Die lateinamerikanische Bevölkerung bekennt sich mehrheitlich zum Christentum. Obwohl verschiedene evangelische Kirchen, insbesondere die Pfingstler und die fundamentalistischen Kirchen, während der letzten Jahre die Zahl ihrer Gläubigen bedeutend erhöht haben - soweit, daß die katholischen Bischöfe ihre ernsthafte Besorgnis über diese Entwicklung auf der lateinamerikanischen Bischofskonferenz (CELAM) von 1982 zum Thema machten - kann dennoch behauptet werden, daß der Katholizismus auf dem lateinamerikanischen Kontinent weiterhin vorherrschend ist. Im konkreten Falle El Salvadors kommen repräsentative Umfragen auf nationaler Ebene zu folgendem Verteilungsschlüssel: 65% bis 70% der Bevölkerung sind Katholiken und 12% bis 15% Protestanten; der Rest gibt an, einem halbchristlichen oder unchristlichen Bekenntnis anzugehören bzw. nicht religiös zu sein (siehe Hedges 1986). Wir sind nicht der Auffassung, daß die salvadorenischen Bedingungen, die der Bezugspunkt dieser Arbeit sind, ohne weiteres auf Länder wie Mexiko, Brasilien oder Argentinien übertragbar wären. Wir glauben jedoch, daß die Rolle der religiösen Faktoren in den lateinamerikanischen Ländern vergleichbar ist und daß in jedem Fall die Analyse der Religion in einem konkreten Land dazu beiträgt, ihre Funktion in verschiedenen, aber strukturell ähnlichen Kontexten zu verstehen. Hinzu kommt, daß das kleine El Salvador gegenwärtig wie unter Laborbedingungen Konflikte und Prozesse in intensiver und paradigmatischer Form durchmacht, die für ganz Lateinamerika charakteristisch sind. Die konfessionelle Verteilung der lateinamerikanischen Bevölkerung ist mit wenigen Ausnahmen - die bemerkenswerteste ist wahrscheinlich Uruguay - der in El Salvador sehr ähnlich. Diese massive religiöse Zugehörigkeit stellt historisch gesehen eine wichtige Machtgrundlage dar, die aus der Katholischen Kirche eine der Institutionen mit dem größten gesellschaftlichen Gewicht gemacht hat. Die fundamentale Rolle, die der Priester in den kleinen Dörfern jedes lateinamerikanischen Landes spielt, ist bekannt. Sogar auf der nationalen Ebene verfügt die kirchliche Hierarchie normalerweise über einen Machtumfang, der sie zu einem obligatorischen Gesprächspartner für jede Regierung macht, unabhängig von deren politischer Ausrichtung. Die Ermordung von Erzbischof Romero in El Salvador kann z.B. nur begriffen werden, wenn man sich die tatsächlich subversive Kraft verdeutlicht, mit der seine ständige Kritik am herrschenden Regime unter den verschiedenen Bevölkerungsschichten wirkte (Martin-Barö, 1981). Das andere Extrem des personellen, religiösen und politischen Spektrums - die Verwandlung des Kardinals Obando in den besten ideologischen Trumpf der konterrevolu-

Volkskirche in Lateinamerika

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tionären Kräfte in Nicaragua - wird nur vor dem Hintergrund der Bedeutung begreiflich, die die Religion für das nicaraguanische Volk besitzt. Wenn man wichtige Unterschiede zwischen Ländern wie Kolumbien, Uruguay, Brasilien und Honduras vernachlässigt, kann man behaupten, daß die Macht der Katholischen Kirche in Lateinamerika auf drei Säulen ruht: a) die Anzahl der Gläubigen, die sie in jedem Winkel jedes Landes besitzt und die schon für sich allein eine zentrale und unverzichtbare Instanz für viele Verwaltungsaufgaben aus ihr machen; b) ein großes Netzwerk von Bildungs-, Dienstleistungs- und Sozialzentren, das in einigen Fällen die staatlichen Strukturen überrundet und anderen Institutionen oder sozialen Organisationen überlegen ist; c) die existentielle Bedeutung des religiösen Bezugsrahmens für breite Teile der lateinamerikanischen Völker. Die Anzahl der Gläubigen macht aus der Kirche eine mächtige gesellschaftliche Organisation, und ihr Netz von Bildungs- und Dienstleistungszentren erlaubt ihr, einen bedeutsamen Machtanteil durch die geleisteten Dienste zu beanspruchen. In der Tat kann in der Geschichte jedes Landes eine Reihe von mehr oder minder expliziten und formellen Bündnissen zwischen der Kirche und den herrschenden Klassen aufgespürt werden. Es ist jedoch wahrscheinlich der dritte Faktor, die Rolle der Religion im Leben der Mehrheit der Bevölkerung, der die Quelle des tiefsten Einflusses der Kirche auf die Konfiguration der lateinamerikanischen Gesellschaften bildet. Die Kultur der Mehrheiten in den Ländern Lateinamerikas ist im wesentlichen religiös geprägt; die Menschen greifen auf ihre religiösen Vorstellungen und Symbole zurück, um die Eigenheiten ihrer Welt zu deuten, um die sozialen Prozesse zu erklären, um die bedeutendsten Ereignisse ihrer Existenz einzuordnen. In diesem kulturellen Kontext besitzt die religiöse Orientierung, das Wort der kirchlichen Hierarchie eine große moralische Macht, die umso größer wird, wenn sie mit der Macht zusammenfällt, die aus ihrer organisatorischen Struktur und ihrer massiven Reichweite erwächst. Die zentrale Rolle der religiösen Symbologie in der Volkskultur führt dazu, daß die religiöse Legitimierung einen hohen Stellenwert für die lateinamerikanischen politischen Regimes gewinnt. Für jede Regierung in Lateinamerika ist es wichtig, mit dem Wohlwollen der katholischen Hierarchie zählen und dem Volk zeigen zu können, daß ihre Amtsführung Gottes Zustimmung erhält. Gelegentlich führt dies bei kirchlichen Segen suchenden atheistischen Regierungen zu fast lachhaften Situationen, aber auch zu Regierungen, die im Namen des wahren Gottes die Kirche verfolgen, die ihre politische Legitimität hinterfragt. Die Religion ist also eines der Schlüsselelemente für das Verständnis

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Ignacio

Martín-Baró

nicht nur der Psychologie der lateinamerikanischen Völker, sondern im besonderen auch der politischen Sphäre und der Politik selbst. Die Religion wird durch ihre Macht in der Tat zu einer Instanz mit großer politischer Bedeutung, die umso effektiver ist, je mehr sie sich als politische Macht verleugnet (vorgibt, über den Konflikten und den Parteikämpfen zu stehen) und so am Rande der formalen Normen des politischen Systems agiert. Zwei Strömungen der lateinamerikanischen Religion Eine Analyse der religiösen Prozesse im heutigen Lateinamerika ergibt zwei verschiedene politische Ausrichtungen, die sich in zwei verschiedenen Existenz- und Handlungsformen der Kirche konkretisieren: einerseits eine vertikale, überweltliche und individualistische Religion, die mit den herrschenden gesellschaftlichen Gruppen verbündet ist und mit den konservativen Regimes sympathisiert; andererseits eine horizontale, weltzugewandte und gemeinschaftliche Religion, die in den unterdrückten Bevölkerungsgruppen verwurzelt ist und mit den fortschrittlichen Regimes sympathisiert. Den ersten Typus bezeichne ich als Religion der Ordnung, den zweiten als subversive Religion. a) Die Religion der Ordnung entspricht all jenen Formen der Religion, die eine entfremdende soziale Funktion erfüllen und die Marx als »Opium des Volkes« bezeichnet hat (Marx 1844/1974; Maduro 1979). Der wichtigste politische Charakterzug dieser Religion besteht darin, daß Gott die Hauptverantwortung für das Richten und die endgültige Gerechtigkeit in der gesellschaftlichen Ordnung zugeschrieben und dem Menschen so die Fähigkeit genommen wird, sich von seinen historischen Wurzeln zu befreien. Paradoxerweise wird die politische Autorität auf diese Weise mit dem Stempel Gottes versehen; es bleibt der Willkür von Gottes letztem Gericht überlassen, ob die Autorität ihre Pflicht angemessen erfüllt hat oder nicht. Erst in der anderen Welt wird das auf dieser Erde beobachtete Verhalten sanktioniert werden. Deswegen ist das Entscheidende, sich auf dieses letzte Gericht vorzubereiten, um die ewige Belohnung zu erhalten, ohne den Angelegenheiten dieser Erde mehr Bedeutung zuzumessen als die einer Gelegenheit, um vor dem göttlichen Richter Verdienste anzuhäufen. Die Religion der Ordnung bietet dem Menschen eine illusorische Denkfigur an, mittels derer ihm einerseits eine göttliche Erklärung für seine weltliche Lage und andererseits der Ausweg des göttlichen Eingriffs und des letzten überweltlichen Gerichts angeboten werden. Dem gesellschaftlich entfremdeten Menschen, den die Trennung von den Früchten seiner Arbeit daran hindert, sich geschichtlich zu befreien, bietet die Religion der Ordnung auch eine entfremdende Befreiung an, da sie die letzte Entschei-

Volkskirche in Lateinamerika

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dung über sein Schicksal in Gottes Hände legt. Auf diese Weise richtet der gute Gläubige seine Augen auf das andere Leben und sorgt sich nicht übermäßig darum, die menschliche Politik zu beeinflussen. Ein argentinisches Volkslied drückt dies so aus: »Der Herr ist zufrieden, weil er sieht, daß ich fromm bin, vom anderen Leben träume und in diesem Leben wenig esse.« Zweifellos stellt diese Beschreibung einen Idealtypus im Weberschen Sinne dar, dessen mehr oder minder starke Ausprägung von den konkreten Bedingungen abhängig ist. Dieser Idealtypus beschreibt jedoch deutlich eine in den lateinamerikanischen Ländern erkennbare religiöse Orientierung, die aus der Religion eine Stütze konservativer Regimes gemacht hat, einschließlich der schlimmsten Ausbeutungs- und Unterdrückungsregimes. 1932 hat die Katholische Kirche in El Salvador nach der blutigen Niederschlagung eines Volksaufstands eine religiöse Botschaft im gesamten betroffenen Gebiet verbreitet, deren zentrale Aussage darin bestand, der Bevölkerung klar zu machen, daß sie sich der von Gott eingerichteten Autorität unterwerfen müsse und daß diejenigen, die gegen die Behörden rebellierten, mit der ewigen Verdammnis bestraft würden. Die Analyse des Verhaltens und der Predigten der argentinischen katholischen Hierarchie jüngst während der Militärdiktatur bestätigt, daß die Religion der Ordnung keine Angelegenheit der Vergangenheit ist. b) Die subversive Religion besteht aus all jenen religiösen Formen, die die Menschen dazu bringen, jede soziopolitische Ordnung, die die Verletzung von Menschenrechten impliziert, in Frage zu stellen, und ihre Veränderung oder Überwindung als praktische Anforderung des Glaubens selbst anzustreben. Dem entfremdeten Menschen, dessen existentielle Nacktheit von der Religion der Ordnung bestätigt wird, wird von der subversiven Religion die Möglichkeit zurückgegeben, seine historische Transzendenz zurückzugewinnen. Diese religiöse Auffassung des Christentums bildet ebenfalls einen Idealtypus, der in den lateinamerikanischen Ländern immer gegenwärtig gewesen ist, wenn auch in Form von Minderheiten, als dialektisches Gegengewicht der Religion der Ordnung, von Bartolomé de las Casas bis zu Erzbischof Romero. Der im allgemeinen abwertende Gebrauch der Bezeichnung subversiv ist auf die implizite Vorannahme zurückzuführen, daß es schlecht sei, die herrschende gesellschaftliche Ordnung zu zerstören; denn das bedeutet Subversion. Der Umsturz einer ungerechten politischen Ordnung kann jedoch im Prinzip sogar eine ethische Forderung und eine moralische Verpflichtung des Bürgers sein. Die subversive Religion bildet weder ein besonderes Phänomen der

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Ignacio Martin-Baro

Gegenwart noch ein ideologisches Anhängsel des Marxismus oder ein Penetrationsinstrument des internationalen Kommunismus, wie die Machthaber normalerweise behaupten, sondern die Form, in der sich einige der dem Christentum eigenen Tugenden in bestimmten historischen Bedingungen konkretisieren. Wie vor Jahren bereits Ernst Troeltsch (1931, Bd. 1, S. 80-82) gesagt hat, koexistieren im Christentum die Tendenz zum idealistischen Anarchismus, der eine liebende Gemeinschaft fordert und der sozialen Ordnung feindlich gegenüber steht, und die Tendenz zur Verwandlung in eine konservative Organisation, die die säkularen Institutionen in ihrem Eigeninteresse benutzt. Die idealtypischen Eigenschaften der Religion der Ordnung und der subversiven Religion treten in der Wirklichkeit bei Personen und Gruppen in einer mehr oder minder verwischten, mitunter sogar vermischten Form auf. Offensichtlich existieren breite Sektoren in einer Art Grauzone, die der einen oder anderen reinen Religionsform nur schwer zuzuordnen sind. Diese Sektoren, deren politisches Gewicht nicht ignoriert werden kann, sind jedoch wesentlich weniger bestimmend als die religiös definierteren Sektoren, und zwar nicht nur hinsichtlich der alltäglichen sozialen Auseinandersetzungen, sondern vor allem auch in den sozialen Krisenmomenten, in denen der Konflikt zum Ausbruch kommt. Das ideologische Wesen der Religion Die Religion übt in verschiedener Weise einen bedeutenden politischen Einfluß aus, sei es, indem sie das herrschende Regime unterstützt, sei es, indem sie es hinterfragt oder gar umstürzt, sei es, indem die Kirche die gesellschaftliche Ordnung legitimiert, sei es, indem sie sie verurteilt. Diese Rolle zwingt dazu, danach zu fragen, wie die gesellschaftlichen Interessen mit den religiösen Elementen verbunden sind. Denn aus der Tatsache, daß die Religion eine entfremdende oder eine befreiende Funktion ausüben, der herrschenden Ordnung dienen oder sie zerrütten kann, folgt, daß das Wesen der Religion nicht notwendigerweise eine bestimmte politische Einstellung impliziert und daß die Religion insofern ein wertvolles ideologisches Instrument für die sozialen Auseinandersetzungen bildet. Es ist also wichtig, zu untersuchen, welche religiösen Formen oder Elemente von den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen ideologisch für ihre Interessen eingesetzt werden. Es ist hilfreich, zunächst eine Unterscheidung zwischen der Religion als sozialer Institution und der persönlichen religiösen Erfahrung einzuführen. Im ersten Fall bilden die Kirchen den Bezugspunkt; im zweiten Fall die Religiosität. Obwohl beide Aspekte für das Verständnis der politischen Rolle der Religion wesentlich sind, werden wir uns hier auf die Religiosität

Volkskirche in Lateinamerika

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konzentrieren, d.h. auf die Religion als Erfahrung von Personen und Gruppen. Das Ziel der vorliegenden sozialpsychologischen Analyse ist es, verschiedene Religiositätsformen zu untersuchen, d.h. verschiedene Glaubensvorstellungen, Gefühle und religiöse Praktiken, wie sie manchmal sogar im Rahmen derselben Konfession und derselben Kirche auftreten, die verschiedene gesellschaftliche Interessen kanalisieren und insofern eine vielfältige politische Funktion gegenüber der herrschenden gesellschaftlichen Ordnung erfüllen. Ohne näher auf die theoretische Debatte einzugehen (siehe Batson und Ventis 1982, S. 3-23) umfaßt der hier verwendete Religionsbegriff alle Glaubensvorstellungen, Gefühle und Verhaltensweisen, die sich auf ein höheres Wesen beziehen und durch die Gruppen und Personen versuchen, auf die letzten Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Todes Antworten zu finden (siehe James 1902). Unter Religiosität werden die verschiedenen konkreten Formen verstanden, in denen die Gruppen und Personen die Religion leben. Wir können drei Elemente der Religiosität unterscheiden: a) die religiösen Ausdrucksformen, b) die religiösen oder von der Religion abgeleiteten Praktiken und c) das Verhältnis und die Beziehungen zu bzw. mit den anderen Mitgliedern der Religionsgemeinschaft. a) Die religiösen Ausdrucksformen beziehen sich auf all jene Glaubensvorstellungen und Symbole, die einem Bekenntnis oder einem Glauben zu eigen sind und durch die die Menschen ihr Leben und ihre Wirklichkeit deuten. Denise Jodelet (1984, S. 361-362) definiert die gesellschaftlichen Ausdrucksformen als »die Formen des praktischen Denkens, die sich auf die Kommunikation, das Verständnis und die Kontrolle der sozialen, materiellen und ideellen Umwelt ausrichten. Als solche weisen sie bestimmte Eigenschaften der Organisation der Inhalte, der geistigen Operationen und der Logik auf«, die auf die historisch-sozialen Bedingungen zurückzuführen sind, unter denen sie entstanden sind. Die religiösen Ausdrucksformen sind demzufolge gesellschaftliche, religiöse Ausdrucksformen, d.h. Denkformen über Gott und seine Beziehung zu den letzten Fragen des menschlichen Lebens. Es handelt sich um das religiöse Alltagsverständnis der Gläubigen jeder Konfession. Dieses religiöse Alltagsverständnis kann sich in zwei Elementen entfalten: einerseits im Kern der Heilsbotschaft, die sie ihren Gläubigen anbietet, insbesondere im praktischen Verständnis der Mehrheit der Gläubigen; andererseits durch die am häufigsten verwendeten Symbole für das Verständnis Gottes und seiner Beziehung zu den Menschen. Heilsbotschaft und göttliche Symbole bilden so den wesentlichen Kern der religiösen Ausdrucksformen der Religiosität.

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b) Die religiösen Praktiken beziehen sich auf jene Verhaltensweisen, die versuchen, den Menschen mit Gott (wieder) in Beziehung zu setzen, in Form von individuellen oder kollektiven Gebeten, Pilgerfahrten, religiöser Lektüre und liturgischen Handlungen. Es existiert auch eine Reihe von Verhaltensweisen, die zwar nicht im wesentlichen religiös sind (die Beziehung zu Gott oder die Auseinandersetzung mit den letzten Wirklichkeiten des menschlichen Lebens sind nicht ihr Objekt), aber sich von religiösen Überzeugungen ableiten. Normalerweise schließt jede Religion Werte und ethische Prinzipien ein, die bestimmen, welche Handlungsformen im Leben angemessen sind. Deswegen kann man von einer protestantischen Ethik oder von einer katholischen Ethik sprechen, unabhängig davon, ob diese Beschreibungen zutreffen. Mehr noch, die religiösen Glaubensvorstellungen verlangen häufig eine bestimmte Verhaltensweise unter bestimmten Bedingungen oder hinsichtlich bestimmter Objekte. So ist z.B. das Verbot der katholischen Kirche bekannt, das ihren Gläubigen die Verwendung anderer Verhütungsmittel als die natürliche Methode untersagt. Diese eigentlich säkularen oder nicht-religiösen Verhaltensweisen können zu einem wesentlichen Bestandteil der religiösen Praxis unter den Mitgliedern einer Konfession oder Kirche werden. c) Die letzten Elemente der Religiosität sind das Verhältnis und die Beziehungen, die die Individuen mit den anderen Mitgliedern ihres Bekenntnisses, ihrer Kirche oder Gemeinde aufbauen. Diese Beziehungen können sich auf verschiedenen Ebenen ergeben, von der unmittelbaren Beziehung mit dem Sitznachbarn in der Kirche bis zu den Beziehungen, die sich auf nationaler und internationaler Ebene zwischen verschiedenen Gemeinden und Kirchen ergeben. In einigen Fällen sind diese religiösen Beziehungen von großer Intensität, Dauer und Bedeutung, während sie in anderen Fällen oberflächlich, flüchtig und sekundär sind. In den Untersuchungen der Religionspsychologie ist immer versucht worden, die wesentlichen Dimensionen der religiösen Erfahrung zu bestimmen, und zwar von den klassischen Arbeiten von William James (1902) über die klassische Typologie von Allport (1950) bis zu zeitgenössischen Analysen, die methodisch komplexer sind (Batson und Ventis 1982). Wir gehen von der Annahme aus, daß sich die religiöse Typologie in einer doppelten Dimension bewegt, deren Gegenstandsbereich den zwei Grundelementen der religiösen Ausdrucksformen entspricht: zum einen Vertikalität-Horizontalität, hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Menschen und Gott und zum anderen Transzendenz-Geschichtlichkeit, die sich auf das Heil bezieht. Die Dimension der Vertikalität-Horizontalität spielt auf das Gewicht an,

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das jede religiöse Konfession auf die Form legt, die die Beziehungen zwischen Gott und den Menschen annehmen müssen. Das eine Extrem bildet die Auffassung von Gott als ein höheres, entferntes und unzugängliches Wesen, zu dem der Mensch nur als Kreatur, die sich an ihren Schöpfer wendet, in Beziehung treten kann, oder eine Beziehung zwischen Untertan und Herrn, d.h. eine Beziehung der totalen Vertikalität und der hierarchischen Unterwerfung. Das andere Extrem ist die Auffassung von Gott als ein höheres Wesen, das aber nahe und zugänglich und mit dem eine Beziehung der respektvollen Kameradschaft und der Brüderlichkeit möglich ist, der eher ein gütiger Vater als ein richtender König ist. Die Dimension der Transzendenz-Geschichtlichkeit bezieht sich auf die Auffassung des religiösen Heils als etwas, das unmittelbar von Gott kommt und diese Welt verwandelt, oder als Teil des innergeschichtlichen menschlichen Handelns (siehe Neal 1965,1984). Das eine Extrem faßt die Rettung als eine metahistorische Tat Gottes auf, der unmittelbar in den Lauf der Welt eingreift, um auf übernatürliche und wunderbare (apokalyptische) Weise die richtige Ordnung herzustellen; deswegen müssen sich die Menschen nur darum kümmern, die baldige Ankunft dieser totalen und endgültigen Rettung zu erbitten und vorzubereiten. Das andere Extrem bildet die Auffassung, daß Gott nur durch die Menschen handele und daß die Menschen deswegen die Verantwortung für die rettende Veränderung der Welt und der Gesellschaft übernehmen müßten, und zwar innerhalb der Geschichte selbst, auch wenn sie davon überzeugt sind, daß die Geschichte nicht ausschließlich innerweltlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist. Meine Arbeitshypothese besagt, daß diese zwei Dimensionen der Religiosität mit verschiedenen Ausdrucksformen, religiösen Praktiken und Beziehungen verbunden sind und daß sie im konkreten Fall der lateinamerikanischen Völker verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Interessen als Vehikel dienen: Je vertikaler und transzendentaler die Religiosität der Menschen, desto stärker die Neigung, eine konservative Religion der Ordnung zu unterstützen, während eine horizontale und geschichtlich geprägte Religiosität dazu neigen wird, sich mit einer subversiven Religion zu verbünden, die fortschrittliche gesellschaftliche Veränderungen, die bis zur Revolution reichen können, fördert. Die ideologische Bedeutung der Religion in Lateinamerika ist so groß, ihr politischer Einfluß so weitreichend, daß es schwierig ist zu verstehen, daß praktisch keinerlei diesbezügliche sozialpsychologische Untersuchungen existieren, und daß sie kaum als wichtiges Element in den gebräuchlichsten Texten und Handbüchern der Sozialpsychologie erwähnt wird. Damit wird wahrscheinlich die ideologische Macht der Religion nur verfe-

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stigt, die sich nicht nur als politische Macht versteckt und verleugnet, sondern sich sogar als angemessenes Forschungsobjekt entzieht. 2. Die Religion der Ordnung Gegenwärtig kann die Existenz einer großen Vielfalt von religiösen Bewegungen und Gruppen in den lateinamerikanischen Ländern festgestellt werden (siehe CELAM1982; Domínguez und Huntington 1984; Valderrey 1985). Es entstehen immer mehr Kirchen, Denominationen und religiöse Glaubensrichtungen, die Mehrzahl davon evangelisch, d.h. Gruppierungen, die sich auf die Bibel als wesentliche oder einzige Quelle der Inspiration beziehen und stark fundamentalistische Züge aufweisen. Sogar innerhalb der Katholischen Kirche, die sich traditionell durch ihre fast monolithische Einheit auszeichnete, können gegenwärtig klare Spaltungen beobachtet werden zwischen traditionellen Gruppen, traditionalistischen Gruppen (im Stil der Bewegung Gott, Vaterland und Familie, die eher den Eindruck einer neofaschistischen Bewegung macht, einschließlich ihrer Stoßtrupps), mit den Basisgemeinden verbundenen Gruppen und verschiedenen charismatischen Gruppen. Drei Religiositätsformen der Ordnung Um eine Typologie der Hauptformen der Religion der Ordnung in den lateinamerikanischen Ländern zu entwickeln, werden wir als Grundkriterium den politischen Einfluß der Religiosität verwenden. Es handelt sich darum, zu untersuchen, wie das religiöse Erleben und die religiöse Praxis der gesellschaftlichen Gruppen mit den Interessen des herrschenden politischen Systems in jedem Land zusammenhängen, d.h. wie die gesellschaftliche Macht durch die Religiosität der Menschen ausgeübt oder kanalisiert wird. Dieser Zusammenhang muß nicht notwendigerweise explizit sein: Es ist nicht nötig, daß die Menschen in eine bestimmte politische Partei eintreten oder an bestimmten Aktivitäten teilnehmen, damit ihr Verhalten einen bedeutenden politischen Einfluß hat; häufig sind es gerade die unterbliebenen Handlungen, die die Existenz und das normale Funktionieren eines Regimes am wirksamsten stützen oder die es am tiefsten untergraben. Im Lichte dieses Kriteriums, das die religiöse mit der politischen Dimension verbindet, können wir drei Hauptformen der Religion der Ordnung unterscheiden, die gegenwärtig in Lateinamerika anzutreffen sind: 1. die Religion, die die Menschen dazu aufruft, eine spirituelle und übergeschichtliche Kompensation für alle Strafen und Leiden dieser Welt zu suchen; 2. die Religion, die den Glauben an den unmittelbaren Eingriff

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Gottes auf die soziopolitischen Prozesse verbreitet und so bei den Gläubigen eine Fluchthaltung hinsichtlich ihrer historischen Verantwortung hervorruft, die auf die rein persönliche Veränderung reduziert wird; 3. die Religion, die den Individuen eine kathartische Entladungsmöglichkeit anbietet, indem sie ihnen eine rein emotionale Befreiung von den unterdrückerischen Bedingungen der Realität vermittelt. A. Die Religion als übergeschichtliche

Kompensation

Diese Religiositätsform findet sich vor allem bei den traditionellen katholischen Gruppen, die durch die vom Zweiten Vatikanischen Konzil und den Bischofskonferenzen von Medellin und Puebla verbreiteten Veränderungen nur minimal beeinflußt worden sind bzw. diese Veränderungen an die traditionellen Formen angepaßt haben, indem ihren wesentlichen Forderungen die Spitze genommen wurde. Diese Gruppen finden sich sowohl bei Teilen der Großbourgeoisie als auch bei bäuerlichen Sektoren und Elendsviertel-Einwohnern, aber nicht so sehr bei den vom kulturellen Liberalismus beeinflußten Mittelschichten, die eine übermäßig überweltliche Religion wegen der häufigen Konflikte mit den Forderungen der Kultur oder der Wissenschaft (z.B. hinsichtlich der Sexualität) ablehnen. Die Heilsbotschaft der traditionellen Katholiken macht aus dem irdischen Leben eine Phase der Erprobung, einen Pilgerweg zum wahren Leben, das nach dem Tode beginnt. Die Akkumulation von Verdiensten ist also erforderlich, um in den Himmel zu gelangen; Gottes Wille wird erfüllt, indem seine Gebote formal im Sinne der Konkretisierung durch die kirchliche Lehre - insbesondere durch die Amtshierarchie - beachtet werden. Der Religion kommt nur die spirituelle Dimension des menschlichen Lebens zu (die »heilige Geschichte«); sie darf sich nicht in andere Lebensbereiche einmischen (die profane Geschichte). Der einzige Einfluß der Religion auf die säkularen Realitäten findet durch die Ethik der Absichten statt: Die Intentionalität der Menschen ist das wesentliche Element, das die gute Tat in den Augen Gottes von der schlechten unterscheidet bis zu dem Punkt, an dem der sündhafte Charakter einer Handlung nicht so sehr dadurch definiert wird, was, sondern wie man es tut. Deswegen ist die Sünde immer eine persönliche Frage, d.h. eine individuelle Angelegenheit, so daß die Rede von einer gesellschaftlichen oder gar strukturellen Sünde sinnlos ist: Menschen sündigen, nicht Gesellschaften oder gesellschaftliche Strukturen. Das vorherrschende Gottesbild unter den traditionellen Katholiken stellt ihn als allmächtigen und allwissenden Schöpfer dar, als höchstes und vollkommenes Wesen, das seine Kreaturen zwar liebt, sich aber weit von ihnen entfernt befindet. Um sich ihm zu nähern, ist es notwendig, in den

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Bereich des Heiligen einzudringen, im allgemeinen durch die Vermittlung der ihm geweihten Personen (die Priester) oder durch rituelle Praktiken (liturgische Riten). Die traditionellen Katholiken neigen dazu, das Bild des Schöpfergottes als unendliches Wesen, als »Alpha und Omega« der Schöpfung mit der Charakterisierung Gottes als Richter zu vervollständigen. Insofern Richter, wird Gott als die Instanz gesehen, vor der man Rechenschaft ablegen und vor der man Verdienste anhäufen muß. Diese religiösen Ausdrucksformen, die das religiöse Alltagsverständnis ausmachen, führen zu einer formalistischen Praxis, die sich darum bemüht, all das zu vermeiden, was die Gebote als Sünde definieren, und alle Aktivitäten zu erfüllen, die explizit gefordert werden: die Kinder zu taufen, jeden Sonntag und zu den Feiertagen die Messe zu hören, mindestens einmal jährlich zu beichten und das Abendmahl zu feiern, kirchlich zu heiraten. Es geht darum, sich mit Gott gutzustellen, was erforderlich macht, ihn nicht zu sehr zu erzürnen (mit sexuellen Sünden z.B.) und sich in regelmäßigen Abständen wieder mit Ihm zu versöhnen, sei es durch die Beichte oder durch »Barmherzigkeit« gegenüber den Armen oder gegenüber der Kirche selbst. Die gemeinschaftlichen Beziehungen, die diese traditionelle katholische Religiosität fordert, sind minimal. Die Grundbeziehung wird unmittelbar zwischen dem Individuum und Gott hergestellt, der als einziger die Absichten beurteilen kann, in denen die Sünde verwurzelt ist. Die Menschen gehen in die Kirche, ohne daß dies eine größere gemeinschaftliche Verpflichtung beinhalten würde; sie können sogar förmlich den Frieden in einer liturgischen Zeremonie schließen, ohne die Menschen zu kennen, mit denen sie dies tun. Die Menschen können aus Gründen des Prestiges zu einer Laienbruderschaft gehören oder zu einer barmherzigen Organisation als eine Form, um ihrem Wunsch nach Erhöhung der religiösen Praxis geordnete Gestalt zu verleihen. Was aber in jedem Fall einzig und allein zählen wird, ist die Erfüllung ihrer Beziehungen zu den anderen. Zusammengefaßt handelt es sich um eine Religiosität, die a) formalistisch ist, quasi Vertragscharakter besitzt: Alle religiösen Pflichten werden erfüllt, vor allem, indem die Sünde vermieden wird und so Verdienste für den Himmel angehäuft werden; b) individualistisch ist: Jedes Individuum ist vor Gott für sein Verhalten verantwortlich, insbesondere für die Absichten, mit denen es seine Taten durchführt und nicht so sehr für deren Folgen; c) spiritualistisch ist: Die Religion betrifft nur das spirituelle Leben, das als persönliche und intime Beziehung zu Gott aufgefaßt wird, und den Bereich der formal religiösen Praktiken. Aus dem Gesagten kann bereits der politische Einfluß dieser Religionsform abgeleitet werden. Die gläubigen Menschen müssen sich nur um ihr

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spirituelles Leben kümmern; die wirtschaftliche, politische und soziale Ordnung der Welt ist eine profane Angelegenheit, die streng von der Religion getrennt gehalten werden muß. Sowohl auf der persönlichen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene ist das Nicht-Tun (Nicht-Sündigen) wichtiger als das Tun. So wird eine passive Haltung gegenüber der politischen Ordnung gefördert, die als besonders schmutzig gilt. Aus dieser Passivität wird nur herausgetreten, um zu verhindern, daß die Behörden der Kirche Schaden zufügen: Damit die religiöse Erziehung nicht eingeschränkt wird oder sündige Praktiken wie die Scheidung oder die Abtreibung gesetzlich abgesichert werden. Aber außerhalb dieser Punkte, die von der Religion explizit gefordert werden, muß der Katholik eine Haltung des Respekts und der Zusammenarbeit mit den gesellschaftlichen und politischen Autoritäten bewahren, ohne zu versuchen, das Heilige mit dem Profanen, das Religiöse mit dem Säkularen zu vermischen. Die Katholiken, die sich in der Politik engagieren, tun dies als Privatpersonen, obwohl sie sich darum bemühen müssen, den Namen ihrer Religion nicht zu beschmutzen, indem sie sich ehrlich verhalten und alle Angelegenheiten der Kirche verteidigen. Im gegenwärtigen Lateinamerika muß klar zwischen denjenigen katholischen Gruppen unterschieden werden, deren Traditionalismus auf einen Mangel an Weiterentwicklung zurückzuführen ist, und den anderen, die aus ihrem Traditionalismus eine politische und gesellschaftliche Überzeugung machen und diese nicht nur stur verteidigen, sondern jegliche Abweichung mit allen Mitteln, sogar mit bewaffneter Gewalt, bekämpfen. Während die traditionellen Katholiken sich gegenüber dem herrschenden kapitalistischen System politisch passiv und konformistisch verhalten, machen die traditionalistischen Katholiken aus der Passivität und dem Konformismus gegenüber dem kapitalistischen System eine absolute Forderung und sogar eine politische Überzeugung. In Extremfällen gruppieren sich diese Katholiken in Vereinigungen wie die für Gott, Vaterland und Familie oder in Organisationen wie die »Kämpfer für Christus König« und kämpfen nicht nur ideologisch gegen alles, was sie als feindlich oder einfach als konträr zu ihren religiösen Werten und Idealen einschätzen, sondern greifen auf physische Gewalt und sogar Mord im Namen Gottes zurück. Die religiöse Organisation »Opus Dei« (»Werk Gottes«) ist ein typisches Modell dieses traditionellen Katholizismus, der sich zwischen der traditionellen Religiosität und dem religiösen Traditionalismus als gesellschaftspolitisches Ordnungsprinzip befindet. B. Die Religion als millenarische Flucht Eine zweite Form der Religion der Ordnung bilden die evangelischen

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Gruppen, die einen fundamentalistischen und millenaristischen Glauben verbreiten. Der Fundamentalismus besteht aus einer konservativen christlichen Bewegung, die Anfang des Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten entstanden ist und die die fundamentalen Dinge des Glaubens vor den Gefahren des modernen Denkens verteidigen will. »Die Grundlage dieser Art des Christseins ist das Bekenntnis, daß die Bibel die einzige Autorität für dogmatische und moralische Angelegenheiten ist... Typisch für den Fundamentalismus ist das Argument, daß die Bibel fehlerlos sei. Diese Unfehlbarkeit gilt auch bei kleineren Dingen, denn wenn die Bibel sich in kleineren Dingen irren würde, welche Sicherheit bestünde dann in Fragen von Leben oder Tod?« (Pixley 1985, S. 33). Es handelt sich um eine unkriegerische Einstellung, die sich auf den gesunden Menschenverstand stützt und die sich jeder noch so unwissende Mensch aneignen kann. Der Fundamentalismus geht noch einen Schritt weiter, wenn er sich mit millenaristischen Glaubensvorstellungen verbindet. Der Millenarismus beruht auf der Überzeugung, daß Jesus Christus vor dem letzten Gericht tausend Jahre lang auf der Erde herrschen wird und demzufolge auf der Vorstellung, daß Jesus Christus eines nahen Tages auf die Erde kommen wird, um sein letztes Gericht und sein Reich über allen menschlichen Realitäten zu errichten. So besteht eine der Hauptaussagen des millenaristischen Fundamentalismus darin, daß Gott sehr bald unmittelbar in das Leben der Menschen eingreifen wird, um sein endgültiges Reich zu errichten. Der Fundamentalismus hat vor allem bei den marginalisierten Urbanen oder semiurbanen Schichten eine Basis. Pixley (1985, S. 34) sagt dazu: »Die fundamentalistische Ausformung des christlichen Glaubens ist für die clases populäres (untere Volksschichten), die mit der Auflösung ihrer traditionellen Gemeinschaften, die unhinterfragbare Normen über das Wahre und das Richtige aufstellten, fertig werden mußten, sehr attraktiv. In der Urbanen Welt findet der entwurzelte Bauer eine verwirrende Vielfalt von religiösen Sekten, wissenschaftlichen Theorien und von Verhaltensnormen vor. Ein fehlerloses Enthüllungsbuch, das er mit seinen eigenen Augen lesen kann, ist da eine Quelle großer Sicherheit.« Die Heilsbotschaft des Fundamentalismus konzentriert sich auf die strenge Erfüllung aller in der Bibel aufgestellten Forderungen Gottes, die unmittelbar im Rahmen des Alltagsverstandes der Gläubigen gedeutet werden. Die biblische Hermeneutik wird in diesem Fall durch die Vorstellungen über den Menschen und die Gesellschaft gebildet, die jede Gruppe unter ihren Bedingungen als natürliche Prämissen annimmt, womit die Bibel letztendlich das sagt, was die spezifische Sozialisation als Realitätsprinzipien angeboten hat.

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In den lateinamerikanischen Ländern ist der Fundamentalismus zutiefst antikommunistisch geprägt, da der Kommunismus nicht nur die natürlichen Prämissen der kapitalistischen Ordnung hinterfragt, in denen das Alltagsverständnis verwurzelt ist, sondern sich in ein apokalyptisches Ungeheuer verwandelt, weil er eine Erlösung in der Geschichte anbietet, die als Alternative zur einzig möglichen Erlösung erscheint. Das soll nicht heißen, daß dem Fundamentalisten die Ungerechtigkeiten der Welt nicht klar wären; er weiß jedoch (auch durch die von den Vereinigten Staaten aus verbreiteten Predigten), daß diese Ungerechtigkeiten das Werk des Teufels sind, der das menschliche Herz verdirbt, und daß allein die endgültige Ankunft Christi sie erlösen kann. Deswegen »ist für den fundamentalistischen Christen der Gewerkschaftsführer oder Politiker im besten Falle eine edle Person, die nicht weiß, daß es unmöglich ist, den von Gott angekündigten Verfall der Menschheit aufzuhalten. Im schlimmsten Falle ist er ein Agent des Teufels, der geschickt worden ist, um die Menschheit zu verwirren. In jedem Fall aber muß er abgelehnt werden« (Pixley 1985, S. 35). Der fundamentalistische Gläubige kann also die Rettung nur erlangen, wenn er treu alle biblischen Forderungen erfüllt, und zwar gemäß den Ratschlägen seines Alltagsverständnisses einschließlich des Kampfes gegen jede andere Rettung, die nicht die durch Jesus Christus ist. Die von den Fundamentalisten bevorzugte Symbologie ist die apokalyptische: Gott als allmächtiger Richter, der Engel Gottes, der das dämonische Ungeheuer besiegt; Jesus Christus kommt als König, um die ewige Schöpfung zu beherrschen. Aus den Prinzipien der fundamentalistischen Gruppen ergeben sich an die Praxis ihrer Anhänger sehr hohe Ansprüche. Der Fundamentalist muß in seinem Leben sichtbar machen, daß er sich an die christlichen Prinzipien hält, indem er von jeder als sündig erachteten Praxis abläßt (Trinken, Spielen, außereheliche Beziehungen etc.) und indem er treu die Ansprüche der Kirche erfüllt, und zwar sowohl die individuellen Glaubenspraktiken (Bilbellektüre, Gebet) als auch den ständigen Gottesdienstbesuch und die finanzielle Unterstützung der Pastoren. Außerdem verlangt das Gläubigsein auch nach praktischer Militanz, d.h. nach einer leidenschaftlichen Anhängersuche. Auf diese Weise verwandelt sich die Kirche in den zentralen Bezugspunkt des praktischen Lebens des fundamentalistischen Gläubigen. Die Gemeindebindungen, die die fundamentalistischen Anhänger aufbauen, sind sehr intensiv. Ihr Bewußtsein als Erwählte, ihre starken Bekehrungsanstrengungen und der regelmäßige Gottesdienstbesuch führen zu der Bildung eines engen Netzes, das soziologisch gesehen eines der typischen Charakterzüge der Sekten (siehe Troeltsch 1931) darstellt. Häufig

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werden die Gemeindebeziehungen so intensiv und wichtig, daß die Kirche schließlich alles für ihre Mitglieder bedeutet und sich in einen Ersatz für die Gesellschaft verwandelt. Aus all diesem ergibt sich deutlich, daß die fundamentalistische Religiosität klare politische Konnotationen hat. Einerseits schließt sie die Ablehnung und Verurteilung der gesellschaftlichen Ordnung, der herrschenden Ungerechtigkeit und Amoralität ein, die der von der Bibel verlangten Ordnung widersprechen. Andererseits führt der Fundamentalismus den Gläubigen aber dazu, seiner Verantwortung für die Gestaltung der weltlichen Ordnung auszuweichen, da diese Aufgabe ausschließlich Gott zukommt. Mehr noch, jede Anstrengung für die Veränderung dieser Ordnung ist eine illusorische, wenn nicht teuflische Anmaßung, da sie versucht, die Funktionen von Jesus Christus zu übernehmen. Auf diese Weise resigniert der fundamentalistische Gläubige freiwillig gegenüber der politischen Ordnung und nimmt eine ablehnende und verurteilende Haltung gegenüber denjenigen an, die versuchen, sie zu verändern. In diesem Sinne verwandelt er sich in einen zuträglichen Verbündeten für diejenigen, die die gesellschaftspolitische Macht kontrollieren, da er ihre Herrschaft zwar als sündig kritisieren kann, aber nicht versucht, sie zu verändern. Obwohl es sich bei ihnen nicht um Fundamentalisten handelt, weist die Religiosität zweier weiterer Gruppen einige ähnliche gesellschaftspolitische Charakteristiken auf: Die Mormonen (»Die Kirche der Heiligen der letzten Tage«) und die Zeugen Jehovas. Vielleicht ist der tiefste doktrinäre Unterschied zwischen Fundamentalisten und Mitgliedern dieser zwei Gruppen die Anerkennung anderer Enthüllungsquellen außer der Bibel: Für die Mormonen ist die ergänzende Quelle das »Buch von Mormon«, das von ihrem Gründer Joe Smith geschrieben wurde; für die Zeugen Jehovas sind es die vielen Schriften ihrer Gründer und biblischen Interpreten. Beiden gemeinsam sind die intensiven Bekehrungsaktivitäten (wer hat noch nicht das amerikanische Mormonenpärchen mit weißem Hemd und Krawatte gesehen, das die Viertel unserer Städte abläuft, oder hat an seiner Tür die Zeitschrift »Der Wachtturm« und andere Schriften der Zeugen empfangen?) sowie ihr apokalyptischer Millenarismus und ihr inbrünstiger Antikommunismus. Und wie die Zeugen Jehovas die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen predigen, weil jede Regierung tatsächlich einen de facto Widerstand gegen das Reich Gottes darstelle, so verbreiten die Mormonen den Glauben an die göttliche Bevorzugung der Vereinigten Staaten, des neuen verheißenen Landes, in das Christus selbst gekommen sei, um zwölf neue Apostel auszuwählen.

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C. Die Religion als individualistische Katharsis Die letzte Erscheinungsform der Religion der Ordnung bildet die Pfingstlerbewegung. Diese Erscheinungsform des Christentums betont - wie der Name schon sagt - den Empfang des Heiligen Geistes durch die Gläubigen (Pfingsten ist ein ursprünglich jüdisches Fest, an dem die Christen das Kommen des Heiligen Geistes über die Apostel nach der Wiederauferstehung Jesu Christi feiern). Die Pfingstlerbewegung tritt sowohl unter protestantischen als auch unter katholischen Christen auf, die sich selbst als »charismatische Emeuerungsbewegung« bezeichnen und von der Hierarchie sehr viel Unterstützung erfahren haben. Die protestantischen Pfingstlergruppen sind hauptsächlich unter den armen Bevölkerungsschichten Lateinamerikas verbreitet, während es der charismatischen katholischen Bewegung gelungen ist, in die Mittelschichten und sogar in die Bourgeoisie einzudringen. Die Pfingstlerkirchen haben sich am stärksten zwischen 1965 und 1980 ausgebreitet und sich in die größte evangelische Gruppe Lateinamerikas verwandelt (Valderrey 1985, S. 15-17). Die Heilsbotschaft der Pfingstler kann in dem Glauben an das zweite Kommen des Heiligen Geistes über die Gläubigen zusammengefaßt werden. Dieses zweite Kommen heiligt den Gläubigen, der damit die typischen Gaben oder Charismen empfängt, und zwar insbesondere die Fähigkeit, in fremden Zungen zu reden. Dem Kommen des Geistes muß aber die Bekehrung oder Neugeburt des Individuums vorausgehen. Die pfingstlerische Symbologie faßt Gott hauptsächlich als Geist oder Wunderkraft auf, die jeden verändert oder heiligt, den er in Besitz nimmt oder den er berührt. Deswegen wird das sichtbare Wunder, hauptsächlich die sofortige Wunderheilung, zum Echtheitszeichen des Glaubens eines Anhängers. Die religiöse Praxis fordert vom Pfingstler einerseits eine grundlegende Veränderung seines persönlichen Lebens, die seine Heiligung durch den Geist bezeugen soll, und andererseits eine häufige Teilnahme an den Gottesdiensten. Da der Geist über jedes Individuum einzeln kommt, fördert die Pfingstlerbewegung den individualistischen Pietismus, d.h. das unmittelbare Streben nach Inspiration und Heiligung durch den göttlichen Geist. Die Gottesdienste der Pfingstler zeichnen sich durch die aktive Teilnahme der Mitglieder an der Predigt (durch Lob- oder Anerkennungsrufe, sichtbare Gefühlsausbrüche etc.) und den hochemotionalen Charakter jeder Aktivität aus. Ein Pfingstlergottesdienst ist normalerweise das genaue Gegenteil der würdigen Feierlichkeit der traditionellen katholischen Messe: Die Kirche ist kein Ort des ehrfurchtsvollen Schweigens, sondern ein Ort des Sprechens, der Kommunikation, um Freude oder

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Leiden auszudrücken, um zu singen und sogar zu tanzen, sich zu befreien und der eigenen Inspiration freien Lauf zu lassen. Schließlich betont die Pfingstlerbewegung die Gemeindebeziehungen, und zwar insbesondere in den Gottesdiensten. In der Kirche sind alle gleich, Reiche und Arme, Akademiker und Analphabeten, da der Geist keine weltlichen Unterscheidungen macht. Die in den Gottesdiensten der Pfingstler vermittelte, stark emotionale Erfahrung baut enge Bindungen zwischen den »Brüdern im Geiste« auf. Der politische Einfluß der Pfingstlerbewegung ist komplex. Einerseits erlangt der Gläubige, der davon überzeugt ist, den Geist empfangen zu haben, seine menschliche Würde zurück und lernt, seine eigenen Gedanken ernstzunehmen. In der Tat hat die Pfingstlerbewegung eine historische Zuflucht für einige gesellschaftliche Gruppen dargestellt, die von der Gesellschaft marginalisiert worden sind. Dies ist bei den nordamerikanischen Schwarzen der Fall und zumindest teilweise auch bei vielen lateinamerikanischen sozial Benachteiligten (siehe Lalive 1968). In diesem Sinne hat die Pfingstlerbewegung die menschlichen und gesellschaftlichen Forderungen der Marginalisierten unterstützen können. Die Auswirkungen der persönlichen Bekehrung führen jedoch normalerweise in die Sackgasse der ausschließlich individualistischen Veränderung. Die im Gottesdienst erreichte Gleichheit vor dem Geist greift nicht auf die Gesellschaft über, und die wiedererlangte Würde objektiviert sich nicht außerhalb der Kirchenmauern. Mehr noch, die emotionale Befreiung, die in den Gottesdiensten von Zeit zu Zeit erreicht wird, wirkt als Katharsis für die Frustrationen und dient der Kanalisierung der entladenen alltäglichen Erfahrungen des Leidens und des Scheiterns. Auf diese Weise verwandelt sich die Pfingstlerbewegung schließlich in ein nützliches Ventil für das persönliche Unbehagen, das im Gottesdienst ausgelebt wird, bevor es in der Form gesellschaftlicher Organisation und des politischen Protestes aufblühen könnte. Es ist also nicht verwunderlich, daß die Ausbreitung der Pfingstler in Mittelamerika nach Valderrey (1985, S. 17) »mit einer möglichen Veränderung der Missionspolitik in den nordamerikanischen Machteliten (übereinstimmt), die mit den mächtigen fundamentalistischen religiösen Gruppen eng verbunden sind. Es sind die Jahre nach Medellin... Es ist die Zeit, in der die Weltwirtschaftkrise in aller Offenheit und Härte ausbricht, wodurch jegliche externe Kontrollmöglichkeit über die andauernde mittelamerikanische Krise verlorengeht, die bis dahin immer relativ erfolgreich durch verschiedenartige Versöhnungslösungen beschwichtigt worden war.« In Tabelle 1 sind die Eigenschaften der drei Formen der Religion der Ordnung und ihre möglichen politischen Auswirkungen zusammengefaßt.

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