Schleiermacher-Studien im Kontext 9783110878448, 9783110142532

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Schleiermacher-Studien im Kontext
 9783110878448, 9783110142532

Table of contents :
Vorwort
Einleitung des Herausgebers
I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext
1. Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie [1961]
2. Über den Begriff des Neuprotestantismus [1968]
3. Beobachtungen und Erwägungen zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie [1970]
4. „Liberale Theologie“ [1974/76]
5. Glaubenslehre und Modernitätserfahrung. Ernst Troeltsch als Dogmatiker [1987]
II. Zum Leben und Werk Schleiermachers
6. „Offenbarung" in Schleiermachers Glaubenslehre [1956]
7. Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik [1963]
8. Schlechthin abhängig von Gott. Ein Porträt Friedrich Schleiermachers (1768 -1834) [1964]
9. Deutung und Kritik des Katholizismus bei Schleiermacher und Hegel [1966]
10. Der politische Schleiermacher [1968]
11. Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation [1974]
12. Friedrich Schleiermacher (1768-1834) [1978]
13. Schleiermacher als Ethiker [1980]
14. Einleitung zu Schleiermachers „Brouillon zur Ethik (1805/06)“ [1981]
15. Einleitung zu Schleiermachers „Ethik (1812/13)“ [1981]
16. Schleiermacher als philosophischer Lehrer [1983]
17. Friedrich Schleiermacher [1985]
18. Schleiermachers „Kurze Darstellung“ als theologisches Reformprogramm [1986]
III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte
19. Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern vorgestellt [1989]
20. Die Schleiermacher-Gesamtausgabe. Ein Editionsunternehmen der Schleiermacher-Forschungsstellen Berlin und Kiel [1991]
21. Ernst Troeltschs Marginalien zu Schleiermachers „Kurze Darstellung“ [1991]
22. Schleiermacher-Literatur [1960/62]
23. Schleiermacher-Interpretation heute [1976]
24. Einzelrezensionen zu Schleiermacher-Literatur
Bibliographie der Schriften Hans-Joachim Birkners (1959–1991)
Namensregister

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SchlA 16

W DE G

Schleiermacher-Archiv Herausgegeben von Hermann Fischer und Gerhard Ebeling, Heinz Kimmerle, Günter Meckenstock, Kurt-Victor Selge

Band 16

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

Hans-Joachim Birkner

Schleiermacher-Studien Eingeleitet und herausgegeben von

Hermann Fischer Mit einer Bibliographie der Schriften Hans-Joachim Birkners von Arnulf von Scheliha

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1996

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Birkner, Hans-Joachim: Schleiermacher-Studien / Hans-Joachim Birkner. Eingel, und hrsg. von Hermann Fischer. Mit einer Bibliogr. der Schriften HansJoachim Birkners von Arnulf von Scheliha. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Schleiermacher-Archiv ; Bd. 16) ISBN 3-11-014253-8 NR: Fischer, Hermann [Hrsg..]; GT

© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Finspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin

Vorwort Mit den vorliegenden „Schleiermacher-Studien" erscheint erstmals ein Band des 1985 eröffneten Schleiermacher-Archivs ohne den Namen von Hans-Joachim Birkner im Herausgeberkreis. Das Herausgebergremium des Schleiermacher-Archivs war und ist identisch mit dem der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers (= KGA), deren geschäftsführender Herausgeber H.-J. Birkner seit Beginn der Vorarbeiten 1972 bis zu seinem Tode am 21. September 1991 gewesen ist. Über seine Bedeutung für die KGA ist in Band V,3, der als erster nach seinem Tode erschienen ist, das Wesentliche gesagt (V—VI: „Zum Gedenken an HansJoachim Birkner"). Analoges gilt für seine Mitarbeit am SchleiermacherArchiv. Mit dem vorliegenden Band gedenken die Herausgeber des Schleiermacher-Archivs im Rückblick auf eine reiche und erfüllte Zeit in Dankbarkeit ihres einstigen Mitherausgebers und Kollegen. Der schmerzliche Tod von H.-J. Birkner hat im Herausgeberkreis des Schleiermacher-Archivs eine Ergänzung notwendig werden lassen. Günter Meckenstock, langjähriger Mitarbeiter der KGA und Nachfolger von H.-J. Birkner in der Leitung der Schleiermacher-Forschungsstelle der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, gehört seit Mai 1994 zum Herausgeberkreis sowohl der KGA wie des Schleiermacher-Archivs. Im Namen der Herausgeber

Hermann Fischer

Einleitung des Herausgebers I. Nur wenige Monate nach seinem 60. Geburtstag ist Hans-Joachim Birkner (10.5.1931-21. 9.1991) gestorben. In der wissenschaftlichen Welt ist sein Name verbunden und wird verbunden bleiben mit der Schleiermacher-Forschung, vor allem mit der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers (= KGA). Beinahe 20 Jahre seines Lebens (1972-1991) hat er dieser großdimensionierten Ausgabe gewidmet, an der noch im nächsten Jahrhundert gearbeitet werden wird. Schon seit früher Zeit bildete das philosophisch-theologische Lebenswerk Schleiermachers den Hauptschwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit. Das Theologiestudium, das er zum Wintersemester 1950/51 an der Kirchlichen Hochschule im damaligen Westteil der Stadt Berlin aufnahm und zum Wintersemester 1952/53, erweitert durch das Studium der Philosophie, an der Georg-August-Universität zu Göttingen fortsetzte, wurde mit einer Arbeit über „'Offenbarung' in Schleiermachers Glaubenslehre" (vgl. hier Nr. 6) für das I. Theologische Examen im Februar 1956 an der dortigen Theologischen Fakultät abgeschlossen. Diese Examensarbeit ist vor allem aus zwei Gründen aufschlußreich und deshalb dem Vergessen entrissen worden. Einmal zeigt sich schon hier die Fähigkeit des Autors zu souveränem Überblick über die Problemlage und zur systematischen Konzentration der Darstellung. Auf 24 Seiten wird das komplizierte Geflecht des Offenbarungsverständnisses in der Dogmatik, der Religionsphilosophie und der Philosophischen Ethik Schleiermachers präzise und knapp analysiert und auf seine systematischen Konsequenzen hin durchsichtig gemacht. Die Examensarbeit verdient zum anderen durch ihren theologie- und geistesgeschichtlichen Kontext Interesse. Sie entsteht im Umfeld einer theologischen Diskussionslage, die noch unter dem beherrschenden Einfluß der Theologie Karl Barths und seiner kompromißlosen Abweisung der neuzeitlichen Theologie seit der beginnenden Aufklärung und vor allem derjenigen Schleiermachers steht, und ist doch Ausdruck des Versuches, sich aus diesem Einflußbereich herauszuwinden. Die Neuentdeckung Schleiermachers etwa seit

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Einleitung des Herausgebers

Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland vollzieht sich ihrerseits zunächst vornehmlich in der Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie, besonders mit der Theologie Karl Barths und Emil Brunners Schleiermacher-Monographie „Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionssauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers" (Tübingen 1924, 2 1928). An dieser Konfliktkonstellation partizipiert auch die Examensarbeit H.-J. Birkners. Schleiermacher soll aus seinen eigenen Voraussetzungen und Zielsetzungen verstehbar gemacht werden, aber damit steht dann — ausgesprochen oder unausgesprochen — auch der Einspruch gegen seine Theologie zur Debatte. Die theologische Dissertation, mit der er im Juni 1958 an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen zum Dr. theol. promoviert wurde, ist dem theologischen System Richard Rothes gewidmet. In der veröffentlichten Fassung trägt sie den Titel „Spekulation und Heilsgeschichte. Die Geschichtsauffassung Richard Rothes" (München 1959). Insbesondere aus der „Theologischen Ethik" (1. Aufl. 1845/48, 3 Bde.; 2. Aufl. 1867/71, 5 Bde.), dem Hauptwerk Rothes, wird die spekulative Geschichtsauffassung Rothes rekonstruiert, um auf diesem Hintergrund dessen negative Ekklesiologie mit der provozierenden These von der allmählichen Auflösung der Kirche in den Staat zu deuten. Diese erste wissenschaftliche Publikation läßt — wie zuvor schon die Examensarbeit — auf wenig mehr als 100 Seiten die für H.-J. Birkner charakteristische Gabe erkennen, in knapper Diktion und mit klaren Argumenten und Formulierungen komplizierte und verschlungene Sachverhalte in ihren Grundlinien und wechselseitigen Beziehungen aufzudecken. Das gilt dann vollends für die Habilitationsschrift „Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems" (Berlin 1964), mit der er im Februar 1962 — wiederum in Göttingen — zum Privatdozenten für das Fachgebiet der Systematischen Theologie habilitiert worden ist. Mit dieser Arbeit kehrt H.-J. Birkner zu Schleiermacher zurück, dessen Werk fortan im Mittelpunkt seines Forschens und Lehrens steht. Auch diese Monographie stellt ein Muster an Klarheit und Durchsichtigkeit dar. Für die Interpretation der Christlichen Sittenlehre muß bis auf die Fundamente des Systems zurückgegangen werden, und so kommt in einem I. Teil der Untersuchung das Wissenschaftssystem Schleiermachers zur Darstellung, um in den rekonstruierten Organismus der Wissenschaften dann den Organismus der theologischen Wissenschaften einzuzeichnen. Damit sind die Voraussetzungen geklärt, von denen her sich in einem II. Teil die Prinzipien der Christli-

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chen Sittenlehre einsichtig machen lassen. Der III. Teil bietet dann die materiale Entfaltung der Christlichen Sittenlehre Schleiermachers. Durch die Einbettung der Christlichen Sittenlehre in das Ganze des philosophisch-theologischen Systems hat H.-J. Birkner faktisch eine Gesamtinterpretation der Philosophie und Theologie Schleiermachers in Grundzügen geboten und damit zugleich Maßstäbe für die weitere Interpretation Schleiermachers gesetzt. Vor allem mit der Rekonstruktion des Wissenschaftssystems ist dieses Buch in die Schleiermacher-Forschung eingegangen. Zum 1. April 1969 wurde H.-J. Birkner zum Ordentlichen Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel ernannt. Hier fand er insofern günstige Arbeitsbedingungen vor, als die von Martin Redeker 1967 an der Kieler Theologischen Fakultät begründete Schleiermacher-Forschungsstelle trotz anfänglich bescheidener Ausstattung für die Schleiermacher-Forschung neue institutionelle Möglichkeiten und Perspektiven eröffnete. 1970 übernahm er die Leitung der Schleiermacher-Forschungsstelle. An ihr wurde zunächst eine dem Werk und dem geistig-kulturellen Umfeld Schleiermachers gewidmete Bibliothek aufgebaut, um die nötigen Voraussetzungen für die Schleiermacher-Forschung zu schaffen. Nur wenige Jahre später entstand der Plan für eine neue kritische Gesamtausgabe der Werke Schleiermachers, nachdem im 20. Jahrhundert schon mehrere Versuche in dieser Richtung gescheitert waren. Mit der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für den 15. Dezember 1972 nach BonnBad Godesberg einberufenen Konsultation nahm dieser Plan konkretere Formen an. Über die Geschichte der Entstehung der KGA und ihre weiteren Fortschritte hat H.-J. Birkner in seinem Beitrag für den 1. Band der Zeitschrift New Athenaeum/Neues Athenaeum „Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern vorgestellt" (vgl. hier Nr. 19) und in dem erst nach seinem Tode erschienenen Artikel „Die Schleiermacher-Gesamtausgabe. Ein Editionsunternehmen der Schleiermacher-Forschungsstellen Berlin und Kiel" (vgl. hier Nr. 20) Bericht erstattet, dabei freilich seine eigene Rolle und die enorme Arbeitsleistung für das Projekt in der ihm eigenen Bescheidenheit eher in den Hintergrund gerückt. Als langjähriger geschäftsführender Herausgeber der KGA hat er die Konzeption dieser Ausgabe entscheidend geprägt und ihr mit den übrigen Herausgebern und Mitarbeitern zu nationalem und internationalem Ansehen verhelfen. In den wöchentlichen Dienstbesprechungen in Kiel hat er die editorische Arbeit im Detail verfolgt, in den

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Einleitung des Herausgebers

halbjährlich, später jährlich stattfindenden Herausgebersitzungen den internen Planungen über die jeweils anstehenden Probleme richtungsweisende Impulse vermittelt und auch nach außen hin mit viel Gespür für die Möglichkeiten und die Notwendigkeiten die fördernden Institutionen von der Bedeutung der Ausgabe zu überzeugen vermocht. So ist es ihm gelungen, zielstrebig, umsichtig, weitblickend und im Ergebnis außerordentlich erfolgreich für dieses große Editionsunternehmen Interesse und Unterstützung zu gewinnen. Aus der intensiven Beschäftigung mit Schleiermacher sind dann noch eine selbständige Studie über „Theologie und Philosophie. Einführung in die Probleme der Schleiermacher-Interpretation" (München 1974) (vgl. hier Nr. 11) und eine Vielzahl von Einzelpublikationen hervorgegangen: Aufsätze, Rundfunkbeiträge, Lexikonartikel, Einleitungen zu Schleiermacher-Editionen und Rezensionen sowohl über neu herausgegebene Schriften Schleiermachers wie über Sekundärliteratur zum Thema. Manches davon findet sich an versteckter Stelle, zwei Rundfunkvorträge „Schlechthin abhängig von Gott. Ein Porträt Friedrich Schleiermachers" und „Der politische Schleiermacher" sind bisher noch gar nicht publiziert worden. Auch diese Veröffentlichungen zeigen den Verfasser als einen übersichtlich disponierenden und knapp darstellenden Autor. Das Charakteristische dieser Beiträge besteht in der Konzentration auf das Wesentliche. Der Erkenntnisgewinn wird hier wie auch in den übrigen Publikationen erzielt durch eine genaue Problembeschreibung und -eingrenzung, auf die sich die Analysen dann zurückbeziehen. Viele Aufsätze bleiben unterhalb der Grenze von 20 Seiten, aber diese Kürze kann leicht über das Gewicht der Ausführungen hinwegtäuschen. Das theologische und philosophische Interesse H.-J. Birkners hatte in Schleiermachers Werk seinen zentralen, aber nicht den alleinigen Gegenstand. Er kannte sich wie kaum einer bis in die verborgenen Winkel der Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts aus und wußte erstaunliche Beziehungen und Querverbindungen zwischen den einzelnen Figuren und Positionen herzustellen. Schon sein erster Aufsatz „Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie" (vgl. hier Nr. 1) dokumentiert das in beeindruckender Weise. Die systematisch-theologischen Themen gewinnen durch die aufgedeckten historischen Dimensionen an Farbigkeit und Konkretion. Sein aus Rundfunkvorträgen entstandenes Buch „Protestantismus im Wandel. Aspekte — Deutungen — Aussichten" (München 1971) verknüpft theologiehistorische Analysen mit systematischen Einsichten und Urteilen, die in der neuzeitlichen Ausprägung des Protestantismus verwurzelt sind. H.-J. Birkner gehörte zu denjenigen Theologen, die die kritischpolemische Zurückweisung eines breiten und wirkungskräftigen Stromes

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evangelischer Theologie in der Neuzeit nicht mitgetragen haben, sondern zur genaueren Aufklärung dieses reichen Erbes beitragen wollten. Sein hohes Maß an Umsicht und Gerechtigkeit, das er in seinen persönlichen und offiziellen Beziehungen vorbildlich pflegte, wollte er auch einer vielgeschmähten Epoche evangelischer Theologie angedeihen lassen. H.-J. Birkner hat neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch vielfältige kirchliche Aufgaben wahrgenommen. Hier ist insbesondere seine Mitwirkung bei der Vereinigung einiger norddeutscher Landeskirchen zur Nordeibischen Kirche, die mit dem Inkrafttreten der neuen Verfassung zum 1.1.1977 vollendet wurde, hervorzuheben. Von 1970—1976 war er Mitglied der Verfassungsgebenden Synode der Nordeibischen Kirche, von 1972 bis Ende Dezember 1976 Landeskirchenrat im Nebenamt beim Landeskirchenamt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins. Im Dezember 1973 erreichte ihn ein Ruf auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität zu Mainz, den er aber — u. a. auch wegen der gerade angelaufenen Planungen über eine neue historischkritische Ausgabe der Werke Schleiermachers — ablehnte. Von 1977—1981 war er Vorsitzender der Gemischten Kommission zur Reform des Theologiestudiums, von 1981 — 1983 Vorsitzender des Evangelisch-theologischen Fakultätentags. Im Sommer 1988 wurde er von einer schweren Erkrankung heimgesucht, deren Folgen er aber mit Geduld und Energie weithin zu überwinden vermochte. In seinem Sprachvermögen allerdings blieb er eingeschränkt, und das muß ihn, obwohl er davon kaum etwas erkennen ließ, besonders geschmerzt haben. Denn er war ein Meister des Wortes in seinen vielfältigen Äußerungsformen und Schwingungen. Vom beredten Schweigen, der skeptischen und entwaffnenden Frage, einer aus reichem Wissen gespeisten Ironie, der humoristischen Kommentierung, vor allem steiler Thesen und hochgestochener Ansprüche, bis zur beherzten und pointierten Aussage standen ihm viele Möglichkeiten sprachlicher Kommunikation zu Gebote. Man durfte hoffen, daß H.-J. Birkner die Folgen seiner Krankheit noch um einige weitere Schritte würde bezwingen können. Umso überraschter und härter hat deshalb die Freunde, Kollegen und Schüler die Nachricht von seinem Tode am 21. September 1991 getroffen.

II. Bald regte sich der Wunsch nach einer Sammlung der verstreut erschienenen Aufsätze H.-J. Birkners. Knapp zwei Jahre nach seinem Tode wurde

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Einleitung des Herausgebers

im Herausgeberkreis des Schleiermacher-Archivs dann über den auch vom Verlag de Gruyter unterstützten Plan beraten, seine Publikationen zu Schleiermacher, evtl. um Materialien aus dem Nachlaß ergänzt, zu einem Band „Schleiermacher-Studien" zu vereinigen und sie in dem Organ zu publizieren, an dessen Entstehung er einst vehement mitgearbeitet hatte. Im Zuge der weiteren Beratungen erfuhr die ursprüngliche Planung eine Ausweitung. H.-J. Birkner hat einige forschungsgeschichtlich folgenreiche Aufsätze veröffentlicht, die sich entweder direkt auf Schleiermacher beziehen oder doch in einem engen Verhältnis zu der durch ihn repräsentierten und geprägten Theologie stehen. Diese Studien beleuchten den philosophischen und theologischen Kontext des Schleiermacherschen Lebenswerkes sowie die Geschichte seiner nachhaltigen Präsenz in den theologischen Debatten des 19. und 20. Jahrhunderts. Deshalb durften sie in diesem Band nicht fehlen. Sie sind den Schleiermacher-Studien im engeren Sinne vorgeordnet und kommen in einem I. Teil „Zum theologiegeschichtlichen Kontext" zum Abdruck. Ihnen folgen in einem II. Teil Untersuchungen „Zum Leben und Werk Schleiermachers". Der größte Teil dieser Beiträge ist bereits früher erschienen. Erstmals veröffentlicht wird hier die Examensarbeit „,Offenbarung' in Schleiermachers Glaubenslehre" (vgl. hier Nr. 6). Die beiden Rundfunkvorträge „Schlechthin abhängig von Gott. Ein Porträt Friedrich Schleiermachers" (vgl. hier Nr. 8) und „Der politische Schleiermacher" (vgl. hier Nr. 10) waren bisher nur als Texte des Deutschlandfunks zugänglich und erscheinen hier insofern ebenfalls zum ersten Mal. Der III. Teil vereinigt Publikationen zu „Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte". Neben den beiden Aufsätzen über die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe enthält dieser Teil vor allem Sammelbesprechungen und Rezensionen H.-J. Birkners über SchleiermacherLiteratur, die, sieht man von einer Ausnahme ab, die Bemühungen um Schleiermachers Werk in der Regel im Stil und Ton wohlwollend vorstellen. Einige Publikationen zu Schleiermacher sind nicht in diesen Band aufgenommen worden. Dazu zählen die drei fremdsprachigen Schleiermacher-Beiträge. Bei den beiden italienischen Schleiermacher-Aufsätzen (vgl. Bibliographie Nr. 46 und Nr. 51) handelt es sich um wörtliche Übersetzungen der jeweils deutschen Fassung, bei der französisch erschienenen Publikation (vgl. Bibliographie Nr. 21) um eine Vorarbeit zu einer später überarbeiteten und erweiterten Studie (vgl. hier Nr. 11). Des weiteren wurden einige Lexikon-Artikel ausgespart, die wohl sachlich in die Nähe der Schleiermacher-Thematik gehören, aber sehr knapp

Einleitung des Herausgebers

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und allgemein gehalten sind (vgl. Bibliographie Nr. 32—35). Und schließlich wurde auch auf den Abdruck solcher Vorworte zu SchleiermacherEditionen verzichtet, die ebenfalls sehr kurz ausgefallen und nur im Zusammenhang mit diesen Texten selbst verstehbar sind (vgl. Bibliographie Nr. 31, 48, 54). Herr Dr. Arnulf von Scheliha hat dankenswerterweise aufgrund einer erstmals 1991 im Privatdruck erschienenen „Bibliographie Hans-Joachim Birkner", an der seinerzeit neben ihm Elisabeth Blumrich, Bernd Jaeger und Martin Rössler mitgearbeitet hatten, eine ergänzte und veränderte Bibliographie erstellt, mit der der Band abgeschlossen wird. Die Erweiterung der jetzigen Bibliographie besteht vor allem darin, daß erstmals die ausgedehnte Vortragstätigkeit H.-J. Birkners beim Deutschlandfunk dokumentiert wird.

III. Die bereits erschienenen Texte kommen in der ursprünglichen Fassung zum Abdruck, sind aber vereinheitlicht worden. Im einzelnen heißt das: Alle Anmerkungen, auch solche, die in der Erstfassung am Ende eines Beitrages gedruckt waren, werden jetzt als Fußnoten wiedergegeben. Hervorhebungen werden durchweg durch Kursivierungen kenntlich gemacht. Ursprüngliche Hervorhebungen bei Büchertiteln und Namen sind getilgt worden, allerdings nicht dann, wenn sie in Zitaten auftauchen. Druckfehler und Versehen sind stillschweigend korrigiert worden. Die Seitenzählung der Originaldrucke erscheint in den Texten in eckigen Klammern. Nach diesen Prinzipien ist auch bei der Examensarbeit verfahren worden. Herausgeberische Eingriffe waren bei den beiden Rundfunkvorträgen nötig. Der Beitrag Nr. 8 (Schlechthin abhängig von Gott. Ein Porträt Friedrich Schleiermachers) liegt lediglich in einer zwischen zwei Sprechern aufgeteilten Dialogform vor, der Aufsatz Nr. 10 (Der politische Schleiermacher) enthält zusätzlich noch einen Zitator, dem die wörtlichen Zitate anvertraut sind. In beiden Fällen mußte zunächst der ursprünglich fortlaufende Text wiederhergestellt werden, vor allem aber bedurften die Zitate der Nachweisung. Dabei sind in der Regel diejenigen Ausgaben benutzt worden, nach denen auch in den übrigen Beiträgen zitiert wird. Auf eine generelle Umstellung der Zitate und Literaturangaben auf die bisher erschienenen Bände der KGA wurde verzichtet.

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Mit Ausnahme der Examensarbeit sind alle Texte mit der jeweiligen Nummer der Bibliographie versehen, unter der sich die genauen bibliographischen Angaben finden. In der Bibliographie erscheinen die in dem Band selbst abgedruckten Beiträge mit einem vorgesetzten Asteriskus. Bei der Planung und Arbeit an diesem Band habe ich vielfältige Hilfe erfahren. An erster Stelle muß Frau Erika Birkner genannt werden, die sich von Anfang an für das Unternehmen aufgeschlossen zeigte und bereitwillig Zugang zum Nachlaß ihres Mannes gewährte. Die Gestaltung des Bandes war mehrfach Gegenstand von Erörterungen im Herausgeberkreis des Schleiermacher-Archivs. Dafür bin ich den Mitherausgebern zu Dank verbunden, für manchen guten Rat vor allem Günter Meckenstock. Mein besonderer Dank gilt Frau Hanne-Lore Heße von der Schleiermacher-Forschungsstelle Kiel, die eine erste Textvorlage geschrieben, und Frau Helga Maaß, die in Hamburg die endgültige Textfassung besorgt hat. Für Hilfe bei konzeptionellen Fragen, Korrekturen und Zitatnachweisen danke ich Herrn Dr. Arnulf von Scheliha, Frau Ulrike Murmann-Knuth, Herrn Anton Knuth und Herrn Jens-Martin Kruse. Den Verlagen sei für ihre Erlaubnis zum Wiederabdruck der Texte gedankt. Hamburg, am 21. September 1995

Hermann Fischer

Inhaltsverzeichnis Vorwort Einleitung des Herausgebers I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext 1. Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie [1961] . . . . 2. Über den Begriff des Neuprotestantismus [1968] 3. Beobachtungen und Erwägungen zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie [1970] 4. „Liberale Theologie" [1974/76] 5. Glaubenslehre und Modernitätserfahrung. Ernst Troeltsch als Dogmatiker [1987]

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

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6. „Offenbarung" in Schleiermachers Glaubenslehre [ 1 9 5 6 ] . . . . 7. Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik [1963] 8. Schlechthin abhängig von Gott. Ein Porträt Friedrich Schleiermachers (1768 -1834) [1964] 9. Deutung und Kritik des Katholizismus bei Schleiermacher und Hegel [1966] 10. Der politische Schleiermacher [1968] 11. Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation [1974] 12. Friedrich Schleiermacher (1768-1834) [1978] 13. Schleiermacher als Ethiker [1980] 14. Einleitung zu Schleiermachers „Brouillon zur Ethik (1805/06)" [1981] 15. Einleitung zu Schleiermachers „Ethik (1812/13)" [1981] . . . . 16. Schleiermacher als philosophischer Lehrer [1983] 17. Friedrich Schleiermacher [1985] 18. Schleiermachers „Kurze Darstellung" als theologisches Reformprogramm [1986]

81 99 113 125 137 157 193 207 209 229 237 251 285

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Einleitung des Herausgebers

III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

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19. Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern vorgestellt [1989] 20. Die Schleiermacher-Gesamtausgabe. Ein Editionsunternehmen der Schleiermacher-Forschungsstellen Berlin und Kiel [1991] . 21. Ernst Troeltschs Marginalien zu Schleiermachers „Kurze Darstellung" [1991] 22. Schleiermacher-Literatur [1960/62] 23. Schleiermacher-Interpretation heute [1976] 24. Einzelrezensionen zu Schleiermacher-Literatur

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Bibliographie der Schriften Hans-Joachim Birkners (1959-1991)

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Namensregister

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

1. Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie Ein theologiegeschichtlicher Überblick [1961]Die natürliche Theologie gehört zu den charakteristischen Themen unserer theologischen Epoche. Die theologische Literatur der letzten Jahrzehnte bietet reiche Belege. Die natürliche Theologie gehört zu den Themen, über die man irgendwie Bescheid weiß und über die eine stimmungsmäßige Übereinstimmung besteht. Das unterscheidet den Examenskandidaten vom Studenten im ersten Semester, daß er eingestimmt ist in diese Übereinstimmung und daß er so von der natürlichen Theologie zumindest dies weiß, — daß es mit ihr nichts ist. Die natürliche Theologie gehört anerkanntermaßen nicht zu den Themen und Begriffen, in denen sich das gegenwärtige theologische Selbstbewußtsein positiv auslegt. Sie gehört in die Gegenreihe. Zusammen mit Mystik und Religion, mit Kulturprotestantismus und konstantinischem Zeitalter, mit Frömmigkeit und Erlebnis ist sie Gegenstand der Polemik. Die Theologie der Gegenwart versteht sich betont als Offenbarungstheologie — und sie entfaltet dieses Selbstverständnis unter anderem in der Verwerfung der natürlichen Theologie. In Schulen und Richtungen hindurch. Aber unsere Selbstverständlichkeiten haben ihre Geschichte. Das uns Selbstverständliche war es früher nicht, das scheinbar Alte ist unter Umständen ganz neu. Es kann auch umgekehrt sein: das scheinbar Neue ist in Wahrheit das Alte. Eine historische Besinnung kann das unbefangen für selbstverständlich Genommene ein wenig durchleuchten, indem sie nach seiner Herkunft fragt. Was heißt das eigentlich: „natürliche Theologie", was bedeutet das Gegenüber zur Offenbarungstheologie, was wird hier behauptet und was wird hier bestritten? Wie zeigen sich diese Themen im Lichte der Geschichte? Dabei sind es dann zwei Gesichtspunkte, die in einer solchen historischen Betrachtung ein näheVgl. Bibliographie Nr. 10

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

res Interesse verdienen. Der erste betrifft die Funktion der natürlichen Theologie. Was soll sie eigentlich leisten? Welche Funktion hat gerade dieses Thema im Ganzen und für das Ganze der Theologie? Welche Funktion hat die natürliche Theologie im Verhältnis zur Offenbarungstheologie? Der andere Gesichtspunkt betrifft den Sinn von „Natur" und „natürlich", der im Begriff der natürlichen Theologie mitgedacht ist. Der Begriff der Natur und des Natürlichen gewinnt seinen näheren Sinn, seine Nuancen aus dem Gesamtbezugssystem, in dem er steht. Das gleiche gilt für den Gegenbegriff des Geoffenbarten bzw. der Offenbarung. Der Wandel des Bezugssystems wandelt jeweils auch den Sinn aller dieser Begriffe. Angesichts der Fülle des Stoffs beschränkt sich der im Folgenden zu gebende Überblick erstens auf den Protestantismus, zweitens auf die [280] deutsche Theologie, drittens auf das prononcierte Vorkommen des Themas. Vor allem beschränkt er sich viertens auf die natürliche Theologie und läßt die vermeintlichen Synonyma und Analoga der neueren Diskussion (Theologie der Ordnungen, Schöpfungstheologie, Religionsphilosophie, existentiale Analyse etc.) ausgeklammert. Anders steht es mit den Themen „natürliche Religion" und „allgemeine Offenbarung"; sie sind mit dem der natürlichen Theologie eng verflochten und insofern mitgesetzt. Die strukturelle Verflechtung sieht grob so aus, daß allgemeine Offenbarung und natürliche Theologie sich verhalten wie objektive Voraussetzung und subjektiver Vollzug. Die natürliche Theologie versteht sich als ermöglicht durch eine allgemeine Offenbarung. Natürliche Religion und natürliche Theologie verhalten sich wie unmittelbare Gegebenheit und methodische Reflexion. Fragt man nach der Funktion der natürlichen Theologie, so ergibt sich eine grobe theologiegeschichtliche Epochenteilung von selbst, und zwar danach, ob die natürliche Theologie als Gegenstand einer Thesis oder als Gegenstand der Antithesis auftaucht. Die Scheide- und Wendestelle bildet der deutsche Idealismus, im vorliegenden Zusammenhang kommt es dabei vor allem auf Kant und Schleiermacher an. Die Theologie vor Kant und Schleiermacher hat eine natürliche Theologie behauptet, und darzustellen ist die Gestalt dieser Behauptung in Orthodoxie und Aufklärung. In der deutschen protestantischen Theologie nach Kant und Schleiermacher kommt die natürliche Theologie prononciert nur noch als Gegenstand der Bestreitung vor. Zu untersuchen ist die Gestalt dieser Bestreitung bei Schleiermacher, bei Albrecht Ritschi und in unserer eigenen Gegenwart.

1. Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie [1961]

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I. Das Thema der natürlichen Theologie hat in der protestantischen Orthodoxie eine ausführliche Ausarbeitung erfahren. Für den vorliegenden Zusammenhang kommt es nicht so sehr auf die allmähliche Ausbildung der theologia naturalis an als vielmehr auf die typischen Strukturen 1 . Ich gebe daher die Lehrbestimmungen aus einem Werke der lutherischen Hochorthodoxie des 17. Jahrhunderts. Sein Autor ist der Jenaer Theologe Johann Musaeus (1613 — 1681), der Titel lautet: „Introductio in theologiam, qua de natura theologiae naturalis et revelatae, itemque de theologiae revelatae principio cognoscendi primo, scriptura sacra, agitur" (Jena 1679). Der Titel enthält das Programm, das dann auf 600 Seiten durchgeführt wird. Man kann ihm zunächst entnehmen, in welches [281] Koordinatensystem die natürliche Theologie zu stehen kommt. Es stehen sich gegenüber theologia naturalis und theologia revelata. Wie Musaeus dann im Kapitel „De nomine et distinctionibus theologiae" weiter ausführt, bilden beide zusammen die theologia viae sive viatorum — im Unterschied zur theologia patriae sive comprehensorum. Der Theologie der Erdenpilger und der Theologie der Seligen als der theologia ectypa steht gegenüber die theologia archetypa, die Erkenntnis, die Gott von sich selber hat. Eine reiche Gliederung und ein sehr theologischer Gedanke: Gott, die Seligen, die durch das Licht der Gnade und die durch das Licht der Natur Geleiteten, in irgendeinem Sinne sind sie alle — Theologen. Hier kommt es nur auf das Gegenüber von theologia naturalis und theologia revelata an. Es handelt sich dabei um das Gegenüber zweier Erkenntnisprinzipien. „Distinctio haec petita est ex diversa ratione cognoscendi. Cognoscuntur enim Deus et divina a nobis vel naturaliter, partim per notitias nobis natura insitas, partim per vestigia invisibilium Dei, rebus creatis impressa; vel supernaturaliter, per divinam revelationem."2 Jede Wissenschaft hat ihren Grund in einem letzten Prinzip, das seinerseits nicht weiter diskutiert werden kann. Erkenntnisprinzip der geoffenbarten Theologie ist die Offenbarung im engeren Sinn, scriptura sacra. Die Heilige Schrift als das von Gott den Propheten und Aposteln in unmittelbarer Offenbarung diktierte Buch bildet für das Erkennen 1

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Über die Entwicklung des Themas informiert neben Ernst Troeltsch: Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon, Göttingen 1891, vor allem das reiche Werk Hans Emil Webers: Reformation, Orthodoxie und Rationalismus, 1. Teil, 2. Halbband, 1940 (S. 252ff.), 2. Teil, 1951 (S. 12ff.). Musaeus a. a. O. S. 15.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

eine übernatürliche Autorität. Die Aufgabe der theologia revelata ist keine andere als die einer Ordnung und systematisierenden Verarbeitung der in der Heiligen Schrift gesammelten geoffenbarten Lehren. Diesem übernatürlichen Erkenntnisprinzip stehen gegenüber die Erkenntnisprinzipien der theologia naturalis. Es handelt sich dabei um die allgemeinen philosophischen Prinzipien: angeborene Ideen einerseits (z. B. totum est maius sua parte; Deus colendus etc.), die Gesetze der Reflexion andererseits. Gott wird — ductu luminis naturae — teils aus angeborenen Ideen erkannt (notitia insita), teils aus Betrachtung der Schöpfungswelt (notitia acquisita). In der materialen Entfaltung der natürlichen Theologie kann dann, etwa bei den Gottesbeweisen, zurückgegriffen werden auf die philosophische Tradition, wie sie seit Melanchthon an den protestantischen Universitäten Heimatrecht erhalten hatte. Es ist nun zu fragen erstens nach der Funktion, welche die natürliche Theologie in diesem Koordinatensystem hat, zweitens nach dem Begriff von Natur, der im Begriff der theologia naturalis mitgedacht ist. Ich beginne mit dem Begriff der Natur. Gegenbegriff ist die Offenbarung, und zwar die übernatürliche Offenbarung. Es bedarf keiner Erörterung, daß das Übernatürliche, d. h. die Lehren der Bibel, das Natürliche schlechthin überbietet, und zwar sowohl dem Gehalte wie dem Gewißheitsgrade nach. Wichtiger ist dann dies, daß dem Begriff der Natur für das Be-[282]wußtsein der Orthodoxie eine tiefe Zweideutigkeit eignet.3 Das findet darin seinen Ausdruck, daß der Naturbegriff seine nähere Bestimmung gewinnt im Zusammenhang der Lehre von Urständ und Fall. Die klassische Formulierung dieser Zweideutigkeit steht im Artikel I der Konkordienformel. Da heißt es zunächst: „Wir glauben, lehren und bekennen, daß ein Unterschied sei zwischen der Natur des Menschen, nicht allein wie er anfangs von Gott rein und heilig ohne Sünde erschaffen, sonder auch wie wir sie jtzunder nach dem Fall haben, nämblich zwischen der Natur, so auch nach dem Fall noch ein Creatur Gottes ist und bleibt, und der Erbsünde, und daß solcher Unterschied so groß als der Unterschied zwischen Gottes und des Teufels Werk sei."4 Auch nach dem Fall also verhalten sich natura hominis und peccatum originis wie opus Dei und opus diaboli. Aber das ist doch nur die eine Seite. Es gilt 3

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Zur Problematik des Naturbegriffs in der protestantischen Tradition vgl. auch W. Trillhaas: In welchem Sinne sprechen wir beim Menschen von „Natur"? (Zeitschrift für Theologie und Kirche, 52. Jg., 1955, S. 272-296). Formula Concordiae, Epitome Art. I, 2. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. v. Dt. Ev. Kirchenausschuß (1930), 19552, S. 770.

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zugleich: „Wir glauben, lehren und bekennen aber hinwiederumb, daß die Erbsünde nicht sei eine schlechte, sondern so tiefe Vorderbung menschlicher Natur, daß nichts Gesundes oder Unvorderbet an Leib, Seel des Menschen, seinen innerlichen und äußerlichen Kräften geblieben, sondern wie die Kirche singet: ,Durch Adams Fall ist ganz verderbet menschlich Natur und Wesen'."5 Dieser Naturbegriff steht nun auch hinter der natürlichen Theologie. Sie hat an der Zweideutigkeit des Naturbegriffs teil. Sie wird ebenfalls in die Lehre von Urständ und Fall eingezeichnet. Musaeus unterscheidet zwischen der natürlichen Theologie in statu hominis integro, die zur Erlangung der Seligkeit ausreichend war, und der natürlichen Theologie in statu peccati, von der das nicht mehr gilt 6 . Man sieht, auch Adam ist als Theologe vorgestellt. Der Wittenberger Johann Deutschmann, Schwiegersohn Calovs, hat dann sogar die Übereinstimmung der Theologie Adams mit Confessio Augustana und Formula Concordiae nachgewiesen7. Hat nun die natürliche Theologie an der corruptio naturae teil, so bestreitet Musaeus doch, daß sich die natürliche Theologie im Stande der Unschuld von der natürlichen Theologie im Stande der Sünde der Art nach unterscheide. Der Unterschied betrifft nur gradus perfectionis et imperfectionis 8 . Auch nach dem Fall kann der Mensch das Dasein Gottes erkennen, um die Ihm geschuldete Verehrung wissen und Gottes Strafgericht fürchten. Aber er gelangt so allenfalls zur Reue über seine Sünden, nicht zum Glauben an die Vergebung, er kennt Gott nur als den strafenden Richter, [283] nicht als den liebenden Vater, er bedarf einer Genugtuung, von der die Vernunft nichts weiß, sondern allein die Heilige Schrift. Damit zeigt sich nun zugleich die Funktion der natürlichen Theologie im Gesamtzusammenhang des orthodoxen Systems. Die natürliche Theologie ist ganz der Geoffenbarten ein- und untergeordnet. Aber zugleich ist sie auch Grundlage und Voraussetzung der geoffenbarten Theologie. Daß es eine allen Menschen mitgegebene und von allen erwerbbare Gotteserkenntnis gibt, die durch den Fall zwar verdunkelt aber nicht vernichtet ist, das ist Voraussetzung dafür, daß die Menschen von der Predigt des Gesetzes in ihrer Sünde betroffen und durch die ·' A. a. O. S. 772. 6 Musaeus a. a. O. S. 45 f. 7 Johann Deutschmann: Antiquissima theologia positiva primi theologi Adami protoplasti ..., Wittenberg 1709. s Musaeus a. a. O. S. 32.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Predigt des Evangeliums zur Gewißheit der Vergebung geführt werden. Theologia naturalis und theologia revelata verhalten sich wie Gesetz und Evangelium 9 . In dieser Einordnung wird dann die theologia naturalis zugleich Verstehensprinzip für die vor- und außerchristliche Philosophie und Religion. In ihnen lebt die verdorbene natura hominis, die doch immer noch creatura Dei ist.

II. Wendet man sich der Gestaltung der natürlichen Theologie in den Anfängen der deutschen Aufklärung zu, so ist es keineswegs so, als ob mit einem Schlage alles anders würde. Im Gegenteil, es scheint fast alles beim alten geblieben zu sein, das formelle Verhältnis von natürlicher und geoffenbarter Theologie ist unverändert. Ich gebe einige Belege aus dem Werke eines Anhängers Christian Wolffs, aus der „Historic der Natürlichen Gottesgelahrheit, vom Anfange der Welt bis auf gegenwärtige Zeiten, abgefasset und herausgegeben von Johann Achatius Felix Bielcken" (Leipzig und Gelle 1742). Da heißt es: „Durch die natürliche Gottesgelahrheit aber verstehen wir eine Wissenschaft von GOtt und den göttlichen Eigenschaften und Werken, in sofern sie aus Gründen der gesunden Vernunft gründlich erwiesen wird 10 . ...Alle diejenigen, die sich bemühet haben, die Spuren des allmächtigen, weisen, gütigen und gerechten Schöpfers in der Natur aufzusuchen, werden überzeugt seyn, wie nöthig, nützlich und angenehm solche Wissenschaft sey. Es ist zwar unleugbar, daß sie keineswegs alle und hinlängliche Mittel, die zur ewigen Glükseligkeit erfordert werden, in sich enthält; die Schuld aber lieget nicht sowol in dem Zusammenhang göttlicher Wahrheiten, als vielmehr in den Menschen, die sie erlernen, weil ihr Geist in diesen zerbrechlichen Hütten nicht alles fassen kan, dem daher die Weisheit GOttes mit einer nähern Offenbahrung zu Hülfe kommen muß. Kurz, das ist ein höchstwichtiger Vortheil der natürlichen Theologie, daß wir durch sie auf die Möglichkeit, Nothwendigkeit und auf sichere Merkmale der Offenbah[284]rung, und folglich der geoffenbahrten Theologie, geleitet werden"11. Die bleibende Zuordnung der natürlichen zur geoffenbarten 9

10 11

Vgl. auch E. Troeltsch: Vernunft und Offenbarung, S. 127 ff. und die abschließenden Erwägungen in dem oben genannten Aufsatz von W. Trillhaas. Bielcken a. a. O. S. 2. A. a. O. S. 5 f.

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Theologie ist also deutlich genug ausgesprochen. Ebenso bleibt die Einordnung in die Lehre von Urständ und Fall erhalten. Die Historic der natürlichen Gottesgelahrheit beginnt mit Adam, dem „algemeinen Vater desienigen Geschlechtes, welches Kunst und Wissenschaft erfunden und in Flor gebracht hat" 12 . Bielcken unterscheidet sorgfältig zwischen der Theologie Adams vor und nach dem Fall. Er vermutet, es werde damit nach dem Fall „ziemlich mangelhaft...worden seyn"13. Und über Kain und Abel heißt es: „Was den Cain und den Abel anlanget, so kan man von ihnen weiter nichts sagen, als daß einer in der natürlichen Theologie sehr schlecht müsse beschlagen gewesen seyn. Denn lesen wir das vierte Capitel des ersten Buchs Mose, so können wir leicht den Schlus machen, daß Cain von der Alwissenheit und Gerechtigkeit GOttes ziemlich unrichtige Begriffe müsse gehabt haben. Von dem Abel läßt sich aber das Gegentheil sicher behaupten" 14 . Das klingt nun in der Ausführung alles ein wenig harmlos, entspricht aber im Grundsätzlichen doch genau dem, was Leibniz und Christian Wolff im Blick auf das Verhältnis von natürlicher und geoffenbarter Theologie gedacht und gewollt haben. Leibniz legt Wert darauf, daß die wahre natürliche Theologie, die der geoffenbarten Wahrheit nicht allein nicht widerstreite, sondern sie vielmehr unterstütze, aus seinen Prinzipien aufs beste bewiesen werde15. Christian Wolff schließt die Vorrede zu seiner „Theologia naturalis methodo scientifica pertractata" (1739) mit dem Wunsche und der Hoffnung, daß die insufficientia der natürlichen und die excellentia atque necessitas der geoffenbarten Religion besser erkannt werden möchte. Bleibt also das Gegenüber von theologia naturalis und theologia revelata durchaus erhalten, so ist doch unverkennbar, daß die Stimmung des Ganzen eine andere geworden ist. Die Funktion der natürlichen Theologie hat sich gewandelt. Unmittelbar einsichtig ist das daran, daß es jetzt die Philosophie ist, die sich der theologia naturalis sive rationalis energisch annimmt. Dieser Philosophie eignet ein neues Selbstbewußtsein. Aus der Unterordnung unter die Theologie ist Gleichberechtigung geworden. Die Magd hat sich in die Partnerin verwandelt — und sie stand in der Versuchung, die einstige Herrin vor der Welt und den Menschen als abergläubisch, gewalttätig und vernunftfeindlich zu denunzie12

A. a. O. S. 14. " A. a. O. S. 15. 14 A. a. O. S. 17. 15 Vgl. die Epistola ad Wagnerum vom 4. Juni 1710, Opera philosophica, ed. Erdmann, Berlin 1840, S. 467.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

ren. Hatte in der Orthodoxie die theologia revelata die Möglichkeit einer theologia naturalis eingeräumt, begründet und zugleich begrenzt, so kehrt sich jetzt [285] das Verhältnis um. Die theologia naturalis erörtert jetzt ihrerseits Möglichkeit und Grenzen einer theologia revelata. Bielcken rühmt es ja als Vorzug der natürlichen Gottesgelahrheit, daß sie auf Möglichkeit, Notwendigkeit und sichere Merkmale der Offenbarung und der geoffenbarten Theologie aufmerksam mache. Wenn hier die geoffenbarte Theologie noch nicht skeptisch in Frage gestellt, sondern im Gegenteil nachdrücklich postuliert wird, so ist das gegenüber dem prinzipiellen Wandel eine Frage zweiter Ordnung. In der Orthodoxie waren die von der geoffenbarten Theologie entfalteten übernatürlichen Wahrheiten der Heiligen Schrift das schlechthin Sichere und Gewisse und die Aussagen der natürlichen Theologie demgegenüber das relativ Unsichere und Ungewisse. Nun wendet sich das Blatt. Die natürliche Theologie hat gegenüber der geoffenbarten die Funktion der Kritik. Indem die Aufklärung das Ganze des Wissens und der Wirklichkeit mit dem Lichte der Vernunft zu durchleuchten trachtet, macht sie auch vor Christentum und Kirche, vor Bibel und Offenbarung nicht halt. Dieser Wandel der Funktion kann auch am Wandel des Begriffs von Natur und Offenbarung abgelesen werden. Zwar bleibt die alte Korrelation natürlich — übernatürlich, natürlich — geoffenbart erhalten. Aber sie bekommt einen neuen Klang. Der Zusammenhang des Naturbegriffs mit der Erbsündenlehre tritt zurück und verblaßt. Der Naturbegriff verliert seine Zweideutigkeit. Die Natur, das Natürliche, das meint jetzt das eindeutig Gute und Richtige, das Ursprüngliche hinter den Verstellungen. Die schärferen Denker sind sich dieses Wandels durchaus bewußt. Edward, Lord Herbert von Cherbury, der Anfänger der Offenbarungskritik in England, betont, er verbinde mit dem Naturbegriff nicht den Sinn einer Depravation, sondern ihm bedeute die Natur die universale göttliche Vorsehung. l6 Hand in Hand damit bekommen auch das Übernatürliche und das Geoffenbarte einen neuen Klang und Sinn. Die Offenbarung wird zur Behauptung einer Offenbarung. Die Aufklärung aber will keine Behauptung einfach hinnehmen. Sie ist mißtrauisch gegen Überlieferungen und Autoritäten. Sie will sich nicht gehorsam beugen, sondern sie will einsehen und überzeugt werden. Das Natürliche ist das 16

„Natura quae aliquibus Fatum, aliis depravatum quiddam significat, nobis providentiam Divinam universalem denotat." Vorrede zur 2. Auflage von „De veritate, prout distinguitur a revelatione, a verisimili, a possibili et a falso" (London 1633), zitiert bei C. Güttier: Eduard Lord Herbert von Cherbury, München 1897, S. 11.

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Vernünftige und der Einsicht Geöffnete, eben darin dann auch das Überzeugende. Das Übernatürliche, Geoffenbarte ist das autoritativ Behauptete. „Daß ein Gott sei, beweiset der biblische Theolog daraus, daß er in der Bibel geredet hat", schreibt Kant. 17 Das Natürliche ist als das Vernünftige zugleich das Notwendige und Allgemeine. Quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est, [286] das ist die natürliche Religion und Theologie. Das Inhaltsverzeichnis der „Historic der natürlichen Gottesgelahrheit" von Bielcken bietet eine Entfaltung dieses Satzes. „Von der natürlichen Theologie unter den Hebräern", damit beginnt das Werk. Und dann geht es weiter: „Von der Beschaffenheit der natürlichen Theologie in Asia und Africa, nemlich unter den Chaldäern, Persern, Phöniciern, Indianern und Egyptiern" etc. Testes veritatis in allen Zeiten und Breiten. Angesichts dieser Lage blieben offenbar der geoffenbarten, übernatürlichen Religion und Theologie nur zwei Möglichkeiten. Entweder mußte sie ihre ererbten Sonderansprüche aufgeben und abschwören und sich für mit der natürlichen Religion und Theologie einig und identisch erklären. Die Buchtitel der englischen Aufklärung bieten dafür die programmatischen Belege. John Lokke hatte die Vernünftigkeit des Christentums konstatiert. 18 John Toland wollte das Christentum von Geheimnissen frei wissen.19 War das erst einmal erreicht, so war das Christentum mit der natürlichen Religion identisch und damit so alt wie das Menschengeschlecht.20 Die andere Möglichkeit, die der geoffenbarten Theologie blieb, sah so aus, daß sie zwar die alten Ansprüche aufrechterhielt, sich damit aber als das Zufällige gegen das Notwendige, als das Partikulare gegen das Allgemeine, als das nur Geschichtliche gegen das Natürliche und Vernünftige stellte. Dann aber galt: „Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden."

III. Die natürliche Religion und Theologie der Aufklärung ist durch ein Doppeltes zerbrochen worden. Einmal dadurch, daß der theologia naturalis 17

18

19 20

„Der Streit der Fakultäten" (1798), Erster Abschnitt, I, l, A (Eigentümlichkeit der theologischen Fakultät). Ges. Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd. VII, 1907, S. 23. John Locke: The Reasonableness of Christianity, as delivered in the Scriptures, London 1695. John Toland: Christianity not mysterious, London 1696. Matthew Tindal: Christianity as old as the creation, London 1730.

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sive rationalis der Charakter notwendiger Vernunftwahrheiten mit Erfolg bestritten wurde. Zum ändern dadurch, daß eine Theologie auftrat, die Vernunft und Geschichte in einem inneren Verhältnis dachte, die sich in den zufälligen Geschichtswahrheiten zu gründen vermochte, ohne gleichzeitig gegen die Vernunft polemisch zu werden. Dieses Doppelte verbindet sich wesentlich mit den Namen Kants und Schleiermachers. Kant hat gezeigt, daß die Kategorien unseres Denkens Recht und Geltung nur haben im Umkreis möglicher Erfahrung, daß jede Überschreitung dieses Bereichs hingegen ein Scheinwissen erzeugt, Gedankendichtung. Die von ihm unternommene Grenzziehung der Vernunft hatte zum Ergebnis, daß die Gegenstände der natürlichen Theologie jenseits der Grenze liegen, „daß alle Versuche eines bloß spekulativen Gebrauchs [287] der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind; daß aber die Prinzipien ihres Naturgebrauchs ganz und gar auf keine Theologie führen"21. Theologia naturalis methodo scientifica pertractata, natürliche Theologie als erzwingbares Wissen und als demonstrierbare Wissenschaft, Entfaltung notwendiger Vernunftwahrheiten — so hatte das Programm gelautet. Wir alle sind darin Kantianer, daß wir diesen Gedanken nicht mehr nachvollziehen können. Für Schleiermacher ist diese Zerstörung der klassischen Metaphysik inklusive ihres vornehmsten Stücks, der theologia naturalis sive rationalis, selbstverständliche Voraussetzung. Die „übel zusammengenähten Bruchstücke von Metaphysik und Moral, die man vernünftiges Christentum nennt",22 „diese Systeme der Theologie, diese Theorien vom Ursprung und Ende der Welt, diese Analysen von der Natur eines unbegreiflichen Wesens"23, „dieses Gemisch von Meinungen über das höchste Wesen oder die Welt, und von Geboten für ein menschliches Leben (oder gar zwei)"24, — sie sind ihm lediglich Gegenstand des Spottes. Nun hatte sich ja bei der Erörterung der Aufklärung gezeigt, wie sich das Begriffspaar natürlich — geoffenbart verwandelte in den Gegensatz natürlich — autoritativ und natürlich — geschichtlich. Die natürliche Religion stand 21

22

25 24

Kant: Kritik der reinen Vernunft, Transz. Dialektik, 2. Buch, 3. Hauptstück, 7. Abschnitt. Ges. Sehr., Ak.-Ausg. Bd. III, S. 423. Schleiermacher: Über die Religion, S. 25 (ich zitiere nach den Seitenzahlen der 1. Auflage). A. a. O. S. 26. A. a. O. S. 44.

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gegen die positive, das Natürliche gegen das geschichtlich Gewordene. Die mit der Theologie Schleiermachers sich vollziehende Wende besteht darin, daß die Richtung der Polemik sich umkehrt. Das Geschichtliche wendet sich gegen das vermeintlich Natürliche. Die grundlegende Auseinandersetzung ist in unvergleichlicher Weise vollzogen in Schleiermachers Reden „Über die Religion" (1799). „Das Wesen der natürlichen Religion besteht ganz eigentlich in der Negation alles Positiven und Charakteristischen in der Religion, und in der heftigsten Polemik dagegen. Darum ist sie auch das würdige Produkt eines Zeitalters, dessen Steckenpferd eine erbärmliche Allgemeinheit und eine leere Nüchternheit war, die mehr als irgend etwas in allen Dingen der wahren Bildung entgegenarbeitet. Zweierlei hassen sie ganz vorzüglich: sie wollen nirgends beim Außerordentlichen und Unbegreiflichen anfangen; und was sie auch sein und treiben mögen, so soll nirgends eine Schule hervorschmecken... 25 Wenn eine Religion nicht eine bestimmte sein soll, so ist sie gar keine, sondern nur loser, unzusammenhängender Stoff. Erinnert Euch, was die Dichter von einem Zustande der Seelen vor der Geburt reden: [288] wenn sich eine solche gewaltsam wehren wollte in die Welt zu kommen, weil sie eben nicht Dieser und Jener sein möchte, sondern ein Mensch überhaupt; diese Polemik gegen das Leben ist die Polemik der natürlichen Religion gegen die positiven, und dies ist der permanente Zustand ihrer Bekenner."26 Das Positiv-Geschichtliche kehrt sich gegen das Abstrakt-Natürliche. Das Außerordentliche und Unbegreifliche, das Bestimmte und Willkürliche, das alles bekommt ein neues Leuchten und einen neuen Klang. Schleiermachers Polemik leitet eine neue theologiegeschichtliche Epoche ein, die charakterisiert ist durch die Zuwendung zur Geschichte. Theologie ist von nun an in einem allgemeinsten Sinne immer geschichtliche Theologie gewesen, Theologie der geschichtlichen Offenbarung, Theologie der geschichtlichen Erfahrung des christlichen Glaubens. Fragt man nach der Funktion der Bestreitung der natürlichen Religion und Theologie bei Schleiermacher, so liegt sie in der Selbstunterscheidung von der Aufklärung. Diese Bestreitung hat keinen Wert in sich, sondern sie ergibt sich aus der konkreten geschichtlichen Auseinandersetzung. Sie ist von durchgreifendem Erfolg begleitet gewesen. Seither hat es in Deutschland auf protestantischem Boden keine natürliche Theologie im alten klassischen Sinn mehr gegeben. 25 26

Schleiermacher a. a. O. S. 277. A. a. O. S. 278 f.

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Die Bestreitung der natürlichen Theologie ist also keineswegs auszeichnendes Merkmal gerade unserer theologischen Epoche. Im Gegenteil, das eigentlich Merkwürdige ist dies, daß die natürliche Theologie nach Schleiermacher noch zweimal der Gegenstand einer heftigen Polemik geworden ist, bei Albrecht Ritschi und in unserer Gegenwart. Man fragt sich: wo und wer ist der Gegner, der hier so heftig attackiert wird? Die redlichen Aufklärer lagen ja längst im Grabe. Dieses seltsame Phänomen nun ist gerade dadurch bedingt, daß seit Kant und Schleiermacher die Unmöglichkeit einer natürlichen Theologie im alten Sinn eine in der deutschen protestantischen Theologie durchweg anerkannte Voraussetzung war. Diese Anerkennung ermöglichte die folgende Entwicklung. Der Begriff der natürlichen Theologie erlebte einen neuen Wandel seiner Funktion: Man kann diesen Wandel kaum anders formulieren als so: „natürliche Theologie" wird jetzt eine Art Ketzername. Man erkennt das unschwer an der Art und Weise, wie der Begriff in der Argumentation verwandt wird. Sagt man nämlich über einen theologischen Satz, hier handele es sich doch um natürliche Theologie, so reagiert der also Angesprochene unweigerlich allergisch, so als hätte man ihn etwa des Katholizismus oder des Enthusiasmus geziehen. Der Begriff der natürlichen Theologie bekommt also die undankbare Rolle, die in den Bekenntnissen der Reformationszeit etwa die Manichäer, Valentinianer, Arianer und Pelagianer haben. Es geht gar nicht [289] mehr um die konkreten geschichtlichen Gestaltungen der Theologie — die sind in den Katakomben der Dogmengeschichte beerdigt und nur zum theologischen Examen wird ihrer gedacht. Es geht um die Übereinstimmung im Ketzerkatalog. Reiicimus atque damnamus etiam theologiam naturalem — das ist ein Satz, der so zwar in keinem kirchlichen Bekenntnis steht, den aber doch so gut wie alle Theologen nach Schleiermacher unschwer hätten unterschreiben können. Vielleicht, daß sie sich alle dann auch ein wenig etwas anderes dabei gedacht hätten, wie das wohl bei der Unterzeichnung von Bekenntnissen zu passieren pflegt. Aber eben das ist wiederum charakteristisch für das Phänomen des von der konkreten historischen Erscheinung gelösten Ketzernamens. Er kann nun, wenn nicht alles, so doch vieles bedeuten, weil er in der polemischen Verwendung Phänomene decken soll, die unter Umständen nur noch sehr entfernte Ähnlichkeit mit der geschichtlichen Erscheinung haben, die den Namen ursprünglich getragen hat.

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IV. Wendet man sich Albrecht Ritschi zu, so muß es verwundern, daß seine Theologie heutzutage nicht in höheren Ehren steht. Nicht nur ist auch er schon energisch gegen die natürliche Theologie aufgetreten, generell steht es so, daß die allgemeinen Charakteristika seiner Theologie ziemlich genau mit dem übereinstimmen, was für unser Bewußtsein das Wesen theologischer Vortrefflichkeit ausmacht. Ritschi wollte biblischer Theologe sein, der authentische Inhalt des christlichen Glaubens soll aus dem Neuen Testament erhoben werden. Er wollte kirchlicher Theologe sein und Theologie „vom Standpunkt der christlichen Gemeinde" aus treiben. Er wollte ferner reformatorischer Theologe sein, „Rechtfertigung und Versöhnung" ist ihm das zentrale Thema der Dogmatik, von dem her alle anderen Themen Ort und Gestalt empfangen. Er spart nicht mit Lutherzitaten. Er wollte schließlich vor allem eine christozentrische Offenbarungstheologie treiben, in der Gott allein aus seiner Offenbarung in Person und Werk Jesu Christi erkannt wird — der „Offenbarungswert Christi" ist der „Erkenntnisgrund für alle Aufgaben der Theologie"27. Dieses zuletzt genannte Anliegen als erster mit Entschiedenheit und Nachdruck geltend gemacht zu haben, war Grund und Gegenstand des eigentümlichen Selbstbewußtseins der Ritschlschen Theologie. Damit stehen wir auch bei dem, was sein Kampf gegen die natürliche Theologie meint: jede Theologie, die nicht in der Offenbarung Gottes in Christo ihren Ansatz und Einsatz hat. Ritschi schreibt im zusammenfassenden Schlußabschnitt seiner Schrift „Theologie und Metaphysik": „Durch diese Mitteilungen habe ich bewiesen, daß die Erkenntnismethode, die ich in der Theologie befolge, der eigentlichen Intention Luthers, insbesondere seiner Absicht entspricht, mit der scholastischen Theologie zu brechen. Er [290] hat nicht auch noch diese Aufgabe zu lösen vermocht, und Melanchthon war seiner Art nach ihr überhaupt nicht gewachsen. Vielmehr hat gerade dieser Leiter der Theologie in der Reformationskirche den Rückzug auf die scholastische Methode allmählich, aber mit zunehmender Entschiedenheit angetreten. In dem Fahrwasser der Scholastik ist nun, was die Methode betrifft, unsere Theologie im ganzen geblieben. Denn auch Schleiermacher nimmt an dem Grundfehler dieser Lehrweise teil, indem er als den ersten Teil der Dogmatik das fromme Selbstbewußtsein darstellt, welches in jeder christlichen Gemütserregung 27

Ritschi: Rechtfertigung und Versöhnung, 2. Aufl., Bonn 1882/83, III, 6.

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immer schon vorausgesetzt wird, aber auch immer mit enthalten ist. Das heißt, seine allgemeine Lehre von Gott ist natürliche Theologie, gerade wie bei Melanchthon."28 Die Frage nach dem Richtigen und Unrichtigen an der hier formulierten historischen These Ritschis kann dahingestellt bleiben. Fragt man nach der Funktion, die hier die Bestreitung der natürlichen Theologie hat, so ist zunächst deutlich, daß der Begriff der natürlichen Theologie eine starke Formalisierung erfahren hat. Er meint nicht mehr eine bestimmte historische Gestalt, sondern er meint eine Gesamttendenz der vor-Ritschlschen Theologie. Es handelt sich nicht mehr wie bei Schleiermacher um Auseinandersetzung mit der Aufklärung, sondern es handelt sich um die Selbstunterscheidung der Theologie Albrecht Ritschis von der gesamten vorhergegangenen Theologiegeschichte. Ritschi verstand sich als der Anfänger einer nun erst wirklich reformatorischen Theologie. In seiner Festrede zu Luthers 400. Geburtstag heißt es: „Ich möchte behaupten, daß der Protestantismus bisher aus der Epoche seiner Kinderkrankheiten nicht herausgetreten ist."29 Zugleich handelt es sich natürlich um die Selbstunterscheidung von den Kollegen auf den Lehrstühlen in Erlangen, Leipzig, Berlin und anderswo. Freilich, Ritschis Zeitgenossen, die Spätgestalten der spekulativen und der Vermittlungstheologie einerseits, die Leipziger und Erlanger Lutheraner andererseits, waren durchaus nicht gesonnen, sich in dem ihnen vorgehaltenen Bilde zu erkennen, so wie sich die Aufklärung in der Tat in dem von Schleiermacher gezeichneten Bilde erkennen mußte. Ihnen bedeutete der von Ritschi erhobene Vorwurf lediglich dies, daß er sie alle nicht für Ritschlianer hielt. Der Begriff der natürlichen Theologie hat so seine wesentliche Funktion in der Formulierung des Selbstbewußtseins dieser bestimmten Theologie, der Theologie Albrecht Ritschis. Er wird zum Terminus der Schulsprache, der außerhalb der Schule gar nicht recht verständlich ist. Er wird eine der Losungen und Parolen, an denen sich die ehemaligen Göttinger Studenten, die Leser der Zeitschrift für Theologie und Kirche und die Freunde der Christlichen Welt gegenseitig erkennen konnten. [291] Eine kurze Bemerkung soll noch der besonderen Färbung gewidmet werden, die bei Ritschi der Begriff des Natürlichen bekommt. Ritschi nimmt den Begriff der natürlichen Theologie zunächst so auf, wie er 28 29

Ritschi: Theologie und Metaphysik, Bonn (1881), 18872, S. 65 f. Ritschi: Festrede am vierten Sekulartage der Geburt Martin Luthers, Göttingen 1883, S. 23.

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von der Tradition gegeben wird: die natürliche Theologie ist Teil der Metaphysik. Sein Kampf gegen die natürliche Theologie ist sein Kampf gegen die griechische Metaphysik. Dieses Thema ist dann von Adolf von Harnack dogmengeschichtlich entfaltet worden. Es bewährt wiederum seine Lebendigkeit bis in unsere Tage. Das eigentlich Verdächtige an der Metaphysik lag nun für Ritschi darin, daß sie gleichgültig ist „gegen den Art- und Wertunterschied von Geist und Natur" 30 , daß sie den „Abstand von Natur und Geist unbeachtet" läßt31. Der Gegensatz lautet jetzt also nicht mehr in erster Linie natürlich - übernatürlich, auch nicht Natur und Vernunft einerseits, autoritative Offenbarung andererseits, auch nicht Natur und Geschichte, sondern er lautet Natur und Geist. Religion und Offenbarung aber haben es mit Geistigem zu tun. „Die religiöse Weltanschauung ist in allen ihren Arten darauf gestellt, daß der menschliche Geist sich in irgendeinem Grade von den ihn umgebenden Erscheinungen und auf ihn eindringenden Wirkungen der Natur an Wert unterscheidet. Alle Religion ist Deutung des in welchem Umfang immer erkannten Weltlaufs, und zwar in dem Sinne, daß die erhabene Macht, welche in oder über ihr waltet, dem persönlichen Geist seinen Wert gegen die Hemmungen durch die Natur oder die Naturwirkungen der menschlichen Gesellschaft erhält oder bestätigt."32 Zumal das Christentum ist dann die „geistige Religion"33. Im Hintergrund dieser Begrifflichkeit steht die Auseinandersetzung mit der sich zur Weltanschauung steigernden Naturwissenschaft. Die philosophische Parallele bildet etwa der Neukantianismus und der Versuch der Geisteswissenschaften, sich aus der Umklammerung durch die Naturwissenschaften zu befreien.

V. Die Theologiegeschichte ist nicht das Jüngste Gericht, sie übt aber zuweilen eine ironische Vergeltung. Von dieser Vergeltung ist Albrecht Ritschi betroffen worden. Hatte er es als einen Ruhmestitel seiner Theologie betrachtet, als erster das Verhängnisvolle der natürlichen Theologie 10

Theologie und Metaphysik, 2. Aufl., S. 11. ·" A. a. O. S. 12. 32 Theologie und Metaphysik, 2. Aufl., S. 9. Vgl. auch Rechtfertigung und Versöhnung, 2. Aufl., III, 186. ·" Vgl. A. v. Harnack: Das Wesen des Christentums, (1900), Neuausgabe von R. Bultmann, 1950, S. 159, auch S. 174.

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erkannt zu haben, so ist ihm nicht nur dieser Ruhm bestritten worden, sondern seine eigenen Enkelschüler haben entschieden und energisch ihn selber der natürlichen Theologie geziehen. Damit stehen wir bei unserer eigenen Gegenwart. Der Theologe, der hier mit Recht als der ent[292]schiedenste Bestreiter der natürlichen Theologie gilt, ist Karl Barth. Die anderen Beiträge zum Thema sind vielfach entweder von ihm beeinflußt oder aber gegen ihn gerichtet. Karl Barth stimmt insofern mit Ritschi überein, als es sich auch in seinem Kampf gegen die natürliche Religion und Theologie nicht um die bestimmte Gestalt der Aufklärung handelt. Der von ihm anvisierte Gegner ist der gesamte „modernistische Protestantismus, wie er, aus den Wurzeln des 16. und 17. Jahrhunderts wachsend, im 18. bis 20. Jahrhundert sich dargestellt hat"34. Schon in der Orthodoxie fängt das Verhängnis an, das dann bei Christian Wolff und Kant, bei Schleiermacher und Hegel, bei David Friedrich Strauss und Ludwig Feuerbach, bei Albrecht Ritschi und Ernst Troeltsch immer schlimmere Folgen zeitigt. Und Barth vergißt nicht hinzuzufügen: „Auch die konservative Theologie dieser Jahrhunderte: die supranaturalistische des 18. und die konfessionelle, biblizistische und ,positive' Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts hat dabei im ganzen mitgemacht."35 Der Kampf gegen die natürliche Theologie hat so auch bei Barth die Funktion einer Selbstunterscheidung des eigenen theologischen Wollens von dem aller Jahrhunderte seit der Reformation. Daß dann auch die Selbstunterscheidung von den eigenen Zeitgenossen noch mit hineinspielt, ist aus seiner Auseinandersetzung mit Emil Brunner bekannt. Sie alle, die Väter und die Brüder, haben grob und fein, offen oder verhüllt natürliche Theologie getrieben statt Theologie der Offenbarung, Theologie des Selbstverständnisses des christlichen Menschen statt Theologie des Heiligen Geistes. Sie alle haben „die Religion...nicht von der Offenbarung, sondern die Offenbarung...von der Religion her" verstanden. „Auf diesen Nenner lassen sich grundsätzlich die Intentionen und Programme aller bedeutenderen Strömungen der neueren Theologie bringen."36 Wiederum kann Recht und Unrecht der historischen These dahingestellt bleiben. Wiederum sind die Zeitgenossen nicht recht bereit, sich in diesem Bilde zu erkennen. Fragen wir nach der besonderen Nuance im Verständnis der natürlichen Theologie, so heißt der Gegensatz jetzt 34 35 36

Barth: Kirchliche Dogmatik, 1/2, 19453, S. 309. Barth a. a. O. S. 316. Barth a. a. O. S. 316.

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natürliche Theologie — Theologie der Offenbarung. Es ist also weder das aufklärerische Begriffspaar noch das idealistische noch das Ritschlsche, es ist das Begriffspaar der Orthodoxie. Es handelt sich im ganzen um eine grandiose Erneuerung des Supranaturalismus. Das wird noch deutlicher, wenn man sich von Barth darüber belehren läßt, worin das eigentliche Geheimnis der natürlichen Theologie besteht. Ihr Geheimnis ist dies, daß es sich in ihr letztlich gar nicht um die Theologie Christian Wolffs oder auch Schleiermachers oder Ritschis oder wessen sonst handelt, sondern — um die Theologie des natürlichen Menschen schlechthin. „Der [293] Mensch müßte sich selbst verleugnen, wenn er den Grundgedanken aller natürlichen Theologie...verleugnen wollte. Der Mensch müßte dazu sich selbst aufgeben. Und wie könnte er das tun? Wie könnte er über seinen eigenen Schatten springen? Er wird auch in der Kirche, auch in die Mitte genommen zwischen das reale Angebot der Gnade und seine von diesem Angebot her bis aufs letzte durchschaute reale Existenz, auf sich selbst gesehen, niemals ein anderer sein als eben er selbst. Er selbst aber wird immer der sein, der wohl Alles, der — ein wahrer Atlas — gerne die ganze Welt tragen, der aber unter keinen Umständen getragen sein will und der darum zuletzt und zutiefst immer ein Feind der Gnade und ein Hasser und Verleugner seiner wirklichen Bedürftigkeit sein wird. Auf seinem Boden und in seiner Luft muß es zur natürlichen Theologie kommen. Ihre Behauptung von der natürlichen und ursprünglichen Gotteserkenntnis und Gottverbundenheit des Menschen ist ganz schlicht dessen Selbstauslegung und Selbstrechtfertigung ...Was ist der Gott, den er unmittelbar zu erkennen, dem er unmittelbar verbunden zu sein behauptet, Anderes als sein eigenes Spiegelbild, die Hypostasierung seines Selbstbewußtseins...?"37 Der hier beschriebene Mensch domestiziert schließlich auch die Offenbarung, er macht das Evangelium aus dem Gegenstand des Glaubens zu einem Gegenstand der Gläubigkeit, aus einer Gabe Gottes zu einem Element unserer eigenen wirklichen Existenz, zu einem Element des Lebens des Volkes, des Gemeinwesens, der Familie, der allgemeinen Bildung. „Der als Absorbierung und Domestizierung der Offenbarung beschriebene Triumph der natürlichen Theologie im Raum der Kirche ist sehr schlicht der Prozeß der Verbürgerlichung des Evangeliums." In der natürlichen Theologie „redet niemand Anderes als der Christ als Bourgeois"38. 37 38

Barth: Kirchliche Dogmatik, H/1, 19462, S. 150 f. Barth a. a. O. S. 157.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Die zitierten Sätze fassen in etwa das zusammen, was Barth mit der natürlichen Theologie meint und was er in ihr bekämpft. Natürliche Theologie und Theologie der Offenbarung verhalten sich wie Unglaube und Glaube, wie menschliche Möglichkeit und göttliche Möglichkeit, wie Sünde und Gnade. Zugleich lassen die zitierten Sätze einen bestimmten weltanschaulichen und philosophischen Hintergrund sichtbar werden. „Das Geheimnis der Theologie ist die Anthropologie", lautet der bekannte Satz Ludwig Feuerbachs39. In seinem „Wesen des Christentums" heißt es: „Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen."40 Das Geheimnis der natürlichen Theologie ist die Selbstauslegung des Menschen, heißt es bei Barth. „Was ist der Gott, den er unmittelbar zu erkennen, [294] dem er unmittelbar verbunden zu sein behauptet, Anderes als sein eigenes Spiegelbild, die Hypostasierung seines Selbstbewußtseins?" Karl Marx hat die Thesen Feuerbachs aufgenommen und hat sie auf den Menschen bezogen, der in der bürgerlichen Gesellschaft seine konkrete Existenz hat. „Die Religion...ist...das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt,...ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trostund Rechtfertigungsgrund." 41 Für Karl Barth ist die natürliche Theologie die Selbstauslegung und Selbstrechtfertigung des Menschen. Die natürliche Theologie ist ihm ein bürgerliches Phänomen, in ihr redet „der Christ als Bourgeois" — es ist der marxistische Begriff des Bürgers, der hier polemisch verwandt wird. Die Illusionstheorie Ludwig Feuerbachs und die Ideologiekritik Karl Marx' werden so bei Barth zu Waffen gegen die natürliche Theologie. Damit ergibt sich aber nun eine erstaunliche funktionale Übereinstimmung mit der Orthodoxie. Die Funktion, die dort die natürliche Theolo39

40

41

L. Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie (1843). Kleine philos. Schriften, hg. v. Lange, 1950, S. 55. L. Feuerbach: Das Wesen des Christentums, 18493, 2. Kapitel. Kritische Ausgabe v. K. Quenzel, 1904, S. 68. K. Marx: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, 1844, Einleitung. Die Frühschriften, hg. v. S. Landshut, 1953, S. 208.

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gie hatte, wird bei Barth von der Polemik gegen die natürliche Theologie übernommen. Fand die orthodoxe theologia revelata ihre Grundlage und Voraussetzung in der aus der abendländischen philosophischen Tradition genährten theologia naturalis, so findet die dialektische Theologie ihre Grundlage und Voraussetzung in der Religionskritik des philosophischen Atheismus. Beide Male handelt es sich darum, das allgemeine Wahrheitsbewußtsein, wie man es in der Philosophie repräsentiert sieht, in die Theologie hereinzuholen. Der orthodoxe Supranaturalismus hatte sich die natürliche Theologie eingegliedert und mit ihrer Hilfe, d. h. mit philosophischen Argumenten, unter anderem den Atheismus bekämpft. Der neue Supranaturalismus gliedert sich den Atheismus ein und bekämpft mit seiner Hilfe und mit seinen Argumenten die natürliche Theologie. Wollte die geoffenbarte Theologie der Orthodoxie daran festhalten, daß auch die verdorbene natura hominis doch immer noch creatura Dei ist42, so geht es der gegenwärtigen Theologie der Offenbarung darum, die göttliche Begnadigung des Sünders zu bezeugen in der Solidarität mit den Atheisten. In beiden Fällen versteht es die Offenbarungstheologie, sich mit der gleichzeitigen Philosophie in einen relativen Einklang zu setzen. [295] In beiden Fällen betrifft dann freilich dieser Einklang der Intention nach nur den Unterbau, nur die Voraussetzungen, nicht das Eigentliche. In beiden Fällen steht die Offenbarungstheologie ihrem Selbstverständnis nach weit oberhalb der Streitigkeiten, die sich im unteren Stockwerk abspielen. Die Orthodoxie nahm letztlich den Atheismus nicht ernst, so wie man nach Barth die natürliche Theologie letztlich nicht ernst nehmen darf 43 . Die Offenbarungstheologie wird von all dem nicht eigentlich tangiert. Sie hat ihren Ort nicht dort, wo diese menschlichen Streitigkeiten sich abspielen, sondern — auf der Seite Gottes. Friedrich Gogarten hat es in einer seiner frühen Schriften klassisch formuliert: „Steht die Religion zwischen uns Menschen und Gott in der Mitte, so richtet diese Anschauung (sc. der Freidenker), von der ich die meinige möglichst scharf unterscheiden will, ihre Zweifel von unserer, der Menschen, Seite her auf die Religion. Ich aber behaupte, auf der anderen Seite zu stehen, zwischen der Religion und Gott und von der anderen Seite her die Religion in Frage zu stellen."44 42

4i 44

Vgl. dazu die schönen Ausführungen bei H. E. Weber: Reformation, Orthodoxie und Rationalismus, II, 1951, S. 14 ff. Vgl. Barth: Kirchliche Dogmatik, II/I, S. 182 ff. F. Gogarten: Die religiöse Entscheidung, Jena 1924, S. 18 f.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Damit ist der Weg abgeschritten. Er hatte angefangen bei der geoffenbarten Theologie und ist nun bei der Theologie der Offenbarung angelangt. Die natürliche Theologie ist lange vorher schon auf der Strecke geblieben. Aber ist sie selber auch verschwunden, so ist doch ihr Platz nicht unbesetzt geblieben. Offenbar hat die alte theologia naturalis Fragen und Themen repräsentiert, die nicht mit ihrer historischen Gestalt dahingegangen sind, sondern sich in verwandelter Gestalt immer wieder melden. Dieser Sachverhalt scheint im Wesen der theologischen Aufgabe selber zu gründen. Die Offenbarungstheologie hat, so scheint es, auch nach dem Zusammenbruch der klassischen Metaphysik nicht darauf verzichten können, sich ihres Verhältnisses zum allgemeinen Wahrheitsbewußtsein zu vergewissern, weder bei Schleiermacher noch bei Ritschi noch bei Barth. Die sehr verschiedene Art und Weise dieser Vergewisserung steht sichtlich in einem Zusammenhang mit dem Wandel des allgemeinen Wahrheitsbewußtseins selbst. Es kann als anerkannt gelten, daß die alte natürliche Theologie unmittelbar wenig helfen kann bei der Erörterung der einschlägigen Fragen und Probleme, wie sie sich uns heute stellen. Sollte man ihr nicht das gönnen, was ihr längst zusteht: einen würdigen Platz in der Erinnerung und im Geisterreich der begriffenen Geschichte der Theologie?

2. Über den Begriff des Neuprotestantismus [1968]* I. Es gehört zur Signatur des neuzeitlichen Protestantismus, daß er begleitet wird von der Reflexion auf den eigenen geschichtlichen Standort, auf die eigene Epoche und die eigene Gegenwart, von der Besinnung auf die verwandelten und sich wandelnden Bedingungen christlichen Lebens und Denkens. Die historische und thematische Spannweite der in diesem Reflexionsprozeß hervorgetretenen Theorien der Neuzeit und des neuzeitlichen Christentums wird sichtbar, wenn man an einige der Begriffe und Formulierungen erinnert, die als terminologische Fixierung bzw. als zum Schlagwort erstarrte Abbreviatur solcher Theorien angesprochen werden können. Dazu gehören Termini, die mit deskriptiv-diagnostischem Anspruch auftretend zu einer Verlustrechnung anleiten, aus der sich dann Konzepte sei es des Widerstandes sei es der Wende entwickeln lassen. Als Beispiele seien genannt „Verweltlichung", „Entkirchlichung", „nachchristliches Zeitalter", „Säkularisierung". Dazu gehören vor allem Leitbegriffe solcher theologischen Entwürfe, die sich positiv auf spezifische Bedingungen des neuzeitlichen Christentums berufen. Beispiele aus verschiedenen Phasen der neueren Theologiegeschichte sind etwa „Perfektibilität des Christentums", „Religion der Mündigen", „undogmatisches Christentum", „Entmythologisierung". In die Reihe dieser Formulierungen, die ebenso der Erweiterung fähig wie der Differenzierung bedürftig wäre, gehört dann zweifellos auch der Begriff des Neuprotestantismus hinein. Seine Funktion und Stellung ist freilich nicht leicht zu bestimmen. Er kann zunächst angesehen werden als anspruchsvoller Ausdruck eines im neuzeitlichen Protestantismus ausgebildeten epochalen Bewußtseins, als charakteristisches Resultat eines Prozesses, in dem der neuzeitliche Protestantismus sich in seiner Eigenart begreift. Doch wird man sofort hinzufügen müssen, daß er — * Vgl. Bibliographie Nr. 20

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

für sich genommen — bescheiden auftritt, nicht als diagnostisch-programmatische Deuteformel, sondern als eine Benennung, die offen ist für unterschiedliche Definitionen, ja für gegensätzliche Qualifikationen von „neu" und „alt". Insofern stellt er sich eher [2] als relativ neutrale historische Kategorie dar, als Bezeichnung für „die Gesamtheit der Erscheinungsformen des reformatorischen Christentums, die von der Aufklärung und den ihr verwandten Strömungen der Neuzeit entscheidend geprägt sind und sich etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts entfaltet haben" 1 . Mit der neutralen Verwendung verbinden sich Probleme historischer Begriffsbildung. Man kann fragen, ob die vorausgesetzte Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus als Gesamtschema für die Geschichte des Protestantismus tauglich und angemessen ist. Andere Fragen können sich auf Abgrenzung und Eindeutigkeit des als „Neuprotestantismus" Bezeichneten richten. Erwägungen dieser Art können in einen methodisch bewußten Gebrauch des Begriffs selber eingehen2. Im übrigen ist die neutrale historiographische Verwendung des Begriffs in der zeitgenössischen Theologie bekanntlich nicht die einzige und nicht einmal die charakteristische. Vielmehr ist in ihr eine förmliche Distanzierungsleistung mitgesetzt, die Distanzierung von der Macht des üblichen Gebrauchs, der „Neuprotestantismus" als Vokabel der Polemik handhabt. Die Unterschiedlichkeit der Verwendung, die in ihr sich abzeichnende Unsicherheit der Bedeutung von „Neuprotestantismus" ist Anlaß der folgenden Erwägungen. Ihr Interesse gilt den theologischen Bezügen, in denen der Begriff aufgetreten ist und auftritt, den Fragestellungen, die sich mit ihm verbunden haben und verbinden. Das Ergebnis, das von Erwägungen dieser Art erwartet werden kann, ist zunächst das eines Beitrags zur Bewußtheit des theologischen Sprachgebrauchs. Einen Beitrag zur Theorie des neuzeitlichen Christentums können sie insofern leisten, als für diese die Sprache der Theologie ebenso ein Themenfeld wie ein Instrumentarium bereitstellt.

1 2

Hans Hohlwein in dem Artikel „Neuprotestantismus" RGG·' IV, 1430 f. Horst Stephan hat in seiner Studie „Die heutigen Auffassungen vom Neuprotestantismus" (1911) die Ausbildung einer Gesamtauffassung des neuzeitlichen Protestantismus in der Kirchengeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts untersucht und die Probleme einer solchen Gesamtauffassung erörtert. Stephan diskutiert vor allem die Auffassungen von Richard Rothe, Karl Seil und Ernst Troeltsch.

2. Über den Begriff des Neuprotestantismus [1968]

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II. Die geläufige Auskunft über die Herkunft des Ausdrucks „Neuprotestantismus" lautet, daß er von Ernst Troeltsch geprägt worden sei3. Sie kann insofern bestätigt werden, als es seine Fassung der Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus gewesen ist, die eine breite historisch-theologische Diskussion ausgelöst und so die Begriffe dem [3] allgemeinen Bewußtsein eingeprägt hat. Die Ausdrücke „altprotestantisch" und „neuprotestantisch" hat er allerdings im theologischen Vokabular seiner Zeit bereits vorgefunden. Das ursprünglich selbständig auftretende „altprotestantisch" begegnet schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts in der theologischen Literatur nicht selten als Glied eines theologie-, zumeist dogmatikgeschichtlichen Ordnungsschemas. „Neuprotestantisch" ist ihm dann sekundär nachgebildet worden. Den üblichen Gebrauch von „altprotestantisch" kann man etwa ablesen an Karl von Hases bekanntem Kompendium „Hutterus Redivivus oder Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche", das als „Dogmatisches Repertorium für Studierende" über Generationen hinweg Studenten und Kandidaten der Theologie begleitet hat (1. Auflage 1828, 12. Auflage 1883; hier zitiert nach der 6. Auflage 1845). Hase gibt in den Prolegomena u. a. einen Abriß der Geschichte der Dogmatik, der dann — nach einer Skizze der Theologie der Reformatoren (§ 25) — System und Geschichte der Orthodoxie vorstellt unter der Überschrift „Altprotestantische Dogmatik" (§ 26). Von der altprotestantischen wird im weiteren jedoch nicht eine als solche bezeichnete neuprotestantische Dogmatik unterschieden. Vielmehr behandeln die Abschnitte des folgenden Paragraphen, der überschrieben ist „Entwicklung des Protestantismus", in knappen Charakteristiken nacheinander „neukirchliche Dogmatiker", „Rationalisten", spekulative Philosophen, „kirchlich-philosophische Dogmatiker" und Erneuerer des „altkirchlichen Supernaturalismus". Der Ausdruck „altprotestantisch" ist hier also der orthodoxen Anfangsgestalt protestantischer Lehre zugeordnet, deren Folgegestalten ihrerseits nicht unter einen gemeinsamen Titel treten. Das bringt im Rahmen eines theologiegeschichtlichen Schemas zutreffend den Sachverhalt zum Ausdruck, daß es zwar möglich ist, von der altprotestantischen Dogmatik als von einer relativ einheitlichen Gestaltung zu handeln, daß dagegen die nachorthodoxe Dogmatik sich in der Vielfalt ihrer Gestaltungen einer einheitlichen Benennung und Charakteristik entzieht. So z. B. RGG 1 IV, 1431.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Eine Unterscheidung von „alt" und „neu" ist freilich auch in Hases Schema eingegangen, die von „altkirchlichen" und „neukirchlichen" Dogmatikern. „Altkirchlich" wird von ihm — anders als im heutigen Sprachgebrauch — gleichsinnig mit altprotestantisch verwendet. Es kennzeichnet die Orthodoxie als Entfaltung und Verteidigung der in den Bekenntnissen fixierten Kirchenlehre. Von ihr wird als „neukirchlich" unterschieden die primär auf die Lehre der Bibel sich berufende, den Rahmen der Kirchenlehre jedoch formell respektierende Aufklärungstheologie, die sog. Neologie. Die an der Stellung zur Kirchenlehre [4] orientierte Unterscheidung hat also einen eng begrenzten Geltungsbereich 4 . Im gleichen Zusammenhang, im Rahmen eines theologiegeschichtlichen Ordnungsschemas, findet sich neben dem geläufigen Ausdruck „altprotestantisch" gelegentlich auch die Sekundärbildung „neuprotestantisch" gebraucht bei Otto Pfleiderer. Sein „Grundriß der christlichen Glaubens- und Sittenlehre" (1. Auflage 1880, 6. Auflage 1898; hier zitiert nach der 3. Auflage 1886), der in der materialen Dogmatik im wesentlichen dem orthodoxen Lehraufriß folgt, gibt bei jedem Lehrstück eine geschichtlich differenzierte Darstellung, und zwar nach dem Schema: Biblische Lehre, Kirchliche Lehre, Resultat. Dieses Grundschema erfährt je nach der Thematik eine unterschiedliche Auffächerung. Die Darstellung des Biblischen gliedert sich durchweg in alt- und neutestamentliche Lehre, die des Kirchlichen in katholische und protestantische Lehre; in beiden Fällen erfolgen zumeist noch weitere Aufgliederungen. Auf die Darstellung der protestantischen Kirchenlehre, der „altprotestantischen Lehre", folgt — vor der als „Resultat" eingeführten abschließenden eigenen Stellungnahme — regelmäßig ein Abschnitt „Neuere Theorien". In diesem Zusammenhang tritt vereinzelt auch der Ausdruck „neuprotestantisch" auf, z. B. in der Überschrift des § 127: „Neuprotestantische Umbildung des (sc. christologischen) Dogmas". Das vereinzelte Vorkommen des Ausdrucks bei Pfleiderer verdient gleichwohl Beachtung angesichts der Bezüge, in denen er steht. Er zeigt sich nämlich als Element einer förmlichen Theorie des Protestantismus, die den Richtungssinn seiner Wandlungsgeschichte zu bestimmen und die in ihr hervorgetretenen allgemeinen Bedingungen protestantischen, neuprotestantischen Denkens zu erfassen sucht. Pfleiderers historisch4

Hases Abkürzungsverzeichnis gibt für AKD (altkirchliche Dogmatiker) und NKD (neukirchliche Dogmatiker) den Oberbegriff KD (kirchliche Dogmatiker) an, unter den jedoch PD (kirchlich-philosophische Dogmatiker) nicht mit fallen.

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kritische Dogmatik handelt im Rahmen der Prinzipienlehre in drei Paragraphen über den Protestantismus: zunächst über den Protestantismus als Prinzip und als kirchliche Neubildung (§ 36), sodann über lutherische und reformierte Ausprägung des Protestantismus (§ 37), schließlich über „Die Entwicklung des Protestantismus" (§ 38). Die Entwicklung des Protestantismus sieht Pfleiderer dadurch bestimmt, daß das „protestantische Prinzip", das in der Auseinandersetzung mit dem Katholizismus im „Grundsatz von der Rechtfertigung allein durch Gottes Gnade und durch den Glauben des Menschen" formuliert worden ist, in der kirchlichen Neubildung des 16. Jahrhunderts keine reine Durchführung gefunden hat. Das protestantische Prinzip — von den [5] „kleineren protestantischen Gemeinschaften" anfangs vergeblich vertreten — hat sich dann in den protestantischen Kirchen erhoben im Pietismus, „als Reaktion der praktischen evangelischen Frömmigkeit und Sittlichkeit gegen die Erstarrung des kirchlichen Orthodoxismus", und in der Aufklärung, „als Reaktion des theoretischen protestantischen Prinzips der autonomen Kritik gegenüber der dogmatischen Tradition". Die Sätze, mit denen Pfleiderer den Paragraphen schließt, formulieren sein Verständnis des „neueren Protestantismus": „Während jede dieser beiden Richtungen (sc. Pietismus und Rationalismus) für sich allein zu einseitig war, um eine positiv fruchtbare Fortbildung der protestantischen Theologie zu bewirken, ist dagegen aus ihrer inneren Verbindung seit Ende des 18. Jahrhunderts der neuere Protestantismus hervorgegangen, welcher seinen lehrhaften Ausdruck in der von Kant, Herder und Schleiermacher ausgegangenen evangelisch-protestantischen Theologie und seinen kirchenpolitischen Ausdruck in der Union der protestantischen Kirchen gefunden hat. In der Ausbildung dieses neueren Protestantismus in Theologie und kirchlichem Leben findet die unvollendet gebliebene Reformation des 16. Jahrhunderts ihre durch die Bedürfnisse der Gegenwart geforderte Fortsetzung"5. Pfleiderers Ausführungen zeigen, daß er die Unterscheidung von „altprotestantisch" und „neuprotestantisch" nicht als Gesamtschema für die Geschichte des Protestantismus gebraucht. In dem von ihm vorausgesetzten Aufriß nehmen vielmehr Pietismus und Aufklärung eine Zwischenstellung ein zwischen Reformation und Altprotestantismus einerseits, neuerem Protestantismus andererseits. „Neuprotestantisch" heißt bei ihm nicht die nachorthodoxe Theologie im ganzen, sondern erst eine bestimmte Entwicklung der nachpietistischen und nachrationalistischen 5

A. a. O. S. 42.

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Theologie, in der Fragestellungen ausgebildet worden sind, denen maßgebende und wegweisende Bedeutung zugemessen wird. Der Ausdruck „neuprotestantisch" und die entsprechende substantivische Wendung „neuerer Protestantismus" ist Ausdruck eines geschichtlichen Epochenbewußteins. Er tritt auf als Titel einer Gestalt des Protestantismus, die sich erstens von vorhergegangenen Gestalten ausdrücklich unterschieden weiß, die sich zweitens gerade in dieser Unterschiedenheit als Vollendung der Reformation begreift, die sich drittens für das ihre Eigenart ausmachende „Neue" bereits auf eine Geschichte berufen kann, was nicht zuletzt darin sichtbar wird, daß die Reihe der Klassiker des Protestantismus über die Reformatoren hinaus eine „neuprotestantische" Erweiterung erfährt. [6] Pfleiderers Ausführungen über Geschichte und Wesen des Protestantismus sind noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. In ihnen treten Gesichtspunkte heraus, die unter den von ihm als „neuprotestantisch" bezeichneten Voraussetzungen allgemeine Geltung für die Theorie des Protestantismus beanspruchen können. Fundierende Bedeutung hat dabei die Unterscheidung von protestantischem Prinzip und geschichtlichem Protestantismus, die — indem sie die Identifikation des Protestantismus mit einer einzelnen Phase seiner Geschichte oder einer einzelnen Gestalt seiner Verwirklichung verhindert — in dreifacher Hinsicht wichtig wird. Einmal: die Unterscheidung ermöglicht es dem Protestantismus, sich in den Wandlungen seiner geschichtlichen Bedingungen eines Zusammenhangs mit der Reformation zu vergewissern, der nicht einfach der des kirchlich-dogmatischen Systems ist. Sodann: die Unterscheidung erschließt ein theologisches Verständnis der Geschichte des Protestantismus, das auch die Bewegungen zu umfassen vermag, in denen die Kritik des kirchlich-dogmatischen Systems vollzogen worden ist, das darüber hinaus auch die „kleineren protestantischen Gemeinschaften" einbeziehen kann. Schließlich: im Lichte dieser Unterscheidung kann die faktisch eingetretene Veränderung im Verhältnis von lutherischem und reformiertem Protestantismus, die ja nicht auf die von Pfleiderer gefeierte Union begrenzt ist, von der Theologie unbefangen wahrgenommen und anerkannt werden6. Diese allgemeinen Gesichtspunkte können als Voraussetzung auch der Fragestellungen angesehen werden, die Ernst Troeltsch in seinen Arbei6

Der Auffassung Pfleiderers nahe benachbart sind die ausführlichen Darlegungen zum Thema Protestantismus bei Alexander Schweizer: Die Christliche Glaubenslehre nach protestantischen Grundsätzen, 1863/72, vgl. Bd. I S§2-10, 37-55.

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ten zur Geschichte des Protestantismus entwickelt hat. Die Unterscheidung von „altprotestantisch" und „neuprotestantisch" hat bei ihm allerdings eine charakteristische Veränderung erfahren.

III. Troeltsch hat den Begriff des Neuprotestantismus in der Theologie dadurch eingebürgert, daß er die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus zum Grundschema der Geschichte des Protestantismus erhoben hat, sowohl in seiner großen Darstellung „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit" (erschienen in dem Sammelwerk „Die Kultur der Gegenwart", hg. von Paul Hinneberg, Teil I, Abt. IV, 1; 1. Auflage 1906, 2. Auflage 1909) wie in seiner Untersuchung über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Ent-[7]stehung der modernen Welt" (1906, 5. Auflage 1928)7. Seine Fassung dieser Unterscheidung ist eng verbunden mit seiner bekannten These über die Epochengrenze zwischen Mittelalter und Neuzeit, von der seine Zeitgenossen sonderlich provoziert worden sind. Im Widerspruch zur üblichen Sicht, im Widerspruch nicht zuletzt zu der der protestantischen Theologie geläufigen Betrachtung, für die Reformation und Renaissance den Beginn der Neuzeit bezeichneten, hat Troeltsch die Reformation und mit ihr das Zeitalter der protestantischen Orthodoxie entschlossen dem Mittelalter zugeordnet. Der „grundlegende Satz, der Voraussetzung für jedes geschichtliche Verständnis der Reformation ist", lautet nach ihm: „Er (sc. der Protestantismus) ist zunächst in seinen wesentlichen Grundzügen und Ausprägungen eine Umformung der mittelalterlichen Idee, und das Unmittelalterliche, Moderne, das in ihm unleugbar enthalten ist, kommt als Modernes erst in Betracht, nachdem diese erste und klassische Form des Protestantismus zerbrochen und zerfallen war" 8 . Die Verschiebung der Epochengrenze, die Einordnung der Reformation in das Mittelalter, die Betonung von Kontinuitätsmomenten zwischen mittelalterlichem Katholizismus und Reformation, ferner die Beachtung von Humanismus, Täufertum und Spiritualismus als Wurzeln der Moderne — das sind dann Hauptthemen der Debatte gewesen, die Troeltsch unter Kirchen- und Profanhisto7

8

Eine knappe Zusammenfassung seiner Thesen bietet der Artikel „Protestantismus im Verhältnis zur Kultur" RGG 1 IV, 1912-1920. Protestantisches Christentum, 1906, S. 257.

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rikern ausgelöst hat 9 . Seine Thesen resultieren aus einer Fragestellung, die er selbst als Überschreitung der herrschenden geistes- bzw. theologiegeschichtlichen Betrachtung verstanden und mit dem Terminus „Kulturgeschichte" gekennzeichnet hat. In ihrem Zusammenhang erfahren die Epochenbegriffe Mittelalter und Neuzeit eine neue, eine inhaltliche Definition. Sie werden zu Bezeichnungen für „Kulturformen". Das sog. Mittelalter kann zusammenfassend beschrieben werden als „die auf dem Supranaturalismus der Erlösung und Kirchenstiftung erbaute, kirchlich geleitete Kultur" 10 . In der inhaltlichen Bestimmung der Neuzeit ist Troeltsch zurückhaltend gewesen. Seine dem Protestantismus gewidmeten Arbeiten heben [8] die Schwierigkeit hervor, das Einheitgebende der Moderne zu erfassen, das leichter negativ als positiv angegeben werden könne. Eine Formulierung aus dem Jahre 1903, die also vor den beiden großen Protestantismusdarstellungen liegt, charakterisiert die Neuzeit inhaltlich als „die Zeit einer prinzipiell kirchenfreien, auf dem Nationalstaat und auf internationaler Vereinigung beruhenden Kultur der freien Ausgestaltung der humanen Lebenszwecke"11. Dieser inhaltlichen Definition der Epochenbegriffe Mittelalter und Neuzeit hat Troeltsch die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus zugeordnet und dienstbar gemacht. Sie wird zum allgemeinen Schema der Geschichte des Protestantismus, die sie in eine mittelalterliche und eine moderne Periode gliedert. Altprotestantismus wird zur Bezeichnung seiner mittelalterlichen Periode landeskirchlicher Autoritätskultur, Neuprotestantismus zum zusammenfassenden Titel seiner Gestaltungen unter den Bedingungen der Moderne. In dieser Fassung behält dann der Begriff des Altprotestantismus in etwa den historischen Umfang, den er bereits als theologiegeschichtliche Kategorie hatte. Hingegen erfährt der Begriff des Neuprotestantismus eine Ausweitung, die ihn der Eindeutigkeit beraubt. Er umfaßt in Troeltschs Definition nun auch die Aufklärung und ebenso den Pietismus. Er bezeichnet nicht mehr eine Entwicklung, die ein „neuprotestantisches" Epochenbewußtsein begründen 9

10 11

Die kirchen- und profanhistorische Diskussion seiner Thesen ist überblicksweise skizziert in dem Buch von Kurt Leese: Die Religion des protestantischen Menschen (1938), 2. Aufl. 1948, S. 80-107. Eine kritische Erörterung von Troeltschs Verständnis der Reformation, in der auch Wandlungen seiner Auffassung, die ihr zuteil gewordene Kritik und Nachwirkungen in der dialektischen Theologie berücksichtigt werden, gibt Hermann Fischer: Luther und seine Reformation in der Sicht Ernst Troeltschs, NZSThRPh 5. Bd., 1963, S. 132 ff. Protestantisches Christentum, 1906, S. 254. Gesammelte Schriften Bd. IV (1925), S. 835.

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könnte. Er bezeichnet eher Gegensätze und Spannungen. Troeltschs Fassung der Unterscheidung wäre mißverstanden, wenn nicht die Ungleichartigkeit ihrer Glieder beachtet würde. Von dem in sich relativ einheitlichen und geschlossenen Altprotestantismus, genauer: von den beiden Altprotestantismen Luthertum und Calvinismus, hebt der Begriff des Neuprotestantismus eine Vielzahl von Gestalten ab, von denen — wie von der Neuzeit überhaupt — gilt, daß ihr Gemeinsames leichter negativ als positiv angegeben werden kann. Die Unterscheidung hat wesentlich die Funktion, den tiefen Einschnitt in der Geschichte des Protestantismus zu markieren, den Abstand aller seiner — in sich so unterschiedlichen — modernen Gestaltungen von der Anfangsperiode hervorzuheben. Troeltschs Fassung der Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus ist Indiz eines reflektierten historischen Bewußtseins, das die Frage nach Wesen und Kontinuität des Protestantismus zwar nicht unter grundsätzlich veränderte, wohl aber unter erschwerte Bedingungen treten läßt. Die allseitige Erörterung dieser Erschwerung wird man als den eigentlichen Beitrag Troeltschs zur Theorie des Protestantismus ansehen können. Die Skizze der Fragestellungen, die sich bei ihm mit [9] den Begriffen Alt- und Neuprotestantismus verbinden, wäre allerdings unvollständig, wenn nicht zumindest auf zwei Sachverhalte noch hingewiesen würde. Einmal ist anzumerken, daß Troeltschs Verständnis der Reformation durch eine eigentümliche Doppelung der Hinsicht gekennzeichnet ist. Neben die zunächst leitende Betrachtung, welche die Kontinuität mittelalterlicher Bedingungen und Probleme hervorhebt, tritt — in charakteristischer Scheidung und Teilung — regelmäßig eine zweite, die dem „Neuen", „Unmittelalterlichen" der Reformation zugewandt ist. In seiner Darstellung der Geschichte des Protestantismus hat er — das reformatorische Verständnis von Gnade und Glaube auslegend — das Neue der Reformation, das freilich erst in der Lösung von der supranaturalen Kirchen-, Autoritäts- und Kulturidee als prinzipiell Neues wirksam geworden sei, folgendermaßen zusammengefaßt: „Es ist die Innerlichkeit, Persönlichkeit und Geistigkeit der Religion; die Autonomie, Freiheit und Ganzheit der aus der Hingabe an Gott quellenden Sittlichkeit; es ist die Immanenz und Gegenwart Gottes in seiner Welt und die Weihung alles Natürlichen als eines gottgewollten Bestandteils seiner Schöpfung; die Überwindung des bösen Willens rein durch die Erkenntnis des göttlichen Heiligkeits- und Gnadenwillens" 12 . Troeltschs Formulierungen sollen 12

Protestantisches Christentum, 1906, S. 268. — An anderer Stelle hat Troeltsch die in die Moderne weisenden Grundgedanken der Reformation in den Stichworten „geistige

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hier nicht im einzelnen diskutiert werden. Seine Hervorhebung reformatorischer Grundgedanken, die dann Momente der Kontinuität zwischen Alt- und Neuprotestantismus bezeichnen, wird man als eine Gestalt der Unterscheidung von protestantischem Prinzip und geschichtlichem Protestantismus ansehen können. Wenn er den Rekurs auf solche Grundgedanken ausdrücklich als Abstraktion kennzeichnet, die von ihrem geschichtlichen Kontext absieht, so wird man hinzufügen können, daß unter den Bedingungen des neuzeitlichen Protestantismus jede Bezugnahme auf die Reformation, auf die reformatorische Theologie eine derartige Abstraktions- und Interpretationsleistung vollbringt. Noch ein anderer Sachverhalt verdient Beachtung. Troeltschs Darstellung des modernen Protestantismus läßt darauf aufmerksam werden, daß dieser in seinem „konkreten Gesamtleben" sich mehrschichtig darstellt. „Man wird in ihm drei Hauptbestandteile unterscheiden dürfen, erstlich den Protestantismus als kirchenfreie religiöse Weltanschauung und Ethik, die, mit dem Christentum eng zusammenhängend, sich doch völlig frei beweglich in einem großen Teil der modernen Literatur und Kunst, Humanität und Staatsauffassung entfaltet hat; zweitens das eigentliche Kirchentum, das sich dogmatisch zweifellos überall wieder verengt hat, aber eben auch der dogmatischen Einheit bedarf und diese aus der modernen Ideenwelt nur sehr schwer schöpfen [10] kann, das aber in Liebestätigkeit und Volksbearbeitung eine außerordentliche Energie entfaltet; und drittens die Theologie des Protestantismus, die von der Kirche und ihren Maßstäben sich überall mehr oder minder gelöst und eine ganz außerordentliche Arbeit zur Lösung des modernen religiösen Problems aufgewendet hat, die aber andererseits doch mit der prinzipiell kirchenfreien Literatur nicht identisch ist und nicht identisch sein kann, da sie auf die Pflege der Religion als Gemeinschaft nicht verzichtet und daher sogar bei allem Radikalismus sich überall kirchliche Zwecke letztlich stecken muß"13. Die Unterscheidung und Verhältnisbestimmung von kirchenfreier protestantischer Weltanschauung und Ethik, protestantischem Kirchentum und protestantischer Theologie — von Troeltsch in der Form anspruchslos-lockerer Deskription entwickelt — nimmt eine Thematik auf, die das protestantische Denken seit der Aufklärung beschäftigt hat 14 . Sie bezeichnet Sachverhalte und Pro-

13 14

Glaubensreligion", „religiöser Individualismus", „Gesinnungsethik", „Weltoffenheit" zusammenfassen können, vgl. Gesammelte Schriften Bd. IV (1925), S. 217 ff. Protestantisches Christentum, 1906, S. 433 f. Diese Thematik und die Variationen, die sie zwischen Aufklärung und dialektischer Theologie erfahren hat, sind Gegenstand der historisch-systematischen Analysen von

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bleme, die für den neuzeitlichen Protestantismus übergreifende Bedeutung haben.

IV. Troeltschs Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus ist Voraussetzung und Hintergrund der Umprägung, die den Begriff des Neuprotestantismus zum Instrument der Polemik gemacht hat. Im zeitgenössischen theologischen Vokabular hat die Etikettierung einer Konzeption als „neuprotestantisch" den Sinn einer dogmatischen Verurteilung gewonnen, die allenfalls zu verwunderter Mißbilligung gemildert wird durch den Nebensinn, der „Neuprotestantismus" als Namen einer grundsätzlich abgeschlossenen und überwundenen Epoche verstehen läßt. Eine neuere Überblicksdarstellung der Geschichte der protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert stellt den Begriff mit folgender Erläuterung vor: „Neuprotestantismus oder Liberale Theologie, im Unterschied zum Altprotestantismus der Reformation. Den Begriff prägte Troeltsch. Man war hier der Ansicht, das reformatorische Ver-[ll]ständnis der biblischen Botschaft in der Moderne nicht mehr aufrechterhalten zu können. Der Neuprotestantismus versuchte eine Versöhnung zwischen modernem Denken und Christentum, indem er sich auf ein dem Menschen innewohnendes Gottesbewußtsein und eine ihm natürliche Sittlichkeit zurückzog. Gegen ihn wandte sich nach dem 1. Weltkrieg vor allem die dialektische Theologie"15. Scheint es zunächst ein recht loses Gefüge von Assoziationen, das hier mit dem Begriff verbunden wird, so entbehrt es doch nicht des Charakteristischen, das man von einem Beleg erwarten darf. Charakteristisch für den polemischen Gebrauch des Begriffs ist seine mangelnde Bestimmtheit, die ihn zwischen zwei Bedeutungen schwanken läßt. Einerseits erscheint er als Titel einer bestimmten theologischen Gruppierung und Richtung, der liberalen Theologie, deren Eigen- und Unart dann dadurch gekennzeichnet wird, daß ihr der „Altprotestantismus der Reformation", „das reformatorische Verständnis der biblischen Botschaft" gegenübertritt. Andererseits läßt das Nebeneinander assoziationskräftiger Stichwörter, die zur Erläuterung des Begriffs aufgeboten werden — Versöhnung zwischen modernem Denken und Christentum,

15

Trutz Rendtorff: Kirche und Theologie. Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie, 1966. Eberhard Hübner, Evangelische Theologie in unserer Zeit, 1966, S. 455.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Gottesbewußtsein, natürliche Sittlichkeit — ihn als Titel nicht so sehr einer einzelnen theologischen Richtung als vielmehr der Gesamtgeschichte christlichen Denkens in der Neuzeit erscheinen. Dieses Schweben der Bedeutung wird — auch wenn es absichtslos zustande gekommen sein sollte — nicht als zufällig zu beurteilen sein. Es bewahrt die Erinnerung an die Distanzierung der frühen dialektischen Theologie von ihrer theologischen Umwelt, deren Nebenergebnis u. a. die Qualifikation des Begriffs „Neuprotestantismus" zur polemischen Vokabel gewesen ist. Es konserviert zugleich den Anspruch epochalen Neubeginns, grundsätzlicher Abkehr von der neuzeitlichen Problemgeschichte der Theologie, der sich mit dieser Auseinandersetzung verbunden hat. In die Umbruchsprogrammatik der dialektischen Theologie hat Troeltschs nachdrückliche Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus als negative Voraussetzung eingehen können. In diesem Sinne hat sich besonders Friedrich Gegarten auf ihn berufen und im Blick auf seine Untersuchungen über die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt konstatiert: „So bringt gerade dieser, von der Erkenntnis des Gegensatzes des modernen Geistes zum Protestantismus der Reformatoren ausgehende Versuch, doch noch eine Kontinuität zwischen ihnen aufzuweisen, den Beweis, daß hier keine Kontinuität vorhanden ist. Denn der Neuprotestantismus, der über den Altprotestantismus hinweg — dessen radikaler Gegensatz zu dem [12] modernen Geist zugegeben wird — die Kontinuität mit dem Entscheidenden der Reformatoren herstellen soll, hat gerade mit den Reformatoren nichts mehr zu tun" 16 . Troeltschs differenzierter Analyse wird hier ein lapidares Resultat teils ab-, teils aufgenötigt. Die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus wird in Antithetik transponiert. Aus der Differenz wird ein Gegensatz, „der unüberbrückliche Gegensatz zwischen dem, was man Neuprotestantismus nennt, samt dem modernen Geist auf der einen Seite und den Reformatoren und ihrem Protestantismus auf der anderen Seite"17. Das Leistungsvermögen der Absage an die neuzeitliche Geschichte des Protestantismus wäre freilich überschätzt, wenn man von ihr die Beseitigung der in dieser Geschichte aufgetretenen Probleme erwarten wollte. Selbst wenn die Absage als Parole entschlossener Restauration verstan16

17

Nachwort zur Übersetzung von Luthers Schrift „De servo arbitrio", 1924; unter der Überschrift „Protestantismus und Wirklichkeit" wieder abgedruckt in dem Sammelband „Glaube und Wirklichkeit", 1928, S. 16. A. a. O. S. 25.

2. Über den Begriff des Neuprotestantismus [1968]

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den würde, als Programm der Rückwende zur integralen Gestalt des Anfangs, so bliebe die Imitation des Altprotestantismus doch immer nur Imitation. Daß sie im allgemeinen so nicht gemeint war, kann man freilich schon daraus ablesen, daß die kritisch-polemische Bezugnahme auf den Neuprotestantismus in der Regel keine Entsprechung findet in einer positiven auf den Altprotestantismus 18 . Als der „eigentliche" Protestantismus gilt nicht einfach der alte, der vormoderne, sondern „der Protestantismus der Reformatoren". Dem polemischen Sinn, den der Ausdruck „neuprotestantisch" bekommen hat, entspricht im zeitgenössischen Sprachgebrauch der Theologen positiv Stellung und Funktion des Ausdrucks „reformatorisch". Der Absage an den Neuprotestantismus korrespondiert die betonte Orientierung am Reformatorischen, will heißen: an der reformatorischen Theologie. Der Ausdruck „reformatorisch" hat dabei eine Wandlung seines Gehaltes und seiner Funktion erfahren, die nun ihrerseits höchst aufschlußreich ist. Er hat eine spezifische Bedeutung zuerst gewonnen im Zusammenhang einer Betrachtung, die auf Differenzen zwischen der Theologie der Reformatoren und der Lehrbildung der Orthodoxie [13] achten lehrte. In diesem Sinne gebraucht ihn z. B. das früher erwähnte Werk von Otto Pfleiderer, wenn es „Reformatorische Schrift- und Traditionslehre" (§ 43) und „Altprotestantisches Schriftdogma" (§ 44) getrennt darstellt. Mit dieser historischen Differenzierung zwischen reformatorischer und orthodoxer Lehre konnte sich dann unschwer das Interesse verbinden, Motive und Intentionen der Reformatoren hervorzuheben, die in der von ihnen eingeleiteten Entwicklung keine oder keine volle Erfüllung gefunden hatten. „Reformatorisch" ist dabei zunehmend aus einer historischen zu einer systematisch-theologischen Kategorie geworden, aus einer Bezeichnung der geschichtlich-konkreten Gestalt der Theologie Luthers, Zwingiis, Calvins zum Leitbegriff von Fragestellungen, die sich auf „Ansatz", „Zentrum", auf das „Eigentliche" richten 19 . ls

19

Darin unterscheiden sich die von der dialektischen Theologie formulierten Absageresolutionen von der Kritik am Neuprotestantismus, die vorher bereits Richard H. Grützmacher vorgetragen hatte. Grützmacher hat für die von ihm vertretene Position ausdrücklich „Altprotestantismus" als Selbstbezeichnung aufgenommen. Vgl. seine Aufsätze in der „Neuen kirchlichen Zeitschrift" (Jgg. 1915 bis 1919) und die Zusammenfassung in der Schrift „Altprotestantismus und Neuprotestantismus. Eine geistes- und theologiegeschichtliche Untersuchung", 1920. Die geschichtliche Erforschung der Reformation und der reformatorischen Theologie hat daraus — vor allem im Zusammenhang mit mehreren „Luther-Renaissancen" — wichtige Impulse ebenso wie charakteristische Überfremdungen empfangen.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Die Orientierung an der reformatorischen Theologie meint die Orientierung an einem Ursprung, der seinen Folgen prinzipiell überlegen bleibt. Sie resultiert in der Auszeichnung bestimmter Grundgedanken, denen für Gegenwart und Zukunft des Protestantismus wegweisende und verpflichtende Bedeutung zugemessen wird. Man wird sie infolgedessen kaum anders verstehen können, denn als eine Form der „neuprotestantischen" Unterscheidung von protestantischem Prinzip und geschichtlichem Protestantismus, der freilich, wo sie sich mit dem Anspruch prinzipieller Abkehr vom Neuprotestantismus verbindet, die eigenen Voraussetzungen unbewußt bleiben.

V. Die unterschiedlichen Fassungen und Akzentuierungen, die der Begriff des Neuprotestantismus gefunden hat, entziehen sich einem Resümee, das mit sprachreglerischem Anspruch auftreten könnte. Sie lassen jedoch Bedingungen des protestantischen Denkens hervortreten, die den wechselnden Sprachgewohnheiten vorausliegen und von ihnen nicht verändert, sondern allenfalls erhellt oder verdeckt werden. Das allgemeine Problem, das sich mit dem Begriff des Neuprotestantismus, mit der Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus verbindet, kann als das der Kontinuität des Protestantismus angesichts seiner neuzeitlichen Geschichte angegeben werden. Es dient der Verdeutlichung dieser Problematik, wenn man wahrnimmt, daß sie für den Katholizismus so nicht besteht. Er hat nicht von ungefähr die Wandlungen, die der Begriff der Neuzeit bezeichnet, lange Zeit [14] als ein Geschehen verstehen können, daß ihn selber wesentlich so betraf, daß es Kräfte des Widerstandes weckte. Seine Kontinuität kann — oder konnte — er in diesen Wandlungen garantiert wissen durch die kirchliche Autorität. Der Protestantismus ist in einer durchaus anderen Lage. Er hat nicht von ungefähr lange Zeit die Neuzeit als seine Zeit verstehen können. Er kann dort, wo er in diesem Selbstverständnis unsicher geworden ist, auf eine der katholischen vergleichbare institutionell-autoritäre Sicherung seiner Kontinuität nicht verweisen und er könnte sie nur um den Preis seiner Selbstaufgabe ausbilden. In dem Satz „Quod illis est Papa, nobis est Scriptura" kann er schwerlich die lösende Formel erblikken, da die Vermittlung von Schriftprinzip und historischer Bibelwissenschaft in einem geschichtlichen Verständnis der Schriftautorität ein

2. Über den Begriff des Neuprotestantismus [1968]

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Hauptthema seiner neuzeitlichen Geschichte bildet, in der ihm seine Kontinuität fragwürdig geworden ist. Dem Protestantismus ist die eigene Kontinuität als Problem aufgegeben. Er ist genötigt, sich des Richtungssinns seiner Geschichte und des Verhältnisses zu seiner Herkunft ausdrücklich zu vergewissern. In den Wandlungen und Krisen seiner neuzeitlichen Geschichte kann man zumindest das als ein Kontinuitätsmoment erkennen, daß in die Besinnung auf die eigene geschichtliche Situation jeweils eine Bestimmung des Verhältnisses zur Reformation eingeht20. Der Rückbezug auf die Reformation impliziert dabei unweigerlich eine Unterscheidung von der Art, wie sie in der Formel „Prinzip und Wirklichkeit" des Protestantismus ausgesprochen ist21. Der Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus wird man eine doppelte Funktion zubilligen können. Sie zeigt einmal die Verschärfung der Kontinuitätsproblematik an, die sich im Gefolge des historischen Bewußtseins einstellt. Sie läßt die Differenz des neueren Protestantismus zu seiner Anfangsgeschichte ausdrücklich thematisch werden und ist insofern geeignet, ungeschichtliche Kontinuitätspostulate und -ansprüche zu korrigieren. Sie leitet zum ändern den Protestantismus zur Besinnung auf die spezifischen Fragen und Möglichkeiten an, die sich ihm in seiner neuzeitlichen Geschichte erschlossen haben. In beiden Funktionen kann sie als Explikation des Satzes an-[15]gesehen werden, in dem Wolfgang Trillhaas das Problem des Protestantismus zusammengefaßt hat: „Der Protestantismus bezeichnet einen irreversiblen Prozeß, weil in ihm das Christentum in die moderne Welt eintritt" 22 .

20

21

22

Vgl. dazu die Untersuchungen von Walther von Loewenich, „Luther und der Neuprotestantismus", 1963, deren Thema so entfaltet wird, daß nicht nur Luther in der Sicht des Neuprotestantismus" (I. Kap.), sondern auch „Der Neuprotestantismus in der Sicht Luthers" (III. Kap.) dargestellt wird. Bekanntlich hat Paul Tillich die Unterscheidung von Prinzip und Wirklichkeit zum Mittelpunkt seiner Theorie des Protestantismus gemacht. Vgl. die beiden Sammelbände „Der Protestantismus. Prinzip und Wirklichkeit", 1950, und „Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung" (Ges. Werke Bd. VII), 1962. Wolfgang Trillhaas, Protestantisches Christentum, in: Die großen Religionen, hrsg. von Gerhard Günther, 1961 (S. 107-122), S. 120. - Vgl. auch in der „Dogmatik", 1962, den Abschnitt „Das protestantische Problem" S. 511—522.

3. Beobachtungen und Erwägungen zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie [1970]*1 1. Aspekte des Religionsbegriffs „Religion" gehört zu den Grund- und Leitbegriffen der neuzeitlichen protestantischen Theologie. Zwar reicht die Begriffsgeschichte von „religio", „Religion" weit zurück; und im Blick auf neuere dogmatisch bedingte Sprachregelungen mag es nützlich sein, daran zu erinnern, daß der Religionsbegriff von der reformatorischen und der altprotestantischen Theologie unbefangen rezipiert worden ist. Bekanntlich hat Zwingli die christliche Lehre unter der Überschrift „De vera et falsa religione" (1525) dargestellt, und die Dogmatiker der protestantischen Hoch- und Spätorthodoxie handeln nahezu regelmäßig in einem eigenen Locus „De religione". Doch erst in der neuzeitlichen Theologie ist „Religion" zum theologischen Grundbegriff geworden. Während die ältere theologische Begriffsgeschichte durch die Tradition konkurrierender Etymologien (Herleitung von religare oder religere) und durch die Unterscheidung von wahrer (dem Worte Gottes konformer) und falscher Religion gekennzeichnet ist, haben in der nachorthodoxen Theologie charakteristisch neue Fragestellungen im Religionsbegriff ihre Artikulation gefunden. Man muß freilich sofort hinzufügen, daß es sich nicht um eine Fragestellung handelt, nicht um ein Thema, das dann durch die Geschichte des neuzeitlichen Protestantismus verfolgt werden könnte. Es handelt Vgl. Bibliographie Nr. 22 Die hier vorgelegten Ausführungen bieten im wesentlichen den Text eines Vertrags, der im Rahmen eines interdisziplinären Kolloquiums „Der Religionsbegriff in der Theologie" an der Kieler Theologischen Fakultät im Wintersemester 1969/70 gehalten worden ist.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

sich vielmehr um ein ganzes Bündel, um eine Vielfalt von thematischen Bezügen, in denen der Religionsbegriff auftritt und in denen er recht unterschiedliche Akzente und Qualifikationen hat gewinnen können. Zur Illustration dieses Sachverhaltes genügen wenige Beispiele. Die Unterscheidung von natürlicher und positiver Reli-[10]gion, die von objektiver und subjektiver Religion, die Wendung „religiös-sittlich", das Pauschalthema „das Christentum und die Religionen", der Ausdruck „Religionsunterricht", die Rede von religionsgeschichtlichen Analogien, die wissenschaftssystematischen Termini Religionsgeschichte, -psychologic, -Soziologie — man braucht nur diese Auswahl von Begriffen, Formeln, Schemata ins Auge zu fassen, um einen Eindruck von der Wandelbarkeit, Vieldeutigkeit, ja Diffusität des Begriffs zu bekommen, durch den sie assoziativ zusammengeschlossen werden. Der Versuch, solcher Vielfalt mit definitorischer Entschlossenheit zu begegnen, kann Gewaltsamkeiten nicht vermeiden. Dieser Sachverhalt begründet eine eigene Problematik für einschlägige wissenschaftliche Disziplinen, sofern sie ihrer hergebrachten Bezeichnung die Anleitung entnehmen, ihr wissenschaftliches Selbstverständnis durch Definition des Religionsbegriffs zu klären. Für die Religionssoziologie hat das Joachim Matthes ausführlich diskutiert, dessen zweibändige Einführung in ihrem ersten Bande geleitet ist von „einer Rückfrage an das Verständnis von Religion, dem sich die bisherige Problemgeschichte der Religionssoziologie ... verpflichtet gefühlt hat"2. Eine analoge Schwierigkeit, wie Matthes sie im Blick auf die Religionssoziologie erörtert hat, besteht für die Religionswissenschaft in allen ihren Zweigen. Garsten Colpe hat jüngst — unter Hinweis auf die Zusammenstellung von nicht weniger als 48 Definitionen von „Religion" bei J. H. Leuba: „The Psychological Origin and the Nature of Religion" (London 1921) — dafür plädiert, auf eine positive Definition überhaupt zu verzichten zugunsten einer „negativen Formaldefinition", die er folgendermaßen formuliert hat: „Religion sei die Qualifikation einer lebenswichtigen Überzeugung, deren Begründung, Gehalt oder Intention mit den innerhalb unserer Anschauungsformen von Raum und Zeit gültigen Vorstellungen und mit dem Denken in den dazugehörigen Kategorien weder bewiesen, noch widerlegt werden kann." 3 2

3

J. Matthes, Einführung in die Religionssoziologie, I Religion und Gesellschaft, II Kirche und Gesellschaft (rde 279/280, 312/313), 1967/69; I, 8. Vgl. seinen Aufsatz „Mythische und religiöse Aussage außerhalb und innerhalb des Christentums" in dem — W. Trillhaas zum 65. Geburtstag gewidmeten — Sammelband „Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums", hrsg. von H.-J. Birkner und D. Rössler, 1969, (S. 16-36), 19.

3. Zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie [1970]

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Es liegt auf der Hand, daß auf diesem Wege ein Gewinn an Allgemeinheit erlangt wird, der freilich einen spezifischen Verlust an Leistungsmöglichkeiten im Gefolge hat. Die hier anzustellenden Beobachtungen und Erwägungen zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie lassen die erwähnten definitorischen Schwierigkeiten in der Weise auf sich beruhen, daß sie dieselben als gegeben hinnehmen. Sie zielen nicht auf [11] eine vergleichende Sammlung von Definitionen, auch nicht auf den Versuch einer Überholung bzw. — was im vorliegenden Falle wohl dasselbe sein dürfte — Vermehrung des Definitionspluralismus, sondern auf die Erfassung einiger bedeutsamer Fragestellungen, die im Religionsbegriff ihre Artikulation gefunden haben. Sie begrenzen sich dabei — unter ausdrücklichem Verzicht auf lexikalische Vollständigkeitsideale — auf charakteristische Weisen des Gebrauchs von „Religion", die ihre Dauerhaftigkeit dadurch bekunden, daß sie auch den gegenwärtigen theologischen Sprachgebrauch — und sei es in der Weise der potentiellen Nuance — mitbestimmen. Direktes Thema ist dabei immer der Religionsbegriff und die Weise seiner Handhabung in der Theologie; die durch ihn bezeichneten Sachverhalte kommen nur indirekt zur Sprache.

2. „Religion" als Leitbegriff undogmatischer Definition des Christentums In der neuzeitlichen protestantischen Theologie hat der vom philosophisch-theologischen Vokabular vorgegebene Religionsbegriff eine spezifische Bedeutung und Funktion zunächst gewonnen im Rahmen der Unterscheidung und Konfrontation von Religion einerseits, Dogma, Theologie, Lehre andererseits. „Religion" meint in diesem Bezugsrahmen die von Dogma, Theologie, Lehre zu unterscheidende Religion. Einen schönen Beleg für diesen Gebrauch bietet das Vorwort von Herders Schrift „Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen" (1798), das mit folgenden Sätzen einsetzt: „Eine Schrift, die von Religion handelt, soll mit Religion, d. i. gewissenhaft geschrieben sein, und wünscht auch also gelesen zu werden. Warum sollte sie dies nicht hoffen dürfen? Religion spricht das menschliche Gemüt an; sie redet zur parteilosen Überzeugung. In allen Ständen und Klassen der Gesellschaft darf der Mensch nur Mensch sein, um Religion zu erkennen und zu üben. In alle Neigungen und Triebe des Menschen greift sie, um solche mit sich zu harmonisieren und sie auf die rechte Bahn zu führen. Wenn Religion sich von

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Lehrmeinungen scheidet, so läßt sie jeder ihren Platz; nur sie will nicht Lehrmeinung sein. Lehrmeinungen trennen und erbittern; Religion vereinet: denn in aller Menschen Herzen ist sie nur Eine. Sollte also in dieser Schrift gegen manche Lehrmeinungen zu scharf geredet sein: so geschah dies nur sofern, als diese Lehrmeinungen selbst Religion werden oder Religion verdrängen wollten, indem insonderheit junge Lehrer der Religion, die nicht wissen, was rechts und links ist, sie für Religion ansehen und dem Volk aufdringen zu müssen glauben." [12] Der begriffliche Vollzug der von Herder 4 schon vorausgesetzten und plerophorisch ausgeführten Unterscheidung von Religion und Theologie hat sich in der theologiegeschichtlichen Erinnerung verbunden mit dem Namen des führenden Vertreters der deutschen Aufklärungstheologie, Johann Salomo Semler5. Während für die altprotestantische Theologie Christsein grundsätzlich definiert war durch Teilhabe an der rechten, in der Bibel geoffenbarten Lehre, an der theologia vera, hat Semler Religion und Theologie in der Weise unterschieden, daß es die Teilhabe an der christlichen Religion ist, die den Christen ausmacht, während Theologie bei ihm zur Bezeichnung der besonderen Fachkenntnis wird, die den christlichen Lehrer ausmacht. Er hat dabei zurückgegriffen auf ein begriffliches Schema, das ihm bereits vorgegeben war, das jedoch einen neuen Stellenwert dadurch bekam, daß es sich mit der Einsicht verband, daß keine Gestalt von Theologie den Anspruch erheben kann, für alle Zeiten gültig zu sein, daß vielmehr jede Gestalt grundsätzlich der Kritik offen und der Verbesserung fähig ist. Das ermöglicht dann die Distanznahme gegenüber dem Geltungsanspruch des kirchlichen Lehrsystems, es ermöglicht den „Versuch einer freiem theologischen Lehrart" (1777), es ermöglicht eine Kritik der vorgegebenen Lehre, die davor bewahrt ist, als Angriff auf die christliche Religion selber aufgefaßt zu werden, die vielmehr als Vollzug eines religiösen Interesses wahrgenommen werden kann. „Religion" wird so zur Bezeichnung eines umfassenderen Zusammenhangs, in dem der Lehre nur Teilbedeutung zukommt. „Religion" 4

5

Reiches Material zu den Wandlungen des Herderschen Religionsbegriffs in den verschiedenen Phasen seines Denkens bietet der erste Teil von Martin Doernes Arbeit „Die Religion in Herders Geschichtsphilosophie", 1927, vgl. speziell zum Religionsbegriff des späten Herder S. 36 ff. Zu Semlers Durchführung der Unterscheidung vgl. E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. IV (1952), S. 53 ff.; ferner T. Rendtorff, Kirche und Theologie. Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie, 1966, S. 32 ff.

3. Zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie [1970]

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wird zur allgemeinsten Kategorie einer undogmatischen Definition des Christentums. Als Dokument dieser Unterscheidung von Religion und Theologie ist auch Schleiermachers berühmte und folgenreiche Frühschrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1799) anzusehen. Gegen eine zum Topos gewordene Schleiermacher-Kritik, die ihn — im Blick auf die „Reden" — als Inaugurator eines theologischen Konzepts tadelt, das die Religion zum eigentlichen Thema der Theologie erhoben habe, ist darauf hinzuweisen, daß die „Reden" ihn in dieser Hinsicht gerade nicht als Urheber einer neuen, sondern als Repräsentanten einer älteren Fragestellung zeigen, die nur insofern eine bedeutsame Variation erfährt, als neben der Unterscheidung [13] von Religion und Lehre, Religion und „Metaphysik" auch die von Religion und Moral ein eigenes Thema wird. Später hat Schleiermacher übrigens, was wenig Beachtung gefunden hat, dafür plädiert, den Religionsbegriff wegen Undeutlichkeit aus dem theologischen Vokabular auszuscheiden. Seine Glaubenslehre notiert im Anschluß an eine Erörterung einschlägiger begrifflicher Schemata, es sei besser, „im wissenschaftlichen Gebrauch sich dieser Bezeichnungen lieber zu enthalten, zumal der Ausdruck im Gebiete des Christentums in unserer Sprache sehr neu ist"6. Zur Bezeichnung der geschichtlichen Religionen hat er infolgedessen den Ausdruck „Glaubensweise", zur Bezeichnung des anthropologischen Themas „Religion" den Ausdruck „Frömmigkeit" bevorzugt. Auch in der gewandelten Terminologie ist der Ertrag der Unterscheidung von Religion und Theologie ausdrücklich bewahrt, der dann für die protestantische Theologie seither — einschließlich ihrer reaktiven Strömungen — zur fraglosen Vorgegebenheit geworden ist. Er wird überall dort aktualisiert, wo nach dem „religiösen Sinn" einer Vorstellung gefragt wird, wo die Eigenart „religiöser Sätze" erörtert wird, allgemeiner: wo hinsichtlich der christlichen Lehrtradition die Aufgabe der Interpretation in der Weise gestellt wird, daß es um Auslegung und Vergegenwärtigung in einem Bezugsrahmen geht, der nicht selber Lehre ist.

Der christliche Glaube 2. Aufl. (1830/31) § 6, Zusatz. Vgl. 1. Aufl. (1821/22) § 12, 3; daneben § 6 Anmerkung, wo die Absicht ausgesprochen ist, sich „des aus dem Heidentum abstammenden und eben deshalb so schwer befriedigend zu erklärenden Wortes Religion" zu enthalten.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

3. „Religion" als Programmbegriff thematischer Entschränkung der Theologie Dem Begriff der Religion, wie ihn die neuzeitliche Theologie vorgefunden und aufgenommen hat, eignet von vornherein ein inklusiver, das Christliche übergreifender Sinn. Im Sprachgebrauch der christlichen Aufklärung ist dieser Sachverhalt zur Geltung gebracht, zugleich aber neutralisiert durch die Voraussetzung der Idee einer natürlich-vernünftigen Religion und ihrer — sei es partiellen, sei es ursprünglichen, sei es intentionalen — Kongruenz mit der christlichen Religion. Die Kritik dieser Voraussetzung, wie sie nicht zuletzt von Schleiermacher geübt worden ist, hat dann eine verwandelte Problemsituation heraufgeführt und an die Stelle des Konzepts der natürlichen Religion die Frage nach dem Wesen der Religion treten lassen. Darauf soll hier nicht weiter eingegangen werden. In jedem Fal-[14]le bedeutet es dann eine eigene Weise der Handhabung des Religionsbegriffs, wenn sein inklusiver, umfassender Sinn ausdrücklich thematisiert und als Überschreitung des KirchlichChristlichen ins Spiel gebracht wird. Ein solcher Gebrauch des Religionsbegriffs, der durch die Konfrontation mit Kirche und Christentum seine spezifischen Akzente empfängt, hat ihn förmlich zum Leitbegriff von Kirchen- und Theologiekritik erheben können, z. B. bei Paul de Lagarde, der die Überwindung der Konfessionskirchen durch eine (nationale) Religion der Zukunft erhoffte. Als deren Pfadfinder sollte nach seiner Vorstellung die in Religionsgeschichte zu verwandelnde Theologie fungieren, wobei er den bestehenden theologischen Fakultäten das Ausscheiden aus der Organisation der Wissenschaft und die Verwandlung in kirchliche Seminare zugedacht hatte7. 7

„Hier bin ich an dem Punkte angelangt, wo ausgesprochen werden kann und muß, was die Theologie sein soll: die Pfadfinderin der deutschen Religion. Theologie ist das Wissen um die Religion überhaupt, nicht, wie sich die Meisten einbilden, die von ihr reden, ein Wissen um den Protestantismus oder den Katholizismus. Religion ist überall, wo übermenschliche, sie ist sogar schon, wo außermenschliche Mächte eine Einwirkung auf das Gemüt von Menschen haben, reale Mächte eine reale Einwirkung, das heißt, eine Einwirkung, die den Beeinflußten zu Gedanken und Handlungen veranlaßt, welche er ohne diese Einwirkung nicht gedacht und nicht getan hätte. Darum ist, weil die Religion dies ist, auch die Theologie überall auf der Erde zu Hause, auf die leisen Gebete der Herzen lauschend und auf das Besserwerden derer merkend, die so beten, weil sie daraus schließt, daß Gott an dieser Stelle gegenwärtig ist." Deutsche Schriften. Gesamtausgabe letzter Hand, 5. Aufl., 1920, S. 73. - Vgl. dazu H.-W. Schütte, Theologie als Religionsgeschichte. Das Reformprogramm Paul de Lagardes, Neue Zeitschrift für Syst. Theologie und Religionsphilosophie, 8. Band, 1966, S. 111-120.

3. Zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie [1970]

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Anregungen Lagardes sind dann mäßigend und verwandelnd aufgenommen worden von der sogenannten religionsgeschichtlichen Schule. Bei ihr und durch sie ist „Religion" zum Programmbegriff thematischer Entschränkung der Theologie geworden. Als respektheischendes, freilich von einem weiteren Kreise erbrachtes Resultat dieses Entschränkungsprogramms kann die 1. Auflage des Nachschlagewerkes „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" angesehen werden, das schon im Titel bedeutungs- und absichtsvoll Konkurrenz und Differenz zur alten „Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche" zum Ausdruck gebracht hat. Im Prospekt, der das Erscheinen angekündigt hatte und der dann im I. Band wieder abgedruckt worden ist, hat das vom Titel signalisierte Programm folgende Erläuterung gefunden: „Seit die Philosophie und die Einzelwissenschaften, die Literatur und die Kunst, die Politik und das Recht, die Volkswirtschaft und die Volkserziehung nicht mehr Dienerinnen der Kirche und Mägde der Theologie sind, haben sie die der Religion zuge-[15]wandten Seiten ihres Wesens in ihrer Freiheit eigenartig neu entwickelt. Diese Entwicklung in den Kreis der Beobachtung einzubeziehen und nicht nur ihr Rückwirken auf die zünftige Theologie und die offizielle Kirche, sondern sie selbst darzustellen: das ist die besondere und neue Aufgabe, die sich unser Wörterbuch stellt. Aber auch im Blick auf die Religion selbst müssen wir unsere Grenzen weiter stecken. Die alte absolute Scheidung zwischen Christentum und nichtgeoffenbarten Religionen verschwindet, und neue, historische Grenzen und Beziehungen treten an die Stelle. Darum schildert unser Handwörterbuch alle Hauptreligionen nach den Grundzügen ihres Wesens und ihrer Geschichte und verarbeitet von den Tatsachen der allgemeinen Religionswissenschaft alles Material, das für Geschichte und Gegenwart unserer Religion Bedeutung hat, in besonderen Artikeln." 8 Hier ist die thematische Ausweitung in mehrfacher Hinsicht postuliert. Zugleich lassen die gerafften Formulierungen des Prospektes doch erkennen, daß die Entschränkungsprogrammatik ihre Mitte hat in dem Konzept eines nachdogmatischen, geschichtlichen Verständnisses des Christentums. Die thematische Erweiterung, die der Begriff der Religion zunächst anzeigt, hat ihren Antrieb und ihre Begrenzung in einem methodischen Programm, als dessen klassische Formulierung Ernst Troeltschs Aufsatz „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie" (1898) angesehen werden kann 9 . " RGG 1. Aufl. I, S. IX. Abgedruckt in Gesammelte Schriften Bd. II, S. 729—753. Vgl. auch „Die Dogmatik der ,religionsgeschichtlichen Schule'" (1913), aaO. S. 500-524.

v

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Die der religionsgeschichtlichen Schule zugehörigen Gelehrten sind bekanntlich in der Mehrzahl Exegeten gewesen. Sie haben dem hergebrachten Thema „Das Christentum und die Religionen" eine geschichtliche Fassung gegeben, und zwar primär im Blick auf das Verhältnis des Christentums zu den Religionen, mit denen es in seiner Ursprungsgeschichte in Bezug gestanden hat. Die durch ihre wissenschaftliche Leistung bewirkte Veränderung der Forschungssituation in den exegetischen Disziplinen kann zunächst in mehrfacher Hinsicht als Entschränkungseffekt beschrieben werden (Erforschung der sogenannten religionsgeschichtlichen Umwelt des Alten und Neuen Testaments, Erforschung der geschichtlichen Bereiche „zwischen" den Teilen des biblischen Schriftenkanons, Erhellung vorliterarischer Phasen der Überlieferung, Wahrnehmung und Anerkennung der „Fremdheit" biblischer Vorstellungen und Lebensverhältnisse). Die thematische Ausweitung und Veränderung ist auch hier Frucht eines methodischen Wandels. Die allgemeine Leistung der religionsgeschichtlichen Exegeten wird man so angeben können, daß sie die durch den biblischen Kanon vorgegebene dogmatische Fixierung der exegeti-[16]schen Arbeit in Richtung auf eine konsequent geschichtliche Fragestellung überschritten haben. Methodisch zeichnet sich das darin ab, daß die philologischen Fragestellungen eine Unterordnung unter historische erfuhren. Den seither unternommenen Versuchen, diese Ordnung wieder umzukehren und die exegetischen Fächer erneut zu textbewußter Philologie werden zu lassen, ist wohl nicht zuletzt deswegen Eindeutigkeit versagt geblieben, weil sie die von der religionsgeschichtlichen Schule vollzogenen Entgrenzungen faktisch nicht rückgängig gemacht haben. So sind Voraussetzungen und Fragestellungen in Geltung geblieben, die durch die programmatischen Entwürfe, in denen sich in neuerer Zeit das theologische Selbstbewußtsein alttestamentlicher wie neutestamentlicher Exegese dargestellt hat, gar nicht gedeckt werden. Von Religionsgeschichte und religionsgeschichtlichen Analogien reden auch solche Exegeten, deren Dogmatik „Religion" nur als Gegenbegriff zu „Offenbarung" gelten läßt. Zumindest anmerkungsweise soll der auffällige Sachverhalt erwähnt werden, daß in den Programmen zur theologischen Studien-, Lehr- und Prüfungsreform der jüngsten Zeit nahezu regelmäßig — zuweilen mit dem Anspruch des ganz Neuen und Aktuellen — „Religion" in mancherlei Begriffsverbindungen als Titel von Veränderungs- und Ausweitungspostulaten auftaucht. Es liegt auf der Hand, welchen Schwierigkeiten solche Postulate begegnen, wenn sie sich bei der Hoffnung auf quantitativ-additive Erfüllung bescheiden müssen.

3. Zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie [1970]

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4. „Religion" als kritische Benennung unzulänglicher Definition des Christentums Ist bislang der Religionsbegriff als Instrument der Kritik an vorgegebenen Fixierungen vor Augen getreten, als ein Begriff, in dem sich das Hinzielen auf Umfassenderes aussprach, so ist nun einer Weise des Gebrauchs zu gedenken, die unter gegensätzlichem Vorzeichen steht. Sie sieht im Religionsbegriff eine Verengung vorgezeichnet, die — wie immer sie dann näher bestimmt werden mag — seine Eignung als Deutekategorie für das Christentum, die christliche Überlieferung fragwürdig macht. Für eine solche Bezugnahme auf „Religion", die den Begriff als zur Erfassung des Christlichen unzulänglich qualifiziert, lassen sich mehrere Beispiele nennen, die zugleich charakteristische und tiefgreifende Unterschiede aufweisen. Zunächst ist in diesem Zusammenhang die Deutung der Christentumsgeschichte zu erwähnen, die in der Mitte des vorigen Jahrhunderts Richard Rothe entwickelt hat. Er wendet sich nachdrücklich gegen eine bloß religiöse Deutung des Christentums und macht ihr zum [17] Vorwurf, daß sie mit der Vernachlässigung seiner weltlich-sittlichen Dimension zugleich die geschichtliche Orientierung verliere und die Gegenwart des Christentums verfehle. Rothe sieht das Christentum seit der Reformation aus seiner kirchengeschichtlichen in seine weltgeschichtliche Epoche eingetreten, in der es immer weniger in speziell religiös-kirchlichen Formen, immer mehr in den allgemeinen Formen menschlich-sittlichen Lebens seine Realisierung finde. In der Vorrede zur 1. Auflage seines Hauptwerkes, der „Theologischen Ethik" (1845/48) hat er sich über die Intention seiner Bemühungen folgendermaßen geäußert: „Möchten Sie irgendwie mitwirken zur Verbreitung der Überzeugung, daß das Christentum, und zwar eben das uralte Christentum in seiner streng verstandenen Übernatürlichkeit etwas Mehrers ist als bloße Religion und wäre es auch immerhin die vollkommene und die absolute, daß es ein ganzes, volles neues menschliches Leben und Dasein ist, eine ganze neue Geschichte unseres Geschlechts, ja eine ganze neue Periode im Verlauf der Schöpfung dieses irdischen Weltkreises, und daß der Erlöser kein Kleriker oder Pfarrer ist, sondern ein hohepriesterlicher König."10 Der hier begegnende Religionsbegriff ist dadurch charakterisiert, daß „religiös" und „kirchlich" nahezu gleichsinnig gebraucht werden; die Gegenbegriffe lauten „weltlich", „sittlich", „politisch". 10

Abgedruckt in der 2. Aufl. der Theologischen Ethik (1867/71) I S. XXII f.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Eine ganz andere Weise kritischer Verwendung des Religionsbegriffs, gekennzeichnet durch die Entgegensetzung von „Religion" und „Reich Gottes", findet sich bei Christoph Blumhardt sowie im Wirkungskreis der Blumhardts, etwa bei Friedrich Zündel, vor allem auch bei Leonhard Ragaz. Als Beispiel aus diesem Bereich, das zugleich eine individuelle Abwandlung bietet, mag die Auslegung der Apostelgeschichte dienen, die Heinrich Lhotzky 1904 unter dem Titel „Religion oder Reich Gottes" veröffentlicht hat. Die Schlußbetrachtung des Buches antwortet auf die Frage, was schließlich aus dem Wirken der Apostel hervorgegangen sei, mit folgenden Sätzen: „Das sagt uns die Geschichte: das Christentum, eine vielgestaltige, weitverzweigte, vielverästelte Religion, die wie alle Religionen den Menschen Seligkeit verspricht, wenn sie erst gestorben sind, und das Reich Gottes, wenn sie im Grabe liegen. Die Christen untereinander erkennen sich nicht an, und wenn sie ihr Christentum unter die Weltvölker tragen, deucht es diese, daß es weit verschiedene Religionen seien. Sie haben viel Fragens unter sich davon, aber das ewige Leben haben sie im Allgemeinen nicht. Das möchten sie einmal ererben; aber nicht Jesus allein, sondern Jesus und der Tod zusammen sollen ihnen dazu helfen. So hat also das Reich Gottes den großen Kampf verspielt, und die Religion auf der ganzen Linie gesiegt? Ja, aber so [18] wie das Nichts über die Wahrheit siegt. Es ist kein freudiger, reinlicher Sieg. Die Menschheit kann Jesus und Paulus nicht vergessen und wird's nie tun. Damals ist etwas angeregt worden, das geht um unter den Zeiten und Geschlechtern, das hat noch keine Religion ausgewischt. Zu allen Zeiten hat's Ketzer gegeben, die aus der Bibel nicht die christliche Religion herauslasen, sondern die Kunde vom Reiche Gottes. Sie haben der Religion viel zu schaffen gemacht, und kein Bibelverbot hat dagegen gefruchtet; keine Bibelauslegung die frohe Botschaft totgeschlagen oder zum Schweigen gebracht. Die Wahrheit gärt unter den Völkern und stößt bald hier, bald da auf. Es werden Menschen mitten in allen Religionen der Welt, die tragen das Siegel des Reiches Gottes, und sie kennen einander und winken einander zu." (S. 399 f.). Die Art und Weise, wie in diesen Sätzen von „Religion" gesprochen wird, ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil hier die Religionskritik bereits vorgebildet scheint, die später im Namen der Offenbarung von Karl Barth und in seinem Gefolge von der dialektischen Theologie überhaupt formuliert worden ist. Zumindest zwei strukturelle Gemeinsamkeiten treten hervor: erstens die entschlossen nivellierende Einordnung des Christentums in die Welt der als letztlich immer und überall identisch verstandenen Religion bei gleichzeitiger Abhebung einer reli-

3. Zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie [1970]

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gionstranszendenten Wahrheit der biblisch-christlichen Überlieferung, zweitens die Entgegensetzung von schlechter Wirklichkeit (der Religion) und echter Möglichkeit (des Reiches Gottes bzw. des Glaubens und der Offenbarung). Die strukturelle Übereinstimmung kann allerdings nicht den tiefgreifenden Unterschied der Intentionen verdecken. Der Gegensatz von Religion und Reich Gottes, wie Lhotzky ihn stilisiert, ist der von erstarrter, statutarischer Religion einerseits, unmittelbarem Erleben Gottes andererseits, der Gegensatz von autoritativem Anspruch des Bestehenden und individueller Frömmigkeit. Es handelt sich um eine Begriffsbildung, die hineingehört in die Folgegeschichte der von der christlichen Aufklärung vollzogenen Freisetzung individueller Religion vom Normierungsanspruch des kirchlich-dogmatischen Systems. Der Religionskritik Barths dagegen, die im § 17 der Kirchlichen Dogmatik („Gottes Offenbarung als Aufhebung der Religion") ihre wirkungsvoll-einprägsame Kurzformel gefunden hat, wird man nicht Unrecht tun, wenn man ihr attestiert, daß sie — sieht man einmal von dem apologetischen Tribut an Feuerbach und Marx ab — auf den Widerruf eben dieser Freisetzung hin tendiert, auf die Rückbindung des christlichen Bewußtseins an eine korrekte, faktisch freilich höchst individuelle, Gestalt biblisch-kirchlicher Dogmatik 11 .

[19] 5. Resümee 1. Der Versuch, ein Resümee zu formulieren, wird zunächst die Wiederholung des Hinweises auf die Vielsinnigkeit und Nichteindeutigkeit des Religionsbegriffs in der neueren protestantischen Theologie nicht scheuen dürfen. Die Wahrnehmung dieses Sachverhaltes schließt die Einsicht ein, daß der Religionsbegriff nichts weniger als eine Abbreviatur anerkannter Fragestellungen und Einsichten darbietet. Wo er gleichwohl als ein Schlüsselbegriff gehandhabt wird, der, auf Explikation verzichtend, 11

Neben den von Barth geprägten Formeln und Vorstellungen dürften im offiziösen kirchlichen und theologischen Sprachgebrauch des zeitgenössischen Protestantismus die Andeutungen Dietrich Bonhoeffers die stärkste Wirkung üben, die unter dem Stichwort „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe" bekannt geworden sind. Die Interpretationsbedürftigkeit dieser Formel abgehoben zu haben von der schlagwortartigen Wirkung, die sie gehabt hat, ist das Verdienst der Studie von G. Sauter: Zur Herkunft und Absicht der Formel „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe" bei Dietrich Bonhoeffer, Ev. Theol., 25. Jg., 1965, S. 283-297.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

an einen vermeintlichen Konsensus appelliert, dort wird man einen Akt sei es bewußter, sei es unbewußter Irreführung befürchten müssen. 2. Sodann ist zu registrieren, daß die erwähnten Fragestellungen, die sich mit dem Religionsbegriff verbunden haben — stichwortartig bezeichnet als undogmatische Definition des Christentums, thematische Entschränkung der Theologie, Problem unzulänglicher Definition des Christentums — eine beachtenswerte Gemeinsamkeit darin zeigen, daß sie im Kontext einer Theorie des Christentums ihren Ort haben und ihre Erläuterung erfahren. Dieser Sachverhalt steht in deutlicher Spannung zu der geläufigen Vorstellung, welche die Rolle des Religionsbegriffs in der Theologie dadurch bestimmt sieht, daß eine allgemeine Theorie der Religion den Rahmen darbietet, innerhalb dessen die Sache des Christentums zur Sprache kommt. Selbstverständlich soll nicht geleugnet werden, daß auch diese thematische Ordnung denkbar ist. Von der Begriffsgeschichte von „Religion" jedoch wird sie nicht als der Normalfall, sondern als Sonderfall ausgewiesen. 3. Schließlich soll die Vermutung nicht unerwähnt bleiben, daß zwischen den genannten Fragestellungen so etwas wie ein Fundierungsverhältnis besteht, das sich nicht zuletzt in der unterschiedlichen Weise ihres Anerkanntseins zeigt. a) Die Unterscheidung von Religion und Theologie und die sich darin artikulierende Emanzipation von der autoritativen dogmatischen Definition des Christlichen hat für die nachaufklärerische Theologie den Charakter fragloser Vorgegebenheit, die als solche u. U. gar nicht ausdrücklich gewußt zu werden braucht. [20] b) Das als Frucht dieser Unterscheidung und Emanzipation erwachsene geschichtliche Verständnis des Christentums samt der darin angelegten methodisch-thematischen Veränderung und Entschränkung der Theologie ist bis auf diesen Tag nicht unumstritten, vor allem hinsichtlich seiner Tragweite und seiner Konsequenzen. Immerhin wird man erwägen können, ob der Streit, der hier möglich und wirklich ist, zwar nicht seine Erledigung, wohl aber seine Relativierung darin findet, daß seine objektiven wie subjektiven Bedingungen unausweichlich die der sich geschichtlich verstehenden christlichen Religion sind. c) Die höchst unterschiedliche Weise kritischer Handhabung des Religionsbegriffs kann unter diesen Voraussetzungen begriffen werden als Gestalt einer allgemeineren Problematik, als Teilnahme nämlich an der Debatte über das Wesen des Christlichen unter den Bedingungen der vollzogenen Emanzipation von seiner dogmatischen Definition.

4. „Liberale Theologie" [ 1974/76] * I. Unter den zahlreichen Richtungsbezeichnungen, die in der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts aufgetreten sind, ist „liberale Theologie" unverkennbar diejenige, welche die stärkste Beharrungskraft bewiesen hat. Während Begriffe wie „Rationalismus" oder „Vermittlungstheologie" oder „modern-positive Theologie" schon seit langem nur noch an die theologiegeschichtliche Erinnerung appellieren, steht es bei der „liberalen Theologie" anders. Dieser Begriff hat einen programmatischen Klang behalten; er wird selten genannt, ohne daß zugleich Stellung- und Parteinahme sich andeutet. Den Wandlungen im Gebrauch und im Geltungswert dieser Richtungsbezeichnung sind die folgenden Ausführungen gewidmet1. Sie begrenzen sich auf die Ausdrücke „theologischer Liberalismus" und „liberale" bzw. „freisinnige Theologie"'2. Dagegen finden verwandte Begriffsbildungen wie „kirchlicher Liberalismus", „religiöser Liberalismus", „liberaler Protestantismus", „liberales Christentum" allenfalls am Rande Berücksichtigung, da sie nicht als Richtungsbezeichnungen der Theologie aufgekommen sind und gedient haben, so unscharf die Grenzen des Gebrauchs gelegentlich sein mögen.

II. Ich setze ein beim kirchlich-theologischen Sprachgebrauch des zeitgenössischen deutschen Protestantismus. Hier wird man drei Weisen der Vgl. Bibliographie Nr. 30 Die Ausführungen bieten im wesentlichen den Text eines Referats, das am 19.1.1974 auf einer gemeinsamen Tagung der Arbeitskreise Katholische Theologie und Evangelische Theologie im Rahmen des Forschungsunternehmens „Neunzehntes Jahrhundert" der Fritz Thyssen Stiftung vorgetragen worden ist. „Freisinnig" wird seit dem frühen 19. Jh. als Verdeutschung für „liberal" gebraucht.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Bezugnahme auf „liberale Theologie" unterscheiden können. An erster Stelle ist die Verwendung des Begriffs im Sinne einer polemischen Etikette zu erwähnen. Die Kennzeichnung einer Auffassung als „liberal" hat dabei den Sinn, theologischen Irrtum zu signalisieren, einen Irrtum überdies, der als längst durchschaut und überwunden gilt. Wem „Rückfall" in den theologischen Liberalismus attestiert wird, der sieht sich mit dem Vorwurf der Heterodoxie zugleich noch [175] dem der Rückständigkeit ausgesetzt. Diese polemische Verwendung hat sich verbreitet im Gefolge der neuen theologischen Entwürfe, die nach dem 1. Weltkrieg aufgetreten waren. Vor allem die Wortführer der frühen dialektischen Theologie haben in der Auseinandersetzung mit den eigenen theologischen Vätern die „liberale" als Paradigma verkehrter Theologie dargestellt. Als bezeichnendes Exempel kann Rudolf Bultmanns Aufsatz „Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung" (1924) angeführt werden, der seine Kritik summiert in dem Satz: „Der Gegenstand der Theologie ist Gott, und der Vorwurf gegen die liberale Theologie ist der, daß sie nicht von Gott, sondern von Menschen gehandelt hat." 3 Eine solche Formulierung, die der befehdeten Richtung den Verlust des theologischen Gegenstandes bescheinigt und ihr so gewissermaßen die Qualität von Theo-logie abspricht, demonstriert in schöner Durchsichtigkeit, wie „liberale Theologie" aus der Benennung einer theologischen Richtung zum Titel theologischer Verfehlung werden konnte. Neben der polemischen Verwendung und gegen sie steht eine zweite, gänzlich andere. Sie kann, wenn nicht als programmatisch, so doch als affirmativ bezeichnet werden. Ein unumwunden programmatischer Gebrauch, der „liberal" zum aktuellen Richtungsbegriff erhebt, begegnet in Deutschland vergleichsweise selten, häufiger schon bei Schweizer Theologen; als Beispiel nenne ich die Schrift von Ulrich Neuenschwander „Die neue liberale Theologie" (1953). Es macht eine interessante Differenz in den Bedingungen theologischer Arbeit aus, daß in der Schweiz — anders als hierzulande — das kirchlich theologische Richtungsgefüge über mehr als ein Jahrhundert hinweg eine erstaunliche Stabilität bewiesen hat 4 . Daß „liberale Theologie" eine nicht nur historisch, sondern auch aktuell belangvolle Angelegenheit meint, das ist schon vorausgesetzt, wenn theologische Programmatik diesen Begriff — anknüpfend 5

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Theologische Blätter, Jg. 1924, (S. 73-86) 73; wieder abgedruckt in: Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze I. Band, 1933, (S. 1-25) S. 2. Vgl. dazu Paul Schweizer: Freisinnig — Positiv — Religiössozial. Zur Geschichte der Richtungen im schweizerischen Protestantismus, Zürich 1972.

4. „Liberale Theologie" [1974/76]

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und neu definierend — aufnimmt 5 . Für die deutsche Situation ist umgekehrt gerade das Fehlen derartiger Richtungskontinuität kennzeichnend. „Liberale Theologie" bezeichnet eine Richtung und Gruppierung der Vergangenheit. Die anknüpfende Bezugnahme richtet sich infolgedessen nicht auf den Namen, sondern auf das „Erbe", das — mit welchen Näherbestimmungen und Einschränkungen auch immer — bewahrt und neu zur Geltung gebracht werden soll. [176] Sowohl in der polemischen wie in der programmatisch-affirmativen Verwendung empfängt der Begriff seine Konturen und seine Farben aus der Theologiegeschichte. An dritter Stelle ist der im engeren Sinne theologiegeschichtliche Verwendungsmodus noch für sich zu betrachten. Versucht man, genauer zu erfassen, wer der „liberalen Theologie" zugerechnet wird, so drängt sich alsbald die Beobachtung auf, daß der Begriff in unterschiedlicher Weise und Weite gebraucht wird. Vereinfachend kann man eine enge und eine weite Fassung unterscheiden. In der engen Fassung dient er primär zur Benennung einer theologischen Gruppierung des Jahrhundertanfangs. Als klassischer Repräsentant gilt vor allem Adolf v. Harnack; neben ihm sind sofort Wilhelm Herrmann und Ernst Troeltsch zu nennen; die sogenannte Religionsgeschichtliche Schule gehört in diesen Zusammenhang hinein, ebenso das in der 1. Auflage wesentlich von ihr geprägte Nachschlagewerk „Die Religion in Geschichte und Gegenwart". Im wesentlichen handelt es sich um den Kreis der theologischen Freunde, Schüler und Enkelschüler Albrecht Ritschis — um den Kreis, der in der „Christlichen Welt" sein Organ und in der „Vereinigung der Freunde der Christlichen Welt" einen organisatorischen Zusammenschluß gehabt hat 6 . Daneben wird der Begriff in einem weiten Sinn gebraucht, und zwar so, daß er eine theologische Linie und Richtung bezeichnet, die sich durch das gesamte 19. Jahrhundert verfolgen läßt. Einen Beleg für diesen Gebrauch bietet z. B. der einschlägige Artikel in der 3. Auflage der RGG, in dem es heißt: „Der Liberalismus bildet neben der restaurativen und der Vermittlungstheologie die dritte Hauptrichtung in der Theologie des 19. Jahrhunderts. Man kann im theologischen Liberalismus des 19. Jahrs

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Diese besondere Konstellation hat es ermöglicht, daß selbst Karl Barth — einer Aufforderung der „Schweizerischen Theologischen Umschau" folgend — sich in einem Aufsatz zu „Möglichkeiten liberaler Theologie heute" einfallsreich geäußert hat (Jg. 30, 1972,5.95-101). Vgl. dazu die materialreiche Geschichte der „Christlichen Welt", die Johannes Rathje geschrieben hat: Die Welt des freien Protestantismus. Ein Beitrag zur deutsch-evangelischen Geistesgeschichte, dargestellt am Leben und Werk von Martin Rade, 1952.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Hunderts drei Epochen unterscheiden: Für die erste sind die radikale Kritik und die philosophische Spekulation im Anschluß an Hegel bezeichnend; die zweite steht unter dem Einfluß A. Ritschis, der philosophisch Kant verpflichtet ist; in der dritten übernimmt die Religionsgeschichtliche Schule die Führung in der liberalen Theologie"7. Wo der Begriff in dieser weiten Fassung begegnet, dort tritt nicht selten Schleiermacher als der eigentliche Anfänger auf, so daß dann von „liberaler Theologie" im selben Sinne wie von der „Ära Schleiermacher-Harnack" gesprochen werden kann. [177]

III. Von der gegenwärtigen Handhabung des Begriffs soll nun abgehoben werden seine Verwendung in demjenigen Zeitraum, für den er heutzutage gebraucht wird, also im 19. und im frühen 20. Jahrhundert. Dabei ergeben sich einige überraschende und interessante Beobachtungen; ich fasse sie in sechs Punkten zusammen. 1. Zunächst ist auf einen elementaren Sachverhalt statistischer Art hinzuweisen, darauf nämlich, daß die breite und weite Verwendung des Begriffs überhaupt erst in der Theologie unseres Jahrhunderts üblich geworden ist. Sie gehört zu den Charakteristika des neuen Vokabulars, das seit den zwanziger Jahren als Effekt des Miteinanders und Widereinanders der neu aufgetretenen Programme sich herausgebildet hat. Im gesamten 19. und im frühen 20. Jahrhundert gehört „liberale Theologie" nicht zu den großen Programmvokabeln und Richtungsbegriffen. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts und noch darüber hinaus sind „Rationalismus" und „Supranaturalismus" die unermüdlich repetierten und kombinierten Leit- und Orientierungsbegriffe gewesen. Charakteristische Bildungen, die in der Folgezeit aufgetreten sind und als Richtungsnamen gedient haben, sind „spekulative Theologie", „wissenschaftliche Theologie", „moderne Theologie" auf der einen Seite, „gläubige Theologie", „positive Theologie", „kirchliche Theologie" auf der anderen Seite. „Liberale Theologie" hingegen gehört nicht in diese Reihe, sondern nimmt einen bescheideneren Platz ein. Das wichtigste theologische Nachschlagewerk des 19. Jahrhunderts, die „Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche", hat in allen drei Auflagen das Stich7

Hans Graf?: Art. „Liberalismus. III. Theologischer und kirchlicher Liberalismus", RGG3, IV. Band, (Sp. 351-355) 351 f.

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wort weder eines Artikels noch der Aufnahme in das Register gewürdigt. In den großen theologiegeschichtlichen Selbstdarstellungen des 19. Jahrhunderts — bei Ferdinand Christian Baur, Karl v. Hase, Carl Schwarz, Gustav Frank, Isaak August Dorner, Otto Pfleiderer — findet sich der Begriff an keiner Stelle in betonter Weise als Richtungsbezeichnung gebraucht. 2. Dieser Sachverhalt kann um so auffälliger anmuten, als der Begriff schon früh im 19. Jahrhundert für eine derartige Funktion vorgeschlagen worden ist. Karl Gottlieb Bretschneider hat im Jahre 1820 einen Aufsatz „Die Ultra's und die Liberalen in der Theologie" veröffentlicht 8 , in dem er dafür [178] plädiert, den politischen Begriff „liberal" als theologische Programmvokabel zu adoptieren, als Bezeichnung für das Konzept des theologischen Rationalismus 9 . Sein Vorschlag zielt ausdrücklich darauf, den Zusammenhang von Theologie und Politik im allgemeinen sowie die Konvergenz von politischem Liberalismus und theologischem Rationalismus im besonderen ins Bewußtsein zu heben10. In analoger Weise sind übrigens die Begriffsbildungen „religiöser Liberalismus" und „kirchlicher Liberalismus'1 aufgekommen, die sich etwa gleichzeitig bei Wilhelm Traugott Krug finden 11 . 8

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Die Ultra's und die Liberalen in der Theologie; eine Parallele in: Für Christenthum und Gottesgelahrtheit. Eine Oppositionsschrift, hrsg. v. W. Schröter u. F. A. Klein, III. Band, Jena 1820 (S. 195 bis 227). Der Aufsatz ist wieder abgedruckt in: Bretschneider: Kirchlich-politische Zeitfragen, behandelt in zerstreuten Aufsätzen, Leipzig 1847 (S. 1-7). „Die Namen aber Ultra und Liberale haben einen sehr bestimmten Sinn, und bezeichnen eine fest ausgeprägte, entgegengesetzte Denkart in der Politik, welche dem, was man in der Theologie Supernaturalismus und Rationalismus nennt, Zug für Zug so genau [184] entspricht, daß die Adoption jener Namen für beide theologische Parteien ganz passend erscheint." (Zeitfragen, S. 2). — „... würde die Benennung Liberale schicklicher seyn, als die der Rationalisten. Denn diese Bezeichnung spricht nicht nur ihren Hauptcharakter aus, nämlich, daß sie die Freiheit des Denkens, Prüfens und Entscheidens in religiösen Angelegenheiten und Principien der Vernunft- und der Erfahrungswissenschaft behaupten, und die neuern, freiem Ansichten der Theologie aufgenommen haben und vertreten, sondern es findet sich auch wirklich eine große Aehnlichkeit zwischen den politischen Liberalen und den sogenannten Rationalisten." (Zeitfragen, S. 4). Vgl. zu diesem Themenkreis Manfred Baumotte: Theologie als politische Aufklärung, 1973; ferner Hans Rosenberg: Theologischer Rationalismus und vormärzlicher Vulgärliberalismus. Hist. Zeitschrift, Band 141, 1930, (S. 497-541); wieder abgedr. in: Rosenberg: Politische Denkströmungen im deutschen Vormärz, 1972, (S. 18—50). Seine „Geschichtliche Darstellung des Liberalismus alter und neuer Zeit" (Leipzig 1823) berücksichtigt durchgängig das „doppelte Verhältnis", in dem sich „der gebildete Mensch" findet: das „bürgerliche" und das „kirchliche" (S. 3) sowie „die Ansichten

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Bretschneiders Vorschlag ist Episode geblieben. Er selber hat in späteren Publikationen von dem Programmbegriff, den er vorgeschlagen hatte, keinen Gebrauch mehr gemacht 12 . Eine vergleichbare Verwendung findet sich — wiederum nur vereinzelt — ein Vierteljahrhundert später noch einmal bei David Friedrich Strauß. Sein Aufsatz „Der politische und der theologische Liberalismus", der 1848 in der von Gustav Adolf Wislicenus herausgegebenen Zeitschrift „Reform", also im Organ der Lichtfreunde, erschienen ist13, gebraucht den Begriff „theologischer Liberalismus" als Benennung für das eigene Konzept einer „Fortbildung des Christenthums zum reinen Humanismus", das auf diese Weise sich dem politischen Liberalismus als Partner empfiehlt 14 .

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und Urteile, welche einzelne freisinnige Denker über die bürgerlichen und kirchlichen Verhältnisse der Menschen von Zeit zu Zeit aufstellten" (S. 5). Der Zusammenhang von „religiösem" und „politischem" Liberalismus wird mehrfach hervorgehoben (vgl. S. 148, 151). Das Christentum heißt „die liberalste unter allen positiven Religionsformen" (S. 149 vgl. S. 46); v. a. aber ist „der Protestantismus seinem Wesen nach ein religiöser und kirchlicher Liberalismus" (S. 134). In einem Aufsatz aus dem Jahre 1842 über „Das conservative Prinzip und seine Anwendung auf die Theologie" ist das Motiv der Korrespondenz von politischer und kirchlichtheologischer Parteibildung wieder aufgenommen, wobei in der Zählung wie in der Benennung der Parteien die veränderte Situation sich abzeichnet: „Sehen wir auf die protestantische Kirche, so finden wir in ihr drei Parteien: Absolutisten, Revolutionäre und Rationalisten, welche den politischen Parteien der Absolutisten, Revolutionäre und Constitutionellen entsprechen. Die Absolutisten sind die Männer der Berliner Kirchenzeitung, welche die altsymbolische Theologie erhalten und wieder allein giltig machen wollen, und jedes dem Rationalismus zu machende Zugeständniß verweigern. Sie sind ein Extrem, und ihnen entgegen als anderes Extrem stehen die Hegelianer (Strauß, Feuerbach, Bruno Bauer), die vom historischen Christus eben so wenig, als die Revolutionäre vom historischen Staate wissen wollen, und das Christenthum aus dialectischen Begriffen constituiren, wie die Revolutionäre den Staat aus ihren politischen Theorien. Wie diese das Oberste zum Untersten kehren und das Volk zum Souverän machen wollen, so suchen diese den objectiven, persönlichen Gott vom Throne zu stoßen und an dessen Stelle das subjective Denken des Menschen von Gott zu setzen. — [185] Eine dritte Partei, welche im Politischen die Constitutionellen sind, die eine Fortbildung des Staats unter Beirath und Mitwirkung der Stände wollen, sind in der Theologie die Rationalisten, welche eine Fortbildung der theologischen Wissenschaft, aber aus biblischem Grund und Boden, jedoch unter Beirath und Mitwirkung der Vernunft und der empirischen Wissenschaften, zu erstreben suchen." (Zeitfragen, S. 328 f.). Der Aufsatz ist gleichzeitig auch gesondert gedruckt worden (Halle 1848). In die von Eduard Zeller herausgegebenen „Gesammelten Schriften" ist er nicht aufgenommen. „Diese Fortbildung des Christenthums zum reinen Humanismus, oder vielmehr die Herausbildung des letzteren aus dem gesammten Boden der modern-europäischen Cultur, in welchem das Christenthum nur einen Bestandtheil ausmacht, ist nun zugleich der einzige Weg, um über den Gegensatz im Katholicismus und Protestantismus hinaus

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3. Bei Bretschneider wie bei Strauß ist es der politische Liberalismusbegriff, dem ein theologisches Äquivalent an die Seite gestellt wird. Es verdient Beachtung, daß die unter diesem Akzent stehende Begriffsbildung sich nicht durchgesetzt hat. Daß der Ausdruck „liberale Theologie" in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts allmählich häufiger vorkommt, das geht nicht auf programmatische Adoption des politischen Begriffs, es geht anscheinend überhaupt nicht auf programmatische Verwendung durch einzelne Theologen zurück. Es scheint vielmehr damit zusammenzuhängen, daß „liberal" zur kirchenpolitischen Richtungsbezeichnung geworden war. Wenn z. B. Daniel Schenkel, einer der Wortführer des 1863 gegründeten Protestantenvereins, von Zeitgenossen als „liberaler" Theologe apostrophiert wird, so dürfte das Beiwort weniger auf seine Wirksamkeit als Universitätslehrer und theologischer Schriftsteller als auf seine kirchenpolitische Aktivität gemünzt sein. Es liegt jedoch auf der Hand, daß im Beziehungsgefüge von Kirchenpolitik, Theologiepolitik und Theologie die Grenze zwischen kirchen-[179]politischer Einordnung und theologischer Richtungsbenennung fließend werden konnte. Als im engeren Sinne theologische Richtungsbezeichnung ist „liberale Theologie" dann vorzugsweise gebraucht worden für eine Gruppierung, die daneben und häufiger auch „spekulative Theologie" hieß. Die Theologen, die als ihre Hauptvertreter gelten — Alois Emanuel Biedermann, Richard Adalbert Lipsius, Otto Pfleiderer —, sind im übrigen samt und sonders auch in liberaler Kirchenpolitik engagiert gewesen. Als liberale wurde die spekulative Theologie dieser Gruppe abgehoben von der spekulativen Theologie der Hegeischen Rechten. Wo im letzten Drittel des Jahrhunderts von „liberaler Theologie" die Rede ist, dort sind fast durchweg ihre Vertreter und Anhänger gemeint. Die Benennung dürfte eher als Fremdbezeichnung denn als Selbstbezeichnung aufgekommen sein. Bei keinem der genannten Theologen fungiert sie als Programmbegriff. In Biedermanns programmatischer Frühschrift „Die freie Theologie oder Philosophie und Christentum in Streit und Frieden" (1844), die dem kirchlichen und theologischen Liberalismus der Schweiz als Ursprungsdokument gilt, kommt der Begriff „liberazu kommen: es arbeitet also hierin der theologische Liberalismus dem politischen in die Hände, welcher jene Spaltung, die er im Interesse des deutschen Vaterlandes beklagt, auf seinem Wege vergeblich auszugleichen sucht. Dessen ungeachtet nimmt der letztere keinen Anstand, den ersteren als Radicalismus, der alle häusliche und politische Moral zersetze, von sich zuweisen." (S, 15 f. des gesonderten Abdrucks).

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le" bzw. „freisinnige" Theologie gar nicht vor 15 . In Vorträgen und Aufsätzen aus späterer Zeit findet er sich gelegentlich, jedoch nur in Ausführungen, die auf die gegebenen kirchlichen und theologischen Richtungen sich beziehen16. Otto Pfleiderer hat „Die Entwicklung der protestantischen Theologie in Deutschland seit Kant und in Großbritannien seit 1825" dargestellt (1891), ohne „liberale Theologie" als Richtungsbezeichnung, gar als Kapitelüberschrift, zu verwenden; Biedermann hat er im Kapitel „Spekulative Theologie", Lipsius im Kapitel „Vermittlungstheologie" behandelt. Trotz der Zurückhaltung der Wortführer ist der Begriff bei Gegnern wie bei Anhängern als Richtungsname gängig gewesen. Als 1893 der Ritschi-Schüler Hans Hinrich Wendt als Nachfolger für Lipsius nach Jena berufen wurde, hat das öffentliche Debatten und heftige Proteste ausgelöst. Die Berufung eines Ritschlianers ist von Lipsius' Freunden und Schülern als Verstoß gegen die Interessen der liberalen Theologie und gegen die liberale Tradition Jenas befehdet worden17. Die Begebenheit zeigt, daß die Richtungsbezeichnung immerhin [180] soweit eingebürgert war, daß sie als theologiepolitisches Argument ins Feld geführt werden konnte 18 . 4. An der Jenenser Auseinandersetzung ist auch das aufschlußreich, daß der Schule Ritschis das Prädikat „liberal" ausdrücklich verweigert wurde. Das stimmte mit dem Selbstbewußtsein und Selbstverständnis der Betroffenen freilich aufs beste zusammen. Die Theologen im Gefolge Albrecht Ritschis, die dem neueren Sprachgebrauch als die eigentlichen 15

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Die für Biedermann charakteristischen Programmbegriffe sind verbunden in der Formel „die speculative oder freie Theologie", die folgendermaßen erläutert wird: „Frei ist eine Wissenschaft, die 1) ihr Princip innerhalb des menschlichen Geistes hat und es nicht von außen erhält; 2) in der Entfaltung dieses Princips nur den immanenten Gesetzen des Geistes folgt und durch keine äußere Autorität bestimmt wird; und endlich 3) sich zu einer selbständigen Gestalt in sich abrundet. Diess trifft bei derjenigen Gestalt der Theologie zu, welche die Entfaltung des speculativen Begriffs der Religion zu einer ganzen Wissenschaft ist; darum heißt sie die freie Theologie." (S. 177). Vgl. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, hrsg. v. J. Kradolfer, Berlin 1885, S. 268, 284 f., 379, 432. Als Nachfolger Biedermanns war 1886 in Zürich ebenfalls ein Ritschi-Anhänger, nämlich Theodor Häring, berufen worden, und zwar auf Betreiben und unter dem Beifall der „Positiven"; vgl. dazu das in Anmerkung 4 genannte Werk von P. Schweizer, S. 163, 238 f. Eine detailreiche Darstellung dieser Auseinandersetzungen findet sich bei Friedrich Nippold: Die theologische Einzelschule im Verhältnis zur evangelischen Kirche, 2 Bände, Braunschweig 1893; II, 108 ff.

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Liberalen gelten, haben nicht daran gedacht, diesen Titel für sich zu reklamieren. Im Gegenteil: sie waren erfüllt und geleitet von dem Bewußtsein, die vorgefundenen Schulbildungen und Richtungsgegensätze allesamt hinter sich gelassen zu haben. „Liberale Theologie" galt ihnen als der Name einer fremden, schon überholten Konzeption, mit der sie selber nur als Kritiker oder als Historiker befaßt waren. Ein schöner Beleg für diesen Überwindungsanspruch wie für die Art und Weise, in der dabei auf den Gegensatz von „liberal" und „positiv" Bezug genommen wurde, findet sich in dem Beitrag „Christlich-protestantische Dogmatik", den Wilhelm Herrmann 1906 für das Sammelwerk „Die Kultur der Gegenwart" geschrieben hat 19 . Seine abschließende kritische Skizze der damaligen theologischen Lage gipfelt in dem Satz: „Auch aus dieser Dämmerung wird einmal ein Tag, und dann wird die positive mit der liberalen Dogmatik in dasselbe Grab geworfen."20 Wie unter den Voraussetzungen der Ritschl-Schule „liberale Theologie" historisch eingeordnet wurde, kann man an Ferdinand Kattenbuschs Schrift „Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher"21 ablesen. Sie unterscheidet für die Zeit zwischen Schleiermacher und Ritschi drei „Schulen", die sie — „ohne die landläufig gewordenen Ausdrücke auf die Goldwaage zu legen" — als „liberale, konfessionelle und Vermittlungstheologie" bezeichnet (S. 36). Als Hauptvertreter des „theologischen Liberalismus" werden Ferdinand Christian Baur und A. E. Biedermann behandelt (S. 41); R. A. Lipsius und O. Pfleiderer werden als „Nachhut" (S. 60) eingestuft 22 . 19

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Die Kultur der Gegenwart, hrsg. v. Paul Hinneberg, Teil I, Abteilung IV (Die christliche Religion) 1906 (19092) S. 583-632. Die Abhandlung ist - in der Fassung der 2. Auflage — wieder abgedruckt in: W. Herrmann: Schriften zur Grundlegung der Theologie, hrsg. von Peter Fischer-Appelt, 2 Bde., 1966/67 (I, 298-361). A. a. O. S. 630 — In seinem „Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft" (1908) hat Ernst Troeltsch an der [186] Dogmatik der Ritschlianer — die von ihm kritisch erörtert wird — ebenfalls den Erledigungsanspruch gegenüber orthodoxer wie liberaler Theologie hervorgehoben, und zwar in einer Formulierung, die sichtlich auf das Herrmannsche Dictum anspielt: „Derart verselbständigt gegen die eigentliche Historie und gegen die Spekulation hat die neue Dogmatik die Aufgabe, sowohl die orthodoxe als die liberale Dogmatik mit ihren Voraussetzungen wirklicher Erkenntnisse ins Grab zu legen und statt dessen eine aus der Predigt Jesu, Pauli und Luthers geschöpfte einheitliche praktisch-religiöse Lebenseinrichtung ... zu formulieren." Gesammelte Schriften, II. Bd., 1913, (S. 193-226) 205. 1. Aufl. 1892 (unter dem Titel: Von Schleiermacher zu Ritschi), 6. Aufl. 1934; ich beziehe mich auf die 1924 erschienene 4. Auflage. Daß sich mit dem Begriff „liberale Theologie" zu Beginn unseres Jahrhunderts die Erinnerung an Theologen vergangener Jahrzehnte verband, zeigt auch Albert Schweit-

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5. Auch die Enkelschüler Albrecht Ritschis, die Theologen der „Christlichen Welt", der „Religion in Geschichte und Gegenwart", der religionsgeschichtlichen Schule23 haben „liberal" nicht als Benennung ihrer theologischen Position gebraucht. Wo sie in kirchenpolitischem Kontext diesen Namen [181] — der dann die „Freunde der Christlichen Welt" mit den Anhängern des Protestantenvereins zusammenschloß24 — akzeptiert haben, sind sie darauf bedacht gewesen, ihn auf diesen Gebrauch zu begrenzen. Welche Hemmungen auch in dieser Hinsicht bestanden haben, zeigt die Erörterung, zu der Martin Rade durch die „Geschichte des religiösen Liberalismus" (1937) von Walter Nigg veranlaßt worden ist: Sie gilt ausdrücklich der Frage, ob er und seine Freunde eigentlich zu Recht in diese Geschichte einbezogen seien25. Erich Foerster hat in seiner Besprechung des gleichen Buches im Blick auf den theologischen Richtungsbegriff rundweg konstatiert: „Liberalismus scheint mir kein geeigneter Begriff zu sein, um theologische Erscheinungen des 19. Jahrhunderts auf einen Nenner zu bringen, kein geeigneter Leitfaden, an dem man sie aufreihen könnte; und ich meine deshalb, daß wir gut täten, Wortbildungen wie „religiöser Liberalismus" und „liberale Theologie" endgültig den Abschied zu geben"26. Ganz im gleichen Sinne hatte sich ein Vierteljahrhundert früher Hermann Mulert in dem Artikel „Liberalismus und Kirche" geäußert, den er 1912 für die 1. Auflage der RGG geschrieben hat. Er geht erst am Schluß, nur mit wenigen Zeilen und nur in abweisendem Sinne auf den Ausdruck „liberale Theologie" ein: „Von theologischem Liberalismus oder liberaler Theologie zu reden,

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zers „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" (1913). Sie behandelt unter der Überschrift „Die liberalen Leben-Jesu" die einschlägigen Werke von David Friedrich Strauß (Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet, 1864), Daniel Schenkel, Karl Heinrich v. Weizsäcker, Heinrich Julius Holtzmann, Rudolf Keim, Karl v. Hase, Willibald Beyschlag, Bernhard Weiß. Ähnlich steht es bei Heinrich Weinel: Jesus im neunzehnten Jahrhundert, Tübingen 1907, S. 116 ff. Die Zusammenstellung der hier anvisierten Gruppen will lediglich dem Umstand Rechnung tragen, daß sie es sind, die der heute gängigen Vorstellung von „liberaler Theologie" die kräftigsten historischen Farben leihen. Die wichtigste Demonstration eines solchen Zusammengehens ist der „Weltkongreß für Freies Christentum und Religiösen Fortschritt" von 1910 gewesen, der gemeinsam vom deutschen Protestantenverein, von den „Freunden der Christlichen Welt" und von Verbänden der „Freunde der evangelischen Freiheit" organisiert worden ist. Religiöser Liberalismus. Glosse zu W. Nigg's „Geschichte des religiösen Liberalismus". Zeitschrift für Theologie und Kirche NF 19. Jg., 1938, S. 243-261. Die Aufklärung in der Theologie des 19. Jahrhunderts. Theologische Rundschau NF 10. Jg., 1938, (329-357), S. 334.

4. „Liberale Theologie" [1974/76]

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wird besser vermieden, weil kirchenpolitische Parteibezeichnungen der wissenschaftlich-theologischen Arbeit und den unzähligen Unterschieden der wissenschaftlichen Auffassungen nicht gerecht werden." Mulert nennt es einen „Holzweg", wenn man „Parteischlagworte auf wissenschaftliche Arbeit überträgt" 27 . 6. Mulerts Abwehr setzt freilich voraus, daß solche Übertragung stattgefunden hat. In der Tat bietet besonders die kirchliche Publizistik jener Zeit dafür zahlreiche Belege. Der Begriff „liberale Theologie" hat — vor allem in der simplifizierenden Unterscheidung einer liberalen und einer positiven Richtung — auf der Ebene akademischer Theologie und wissenschaftlich-theologischer Debatte nur eine geringe Rolle gespielt. Ihren eigentlichen Ort, ihren „Sitz im Leben", haben dieser Begriff und dieses Schema in der kirchlichen Zeitschriften- und Broschürenliteratur gehabt. Auf dieser Ebene konnte gerade der Vereinfachungseffekt diese Terminologie empfehlen, zumal bei Erwägungen und Debatten über die Besetzung von Lehrstühlen. Auch für die Bemühung, die theologische Situation [182] und Diskussion für „Laien"28 oder für Studienanfänger überschaubar zu machen, bot das Schema liberal-positiv bzw. konservativ sich als Orientierungshilfe an. Heinrich Bassermann hat 1905 ein Büchlein veröffentlicht, das die Frage des Titels „Wie studiert man evangelische Theologie?" unter anderem dadurch beantwortet, daß es eine förmliche Aufgliederung der theologischen Fakultäten unter Richtungsgesichtspunkten gibt29. Er notiert im übrigen zu den „dem politischen Leben" entnommenen Begriffen „konservativ" und „liberal", daß sie nicht ganz sachgemäß seien und daß besser „zwischen einer traditionellgebundenen und einer kirchlich-freien Theologie" unterschieden würde (S. 29).

IV. Wenn man die Wandlungen im Gebrauch wie in der Abwehr des Begriffs „liberale Theologie" überblickt, so stellt sich der Sprachgebrauch, der 27 28

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RGG1 III. Band (1912), Sp. 2109. Vgl. z. B. die — von irenischen Absichten geleitete — Schrift von Robert Kübel: Über den Unterschied zwischen der positiven und der liberalen Richtung in der modernen Theologie, Nördlingen 1881. Als konservativ gelten Erlangen, Greifswald, Königsberg, Leipzig, Rostock; ein „entschieden liberales" Gepräge wird Gießen, Heidelberg, Jena, auch Kiel, Marburg und Straßburg attestiert; als eine Mittelstellung einnehmend werden Berlin, Breslau, Göttingen, Halle, Tübingen genannt; Bonn wird eigens hervorgehoben als eine Fakultät, in

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

seit den zwanziger Jahren — wesentlich durch die dialektische Theologie — üblich geworden ist, noch einmal in einem neuen Lichte dar. Es ist die Diktion der kirchlichen Presse, die damals von den neuen Wortführern übernommen worden ist. Im Stile einer Theologie für Nichttheologen und für Erstsemester haben sie die eigenen theologischen Väter und Vettern mit einer Benennung bedacht, die von diesen ausdrücklich abgelehnt worden war. Daß sich dabei im Vokabular ein Gleichklang herstellte mit derjenigen Kritik, die dem politischen Liberalismus zuteil wurde, mag verstärkend gewirkt haben. Liberalismus wurde nun hier wie dort als eine Sache des 19. Jahrhunderts traktiert, die es endgültig zu überwinden galt. Zugleich konnte die Aufnahme des Simplifikationsschemas „liberal — positiv" noch einmal in den Dienst des Anspruchs treten, einen Neubeginn diesseits aller vorgefundenen Richtungen zu setzen — in eigenartiger Wiederholung der Überwindungsansprüche, von denen schon die Ritschl-Schule beflügelt worden war. Der weite Gebrauch von „liberaler Theologie", der sich im Gefolge jener Diktion seither eingebürgert hat, ergibt freilich für die theologiegeschichtliche Orientierung des zeitgenössischen Protestantismus einen eigenartigen Effekt. Er hebt nämlich auf eine Kontinuität ab und stellt eine Traditionsreihe her, die so vorher nicht bestanden hat. Wenn man sich die großen Namen vergegenwärtigt, die nun durch den Titel „liberale [183] Theologie" zusammengeschlossen werden — Troeltsch, Harnack, Herrmann, Ritschi, Biedermann, Strauß, Baur, Rothe, Schleiermacher — dann wird deutlich, daß der Begriff unversehens eine neue Funktion zu gewinnen scheint: er umfaßt nun diejenigen Entwicklungen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, in denen die gegenwärtige protestantische Theologie ihre Herkunftsgeschichte erkennen muß.

der „fast alle Lehrstühle doppelt, mit Vertretern beider Richtungen" besetzt sind (S. 29).

5. Glaubenslehre und Modernitätserfahrung Ernst Troeltsch als Dogmatiker [1987]* I. Die akademische Lehrtätigkeit Ernst Troeltschs hat sich über einen Zeitraum von 32 Jahren erstreckt, von seiner Habilitation an der Göttinger Theologischen Fakultät am 28. Februar 1891 bis zu seinem frühen Tode am 1. Februar 1923. Fast drei Viertel dieser Zeit, 23 Jahre lang, hat er im Rahmen des Fachs Systematische Theologie die Dogmatik vertreten, als Bonner Extraordinarius vom Sommersernester 1892 bis zum Wintersemester 1893/94, als Heidelberger Ordinarius vom Sommersemester 1894 bis zum Wintersemester 1914/15. An diesen Sachverhalt zu erinnern erscheint deswegen nicht überflüssig, weil er in der Wirkungsgeschichte Troeltschs fast verdeckt worden ist, weil er auch in den Deutungen seines Werkes nur selten zur Geltung kommt. Zwischen den Konturen seines akademischen Wirkens einerseits und denjenigen seiner literarischen Wirkungen andererseits ergibt sich in dieser Hinsicht ein auffälliger Kontrast. Die Schwierigkeiten bei der Erinnerung an den Dogmatiker Troeltsch lassen sich ablesen am Schicksal seiner „Glaubenslehre", die Gertrud von le Fort „nach Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912" im Jahre 1925 herausgegeben hat 1 . Bereits damals, zwei Jahre nach Troeltschs Tod, verband sich mit der Edition seiner Dogmatik die Absicht, das gängige Bild seines Wirkens zu korrigieren. Marta Troeltsch schrieb in dem von ihr beigesteuerten „Vorwort", sie wisse sich mit den * Vgl. Bibliographie Nr. 53 1 Walter E. Wyman, jr.: The Concept of Glaubenslehre. Ernst Troeltsch and the Theological Heritage of Schleiermacher, 1983, hat ermittelt, daß die Datierung im Untertitel so nicht zutrifft, daß vielmehr die im Nachlaß von Gertrud von le Fort im Deutschen Literarurarchiv Marbach befindlichen Manuskripte auf SS 1912 und WS 1912/13 datiert sind, in denen Troeltsch in der Tat die Glaubenslehre turnusgemäß behandelt hat. Vgl. aaO., S. 208.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Freunden, welche die Veröffentlichung erbeten hätten, „einig in dem Wunsche, daß über dem Berliner Kulturphilosophen der Heidelberger Theolog nicht ganz vergessen werde" (S. VI). Dieser Wunsch, dessen Formulierung selber signifikant ist („nicht ganz"!), ist nicht in Erfüllung gegangen, jedenfalls damals nicht und schon gar nicht hinsichtlich der „Glaubenslehre". Diese wurde bei ihrem Erscheinen wenig beachtet und in der theologischen Literatur kaum diskutiert. Die wenigen Rezensionen des Buches und die vereinzelten Bezugnahmen auf dasselbe stuften es zumeist als Dokument einer vergangenen Epoche ein. Das Spektrum [326] damaliger theologischer Wortführer, die sich in diesem Urteil vereinigen konnten, reicht von Karl Barth 2 über Paul Althaus 3 bis zu Erich Seeberg4. Eine solche Einschätzung wurde freilich auch durch das genannte Vorwort der Witwe begünstigt, ja geradezu vorweggenommen, wenn es dort hieß: „Es ist eine einzelne Blüte von Troeltschs Schaffen 2

3

4

In „Die christliche Dogmatik im Entwurf" (1927) geht Barth mehrfach auf die zwei Jahre zuvor veröffentlichte „Glaubenslehre" ein, teils referierend, teils den Abstand markierend, u. a. im Zusammenhang mit der Abwehr der Vorstellung, „daß die Dogmatik jeweils das Christentum einzelner eindrucksvoller Führer auf die rechte Formel zu bringen hätte, wie z, B. die Theologie Troeltschs unverkennbar nach dem Bilde Friedrich Naumanns gearbeitet war" (!) (aaO., S. 445 f.). — Barth hat auch in den Bänden der „Kirchlichen Dogmatik" des öfteren auf Troeltsch Bezug genommen. Die ausführlichste dieser Bezugnahmen (aus dem Jahre 1953) schließt mit den Sätzen: „Troeltsch war ein geistreicher und in seiner Weise auch frommer Mann ... Es war aber offenkundig, daß die ,Glaubenslehre' sich bei ihm in ein unverbindliches und uferloses Gerede aufzulösen im Begriff — daß die neuprotestantische Theologie überhaupt bei ihm bei allem hohen Selbstbewußtsein ihres Gehabens in die Klippen bzw. in den Sumpf geraten war. Weil wir da nicht mehr mittun konnten, sind wir gegen Ende des zweiten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts aus diesem Schiff ausgestiegen! Es war zum Katholischwerden, wie denn die Freiin Gertrud von le Fort, der wir die posthume Redaktion und Herausgabe dieses Buches verdanken, tatsächlich ziemlich unmittelbar nach Abschluß dieser Arbeit katholisch geworden ist"(KD IV/1, 427). Die Schlußsätze seiner Rezension in der „Theologischen Literaturzeitung" 1927 (593 — 595) lauten: „... die Welt, deren Symbol Troeltsch wie kein anderer Theologe war, an der er krankte, ist noch nicht überwunden, sie lebt noch in uns allen. So haben seine Bücher Aktualität, bis die evangelische Dogmatik den Geist der Zeit wirklich überwunden hat. Und sie sollen das Theologengeschlecht von heute mahnen, sich diese Arbeit nicht zu leicht zu machen. Ein Zurück hinter die Fragen, an denen Tr. als Theologe sich zerrieben hat, gibt es für keinen. Seine Probleme müssen in jeder kommenden Dogmatik Aufgehoben' sein" (595). Seine Rezension (Deutsche Literaturzeitung 1926, 2127—2133) schließt mit dem Satz: „Diese Glaubenslehre als solche wird heute schwerlich weiter wirken, aber sie bleibt ein Dokument urwüchsiger und weiter Frömmigkeit vom Anfang des 20. Jahrhunderts" (2133).

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und Wirken, herübergeweht aus einer längst versunkenen Zeit, dies Kolleg aus seinen Heidelberger Jahren" (S. V). Die „längst versunkene Zeit" lag 1925 — bei allem, was seither geschehen war — gerade zehn Jahre zurück; die „einzelne Blüte von Troeltschs Schaffen" war seine Heidelberger Hauptvorlesung 5 . Als Walther Köhler 1941 sein Buch „Ernst Troeltsch" veröffentlichte („In memoriam magistri"), hat er zur „Glaubenslehre" lapidar notiert: „Sie ist vergessen" (190). Er dürfte die damalige Situation damit zutreffend beschrieben haben6. Erst [327] ein Menschenalter später ist im Zusammenhang mit einer breiteren Zuwendung wie zu Troeltschs Themen, so zu seinen Schriften, auch der „Glaubenslehre" neue Beachtung zuteil geworden7. Daß diese so lange so wenig Interesse fand, mag im Rückblick auf ein halbes Jahrhundert theologischer Verdrängung und Verleugnung des Gesamtwerks Troeltschs nicht in besonderer Weise auffällig erscheinen. Zudem ist zu berücksichtigen, daß es sich bei dieser Vorlesungsausgabe nicht um die Publikation eigener Manuskripte Troeltschs handelt, sondern um die von Aufzeichnungen der Herausgeberin, welche teils „die zu Beginn jeder Vorlesung gegebenen und an den Anfang jedes Paragraphen gestellten Diktate" (aaO., S. IX) mitteilen, teils die Reinschrift von Notizen bieten, in denen Troeltschs erläuternde Ausführungen festgehalten sind. Die Aufzeichnungen erwecken allerdings den Eindruck der Zuverlässigkeit schon dadurch, daß sie mit den •5 Vgl. dazu die Angaben bei Wyman (s. Anm. 1} über Troeltschs Heidelberger Vorlesungen. Danach hat dieser die zweisemestrige Vorlesung über Glaubenslehre insgesamt elf mal gehalten, also in 22 seiner 42 Heidelberger Semester die Dogmatik traktiert, und zwar in der Regel fünfstündig (vgl. aaO. S. XIV). 6 So führt die ein Jahr zuvor veröffentlichte Dogmatik von Werner Eiert (Der christliche Glaube, 1940) Troeltschs „Glaubenslehre" zwar im Literaturverzeichnis auf, geht jedoch [327] nach Ausweis des Namensverzeichnisses an keiner Stelle auf sie ein, auch auf keine andere Schrift Troeltschs. Das erscheint nicht zuletzt deswegen notierenswert, weil Elerts „Morphologie des Luthertums" (2 Bde., 1931/2) eine ganze Reihe von Verweisen und von kritischen Notizen enthält, vor allem im 2. Band (Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums), der geradezu als Gegenentwurf zur Darstellung Luthers und des Luthertums in Troeltschs „Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" (1912) angesehen werden kann. 7 Ich nenne besonders die wichtige Abhandlung über Troeltschs dogmatische Schriften, die Brian A. Gerrish 1976 unter dem (esoterischen) Titel „Ernst Troeltsch and the possibility of a historical theology" (in: Ernst Troeltsch and the Future of Theology, ed. by John Powell Clayton, 1976, S. 100—135) veröffentlicht hat, sowie die von Gerrish angeregte Dissertation von Walter E. Wyman (s. Anm. l). — Ein Neudruck der „Glaubenslehre" erschien 1981 mit einer ausführlichen Einleitung von Jacob Klapwijk.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

einschlägigen Veröffentlichungen Troeltschs durchweg zusammenstimmen. Daß nicht nur Troeltschs Glaubenslehre, sondern daß seine Schriften zur Dogmatik im ganzen so in den Schatten des Interesses rücken konnten, daß überdies das Verhältnis des Berliner Kulturphilosophen zu dem Heidelberger Theologen zum Thema divergenter Interpretationen werden konnte, daran war Troeltsch selber nicht unbeteiligt. Ich denke besonders an die Art und Weise, wie er 1921 in der autobiographischen Skizze „Meine Bücher" seiner Tätigkeit als Heidelberger Dogmatiker gedacht hat, die sechs Jahre zuvor ihren Abschluß gefunden hatte. Nach Erwähnung seiner Arbeiten in den späteren Heidelberger Jahren, vor allem der „Soziallehren" von 1912, schreibt er dort: „Mit alledem war ich auch öffentlich ein bißchen über die theologische Fakultät hinausgewachsen, deren praktische Erziehungsaufgaben ich übrigens stets mit wärmster Verehrung für den großen Gegenstand und mit menschlicher Liebe zu meinen Schülern betrieben hatte; alle Dogmatik sah ich als etwas Praktisches an, bei dem die Unklarheit und Unsicherheit menschlicher Erkenntnis ihre besonders große Rolle spielen, wo aber doch der praktische Hauptwert sich dem Herzen als brennende und treibende Kraft mitteilen ließ. Meine positiven Ansichten habe ich in den Artikeln Offenbarung, Glaube, [328] Erlösung, Gnade, Prädestination in ,Religion in Geschichte und Gegenwart' niedergelegt. Zu einer ,Dogmatik' habe ich mich begreiflicherweise nicht entschließen können. So ist es verständlich, daß ich die 1915 sich bietende Gelegenheit, an die Berliner philosophische Fakultät als Philosoph überzusiedeln, annahm." 8 Es ist auffällig, wie knapp und wie distanziert hier das zur Sprache kommt, was wie zuvor in Bonn, so auch in Heidelberg den Hauptinhalt seiner akademischen Lehrtätigkeit ausgemacht hat. Wie Troeltschs Vorlesungen so haben auch seine Bücher und sonstigen Publikationen zur Dogmatik einen anderen Umfang und einen anderen Zuschnitt, als das zitierte Selbstzeugnis es erkennbar macht.

II. Troeltsch hat sich in seinen Veröffentlichungen zur Dogmatik in allen für ihn charakteristischen Artikulationsweisen betätigt: als Historiker, 8

Erschienen im 2. Band des Sammelwerks „Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen" (1921, 2. Aufl. 1923); hier zitiert nach dem Abdruck in: Troeltsch: Gesammelte Schriften IV, 1925, S. (3-18) 12 f.

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als Rezensent, als Diagnostiker, als Programmatiker, als Systemfragmentist. Ich nenne jeweils die wichtigsten Dokumente. Von den theologiehistorischen Arbeiten ist vor allem seine Göttinger Doktordissertation und Habilitationsschrift „Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon« (1891) hervorzuheben. Bei den Rezensionen dogmatischer Werke steht es so, daß sie in dem großen Gesamtbestand seiner Besprechungen zwar nur einen kleinen Teil ausmachen, der aber für sich genommen alles andere als eine quantite negligeable darstellt. Vier Jahre lang, von 1896 bis 1899, hat Troeltsch im „Theologischen Jahresbericht" die Abteilung „Religionsphilosophie und theologische Prinzipienlehre" betreut. Seine hier erschienenen Sammelbesprechungen umfassen jeweils zwischen 50 und 70 Seiten. Einzelbesprechungen dogmatischer Werke hat er vor allem den „Göttingischen gelehrten Anzeigen" und der „Theologischen Literaturzeitung" beigesteuert9. Den Rezensionen benachbart sind die diagnostischen Äußerungen zur religiösen und zur theologischen Lage, von denen für die Dogmatik der „Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft" (1909) besonders wichtig ist. Von den programmatischen Aufsätzen zur Theologie und zur Theologiereform hat der über „Die Dogmatik der ,religionsgeschichtlichen Schule'" (1913) herausragende Bedeutung. [329] Eine fragmentarische Ausführung hat das dogmatische Programm — abgesehen von der posthum veröffentlichten „Glaubenslehre" — vor allem in den dogmatischen Artikeln gefunden, die Troeltsch für die Erstauflage von „Die Religion in Geschichte und Gegenwart" geschrieben hat10. Seine Tätigkeit für das Nachschlagewerk verdient auch deswegen eine betonte Erwähnung, weil er im redaktionstechnischen Sinn der Dogmatiker der RGG gewesen ist. Die Titelblätter aller fünf Bände, von denen der erste 1908/09, der letzte 1913/14 erschien, führen Troeltsch als den für DogmaZu den besprochenen Werken gehören u. a. die 3. Auflage der „Dogmatik" von Richard Adalbert Lipsius (GGA 1894), die dreibändige „Lutherische Dogmatik" von Alexander von Oettingen (GGA 1898, 1902, 1905), Martin Kählers „Dogmatische Zeitfragen" (GGA 1899), die „Theologia fundamentalis" (1. Bd.) von Ignatius Ottiger (ThLZ 1898), der 8. Band der „Dogmatischen Theologie" von J. B. Heinrich und C. Gutberiet (ThLZ 1899) sowie Heinrichs „Lehrbuch der katholischen Dogmatik" (ThLZ 1901). Der Verlag J. C. B. Mohr hat den „Soziallehren" 1912 zwei Werbeseiten beigegeben, von denen die erste den im Verlag selbständig erschienenen Schriften Troeltschs gewidmet war, während die zweite die 19 RGG —Artikel aufführte, die bis dahin aus seiner Feder vorlagen. Man wird das als Indiz dafür nehmen können, wie diese Artikel in Troeltschs Umgebung gewichtet wurden.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

tik zuständigen Redakteur auf. Da er nach dem Bericht von Friedrich Martin Schiele im Vorwort zum I. Band (S. V) zu derjenigen Kerngruppe von „Abteilungsredakteuren" gehörte, von der das Werk seit 1905 vorbereitet worden war, hat er sich ein Jahrzehnt lang dieser Aufgabe gewidmet. Zu den Obliegenheiten der Abteilungsredakteure gehörte die Aufstellung der Stichworte ebenso wie die Gewinnung der Mitarbeiter, so daß Troeltsch weit über seine eigenen Artikel hinaus das Bild der Dogmatik in der RGG bestimmt haben dürfte. Zu beachten ist auch dies, daß er in der Lage war zu wählen, welche Artikel er selber übernehmen wollte, ebenso das andere, daß er in die Lage kommen konnte, Artikel übernehmen zu müssen, die nicht rechtzeitig eingegangen waren. Insgesamt sind es 26 Artikel, die Troeltsch selbst beigesteuert hat. Im I. Band (1909): Aemter Christi; Akkomodation Jesu; Berufung; Concursus divinus. Im II. Band (1910): Dogma; Dogmatik; Erlösung II. Dogmatisch; Eschatologie IV. Dogmatisch; Gericht Gottes 2. (dogmatisch); Gesetz I. Religionsphilosophisch; II. Dogmatisch, III. Ethisch; Glaube III. Dogmatisch; Glaube IV. Glaube und Geschichte; Glaube V. Glaubensartikel; Gnade Gottes III. Dogmatisch; Gnadenmittel; Heilstatsachen. Im III. Band (1912): Kirche III. Dogmatisch. Im IV. Band (1913): Naturrecht, christliches; Offenbarung; Prädestination III. Dogmatisch; Prinzip, religiöses; Protestantismus II. P. im Verhältnis zur Kultur. Im V. Band (1913): Theodizee II. Systematisch; Weiterentwickelung der christlichen Religion. Von diesen 26 Artikeln dürften drei nicht der von Troeltsch betreuten Abteilung „Dogmatik" zuzurechnen sein: Naturrecht, christliches; Protestantismus im Verhältnis zur Kultur; Weiterentwickelung der christlichen Religion. Es fällt auf, daß es sich in allen drei Fällen um Themen handelt, die in spezifischer Weise als Themen Troeltschs angesprochen werden können. Für die dogmatischen Artikel wird man das nicht durchweg sagen können. Bei einigen ist die Vermutung möglich, daß der Abteilungsredakteur sie pflichtmäßig übernommen hat, so etwa bei den vier kurzen Artikeln im I. Band. Daneben steht jedoch eine ganze Serie von Artikeln zu Grund- und Hauptthemen, bei denen er die [330] Gelegenheit zu programmatischer Äußerung genutzt hat. Dazu gehören diejenigen, die er in dem zitierten Selbstzeugnis als Dokumente seiner „positiven Ansichten" erwähnt hat: Offenbarung, Glaube, Erlösung, Gnade, Prädestination11. Andere Artikel können nach 11

Man kann erwägen, ob er an der genannten Stelle bewußt nur diese Artikel aufgeführt hat, ob gar die vom Alphabet abweichende Reihenfolge bedeutungsvoll sein könnte, jedoch dürfte die Vermutung einer unpeniblen Zitier- und Verfahrensweise die größere Wahrscheinlichkeit für sich haben.

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Umfang und nach sachlichem Gewicht ihnen an die Seite gestellt werden: Dogmatik, Eschatologie, Kirche, Prinzip, Theodizee12. Als Besonderheit ist noch zu notieren, daß Troeltsch von neun der großen dogmatischen Artikel in den Jahren 1907/08 bereits Vorformen in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht hat, u. a. in der „Christlichen Welt", ehe die Artikel — zum Teil erst Jahre später — in bearbeiteter Form in der RGG erschienen13. Die Veröffentlichungen, die Troeltsch dem Themenfeld der Dogmatik gewidmet hat, insgesamt von beachtlichem Umfang, zeigen in den Grundzügen eine einheitliche Auffassung des Fachs, seiner Aufgaben und seiner Probleme. Auf drei Sachverhalte soll im folgenden näher eingegangen werden, zunächst auf Troeltschs Einschätzung der Situation der modernen Dogmatik, sodann auf seine Vorstellungen von einer künftigen Dogmatik, schließlich auf seine Sicht der Herkunftsgeschichte moderner Dogmatik.

III. Die Situation der modernen Dogmatik hat Troeltsch in elementarer Weise dadurch gekennzeichnet gesehen, daß dieses Fach aufgehört hat, die repräsentative Gestalt wissenschaftlicher Theologie zu sein. In seinem „Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft", 1909 in der „Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie" erschienen, wird der Dogmatik rundum attestiert, daß sie nicht mehr als Wissenschaft wird auftreten können. Als Grundthema des behandelten Zeitraums wird namhaft gemacht „die Trennung von Historic und Dogmatik, die rein wissenschaftlich ungebundene Entwicklung der ersteren und die praktisch-vermittelnde, auf streng wissenschaftliche Haltung verzichtende Arbeitsweise der letzteren" (Gesammelte Schriften II, 199). In die Rolle der repräsentativen Theologie ist sowohl nach Umfang und Gewicht der faktisch betriebenen Arbeit als auch im [331] Blick auf die öffentliche Bedeutung die historische Theologie eingerückt. Der Bedeu12

13

Den Artikeln „Prinzip, religiöses" und „Theodizee" ist die Bevorzugung zuteil geworden, in die 2. Auflage der RGG, die zwischen 1927 und 1931 erschien, übernommen zu werden. Das betrifft die Artikel: Dogmatik, Erlösung, Eschatologie, Glaube, Glaube und Geschichte, Gnade Gottes, Offenbarung, Prädestination, Theodizee. Vgl. dazu die mustergültig präzisen Nachweise in der von Friedrich Wilhelm Graf und Hartmut Ruddies bearbeiteten „Ernst-Troeltsch-Bibliographie", 1982.

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tungsverlust der Dogmatik wird im Kontrast zur Entwicklung der historischen Fächer kraß, fast schnöde herausgestellt, wenn es heißt: „Die historisch-exegetische Forschung bildet einen immer ungeheuerlicher anschwellenden Strom und wendet sich an das allgemeine Interesse; die dogmatischen Arbeiten bilden ein schmales Rinnsal, das nur die speziell theologischen Gefilde tränkt" (aaO., II, 199). Man wird freilich nicht verkennen dürfen, daß Troeltsch mit dieser Sicht nicht allein gestanden hat und daß eine derartige Diagnose nicht erst 1909 möglich war. Von Adolf von Harnack wird die bekannte Anekdote überliefert, er habe einem Schüler, der bei der Aufstellung seiner Bibliothek half, die Anweisung gegeben: „Die Dogmatiker stellen wir zur schönen Literatur."14 Die Szene spielt, wenn sie zutreffend überliefert ist, im Jahre 1879, als der Achtundzwanzigj ährige dem Ruf auf ein kirchengeschichtliches Ordinariat in Gießen gefolgt war. Das Diktum des jugendlichen Kirchenhistorikers wirkt wie eine Vorwegnahme derjenigen Einschätzung, die Troeltsch dreißig Jahre später formuliert hat. Gleichwohl zeigt dessen Diagnose in zweifacher Hinsicht spezifische Konturen. Zunächst: Anders als Harnack spricht Troeltsch über das eigene Fach. Es dürfte selten sein, daß ein akademischer Lehrer in solcher Kühle den Bedeutungsschwund der von ihm selber vertretenen Disziplin analysiert und daß er für diese auf wissenschaftliche Ansprüche so nachdrücklich verzichtet hat. Troeltschs Ausführungen sind schon aus diesem Grunde ungewöhnlich und eindrücklich, auch dort, wo sie fast beklemmend wirken. Vor allem: Troeltsch proklamiert nicht das Ende der Dogmatik, nicht deren Verabschiedung. Neben der Analyse ihres Bedeutungsverlustes findet sich bei ihm ein anderer Strang von Aussagen, nach denen die Dogmatik nun doch „den eigentlichen Hauptzweck der Theologie" (Gesammelte Schriften II, 505) ausmacht. Als eigentliches Ziel der Umbruchzeit erscheint eine neue, eine wahrhaft moderne Dogmatik. Noch im Vorwort zum II. Band der „Gesammelten Schriften" (1913) hat Troeltsch eine solche Zielsetzung in das dort mitgeteilte eigene Arbeitsprogramm eingezeichnet. Über die zu erstrebende Neugestaltung der Theologie, das „neue Ganze", schreibt er: „Was mir hier vorschwebt, wird aus diesem Bande völlig deutlich werden: es ist ein relativ konservatives System der Erhaltung und Sammlung unserer religiösen Kräfte auf dem Boden eines kritischen Transzendentalismus, der dem Spezifisch-Religiösen die Eingliederung in das wissenschaftliche Denken und doch die Freiheit der selbständigen Bewegung gewährt. Für die Zukunft wird es sich darum handeln, die 14

Vgl. Agnes von Zahn-Harnack: Adolf von Harnack, 1936, S. 115.

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Religionsphilosophie und Ethik auszuführen, für die so die Grundlegung geschaffen ist, und dem dann die Glaubenslehre und christliche Sittenlehre folgen zu lassen, die sich aus einer solchen Religionsphilosophie und Ethik entwickeln müssen. Für die gegenwärtige geistige Situation ist Religionsphilosophie und allgemeine Ethik entscheidend. Aber für die Sache selbst liegt natür-[332] lieh der Schwerpunkt in der konkreten Ausführung des religiösethischen Gedankens selbst" (aaO., S. VII). Es sind drei Stufen, die in diesem Arbeitsprogramm unterschieden werden: einmal die schon geleistete Grundlegung der neuen Religionsphilosophie und Ethik, sodann als unmittelbar dringliche Aufgabe die Weiterarbeit auf dieser Grundlage, schließlich als künftige Aufgabe — „für die Sache selbst... der Schwerpunkt" — die neue Glaubens- und Sittenlehre. Bei der dritten Stufe kann man unsicher sein, ob Troeltsch noch ein eigenes Arbeitsvorhaben angeben oder ob er eine Aufgabe des Zeitalters benennen wollte, die dann Späteren zufiele. Für die erste Annahme spricht, daß Troeltsch einen entsprechenden Arbeitsplan auch in einem Brief an Friedrich von Hügel vom 22. Februar 1912 skizziert hat, wo er zu den gerade erschienenen „Soziallehren" bemerkt: „Freilich aufs Ganze gesehen ist auch das ein Vorbereitungswerk und nicht mein eigentliches Werk. Dieses muß eine Religionsphilosophie und eine Ethik sein, worauf eine Glaubenslehre und eine christliche Ethik folgen sollen. Das ist mein Plan." 15 Wer die zweite Annahme favorisieren wollte, würde den prophetischen Zug in Troeltschs Darlegung würdigen können, denn die nächste Phase protestantischer Theologie sollte in der Tat im Zeichen zunächst der Dogmatik, seither der Ethik stehen, wenn auch die Art der Ausführung sich weithin anders gestaltet hat, als es den Vorstellungen Troeltschs entsprochen haben dürfte.

IV. Wie hat sich Troeltsch die künftige moderne Dogmatik vorgestellt? Seine systematisch-theologischen Veröffentlichungen geben darüber nur in 15

Ernst Troeltsch: Briefe an Friedrich von Hügel 1901 — 1923, hg. von Karl-Ernst Apfelbacher und Peter Neuner, 1974, S. 93. — Die Äußerung von 1921 — „Zu einer .Dogmatik' habe ich mich begreiflicherweise nicht entschließen können" — scheint damit schwer vereinbar. Als schlichteste Erklärung bietet sich an, daß Troeltsch das faktische Nichtzustandekommen des ursprünglich einmal Geplanten im Rückblick als begreiflich angesehen und einen förmlichen Entschluß verneint hat.

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begrenzter Weise Auskunft, da sie überwiegend derjenigen Thematik gewidmet sind, die im zitierten Vorwort unter den Titel „Religionsphilosophie und Ethik" gestellt ist, die in anderen Erörterungszusammenhängen, die Gesichtspunkten der theologischen Enzyklopädie folgen, als die einer neuen theologischen Disziplin erscheint, „die den Namen prinzipielle Theologie oder Lehre von der religiösen Gewißheit führt oder auch Religionsphilosophie genannt wird" 16 . Auch in den programmatischen [333] Darlegungen zur Theologiereform bildet diese neue Prinzipienlehre das Hauptthema. Als Neben- und Folgethema kommt jedoch regelmäßig auch die Dogmatik im engeren Sinne, die materiale Dogmatik, zur Sprache. In dem Bild, das Troeltsch von ihrer künftigen Gestaltung zeichnet, heben sich drei Züge besonders heraus. Zunächst: Diese Dogmatik ist Glaubenslehre. Troeltsch hat diesen Begriff als die sachgemäße Benennung moderner Dogmatik angesehen, obwohl er selber in der Regel den herkömmlichen Namen verwendet. Als Vorzug des Begriffs Glaubenslehre hat er angegeben, daß dieser den „bekenntnismäßig subjektiven Charakter" andeute (Gesammelte Schriften II, 516), während der Ausdruck Dogmatik der kirchlich-autoritativen Periode des Christentums entspreche (vgl. RGG II, 106). Die als Glaubenslehre verstandene Dogmatik hat es nicht mit Dogmen zu tun, weder im Sinne kirchlicher Lehrsetzungen noch im Sinne eines aus der Bibel erhobenen Lehrsystems. Vielmehr: „Es ist die Darlegung der Glaubensgedanken auf wissenschaftlich-religionsphilosophischer Basis und unter Anerkennung des modern wissenschaftlichen Denkens zur Erziehung und Beratung des auch für sich in seinem Glauben selbständigen praktischen Geistlichen" (Artikel Dogmatik, in: RGG II, 109). Sodann: Die moderne Dogmatik ist individuelle Dogmatik. Die faktische Individualisierung des Fachs, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, mit ihrem Nebeneinander konkurrierender individueller Systeme — Harnacks „schöne Literatur"! —, wird von Troeltsch programmatisch bestätigt. Die Dogmatik empfängt ihre Fassung durch die Ideen und Überzeugungen des jeweiligen Dogmatikers. Sie hat den Charakter eines persönlichen „Bekenntnisses". Die „individuelle Mannigfaltigkeit verschiedener Dogmatiken in einer Kirche" (Gesammelte Schriften II, 517) gehört zum Bilde des modernen Christentums. 16

Glaubenslehre (§ l, Diktat), S. 1. — Die Benennungsalternative „Lehre von der religiösen Gewißheit" kann vielleicht als Erinnerungsgruß Troeltschs an seinen Erlanger Lehrer Franz Hermann Reinhold Frank und dessen „System der christlichen Gewißheit" (2 Bde., 1870, 18842) verstanden werden.

5. Ernst Troeltsch als Dogmatiker [1987]

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Schließlich: Die Dogmatik ist ein praktisch-theologisches Fach. Das wird wieder und wieder betont. Diese enzyklopädische Platzanweisung schließt in sich, daß frühere Ansprüche des Fachs verabschiedet werden, indem es von den modernen Gestalten wissenschaftlicher Theologie abgehoben wird. Anders als Exegese und Historic, anders auch als die religionsphilosophische Prinzipienlehre ist die Dogmatik keine wissenschaftliche Disziplin. Bei dieser Auffassung handelt es sich nicht um ein Resultat später Resignation Troeltschs, sondern, wie seine Promotionsthesen von 1891 zeigen, um eins der frühesten Motive seiner theologischen Programmatik. Die zwölfte dieser Thesen lautet: „Das wissenschaftliche Moment der Dogmatik liegt in der Prinzipienlehre; bei der Darlegung des Glaubensinhaltes selbst kann von Wissenschaft im strengen Sinne nicht mehr die Rede sein."17 Die Einordnung als praktisch-theologisches Fach zeigt die Funktion der Dogmatik an. „Sie ist ein Bekenntnis und eine Zergliederung dieses Bekenntnisses als Anleitung [334] für Predigt und Unterricht, die auch ihrerseits nur Bekenntnis sind, aber einer ausgeführten und durchsichtigen Anleitung für ihre Arbeit bedürfen." 18 Die Aufgabe zwar nicht der Theologie im ganzen, wohl aber die der Dogmatik ist insofern eins mit der Aufgabe der Predigt 19 . 17

18

19

Thesen zur Erlangung der theologischen Lizentiatenwürde an der Georg-August-Universität zu Göttingen 1888 — 1893, hg. von Horst Renz, in: Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf (Hg.): Troeltsch-Studien, 1982, S. (291-305) 300. Die Dogmatik der ,religionsgeschichtlichen Schule' (1913), in: Gesammelte Schriften II, 514. — Der „Zweck" der Dogmatik wird in diesem Aufsatz ausdrücklich nur auf die „Unterweisung von Predigern und Lehrern einer Gemeinschaft" bezogen im Sinne eines „Leitfaden(s) christlich-religiöser Gedanken zu freiem Gebrauch", mit dem Zusatz: „Der einzelne Laie bedürfte eines solchen nicht, sondern kann sich mit einer etwas prinziplosen Mischung von praktischen Lebenserfahrungen, wissenschaftlichen Theorien und religiösen Aphorismen begnügen, wie er das ja auch in der Regel tut" (aaO., S. 515). Der „Dogmatik"-Artikel der RGG, des „Handwörterbuchs in gemeinverständlicher Darstellung", hatte 1910 auch den Laien als Adressaten der Glaubenslehre eigens ins Auge gefaßt: „Darüber hinaus soll sie aber auch jedem an diesen Fragen Interessierten zur Selbstverständigung über sein religiöses Denken dienen" (RGG II, 109). Das bekannte Diktum Karl Barths aus seinem öffentlichen Briefwechsel mit Adolf von Harnack im Jahre 1923 — „Die Aufgabe der Theologie ist eins mit der Aufgabe der Predigt" — ist nicht fern von der Dogmatikauffassung Troeltschs, von deren Voraussetzungen freilich dadurch getrennt, daß es die Theologie im ganzen wesentlich als Dogmatik verstehen dürfte. Vgl. K. Barth: Fünfzehn Antworten an Herrn Professor von Harnack, in: Die christliche Welt 37 (1923), abgedruckt in: Anfänge der dialektischen Theologie, hg. von Jürgen Moltmann, 1. Bd., 19662, S. (325-329) 326.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Wie hat Troeltsch den Stand der Realisierung solch moderner Dogmatik beurteilt? Seine Äußerungen zu dieser Frage ergeben kein einheitliches Bild. In denjenigen Erörterungszusammenhängen, die von der Krisendiagnostik bestimmt sind, erscheint die moderne Dogmatik ganz als eine künftige Aufgabe. „Noch ist sie nicht geschaffen", heißt es in dem Aufsatz über die Dogmatik der religionsgeschichtlichen Schule von 1913 (Gesammelte Schriften II, 523). Es ginge dann also um eine Dogmatik, die ganz anders wäre als die schon vorhandene. Das ist jedoch nur die eine Seite der Sache. Vergleicht man nämlich das programmatisch entworfene Bild künftiger Glaubenslehre mit demjenigen, das Troeltsch von der Dogmatik seiner eigenen Gegenwart zeichnet, so wird man das Resultat oft kaum anders zusammenfassen können als in der Feststellung: Wie sich die Bilder gleichen! Im „Rückblick" von 1909 heißt es: „Die Dogmatik hat sich überall von dem Erweis wissenschaftlich gültiger, allgemeiner Wahrheiten auf persönliche, subjektive, bekenntnisartige Überzeugungen und deren möglichste Vermittlung mit der die Kirchen beherrschenden Tradition und Ausdrucksweise zurückgezogen" (Gesammelte Schriften II, 199). Damit aber hat sie offenbar gerade das getan, was sie tun sollte und was sie auch weiterhin tun soll. An späterer Stelle im gleichen Aufsatz wird die Dogmatik der Ritschl-Schule folgendermaßen charakterisiert: „... verselbständigt gegen die eigentliche Historic und gegen die Spekulation hat die neue Dogmatik die Aufgabe, sowohl die orthodoxe als die liberale Dogmatik mit ihren Voraussetzungen wirklicher Erkenntnisse ins Grab zu legen und statt dessen eine [335] aus der Predigt Jesu, Pauli und Luthers geschöpfte einheitliche praktisch-religiöse Lebensrichtung so zu formulieren, daß sie nicht als Erkenntnis des Transzendenten, sondern als lediglich religiöse, an der Erfahrungsgewißheit von Jesu erlösender Offenbarungsbedeutung gewonnene Deutung der Dinge und der Welt das praktische Leben zu leiten imstande ist."20 Löst man, wie es hier geschehen ist, diese Beschreibung der „neuen Dogmatik" au? ihrem Kontext, so liest sie sich wie eine Formulierung dessen, was die künftige Dogmatik nach Troeltschs Vorstellung tun und sein soll. Infolgedessen 20

Gesammelte Schriften II, 205. — Vgl. dazu Wilhelm Herrmanns Beitrag „Christlichprotestantische Dogmatik" zu dem Sammelwerk „Die Kultur der Gegenwart" (Teil I, Abt. IV, 2: „Systematische Christliche Religion", 19092, S. 129-180). Auf Herrmanns Schlußsatz: „Auch aus dieser Dämmerung wird einmal ein Tag, und dann wird die positive mit der liberalen Dogmatik in dasselbe Grab geworfen" (aaO., S. 178), spielt Troeltsch an.

5. Ernst Troelcsch als Dogmatiker [1987]

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hat er auch durchaus auf schon vorhandene Dogmatik als Beispiel und Muster Bezug nehmen können, insbesondere auf Wilhelm Herrmann 21 . Danach scheint es, als habe die Zukunft der modernen Dogmatik bereits begonnen. Es ginge also nicht darum, daß diese eine gänzlich andere Gestalt annehmen müßte, sondern darum, daß sie — unter Respektierung der von den wissenschaftlichen Teilen der Theologie markierten Bedingungen — weiterzuschreiten hätte in Bahnen, die schon längst beschritten sind.

V.

Es bleibt noch einzugehen auf die Frage, wann die Zukunft der modernen Dogmatik begonnen hat. Zur Eigenart der Argumentation Troeltschs gehört es, daß er seine Thesen und Postulate in weite historische Zusammenhänge einbettet, so daß sie sich als Resultate einer langen Entwicklung, als deren wahre Konsequenz darstellen. Ich begrenze mich hier auf denjenigen theologischen Klassiker, auf den er sich vor allen anderen berufen hat, auf Schleiermacher. In dessen Werk sind es zwei Sachverhalte grundlegender Art, auf die Troeltsch Bezug nimmt. Es ist einmal das theologische Programm, das Schleiermacher in seiner „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" (1811, 18302) entworfen hat. Darüber hat Troeltsch sagen können: „Es kann von Schleiermachers eigener Lehre kaum ein Stein ganz auf dem anderen bleiben, aber sein Programm bleibt das große Programm aller wissenschaftlichen Theologie und bedarf somit nur der Ausarbeitung, nicht des Ersatzes durch neue Erfindungen" (Gesammelte Schriften II, 225 f.). Insbesondere hat Troeltsch in den Entwurf einer theologischen Fundamentaldisziplin, den Schleiermacher im I. Teil seiner Schrift unter dem Titel „Philosophische Theologie" entwickelt hat, die eigenen Fragestellungen einzeichnen können. Zum anderen hat er Schleiermachers Fassung der Aufgabe der Dogmatik als wegweisend angesehen. Über Schleiermachers Dogmatik „Der christliche Glaube" [336] (1821/22, 1830/312) hat er geurteilt, sie sei, wenn auch schon veraltet, „das einzige ungefähre Beispiel" für die ihm selber vorschwebende moderne Dogmatik (Gesammelte Schriften II, 524). Nach den Aufzeichnungen von Gertrud von le Fort hat er in der 21

Vgl. Gesammelte Schriften II, 517.

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Vorlesung erklärt, daß keiner der theologischen Zeitgenossen sich so eng an Schleiermacher anschließe wie er selber (Glaubenslehre 130). Auch für den Begriff Glaubenslehre hat Troeltsch sich auf Schleiermacher berufen, „der den Namen Dogmatik getilgt und die Bezeichnung als Glaubenslehre eingeführt" habe (Artikel Dogmatik, in: RGG II, 109; ähnlich Glaubenslehre 10). Diese Annahme freilich trifft nicht zu. Schleiermacher hat den Begriff Dogmatik keineswegs getilgt, vielmehr „Dogmatische Theologie" als Oberbegriff für Glaubenslehre und Sittenlehre verwandt. Die Bezeichnung Glaubenslehre brauchte er nicht einzuführen, da sie im theologischen Vokabular schon im 18. Jahrhundert geläufig war. Eine programmatische Verwendung von „Glaubenslehre" in der Weise Troeltschs findet sich bei Schleiermacher gerade nicht. Doch das betrifft nur den Gebrauch der Vokabeln. Wie stellt sich im Blick auf das Verständnis der Sache das Recht der Bezugnahme Troeltschs auf Schleiermacher dar? Für die Antwort auf diese Frage bietet sich die Formel von Radio Eriwan an: Im Prinzip ja, aber... Im Prinzip ja: Die Übereinstimmung hinsichtlich der Auffassung von Rolle und Funktion der Dogmatik betrifft insbesondere zweierlei. Sie betrifft einmal die Einsicht, daß unter den modernen Arbeitsbedingungen der Theologie die Dogmatik zu einem einzelnen Fach geworden ist, das nicht mehr die Theologie im ganzen repräsentiert. Die Übereinstimmung betrifft andererseits das Verständnis der Dogmatik nicht als Darlegung eines Systems von Dogmen, sondern als Rechenschaft über den Glauben. Aber: Troeltsch hat die Übereinstimmung in höherem Maße in Anspruch genommen, als es der Sachlage entspricht, und zuweilen in seine Schleiermacher-Darstellung förmlich Züge der eigenen Auffassung eingezeichnet. Ich sehe hier ab von den Themen der materialen Dogmatik — in diesem Bereich hat Troeltsch in seiner Glaubenslehre-Vorlesung selber Differenzen markiert — und beziehe mich lediglich auf das Verständnis der Aufgabe und auf das daraus resultierende Gesamtgepräge der Dogmatik. Schleiermachers Definition des Fachs lautet: „Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer bestimmten Zeit geltenden Lehre" (§ l der Glaubenslehre von 1821/22; vgl. § 19 der 2. Auflage von 1830/31). Das ist nun deutlich eine andere Definition als diejenige, welche Troeltsch dem Fach geben wollte. Auch als Charakterisierung der Beiträge zur Dogmatik, die Troeltsch vorgelegt hat, wäre Schleiermachers Formel kaum geeignet. Ich hebe zwei Sachverhalte hervor. Erstens hat Schleiermacher den Status des Fachs anders bestimmt als Troeltsch. Er hat die Dogmatik als Wissenschaft bezeichnet und verstan-

5. Ernst Troeltsch als Dogmatiker [1987]

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den, Troeltsch hat ihr diesen Charakter ausdrücklich abgesprochen. Was dabei jeweils unter Wissenschaft verstanden ist, welcher Anspruch sich hier und dort mit diesem Titel verbindet, das wäre freilich näher zu untersuchen und im Zusammenhang mit den Wandlungen [337] der allgemeinen Wissenschaftsauffassung zu erörtern. Solche Verwissenschaftlichung der Frage danach, was Wissenschaft als Anspruch der Dogmatik bedeuten oder nicht bedeuten kann, soll hier keineswegs abgewiesen, aber nicht weiter verfolgt werden. In jeder möglichen Fassung der Sache jedoch dürfte Wissenschaft nicht zuletzt einen bestimmten modus tractandi bezeichnen, Wissenschaft als Stil. Es ist nicht zu übersehen, daß die Glaubenslehre Schleiermachers einen anderen Modus und Gestus der Erörterung zeigt als diejenige Troeltschs. Troeltsch selber kann dafür als Zeuge aufgerufen werden, der über Schleiermachers Glaubenslehre geurteilt hat, sie sei „ein für den Laien ungenießbares, sichtlich technisch-theologisches Buch"22. Das ist in der Tat richtig. Dieses Gepräge der Dogmatik Schleiermachers hängt damit zusammen, daß dieser die Dogmatik anders als Troeltsch nicht als eine praktisch-theologische Disziplin verstanden hat — was Troeltsch ihm freilich als seine eigentliche Meinung zuschreiben wollte23 —, sondern — auffällig genug — als eine historisch-theologische Disziplin. In der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" gehört sie dem dritten Teil der historischen Theologie zu, der „die geschichtliche Kenntnis von dem gegenwärtigen Zustande des Christentums" als Thema und Aufgabe hat. Im Rahmen eines Programms historischer Theologie, das die wissenschaftliche Bearbeitung der eigenen Gegenwart mit umfaßt, ist der Dogmatik als ihre spezifische Aufgabe zugewiesen die Darstellung und Erörterung der kirchlichen Lehre zu einer bestimmten Zeit. In dieser Aufgabenbestimmung ist die zweite wichtige Differenz beschlossen. Schleiermacher hat die Thematik der Glaubenslehre anders bestimmt als Troeltsch. Der volle Titel seiner Dogmatik lautet „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt". Diesen Titel hätte die Glaubenslehre Troeltschs nicht führen können. Die Bezugnahme auf die evangelische 22

21

Schleiermacher und die Kirche, in: Schleiermacher der Philosoph des Glaubens (Vorwort von Friedrich Naumann), 1910, S. (9—35) 27. „Die Dogmatik wurde ... von Schleiermacher geradezu der praktischen (er selber sagt freilich .historischen') Theologie zugewiesen und mit der Aufgabe betraut, die Vermittlung und Abgrenzung zwischen wissenschaftlichem Denken und religiöser Verkündigung vorzunehmen" (Gesammelte Schriften II, 201).

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I. Zum theologiegeschichtlichen Kontext

Kirche, auf ihre Grundsätze, auf ihre Bekenntnisschriften — das alles hat für die Dogmatik Troeltschs anders als für die Schleiermachers keine konstitutive Bedeutung. Troeltschs Glaubenslehre ist individuelles Bekenntnis, Darlegung persönlicher Überzeugungen, mit einem Wort: sie ist Privatdogmatik, während die Glaubenslehre Schleiermachers als kirchliche Dogmatik konzipiert und gestaltet ist. Die Differenz, die an dieser Stelle hervortritt, reicht über die Auffassung der Dogmatik hinaus und würde eine eigene Erörterung verdienen. Troeltsch hat einen aspektund ideenreichen Aufsatz über „Schleiermacher und die Kirche" geschrieben, der nach wie vor zum Besten gehört, was es über dieses Thema zu lesen gibt (s. Anm. 22). Er könnte ein methodisches Muster, zugleich eine Kontrastfolie abgeben für die Erörterung des Themas „Ernst Troeltsch und die Kirche".

II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

6. „Offenbarung" in Schleiermachers Glaubenslehre' [1956] Gliederung I. „Offenbarung" in Schleiermachers Glaubenslehre? II. Das Gottesbewußtsein. („Offenbarung" in der Dogmatik) III. „Urtatsache" und „Ursprünglichkeit" („Offenbarung" in der Religionsphilosophie) IV. Die „menschliche" Offenbarung („Offenbarung" in der Ethik) V. Ergebnisse Auf die Aufstellung eines Literaturverzeichnisses glaube ich verzichten zu können, denn Schleiermachers Offenbarungsbegriff hat in der seinem Werk und dessen Problemen gewidmeten umfangreichen Literatur so gut wie keine Beachtung gefunden. Mit einigen der kurzen Äußerungen zu diesem Thema, die ich da und dort fand, werde ich mich im Laufe der Darstellung auseinandersetzen. Schleiermacher wird nach folgenden Ausgaben zitiert: Glaubenslehre 1. Aufl. Bln. 1821 Reimer, zitiert als GL 1. Aufl. Glaubenslehre 2. Aufl. Bln. 1830/31 Reimer, zitiert als GL Sendschreiben an Lücke, Ausgabe von Mulert 1908, zitiert als SLü Reden 1. Aufl., Ausgabe von Otto, Seitenzahlen der Urfassung, zitiert als R Philos. Ethik, Ausgabe von Kirchmann, Bln. 1870, zitiert als PhE

Wissenschaftliche Hausarbeit der Prüfungskommission der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

I. „Offenbarung" in Schleiermachers Glaubenslehre ? Der Begriff der Offenbarung spielt seit der Orthodoxie eine beachtliche Rolle in der protestantischen Theologie. Er hat es in jüngerer Zeit teilweise sogar zum theologischen Zentralbegriff gebracht, und auch dort, wo gegen „die Inflation des Begriffs der Offenbarung in der gegenwärtigen Theologie"1 Protest laut wird, ist man doch weit davon entfernt, ihm etwa nur eine untergeordnete Stellung anweisen zu wollen. Dieser Sachverhalt ist uns so selbstverständlich geläufig, daß ein erstes Hören auf Schleiermachers Meinung in dieser Sache nicht ohne ein gewisses Erstaunen geschehen kann. Von einer ähnlichen Rolle des Begriffs kann bei ihm keine, aber auch gar keine Rede sein. Im Gegenteil — Schleiermacher hat im Grunde mit dem Begriff der Offenbarung einfach nichts Rechtes anzufangen gewußt. Er hat ihn zwar als irgendwie zum Arsenal der theologischen Begrifflichkeit gehörig aufgenommen, er hat sich auch Mühe darum gemacht, ihm einen präzisen Sinn zu geben — aber er hat das aus Pietät und nicht aus wirklichem Interesse getan, er hat sich geweigert, dem Begriff in seiner Dogmatik Bürgerrechte zu verleihen. In der ersten Auflage seiner Glaubenslehre hat er es klipp und klar gesagt: „... diese Ausdrücke positiv und geoffenbart stehen nur hier wie aus einer fremden Sprache, und werden nur gebraucht, um sie wieder zu verlassen."2 Er halte es für geratener, „von dem Ausdruck keinen Gebrauch in einer Mannigfaltigkeit von Formeln zu machen" schreibt er an Lücke.3 Daß nun der Begriff zwar nicht in einer „Mannigfaltigkeit", aber immerhin doch in einer Anzahl von „Formeln" auftaucht, daß Schleiermacher ihn nicht einfach ganz beiseite gelassen hat, das mag wohl wie die Bewahrung so vieler anderer von ihm nur uneigentlich gebrauchter Vorstellungen und Begriffe mit seinem Bemühen um die „geschichtliche Haltung" und den „kirchlichen Charakter" seiner Theologie zusammenhängen. Schleiermacher konnte das Neue, das zu sagen ihm am Herzen lag, in seiner eigenen Sprache besser sagen als in der herkömmlichen theologischen Begrifflichkeit, aber die Sorge, daß sein Buch „ein bloßes Privatbuch ... ein Kabinettstück gleichsam in der theologischen Literatur" werden könnte, ließ ihn vor revolutionären Gesten zurückschrekken. Er vertraute darauf, daß die weitere Entwicklung der Dogmatik von 1 2 1

So Paul Althaus in der Zeitschrift für Syst. Theologie XVIII 1941, S. 134-149. GL 1. Aufl. S 19 Anm. 1,92 SLü S. 57

6. „Offenbarung" in Schleiermachers Glaubenslehre [1956]

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allein alles unbrauchbar gewordene Vorstellungs- und Begriffsgut der Dogmengeschichte zur Aufbewahrung übergeben würde. Dem Offenbarungsbegriff hat er kein anderes Schicksal zugedacht.4 Dieser Sachverhalt muß bei allem, was im Folgenden über Schleiermachers Gebrauch des Offenbarungsbegriffs zu sagen sein wird, als Hintergrund gesehen werden. Wo immer der Begriff auch vorkommt, er ist stets nur einer, der auch benutzt werden kann — Schleiermachers eigener Begriff ist er nicht.

II. Das Gottesbewußtsein („Offenbarung" in der Dogmatik) „Wenn man von einer ursprünglichen Offenbarung Gottes an den Menschen oder in dem Menschen redet, so wird immer eben dieses damit gemeint sein, daß dem Menschen mit der allem endlichen Sein nicht minder als ihm anhaftenden schlechthinnigen Abhängigkeit auch das zum Gottesbewußtsein werdende unmittelbare Selbstbewußtsein derselben gegeben ist."5 So lautet der erste Satz der Glaubenslehre, in dem der Begriff der Offenbarung auftaucht. Religion, Frömmigkeit ist eine „Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins" (§ 3 Leitsatz) — allein im Gefühl, im Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit gibt es eine Beziehung zwischen Gott und Mensch, nur da und da wirklich. Das ist der Zentralsatz in Schleiermachers theologischem Programm. Von ihm her gewinnen alle Ausführungen der Dogmatik ihre Gestalt, von ihm her gewinnt auch der Begriff der Offenbarung seinen Sinn. Das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl selbst ist eine „ursprüngliche Offenbarung Gottes an den Menschen oder in dem Menschen". Es wird nur dann ein klares Selbstbewußtsein, wenn es zum Gottesbewußtsein wird. Daß der Mensch Gottesbewußtsein hat, das ist gemeint, wenn von einer ursprünglichen Offenbarung Gottes geredet wird. Der Mensch, denn das zum Gottesbewußtsein werdende schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl beruht „auf dem schlechthin gemeinsamen Wesen des Menschen"6. In 4

Man sollte also nicht von Schleiermachers „vertieftem Begriff der Offenbarung" (so Paul Wernle, Melanchthon u. Schleiermacher, Tübingen 1921, S. 27) reden, ohne zumindest zu erwähnen, daß Schleiermacher selbst dem Begriff nicht eine Vertiefung, sondern die Verbannung zugedacht hatte. ·' GL S 4,4 1,23 f. 6 GL§33,1 1,188

84

II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

diesem Sinne und nur in diesem Sinne will Schleiermacher von einer ursprünglichen Offenbarung Gottes reden. Wenn er an anderer Stelle auch das Gewissen so nennt 7 , dann ist damit nicht etwas Anderes, Neues gesagt, sondern Gewissen wird das Gottesbewußtsein da, wo es nicht in der Lage ist, den Willen eines Menschen voll und ganz zu bestimmen. Das Gewissen ist für Schleiermacher das Gottesbewußtsein in seiner kritischen Funktion. Der Abschnitt über die ursprüngliche Offenbarung ist ein Vorspiel für die Art und Weise, wie Schleiermacher nun von der eigentlichen Offenbarung Gottes reden will. Er stellt fest: Offenbarung ist eine Sache des Bewußtseins. Das Gottesbewußtsein ist eine Offenbarung Gottes. Nun ist aber das einzelne, konkrete menschliche Gottesbewußtsein stets unvollkommen, es wird immer wieder vom sinnlichen Selbstbewußtsein überwältigt, es ist bestenfalls in Höherentwicklung begriffen. Eine Offenbarung Gottes kann es nur dort heißen, wo es zu seiner vollkommenen Gestaltung, zu ungehemmter Kräftigkeit gelangt ist, wo die „ursprüngliche Vollkommenheit des Menschen" eine faktische geworden ist. Das aber gilt allein vom Gottesbewußtsein Jesu! „Der Erlöser ist allen Menschen gleich vermöge der Selbigkeit der menschlichen Natur, von Allen aber unterschieden durch die stetige Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins, welche ein eigentliches Sein Gottes in ihm war." (§ 94 Leitsatz). Das schlechthin kräftige Gottesbewußtsein des „Erlösers" — das ist die eigentliche Offenbarung Gottes. Das sei es, schreibt Schleiermacher an Lücke, was an dem Begriff der Offenbarung „dogmatisch gebraucht werden könnte", daß er „auf Christum bezogen haltbar ist als Bezeichnung für die Art und Weise des Seins Gottes in ihm".8 Sofern es aber doch eine zum Wesen des Menschen überhaupt gehörige Möglichkeit ist, die in ihm Wirklichkeit geworden ist, müssen wir den „Anfang des Lebens Jesu als die vollendete Schöpfung der menschlichen Natur ansehen."9 Daraus ergibt sich aber auch das Andere, „daß alles dem menschlichen Geschlecht noch bevorstehende, soweit es dessen Gemeinschaft mit Gott betrifft, nur als weitere Entwicklung des Werkes Christi anzusehen ist, nicht als neue Offenbarung." 10 Da nun aber die „Offenbarung Gottes in Christo"11 für Schleiermacher identisch ist mit dem schlechthin kräftigen Gottesbewußtsein des 7

GL § 83,1 1,504 x SLü S. 57 9 GL § 94,3 11,49 10 GL S 103,4 11,138 11 GL § 164,2 11,555 u. ö.

6. „Offenbarung" in Schleiermachers Glaubenslehre [1956]

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Erlösers, ist sie zunächst wirklich nur „in Christo", ist sie wohl eine Offenbarung „an ihn oder in ihm" — es ist aber zunächst nicht einzusehen, in welchem Sinn Schleiermacher sagen kann, daß Gott sich „ihm und durch ihn" offenbare. 12 In dieser Fassung wäre aber der Satz von der „Offenbarung Gottes in Christo" nur die Behauptung eines historischen Sachverhaltes. Ein dogmatischer Satz kann er ja für Schleiermacher nur dann sein, wenn er auf eine Aussage des „christlich frommen Selbstbewußtseins" zurückgeht. Das ist nun insofern der Fall, als die Christen sich in einem „auf die Wirksamkeit Jesu zurückgehenden Gesamtleben" finden 13 — die ganze Christologie Schleiermachers erhält gerade dadurch ihr Gepräge, daß sie zustande kommt durch einen Rückschluß von diesem „Gesamtleben" auf seinen Ursprung. „Der Ausdruck Glaube an Christum ist ... die Beziehung des Zustandes als Wirkung auf Christum als Ursache" lautet Schleiermachers berühmte Formel für diesen Sachverhalt. 14 Die „Offenbarung Gottes in Christo" ist also nicht eine ruhende, nur Jesus Christus selber betreffende, sondern sie ist „erlösend oder den Geist zur Vollendung entwickelnd" 15 , sie ist eine „das Gottesbewußtsein erneuernde und vollendende".16 „Der Erlöser nimmt die Gläubigen in die Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins auf" 17 — das ist der Sinn des Satzes, daß Gott sich „durch ihn" offenbart. Diese „Aufnahme", diese „erlösende Einwirkung" — von „Mitteilung" und „Übertragung" des Gottesbewußtseins spricht Schleiermacher an anderer Stelle — geschieht durch Christi „Selbstdarstellung in Wort und Werk"18, die Selbstdarstellung ruft „Nachbildung" hervor.19 So nähern sich die Gläubigen „immer mehr" der „Ununterscheidbarkeit von Christo".20 Durch diesen Zusammenhang von Selbstdarstellung Christi — Schleiermacher kann auch von „Selbstoffenbarung" sprechen21 — und Nachbildung seitens der Gläubigen wird die Offenbarung Gottes in Christo eine „erlösende", alle betreffende. 12 11 14

15 16 17 18 19 20 21

GL § 103,2 11,131 GL § 88, Leitsatz 11,10 GL § 14,1 1,97 GL § 164,2 11,555 GL § 166,1 11,561 GL § 100 Leitsatz 11,103 GL § 101,4 11,121 GL S 133,1 11,384 G L § 110,1 11,223 GL § 100,2 11,105 f.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

Wir fassen die Ergebnisse dieses Überblicks zusammen. 1. Das Gottesbewußtsein als solches bzw. in seiner vollkommenen Gestaltung kann eine Offenbarung Gottes heißen. Die Offenbarung ist also eine Bestimmtheit des Bewußtseins — Offenbarung Gottes heißt sie deswegen, weil Gott ihr „Inhalt'1, nicht weil Gott ihr Urheber ist. Das, was Schleiermacher nicht sagt zum Thema Offenbarung, weil er es nicht sagen kann, das ist fast noch charakteristischer als das, was er sagt. Offenbarung nämlich als ein ganz bestimmtes Handeln Gottes — das ist für ihn einfach ein unvollziehbarer Gedanke, ein sinnloses Reden, eine „anthropopathische Ansicht". Schleiermachers Gottesbegriff schließt alle Vorstellungen und Begriffe aus, durch die „Teilung", „Gegensatz", „Differentes", „eine auf menschliche Weise vereinzelte und geteilte Tätigkeit" in Gott „gesetzt" würde22 — damit eben auch den Begriff der Offenbarung. Sollte Offenbarung eine „unmittelbare Äußerung Gottes" bezeichnen, dann wäre „nur die ganze Welt so zu betrachten" — denn: „einzelne Tatsachen ... leibliche oder geistige hängen immer mit anderen in Raum und Zeit so zusammen, daß man niemals nachweisen kann, daß sie nicht in ihrer Einzelheit betrachtet aus dem allgemeinen Zusammenwirken entstanden wären."23 Im Grunde kann Schleiermacher über Gott nur die eine Aussage machen, daß Er „schlechthinnige Ursächlichkeit" ist. Von Offenbarung Gottes kann er nur uneigentlich reden — wenn er nicht den Begriff ganz aus der Dogmatik verbannen will. 2. Es hängt mit dem zuletzt Gesagten zusammen, daß die Korrelation zwischen revelatio Dei und cognitio Dei bei Schleiermacher verschwunden ist. Offenbarung hat bei ihm keinen Bezug auf Erkenntnis; damit ist auch der Streit zwischen Offenbarung und Vernunft (im rationalistischen Sinne) bei ihm gegenstandslos gemacht. Er hat die Schranken, die Kant in der Frage der Gotteserkenntnis aufgerichtet hatte, in seine eigenen Voraussetzungen übernommen. Den Weg über Kant hinaus, den die idealistische Philosophie ging, ist er gerade nicht mitgegangen. Emanuel Hirschs Vermutung, daß die Beziehung zwischen Offenbarung und Erkenntnis für Schleiermacher mit ein Grund war (Hirsch meint wohl: der Grund), den Begriff zurücktreten zu lassen, wird richtig sein.24 22

23 24

GL § 46,1 1,247 GL 1. Aufl. S 19,3 1,101 Vgl. E. Hirsch, Die idealistische Philosophie und das Christentum, Gütersloh 1926, S. 105 . Wenn nun aber bei Hirsch die idealistische Philosophie das Lob bekommt, daß sie die Beziehung der Religion auf die Gotteserkenntnis festgehalten habe und wenn Schleiermacher einen entsprechenden Tadel erhält, dann ist dazu doch einiges zu sagen . Verglichen nämlich mit dem Titanismus vor allem der Hegeischen Philosophie muß doch die Haltung Kants, von der Schleiermacher ja bestimmt ist, einfach als die sachgemäßere erscheinen. Ähnliches gilt für den Begriff der Offenbarung. Ehe man ihn

6. „Offenbarung" in Schleiermachers Glaubenslehre [1956]

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3. Das Problem des Verhältnisses zwischen der Natürlichkeit des Menschen und der Übernatürlichkeit der Offenbarung ist bei der Schleiermacherschen Fassung des Begriffs beseitigt. Die natürliche Wirklichkeit des Menschen und die übernatürliche der Offenbarung verhalten sich zueinander wie Möglichkeit und Wirklichkeit. „Denn zuerst muß doch, so gewiß Christus ein Mensch war, auch in der menschlichen Natur die Möglichkeit liegen, das göttliche, wie es eben in Christo gewesen ist, in sich aufzunehmen." 25 Das ist das Eine — Schleiermacher will allerdings auch das Andere sagen. Daß die Möglichkeit nämlich wirklich Wirklichkeit geworden ist, das muß nach seiner Meinung nun doch in einem „göttlichen also ewigen Akt" begründet sein.26 Der „Mensch Jesus" muß „zwar in das Gesamtleben der Sündhaftigkeit hereingetreten sein, aber er darf nicht aus demselben her sein, sondern muß in demselben als eine wunderbare Erscheinung anerkannt werden."27 Freilich, dieses „eine Wunder der Sendung Christi" soll nun doch kein „absolutes Wunder" sein. Das „zeitliche Hervortreten" des ewigen göttlichen Akts muß „zugleich als eine in der ursprünglichen Einrichtung der menschlichen Natur begründete, und durch alles frühere vorbereitete Tat derselben, somit als die höchste Entwicklung ihrer geistigen Kraft angesehen werden."28 Über diese doppelte Betrachtung — einerseits „ewiger göttlicher Akt", andererseits höchste „Tat der menschlichen Natur" — will Schleiermacher nicht hinausgehen. Sie ist der schmale Weg, der zwischen magischem und empirischem Mißverständnis der Offenbarung Gottes in Christo hindurchführt. In dieser Abgrenzung nach zwei Seiten, die allerdings zugleich auch Vermittlung nach beiden Seiten sein will, ist der apologetische Zug wirksam, der durch die ganze Glaubenslehre geht. Schleiermacher will das Eigentliche des christlichen Glaubens darstellen und verteidigen. Er will aber zugleich zeigen, daß die meisten der Anstösse, die das moderne wissenschaftlich bestimmte Denken an den Aussagen des christlichen Glaubens zu nehmen pflegte, Mißverständnisse seieine solche Rolle spielen ließ, wie Hegel es in der „Phänomenologie" getan hat, war es vielleicht nun doch noch besser, von ihm — zu schweigen. Die Frage, ob dieses Schweigen dem Theologen Schleiermacher eigentlich erlaubt sein konnte, werden wir Heutigen zwar stellen müssen, aber wir werden sie doch wohl lieber nicht mit dem Hinweis auf Hegel verbinden. (Daß die Größe der philosophischen Leistung Hegels mit dieser Bemerkung nicht von fern angetastet werden soll, versteht sich.) 2i GL § 13,1 1,90 26 GL S 13,1 1,90 27 GL § 93,3 11,36 2 « GL§13,1 1,90 f.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

en, die den Blick auf das Eigentliche nur versperren konnten. Freilich, solche Mißverständnisse konnten durch den Begriff der Offenbarung leicht gefördert werden, gab es doch auch Leute, die „wissentlich mit der Offenbarung Versteck" spielten.29 4. Ohne jeden Sinn ist für Schleiermacher die Anwendung des Offenbarungsbegriffs auf die Phänomene, welche die orthodoxe Dogmatik unter dem Thema der revelatio immediata behandelte. Ausdrücklich lehnt er die Vorstellung ab, die Bücher des Neuen Testamentes (das A. T. wird an dieser Stelle gar nicht erst erwähnt) „seien aus besonderer göttlicher Offenbarung oder Eingebung entstanden."30 „Die allgemeine Gewohnheit aber, die heilige Schrift auch Offenbarung zu nennen, verursacht, daß beide Begriffe nicht selten verwechselt werden, was nicht ohne Verwirrung abgehen kann." 31 Schleiermacher hat alle erforderlichen Vorsichtsmaßregeln beachtet, um das Vorkommen des Offenbarungsbegriffs nicht zu einem Mißverständnis ausarten zu lassen. 5. Schleiermacher kann zur Darstellung der entscheidenden Gedanken seiner Glaubenslehre auch den — allerdings charakteristisch interpretierten — Begriff der Offenbarung benutzen. Er kann das tun, aber das sparsame Vorkommen des Begriffs zeigt, wie wenig ihm daran gelegen war. Der Begriff hätte ebenso gut ganz wegbleiben können. Es gab für Schleiermacher im Grunde keinen ernsten Grund, ihn zu bewahren, es gab viele, die für sein Verschwinden sprachen.

III. „Urtatsache" und „Ursprünglichkeit" („Offenbarung" in der Religionsphilosophie) „Was heißt Offenbarung. Jede ursprüngliche und neue Anschauung des Universums ist eine."32 „Jede neue Lehre und Offenbarung, jede neue Ansicht des Universums, welche den Sinn für dasselbe anregt auf einer Seite, wo es bisher noch nicht ergriffen worden ist, gewinnt auch einige Gemüter der Religion, ... und den meisten unter ihnen bleibt denn natürlich gerade diese Anschauung der Mittelpunkt der Religion, sie bilden um ihren Meister her eine eigene Schule..."33. 29

GL 1. Aufl. § 19 Anm. GL § 133,1 11,385 31 G L § 130,1 11,362 f. 32 R S. 118 « R S. 205 10

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Es ist deutlich, daß der Offenbarungsbegriff, der an diesen Stellen aus den „Reden" auftaucht, ein anderer ist als der bisher behandelte. Der Unterschied liegt nicht nur und nicht vorzugsweise darin, daß in der Glaubenslehre nicht mehr von Anschauungen, Ansichten des Universums die Rede ist, sondern von „Abartungen des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls" 34 , „Gestaltungen der Frömmigkeit"35. Diese Verschiebung ist zwar für Schleiermachers Religionsbegriff von großer Bedeutung36, der entscheidende Unterschied im Gebrauch des Offenbarungsbegriffs ist aber ein anderer. Nur das Gottesbewußtsein als solches und seine schlechthin vollkommene Gestaltung im Erlöser sollten in der Glaubenslehre eine Offenbarung heißen. In den „Reden" dagegen ist gerade das die Pointe, daß jede Anschauung des Universums Offenbarung heißt, sofern sie nur „ursprünglich und neu" ist. Dieser andere Offenbarungsbegriff findet sich nun aber auch in der Glaubenslehre. Die einzige ausführliche Verlautbarung Schleiermachers zum Thema „Offenbarung" hat ihn zum Gegenstand. Sie findet sich — der Ort ein Programm — in der Einleitung zur Dogmatik in den „Lehnsätzen aus der Religionsphilosophie" (Thema: „Die Verschiedenheiten frommer Gemeinschaften überhaupt"). Schleiermacher erörtert in einem Zusatz zum § 10 die Möglichkeit einer wissenschaftlich haltbaren Fassung der Begriffe des Positiven und der Offenbarung. In einem Zusatz*. Auch hier taucht der Begriff nur als Schwierigkeit auf, mit der man sich irgendwie abfinden muß. Aber es ist eben doch wichtig, daß die ausführliche Erörterung des Offenbarungsbegriffs gerade hier erfolgt. Der Begriff des Positiven soll nun nach Schleiermacher „den individuellen Inhalt der gesamten frommen Lebensmomente innerhalb einer religiösen Gemeinschaft" bezeichnen. Dieser individuelle gleich positive Inhalt ist abhängig „von der Urtatsache aus welcher die Gemeinschaft selbst als eine zusammenhängende geschichtliche Erscheinung hervorgegangen ist."37 Auf diese Urtatsache soll der Begriff der Offenbarung Anwendung finden, und zwar in einer ganz bestimmten Hinsicht: Demnach würden wir sagen können, der Begriff bezeichne die Ursprünglichkeit der einer religiösen Gemeinschaft zum Grunde liegen14

GL § 10,2 1,63 « GL § 8 Leitsatz 1,47 16 Hermann Süskind hat nachgewiesen, daß diese Änderung, die sich schon in der 2. Auflage der Reden (1806) abzeichnet, ihren Grund hat in der Rolle, welche der Begriff der Anschauung seit 1801 in Schellings Philosophie bekommen hatte. Vgl. Der Einfluß Schellings auf d. Entwicklung von Schi.s System, Tüb. 1909 S. 109 — 171 17 GL § 10 Zusatz 1,69

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den Tatsache, insofern sie als den individuellen Gehalt der in der Gemeinschaft vorkommenden frommen Erregungen bedingend selbst nicht wieder aus dem früheren geschichtlichen Zusammenhang zu begreifen ist."38 Die Art und Weise, wie Schleiermacher hier den Offenbarungsbegriff gebraucht, ist engstens verwandt mit der, die wir aus den „Reden" kennengelernt hatten. Sie hat nichts zu tun mit dem Sprachgebrauch der eigentlichen Dogmatik. Schleiermacher macht auf den Unterschied der beiden Begriffe ausdrücklich aufmerksam im zweiten Sendschreiben an Lücke. Der Bonner Theologe Karl Heinrich Sack hatte ihn in seiner „Christlichen Apologetik" wegen seiner Behandlung des Offenbarungsbegriffs angegriffen. Schleiermacher wirft ihm in seiner Entgegnung vor, daß er den Unterschied zwischen dem Begriff der Einleitung und dem der Dogmatik nicht bemerkt habe: „Die Einleitung hat es mit dem Offenbarungsbegriff zunächst als mit einem mehreren oder allen Religionen Gemeinschaftlichen zu tun, und so findet sie ihn unbestimmt. Dies ist also das Historische, aber unser Sack nennt es dogmatisch. Daß derselbe Begriff aber, auf Christum bezogen, haltbar ist als Bezeichnung für die Art und Weise des Seins Gottes in ihm, das ist gerade, was dogmatisch gebraucht werden kann, aber unser Sack nennt dies historisch."39 1. Die enge Verwandtschaft des religionsphilosophischen Offenbarungsbegriffs mit dem der „Reden" ist vor allem deutlich an der Beziehung auf jede Anschauung des Universums, auf jede Urtatsache. In der 1. Auflage der Glaubenslehre lautete der betreffende Leitsatz sogar wörtlich: „Jeder frommen Gemeinschaft, welche auf einer eigenen Geschichte ruht, und in der die frommen Gemütszustände eine gemeinsame Eigentümlichkeit an sich tragen, also (!) auch der christlichen kommt zu positives zu enthalten und geoffenbart zu sein."40 38 39

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GL § 10 Zusatz 1,70 SLüS. 57 f. Allerdings tritt dieser Unterschied in der ersten Auflage keineswegs so deutlich hervor, wie Schleiermacher es im Sendschreiben wahr haben will und wie es in der zweiten Auflage — trotz der bescheidenen Rolle, die der dogmatische Begriff auch in ihr spielt — nun doch der Fall ist. Vor allem hat Schleiermacher in der zweiten Auflage den Begriff an einer Stelle sogar noch neu eingeführt, dort wo er von der ursprünglichen Offenbarung redet. Diese Neuerung, die doch eigentlich seinem Vorsatz widerspricht, den Begriff zum Verschwinden zu bringen, kann nur den Sinn haben, den dogmatischen Begriff deutlicher hervortreten zu lassen. GL l.Aufl. § 19 Leitsatz 1,92 E. Brunner schreibt mit Bezug auf diesen Offenbarungsbegriff recht empört: „...aus Schi.s Ableitung geht nicht hervor, daß eine Religion geoffenbart sei, sondern daß

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2. Eine Akzentverlagerung gegenüber dem Begriff der „Reden" stellen wir darin fest, daß „Offenbarung" jetzt fest auf „religiöse Gemeinschaft" bezogen ist. Das war zwar an der einen Stelle aus den „Reden" auch angedeutet, Gewicht und Bedeutung hat es aber erst jetzt bekommen. Denn das ist jetzt ja der Ausgangspunkt bei der Bestimmung des Begriffs, daß mit ihm der geschichtliche Anfangspunkt einer frommen Gemeinschaft bezeichnet werden soll. Der Begriff ist aus der Sphäre der privaten Religiosität in die der konkreten Religionen geholt worden. 3. Die bedeutsamste Verschiebung gegenüber dem Begriff der „Reden" besteht in der Ersetzung der „Anschauung des Universums" durch die „Urtatsache". Nicht das ist erstaunlich, daß nicht mehr von „Anschauung des Universums" die Rede sein soll, wohl aber das, daß dafür nicht „Abartung des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls" eintritt. Was ist nun die Urtatsache? Die Urtatsache ist das Auftreten des Urhebers einer neuen Modifikation des Gottesbewußtseins, die Erscheinung „eines denkenden Wesens, welches ursprünglich auf uns wirkt als eigentümliche Existenz durch seinen Totaleindruck, und diese Wirkung ist immer eine Wirkung auf das Selbstbewußtsein."41 Auch bei dieser Verschiebung steht Schleiermachers Interesse an dem Zusammenhang zwischen der Offenbarung und der religiösen Gemeinschaft im Hintergrund. Gemeinschaft entsteht eben erst durch „Wirkung", „durch die Mitteilung und Übertragung" der neuen Abartung des schlechthinigen Abhängigkeitsgefühls.42 Das hier auftauchende Motiv war uns schon bei der Behandlung des dogmatischen Offenbarungsbegriffs begegnet. Mit den gleichen Begriffen des „Totaleindrucks", der „Wirkung auf das Selbstbewusstsein" hatte Schleiermacher dort gezeigt, wie die Offenbarung in Christo zur Offenbarung durch Christus werden konnte. In beiden Fällen kommt etwas Neues zu der Bestimmung des Begriffs hinzu, das aus seiner ursprünglichen Fassung nicht abgeleitet werden konnte. 4. Schleiermacher bemüht sich um eine wissenschaftlich brauchbare Fassung des Offenbarungsbegriffs. Was macht die Offenbarung zur

41 42

alle es seien, wobei geoffenbart nicht mehr heißen kann als geschichtlich geworden', individuell. Nicht nur gibt er also keinen Grund an, weshalb man eine Religion als geoffenbarte den anderen gegenüberstellen könne, sondern seine Beweisführung enthält, richtig erwogen, gerade den Beweis, daß keine diese Vorzugsstellung haben könne." (Die Mystik und das Wort, 2.Aufl. 1928 S. 143) Die Empörung ist aber ganz unberechtigt, und es ist auch nicht nur „richtig erwogen", sondern nach Schi.s eigener Meinung so, daß jede Religion geoffenbart ist. GL § 10 Zusatz 1,71 GL § 10,2 1,64

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Offenbarung? Hier nimmt er wieder ein Motiv aus den „Reden" auf. Jede neue und ursprüngliche Anschauung des Universums sollte dort Offenbarung heißen — die Ursprünglichkeit einer religiösen Urtatsache, das soll in der Glaubenslehre durch den Begriff der Offenbarung bezeichnet werden. Daß sie „nicht... aus dem früheren geschichtlichen Zusammenhang zu begreifen", nicht irgendwie ableitbar ist, daß vielmehr mit ihr etwas Neues in die Welt kommt, das ist das Wesen der Offenbarung. Diese Betonung eines formalen Moments ist das eigentliche Charakteristikum des Offenbarungsbegriffs der Religionsphilosophie. Schleiermacher gerät nun aber mit dieser Fassung des Begriffs in einige Schwierigkeiten. 1. Ist das Wesen der Offenbarung in ihre Nichtableitbarkeit gelegt, dann kann man „kaum einer erweiterten Anwendung des Begriffs wehren..., dass nämlich jedes in der Seele aufgehende Urbild, sei es nun zu einer Tat oder zu einem Kunstwerk, welches weder als Nachahmung zu begreifen noch aus äusseren Anregungen und früheren Zuständen befriedigend zu erklären ist, als Offenbarung dürfe angesehen werden."43 Diese Schwierigkeit ist nicht zu beseitigen. Schleiermacher erklärt daher an anderer Stelle einfach, der Begriff werde eben „vorzugsweise auf das Gebiet des höheren Selbstbewusstseins angewendet", alle anderen ursprünglichen Erscheinungen des geistigen Lebens seien aber „in der Analogie mit dem Begriff der Offenbarung." 44 2. Schleiermacher will den Begriff als einen den Religionen gemeinsamen behandeln. Dann kann er aber das Faktum nicht umgehen, daß der Begriff eine göttliche Offenbarung meint. Er erklärt selbst: „Darüber indes werden sich wohl alle leicht vereinigen ... dass eine göttliche Mitteilung oder Kundmachung dabei vorausgesetzt wird."45 Welche Schwierigkeiten ihm dieser allgemeine Konsens bereiten mußte, haben wir bereits bei der Behandlung des dogmatischen Offenbarungsbegriffs gesehen. Er setzt sich aber an dieser Stelle ziemlich leicht über sie hinweg und dekretiert einfach: „Dass nun hier in dem ursprünglichen eine göttliche Causalität gesetzt ist, bedarf keiner weiteren Erörterung."46 Aber einer solchen bedarf es wohl doch, wenn man nicht mit E. Brunner annehmen will, Schleiermacher lasse hier den „zweideutigen Mittelbegriff" der Offenbarung „die Rolle des Tausendkünstlers" spielen.47 Auch für die « GL § 10 Zusatz 1,71 44 GL S 13,1 1,89 45 GL S 10 Zusatz 1,69 f. 46 GL § 10 Zusatz 1,70 47 A. a. O. S. 142

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Ursprünglichkeit der Offenbarung gilt doch der Satz von der Beziehung der göttlichen „Causalität" auf das Ganze: „Wir freilich können für uns nicht umhin, Einzelnes als Teil dieses Ganzen für sich zu setzen, aber wir irren gleich von dem rechten Wege ab, wenn wir für dieses Einzelne eine besondere von dem Zusammenhang mit dem Ganzen auch nur irgendwie getrennte göttliche Ursächlichkeit annehmen." 48 Schleiermacher irrt auch im § 10 nicht vom rechten Wege ab. Wenn Paulus die Welt die ursprüngliche Offenbarung Gottes nennt, schreibt er, dann könne eben dieses wieder dahin führen, „dass nichts Einzelnes, indem es ja immer der Welt angehört, für sich dürfe als göttliche Offenbarung angesehen werden."49 Nur ist es eben dann nicht zu übersehen, daß Schleiermacher von einer Offenbarung Gottes nicht zu reden vermochte. 3. Eine weitere Schwierigkeit erhebt sich schließlich, wenn dieser Offenbarungsbegriff auf Jesus Christus bezogen werden soll. Damit erhebt sich ja die Frage, wie sich denn diese Offenbarung zu allen anderen verhalte. § 13 Leitsatz: „Die Erscheinung des Erlösers in der Geschichte ist als göttliche Offenbarung weder etwas schlechthin übernatürliches noch etwas schlechthin übervernünftiges." Die „Erscheinung des Erlösers in der Geschichte" — das ist der Anfangspunkt, die Urtatsache des Christentums, unableitbar, etwas Neues in die Welt bringend, nicht aus dem früheren geschichtlichen Zusammenhang zu erklären (so hat Schleiermacher im § 12 ausdrücklich den Versuch abgewiesen, das Christentum etwa als eine Fortsetzung des Judentums zu verstehen). In diesem Sinne ist die Erscheinung des Erlösers eine „göttliche Offenbarung", eine neben anderen. Mehr wäre eigentlich nicht zu sagen, und so hatte auch die erste Auflage erklärt: „Der specifische Unterschied zwischen dem Christentum und anderen Glaubensweisen betrifft nicht den Begriff der Offenbarung, sondern den eigentümlichen Unterschied Christi von anderen Religionsstiftern."50 In der zweiten Auflage will Schleiermacher doch etwas mehr sagen. Er betont, daß mit der Anwendung des Begriffs „auf Christum ... alles, was sonst für Offenbarung gehalten werden kann, diesen Charakter wieder verliert", da ja „nur Er" dazu gesetzt ist, „allmählich das ganze menschliche Geschlecht höher zu beleben."51 Der „Erlöser" ist die „höchste göttliche Offenbarung", weil er der „Anfang der höchsten Entwicklung auf dem Gebiet des Selbstbe4(1

GL § 164,3 11,556 GL § 10 Zusatz 1,72 ·«' GL 1. Aufl. § 19,3 1,105 51 G L § 13,1 1,89 f. 4y

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wusstseins" ist.52 Es ist deutlich, daß in diesen Bestimmungen bereits der dogmatische Offenbarungsbegriff wirksam ist. Er drängt sich Schleiermacher auf, weil das „nur Er" ja das eigentliche Thema seiner Glaubenslehre ist. Auf der anderen Seite ist aber zu betonen, daß dieser dogmatische Begriff wirklich ein zweiter ist, daß der Begriff der Offenbarung zunächst nicht in der Dogmatik, sondern in der Religionsphilosophie seinen Platz zugewiesen bekommt. Es sind Gedanken der „Reden", die Schleiermacher dabei fortführt. Freilich, auch in der Religionsphilosophie ist dieser Platz nur einer im Zusatz, am Rande — der Begriff steht auch hier nur „wie aus einer fremden Sprache".

IV. Die „menschliche" Offenbarung („Offenbarung" in der Ethik) Es gibt für Schleiermacher noch eine weitere, eine dritte Möglichkeit, von Offenbarung zu reden. Wir finden diesen dritten Offenbarungsbegriff in der „Philosophischen Ethik" — er soll hier nicht „etwas übernatürliches", sondern „etwas allgemein menschliches" bezeichnen. Und hier hat Schleiermacher nicht die Einschränkung gemacht, daß der Begriff nur uneigentlich gebraucht werden soll, hier ist er Schleiermachers eigener Begriff, der durch ihn bezeichnete Sachverhalt soll wirklich Offenbarung und nicht irgendwie anders heißen. Schleiermacher baut den ersten Teil seiner Philosophischen Ethik, die Güterlehre, auf, indem er die Vernunfttätigkeit einerseits in organisierende und symbolisierende, andererseits in identische und individuelle teilt. Durch die Kreuzung dieser Teilungen gewinnt er die verschiedenen Bereiche des „Ethischen". Das individuelle Symbolisieren nun ist das Gefühl. Es ist an sich reines Insichbleiben, kann aber auch „äusserlich" werden. Diese Kundmachung des Gefühls nun — das ist Offenbarung! „Das Verhältnis der einzelnen untereinander in der Geschiedenheit ihres Gefühls ist das der Offenbarung, oder das gegenseitige Bedingtsein der Unübertragbarkeit und der Zusammengehörigkeit des Gefühls."53 Das Gefühl wird „äusserlich", offenbar in der „Geberde" — aber nur als ein unübertragbares: „Das Wahrnehmen der Geberde wird nicht ... zur Entwicklung einer gleichmässigen Erregung" bei dem Wahrnehmenden. „Son52 53

GL § 14 Zusatz 1,102 PhE § 183 S. 224

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dern nur weil und inwiefern jeder weiss, dass eine bestimmte Erregung in ihm auf ähnliche Weise äusserlich wird, schliesst er, dass der andere in der ähnlichen Erregung begriffen ist, die aber in ihrer Bestimmtheit ihm verborgen bleibt." „Durch den unmittelbaren Ausdruck des Gefühls wird einer dem anderen in seinem Zustande, aber als in einem unübertragbaren und unnachbildlichen, kund." „Keine Verständigung" findet hier statt, sondern eben „Offenbarung", „Andeutung" auf der einen Seite, „Ahndung" auf der anderen. Verständigung geschieht durch das Wort, Offenbarung durch die Gebärde. Summa: 1. Offenbarung ist das Äußerlich werden des Inneren, des Gefühls. 2. Offenbarung geschieht durch die Gebärde. 3. Offenbarung meint zwar Kundmachung, Mitteilung, aber Kundmachung eines Unübertragbaren, Unnachbildlichen. Dieser Offenbarungsbegriff hat auch in die Glaubenslehre Eingang gefunden. Schleiermacher führt im Zusammenhang der „Lehnsätze aus der Ethik" aus, wie das fromme Selbstbewußtsein (Gefühl!) als ein „wesentliches Element der menschlichen Natur" notwendig auch Gemeinschaft wirkt. Er schreibt: „... das Gefühl will doch ... vermöge des Gattungsbewusstseins nicht ausschliesslich für sich sein, sondern wird ursprünglich und ohne bestimmte Absicht und Beziehung ein Äusseres (s.o. 1) durch Gesichtsausdruck Geberde Ton (s.o. 2) und mittelbar durch das Wort, und so anderen eine Offenbarung des Inneren. Diese blosse Äusserung des Gefühls ... erregt zwar in ändern zunächst nur die Vorstellung von dem Gemütszustand des Äussernden (s.o. 3); allein diese geht vermöge des Gattungsbewusstseins über in lebendige Nachbildung."54 Zwei charakteristische Veränderungen müssen angemerkt werden: 1. Auch nach der Glaubenslehre erzeugt die Äußerung des Gefühls zunächst nur eine „Vorstellung" von dem Zustand des Äußernden — aber diese geht über in „lebendige Nachbildung". Die Brücke zwischen Vorstellung und Nachbildung liefert der Hinweis auf das menschliche Gattungsbewußtsein und auf das Faktum, daß es hier ja um ein „wesentliches Element der menschlichen Natur" geht. 2. Neben der Gebärde hat in der Glaubenslehre auch das Wort eine — wenn auch nur mittelbare — Rolle bekommen. 54

GL § 6,2 1,37

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Die „Offenbarung" der Ethik spielt nun auch in der Glaubenslehre ein bedeutende Rolle. Nichts anderes als sie beschreibt Schleiermacher, wenn er die „Urtatsache" einer jeden Religion bestimmt als eine „Wirkung ... auf das Selbstbewußtsein derer, in deren Lebenskreis sie eintritt".55 Der religionsphilosophische Offenbarungsbegriff ist hier mit dem der Ethik zusammengeflossen. Nichts anderes als der Offenbarungsbegriff der Ethik liegt vor, wenn Schleiermacher das erlösende Wirken Christi auch als seine „Selbstoffenbarung" beschreiben kann. Der Erlöser wirkt durch die „Offenbarung seines Lebens"56, seine Tätigkeit ist „dadurch bedingt, daß die Einzelnen in seinen geschichtlichen Wirkungskreis treten, wo sie ihn in seiner Selbstoffenbarung wahrnehmen." 57 Auch der „Dienst am göttlichen Wort", durch den ja der von Christus ausgegangene „Impuls" fortgepflanzt wird, geschieht als eine solche „Selbstmitteilung".58 Die Mitteilbarkeit des Gefühls durch das Wort hat ihre große Bedeutung, denn: „Die ganze Wirksamkeit des Erlösers selbst war mitbedingt durch die Mitteilbarkeit seines Selbstbewusstseins vermöge der Rede, und auf dieselbe Weise hat sich immer und überall das Christentum ausgebreitet allein durch die Verkündigung." 59 Von der Bedeutung, die in der Philosophischen Ethik die Kunst für die Religion hatte, ist in der Glaubenslehre kaum noch etwas zu spüren. Die Möglichkeit der „lebendigen Nachbildung" wird ebenfalls nachdrücklich betont: „Selbstmitteilung ... gibt es auf keine andere Weise als durch eine erregend wirkende Selbstdarstellung, indem die durch Nachbildung aufgenommene Bewegung des sich darstellenden in dem empfänglich Aufnehmenden eine Kraft wird, welche dieselbe Bewegung hervorruft." 60 Auch der dogmatische Offenbarungsbegriff hat also die Einflüsse des ethischen erfahren. Schleiermacher erklärt in der Philosophischen Ethik, unter Offenbarung solle „hier nicht etwas übernatürliches gedacht werden ... sondern nur das allgemein menschliche, worauf auch die übernatürliche Bedeutung" zurückgehe. 61 Es ist aus den Ausführungen der Philosophischen Ethik nicht recht zu ersehen, wie er sich dort die „übernatürliche Bedeutung" des Offenbarungsbegriffs gedacht hat. In der Glaubenslehre ist er ·« GL $ 10 Zusatz 1,71 ·« GL § 100,2 11,106 57 GL S 100,2 11,105 58 GL S 133,1 11,384 59 GL S 15,2 1,110 60 GL § 133,1 1,384 61 PhE § 183 S. 225

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bei der Interpretation des „übernatürlichen" Begriffs andere Wege gegangen, als er sie in der Ethik angedeutet hatte. Geblieben ist aber auch in der Glaubenslehre das Programm: die übernatürliche Bedeutung des Offenbarungsbegriffs muß sich auf eine natürliche zurückführen lassen.

V. Ergebnisse Schleiermacher hat den Begriff der Offenbarung aus der Sprache der Theologie verschwinden lassen wollen — und er hat doch nicht weniger als drei Versuche gemacht, mit ihm zurecht zu kommen. Diese drei Versuche zeigen, welches die Probleme waren, die sich für ihn mit dem Begriff der Offenbarung verknüpften. Es ist das eine große Anliegen Schleiermachers, die Religion als eine Sache zu erweisen, die alle Menschen gleichermaßen betrifft, die sie nur unter Verkennung ihres eigenen Wesens vernachlässigen können. In diesem Anliegen ist die Ablehnung alles „schlechthin Übernatürlichen" begründet — wie sie sich auf die Behandlung des Offenbarungsbegriffs auswirkt, haben wir zu zeigen versucht. Das Christentum als die vollkommene Gestaltung der Religion, Christus als der Erlöser — das ist Schleiermachers anderes großes Anliegen. Der dogmatische Offenbarungsbegriff bedeutet den Versuch, auch diesem Anliegen Rechnung zu tragen. Auf der anderen Seite ist es aber nicht zu übersehen, daß Schleiermacher auf ein spezifisch christliches Reden von Offenbarung lieber verzichten wollte. Die ausführliche Behandlung des Begriffs findet in der Religionssphilosophie statt. Der in der Welt der Religionen allenthalben begegnende Anspruch auf Offenbarung ist Ausgangspunkt der Erörterung — ihm soll sein relatives Recht werden. So kann der Begriff noch am ehesten eine präzise Fassung finden, die zugleich in etwa sein Vorkommen deckt. Die Komplexheit der Motive, von denen Schleiermacher bei seinen Erwägungen zum Offenbarungsbegriff bewegt wird, macht auf das Fehlen des einen entscheidenden aufmerksam. Schleiermacher kann auf keine Weise von einem Sichoffenbaren Gottes reden. Daß es aber doch gerade diese Bedeutung ist, die dem Begriff überhaupt einen Platz in der Sprache der Religion und der Theologie verschafft hat, daß es schon einiger Gewalt bedarf, um dem Begriff diese Bedeutung zu rauben, das ist es, was Schleiermacher Mühe macht, das läßt seine Haltung so ablehnend werden.

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„Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft" — das ist im Grunde auch sein Programm. In der Philosophischen Ethik wird das Gefühl ausdrücklich als eine Vernunftfunktion dargestellt. Er hat dieses Programm ganz anders, viel großartiger und glanzvoller durchzuführen vermocht als Kant. Er hat aber die entscheidenden Grenzen gerade anerkannt. Seine Ablehnung des Begriffs der Offenbarung ist Symptom dafür.

7. Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik Wolfgang Trillhaas zum 60. Geburtstag [1963]* I. Schleiermachers Berliner Fakultätskollege August Neander hat — nach dem Bericht Friedrich Lückes in den Theologischen Studien und Kritiken 1834 (S. 750) — in seiner Vorlesung die Nachricht von Schleiermachers Tod mit den Worten mitgeteilt, es sei der Mann dahingeschieden, von dem man künftig eine neue Epoche in der Theologie datieren werde. Dieses Wort Neanders ist dann oft zitiert und in dieser Zitierung durchweg bejaht worden. So wechselvoll sich das Verhältnis der protestantischen Theologie zu Schleiermacher im 19. und im 20. Jahrhundert gestaltet hat, so unterschiedlich die Leistung seiner Theologie beurteilt worden ist — in einem Punkt stimmt das Urteil der Freunde seiner Konzeption mit dem der Gegner durchweg überein, darin nämlich, daß dieser theologische Entwurf einen, ja den entscheidenden Epochenpunkt in der neueren Theologiegeschichte markiert, daß dieses theologische Programm eine epochenscheidende Neuorientierung der Theologie bedeutet. Das im Jahre 1907 erschienene Büchlein von Christian Lülmann „Schleiermacher, der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts", das wohl wesentlich seines Titels wegen allgemeiner bekannt geworden ist, hat in diesem Titel gültig die Stellung beschrieben, die Schleiermacher im Bewußtsein der protestantischen Theologie gewonnen und behalten hat. Zunächst ist es freilich nur das Urteil und das Bewußtsein — auch das Selbstbewußtsein — der Theologie vor dem 1. Weltkrieg, das sich hier ausspricht. Doch das von der Schleiermacherverehrung der Vorkriegstheologie formulierte Prädikat blieb auch von der Schleiermacherkritik * Vgl. Bibliographie Nr. 11

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der Nachkriegstheologie unbestritten. Man akzentuierte den Titel der Lülmannnschen Schrift jetzt freilich gegen die Intentionen des Autors. Man legte den Ton darauf, daß man Schleiermacher als den Kirchenvater nun wirklich nur des 19. Jahrhunderts verstand, als den theologischen Repräsentanten des Jahrhunderts, dessen Ideen und Strebungen in den Erfahrungen der eigenen Gegenwart in jeder Hinsicht fragwürdig geworden waren, als den Kirchenvater einer Epoche und einer Theologie, von der man sich selber durch eine Kluft geschieden wußte. Die theologische Neuorientierung nach dem 1. Weltkrieg vollzog sich daher nicht zuletzt in Gestalt einer Auseinandersetzung mit Schleiermacher. Das trifft vor allem für die frühe dialektische Theologie zu. Emil Brunner hat hier die programmatische Kurzformel für die Auseinandersetzung gefunden, im Titel seines bekannten Schleiermacherbuches „Die Mystik und das [120] Wort", 1924 (2. Aufl. 1928). Die Mystik und das Wort - diese Formel meint den „Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben". Schleiermacher erscheint bei Brunner als der „maßgebende wissenschaftliche Darsteller der modernen Religion", sein Programm als das der „Neugestaltung des christlichen Denkens durch den modernen Religionsbegriff" (S. 9). So gewinnt dann in der Auseinandersetzung mit Schleiermacher das eigene neue Programm Profil. Brunner schreibt über die Zielsetzung seiner Schrift: „Ihre Hauptabsicht ist: die Gegensätzlichkeit dessen, ,was Schleiermacher wollte' und der Glaubenswelt der Apostel und Reformatoren aufzudecken; die innere Unmöglichkeit eines Bündnisses zwischen jeder mystischen Immanenzphilosophie und dem Christentum der Bibel — das doch der Inhalt des Schleiermacherschen Lebenswerkes ist — , gerade an diesem klassischen Beispiel zu beweisen und die Theologie vor die Entscheidung zu stellen: Entweder Christus oder die moderne Religion ... Es ist die eine negative These dieses Buches, daß das Programm Schleiermachers und der Moderne: Verbindung von Immanenzphilosophie (bzw. Mystik) und christlichem Glauben auf einen kolossalen Selbstbetrug hinausläuft" (S. 10 f.). Auf die Fragwürdigkeit der von Brunner vollzogenen Etikettierungen soll hier nicht weiter eingegangen werden. Die Schleiermacherauffassung, die in seiner Kritik vorausgesetzt ist, erweist sich bei näherem Zusehen als weniger originell, als es zunächst den Anschein haben könnte. Es ist in wichtigen Zügen die Auffassung und die Kritik, die sich bei David Friedrich Strauß findet. Strauß schreibt in seiner „Glaubenslehre" (2 Bde., 1840/41): „Während die Philosophie, noch in Fichte selbst und weiterhin in Schelling und Hegel, jene Aufgabe zu lösen begann, statt

7. Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik [1963]

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der zertrümmerten Welt des sich entfremdeten Geistes aus dem zum Bewußtsein seiner als aller Realität gekommenen Geiste heraus eine neue prächtiger wiederaufzubauen und insbesondere auch die Religion, aber festgehalten unter der Macht des seiner selbst gewiß gewordenen Geistes neu zu beleben: machte ein Mann, in der Schule der neuen Philosophie gebildet, den Überläufer in das Lager der alten Theologie. Schleiermacher hatte den Gipfel jener selbstgenugsamen Subjektivität mit schwärmendem Enthusiasmus erstiegen; aber scharfsichtiger als die Rationalisten maß er die ganze Tiefe des Abgrundes der Negativität, an dem er stand: so schlug ihm die absolute Freiheit des Idealismus um in schlechthinnige Abhängigkeit, das Hochgefühl des geisterfüllten Subjekts in die Demut gegenüber dem objektiven Erlöser. Als echter Idealist geht zwar Schleiermacher in der Deduktion seines Christus vom Subjekte aus; aber eben daß er aus demselben herausgeht, daß er allen absoluten Inhalt, den er in demselben antrifft, aus der Mitteilung von dem äußerlich dagewesenen Gottmenschen ableitet, ist der Rückfall auf den Boden des altkirchlichen Systems. Freilich, will man eben dem Manne um dieses Verrates willen zürnen, so muß man ihm wieder gut werden, wenn man [121] bemerkt, daß er nicht bloß die Philosophie an die Theologie, sondern ebenso die Theologie an die Philosophie verraten hat: und gerade diese Zweiseitigkeit und Zweideutigkeit ist das Wesen seiner Stellung in der Geschichte der Theologie, um deren willen sein Wirken von beiden Seiten her nur als segensreicher Fluch oder fluchwürdiger Segen erscheinen kann" (II, 176 f.). Mit der von Strauß vorgetragenen Schleiermacherauffassung stimmt die der dialektischen Theologie weitgehend überein. Beide sind geleitet von einem Verständnis von „alter" Theologie und „neuer" Philosophie, das beide Größen nur als Glieder eines Gegensatzes in den Blick bekommt. Beide setzen einen Widerspruch voraus und erheben gegen Schleiermacher den Vorwurf, daß er diesen Widerspruch verdeckt habe durch eine betrügerische Synthese. Beide empfinden dann auch die Christologie als Fremdkörper, als störenden Einschub in Schleiermachers Konzeption. Die Übereinstimmung zwischen Strauß und der dialektischen Theologie ist freilich insofern erstaunlich, als die Intention der Kritik dabei eine durchaus verschiedene ist. Hinter der Straußschen Kritik steht sein eigenes Programm der Destruktion des kirchlichen Dogmas. Diesem Programm entstammen die Gesichtspunkte der Kritik. Schleiermacher erscheint zwar im Ergebnis als doppelter Verräter, vor allem aber doch als „Überläufer in das Lager der alten Theologie". Die Schleiermacherkritik der dialektischen Theologie hingegen ist getragen vom Bewußtsein

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des Einklangs mit der alten Theologie, mit der „Glaubenswelt der Apostel und Reformatoren". Schleiermacher erscheint als der „maßgebende wissenschaftliche Darsteller der modernen Religion". Angesichts dieser zwiefachen Zielrichtung der Kritik erhebt sich die Frage, ob sie nicht Indiz ist für eine Unklarheit in den Voraussetzungen der Kritik. Es erhebt sich die Frage, ob Schleiermachers Position angemessen verstanden werden kann, wenn sie von einem vorausgesetzten Widerspruch zwischen alter Theologie und neuer Philosophie her interpretiert wird. Im Folgenden sollen einige Beobachtungen beigetragen werden zu der Frage, welche Bedeutung die „alte Theologie", welche Bedeutung die vorgegebene Lehrtradition für Schleiermachers eigene Konzeption hat. Die Betrachtung beschränkt sich dabei auf das bei ihm begegnende Programm der Dogmatik. Das Verständnis dieses Programms hat dann Konsequenzen für das Verständnis von Eigenart und Bedeutung seiner Theologie überhaupt. Das allgemeine Urteil über die ausgezeichnete Stellung seines Werkes in der neueren Theologiegeschichte spricht sicherlich das Richtige und Zutreffende aus — auch die Kritik der dialektischen Theologie ist von der Anerkennung dieses Sachverhaltes bestimmt. Indem die von ihr intendierte theologische Neuorientierung die Gestalt einer Auseinandersetzung mit Schleiermacher annahm, empfing das Urteil über die epochale Bedeutung seiner Theologie einerseits eine Bestätigung, zugleich aber ein neues Vorzeichen. Schleiermachers Programm erschien dieser Kri-[122]tik als Programm einer Neugestaltung, die es abzuweisen galt, als Vollzug einer Wende, der gegenüber sich die eigene Aufgabe dann ebenfalls als die einer Wende, einer Rückwendung zur Bibel, zum Dogma, zur protestantischen Lehrtradition darstellte. Es ist jedoch durchaus die Frage, ob die im Gegenzug entworfenen Konzeptionen nicht auf Problemstellungen und Gesichtspunkte angewiesen bleiben, die gerade durch Schleiermacher der protestantischen Theologie erschlossen worden sind.

II. Ehe auf das Programm der Dogmatik eingegangen werden kann, das in der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" und in der Glaubenslehre begegnet, sind einige Bemerkungen nötig zu dem Werk, das neben der Enzyklopädie und neben der Glaubenslehre vor allem die Wirkung der Schleiermacherschen Theologie bestimmt hat und das einem undifferenzierten Bild dieser Theologie bis heute die kräftigsten Farben

7. Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik [1963]

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leiht, zu den Reden „Über die Religion". Freilich stellen sich die Reden dem Leser keineswegs als ein Programm der Dogmatik dar, nichts weniger als dies. Nicht die Dogmatik, sondern die Religion, nicht Lehre, sondern Leben ist ihr Thema. Die von ihnen vollzogene radikale Scheidung von Religion einerseits, Metaphysik und Moral andererseits läßt auch die Dogmatik offenbar nur als Gegenstand kritischer Ablehnung in den Blick treten. „Diese Systeme der Theologie, diese Theorien vom Ursprung und Ende der Welt, diese Analysen von der Natur eines unbegreiflichen Wesens, wo alles auf ein kaltes Argumentieren hinausläuft und nichts anders als im Tone eines gemeinen Schulstreites behandelt werden kann" (S. 26 1. Aufl.) — sie dienen lediglich als Illustration für das intellektualistische Mißverständnis der Religion. Die „Buchstabentheologen ..., welche glauben, das Heil der Welt und das Licht der Weisheit in einem neuen Kostüm ihrer Formeln oder in neuen Stellungen ihrer figurierenden Beweise zu finden" (S. 29) — sie werden nur erwähnt, um gleich wieder dem Vergessen überlassen zu werden. Zu der in diesen Wendungen apostrophierten Theologie — und Philosophie — der deutschen Aufklärung wissen die Reden sich in dem Gegensatz, den sie dem eigenen Zeitalter gegenüber im ganzen empfinden und hervorkehren. Aber schon in der 1. Auflage der Reden, in der sie ganz auf die Abhebung der Eigenart der Religion gegen ihre Deutung als ein Wissen oder als ein Tun konzentriert sind, begegnet in den kritischen Äußerungen über die theologischen Systeme doch nur die eine — allerdings die sich vordrängende — Weise, wie das Thema religiöser Lehre erörtert wird. Daneben stehen andere Äußerungen, die auf ein neues Verständnis religiöser Lehre zielen. Schleiermacher selbst stellt gegen Ende der 2. Rede (Über das Wesen der Religion) die Frage, „wohin denn jene Dogmen und Lehrsätze eigentlich gehören, die gemeiniglich für den Inhalt der Religion ausgegeben werden". Seine Antwort lautet: „Einige sind nur abstrakte Aus-[123]drücke religiöser Anschauungen, andre sind freie Reflexion über die ursprünglichen Verrichtungen des religiösen Sinnes, Resultate einer Vergleichung der religiösen Ansicht mit der gemeinen" (116). Auch diese Antwort hat einen limitierenden Sinn („nur"), aber sie läßt doch eine Aufgabe sichtbar werden, die Aufgabe, die gegebenen „Dogmen und Lehrsätze" von den genannten Gesichtspunkten her zu interpretieren. Die Reden selber tragen dazu dann allerdings nur einige Bemerkungen über die Begriffe Wunder, Eingebung, Offenbarung und Gnadenwirkung bei. Aber die in der 2. Rede sich andeutende Aufgabe erfährt noch eine Präzisierung, wenn man sie zusammensieht mit der in der 5. Rede (Über die Religionen) durchgeführten kritischen Destruktion der aufklären-

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sehen Idee einer natürlich-vernünftigen Religion. Der Verneinung der Idee einer allgemeinen natürlichen Religion liegt zugrunde ein neues Verständnis der Geschichte und des Geschichtlichen, ein neues Verständnis des „Positiven und Charakteristischen", des „Bestimmten und Wirklichen", des „Eigentümlichen" (S. 277 i.} in der Religion. Damit erschließt sich zugleich ein neues Verständnis für die geschichtliche Eigenart des Christentums und die geschichtlich gegebene Gestalt christlicher Lehre. Es ist wichtig zu sehen, welche Begriffe und Vorstellungen nach Schleiermachers Auffassung das Bestimmte und Charakteristische des Christentums aussprechen. Es sind die Mittlerschaft Jesu und die Erlösung, die hier im Zentrum stehen. „Das Verderben und die Erlösung, die Feindschaft und die Vermittlung, das sind die beiden unzertrennlich miteinander verbundenen Seiten dieser Anschauung, und durch sie wird die Gestalt alles religiösen Stoffs im Christentum und seine ganze Form bestimmt" (S. 291). Von der 5. Rede her zeigt sich die Zielrichtung, die das in der 2. Rede begegnende Neuverständnis religiöser Lehre bekommt. Es eröffnet sich die Aufgabe, die geschichtlich gegebenen „Dogmen und Lehrsätze" des Christentums als Ausdruck des Charakteristischen und Eigentümlichen im Christentum zu verstehen.

III. Die Aufgabe einer kritischen Aneignung der vorgegebenen Lehrtradition, die sich in den Reden andeutet, ist von Schleiermacher bewußt ergriffen worden, als er in das akademische Lehramt eintrat. Die Konfrontierung mit der Aufgabe, theologische Vorlesungen zu halten, wurde ihm zum Anlaß einer grundsätzlichen Besinnung über Wesen und Aufgabe der Theologie. Diese Besinnung hat ihren Niederschlag gefunden in dem Werk, das dann für die protestantische Theologie zum Grunddokument ihrer wissenschaftstheoretischen Selbstreflexion geworden ist, in der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums", 1810, 2.Aufl. 1830. (Die im Folgenden gegebenen Zitate bieten den Text und die Paragraphenzählung der 2. Auflage). Im Zusammenhang dieser Besinnung verbindet sich die Frage nach der Bedeutung der Lehrtradition mit der Frage nach der Aufgabe der Dogmatik. [124] Das in der „Kurzen Darstellung" entfaltete Verständnis von Theologie ist bekanntlich dadurch charakterisiert, daß es die Theologie als Wissenschaft primär nicht durch ihren Gegenstandsbereich definiert sieht, sondern durch ihren Bezug auf eine bestimmte Aufgabe. Die Theologie ist

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für Schleiermacher eine „positive Wissenschaft", d. h. ihr organisierendes Zentrum liegt außerhalb ihrer selbst in der „praktischen" Aufgabe, auf die sie bezogen, um derentwillen sie da ist. Schleiermacher benennt diese Aufgabe mit dem — freilich mißverständlichen — Begriff der „Kirchenleitung", der bei ihm so gefaßt ist, daß er über das „Amtliche" hinaus alle Formen leitenden Wirkens umfaßt. In diesem Sinn heißt es dann in dem berühmten $ 5 der „Kurzen Darstellung": „Die christliche Theologie ist der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist." Die Theologie kann also nicht als Glied eines Systems der Wissenschaften konstruiert werden. Sie wird vielmehr nur dann angemessen verstanden, wenn ihr Lebenszusammenhang mit der geschichtlichen Wirklichkeit der christlichen Kirche gesehen und bedacht wird. Aus diesem Lebenszusammenhang ergibt sich dann auch die innere Gliederung der Theologie. Eine leitende Wirksamkeit in der Kirche hat nach Schleiermacher zur Voraussetzung einmal ein Verständnis des Wesens des Christentums, der christlichen Kirche, sodann eine geschichtliche Kenntnis des Christentums, schließlich ein Wissen um die Formen und Regeln leitenden Wirkens. Diesen drei Momenten entspricht die Gliederung in Philosophische Theologie, Historische Theologie und Praktische Theologie. Wie ordnet sich diesem Aufriß die Dogmatik ein? Es drängt sich unmittelbar der Eindruck auf, daß sie ihre alte Stellung und Bedeutung hier offenbar verloren hat. Sie taucht nicht mehr als eine der großen theologischen Disziplinen auf. Die Gliederung der Theologie, wie sie vor Schleiermacher üblich war und trotz Schleiermacher üblich blieb, unterschied zumeist Systematische, Biblische, Historische und Praktische Theologie. Vergleicht man damit den Aufriß von Schleiermachers Enzyklopädie, so scheint die Systematische Theologie — Dogmatik und theologische Ethik — ersetzt durch die von ihm postulierte Philosophische Theologie. Hinsichtlich des Stellenwertes der Disziplinen trifft diese Beobachtung in der Tat in etwa das Richtige. Schleiermacher stellt der Philosophischen Theologie die Aufgabe, auf der Grundlage einer umfassenden philosophischen Theorie menschlich-geschichtlichen Lebens „sowohl das Wesen des Christentums, wodurch es eine eigentümliche Glaubensweise ist, zur Darstellung zu bringen als auch die Form der christlichen Gemeinschaft" (§ 24). Die Philosophische Theologie setzt dabei den Stoff der Historischen Theologie voraus, begründet aber — indem sie die Verstehenskategorien bereitstellt — selbst erst „die eigent-

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

lieh geschichtliche Anschauung des Christentums" (§ 65). In diesem Sinne wird die Philosophische Theologie bei Schleier-[125]macher in der Tat die theologische Grunddisziplin und verdrängt die Dogmatik von diesem Platz. An die Stelle der alten theologia thetica sive systematica, an die Stelle einer als Darlegung geoffenbarter Lehre sich verstehenden Systematisierung biblischer Aussagen tritt eine Disziplin, welche die Erfassung des Wesens des Christentums zu ihrer Aufgabe macht. Stellt die von Schleiermacher postulierte Philosophische Theologie eine Neubildung dar, welche die alte Gestalt der Dogmatik zu ersetzen scheint, so muß es auffallen, daß gleichwohl auch die Dogmatische Theologie in seinem Aufriß der theologischen Disziplinen bewahrt ist. Es ist allerdings ein vergleichsweise bescheidener Platz, den sie bekommen hat. Sie begegnet im dritten Teil der Historischen Theologie, der die Überschrift trägt: „Die geschichtliche Kenntnis von dem gegenwärtigen Zustande des Christentums." Die Dogmatische Theologie, die Glaubensund Sittenlehre, ist hier als Unterdisziplin eingeordnet, als die „Kenntnis der jetzt in der evangelischen Kirche geltenden Lehre" (§ 195, vgl. § 97). Mit dieser Einordnung ergibt sich, was immer sonst über sie zu sagen sein mag, eine klare wissenschaftstheoretische Ortsbestimmung der Dogmatik. Sie hat ihre Wissenschaftlichkeit darin, daß sie die in der evangelischen Kirche geltende Lehre umfassend und zuverlässig darstellt. Schleiermacher hat mit der Einordnung der Dogmatik in die Historische Theologie dann kaum Nachfolger, wohl aber viele Kritiker gefunden. Die Kritiker haben diese Einordnung zumeist als Degradierung aufgefaßt und abgewiesen, mit ihr schien ihnen die konsequente Historisierung der Dogmatik wenn nicht rundheraus proklamiert so doch angebahnt. Eine solche Kritik setzt allerdings ein Verständnis von Historic und historischer Theologie voraus, das Schleiermacher fremd ist. Die Aufgabe der historischen Theologie konstituiert sich bei ihm nicht im Rahmen eines vorausgesetzten Gegenüber und Auseinander von Vergangenheit und Gegenwart. Die Geschichte des Christentums, mit der es die historische Theologie zu tun hat, ist für ihn nicht die vergangene Geschichte, der sich die Gegenwart gegenüber sieht. Vielmehr ist die eigene Gegenwart von dieser Geschichte mit umgriffen. „Von dem konstitutiven Prinzip der Theologie aus den geschichtlichen Stoff des Christentums betrachtet, steht in dem unmittelbarsten Bezug auf die Kirchenleitung die geschichtliche Kenntnis des gegenwärtigen Momentes, als aus welchem der künftige soll entwickelt werden. Diese mithin bildet einen besonderen Teil der historischen Theologie ... Da aber die Gegenwart nur verstanden werden kann als Ergebnis der Vergangenheit: so ist die

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Kenntnis des gesamten früheren Verlaufs ein zweiter Teil der historischen Theologie" (§ 81 f.). Was für die Geschichte des Christentums überhaupt gilt, das gilt dann auch für die Geschichte der christlichen Lehre. Schleiermachers Fassung der Aufgabe der Dogmatik zielt also nicht dahin, diese auf die Erörterung vergangener Historic zu begrenzen, wohl [126] aber stellt sie die übliche Scheidung von Dogmatik und historischer Theologie in Frage. Als das eigentlich Belangvolle an seiner Einordnung zeigt sich dies, daß die vorgegebene Lehrtradition, wie sie in Gestalt der „geltenden Lehre" begegnet, als wesentliches Element der theologischen Aufgabe begriffen wird. Der Begriff der geltenden Lehre hat dabei geschichtlichen Charakter. Er meint nicht eine Lehre, die ein für allemal fixiert ist, sondern er meint die „zu einer gegebenen Zeit" sich faktisch geltend machende Lehre. „Alles ... ist als geltend anzusehen, was amtlich behauptet und vernommen wird, ohne amtlichen Widerspruch zu erregen" (§ 196 Anm.). Das Moment geschichtlichen Wandels ist also im Begriff der geltenden Lehre ebenso mitgedacht wie dann das Moment gegenwärtiger Verbindlichkeit. Der Dogmatiker, der die geschichtlich vermittelte geltende Lehre darstellt, muß sich in die Geschichte dieser Vermittlung selber hineingestellt wissen. Eine dogmatische Darstellung der kirchlichen Lehre ist nach Schleiermacher nicht möglich ohne eigene Überzeugung. Daß in der Darstellung des Zusammenhangs der geltenden Lehre dieser Zusammenhang „bewährt" wird, daß in ihr die eigene Überzeugung des Dogmatikers zur Aussprache gelangt, das erst macht diese Darstellung zu einer dogmatischen (vgl. § 196). Die weiteren Aussagen der „Kurzen Darstellung", in denen die Aufgabe der Dogmatik näher bestimmt wird, haben dann im wesentlichen den Charakter von Grenzziehungen. Sie stecken das Feld ab, innerhalb dessen die Arbeit der Dogmatik sich vollzieht. Es sind vor allem vier Fragenkreise, die dabei erörtert werden: das Verhältnis von Orthodoxie und Heterodoxie, die Bezogenheit der Dogmatik auf das Neue Testament und das Bekenntnis, die Bedeutung philosophischer Kategorien für die Dogmatik sowie das Verhältnis von Glaubenslehre und Christlicher Sittenlehre. Für den vorliegenden Zusammenhang sind die Aussagen über Orthodoxie und Heterodoxie von besonderem Interesse. Schleiermacher faßt beide Begriffe so, daß sie Wesensmomente der dogmatischen Aufgabe bezeichnen. Orthodox ist jedes Element der Lehre, in dem „das bereits allgemein Anerkannte zusamt den natürlichen Folgerungen daraus" festgehalten wird, heterodox jedes Element, das darauf zielt, „den Lehrbegriff beweglich zu erhalten und anderen Auffassungsweisen Raum zu machen" (§ 203). Die Dogmatik muß orthodox und heterodox

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H. Zum Leben und Werk Schleiermachers

zugleich sein und zwischen einer jeden Wandel ablehnenden falschen Orthodoxie und einer „auf einseitige Weise neuernden" falschen Heterodoxie ihren Weg suchen.

IV. Schleiermachers „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" ist mit vielen ihrer Aussagen zum Programm künftiger Entwicklungen geworden. Schleiermacher selbst hat nur eine der theologischen Disziplinen, denen die Enzyklopädie neue Gesichtspunkte bereitstellt, in großem Stil ausgeführt: die Dogmatik. Sie liegt vor in den beiden Auflagen seines Wer-[127]kes „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt", 1821/22, 1830/31. (Die im Folgenden gegebenen Zitate bieten den Text der 2. Auflage). Die Dogmatik ist so die Disziplin geworden, in deren Rahmen Schleiermachers theologische Konzeption ihre gültige und wirkungskräftige Gestalt gefunden hat. Dieser Sachverhalt ist von der „Kurzen Darstellung" her gesehen keineswegs selbstverständlich. In dem von ihr skizzierten Aufriß der theologischen Disziplinen ist es unverkennbar die Philosophische Theologie, in der Schleiermachers spezifisch eigenes und spezifisch neues Wollen seinen deutlichsten Ausdruck findet. Aber hinsichtlich der Philosophischen Theologie ist es beim Postulat geblieben. Schleiermacher hat von ihr lediglich einige Grundzüge ausgeführt — im Rahmen einer Einleitung in seine Glaubenslehre. Diese Verbindung der durch die Philosophische Theologie repräsentierten Themen mit der Entfaltung der Dogmatik hat sich als außerordentlich folgenreich erwiesen. Man wird sagen können, daß Schleiermacher damit für die Folgezeit die Gestalt der Dogmatik geprägt hat. Bis auf diesen Tag bestimmt dies fast durchweg die Gestalt der Dogmatik, daß sie die Erörterung der Fragen, die der Theologie aus dem allgemeinen Denken zuwachsen, verbindet mit einer kritischen Darlegung der Lehrtradition. Die Bedeutung, welche die sog. Prolegomena in der Dogmatik des 19. und des 20. Jahrhunderts gewonnen haben, entspricht — bei allen Verschiedenheiten der jeweiligen Ausführung — der Bedeutung, welche die Philosophische Theologie bei Schleiermacher hat. Hinsichtlich der sog. materialen Dogmatik dürfte es wesentlich Schleiermachers Vorbild zuzuschreiben sein, daß die Dogmatik — von wenigen Ausnahmen abgesehen — sich bis heute orientiert an der von der dogmatischen Tradition vorgegebenen Thematik.

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Im Zentrum der Schleiermacherschen Einleitung in die Glaubenslehre steht der § 19, der die Aufgaben Bestimmung der Dogmatik aus der „Kurzen Darstellung" aufnimmt: „Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre." Ein gegenüber den Ausführungen der Enzyklopädie neues Element begegnet in der Einleitung zur Glaubenslehre in dem Abschnitt „Vom Verhältnis der Dogmatik zur christlichen Frömmigkeit" (§§ 15 — 19). Dieser Abschnitt bietet eine ausführliche Darlegung von Schleiermachers wegweisender Auffassung des Wesens christlicher Lehre, welche dogmatische Sätze als Glaubenssätze, als Ausdruck und Darstellung des christlich frommen Selbstbewußtseins verstehen läßt, genauer als „Glaubenssätze von der darstellend belehrenden Art, bei welchen der höchst mögliche Grad von Bestimmtheit bezweckt wird" (§ 16). Damit erfährt die Aufgabe der Dogmatik eine deutlichere Bestimmung, die im Titel der Schleiermacherschen Glaubenslehre eine charakteristische Formulierung gefunden hat. Die Dogmatik stellt den christlichen Glauben dar nach den „Grundsätzen" der evangelischen [128] Kirche. Sie stellt die geltende Lehre dar, indem sie diese als Glaubenslehre, als Äußerung und Ausdruck des Glaubens, des christlichen Bewußtseins verstehen lehrt. Beide Momente — Darstellung des christlichen Bewußtseins, Darstellung der geltenden Lehre — hängen in Schleiermachers Konzeption der Dogmatik untrennbar zusammen. Die Darstellung der vorgegebenen Lehre hat darin ihre Orientierung und ihr kritisches Prinzip, daß sie diese Lehre auf das christlich fromme Selbstbewußtsein bezieht. Zugleich gilt aber, daß das christliche Bewußtsein nur in der kritischen Aneignung der vorgegebenen Sageweisen zu zusammenhängendem und verbindlichem Ausdruck gelangt. Schleiermacher betont, „daß ein Gebäude, wenn auch noch so zusammenhängend, von lauter ganz eigentümlichen Meinungen und Ansichten, welche, wenn auch wirklich christlich, an die Ausdrücke, welche in den kirchlichen Mitteilungen der Frömmigkeit gebraucht werden, gar nicht anknüpfen, immer nur für ein Privatbekenntnis, nicht für eine dogmatische Darstellung würde gehalten werden" (§ 19,3). Zum Begriff der Dogmatik gehört wesentlich hinzu „die geschichtliche Haltung und die Bezugnahme auf die öffentliche kirchliche Verständigung" (§ 19,4). Die Aufgabe der Dogmatik erfährt nach dieser Seite ihre Konkretion durch die Forderung des § 27 der Glaubenslehre: „Alle Sätze, welche auf einen Ort in einem Inbegriff evangelischer Lehre Anspruch machen, müssen sich bewähren teils durch Berufung auf evangelische Bekenntnis-

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Schriften und in Ermangelung deren auf die Neutestamentischen Schriften, teils durch Darlegung ihrer Zusammengehörigkeit mit anderen schon anerkannten Lehrsätzen." In der Bezugnahme auf die reformatorischen Bekenntnisse artikuliert sich der protestantische Charakter einer Dogmatik. „Denn diese Schriften sind offenbar das erste gemeinsam Protestantische; und wie alle protestantischen Gemeinden zunächst durch Anschließung an sie zur Kirche zusammengewachsen sind, so muß auch jedes Lehrgebäude, welches sich als protestantisch bekunden will, an diese Geschichte anzuschließen streben" (§ 27,1). Ähnlich heißt es vorher: „Wie wir überhaupt einer Darstellung von lauter eigentümlichen Glaubenssätzen den Namen einer Dogmatik nicht zugestehen konnten, und auch die ersten zusammenhängenden Darstellungen des evangelischen Glaubens jenen Namen nur führen konnten, sofern sie an Früheres anknüpften und das meiste mit dem kirchlich Gegebenen gemein hatten: so würde auch ein Inbegriff von Glaubenssätzen, der den Zusammenhang mit dem, was sich in der Epoche der Kirchenverbesserung teils gestaltet hat, teils auch für die evangelische Kirche aufs neue anerkannt worden ist, gar nicht anspräche, und wenn alles darin noch so sehr dem Römischen entgegengesetzt wäre, keineswegs für eine evangelische Glaubenslehre gelten können" (§ 25,1). Schleiermacher fordert von jeder protestantischen Dogmatik, daß sie in allen ihren Teilen den Gegensatz von Protestantismus und Katholizismus zu deutlichem Bewußtsein bringe. Dagegen behandelt er die Differen-[129]zen zwischen lutherischem und reformiertem Protestantismus bekanntlich „lediglich als eine Sache der Schule" (§ 24 Zusatz). Seine eigene Glaubenslehre nimmt durchgehend gleichermaßen auf lutherische wie auf reformierte Bekenntnisse Bezug. Neben die Bezugnahme auf das Bekenntnis tritt dann ergänzend die auf das Neue Testament — das Alte Testament ist nach Schleiermacher „für die Dogmatik nur ... eine überflüssige Autorität". Auf das dabei vorausgesetzte Schriftverständnis kann hier nicht eingegangen werden. Hervorzuheben ist dies, daß Schleiermacher nicht so sehr daran denkt, daß einzelne neutestamentliche Aussagen für einzelne dogmatische Sätze als Beleg angeführt werden sollen. Seiner Vorstellung entspricht vielmehr „ein ins Große gehender Schriftgebrauch ..., wobei man es nicht auf einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Stellen anlegt, sondern nur auf größere besonders fruchtbare Abschnitte Rücksicht nimmt, um so in dem Gedankengang der heiligen Schriftsteller dieselben Kombinationen nachzuweisen, auf denen auch die dogmatischen Resultate beruhen" (S 27,3). Neben dem Neuen Testament und den reformatorischen Bekenntnissen sind es dann alle öffentlichen Lehräußerungen, die der Dogmatik

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ihren „Stoff" geben, „alle Lehrsätze, welche ein dogmatischer Ausdruck sind für das, was in den öffentlichen Verhandlungen der Kirche, wenn auch nur in einzelnen Gegenden derselben, als Darstellung der gemeinsamen Frömmigkeit gehört wird, ohne Zwiespalt und Trennung zu veranlassen" (§ 19,3). Zusammenhang und innere Ordnung gewinnt die Dogmatik dadurch, daß sie die vorgegebene Lehre kritisch darstellt als Äußerung des christlichen Bewußtseins. Die Eigenart von Schleiermachers Dogmatik bildet sich auch in ihrem Aufbau ab. Dieser Aufbau ergibt sich zunächst aus der inneren Struktur des christlich frommen Selbstbewußtseins, das Schleiermacher charakterisiert sieht durch den Gegensatz von Bewußtsein der Sünde und Bewußtsein der Gnade. Die Glaubenslehre zerfällt so in drei große Teile, die das christliche Bewußtsein beschreiben zunächst unter Absehen von diesem Gegensatz (I), sodann als Bewußtsein der Sünde (II) und als Bewußtsein der Gnade (III). Diese große Gliederung kreuzt sich dann mit einem anderen Schema, das sich daraus ergibt, daß Glaubenssätze in drei Formen begegnen, in Gestalt von Sätzen über Gott, Sätzen über die Welt und Sätzen über den Menschen. Es entsteht so eine übersichtliche Neungliederung. Ihre Virtuosität liegt dann nicht zuletzt darin, daß in ihr zugleich der übliche Aufriß der Dogmatik weitgehend aufgenommen und bewahrt ist. Sieht man von der Gotteslehre ab, die sich bei Schleiermacher auf alle drei großen Teile der Glaubenslehre verteilt, so ist es im ganzen der traditionelle Aufbau der Dogmatik, den er bietet. In welchem Sinne die Orientierung an der vorgegebenen Gestalt der Dogmatik Schleiermacher wichtig gewesen ist, erhellt aus einer Bemerkung des zweiten der beiden „Sendschreiben" an Lücke, die er der 2. Auf-[130]lage seiner Glaubenslehre vorausgeschickt hat (zuerst erschienen in den Theologischen Studien und Kritiken 1829, abgedruckt in den Sämtlichen Werken, 1. Abt., Bd. II, 575 ff.). Diese Bemerkung hat die drei Formen dogmatischer Sätze zum Thema. Schleiermacher hat das Nebeneinander dieser drei Formen als etwas Vorläufiges angesehen. Der Sache nach lassen sich die „Begriffe von göttlichen Eigenschaften und Handlungsweisen" und die „Aussagen von Beschaffenheiten der Welt" zurückführen auf Sätze der ersten, der Grundform „Beschreibungen menschlicher Lebenszustände". Schleiermacher schreibt in seinem Sendschreiben: „Ich habe ... ernstlich beratschlagt, ob es nicht schon jetzt bei der zweiten Ausgabe meines Buches Zeit sei zu einer ... Umarbeitung desselben in Bezug auf seine Gestaltung. Ich meine nämlich die in dem Buche selbst schon dadurch angedeutete und gleichsam verheißene, daß die beiden Formen dogmatischer Sätze, die, welche Eigenschaften Gottes

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und die, welche Beschaffenheiten der Welt aussagen, nur Nebenformen genannt werden. Denn, wenn es wahr ist, daß sie nichts aussagen, was nicht seinem wesentlichen Gehalte nach schon in Sätzen, welche die Grundform an sich tragen, enthalten sei: so können jene beiden anderen ja gemißt werden. Und das ist auch in der Tat meine Überzeugung, womit denn auch die zusammenhängt, daß unsere Glaubenslehre einmal lernen wird, sich ohne sie zu behelfen" (S. 627). Daß Schleiermacher diese Umformung nicht durchgeführt hat, begründet er damit, daß seine Glaubenslehre dann Gefahr liefe, daß sie „in dieser Form ein bloßes Privatbuch würde, ein Kabinettstück gleichsam in der theologischen Literatur, an dem sich manche erbauen und manche belehren würden, das aber auf den öffentlichen Vortrag der christlichen Lehren gar keinen Einfluß ausüben könnte, da für diese die rechten Anknüpfungspunkte fehlen würden" (629). Zum gleichen Thema heißt es dann auch in der Glaubenslehre: „Wollte jemand gegenwärtig die christliche Glaubenslehre so behandeln: so stände ein solches Werk isoliert ohne alle geschichtliche Haltung, und es fehlte ihm nicht nur der eigentliche kirchliche Charakter, sondern es könnte auch, wie vollkommen treu es immer den Inhalt der christlichen Lehre wiedergäbe, doch den eigentlichen Zweck aller Dogmatik nicht erfüllen" (§ 30,3). Die Forderung der „geschichtlichen Haltung", die Schleiermacher hier geltend macht, reicht in ihrer Bedeutung über den unmittelbaren Anlaß der Erörterung hinaus. Es spricht sich darin eine Einsicht aus, die das Ganze seiner Dogmatik bestimmt: die Einsicht, daß die christliche Botschaft uns nicht anders erreicht als in geschichtlicher Vermittlung und daß die dogmatische Tradition ein Element dieser Vermittlung repräsentiert, welches die Dogmatik nicht ignorieren kann, ohne ihrer Aufgabe untreu zu werden. Damit wird an seinem Programm der Dogmatik sichtbar, daß man der Stellung seiner Theologie in der neueren Theologiegeschichte kaum gerecht werden dürfte, wenn man sie in ein Bild sich gegenseitig über-[131]holender Neuanfänge einordnet. Die Bedeutung seiner Theologie liegt nicht darin, daß sie eine radikale Neubestimmung der theologischen Arbeit gesetzt hätte. Sie dürfte eher darin liegen, daß sich in seiner Konzeption ein neuer Zugang zur protestantischen Lehrtradition eröffnet. Wo die Dogmatik seither Dogma und Bekenntnis als „religiöse Aussage", als „Zeugnis", als „Glaubenserkenntnis" — und wie immer die älteren und neueren Termini hier heißen mögen — begreift, nicht als Lehrgesetz, das Unterwerfung fordert, sondern als geschichtliches Zeugnis, das auf kritische Auslegung und interpretative Aneignung und Fortbildung angewiesen und angelegt ist, dort hat sie den von Schleiermacher gebahnten Weg betreten.

8. Schlechthin abhängig von Gott Ein Porträt Friedrich Schleiermachers (1768 — 1834) [1964]* Atn 12. Februar dieses Jahres hat sich zum 130. Male der Todestag Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers gejährt, der Todestag des Mannes, der in den letzten 150 Jahren wie kein anderer die Geschichte der protestantischen Theologie bestimmt hat. Die Stellung und Geltung seines Werkes ist freilich in diesen 150 Jahren keineswegs unumstritten gewesen. Sie ist bis auf diesen Tag Gegenstand durchaus gegensätzlicher Thesen. Schleiermachers Wirkungen sind mindestens ebenso in dem Widerspruch zu suchen, den seine Gedanken herausgefordert haben, wie in den positiven Anregungen, die von ihm ausgegangen sind. Unbestritten aber ist der geschichtliche Rang seines Werkes. Unbestritten ist, daß sein Werk in der Geschichte der protestantischen Theologie einen entscheidenden Einschnitt markiert, einen Wendepunkt, der epochenscheidende Bedeutung hat. Will man versuchen, den Rang und die Eigenart seiner Konzeption in einer kurzen Formel zu charakterisieren, so werden die Freunde wie die Gegner dieser Konzeption wohl zustimmen, wenn man sagt: Schleiermacher ist der klassische Theologe des Neuprotestantismus. Der klassische Theologe des Neuprotestantismus — das bedeutet: Sein Werk repräsentiert eine Theologie, die sich durch die Wandlungen der Welterfahrung und die Wandlungen des Wahrheitsbewußtseins in der Neuzeit vor neue Aufgaben gestellt sieht, eine Theologie, die sich insofern unter anderen Bedingungen weiß als alle Theologie vorher. Schleiermachers Sicht der eigenen Lage, sein Verständnis der eigenen Aufgabe hat eine eindrückliche Formulierung gefunden in einer Äußerung aus dem Jahre 1829: „Wenn die Reformation, aus deren Anfängen unsere Kirche hervorgegangen ist, nicht das Ziel hat, einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der nach allen Seiten freigelassenen, unabhängig für sich arbeitenden wissen* Vgl. Bibliographie Nr. 83

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schaftlichen Forschung, so daß jener nicht diese hindert, und diese nicht jenen ausschließt: so leistet sie den Bedürfnissen unserer Zeit nicht Genüge, und wir bedürfen noch einer anderen, wie und aus was für Kämpfen sie sich auch gestalten möge. Meine feste Ueberzeugung aber ist, der Grund^zu diesem Vertrage sey schon damals gelegt, und es thue nur Noth, daß wir zum bestimmteren Bewußtseyn der Aufgabe kommen, um sie auch zu lösen. Am ersten fehlt es nicht: gemahnt ist jeder genug, und zwiefach aufgefordert, zur Lösung etwas beizutragen, ist jeder, der an beiden zugleich, am Bau der Kirche und am Bau der Wissenschaft, irgendeinen thätigen Antheil nimmt." 1 Man mag die Rede von einem ewigen Vertrag zwischen dem Glauben und der wissenschaftlichen Forschung nicht unbedenklich finden. Schleiermacher hat mit ihr seine Kritiker zu einem naheliegenden Vorwurf angeregt, zu dem Vorwurf nämlich, daß sein Denken zutiefst geleitet sei von einem apologetischen Interesse, von einem unsachgemäßen Respekt vor der außertheologischen Wissenschaft. Verläßt die Theologie nicht das ihr aufgegebene Thema, wenn sie sich von fremden Instanzen Vorschriften machen läßt? Begibt sie sich mit apologetischen Unternehmungen nicht auf einen Weg, an dessen Ende nur ein Vertrag stehen kann: die Kapitulation? So kann man fragen. Und diese Fragen haben in sich ihr gutes Recht. Ob Schleiermachers Position von diesen Fragen erreicht wird, bleibt freilich zu bezweifeln. Alle Apologetik setzt einen Gegensatz von Glaube und Wissenschaft voraus. Sie setzt voraus, daß die Wahrheit des Glaubens und die Wahrheit der Wissenschaft im Widerspruch sind, und sie trachtet nun, eine Ermäßigung des Widerspruchs, eine Vermittlung des Gegensatzes zu erreichen. Schon der Begriff sagt es, daß hier die eigene Position gegen einen Angriff von außen verteidigt wird. Notfalls räumt man eine vordere Linie und bezieht — bis auf weiteres — eine weiter hinten liegende Stellung. Die Apologetik bekommt so leicht den Charakter eines kontinuierlichen Rückzugsgefechtes, dessen Ende dann in der Tat nicht abzusehen ist. Schleiermachers Position ist der eben skizzierten insofern diametral entgegengesetzt, als der vorausgesetzte Gegensatz von Glaube und Wis1

F. Schleiermacher, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke (1829), in: F. D. E. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe (= KGA), hg. v. H.-J. Birkner, G. Ebeling, H.Fischer, H. Kimmerle, K.-V. Selge, Berlin/New York 1980 ff., I.Abt.: Schriften und Entwürfe, Bd. 10: Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. v. Hans-Friedrich Traulsen, Berlin/New York 1990, S. 350 f.

8. Ein Porträt Friedrich Schleiermachers (1768-1834) [1964]

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senschaft ihm schlechterdings fremd ist. Wir besitzen von seiner Frau einen Bericht über seine letzten Tage und Stunden. In diesen Aufzeichnungen heißt es an einer Stelle: „Einmal rief er mich an sein Bett und sagte: ,ich bin doch eigentlich in einem Zustand, der zwischen Bewußtsein und Bewußtlosigkeit schwankt ..., aber in meinem Inneren verlebe ich die göttlichsten Momente — ich muß die tiefsten speculativen Gedanken denken und die sind mir völlig eins mit den innigsten religiösen Empfindungen.' "2 In diesen Worten des Todkranken ist hingedeutet auf das Geheimnis seines Lebens, auf das Geheimnis seines Werkes und das Geheimnis seiner Wirkung. Der Einklang von spekulativem Gedanken und religiöser Empfindung, von philosophisch-wissenschaftlicher Einsicht und frommer Gewißheit, von Wahrheit des Wissens und Wahrheit des Glaubens — er ist es, der seinem Werk das unverwechselbare Gepräge gibt. Diesem Einklang unter den Bedingungen und Voraussetzungen seines Zeitalters Ausdruck zu verleihen — das ist das große Thema seines Lebens. Schleiermacher ist in eine reiche und bewegte Epoche hineingeboren worden. Er hat an den Bewegungen seines Zeitalters wie an den großen Gegensätzen, welche die deutsche Kirchen- und Geistesgeschichte im ausgehenden 18. und im beginnenden 19. Jahrhundert bestimmen, besonderen Anteil. Der kirchlich-theologische Gegensatz von Pietismus und Orthodoxie einerseits, christlicher Aufklärung andererseits, dann der Gegensatz von Aufklärung einerseits, Romantik und Idealismus andererseits — sie haben Entsprechungen in den Stadien seiner Biographie. In seinem Reifewerk ist in eigentümlicher Weise das Erbe dieser Stadien, das Erbe von Pietismus, Aufklärung, Romantik und Idealismus bewahrt und zusammengeschmolzen. Der 1768 in Breslau geborene Sohn eines reformierten preußischen Feldpredigers hat seine Ausbildung zunächst in Lehrinstituten der Brüdergemeine empfangen. Herrnhutischer Lehrer oder Prediger zu werden, das war das Berufsziel, das dem Siebzehnjährigen vor Augen stand. Aus der vorgezeichneten Bahn wird er hinausgeworfen durch eine innere Krise. In einem bewegenden Brief bekennt er seinem Vater seinen Zweifel an der kirchlichen Lehre von der Gottheit Christi und vom stellvertretenden Leiden Christi und ringt dem Widerstrebenden schließlich die Zustimmung ab zu dem Plan, das Studium an der Universität Halle fortzuset2

Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen, Bd. 2, 2.Aufl. Berlin 1860 (Nachdruck Berlin/ New York 1990), S. 511 f.

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zen. Er hat später den Ausbruch aus dem herrnhutischen Seminar als den entscheidenden Moment der Selbstfindung, des tathaften Bekenntnisses zum eigenen Wesen angesehen. Er ist sich zugleich dessen bewußt gewesen, in der Brüdergemeinde Unverlierbares empfangen zu haben. Er hat geradezu sagen können, er sei nach allem wieder ein Herrnhuter geworden, nur von einer höheren Ordnung. Die Universität Halle, die Schleiermacher im Jahre 1787 bezog, war zu dieser Zeit akademisches Zentrum der deutschen Aufklärung. Es sind die Ideen der christlichen Aufklärung, die ihn in den folgenden Jahren zunächst des Studiums, dann der Tätigkeit als Hauslehrer und Hilfsprediger bestimmen. Einen folgenreichen Einschnitt in seiner Biographie bedeutet es dann, als er 1796 die Stelle des reformierten Predigers an der Charite in Berlin übertragen bekommt. Schleiermacher tritt hier in eine neue Welt ein. Er wird eingeführt in das Haus des Arztes Markus Herz, des Freundes Kants. Er gewinnt Anschluß an die gebildete Berliner Gesellschaft und gerät hinein in die Bewegung der Frühromantik. Henriette Herz, in deren Salon die Jünger der neuen Bildung einen Ort der Geselligkeit und des Gesprächs haben, wird die Vertraute seiner Gedanken und Empfindungen. 1797 kommt Friedrich Schlegel nach Berlin, 25 Jahre alt, mit literarischem Ruhm geschmückt. Zwischen ihm und Schleiermacher entwickelt sich eine Freundschaft. Er zieht in Schleiermachers Wohnung. Zwischen beiden entsteht ein Verhältnis wechselseitiger Anregung. Es werden Ideen und Pläne geboren, einige davon auch realisiert. So die Gründung einer Zeitschrift: 1798 erscheint zum ersten Mal das „Athenäum". So die PlatoÜbersetzung, von Schlegel und Schleiermacher gemeinsam projektiert, von Schleiermacher schließlich allein ausgeführt. Bei der Feier von Schleiermachers 29. Geburtstag gelingt es den Gratulanten, ihm das Versprechen abzulocken, er werde binnen Jahresfrist ein Buch schreiben. 29 Jahre alt und noch nichts geschrieben, das ist Schlegels Vorwurf, mit dem er nach Schleiermachers Bericht gar nicht aufhören wollte. Schleiermacher hat das Versprechen bald bereut, er hat es schließlich glanzvoll eingelöst. 1799 erscheint das Buch, das seinen Ruhm begründet, das ihm die meisten Leser zugeführt hat. Es trägt den Titel: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern."3 -' F. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799, anonym), in: KGA I, 2: Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1984. Für die folgenden Zitate werden die Seiten nach dieser Ausgabe und in Klammern die Seiten der Urauflage angegeben.

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Im Titel ist der geistige Ort des Buches markiert. Schleiermacher wendet sich an Leser, mit denen er sich durch eine gemeinsame Voraussetzung verbunden weiß, durch die Voraussetzung der Bildung. Die Bildung, das meint hier: die neue Bildung, die neue Kunst und Philosophie, die neue Welt- und Lebensauffassung, die zu vertreten das Selbstbewußtsein und das Sendungsbewußtsein der Frühromantik ausmacht. Die gebildeten Verächter der Religion fordert er auf, in ihrer Verachtung „nur ... recht gebildet ... zu sein"4, und er läßt bald sichtbar werden, daß er nicht daran denkt, sie ihrer Verachtung wegen zu attackieren. Im Gegenteil. Diese Verachtung gilt etwa den Lehrgebäuden, den Theorien und Dogmen, die als Gegenstand des Glaubens auftreten. Oder sie gilt der Religion, die -als unentbehrliche Stütze für Recht und Sittlichkeit geschätzt wird. Schleiermacher bekennt sich zu dieser Verachtung und verleiht ihr scharfen Ausdruck. Aber — und das ist nun die These der „Reden" — die Religion ist damit noch gar nicht in den Blick gekommen. Sie hat sich dem, der nur dies sieht, verborgen. Sie hat nichts zu tun mit Theorien des Verstandes über ein höheres Wesen und eine andere Welt, sie ist nicht identisch mit Moral. Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern — und nun vernehmen wir die Grundworte und Leitbegriffe der „Reden über die Religion" — ihr Wesen ist „Anschauung und Gefühl" 5 , „Sinn ... fürs Unendliche" 6 , „Anschauung des Universums" 7 , „Anschauung des Unendlichen im Endlichen"8. „Das Universum ist in einer ununterbrochenen Thätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblik. Jede Form die es hervorbringt, jedes Wesen dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein giebt, jede Begebenheit die es aus seinem reichen immer fruchtbaren Schooße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf Uns; und so alles Einzelne als einen Theil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion."9 Daß Schleiermacher seinem Buch die Gestalt von Reden gegeben hat, daß er seine Gedanken im Stil prophetischen Bekenntnisses, im Stil verkündigender Anrede vorträgt, das bedeutet nicht, daß die Strenge des Gedankens ausgeschlossen wäre. In den Reden ist vielmehr eine scharfe 4

A. A. « A. 7 A. 8 A. 9 A. 5

a. a. a. a. a. a.

O. O. O. O. O. O.

S. 198 S. 211 S. 212 S. 244 S. 313 S. 214

(S. 21) u.ö. (S. 50) (S. 53) u.ö. (S. 126) (S. 284) (S. 56)

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

Abrechnung mit der Theologie und Philosophie der Aufklärung vollzogen. Sie sind ferner bestimmt durch eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants und Fichtes. Man kann das Buch auf doppelte Weise lesen. Man kann es lesen als ein freilich ungewöhnliches Erbauungsbuch — und es ist manchen seiner frühesten Leser der Anstoß zu einer förmlichen Bekehrungserfahrung geworden. Man kann es zugleich lesen als einen religionsphilosophischen Entwurf, als Prolegomena zu jeder künftigen Theologie, die als Wissenschaft wird auftreten können. Von den Konsequenzen der Schleiermacherschen Konzeption, die für die Theologie Bedeutung gewonnen haben, sollen zumindest zwei erwähnt werden. Einmal: Das Verhältnis von Glaube und Lehre tritt hier in ein neues Licht. Daß der Glaube, daß die Religion in Anschauung und Gefühl lebt, das bedeutet zugleich: alle Reflexion, alle gedankliche Auslegung ist ein zweites, ist nachträglich, abgeleitet, sekundär. Der Glaube im religiösen Sinn ist nicht ursprünglich bezogen auf Lehrsätze. Der Glaube ist eine unmittelbare Erfahrung vor aller theoretischen Auslegung. Damit ist die Aufgabe einer Neubestimmung des Verhältnisses von Glaube und Lehre gestellt. Das Gewahrwerden dieser Aufgabe hat die Theologie auf neue Bahnen gewiesen. Und ein zweites muß erwähnt werden: Das Reich von Anschauung und Gefühl ist das Reich des Individuellen. Die Religion ist nur präsent in den Religionen, in individuellkonkreten geschichtlichen Gestaltungen. So rückt nun das ins Zentrum, was dem Denken der Aufklärung das Sperrige, das von der Vernunft zu Überwindende gewesen war: das jeweils Besondere, das Positive, das unverwechselbar Eigentümliche der geschichtlichen Religion. Damit ist ein neues Verständnis von Geschichte eröffnet und zugleich der Boden bereitet, auf dem ein neues Verständnis für die geschichtliche Eigenart des christlichen Glaubens erwachsen konnte. Der weitere Gang von Schleiermachers Leben ist schnell skizziert. Berlin hat er im Jahre 1802 verlassen. Der Kreis der romantischen Freunde war in Auflösung begriffen. Er lieferte überdies dem Berliner Lokalklatsch reichlichen Stoff. Das belastete innerlich wie äußerlich den jungen Chariteprediger, der sich dem Vorwurf ausgesetzt sah, er verkehre mit Personen von verdächtigen Grundsätzen und Sitten. Er wurde zunächst nach Stolp in Pommern versetzt, in ein Städtchen von ca. 4000 Einwohnern, das ihn den Gegensatz zum bisherigen Leben heftig empfinden ließ. 1804 als außerordentlicher Professor und reformierter Universitätsprediger nach Halle berufen, waren ihm hier nur vier Semester fruchtbarer Tätigkeit vergönnt. Nach der Niederlage von Jena und Auer-

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städt wurde Halle von französischen Truppen besetzt, die Universität geschlossen. Schleiermacher verlor bei einer Plünderung, wie er in einem Briefe berichtet, seine Uhr, alle Oberhemden bis auf fünf und alle silbernen Löffel bis auf zwei. Schmerzlicher traf es ihn, daß er auch sein akademisches Amt verlor. 1807, als Halle an das neue Königreich Westfalen fiel, verließ er Halle und übersiedelte nach Berlin. Als Schleiermacher in die Stadt zurückkehrt, mit der ihn so viele Erinnerungen verbinden, liegt die Zeit des Werdens hinter ihm. Berlin wird nun für ihn der Ort universaler Wirksamkeit. Zunächst ist natürlich seines Wirkens an der 1810 neu eröffneten Universität zu gedenken. Diese Gründung hat bekanntlich in der Geschichte der deutschen Universitäten eine neue Entwicklung eingeleitet. Schleiermacher ist an den Gründungsvorbereitungen stark beteiligt gewesen. Er ist einer der Väter der idealistischen Universitätsidee, die der neuen alma mater die Gestalt gegeben hat. Sein eigenes Wirken als Professor der Theologie wie als Mitglied der Akademie der Wissenschaften ist die lebendige Darstellung dieser Idee, der Idee der Einheit von Forschung und Lehre, die alle Fakultäten übergreift und sie im Ethos der Wissenschaft zusammenschließt. Seine theologischen und philosophischen Vorlesungen haben wesentlich dazu beigetragen, dem Namen der neuen Universität Glanz zu verleihen. Die theologischen Vorlesungen erstrecken sich über den ganzen Bereich der Theologie. Außer der Auslegung des Alten Testamentes gibt es keine theologische Disziplin, die von Schleiermacher nicht in Vorlesungen behandelt worden wäre. Seine Gesamtauffassung der theologischen Wissenschaft hat er dargestellt in einem Büchlein, das „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" überschrieben ist, 1811 zuerst erschienen, 1830 in neuer Bearbeitung. Die kleine Schrift, die nicht so sehr eine Einführung als vielmehr eine Analyse der inneren Struktur der Theologie bietet, hat sich bis auf diesen Tag als Grunddokument wissenschaftlicher Selbstreflexion der Theologie bewährt. Schleiermachers Vorlesungen greifen in ihrer Thematik über den Bereich der Fachtheologie hinaus. Er hat — in seiner Eigenschaft als Mitglied der Akademie der Wissenschaften — nahezu in jedem Semester auch in der philosophischen Fakultät gelesen: über Geschichte der Philosophie, Dialektik, philosophische Ethik, Psychologie, Ästhetik, schließlich über Erziehungslehre — die Pädagogik zählt ihn zu ihren großen Lehrern. Die idealistische Universitätskonzeption hat im übrigen nicht nur Gestalt gewonnen in der Richtung auf Universalität, die sein akademi-

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sches Wirken kennzeichnet, sondern ebenso in dem ihm eigentümlichen Vorlesungsstil. Für diese Konzeption ist konsumtiv der Gedanke, daß die Universität in erster Linie nicht fertiges Wissen vermitteln soll, daß es vielmehr darum geht, die Entstehung des Wissens, den Weg der Erkenntnis sichtbar werden zu lassen. Daraus ergeben sich bestimmte Forderungen an den akademischen Lehrer, die nicht zuletzt die Gestalt seines Kathedervortrags betreffen. Schleiermacher hat diese Forderungen in seinen „Gelegentlichen Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn" von 1808 folgendermaßen formuliert: „Ein Professor, der ein einfür allemal geschriebenes Heft immer wieder abliest und abschreiben läßt, mahnt uns sehr ungelegen an jene Zeit, wo es noch keine Druckerei gab und es schon viel wert war, wenn ein Gelehrter seine Handschrift vielen auf einmal diktierte ... Jetzt aber kann niemand einsehn, warum der Staat einige Männer lediglich dazu besoldet, damit sie sich des Privilegiums erfreuen sollen, die Wohltat der Druckerei ignorieren zu dürfen ..."10. „Der Lehrer muß alles, was er sagt, vor den Zuhörern entstehen lassen; er muß nicht erzählen, was er weiß, sondern sein eigenes Erkennen, die Tat selbst, reproduzieren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die Tätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Erkenntnis unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden." 11 In Übereinstimmung mit dieser Forderung hat Schleiermacher sich auf seine Vorlesungen vor allem meditierend vorbereitet und auf Manuskripte nahezu völlig verzichtet. Die Stichworte für seine Kollegs sind auf kleinen Zetteln notiert. Es gibt eine ganze Reihe von Berichten seiner Hörer, die teils seine Lehrmethode enthusiastisch rühmen, teils freilich auch über die Schwierigkeit klagen, die den Studenten entstanden, die nun vor allem darauf aus waren, das Gehörte mitzuschreiben, um es schwarz auf weiß nach Hause zu tragen. Mit dem allen ist dann erst ein Sektor der Wirksamkeit Schleiermachers beschrieben. Er hat lebhaft teilgenommen an den preußischen Reformbestrebungen, er hat vor allem bei den Reformen in Schule und Kirche aktiv mitgearbeitet. Schließlich ist nicht zu vergessen, daß er von 1809 bis zu seinem Tode das Amt des reformierten Predigers an der 10

11

F. Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808), in: F. Schleiermacher, Sämtliche Werke, III. Abt. Bd. 1; hier zitiert nach dem Abdruck in: Schleiermacher, Pädagogische Schriften, 2 Bde., hrg. von E. Weniger, Düsseldorf/München 1957, Bd. 2 (S. 81-139), S. 108 A. a. O. S. 107

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Berliner Dreifaltigkeitskirche innegehabt hat. Unter seiner Kanzel versammelte sich eine Personalgemeinde aus der ganzen Stadt. In den nach seinem Tode herausgegebenen Sämtlichen Werken füllen die Predigten zehn Bände. Es ist im Ganzen eine respektheischende Arbeitslast und eine imponierende Arbeitsleistung, die einem hier vor Augen tritt. Die Fülle der Pflichten und Lasten macht es erklärlich, daß Schleiermacher in diesen Jahren nur noch selten dazu gekommen ist, umfänglichere Arbeiten in den Druck zu geben. Die aus dem Nachlaß edierten Manuskripte haben deutlich erkennen lassen, daß die von ihm selbst veröffentlichten Schriften jeweils nur Teilaspekte seines universalen Denkens sichtbar werden lassen. Ein großes Werk muß freilich noch genannt werden. Es handelt sich um die Dogmatik, die Glaubenslehre, die Schleiermacher 1821/22 veröffentlicht hat unter dem Titel: „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt".12 1830/31 folgte eine zweite, neubearbeitete Auflage. Was er in der Glaubenslehre unternimmt, ist kurz gesagt dies, daß er das Programm der Neubestimmung des Verhältnisses von Glaube und Lehre, das in den Reden über die Religion angedeutet war, in großem Stile durchführt. Er setzt sich zunächst die Aufgabe, die christliche Lehre darzustellen nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche. Dem Verweis auf die Grundsätze der evangelischen Kirche kann man entnehmen, daß Schleiermacher auf die lehrmäßigen Differenzen zwischen dem lutherischen und dem reformierten Protestantismus kein Gewicht legt. Seine Dogmatik dient in ihrer Weise der Union zwischen Lutheranern und Reformierten, für die Schleiermacher auch sonst kräftig eingetreten ist. Noch etwas anderes ist in dem Verweis enthalten. Diese Glaubenslehre soll kirchliche Dogmatik sein. Schleiermacher versteht sich nachdrücklich als kirchlicher Theologe. Nicht die individuellen Überzeugungen eines einzelnen, sondern die vorgegebene kirchliche Lehre stellt sein Buch dar, und diese Darstellung steht — das macht ihren kritischen, ihren wissenschaftlichen Charakter aus — unter der leitenden Frage nach dem inneren Zusammenhang der vorgegebenen Lehre. Die Grundthese ist, daß um diesen inneren Zusammenhang zu erfassen — die vorgegebene Lehre verstanden werden muß als Darstellung und Ausdruck des christlich-frommen Selbstbewußtseins. 12

F. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821/1822), in: KGA I, 7, 1 — 3 hg. v. Hermann Peiter und Ulrich Barth, Berlin/New York 1980/83. (Studienausgabe der Teilbde 1. u. 2. Berlin/New York 1984).

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Das hat weitreichende Folgen. Damit ist ein kritisches Prinzip gewonnen, zugleich ein Prinzip des Verstehens und der Interpretation. Theologische Sätze können nicht mehr einfach durch Berufung auf die Bibel legitimiert werden, ebensowenig wie durch Berufung auf Dogma und Bekenntnis; sie müssen bezogen werden auf das gegenwärtige christliche Bewußtsein, auf die gegenwärtige Erfahrung des Glaubens. Der theologischen Reflexion stellt sich die doppelte Aufgabe: einmal die angemessenen Kategorien zu gewinnen für die Erfassung der Eigenart des Glaubens; zum ändern von da aus die Lehrüberlieferung dem gegenwärtigen Verstehen zu erschließen. Über dem Begriff des christlich-frommen Selbstbewußtseins, der hier bei Schleiermacher begegnet, liegt ein problematischer Schein. Man kann seine Intention verkennen, wenn man den Einsatz beim christlichen Bewußtsein, der methodischen Sinn hat, im Sinne einer subjektivistischen Deutung des Glaubens auffaßt. Das fromme Bewußtsein ist aber nicht als eine in sich ruhende Größe gedacht. Es ist bezogen auf ein Jenseits seiner selbst, auf Gott als den transzendenten Grund von Denken und Sein. Schleiermachers berühmte Formulierung lautet: „Das gemeinsame aller frommen Erregungen, also das Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig fühlen von Gott".13 Mit diesem Begriff der schlechthinnigen Abhängigkeit ist im Zusammenhang der Glaubenslehre erst eine Grundformel gegeben, eine Grundformel, die Näherbestimmungen erwartet. Die wichtigste Näherbestimmung des christlich-irommen Selbstbewußtseins, des christlichen Glaubens, ist dann die, daß in ihm alles bezogen ist auf die von Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung. Das christliche Bewußtsein findet sich immer schon in einen übergreifenden Zusammenhang hineingestellt. Es findet sich in dem von Jesus Christus ausgehenden Wirkungszusammenhang, in dem von ihm gestifteten neuen Gesamtleben. Die Lehre von Person und Werk Jesu Christi, die Lehre vom Erlöser und von der Erlösung bildet so das eigentliche Zentrum der Glaubenslehre. Die Glaubenslehre ist Schleiermachers bedeutendstes Werk geworden. In ihr hat seine Theologie ihre wirkungsmächtige Gestalt gefunden. Das strenge und nicht leicht zugängliche Buch hat — anders als die frühen Veröffentlichungen — kaum auf Leser außerhalb der Theologie rechnen können. Der Theologie jedoch hat es Maß und Norm gesetzt. Die hier in Angriff genommenen Aufgaben konnten nicht wieder vergessen werden. 13

A. a. O. Bd. 7, l, S. 31 (= Leitsatz zu $ 9)

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Die Problemstellungen der protestantischen Theologie haben seither freilich erhebliche Wandlungen erfahren. Die historisch-kritische Erforschung des Alten und Neuen Testamentes etwa, ebenso wie die neue Zuwendung zur Theologie Luthers und der anderen Reformatoren haben Themen hinzugebracht, die so noch nicht in Schleiermachers Gesichtskreis lagen. Darüber wäre manches zu sagen. Aber so sehr dadurch im einzelnen der kritische Blick geschärft wird für Schranken seines Denkens, so sehr tritt gleichzeitig hervor, daß im ganzen Schleiermachers Werk seinen Rang behält, den Rang des wegweisenden Entwurfs einer Theologie unter den Voraussetzungen des neuzeitlichen Wahrheitsbewußtseins.

9. Deutung und Kritik des Katholizismus bei Schleiermacher und Hegel [1966] * Die spannungs- und wandlungsreiche Theologie des 19. Jahrhunderts wird leicht zu pauschal als eine einheitliche Größe apostrophiert. Sie teilt dieses Schicksal mit dem 19. Jahrhundert überhaupt; oft sind es dann Erscheinungen der wilhelminischen Ära, die — in verständlicher, freilich auch leicht durchschaubarer perspektivischer Verzerrung — undifferenzierten Urteilen die Farben leihen. Das schließt nicht aus, daß man in der Tat Themen, Probleme, Tendenzen nennen kann, die für die Theologie des neunzehnten Jahrhunderts insgesamt charakteristisch sind und die sie im übrigen nicht selten — über alle Brüche, Neuanfänge und Gegensätze hinweg — auch mit der des zwanzigsten zusammenschließen. Dazu gehört nicht zuletzt die besondere Bedeutung, die in dieser Epoche das konfessionelle Problem, das Problem des protestantisch-katholischen Gegensatzes gewinnt. Es sind dabei verschiedene Faktoren im Spiel. Man wird vor allem das Phänomen der katholischen Restauration nennen müssen, welches die protestantische Theologie in neuer Weise mit dem Problem der Konfessionen konfrontiert hat. Daneben bringen andere Entwicklungen neue und eigene Motive hinzu, etwa die als Überwindung der Aufklärung sich verstehende betonte Rückwendung zur Theologie der Reformatoren und der Orthodoxie, sodann auf der anderen Seite die gegenläufige, das Erbe der Aufklärung bewahrende bewußte Selbstunterscheidung von der Anfangsgestalt des Protestantismus, wie sie im Begriff des [8] Neuprotestantismus fixiert ist, schließlich die sog. ökumenische Bewegung. Gegenüber der älteren konfessionellen Polemik erfährt dabei bereits die Erfassung und Formulierung des konfessionellen Problems eine Veränderung und zugleich eine starke Differenzierung. Die Vielzahl theologischer Stellungnahmen zu diesem Thema repräsentiert eine Vielzahl von Auffassungen l. * Vgl. Bibliographie Nr. 13 1 Einen gewissen Überblick vermittelt die materialreiche Untersuchung von Kurt Fror, Evangelisches Denken und Katholizismus seit Schleiermacher (Forschungen zur

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Schleiermacher und Hegel sind nun die beiden Denker, die am Anfang des 19. Jahrhunderts stehend die protestantische Theologie der Folgezeit in allen ihren Richtungen am stärksten bestimmt haben. Im folgenden soll kurz dargestellt werden, welches die Gesichtspunkte sind, die sie der Theologie für das Verständnis des Katholizismus und für die Auseinandersetzung mit ihm bereitgestellt haben. Eine umfänglichere Darbietung des Materials kann im vorgegebenen Rahmen nicht geleistet werden. Ich möchte daher so verfahren, daß ich jeweils einsetze bei einer zusammenfassenden Formulierung aus dem Reifewerk beider Denker, um dann einige Erläuterungen sowie einige Notizen zur Werde- und Herkunftsgeschichte ihrer Thesen anzufügen. Es liegt im übrigen auf der Hand, daß bei beiden die Deutung und Kritik des Katholizismus aufs engste zusammenhängt mit ihrer Auffassung des Protestantismus sowie mit ihrer protestantischen Selbstauslegung. Davon kann nicht abgesehen werden, jedoch müssen die besonderen Fragen, die sich mit Schleiermachers und Hegels Verständnis der Reformation und des Protestantismus verbinden, hier ausgeklammert bleiben2. [9]

I. Die wichtigsten Belege für Schleiermachers Auffassung des Katholizismus finden sich in den beiden Auflagen seiner Dogmatik „Der christliche Glaube" (1821/22 und 1830/31), sodann in den 1843 von Jonas aus dem Nachlaß veröffentlichten Vorlesungen über christliche Sittenlehre (Die christliche Sitte, SW I. Abt. Bd. 12), schließlich in seinen „Predigten in Bezug auf die Feier der Übergabe der Augsburgischen Confession" von 1830 (SW II. Abt. Bd. 2, S. 613 ff.). Sucht man nach einer Formulierung, Geschichte und Lehre des Protestantismus, 5. Reihe, Bd. 2), 1932. Daneben ist zu nennen die stärker systematisch orientierte „Phänomenologie des Konfessionsproblems" von Ludwig Lambinet, Das Wesen des katholisch-protestantischen Gegensatzes, 1946. (Die als protestantische Selbstkritik konzipierte Arbeit ist nach dem Tode des zum römischen Katholizismus konvertierten Autors von Robert Grosche herausgegeben worden.) In beiden Arbeiten ist Schleiermacher relativ ausführlich, Hegel dagegen nur am Rande behandelt. Es kann dafür auf die einschlägigen Arbeiten von Emanuel Hirsch verwiesen werden, einmal auf seine Schrift „Fichtes, Schleiermachers und Hegels Verhältnis zur Reformation", 1930 (wieder abgedruckt in seinen „Lutherstudien", 1954, Bd. II, S. 121 ff.), daneben auf die Darstellung von Schleiermachers und Hegels Kirchenbegriff in seiner „Geschichte der neuern evangelischen Theologie", Bd. V (1954), S. 148 ff.

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in der sein Verständnis des Katholizismus zusammengefaßt ist, so drängt sich auf die bekannte Beschreibung des protestantisch-katholischen Gegensatzes im § 24 seiner Glaubenslehre (2. Auflage). Der Leitsatz dieses Paragraphen lautet: „Sofern die Reformation nicht nur Reinigung und Rückkehr von eingeschlichenen Mißbräuchen war, sondern eine eigentümliche Gestaltung der christlichen Gemeinschaft aus ihr hervorgegangen ist, kann man den Gegensatz zwischen Protestantismus und Katholizismus vorläufig so fassen, daß ersterer das Verhältnis des Einzelnen zur Kirche abhängig macht von seinem Verhältnis zu Christo, der letztere aber umgekehrt das Verhältnis des Einzelnen zu Christo abhängig von seinem Verhältnis zur Kirche." Es ist zunächst eine Bemerkung nötig zu der Funktion, die dieser Paragraph in der Einleitung in die Glaubenslehre hat. Er steht hier im Zusammenhang einer Erörterung, welche die Aufgabe der Dogmatik präzisiert. Unmittelbar vorher — im § 23 — ist die These formuliert, daß der Gegensatz zwischen der evangelischen und der römisch-katholischen Kirche seinen eigentlichen Höhepunkt noch gar nicht erreicht habe, daß daher der Dogmatik in diesem Bezüge die Aufgabe entstehe, den Gegensatz auch in den Lehrstücken aufzusuchen, in denen er noch nicht sichtbar geworden sei3. Für die Lösung dieser Aufgabe will der § 24 einen Leitfaden geben. Es muß allerdings angemerkt werden, daß Schleiermachers Forderung in der Ausführung seiner eigenen Glaubenslehre relativ unwirksam geblieben ist. [10] Es gilt nun, die allgemeine Formel für den protestantisch-katholischen Gegensatz etwas näher zu betrachten. Es sind zwei Sachverhalte, auf die dabei vor allem hingewiesen werden muß: erstens auf die Differenz zwischen Absicht und Wirkung der Formel, zweitens auf die begrenzte Bedeutung, die sie bei Schleiermacher hat. Erstens: Die Formel ist orientiert am jeweiligen Verständnis von Kirche, genauer: am Verständnis des Verhältnisses zwischen dem Erlöser, der Kirche und dem Einzelnen. Als spezifisch und charakteristisch katholisch erscheint dies, daß im Katholizismus das Verhältnis des Einzelnen zum Erlöser „abhängig" ist vom Verhältnis zur Kirche — oder wie Schleiermacher das auch ausdrücken kann — „daß dasselbe Faktum, welches wir als die Institution der Kirche zum Behuf der Wirksamkeit Christi ansehn, von jenen als eine Abtretung der Wirksamkeit Christi an die Kirche angesehen wird" (§ 24, 4). Schleiermachers Formel ist dann 1

Vgl. dazu auch Schleiermachers Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 2. Aufl. 1830, S§ 212, 217.

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in mannigfachen Variationen wirksam geworden4. Sie bietet sich bis heute als zusammenfassende Deutung und Kritik des Katholizismus an. Man kann aber nun feststellen, daß die Rezeption der Formel fast durchweg Hand in Hand geht mit einer Wandlung ihres Sinns. Sie gewinnt nämlich dort, wo sie aufgenommen wird, zumeist polemischen Sinn. Das entspricht jedoch keineswegs der Intention Schleiermachers. Seine Bestimmung des Verhältnisses von Protestantismus und Katholizismus ist nicht polemisch gemeint. Der Gegensatz, von dem er spricht, ist nicht der Gegensatz von Wahrheit und Unwahrheit, von Reinheit und Verderben, nicht der Gegensatz — um einige bekannte Antithesen zu nennen — von Gnadenreligion und Gesetzesreligion, von Theonomie und Heteronomie. Absicht seiner Formulierung ist es vielmehr, Protestantismus und Katholizismus als relativ entgegengesetzte Ausformungen einer grundlegenden Gemeinsamkeit zu begreifen. Ihr liegt als Voraussetzung zugrunde, daß das Verhältnis des Einzelnen zu Christus immer durch die christliche Gemeinschaft, durch die Kirche vermittelt ist, daß es „ein Festhalten an Christo [11] nur in Verbindung mit einem Festhalten an der Gemeinschaft" gibt (§ 24, 4). Die beiden Weisen, in denen das Verhältnis des Einzelnen zum Erlöser einerseits, zur Gemeinschaft andererseits einander untergeordnet werden können, sind einander relativ entgegengesetzt als zwei individuelle Gestaltungen des christlichen Geistes. Das konfessionelle Problem wird also bei Schleiermacher begriffen mit der Kategorie der Eigentümlichkeit, der Individualität. Mit dieser Sicht, die vielfach als sein spezifischer Beitrag zur Deutung der Konfessionen angesehen wird, steht er allerdings nicht allein 5 . Das Besondere seiner Auffassung liegt in der inhaltlichen Bestimmung des Verhältnisses von Protestantismus und Katholizismus. Gerade sie ist dann aber nicht als Beschreibung zweier individueller Gestaltungen des Christentums, sondern als polemische Formel, als Kennzeichnung entgegengesetzter Glaubensweisen aufgenommen worden. Zweitens ist dann zu beachten, daß Schleiermachers Verständnis des konfessionellen Gegensatzes durch den Hinweis auf die Kategorie der 4

5

Fror hat — aaO, S. 38 ff. — eine Fülle von Stellungnahmen zusammengestellt, die bei allen Unterschieden im einzelnen doch zeigen, wie stark die Formel die weitere Erörterung des Problems bestimmt hat. Eine besonders originelle Abwandlung findet sich in der Frühschrift von Philipp Marheineke, Über das wahre Verhältnis des Katholizismus und Protestantismus und die projectirte Kirchenvereinigung, Heidelberg 1810. Seine phantasievollen Ausführungen gipfeln schließlich in dem Vorschlag einer Vereinigung, die dadurch zustande käme, „daß alle Weiber katholisch und alle Männer protestantisch würden" (S. 81).

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Individualität nur zur Hälfte charakterisiert ist. Die vom Individualitätsgedanken bestimmte Betrachtung erhebt nicht den Anspruch, für sich eine zureichende Deutung des geschichtlichen Katholizismus zu vermitteln. Sie tritt auf als Ergänzung und Korrektur der traditionellen Erörterung des konfessionellen Problems, nicht aber als deren Ersetzung. Sie hat in Schleiermachers Ausführungen einen gewissen Vorrang, weil sie etwas Neues zur Geltung bringt. Aber daneben behält eine andere Betrachtung ihr begrenztes Recht. In dem oben zitierten Leitsatz des § 24 der zweiten Auflage der Glaubenslehre ist die zweite Betrachtung angedeutet in der Einschränkung: „Sofern die Reformation nicht nur Reinigung und Rückkehr von eingeschlichenen Mißbräuchen war..." Die erste Auflage bietet hier — wie auch sonst oft — eine deutlichere Formulierung: „Der Protestantismus ist in seinem Gegensatz zum Katho[12]lizismus nicht nur als eine Reinigung und Rückkehr von eingeschlichenen Mißbräuchen, sondern auch als eine eigentümliche Gestaltung des Christentums anzusehen" (Der christliche Glaube 1. Aufl. § 27). Die Doppelung der Betrachtung, die sich in dem „nicht nur ... sondern auch" abzeichnet, muß als das eigentlich Charakteristische an Schleiermachers Auffassung des Konfessionsproblems bezeichnet werden. Er sieht im Katholizismus wie dann auch in der Reformation und im Protestantismus jeweils ein Doppeltes wirksam. Die Reformation hat einerseits den Charakter einer Reinigung, einer Abkehr von Mißbräuchen 6 . Sie bedeutet jedoch zugleich — über die bewußten Intentionen der Reformatoren hinaus — noch etwas anderes: die Entbindung einer individuellen Gestalt des Christentums. Der Katholizismus stellt sich dar als Ineinander einer — erst seit der Reformation sich klar herausbildenden — eigentümlichen Gestalt des Christentums einerseits, bestimmter Verderbnisse und Irrtümer andererseits. Die Doppelung der Betrachtung bringt zum Ausdruck, daß nach Schleiermachers Überzeugung in der „jetzigen Zeit" das protestantische Verhältnis zum Katholizismus faktisch ein anderes ist als in der Entstehungszeit des Protestantismus. Er sieht das gewandelte Verhältnis dadurch gekennzeichnet, „daß, indem wir nicht aufhören gegen das, was wir wirklich zu den Verderbnissen rechnen, durch Wort und Tat zu polemisieren, wir doch zugleich voraussetzen, 6

Die betonte Verwendung des Terminus „Mißbräuche" wird man vielleicht als Anspielung auf die Überschrift des zweiten Teils der Confessio Augustana verstehen können, in der die Reformation im ganzen als Abstellung von Mißbräuchen beschrieben ist: „Artikel von welchen Zwiespalt ist, da erzählet werden die Mißbrauch so geändert seind."

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daß anderes dort Einheimische und uns ebenso Fremde doch von der Art ist, daß wir es neben dem Unsrigen glauben bestehen lassen zu dürfen, also anders als das Unsrige gestaltet, aber ebenso christlich" 7 . Beide Betrach-[13]tungsweisen können bei Schleiermacher dann auch relativ isoliert auftreten. So ist etwa in den einschlägigen Ausführungen der Vorlesungen über Christliche Sittenlehre zumeist der Individualitätsgedanke leitend. Andererseits bieten die Predigten, die Schleiermacher anläßlich der Dreihundertjahrfeier der Übergabe der Confessio Augustana gehalten hat, eindrückliche Belege dafür, wie er sich im Zusammenhang der zweiten Betrachtung die reformatorische Polemik gegen die römische Kirche ausdrücklich zu eigen machen konnte. Wenn man nun noch einen Blick auf die Werdegeschichte von Schleiermachers Auffassung wirft, so zeigt sich, daß die Doppelung der Betrachtung von Anfang an bei ihm zu beobachten ist. Genauer gesagt tritt sie in dem Moment auf, in dem das Problem der Konfessionen für ihn überhaupt Thema der Reflexion wird. Das ist nicht von Anfang an der Fall gewesen. Es ist immerhin auffällig, daß in der ersten Auflage seiner berühmten Frühschrift „Über die Religion" (1799) das Thema Konfessionen gar nicht vorkommt. Zwar ist der Begriff der Individualität eine der Hauptkategorien der hier entwickelten Theorie der Religion und der Religionen, aber auf das Verhältnis der Konfessionen wird er zunächst nicht angewandt. Bei aller Zurückhaltung gegenüber dem argumentum e silentio wird man doch vermuten dürfen, daß das Ausfallen des Themas einfach darin begründet ist, daß Phänomen und Problem der Konfessionen zu dieser Zeit außerhalb des Umkreises der ihn bewegenden Fragen 7

Der christliche Glaube 2. Aufl. §24, 1. — Vgl. dazu die Ausführungen der Vorlesung über Christliche Sittenlehre von 1826/27: „Viele Protestanten sprechen der katholischen Kirche den eigentümlichen Charakter ganz ab und halten dafür, daß sie, wenn sie ihre Mißbräuche und Irrtümer ablege, mit der unsrigen zusammenfallen müsse. Aber wir denken anders, wir sind überzeugt, daß gerade dann erst der wahre eigentümliche Charakter der katholischen Kirche hervortreten und klar werden müsse, daß es zwischen ihr und uns Differenzen gibt, die alle in ihrem guten Rechte sind und bleiben. Denn wenn die katholische Kirche auch die Schrift als einziges Fundament der christlichen Lehre und des christlichen Lebens annähme und ebenso alles übrige, wovon wir mit Recht glauben, daß es keiner christlichen Gemeinschaft fehlen darf, und wenn sie andererseits den Papst beseitigte und alles übrige, wovon wir mit Recht glauben, daß es in keiner christlichen Gemeinschaft gelten darf: so würde dennoch z. B. beim Kultus in unserer Kirche immer das Wort, in der katholischen die symbolische Handlung vorherrschen. Es kann also nie Recht sein, mit den Irrtümern der katholischen Kirche auch ihren eigentümlichen Charakter zu bekämpfen, wenn derselbe doch keineswegs zu ihren Irrtümern gehört" (SW 1/12, S. 212).

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standen. Das wird anders erst in der zweiten Auflage des Buches (1806). Hier findet sich in einem längeren Zusatz, den Schleiermacher der Neuauflage angefügt hat, die früheste [14] zusammenfassende Formulierung seiner Sicht des protestantisch-katholischen Gegensatzes. Man wird den Zusatz ansprechen müssen als eine Ergänzung, die veranlaßt ist durch bestimmte Erfahrungen. Es sind einmal die Konversionen im Romantikerkreis, es ist daneben die von der napoleonischen Besetzung befürchtete Bedrohung des Protestantismus, die Schleiermacher den Katholizismus und das Verhältnis der Konfessionen als Wirklichkeit und Problem der eigenen Gegenwart vor Augen rücken. In diesem Zusammenhang begegnet bei ihm zum erstenmal die Deutung der Konfessionen als individueller Gestaltungen des Christentums, die These, daß in Protestantismus und Katholizismus jeweils „die Idee des Christentums auf eine eigentümliche Weise ausgesprochen ist, so daß nur durch das Zusammensein beider jetzt die geschichtliche Erscheinung des Christentums der Idee desselben entsprechen kann" (Reden „Über die Religion", Krit. Ausg. v. Pünjer, 1879, S. 301). Zugleich wird bereits hier unterschieden „das eigentümliche Wesen der römischen Kirche" und ihr „Verderben" — „diese Superstition in Kirche und Priestertum, Sakrament, Sündenvergebung und Seligkeit". Schleiermacher vertritt auch hier schon die These, „daß doch das Papsttum keineswegs das Wesen der katholischen Kirche ist, sondern nur ihr Verderben" (aaO, S. 302 f.). Ein Ansatz zu einer zusammenfassenden inhaltlichen Bestimmung des Verhältnisses von Protestantismus und Katholizismus findet sich an dieser Stelle noch nicht. Schleiermacher ist in dieser Hinsicht auch später zurückhaltend geblieben. Die Formel, welche die Glaubenslehre gibt, ist ausdrücklich als „vorläufig" eingeführt, und in der Vorlesung über Christliche Sittenlehre aus dem Wintersemester 1822/23 heißt es an einer Stelle: „Noch ist niemand imstande gewesen, den Gegensatz des Katholischen und des Evangelischen in einer bestimmten Formel auszudrücken" (SW 1/12, S. 572, vgl. S. 576). In Schleiermachers Vorlesungen über Christliche Sittenlehre treten dann noch Motive auf, die über die Ausführungen der Glaubenslehre hinausgehen. Vor allem eines von ihnen muß genannt werden. In der Vorlesung von 1822/23 ist die These ausgeführt, daß der Unterschied des Katholischen und Protestantischen der [15] Eigenart des Romanischen einerseits, des Germanischen andererseits entspreche und hier fundiert sei. Es heißt da über die evangelische Kirche: „Es wäre ihr zugekommen, sich auf alle germanischen Kirchen im Gegensatz gegen die romanischen zu verbreiten, wie wir denn auch ohne das gegen die germanischen

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

katholischen Völker ganz anders gesinnt sind als gegen die romanischen. Und so kann sie denn auch mit gutem Gewissen fortbestehen auf dem Grund dieser ihrer Entstehung, wenn sie nur fortfährt, den Katholizismus für die romanischen Völker neben sich bestehen zu lassen, und auch mit gutem Gewissen dahin streben, die Reformation über alle germanischen Völker als die ihnen eigentlich angemessene Form des Christentums zu verbreiten" (SW 1/12, S. 139). Das hier begegnende Motiv hat in der Folgezeit eine eigene Wirkungsgeschichte gehabt und nicht selten leitende Bedeutung gewonnen. Bei Schleiermacher hat es nicht diesen Stellenwert. Es stellt sich im weiteren Zusammenhang seiner Auffassung des konfessionellen Problems dar als ein Aspekt der vom Individualitätsgedanken geleiteten Betrachtung. Zusammenfassend wird man sagen können, daß für Schleiermachers Erörterung des konfessionellen Problems charakteristisch ist das Nebeneinander zweier Betrachtungsweisen, wobei die als Ergänzung und Korrektur der traditionellen Polemik auftretende Individualitätssicht nicht zu abschließender inhaltlicher Formulierung gelangt.

II. Für Hegels Auffassung der Konfessionen finden sich Belege in der „Phänomenologie des Geistes" (1807), vor allem dann in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" (1817, 18303) und in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" (1821). Von den aus dem Nachlaß herausgegebenen Vorlesungen sind im vorliegenden Zusammenhang wichtig die über die Geschichte der Philosophie, über die Philosophie der Geschichte, in geringerem Maße die über die Philosophie der Religion. Eine zusammenfassende For-[16]mulierung seiner Auffassung bietet der § 552 der Enzyklopädie, und zwar in der Fassung, die er seit der 2. Auflage von 1827 hat — die 3. Auflage von 1830 hat dann noch einige Zusätze hinzugebracht. Dieser Paragraph schließt im Zusammenhang der Philosophie des Geistes den zweiten Teil (Der objektive Geist) und leitet über zum dritten (Der absolute Geist). Er enthält einen ausführlichen Abschnitt über das Verhältnis von Staat und Religion sowie über die unterschiedliche Gestaltung beider in Katholizismus und Protestantismus. Hegels Philosophie des Christentums hat ihr Zentrum in der Überzeugung, daß es die Wahrheit des Christentums und die Vollmacht des christlichen Gottesglaubens ist, daß Gott als Geist gewußt wird, daß Gott dem Glaubenden nicht als fremde Macht gegenübersteht. Auf die-

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sem Hintergrund muß man die folgenden Ausführungen über den Katholizismus sehen: „Und doch wird in der katholischen Religion dieser Geist in der Wirklichkeit dem selbstbewußten Geiste starr gegenübergestellt. Zunächst wird in der Hostie Gott, als äußerliches Ding, der religiösen Anbetung präsentiert (wogegen in der lutherischen Kirche die Hostie als solche erst und nur allein im Genüsse, d. i. in der Vernichtung der Äußerlichkeit derselben, und im Glauben, d. i. in dem zugleich freien selbstgewissen Geiste, konsekriert und zum gegenwärtigen Gotte erhoben wird). Aus jenem ersten und höchsten Verhältnis der Äußerlichkeit fließen alle die anderen äußerlichen, damit unfreien, ungeistigen und abergläubischen Verhältnisse: namentlich ein Laienstand, der das Wissen der göttlichen Wahrheit wie die Direktion des Willens und Gewissens von außenher und von einem anderen Stande empfängt, welcher selbst zum Besitze jenes Wissens nicht auf geistige Weise allein gelangt, sondern wesentlich dafür einer äußerlichen Konsekration bedarf. Weiteres, die teils für sich nur die Lippen bewegende, teils darin geistlose Weise des Betens, daß das Subjekt auf die direkte Richtung zu Gott Verzicht leistet und andere um das Beten bittet, — die Richtung der Andacht an wundertätige Bilder, ja selbst an Knochen und die Erwartung von Wundern durch sie, überhaupt die Gerechtigkeit durch äußerliche Werke, ein Verdienst, das durch die Handlungen soll erworben, ja sogar auf [17] andere übertragen werden können, usf. — alles dieses bindet den Geist unter ein Außer sich sein, wodurch sein Begriff im Innersten verkannt und verkehrt und Recht und Gerechtigkeit, Sittlichkeit und Gewissen, Zurechnungsfähigkeit und Pflicht in ihrer Wurzel verdorben sind. Solchem Prinzip und dieser Entwicklung der Unfreiheit im Religiösen entspricht nur eine Gesetzgebung und Verfassung der rechtlichen und sittlichen Unfreiheit und ein Zustand der Unrechtlichkeit und Unsittlichkeit im wirklichen Staate" (Enzyklopädie, Ausg. v. Hoffmeister, 1949, S. 457). In diesen Sätzen wird aus einer Grundbestimmung eine förmliche Phänomenologie des Katholizismus entwickelt. Als eigentliches Charakteristikum des Katholischen erscheint die Äußerlichkeit im Gottesverhältnis. Alle einzelnen Phänomene, die Hegel nennt, hängen damit zusammen: die Anbetung der Hostie, die Unterscheidung von Priester- und Laienstand, die Priesterweihe, die Anrufung der Heiligen, die Reliquienverehrung, die Werkgerechtigkeit. Mit den hier entwickelten Thesen stimmen die Ausführungen der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte und über die Geschichte der Philosophie in den Grundzügen überein. In ihnen ist der Katholizismus eingeordnet in die Entwicklung der Geschichte, deren Fortgang die Kritik an ihm vollzieht. Es liegt zutage,

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

daß auch hier der künftigen Erörterung des konfessionellen Problems wichtige Motive bereitgestellt sind, daß sowohl die Einordnung des Katholizismus als mittelalterliche und daher überwundene Gestalt des Christentums wie die Charakterisierung als äußerliche, unfreie, ungeistige Religion auch dort wirksam bleiben konnte, wo weder Hegels Geschichtsdenken noch die Fülle seines Geistbegriffes festgehalten wurde. Aus der Werdegeschichte von Hegels Auffassung des Katholizismus soll nur ein Aspekt hervorgehoben werden. Man muß beachten, daß der Katholizismus bei ihm dort, wo er geschichtsphilosophisch eingeordnet wird, letztlich nicht als gegenwärtige Wirklichkeit gesehen ist. Es ist der mittelalterliche Katholizismus, von dem Hegel an diesen Stellen spricht. In der Enzyklopädie von 1827 (und 1830) steht jedoch die Sache anders. Das wird noch deutlicher, wenn man sieht, daß der Abschnitt über Staat und Religion im S 552, der in [18] der zweiten Auflage hinzugekommen und in der dritten noch erweitert worden ist, nicht nur eine Ergänzung der kurzen Ausführungen der ersten Auflage gibt, sondern zugleich als eine Korrektur der thematisch entsprechenden Ausführungen der Rechtsphilosophie von 1821 anzusprechen ist8. Die Rechtsphilosophie entspricht dem Teil im enzyklopädischen Aufriß des Systems, der überschrieben ist „Der objektive Geist". Sie widmet im § 270 gleichfalls dem Verhältnis von Staat und Religion eine lange Ausführung. An dieser Stelle kommt nun auffälligerweise der protestantisch-katholische Gegensatz inhaltlich gar nicht zur Sprache. Nach diesen Ausführungen hat unmittelbare Bedeutung für den Staat allein die Pluralität der Kirchen, die als Folge der Reformation entstanden ist. Hegel schreibt: „Damit der Staat als die sich wissende, sittliche Wirklichkeit des Geistes zum Dasein komme, ist seine Unterscheidung von der Form der Autorität und des Glaubens notwendig; diese Unterscheidung aber tritt nur hervor, insofern die kirchliche Seite in sich selbst zur Trennung kommt; nur so, über den besonderen Kirchen, hat der Staat die Allgemeinheit des Gedankens, das Prinzip seiner Form, gewonnen und bringt sie zur Existenz; um dies zu erkennen, muß man wissen, nicht nur was die Allgemeinheit an sich, sondern was ihre Existenz ist. Es ist daher so weit gefehlt, daß für den Staat die kirchliche Trennung ein Unglück wäre oder gewesen wäre, daß er nur durch sie hat werden können, was seine Bestimmung ist, die selbstbewußte Vernünftigkeit und Sittlichkeit. Ebenso ist es das Glück* Auf diesen Sachverhalt hat zuerst Franz Rosenzweig in seinem Werk „Hegel und Staat", 1920, Neudruck 1962, aufmerksam gemacht. Vgl. Bd. II, S. 210 ff.

9. Deutung und Kritik des Katholizismus bei Schleiermacher und Hegel [1966]

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lichste, was der Kirche für ihre eigene und was dem Gedanken für seine Freiheit und Vernünftigkeit hat widerfahren können" (Grundlinien der Philosophie des Rechts, Ausg. v. Hoffmeister, 1955, S. 232f.). In diesen Sätzen ist die Pluralität der Kirchen, wie sie durch die Kirchenspaltung entstanden ist, gekennzeichnet als Bedingung für das Werden des modernen Staates. Daß auf den konfessionellen Gegensatz gar nicht eingegangen wird, erklärt sich aus der stillschweigenden Voraussetzung, daß allein der Protestantismus die gegenwartsmächtige Gestalt des Christen[19]tums ist und daß das protestantische Prinzip in seinen weltlich-sittlichen Konsequenzen immer schon auch die Glieder der anderen Konfession bestimmt. Die Darlegungen der Enzyklopädie sind demgegenüber dadurch charakterisiert, daß hier nicht die Pluralität der Kirchen, sondern ausdrücklich der das Prinzip der Unfreiheit im Religiösen überwindende Protestantismus als Grundlage des Staates beschrieben wird, wie Hegel ihn versteht. In diesem Wandel zeichnet sich ab, daß erst 1827 das konfessionelle Problem Hegel in einer Gestalt sich gezeigt hat, in der es noch nicht durch die begriffene Geschichte erledigt war. Der dem protestantischen Prinzip entsprechende Staat bedarf gegenüber dem sich erneuernden Katholizismus der ausdrücklichen Besinnung auf seine Voraussetzungen, die von der Geschichte prinzipiell schon errungene Wahrheit bleibt auf Verteidigung und Durchsetzung angewiesen. Will man versuchen, Schleiermachers und Hegels Beitrag zur Deutung und Kritik des Katholizismus zusammenzufassen, so sind zunächst Gemeinsamkeiten hervorzuheben. Bei beiden steht es so, daß das Problem der Konfessionen nicht von Anfang an zu den Themen ihres Denkens gehört. Es sind bei beiden Erscheinungen der beginnenden katholischen Restauration, die dieses Problem dringlich werden lassen. Für die Stellungnahme beider Denker ist es dann charakteristisch, daß die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus von vornherein über die Erörterung von Lehrdifferenzen und Lehrgegensätzen hinausgreift. Bei beiden tritt das Thema unter die Wesensfrage. Erst im zweiten Schritt stellen sich dann die Differenzen zwischen ihnen dar, Differenzen, die in gewisser Weise auch den Spielraum markieren, in dem sich in der Folgezeit Deutung und Kritik des Katholizismus bewegt. Die Frage nach dem Wesen des Katholizismus findet bei ihnen eine sehr unterschiedliche Ausprägung. Schleiermachers Erörterung ist formal durch die Kategorie der Individualität bestimmt, in der inhaltlichen Bestimmung des Katholizismus ist er zurückhaltend. Wichtig ist es, daß die Wesensfrage bei ihm nicht polemisch bestimmt ist. Vom eigentümlichen Wesen des Katholizismus wird ausdrücklich unterschie-[20]den sein Verderben, gegenüber

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dem die reformatorische Kritik aufrechterhalten wird. Deutung und Kritik des Katholizismus fallen auseinander. Bei Hegel wird die Wesensfrage durch eine geschichtsphilosophische Einordnung beantwortet, die zugleich die reformatorische Polemik in den Gesamtzusammenhang der Philosophie des Geistes integriert. Die Deutung des Katholizismus impliziert die Kritik, sie vollzieht die Kritik nach, welche die Geschichte selber geübt hat. Wo der Katholizismus als Phänomen der eigenen Gegenwart in den Blick tritt, dort gewinnt die Wesensbestimmung, die in sich auch eine geschichtliche Rechtfertigung bedeutet, rein polemischen Sinn. Deutung und Kritik fallen zusammen. Schließlich muß noch darauf hingewiesen werden, daß die unterschiedlichen Stellungnahmen darin doch wieder ein gemeinsames Resultat haben, daß die Frage praktisch ausfällt, die im 18. Jahrhundert die Erörterung des Konfessionsproblems weithin bestimmte: die Frage nach einer möglichen Vereinigung der Konfessionskirchen. Hegel vollzieht eine Entgegensetzung von Katholizismus und Protestantismus, die jeden Gedanken an eine Vereinigung ausschließt. Bei Schleiermacher ist das Ausfallen der Einigungshoffnung anders begründet. Die Einheit der Kirche stellt sich gerade in dem Nebeneinander individueller Ausprägungen des Christentums, für die eigene Epoche in dem Nebeneinander von Katholizismus und Protestantismus dar. Der romantische Gedanke an eine höhere Einheit, in der der Gegensatz der Konfessionen wieder verschwinden würde, ist ganz an den Rand getreten: er bezeichnet eine Möglichkeit, die nicht im Horizont der eigenen geschichtlichen Epoche liegt. Für die Gegenwart gilt, daß der Gegensatz noch gar nicht seine volle Ausprägung gefunden hat. Die Deutung und Kritik des Katholizismus bei Schleiermacher und bei Hegel bekommt so einen einheitlichen Richtungssinn: dem protestantischen Denken wird aufgegeben die energische, von Unionsutopien nicht beirrte Besinnung auf die Eigenart des Protestantismus.

10. Der politische Schleiermacher [1968]* „Komme ich noch irgend, wenn auch nur vorübergehend, in eine Thätigkeit für den Staat hinein, dann weiß ich mir wirklich nichts mehr zu wünschen." So schreibt Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in einem Brief vom Ende des Jahres 1808. Er fährt fort: „Wissenschaft und Kirche, Staat und Hauswesen, — weiter giebt es nichts für den Menschen auf der Welt, und ich gehörte unter die wenigen Glücklichen, die alles genossen hätten. Freilich ist es nur diese neueste Zeit, wo die Menschen alles trennen und scheiden, daß eine solche Vereinigung selten ist; sonst war jeder tüchtige Mensch wakker in allem, und so muß es auch werden, und unsere ganze Bemühung geht darauf, daß es so werde."1 Als er diese Sätze schrieb, war Schleiermacher vierzig Jahre alt. In Wissenschaft und Kirche war sein Name weithin bekannt. Er stand an der Schwelle seiner großen Berliner Wirksamkeit, in der er zum führenden Theologen seiner Zeit, zum wegweisenden Denker des neuzeitlichen Protestantismus geworden ist. Nicht von ungefähr richteten sich seine Gedanken im Jahre 1808 auf Politisches, auf eine Tätigkeit für den Staat. Schleiermacher hat in den Jahren nach dem preußischen Zusammenbruch von 1806 zu den Männern gehört, die eine grundlegende Erneuerung der politisch-gesellschaftlichen Ordnung erstrebten. Er hat mit den Führern der preußischen Reform in Verbindung gestanden. Er hat auf mannigfache Weise für die Ideen der Reform gewirkt, als Prediger und als akademischer Lehrer, als patriotischer Verschwörer und als politischer Journalist. Wenn am 21. November in diesem Jahre seines 200. Geburtstages feiernd gedacht wird, dann wird zumeist mehr von Kirche und Wissenschaft die Rede sein als vom Staat, mehr von Dogmatik als von Politik. Schleiermachers Wirkungsgeschichte ist in erster Linie Geschichte seiner Wirkungen in der und auf die Theologie. Seine berühmte Jugendschrift, das 1799 anonym erschienene Büchlein „Über die Religion. Reden an die * Vgl. Bibliographie Nr. 101 1 Brief v. 25.12.1808, in: Heinrich Meisner (Hrsg.), Friedrich Schleiermachers Briefwechsel mit seiner Braut, Gotha (1919), 21920, S. 272

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Gebildeten unter ihren Verächtern" gehört zu den klassischen Dokumenten des neuzeitlichen Protestantismus, ebenso seine 1821 erschienene große Dogmatik „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt". Daß Schleiermachers theologisches Werk wegweisende, epochenscheidende Bedeutung hat, das ist bereits die Überzeugung seiner Zeitgenossen gewesen. Als er im Jahre 1834 starb, hat sein Berliner Fakultätskollege August Neander die Todesnachricht seinen Studenten mit den Worten mitgeteilt, es sei der Mann dahingeschieden, von dem man künftig eine neue Epoche in der Theologie datieren werde. Ein halbes Jahrhundert später, 1882, schreibt der Historiker Heinrich von Treitschke in seiner „Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert": Schleiermacher erzog „eine neue Theologenschule, die von dem Meister lernte, mit dem jungen wissenschaftlichen Leben der Nation wieder Schritt zu halten. Er hatte einst das wekkende Wort gesprochen, das die gebildeten Verächter der Religion wieder zum Glauben zurückrief und das Gottesbewußtsein über das Gebiet des Wissens und des Handelns hinaus in die Welt des Gefühles emporhob. Indem er ... diesen fruchtbaren Grundgedanken in zahlreichen Schriften sowie in seinen meisterhaften Berliner Kathedervorträgen wissenschaftlich ausgestaltete, wurde er der Erneuerer unserer Theologie, der größte aller unserer Theologen seit ... der Reformation; und noch heute gelangt kein deutscher Theolog zur inneren Freiheit, wenn er nicht zuvor mit Schleiermachers Ideen abgerechnet hat." 2 Beide Zeugnisse, das des Erweckungstheologen Neander und das des nationalliberalen Historikers Treitschke sind dann oft zitiert worden, durchweg zustimmend. Auch die Kritiker Schleiermachers haben den geschichtlichen Rang seines Werkes nicht in Frage gestellt. Die Stellung, die er für das Bewußtsein der protestantischen Theologie gewonnen hatte, ist im Titel einer kleinen Schrift, die vor dem ersten Weltkrieg erschien, folgendermaßen formuliert: „Schleiermacher, der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts" 3 . Dieser Titel, von der Schleiermacher-Verehrung der Vorkriegstheologie geprägt, ist nach dem ersten Weltkrieg als Instrument der Schleiermacherkritik gehandhabt worden. Damals trat die sogenannte dialektische Theologie mit dem Anspruch auf, eine Abkehr von der Gesamtgeschichte des neuzeitlichen Protestantismus zu vollziehen, eine Abkehr vor allem 2

Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Teil 2, Leipzig 1882, S. 88 ' Christian Lülmann, Schleiermacher, der Kirchenvater des 19. Jahrhunderts, Tübingen 1907

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vom theologischen Denken des 19. Jahrhunderts. Das Programm der Neuorientierung verband sich mit der Absage an Schleiermacher. Er wurde unverändert, ja mit Nachdruck als Kirchenvater des 19. Jahrhunderts anerkannt. Nur wurde dieser Titel jetzt anders betont. Der dialektischen Theologie lag alles daran, Schleiermacher als Repräsentanten und Lehrer nun wirklich nur des 19. Jahrhunderts zu verstehen, als Kirchenvater des Jahrhunderts, von dem sie selbst sich durch eine tiefe Kluft geschieden wußte, eines Jahrhunderts, dessen Ideen und Ideale ihr zutiefst fragwürdig geworden waren. Diese Kritik bestätigte also auf ihre Weise die epochale Bedeutung der Schleiermacherschen Theologie, nur kehrte sie das Vorzeichen um. Karl Barth, der eigentliche Wortführer der dialektischen Theologen, hat seine kritischen Erwägungen allerdings unter einen bedenkenswerten Vorbehalt gestellt. Er schreibt über Schleiermacher: „Kein Mensch kann heute sagen, ob wir ihn wirklich schon überwunden haben, oder ob wir nicht bei allem nun allerdings laut und grundsätzlich gewordenen Protest gegen ihn noch immer im Tiefsten Kinder seines Jahrhunderts sind."4 Die gegenwärtige protestantische Theologie scheint diesem Vorbehalt Recht zu geben. Zumindest sind ihr die Absageerklärungen der zwanziger Jahre in dem Maße fragwürdig geworden, in dem sie sich außer Stand sah, ihre neuzeitliche Herkunftsgeschichte zu verleugnen. Die Theologie Schleiermachers steht erneut zur Diskussion. Seine Wirkungsgeschichte ist nicht auf die Theologie beschränkt. Es ist daran zu erinnern, daß die Pädagogik ihn nicht minder zu ihren großen Lehrern zählt als die Theologie; daß die neuere Entwicklung der Hermeneutik auf ihn zurückgeht; daß die Plato-Übersetzung, die er zusammen mit Friedrich Schlegel geplant, dann aber allein ausgeführt hat, bis auf diesen Tag ihren Rang behauptet. Die erstaunliche Reichweite seiner wissenschaftlichen Interessen und Leistungen tritt mehr noch als in seinen Veröffentlichungen in den Vorlesungen vor Augen, die er in Halle und Berlin gehalten hat und die seine Schüler dann aus dem Nachlaß veröffentlicht haben. Schleiermacher ist in zwei Fakultäten zu Hause gewesen. In der theologischen Fakultät hat er mit Ausnahme der alttestamentlichen Wissenschaft alle Disziplinen in Vorlesungen vertreten. In den fünfundzwanzig Jahren seiner Berliner Lehrtätigkeit hat er außerdem in nahezu jedem Semester auch in der philosophischen Fakultät gelesen, seine Rechte als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften wahrnehmend. 4

Karl Barth, Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zollikon/Zürich 1947, S. 380

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Er hat Vorlesungen gehalten über Geschichte der Philosophie, über Dialektik und Ethik, über Psychologie, Ästhetik, Pädagogik, schließlich über Politik bzw. Wissenschaft vom Staat. Die Universalität seines Wirkens hat in der glanzvollen Biographie, die wir Wilhelm Dilthey verdanken, eine schöne Beschreibung gefunden: „Was für ein Leben! Als ein Herrnhuter hatte er begonnen, sein Geist hatte sich über das weite Gebiet voneinander abliegender Wissenschaften ausgedehnt; die poetische Bewegung seiner Epoche hatte ihn ergriffen, und der Hauch einer dichterischen Umgebung, dichterischer Versuche und Pläne liegt über seinen Jugendwerken; als einer der ersten hatte er begonnen, die Geselligkeit als eine Kunst zu behandeln, und beherrschte eine Fülle von Verhältnissen, die nicht unbedeutenden Menschen neben ihm das Leben aufzehrte; als einer der ersten, in einer gewaltigen Zeit, begann er, für den Staat zu leben, ward eine Macht im Staat; allen voran, inmitten von Gleichgültigkeit, begann er aus der Erfahrung vieler im Predigtamt, im Kirchendienst, in der Theologie verbrachter Jahre die große, geschichtliche Aufgabe der Kirche zur Geltung zu bringen: er ward das geistige Haupt der Kirche seiner Zeit ... Hier war eine Allseitigkeit nicht der Forschung, sondern des Lebens. Man begreift, wie unendlich mehr er selber war, als alle Aufzeichnungen, alle Forschungen, die wir noch von ihm besitzen."5 Wilhelm Dilthey ist es auch gewesen, der zuerst energisch auf den politischen Schleiermacher, auf Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit nachdrücklich hingewiesen hat. Er mußte sich wenden gegen ein — wie er sagt — „unglaublich lächerliches Vorurteil der Unwissenden ..., welche fortfahren, aus einiger Lektüre der Reden über Religion und gewisser Partien der Briefe diese stahlharte Natur für eine empfindsame Seele zu halten, welche zeitlebens am liebsten im zarten Gespräch mit edlen Frauen die großen Fragen des menschlichen Gemüts diskutiert habe." 6 Dilthey hat die Aufmerksamkeit insbesondere auf Schleiermachers politische Predigten gelenkt: „Diese Predigten, und die Predigten Schleiermachers überhaupt, müssen die in Erstaunen versetzen, welche immer noch, nach der Tradition einer Zeit, in welcher man nur Reden und Dogmatik vor sich hatte, in Schleiermachers christlicher Weltansicht nur passive religiöse Gefühle suchen ... die Lektüre zeigt, 5

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Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. l, hg. v. Hermann Mulert, 2. Aufl. Berlin/Leipzig 1922, S. XXIX Wilhelm Dilthey, Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit (1862), in: W. Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 12: Zur Preußischen Geschichte, 2. Aufl. Göttingen 1960, S. 2

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daß neben Kant und Fichte kaum jemand ausschließlicher, härter den Wert des Individuums in den Willen, in die Arbeit für die allgemeinen Zwecke gesetzt hat, als dieser Mann der Gefühle und der schönen Individualität." 7 Schleiermacher ist von Beruf nicht Politiker, sondern Theologe gewesen, Pastor und Professor. Auch für das Verständnis seiner Theologie ist es nicht unwichtig, ob sein politisches Denken und Wirken wahrgenommen wird oder nicht. Das wird deutlich am Beispiel der Kritik, die in den Anfängen der dialektischen Theologie der Schweizer Theologe Emil Brunner vorgetragen hat. Er hat Schleiermachers Denken mit Ausdrükken wie „Religion des Gefühls", „romantischer Subjektivismus", „Mystik" bedacht. In der Einleitung seines Buches „Die Mystik und das Wort" heißt es über Schleiermacher: „... er ist der bedeutendste von denen, die es fertig brachten, den Inhalt des christlichen Glaubens in Mystik umzuprägen und aufzuarbeiten, und er ist sicher einer der größten Faktoren dieses geistigen Prozesses ... Er, der einzige wirklich große Theologe des Jahrhunderts, ist gleichsam der Wurzelstock, von dem, wie Absenker, unterirdisch mit ihm verbunden, die ,christliche Mystik' der modernen Theologie herkommt." 8 Brunners Ansichten liegen nicht weit ab von denen, gegen die sich Dilthey gewandt hatte. Sie haben freilich auch im Kreis seiner theologischen Freunde keinen ungeteilten Beifall gefunden. Karl Barth hat mit Recht bemerkt: „Man versteht von Brunner aus nicht, inwiefern man die durch Schleiermacher charakterisierte protestantische Theologie der Neuzeit doch wohl mit Recht a parte potiori Ktt/iMrprotestantismus und nicht etwa mystischen Protestantismus hat nennen können."9 Und er hat weiter notiert: „Schleiermacher hat einen Hauptgedanken A. Ritschis vorweggenommen in seiner Schätzung der Pflichterfüllung im bürgerlichen Beruf als der Betätigung im ,Reiche Gottes'. Er hat aber reicher, liberaler, humanistischer gestimmt als Ritschi diesen Gedanken gekreuzt durch die Aufforderung zu unermüdlichem Fortschreiten auf allen Gebieten des Kulturlebens. Er hat einerseits, ein strammer Preuße, der nicht umsonst in seinen Akademiereden immer wieder auf Friedrich den Großen zu reden kam, die Wohltat der Ord7

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A. a. O. S. 14 f. Emil Brunner, Die Mystik und das Wort. Der Gegensatz zwischen moderner Religionsauffassung und christlichem Glauben dargestellt an der Theologie Schleiermachers, 2. stark veränd. Aufl. Tübingen 1928, S. 6 Karl Barth, Schleiermacher, in: Die Theologie und die Kirche. Gesammelte Vorträge, Bd. 2, München 1928, S. 181

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nung besonders in Form des Staates gepredigt, andererseits aber in einer in seiner Zeit geradezu prophetischen Weise die Forderung vor allem des sozialen Ausgleichs, den Ruf nach einem Versicherungswesen, nach sozialer Fürsorge (als einem Recht, nicht einer Wohltat!), nach Verkürzung der Arbeitszeit erhoben. Es darf Schleiermacher auf keinen Fall vergessen werden, daß er in dieser Hinsicht Dinge gesehen und gesagt hat, für die die großen Erweckungsprediger seiner Zeit ... weder Augen noch Herz gehabt haben."10 Das sind wichtige Beobachtungen und Hinweise, um so beachtenswerter, als sie nicht von einem Festredner, sondern von einem Kritiker kommen. Wie steht es mit der Notiz über das Preußische in Schleiermacher? War er ein „strammer Preuße"? Es kommt darauf an, was man sich unter einem strammen Preußen vorstellt. Das jedenfalls ist richtig, daß Schleiermacher sich als Preuße gewußt hat und daß sich ihm seit 1806 das eigene Schicksal in betonter Weise mit dem des Vaterlandes verbunden hat. Die großen Ereignisse dieser Jahre haben seine Lebensgeschichte bestimmt. Die Katastrophe von 1806 hat er in Halle erlebt, wo er seit 1804 als Theologieprofessor und Universitätsprediger vier Semester lang gewirkt hatte. Bei der Besetzung der Stadt ist er — wie gleichzeitig Hegel in Jena — Opfer einer Plünderung geworden, zusammen mit zwei Kollegen: „Gleich nach dem Gefecht drangen durch Unvorsichtigkeit der unten wohnenden Leute mehrere Reuter ins Haus bis zu uns hinauf. Steffens und Gaß waren eben bei mir; wir mußten alle drei unsere Uhren hergeben, Gaß auch sein Silbergeld (Steffens hatte schon keins mehr); bei mir fanden sie auch nur einige Thaler, aber alle meine Oberhemden nahmen sie bis auf fünf und alle silbernen Löffel bis auf zwei."11 Schmerzlicher als dieser Verlust traf ihn der des akademischen Amtes. Die Universität wurde auf Befehl Napoleons geschlossen, die Studenten aus der Stadt gewiesen. Als Halle 1807 an das neue Königreich Westfalen fiel, verließ Schleiermacher die Stadt und ging nach Berlin, wo die Gründung einer neuen Universität vorbereitet wurde. Die politischen Ereignisse und Erfahrungen haben in seinen Predigten aus dieser Zeit ihren Niederschlag gefunden. Davon deuten schon die Überschriften etwas an. Um nur einige zu nennen: „Über die Benutzung öffentlicher Unglücksfälle"12; gehalten bald, nachdem die Feinde die Stadt Halle besetzt hatten. 10

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A. a. O. S. 185 f. Brief v. 4.11.1806, in: Heinrich Meisner (Hrg.), Schleiermacher als Mensch. Sein Wirken. Familien- und Freundesbriefe 1804-1834, Gotha 1923, S. 69 Predigt v. 23.11.1806 über Rö 8, 28, in: F. Schleiermacher's Sämmtliche Werke (= SW) II. Abt. Bd. l, 1834, S. 251-265

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Und: „Daß die letzten Zeiten nicht schlechter sind als die vorigen" 13 ; am letzten Sonntage des Jahres 1806. Und: „Was wir fürchten sollen und was nicht" 14 ; am Neujahrstage 1807. Dilthey hat Eigenart und Bedeutung dieser Predigten so gekennzeichnet: „... die damalige Form des Staates bot politischen Menschen, die nicht als Beamte oder Militärs wirksam sein konnten, keine Stelle des Wirkens. Die Kanzel allein stand ihm offen. So wurde er der erste politische Prediger in großem Stil, den das Christentum hervorgebracht hat. Das aktive, energische und der Gemeinschaft zugewandte Moment im Christentum, in welchem seine reformierten Glaubensgenossen immer gelebt hatten, ward von ihm wieder ergriffen und durch die großen Gedanken seiner Ethik fortgebildet. Als er Ende des Jahres 1807 von dem zerstörten Halle nach Berlin übersiedelte, wuchs dort die Wirkung dieser Predigten."15 In Berlin hat Schleiermacher zunächst als Privatgelehrter gelebt, in recht beengten Verhältnissen. Seit 1809 hat er ein Pfarramt, seit 1810 daneben eine Professur innegehabt. Dem Beispiel anderer Gelehrter folgend, hat er schon vor der Universitätsgründung öffentliche Vorlesungen gehalten. Im Winter 1808 auf 1809 waren es zwei. Er las — eine interessante Kombination! — über Dogmatik und über Politik. In den ersten Dezembertagen schreibt er in einem Brief: „... jungen Männern jezt das Christenthum klar machen und den Staat, das heißt eigentlich ihnen alles geben, was sie brauchen, um die Zukunft besser zu machen als die Vergangenheit war."16 Doch nicht nur die politische Theorie beschäftigte ihn. Seit dem Sommer 1808 war er in politische Aktivitäten, in durchaus ungewöhnliche politische Aktivitäten hineingeraten. In Preußen hat es im Jahre 1808 Pläne und Vorbereitungen zu einer Erhebung, zu einem Volkskrieg gegen Napoleon gegeben. Schleiermacher hat im besetzten Berlin zum inneren Kreis der Verschwörer gehört; er ist im Laufe des Jahres in einer geheimen Mission unterwegs gewesen. Im August und September hat er einige Wochen lang als Mittelsmann der Berliner Gruppe in Königsberg geweilt, wo sich die königliche Familie und die Regierung befand. Er hat hier mit dem Freiherrn vom Stein, mit Scharnhorst, mit Gneisenau und anderen konferiert. Seine brieflichen Berichte aus Königsberg sind erhalten. Es handelt sich um recht geheimnisvolle Doku13 14 15

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Predigt v. 28.12.1806, a. a. O. S. 266-280 Predigt v. 1.1.1807, a. a. O. S. 281-297 Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, Bd. 2, 1: Schleiermachers System als Philosophie, hg. v. Martin Redeker, in: Gesammelte Schriften, Bd. 14, Göttingen 1966, S. 372 Brief v. 4. (bzw. 7.) 12.1808 (wie Anm. 1), S. 237

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mente, da sie zum Schutz gegen eine eventuelle Kontrolle ein System von Schlüsselworten, Umschreibungen und Decknamen benutzen. Einer der Briefe ist auf besondere Weise verschlüsselt. Er benutzt nicht nur die schon erwähnten Umschreibungen, sondern überdies hebt sich der sachlich wichtige Text erst dann heraus, wenn man ein ausgeschnittenes Blatt auf den Brief legt, durch das die Worte verdeckt werden, die nur zur Tarnung um die eigentliche Mitteilung herumgeschrieben sind. Eine andere Tätigkeit für den Staat, eine weniger ungewöhnliche hat sich Schleiermacher seit 1810 eröffnet. Er hat von da an mehrere Jahre lang in der Unterrichtssektion des Innenministeriums an der Reform des preußischen Schulwesens mitgewirkt. Vor allem hat er wie zu den Theoretikern so auch zu den Organisatoren der neuen Universität gehört und ihre Gestalt maßgeblich mitbestimmt. Nach der Eröffnung der Universität Berlin im September 1810 ist er der erste Dekan der theologischen Fakultät gewesen. Der Naturphilosoph Heinrich Steffens, mit Schleiermacher seit gemeinsamen Hallenser Semestern befreundet, mit ihm Opfer der erwähnten Plünderung, hat in seinen Lebenserinnerungen über die Anfänge der neuen Universität erzählt: „Am 23. Dezember 1809 ward die königliche Kabinettsordre, welche die Errichtung der Universität befahl, unterzeichnet. Den 9. September 1810 ward sie feierlich eröffnet. Männer von großem Ruf glänzten schon bei der ersten Errichtung in allen Fakultäten: Schleiermacher vor allem in der theologischen. Es gab keinen, der wie er die Gesinnung der Einwohner hob und regelte und in allen Klassen eine nationale, eine religiöse, eine tiefere geistige Ansicht verbreitete. Berlin ward durch ihn wie umgewandelt und würde sich nach Verlauf einiger Jahre in seiner früheren Oberflächlichkeit selbst kaum wiedererkannt haben." 17 Es ist aufschlußreich, daß dieser Bericht eines Zeitgenossen zwar bei dem Professor Schleiermacher einsetzt, dann aber unwillkürlich hinübergleitet in eine Schilderung der breiteren Wirksamkeit, die dieser in seinem anderen Amte, als reformierter Prediger an der Dreifaltigkeitskirche, hatte, wobei in dieser Schilderung deutlich das Politische in den Vordergrund tritt. Steffens fährt fort: „Was ihm den großen Einfluß verschaffte, war dieses: daß er Christ war im edlen Sinne, fester unerschütterlicher Bürger, in der bedenklichsten Zeit kühn mit den Kühnsten verbunden, rein Mensch in der tiefsten Bedeutung des Wortes, und doch als Gelehrter streng, klar, entschieden. Die Kinder strömten zu seinem Unterricht, Frauen und Männer aus allen Klassen hingen ihm an. ... Sein mächtiger, frischer, stets fröhlicher Geist war einem kühnen 17

Heinrich Steffens, Was ich erlebte, hg. v. Willi A. Koch, Leipzig 1938, S. 289

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Heere gleich in der trübsten Zeit. Denn die Kräfte, die er in Bewegung setzte, waren keine vereinzelten, beschränkter Art, es waren die tiefsten und edelsten des ganzen Menschen in der höchsten, alle durchdringenden Einheit. So fand ich meinen Freund, als er eine Laufbahn anfing, deren Wert zu schätzen nur derjenige vermag, der sie anzuerkennen weiß."18 Die Hoffnungen auf eine politisch-gesellschaftliche Neuordnung, wie sie in den Jahren der Reform und der Befreiungskriege lebendig gewesen waren, machten seit 1815 einer großen Enttäuschung Platz. Die Universitäten, eben noch als Stätten patriotischer Begeisterung gerühmt, gerieten nun in den Verdacht, Stätten staatsgefährdender Umtriebe und revolutionärer Verschwörung zu sein. An der Berliner Universität richtete sich das Mißtrauen nicht zuletzt auf Schleiermacher. Bereits im Jahre 1813 hatte er Konflikte mit der politischen Zensur erlebt. Er war damals zeitweise Redakteur einer politischen Zeitung, des viermal wöchentlich erscheinenden „Preußischen Correspondenten". Ein von ihm verfaßter Artikel trug ihm die Warnung ein, „sich dergleichen sowie überhaupt jeder unbefugten politischen Einmischung, die ihm als Geistlichem und Lehrer am wenigsten zustehe, künftig zu enthalten, oder sofortige Entsetzung vom Dienst und außerdem noch anderweitige gesetzliche Ahndung zu gewärtigen."19 Im Herbst 1817 gab das Studententreffen auf der Wartburg der Angst vor Verschwörungen neuen Auftrieb. Schleiermacher hatte im Sommersemester wieder Vorlesungen über Politik gehalten, die nun allerhöchstes Mißfallen auf sich zogen. Am 8. Dezember 1817 schreibt der preußische Staatskanzler Hardenberg an den Unterrichtsminister Altenstein: „Bei dieser Gelegenheit ... mache ich Eure Excellenz auf die Vorlesungen des Professors Schleiermacher aufmerksam. Sie hatten hauptsächlich eine politische Tendenz, dienten, ohne einen reellen Nutzen zu gewähren, dazu, die Gemüter zu bewegen und zu entzweien. Seine Majestät der König haben sich mehrmals mißfällig darüber geäußert, und sie dürfen unter diesen Umständen nicht ferner gestattet werden."20 Der Staatskanzler teilt weiter mit, daß er dem Chef der politischen Polizei den Inhalt des Schreibens mitgeteilt habe, damit dieser gemeinsam mit dem Unterrichtsminister dahin wirke, daß diese Vorlesungen in Zukunft unterbleiben. Schleiermacher hat sie erst zwölf Jahre später, 1829, unter dem Titel „Lehre vom Staat" wieder angekündigt. 18

19

20

A. a. O. S. 289 f. Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. l, Halle 1910, S. 518 Max Lenz, a. a. O. Bd. 2, l, S. 39

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Im März 1819 wurde der Schriftsteller August von Kotzebue, der sich durch seine politischen Berichte für die russische Regierung bei den patriotischen Studenten verhaßt gemacht hatte, durch den Theologiestudenten Karl Ludwig Sand ermordet. Das sinnlose Verbrechen löste überall in Deutschland eine Serie von politischen Verfolgungen aus, es setzte nicht zuletzt in Preußen die politische Polizei in lebhafte Tätigkeit. Bei Schleiermachers Schwager Ernst Moritz Arndt und bei seinem Verleger Georg Reimer wurden Haussuchungen veranstaltet und Briefe beschlagnahmt. Er selber stand auf der Liste mißliebiger Berliner Professoren obenan. Seine Predigten sind zeitweise polizeilich überwacht worden. Eine Königliche Ministerial-Untersuchungskommission hat in einem Bericht vom 16. März 1820 die Vorwürfe gegen ihn zusammengefaßt: „Schon seit einer Reihe von Jahren befaßte der Professor Schleiermacher, höchst unberufen dazu, sich mit politischen Zwecken und Verbindungen. Er mißbrauchte bekanntermaßen nicht selten die Kanzel zu politischen Vorträgen und verfaßte durch den Abdruck bekannt gewordene politische Aufsätze ... Mit vielen der jetzt wegen revolutionärer Tendenz bekannt gewordenen und in Anspruch genommenen Individuen stehet er in Bekanntschaft, und die mehrsten von diesen betrachten ihn als einen vorzüglichen Stützpunkt." 21 Nach der Aufzählung einzelner Äußerungen und Handlungen, die als staatsgefährdend beurteilt werden, schließt der Bericht mit der Empfehlung: „Wer so redet, so schreibt und so handelt wie der Professor Schleiermacher nach diesem allen geschrieben, geredet und sich betragen hat, sollte nicht länger als Seelsorger, Prediger und akademischer Lehrer der Religion und Moral geduldet werden. Eine nach den Vorschriften des Allgemeinen Landrechts ... gegen den Schleiermacher zu verfügende Dienstverabschiedung möchte jedoch wegen der besonderen Beschaffenheit der dabei zu Grunde zu legenden Beweismittel bedenklich und schwierig sein. Zur Verminderung des Übels, welches der Schleiermacher hier in seinem großen Wirkungskreise unstreitig stiftet, zu seiner Warnung und — wenn es möglich ist — zu seiner Besserung, erscheint es daher ratsam, daß der Professor Schleiermacher nach seiner Dienst-Anciennetät und mit Beibehaltung seines Diensteinkommens in seiner doppelten Amtseigenschaft als Universitätslehrer und Prediger an eine andere Universität und etwa nach Königsberg in Preußen als Professor der Theologie ohne das Anführen eines besonderen Grundes dieser Translokation versetzt werde. Nach den Grundsätzen des Staatsdienstes muß der Schleiermacher sich diese Versetzung 21

Max Lenz, a. a. O. Bd. 4., S. 410

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gefallen lassen, und will er dieses nicht, so hat er die Folge davon, nämlich die völlige Dienstentlassung, seiner Weigerung, der allerhöchsten Bestimmung zu folgen, zuzuschreiben." 22 Zu der Versetzung ist es nicht gekommen, denn die Entdeckung weiterer Briefe löste zunächst neue Untersuchungen aus, die sich lange hinzogen. 1823 ist Schleiermacher dreimal wegen brieflicher Äußerungen auf dem Berliner Polizeipräsidium vernommen worden. Mehrere Jahre lang hat dann die Entlassungsdrohung über ihm gehangen. Daß sie nicht verwirklicht worden ist, hat er — wie die Akten zeigen — nur der Verschleppungstaktik seines Unterrichtsministers zu verdanken gehabt. Was war nun eigentlich so verdächtig an den politischen Äußerungen und Überzeugungen des Professors Schleiermacher? Hatten sie wirklich eine revolutionäre Tendenz? Welches sind überhaupt die Elemente seines politischen Denkens? Den Verdacht revolutionären Tendenzen zu huldigen, hat Schleiermacher nachdrücklich und mit gutem Gewissen von sich gewiesen. Im Jahre 1831 hat ihn eine Pariser Zeitung als Führer der politischen Linken in Preußen bezeichnet, die an eine Revolution dächte. Schleiermacher hat gegen diese Bezeichnung öffentlich Stellung genommen und erklärt: „Wir haben seit dem Tilsiter Frieden reißende Fortschritte gemacht, und das ohne Revolution, ohne Kammern, ja selbst ohne Preßfreiheit; aber immer das Volk mit dem König und der König mit dem Volk. Müßte man nun nicht seiner gesunden Sinne beraubt sein, um zu wähnen, wir würden von nun an besser vorwärts kommen mit einer Revolution? — Darum bin ich meines Theils sehr sicher, immer auf der Seite des Königs zu sein, wenn ich auf der Seite der einsichtsvollen Männer des Volkes bin."23 Die Erklärung hat es freilich in sich. Sie ist weniger obrigkeitsfromm, als sie auf den ersten Blick aussehen mag. Wer sie damals las, verstand auch das zwischen den Zeilen Stehende. Die Fortschritte, von denen Schleiermacher spricht, lagen mehr als zwanzig Jahre zurück. Die Erwähnung des Fehlens von Pressefreiheit, gar des Ausbleibens der vom König doch versprochenen Volksvertretung hat auch einen kritischen Sinn. Um 1819 kann man um solcher Forderungen willen als Revolutionär verdächtigt werden. Und ob schließlich die Überzeugung zu Recht bestand, daß die Seite der einsichtsvollen Männer des Volkes immer auch die Seite des Königs sei, das mußte der König selbst entscheiden. 21

23

A. a. O. S. 413 f. Brief v. 8.3.1831, in: Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen, Bd. 2, Berlin (1858) 21860 (Nachdruck Berlin/New York 1974), S. 446

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Das allerdings ist klar, daß Schleiermacher den Gedanken energisch abgewiesen hat, daß er Befürworter einer preußischen Revolution sei. Doch wenn man versucht, die Bedingungen und die Elemente seines politischen Denkens zu erfassen, dann wird man nicht unerwähnt lassen dürfen, daß er Zeitgenosse und eine Zeitlang auch Freund der französischen Revolution gewesen ist. Als in Paris die Bastille besetzt wurde, war er zwanzig Jahre alt. Seine Jugendbriefe lassen erkennen, daß er die Nachrichten über die Ereignisse in Frankreich mit lebhafter Teilnahme verfolgt hat. Als im August 1791 der preußische König, Friedrich Wilhelm II., Beratungen mit Kaiser Leopold II. und mit einem Delegaten Ludwigs XVI. über ein gemeinsames Vorgehen gegen die Revolutionäre beriet, da lautete Schleiermachers brieflicher Kommentar: „... ich möchte wol wissen was die 3 hohen Häupter welche dieser Tage in Dresden versammelt gewesen sind (oder vielmehr diejenigen welche die Mühe übernommen haben für diese 3 Herren zu denken) gegen das gute Volk ausgehekt haben. Gott verdamme ihre despotischen Absichten." 24 Noch nach der Hinrichtung Ludwigs XVI. schreibt er an seinen Vater: „Offen, wie ich mit allen meinen Gesinnungen gegen Sie herausgehe, scheue ich mich gar nicht, Ihnen zu gestehen, daß ich die französische Revolution im Ganzen genommen sehr liebe, freilich, ..." — so fügt er im Blick auf die Hinrichtung hinzu — „ohne Alles, was menschliche Leidenschaften und überspannte Begriffe dabei gethan haben, und was, wenn es sich auch in der Reihe der Dinge als unvermeidlich darstellen läßt, doch nicht als gut gebilligt werden kann — mit zu loben, und noch vielmehr ohne den unseligen Schwindel einer Nachahmung davon zu wünschen, und Alles über den Leisten schlagen zu wollen — ich habe sie eben ehrlich und unpartheiisch geliebt; aber dies hat mich von ganzer Seele mit Traurigkeit erfüllt, da ich den guten König als sehr unschuldig ansehe, und jede Barbarei gar herzlich verabscheue."25 Schleiermacher liebt die Revolution, doch er verabscheut die Barbarei, die in ihrem Gefolge aufgetreten ist. Und ähnlich wie er haben damals viele gedacht. Sein positives Urteil ist noch in den Reden „Über die Religion" in einer selten beachteten Stelle angedeutet. Er schreibt da über die Franzosen: „... die rohe Gleichgültigkeit, mit der Millionen des Volks, wie der wizige Leichtsinn, 24

25

Brief v. 29.8.1791, in: F. D. E. Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, hg. v. H.J. Birkner, G. Ebeling, H. Fischer, H. Kimmerle, K.-V. Selge, Berlin/New York 1980 ff., V. Abt.: Briefwechsel und biographische Dokumente, Bd. 1: Briefwechsel 1774-1796, hg. v. A. Arndt u. W. Virmond, Berlin/New York 1985, S. 229 (Brief Nr. 167) Brief v. 14.2.1793, a. a. O., S. 280 (Brief Nr. 209)

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mit dem einzelne glänzende Geister der erhabensten That der Geschichte zusehen, die nicht nur unter ihren Augen vorgeht, sondern sie alle ergreift und jede Bewegung ihres Lebens bestimmt, beweiset zur Genüge, wie wenig sie einer heiligen Scheu und einer wahren Anbetung fähig sind."26 Scharfe Kritik an den Franzosen ist in eigentümlicher Weise verknüpft mit emphatischer Benennung der Revolution. Noch 1831, in der letzten Auflage der Reden, die Schleiermacher selbst besorgt hat, heißt die französische Revolution unverändert die „erhabenste(n) That der Geschichte".27 Ein zweites Grunddatum seines politischen Denkens ist bereits erwähnt worden: sein Preußentum. Schleiermachers Vater ist reformierter Feldprediger in der preußischen Armee gewesen. Nach dem König, unter dessen Fahnen sein Vater diente, nach Friedrich II., hat Schleiermacher seinen Rufnamen erhalten. Siebzehn Jahre war er alt, als der große König starb. Die Wendungen seiner Lebensgeschichte haben ihn nie über die Grenzen Preußens hinausgeführt, außer wenn er Reisen unternommen hat, und ihm selber hat es am Herzen gelegen, in Preußen den Ort seines Wirkens zu haben und zu behalten. In einem Brief, der bald nach der Niederlage von 1806 geschrieben ist, hat er sich folgendermaßen über sein Preußentum geäußert: „Außerdem, daß ich ein Deutscher bin, habe ich wirklich aus vielen Gründen die Schwachheit ein Preuße zu sein ... Aber freilich geht meine Leidenschaft auf eine Idee von Preußen, welche vielleicht in der Erscheinung die wenigsten erkennen. Ob sich nun diese nach der gegenwärtigen Krisis besser herausarbeiten wird, steht dahin; vieles Gute erscheint mir fast unvermeidlich."28 Wie sieht Schleiermachers Idee von Preußen aus, deren geschichtliche Verwirklichung er sich von seiner Gegenwart erhofft hat? Man kann die Antwort auf die Formel bringen, daß es sich um ein Preußen handelt, das die Ideen der französischen Revolution in sich aufgenommen hat, ein Preußen, in dem sich das Erbe der friderizianischen Aufklärung mit einer neuen, einer freieren politisch-gesellschaftlichen Ordnung verbindet. Aufschlußreich ist eine Predigt, die Schleiermacher 1808 am dritten Sonntag nach Epiphanias gehalten hat. Dieser Sonntag fiel auf den 26

27

21f

F. Schleiermacher, Über die Religion (2.-)4. Auflage, in: KGA 1,12: Über die Religion (2.-)4. Auflage, Monologen (2.-)4. Auflage, hg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1995, S. 23 A. a. O. Brief v. 12.1.1807, in: Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen, Bd. 4, hg. v. Wilhelm Dilthey, Berlin 1863, S. 132

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24. Januar, den Geburtstag Friedrichs des Großen. Schleiermacher hat das zum Anlaß genommen zu predigen „Über die rechte Verehrung gegen das einheimische Große aus einer früheren Zeit".29 Das einheimische Große aus einer früheren Zeit ist das friderizianische Preußen, und die Predigt ist so aufgebaut, daß zunächst über das Vergängliche, dann über das Bleibende an ihm gehandelt wird. Es ist höchst bemerkenswert, was er als das Bleibende am Werke Friedrichs des Großen nennt, als das Erbe, das es festzuhalten gilt. Im Einklang mit vielen Zeugnissen preußischen Selbstbewußtseins führt er zunächst die Tugenden der Arbeitsamkeit und der Sparsamkeit an und weist auf die unparteiische Rechtspflege hin. Er fährt dann fort: „Vergessen wir ferner nicht, wie sehr als ein Grundsatz schon in der Regierung jenes großen Königes hervorragte, daß alle Bürger gleich sein müßten vor dem Gesez, wie laut er es sagte, daß jeder einzelne ihm nur werth sei nach dem Maaß, als er gehorsam und treu beitrüge durch seine Thätigkeit zum Wohl des ganzen. Denken wir zurükk, wie sein Beispiel allmählig auch die öffentliche Meinung immer stärker nach sich zog, wie die scharfe Trennung der verschiedenen Stände von einander, die vorher noch obgewaltet hatte, anfing sich zu verlieren ..."30. Gleichheit vor dem Gesetz, Aufhebung von Standesschranken und -Privilegien — wo diese Gedanken aufgenommen werden, wo diese Entwicklung fortgeführt wird, dort sieht Schleiermacher die wahre Verehrung Friedrichs des Großen. Er sagt: „Warlich besser werden wir durch solche Fortschritte, und sollte auch darüber von dem äußeren eines ... älteren Gebäudes kein Stein auf dem anderen bleiben, jene gepriesene Zeit und ihren Helden verehren, als wenn wir träge und nachlässig auf der selben Stufe stehen bleiben, auf welcher er uns verlassen hat."31 Einen weiteren Grundsatz hebt der Prediger hervor: „Eben so laßt uns fest halten an dem wahren, schon in jenen Zeiten von hier aus so laut verkündigten Grundsaz, daß vom Irrthum nie etwas gutes, noch weniger besseres zu erwarten ist, als von der Wahrheit, daß Vorurtheil und Aberglauben nicht die Mittel sein können, um die Menschen bei dem, was recht und heilsam ist, festzuhalten und im guten weiter zu führen! Laßt uns fortfahren daher in dem rühmlichen Bestreben, richtige Einsichten in alles, was dem Menschen werth und wichtig sein muß, so weit als möglich zu verbreiten, den Sinn für Wahrheit zu erwekken, das Vermögen der Erkenntniß zu stärken und zu beleben! Laßt uns auch fernerhin 29 30 31

Predigt v. 24.1.1808 über Mt 24, 1.2, (wie Anm. 12), S. 360-377 A. a. O. S. 374 A. a. O. S. 375

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wakker sein und muthig, jeder, nachdem Gott ihm das Licht der Wahrheit angezündet hat, hineinleuchtend in die dunklen Schlupfwinkel der Unwissenheit und des immer unheiligen Betruges."32 Es ist unverkennbar die Sprache der Aufklärung, die in diesen Sätzen laut wird. Es ist das Ethos und Pathos der Aufklärung, das hier beschworen wird. Anders als viele seiner Zeitgenossen, anders auch als manche der preußischen Reformer, ist Schleiermacher weit davon entfernt gewesen, die Aufklärung zu diffamieren. Und anders als viele späteren Verehrer hat er gerade das am Lebenswerk Friedrichs des Großen gerühmt, daß er der Aufklärung in Preußen eine Heimat gegeben hat. Seine Predigt nennt die Freiheit des Glaubens und des Gewissens geradezu ein „Grundrecht" Preußens: „Endlich aber, was uns hier am nächsten liegt und uns fast als das größte erscheinen muß, laßt uns ja heilig bewahren und durch nichts in der Welt uns jemals entrissen werden die in jenen Zeiten so oft als ein Grundgesez unseres Vaterlandes ausgesprochene köstliche Freiheit des Glaubens und des Gewissens ... Wem ... irgend Frömmigkeit einen Werth hat als göttliche Kraft und Tugend, der muß ja fühlen, daß der tiefste Verstand keinen kräftigeren Schuz für sie aussinnen könnte als eben diese Freiheit, indem die Frömmigkeit sich nur da rein erhalten kann, wo niemand durch Geseze und öffentliche Einrichtungen kann in Versuchung geführt werden zu heucheln. Wem irgend die Liebe werth ist als die Quelle aller Tugenden, als das vollkommene Band aller Kräfte, der muß ja einsehn, daß es keine innigere und umfassendere Äußerung, keine kräftigere Sicherstellung derselben giebt als dieses brüderliche Anerkennen dessen, was einem jeden das heiligste ist. Darum war auch soviel Liebe zu dem ganzen herrschend, welches diese edle Freiheit sicherte, eine Liebe, die noch in uns allen lebt und am mächtigsten wieder erwachen wird, wenn jemals jener Freiheit Gefahr drohen sollte."33 Gleichheit vor dem Gesetz, Aufklärung, Freiheit des Glaubens und des Gewissens — das sind die Begriffe, die Ideen, die Grundsätze, die Schleiermacher als das Bleibende am Preußen des großen Königs gekennzeichnet hat, als sein wahres Erbe, das es festzuhalten galt. Man wird hinzufügen müssen: Es sind zugleich Begriffe, Ideen, Grundsätze, die in der französischen Revolution eine politisch-gesellschaftliche Macht geworden waren. Die Notwendigkeit einer politisch-gesellschaftlichen Reform — das ist nicht von ungefähr das andere große Thema von Schleiermachers Predigt. Als vergänglich und vergangen, als nicht restau32 33

A. a. O. A. a. O. S. 375 f.

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rierbar hat er „die äußeren Einrichtungen und die ganze Verfassung"34 des friderizianischen Staates bezeichnet. Es ist ein Plädoyer für das große Reformwerk, das sich mit dem Namen des Freiherrn vom Stein verbunden hat, wenn er dann sagt: „... laßt uns ja nicht den Unterschied der Zeiten übersehend uns desjenigen weigern, was die gegenwärtigen dringend von uns fordern, sondern gern und willig bringe Jeder dar, was er aus der Fülle des Ganzen empfangen hat, damit alles übereinstimmend könne umgebildet werden zu dem neuen Gebäude, dessen wir bedürfen ... bei der Heiligkeit des Rechtes möchte ich uns beschwören, der Welt ein Beispiel zu zeigen, wie am würdigsten das Recht sich bildet durch die Übereinstimmung Aller als die natürlichste Wirkung des vereinigten Verstandes und der vereinten Kräfte, nicht immer nur aus dem ermüdenden Streit roher Gewalten."35 Schleiermachers Hauptvorwurf gegen die bestehende politische Ordnung war, daß sie dem Einzelnen keine Möglichkeit politischer Betätigung, keine Teilhabe am Leben des Staates bot. So schreibt er gegen Ende des Jahres 1806 in einem Brief an seinen Verleger und Freund Georg Reimer: „Alles Politische ... was bis jetzt bestand, war, im Großen und Ganzen angesehn, ein unhaltbares Ding, wie leerer Schein, die Trennung des Einzelnen vom Staat und der Gebildeten von der Masse viel zu groß, als daß Staat und Masse hätten etwas sein können. Dieser Schein muß verschwinden, und nur auf seinen Trümmern kann die Wahrheit sich erheben. Eine allgemeine Regeneration ist nothwendig und wird sich aus diesen Begebenheiten entwickeln."36 Und in einem bald darauf geschriebenen Brief heißt es: „Das gemeinschaftliche Unglück des nördlichen Deutschlands, denn es ist ja mit der preußischen Monarchie in Ein Schicksal verwickelt, ist doch eigentlich darin gegründet, daß die Nation als solche nur in die wissenschaftliche und religiöse Organisation eingegangen ist, in die politische aber gar nicht, sondern der Einzelne oder die Familie sich möglichst vom Staate getrennt gehalten hat, und auch der Staat nichts weiter sein wollte als eine Maschine."37 Der Staat sollte nicht länger ein toter Mechanismus sein, nicht länger eine bloße Regierungs- und Verwaltungsmaschine, der die Regierten innerlich fremd gegenüber standen. Die Trennung des einzelnen vom Staat sollte beseitigt, der Abstand der Gebildeten vom Volk verringert, die Entfremdung der Nation vom Politischen aufgehoben werden. 34 35

36 37

A. a. A. a. Brief Brief

O. S. 365 O. S. 369 f. v. Mitte November 1806 (wie in Anm. 11), S. 72 v. 6.12.1806, a. a. O. S. 81

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In diesen Zielsetzungen hat sich Schleiermacher mit den preußischen Reformern einig gewußt. Um dieser Zielsetzungen willen ist er für Verfassung, für Volksvertretung, für Freiheit der öffentlichen Meinung eingetreten. Um dieser Zielsetzungen und um dieses Eintretens willen hat er sich von der preußischen Reaktion staatsgefährdender Tendenzen verdächtigen lassen. Die Tendenz, die er wirklich vertreten hat, ist von ihm selber gelegentlich mit dem Ausdruck „Konstitutionstendenz" bezeichnet worden, und er hat sie erläutert als „die Tendenz, immer mehrere positiven Antheil nehmen zu lassen an den gemeinsamen Angelegenheiten, so daß der Gegensaz des Gebietens und des Gehorchens immer mehr nur ein functioneller wird und immer mehr aufhört, ein persönlicher zu sein."38 In den Zusammenhang dieser Gedanken gehört nun auch das hinein, was man als die nationale Komponente in Schleiermachers Denken bezeichnen könnte. Der Staat ist für ihn seinem Vollsinne nach Nationalstaat. „... materiell ist Staat und Volk dasselbe, und Staat nur die Form, welche sich das Volk giebt, um das gemeinsame Bewußtsein zur Erscheinung zu bringen. Wenn es anders ist, wenn ein Volk in mehrere Staaten zertheilt ist, oder ein Staat mehrere Völker umfaßt: so ist das das minder natürliche ,.."39 So hat es Schleiermacher seinen Studenten in Berlin vorgetragen. Der preußische Staat stellte sich in der Konsequenz dieser Theorie gleich in doppelter Hinsicht als minder natürlich dar, einerseits als deutscher Teilstaat, andererseits wegen seiner nichtdeutschen Untertanen. In den Jahren der Befreiungskriege hatte auch Schleiermacher auf eine nationale Einigung Deutschlands gehofft. Im Juni 1813 hat er in einem Brief an Friedrich Schlegel seine Vorstellungen entwickelt. Er schreibt: „Du forderst mir kurz und gut mein politisches Glaubensbekenntniß ab, lieber Freund. Ich kann Dir das Allgemeine davon in wenig Worten mittheilen, nur fürchte ich, Du wirst wenig Eigenthümliches darin finden ... Ich bin gar nicht so ganz dagegen, daß es Sachsen und Brandenburger, Österreicher und Baiern geben soll. Die Stammesverschiedenheiten sowol als die Spuren der alten einzelnen politischen Concrescenzen, die freilich mit jenen nicht immer genau zusammenfallen, sind den Deutschen zu stark aufgedrückt, als daß man sie sollte vernichten wollen dürfen. Nur sollen sie nicht über die größere Nationali8

F. Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Ludwig Jonas, Berlin 1843, SW I. Abt. Bd. 12, Beilagen (D) S. 190 (Vorlesung 1831) " A. a. O. S. 455

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einheit dominiren ... Darum ist nach der Befreiung mein höchster Wunsch auf Ein wahres deutsches Kaiserthum, kräftig und nach außen hin allein das ganze deutsche Volk und Land repräsentirend, das aber wieder nach innen den einzelnen Ländern und ihren Fürsten recht viele Freiheit läßt, sich nach ihrer Eigenthümlichkeit auszubilden und zu regieren."40 Ähnliches hofften und wollten damals viele. Anders als die meisten hat Schleiermacher jedoch diese Hoffnungen mit nüchterner Skepsis begleitet, wie die Fortsetzung seines Briefes zeigt: „Aber jenes [die kräftige Vertretung nach außen] ist nur möglich, wenn kein dem Kaiserthum zugehöriger Fürst Länder hat, die demselben nicht angehören, und dieses [die Freiheit nach innen] ist nur möglich, wenn in die inneren (nicht militärischen und diplomatischen) Angelegenheiten der einzelnen Staaten der Kaiser sich ja nicht mischt ... Da liegen nun die ungeheuren Schwierigkeiten, und ich fürchte, daß jener Wunsch bei der gegenwärtigen Lage der Dinge nicht unmittelbar zu erreichen ist."41 Gleichwohl gehört Schleiermacher zu den Denkern, die damals, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, den nationalen Gedanken, die nationale Gesinnung in Deutschland zur Geltung gebracht haben. Neu zur Geltung gebracht haben, so muß man genauer sagen. Denn für das 18. Jahrhundert war es charakteristisch gewesen, daß die Gebildeten in ihrem Denken und Fühlen die nationalen und staatlichen Grenzen überschritten, weil sie sich nur der Menschheit verpflichtet wußten. Sie verstanden sich als Kosmopoliten, als Weltbürger. Schleiermacher hat diese weltbürgerliche Gesinnung in einer Predigt ansprechend beschrieben: „Man hält den bürgerlichen Verein für eine kunstreiche Maschine, um von außen die Gewalt abzuhalten und von innen den nachtheiligen Folgen fehlerhafter Neigungen entgegenzuarbeiten, die also nur zum besten der einzelnen da ist, damit deren besondere Thätigkeit ungestört fortgehen könne, wobei es dann zufällig sei und gleichgültig, ob mehrere oder wenigere, ob diese oder andere Menschen unter ein und dasselbe Gesez befaßt und von ihm beschützt werden. Nur denjenigen, so meint man, denen das öffentliche Wohl unmittelbar anvertraut ist, gezieme es, an allem dahin Gehörigen einen lebhaften Antheil zu nehmen, für alle andere aber sei eine eifrige Vaterlandsliebe nur eine beschränkende Gesinnung. Denn es könne nicht das beste sein, sich an dasjenige allein zu halten und es für das Höchste anzusehen, was so scharf die Menschen trennt und immer neuen Unfrie40 41

Brief v. 12.6.1813 (wie in Anm. 11), S. 189 A. a. O.

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den auf der Erde aussäet, der nur um so fester einwurzele, je mehr jedes einzelne Mitglied eines Volkes von jener Empfindung beseelt sei. Vielmehr gezieme es uns übrigen, ... mit unserer höchsten Liebe das ganze Geschlecht der Menschen zu umfassen und durch Weltbürgersinn uns über das beschränkende, was jedes Gemeinwesen unvermeidlich mit sich führt, zu erheben."42 Schleiermacher greift diese Haltung an, weil sie den Staat nur als notwendiges Übel kennt, weil sie damit die Teilnahme an seinen Schicksalen, an den öffentlichen Angelegenheiten verhindert. Sein Grund- und Haupteinwand lautet, daß die Entgegensetzung von Weltbürgersinn und Vaterlandsliebe, von Liebe zum eigenen Volk und Liebe zur Menschheit eine falsche Alternative darstellt: „Der Sache des menschlichen Geschlechtes dienen, die Beförderung der Tugend, der Vernunft, der Frömmigkeit im allgemeinen sich zum Wunsch und Ziel sezen, den einzelnen in dem Maaß lieben als er hiezu beiträgt, das ist herrlich. Aber wie kann sich denn jenes allgemeine Gefühl als Liebe zeigen, wenn nicht gegen diejenigen, die uns wirklich nahe treten, die in den Kreis unserer Thätigkeit fallen im Leben selbst? Umgeben uns nun die nicht am meisten und fordern uns auf, ihnen Beifall und Liebe zu schenken, die mit uns zu einem Volke gehören? ... Ich weiß, hier eben erheben sich die Beschuldigungen, Vaterlandsliebe mache kurzsichtig, parteiisch, nähre Vorurtheile gegen andere Völker und mache, daß man denen geringschäzig begegne, die ihnen angehören. Aber ist das nicht die Unvollkommenheit der Menschen und keinesweges der Fehler der Sache?"43 Schleiermachers These lautet, daß gerade mit der Liebe zum eigenen Volk auch der Sinn und der Respekt für andere Nationen und Nationalitäten erwacht: „... laßt uns gestehen, wer nicht von dem Werthe des eigenen Volkes durchdrungen ist und mit Liebe daran hängt, der wird auch an einem ändern das nicht schäzen, wie schön und vollkommen er von dem Geiste seines Volkes durchdrungen ist, der kann auch nicht diese Liebe und Treue an einem ändern lieben. Und wer nicht von der Bestimmung seines eigenen Volkes erleuchtet ist, der kennt auch nicht so den ... Beruf anderer Völker und kann also weder die rechte Freude haben an dem größten, was überall in der großen Sache der Menschheit geschieht, noch auch die rechte Liebe zu denen, die am eifrigsten daran arbeiten."44 42

Predigt v. 24.8.1806 über Eph 2, 19, (wie Anm. 12), S. 223 f. « A. a. O. S. 232 f. «4 A. a. O. S. 233

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Das ist vor mehr als hundertundfünfzig Jahren geschrieben. Seither sind schreckliche Entstellungen des nationalen Gedankens aufgetreten. Um so wichtiger ist es wahrzunehmen, daß die nationale Gesinnung nicht von vornherein und nicht notwendig zum Weltbürgersinn in Gegensatz tritt. In einer Vorlesung Schleiermachers über Christliche Sittenlehre heißt es: „Wo ... die Volkseinheit der lezte Beziehungspunkt ist, da ist auch nichts als Eigenliebe, also keine Sittlichkeit."45 Und an anderer Stelle: „Es war lange und ist vielleicht noch jetzt die herrschende Ansicht, daß keine Unterordnung des Staates unter die Gesammtheit des Menschengeschlechts gefordert werden könne, sondern des Staates Sittlichkeit sei, seinen eigenen Vortheil zu suchen und als lezten Zielpunkt des von ihm ausgehenden Bildungsprozesses sich selbst in seiner besonderen Persönlichkeit aufzustellen. Das wäre aber gänzliche Trennung der Politik von der Moral, also ein Widerspruch gegen das Christenthum."46 Dem christlichen Geist hat Schleiermacher es zugemutet und zugetraut, der Eigenliebe der Völker, dem Eigennutz der Staaten zu widerstehen und damit das zu bewirken, was er „die höchste Höhe der Politik"47 nennt, dazu beizutragen, „daß die Staaten ein friedliches Verkehr unter einander zu stiften und zu sichern suchen, und zwar nicht mehr aus einem eigennüzigen Gesichtspunkte, denn aus diesem hat es immer schon das freie Verkehr begünstigende Verträge gegeben, sondern rein aus Liebe zur absoluten Gesammtheit."48

45 46 47 4(1

F. Schleiermacher, Die christliche Sitte, a. a. O. S. 476 (Vorlesung 1824/25) A. a. O. S. 490 (Vorlesung 1826/27) A. a. O. S. 491 A. a. O.

11. Theologie und Philosophie Einführung in Probleme der SchleiermacherInterpretation Wolfgang Trillhaas zum 70. Geburtstag [1974]* Inhalt I. II. III. IV. V. VI.

Die Fragestellung Beobachtungen zum Werk und zur Wirkung Typen der Interpretation Methodische Orientierung Die Reden „Über die Religion" — Theologie oder Philosophie? Die „Kurze Darstellung" und ihr Programm der „Philosophischen Theologie" VII. Dogmatik und Philosophie nach der Glaubenslehre VIII. Zusammenfassung

L Die Fragestellung Die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie in Schleiermachers Werk 1 hat seit je die Interpreten und die Kritiker nachhaltig zu beschäftigen vermocht. Es dürfte nicht allzu viele Dokumente vor allem der theologischen Schleiermacher-Literatur geben, in denen „das staunenswerte, ja ein wenig rätselhafte Beieinander von Theologie * Vgl. Bibliographie Nr. 4 1 Die vorliegende Studie bietet die überarbeitete und ergänzte Fassung eines Aufsatzes, der in französischer Sprache unter dem Titel „Philosophie et Theologie chez Schleiermacher" im Band XXXII (1969) der „Archives de Philosophie" (S. 179-205) erschienen war.

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und Philosophie in Schleiermachers Lebenswerk"2 nicht verhandelt, erwähnt oder zumindest doch berührt würde. Gerhard Ebeling hat „die Struktur der Verbindung von Theologie und Philosophie" geradezu „das Kernproblem der Schleiermacherinterpretation" genannt 3 . Zugleich ist allerdings zu notieren, daß die nähere Bestimmung jenes Verhältnisses nach wie vor Schwierigkeiten bereitet, daß sie zu gegensätzlichen Interpretationen stimuliert, daß sie jedenfalls weit davon entfernt ist, eindeutig und abschließend erledigt zu sein. Als prominenter Zeuge für diesen Sachverhalt kann Karl Barth, der wohl wirkungskräftigste Schleiermacher-Kritiker in unserem Jahrhundert, angeführt werden. In der Darstellung seines Freund-Feind-Verhältnisses zu Schleiermacher, die er kurz vor seinem Tode niedergeschrieben hat 4 , bekommt „die für Schleier-[8]macher so bezeichnende Symbiose von Theologie und Philosophie"5 eine Schlüsselfunktion. Die abschließenden Erwägungen etablieren eine förmliche Deutungs- und Beurteilungsalternative: Theologie oder Philosophie. Es heißt da: „Handelt es sich in Schleiermachers Unternehmen (1) notwendig, esoterisch, eigentlich um eine auf Gottesdienst, Predigt, Unterricht, Seelsorge ausgerichtete christliche Theologie? Trägt diese nur zufällig, exoterisch, uneigentlich das Gewand einer dem Menschen seiner Zeit angepaßten Philosophie? Es ist klar, daß ich dann über die Bejahung dieses Unternehmens — alles Einzelne vorbehalten — 2

So Martin Doerne, der dieses „Beieinander" zum Leitmotiv seines Vortrags bei der gemeinsamen Gedenkstunde der Göttinger Theologischen und Philosophischen Fakultät zum 200. Geburtstag Schleiermachers gemacht hat. Der Vortrag ist veröffentlicht unter dem Titel „Protestantische Humanität" (Göttinger Universitätsreden 54), 1969; vgl. S. 7. ' Artikel „Theologie und Philosophie" RGGJ VI, Sp. 813 f. 4 Nachwort zu der „Schleiermacher-Auswahl", die Heinz Bolli 1968 herausgegeben hat (Siebenstern-Taschenbuch 113/114), S. 290-312. Unter den älteren Äußerungen Barths ist seine — seltener beachtete — ausführliche Rezension „Brunners Schleiermacherbuch" hervorzuheben (Zwischen den Zeiten 2. Jgg., 1924, H. 8, S. 49-64), daneben natürlich die Aufsätze „Schleiermachers Weihnachtsfeier" und „Schleiermacher" (im 2. Band der Gesammelten Vorträge „Die Theologie und die Kirche", 1928, S. 106-135 und S. 136-189), schließlich der Schleiermacher gewidmete Paragraph in „Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert" (1947) I9603, S. 379 bis 424. - Von der Wirkung der Barthschen Darstellung und Kritik hat Wolfgang Trillhaas zutreffend gesagt, daß sie „trotz ihrer Noblesse gegenüber ihrem Gegenstand im Großen und im Feinen Gemeinbesitz einer ganzen Generation geworden" ist; vgl. dazu seine Typologie der Schleiermacherkritik in dem Aufsatz „Der Mittelpunkt der Glaubenslehre Schleiermachers", Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, 10. Band (1968), S. 289-309, bes. 290f. 5 AaO.S. 300.

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jedenfalls mit mir reden lassen müßte ... Oder handelt es sich bei ihm (2) primär, esoterisch, eigentlich um eine Aristoteles, Kant und Fichte abgewendete, dafür in der Nähe von Plato, Spinoza und Schelling errichtete, zwischen Logos und Ethos vermittelnde und ästhetisch beide überhöhende, christlich indifferente Philosophie, die sich nur zufällig, exoterisch, uneigentlich in das Gewand einer, der christlichen Theologie gehüllt hätte? Es ist klar, daß ich dann Schleiermacher gegenüber nur eben Distanz nehmen und wahren könnte." 6 Earths alternative Handhabung der Begriffe Theologie und Philosophie signalisiert nicht nur die Unabgeschlossenheit einer schon lange währenden Debatte, sie vermag zugleich deren spezifische Methodenprobleme zu illustrieren. Eine so bedeutungsvoll-prinzipielle Frage wie die nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie hat auch in interpretatorischem Gebrauch ihren Reiz wie ihre Problematik nicht zuletzt darin, daß in ihr „Historisches" und „Systematisches" sich innig verbinden, daß Interpretation und Kritik, Rekonstruktion und Rezeption, Deutung und Stellungnahme unter Umständen bis zur Ununterscheidbarkeit ineinanderfließen. [9] Im Streit um die Auslegung eines Denkers vom Range Schleiermachers stehen immer auch die Ideen und Interessen derer mit zur Debatte, die sich so oder so auf ihn beziehen. An Großbegriffen wie Theologie und Philosophie wird das exemplarisch sichtbar, sofern in ihnen, die als Instrumente der Interpretation mit dem Schein der Eindeutigkeit auftreten, höchst divergente „Definitionen", Programme und Zuordnungsvorstellungen ihre Abbreviatur finden können. Diese Sachverhalte sind Anlaß und zum Teil auch Gegenstand der folgenden Überlegungen. Ausgehend von Beobachtungen zum Werk und zur Wirkung Schleiermachers (II) geben sie zunächst eine Skizze der unterschiedlichen Interpretationstypen (III), erörtern dann die problematische Rolle, die das Deuteschema „Theologie und/oder Philosophie" in weiten Bereichen der einschlägigen Literatur gespielt hat und spielt, um die dabei hervortretenden methodischen Grundsätze (IV) schließlich auf die theologischen Hauptwerke Schleiermachers zu beziehen (V-VII). 6

AaO. S. 307. — Bei dem Zitat handelt es sich um die erste von insgesamt fünf Alternativfragen, die „eine gewisse Unsicherheit" (S. 307) der Stellungnahme artikulieren sollen. Das letzte Fragenpaar überbietet die vorhergegangenen vier noch einmal dadurch, daß es die Angemessenheit und Brauchbarkeit der zuvor entwickelten Alternativen in Frage stellt.

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II. Beobachtungen zum Werk und zur Wirkung Die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Schleiermacher wird sich — in einem vorläufigen und weiten Sinne — jedem aufdrängen, der die Werdegeschichte seines Denkens, die Vielseitigkeit seines Wirkens, den Reichtum seines literarischen Werkes sich vor Augen stellt. Sein Lebenswerk ist gekennzeichnet durch eine Universalität und in ihr durch eine Verbindung von philosophischer und theologischer Arbeit, die ungewöhnlich, ja einzigartig anmutet und die in der Geschichte der deutschsprachigen Theologie und Philosophie nach ihm allenfalls im Lebenswerk Ernst Troeltschs und in dem Paul Tillichs noch einmal eine gewisse Entsprechung hat. Man kann dieses Nebeneinander, diese „Symbiose" geradezu als eine durchgängige Signatur seines Werdens und seines Wirkens ansehen. Bereits der Hallenser Student (1787 — 89), in der theologischen Fakultät immatrikuliert, Neffe und Hausgenosse des Theologieprofessors Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, wendet die Energie seines Studiums mindestens ebenso stark philosophischen wie theologischen Gegenständen zu. In den Vorlesungen Johann August Eberhards erlebt er die Auseinandersetzung des Wolffianis-[10]mus mit der Philosophie Kants und wird so in die aktuelle philosophische Diskussion hineingestellt. Zehn Jahre später ist Schleiermacher Krankenhauspfarrer in Berlin, wo er hineingenommen wird in die philosophisch-literarische Bewegung der Frühromantik. Die von ihm anonym veröffentlichten Schriften zeigen ihn als religiös-theologischen Denker einerseits (Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 1799), als philosophischen Programmatiker einer neuen Ethik andererseits (Monologen, 1800; Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, 1800). Das Nebeneinander von Theologischem und Philosophischem kann man fortgesetzt finden in den Veröffentlichungen der nächsten Jahre. Die ersten größeren Arbeiten, die Schleiermacher unter seinem Namen hat erscheinen lassen, sind eine Sammlung von Predigten (1801) und „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" (1803). Schließlich lassen sich die Linien unschwer ausziehen in die Jahre der Hallenser und Berliner Wirksamkeit hinein. Man kann seine neutestamentlichen Arbeiten (Über den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos, 1807; Über die Schriften des Lukas, 1817) und seine Plato-Übersetzung nebeneinander stellen, die kirchliche Wirksamkeit des Predigers an der Berliner Dreifaltigkeitskirche und die in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die Vorlesungen in der theologi-

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sehen und die in der philosophischen Fakultät. Die großen Veröffentlichungen der Berliner Jahre sind fachtheologischer Art: „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" (1811, 2. Auflage 1830), „Der christliche Glaube" (1821/22, 2. Auflage 1830/31). Die philosophischen (und philologischen) Abhandlungen, die Schleiermacher in der Akademie vorgetragen hat, sind zu seinen Lebzeiten teils unveröffentlicht geblieben, teils in den Jahrbüchern der Akademie mehr versteckt als veröffentlicht worden 7 . Aber seine Tätigkeit an der 1810 eröffneten Universität, zu deren Theoretikern und Organisatoren er gehört hatte, ist ganz durch das Nebeneinander von theologischer und philosophischer Lehre gekennzeichnet. Schleiermacher ist in zwei Fakultäten zu Hause gewesen. Ein Vierteljahrhundert lang hat er nahezu in jedem Semester nicht nur theologische Vorlesungen gehalten, sondern zugleich — seine Rechte als Akademiemitglied wahrnehmend — in der Philosophischen Fakul-[ll]tät gelehrt. Seine hier gehaltenen Vorlesungen, die dann aus dem Nachlaß ediert worden sind, behandeln Geschichte der Philosophie, Dialektik, Ethik, Psychologie, Ästhetik, Politik bzw. Lehre vom Staat, Pädagogik. Die nach seinem Tode erschienene Ausgabe seiner Sämtlichen Werke bildet mit ihrer Gliederung in drei Abteilungen (Theologie, Predigten, Philosophie) die großen Bereiche seines Wirkens ab und vermittelt schon durch ihren thematischen Umfang ein eindrückliches Bild von der erstaunlichen Reichweite seiner Interessen und Leistungen. Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophischem und Theologischem in Schleiermachers Werk ist naheliegend, ja unvermeidlich. Aber so eindeutig das Faktum einer engen Verbindung schon durch die Daten seiner wissenschaftlichen Biographie belegt wird, so schwierig scheint es, die Eigenart dieser Verbindung angemessen zu erfassen. Auffällig ist bereits der Sachverhalt, daß in der Wirkungs- und Interpretationsgeschichte seines Denkens das philosophische und das theologische Opus auseinandertreten, und zwar in einem Maße, das die Frage nahelegen kann, ob hier überhaupt ein genuiner und notwendiger Zusammenhang besteht. In der Philosophie (wie in der Pädagogik) gibt es eine Wirkungs- und Interpretationsgeschichte Schleiermachers, in der seine theologischen Veröffentlichungen eine geringe, oft gar keine Beachtung finden. Die Annalen der Philosophiegeschichte nennen und rühmen ihn durchweg als Übersetzer Platos und als Bahnbrecher der Plato-Forschung; sie würdigen ferner den Ethiker und den Religionsphilosophen 7

Sie sind zusammengestellt in der III. Abteilung der Sämtlichen Werke im 2. Band (bereits veröffentlichte Abhandlungen) und im 3. Band (literarischer Nachlaß).

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Schleiermacher als bedeutende Gestalt der an Kant sich anschließenden Bewegung des deutschen Idealismus; seit Wilhelm Dilthey wird außerdem seine Bedeutung für die neuere Entwicklung der Hermeneutik hervorgehoben. Der Theologe Schleiermacher dagegen wird zumeist — den Theologen überlassen. Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie in seinem Werk kann offenbar dort, wo man sich auf seine philosophischen Arbeiten und Entwürfe konzentriert, weitgehend vernachlässigt werden. Sein philosophisches Opus kann, so scheint es, ohne Bezugnahme und Rückgang auf seine Theologie verstanden und gewürdigt werden. Und in der Tat ist zu sagen, daß Schleiermachers philosophische Texte ein solches Verfahren insofern ermöglichen, als sie im großen und ganzen weder auf die eigenen theologischen Arbeiten noch überhaupt auf Theologisches verweisen. [12] Analoge Phänomene lassen sich dann auch im Verhältnis der Theologie zu Schleiermacher beobachten. Es gibt einen Strang von theologischen Bezugnahmen auf ihn, in denen und für die seine philosophischen Entwürfe schlechterdings keine Rolle spielen. Auch daran ist zu erinnern, daß häufig eben dies als ein sonderliches Verdienst Schleiermachers gefeiert worden ist, daß er der protestantischen Theologie die Unabhängigkeit von der Philosophie neu errungen habe. Ein solches Lob dürfte ja voraussetzen, daß man auch in seinem eigenen Werk einen inneren Zusammenhang von Philosophie und Theologie nicht gegeben sieht. Doch ist das nur die eine Seite der Sache. Auf der anderen Seite ist zu notieren, daß das Nebeneinander von Theologie und Philosophie stets ein bevorzugter Gegenstand der Aufmerksamkeit, nicht selten auch des Mißtrauens gerade bei Theologen gewesen ist. Wo die Frage nach dem da waltenden Verhältnis auftritt, dort handelt es sich in der Regel um eine Frage theologischer Schleiermacher-Interpretation. Ihre charakteristische Gestalt hat sie daher gewonnen als Frage nach den philosophischen Voraussetzungen seiner Theologie. So formuliert, als Frage nach philosophischen Voraussetzungen kann sie dann eine doppelte Fassung annehmen, sie kann historisch und systematisch expliziert werden. Die historische Frage soll hier nur erwähnt, nicht aber verfolgt werden. Sie richtet sich auf die Einwirkungen, die Schleiermacher aus der Philosophie seiner oder älterer Zeit empfangen hat, auf die Bedeutung also, die etwa Plato oder Spinoza, die Kant, auch Jacobi, Fichte, Schelling für das Werden seines Denkens gewonnen haben. Diese historische Frage nach philosophischen Voraussetzungen der Schleiermacherschen Theologie ordnet sich im übrigen einem umfassenderen Zusammenhang ein; sie bezeichnet einen Teilaspekt der allge-

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meineren Fragestellung, die den geschichtlichen Voraussetzungen und Bedingungen seines Denkens überhaupt zugewandt ist. Daß eine Vernachlässigung der komplexeren geschichtlichen Zusammenhänge und eine isolierte Abhebung auf Philosophisches als Voraussetzung für Theologisches vielfach mit Enthüllungsabsichten, mit dem Verdacht auf problematische Abstammung und Herkunft Hand in Hand geht, das sei nur am Rande vermerkt 8 . [13] Unsere Erwägungen gelten nicht der historischen, sondern der systematischen Fragestellung, d. h. sie richten sich auf die systematischen Bezüge innerhalb des Schleiermacherschen Gesamtwerks. In welcher Weise sind seine philosophischen und seine theologischen Arbeiten einander zugeordnet? Können aus den philosophischen Entwürfen, die zum größten Teil ja erst aus dem literarischen Nachlaß bekannt geworden sind, systematische Voraussetzungen seiner Theologie aufgehellt werden? Eine Antwort auf diese Fragen scheint in Schleiermachers theologischen Veröffentlichungen zumindest insofern vorgezeichnet, als sich in ihnen an mehreren Stellen allgemeine Ausführungen über das Verhältnis von Philosophie und Theologie finden, während das Umgekehrte, der Verweis auf Theologie in den philosophischen Entwürfen, kaum stattfindet. Über Notwendigkeit und Rang dieser Fragestellung besteht in der dem theologischen Opus zugewandten Schleiermacher-Forschung ein verbreiteter Konsensus. Er betrifft freilich nur das Problem, während die Lösung überaus kontrovers ist. Die Art und Weise, wie die Interpreten das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Schleiermacher auffassen und bestimmen, ist so unterschiedlich wie nur möglich. Die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Thesen, die hier aufgetreten sind, gilt es kurz zu markieren.

III. Typen der Interpretation Für den Zweck unserer Erörterung, die ja nicht eine Geschichte der Schleiermacher-Interpretation skizzieren will, mag eine vereinfachende Schematisierung und Typisierung erlaubt sein. Man wird hinsichtlich der genannten Fragestellung drei Haupttypen der Interpretation unterscheiden können je nachdem, ob das Verhältnis der Theologie zur Philosophie 8

Umgekehrt kann sich das Interesse an Schleiermachers herrnhutischer Jugend mit der Absicht verbinden, theologisch „legitime" Wurzeln seines Denkens aufzusuchen und nachzuweisen.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

in Schleiermachers Werk als ein solches der Unabhängigkeit, der Abhängigkeit oder der Vermittlung bestimmt wird. Für jede der drei Thesen können gewichtige Argumente ins Feld geführt werden. Die Vertreter der Unabhängigkeitsthese können sich auf Erklärungen Schleiermachers berufen, in denen er sich gegen eine Vermischung von Philosophie und Dogmatik ausdrücklich gewehrt und für den Inhalt seiner eigenen Glaubenslehre philosophischen Einfluß rundweg verneint hat. Die kräftigsten Aussagen dieser [14] Art finden sich im zweiten der beiden Schleiermacherschen „Sendschreiben über seine Glaubenslehre", die er im Jahre 1829 — mit der Vorbereitung der zweiten Auflage des Werkes beschäftigt — an seinen Freund Friedrich Lücke, Theologieprofessor in Göttingen, gerichtet und in den „Theologischen Studien und Kritiken" veröffentlicht hat. Eine häufig apostrophierte Passage lautet: „Lassen Sie mich also bei meinem timeo Danaos et dona ferentes immer bleiben und mich freuen, daß ich dem Vorsatz treu geblieben bin, meinem eignen philosophischen Dilettantismus, und wenn ich mehr auf diesem Gebiet aufzuweisen hätte, würde meine Maxime doch dieselbe geblieben sein, keinen Einfluß auf den Inhalt der Glaubenslehre gestattet zu haben. Wie es mir mit diesem Vorsatz gelungen ist, das freilich ist eine andere Frage; indessen die Zeichen sind leidlich gut. Wenn doch der eine ebenso fest behauptet, ich sei auf Jacobi basiert, wie der andere sagt, auf Schelling, und wenn sich beides nur durch sonderbare Einlegungen und unstatthafte Voraussetzungen nachweisen läßt; wenn ein kundiger Mann ... zu keiner ändern Ahndung von meiner Art zu philosophieren gekommen ist, als daß ich eben nicht ein Gefühl, sondern einen Gedanken zum Grunde legen würde, im übrigen aber würde es ziemlich dasselbe sein wie die Glaubenslehre: so scheint doch hieraus zusammengenommen hervorzugehen, daß von Philosophie und Philosophemen nicht viel muß anzutreffen sein in der Glaubenslehre. Und daran bin ich weit entfernt, etwas ändern zu wollen; vielmehr, wenn ich noch einen Satz fände, der irgend seinem Inhalt nach spekulativ wäre, oder nur mit einigem Recht dafür könnte angesehen werden, so würde ich ihm dieses unhochzeitliche Gewand ausziehen, oder ihn ausstreichen." 9 Zum methodischen Grundsatz der Schleiermacher-Interpretation ist die Unabhängigkeitsthese erhoben worden von Georg Wobbermin in sei9

Die Sendschreiben sind abgedruckt in den Sämtlichen Werken I. Abt., 2. Band, S. 575 — 653. Eine kritische Ausgabe hat 1908 Hermann Mulert veranstaltet (Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus, 2. Quellenheft). — Die Zitierung erfolgt hier nach den Seitenzahlen der Sämtlichen Werke, die auch bei Mulert angegeben sind: SW I, 2, S. 650 f.

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ner Göttinger Akademieabhandlung von 1933 „Methodenfragen der heutigen Schleiermacher-Forschung"10. [15] Wobbermin erklärt es für „methodisch gefordert, das Verständnis des theologischen Hauptwerkes (sc. der Glaubenslehre) primär aus diesem selbst, d. h. also aus seiner eigenen Gedankenführung zu erheben. Die Frage nach dem Verhältnis zu der philosophischen Spekulation Schleiermachers muß zunächst ganz zurückgestellt werden und cura posterior bleiben. Sie darf nicht von vornherein in die Untersuchung eingemengt werden, geschweige denn ihr als Leitmotiv dienen."11 Nicht selten tritt die Unabhängigkeitsthese mit einem eigentümlichen Pathos auf, das darin begründet sein dürfte, daß nur sie sich imstande sieht, für Schleiermacher den Ruhmestitel eines Neubegründers theologischer Autarkie uneingeschränkt festzuhalten. Die Schleiermacher-Panegyrik wird dabei zur Schleiermacher-Apologetik, da sie sich genötigt sieht, eine ganz anders gestimmte Interpretaton abzuweisen, von der ihm der Ruhm der Philosophiefreiheit nachdrücklich bestritten wird. Damit stehen wir bei dem zweiten Typus. Schleiermachers theologische Kritiker haben schon im 19., noch mehr aber im 20. Jahrhundert nahezu regelmäßig den Vorwurf erhoben, daß er die Theologie philosophischen Einflüssen geöffnet, sie von Philosophie abhängig gemacht, ja sie letztlich in Philosophie aufgelöst habe. Häufig gilt dies den Kritikern als der Grundschaden, als dessen Folge dann mannigfache theologische Irrtümer und Irrlehren aufgeführt werden. Varianten dieser Interpretation und dieses Vorwurfs zeichnen sich ab in den Etikettierungen, mit denen Schleiermachers Denken bedacht worden ist und von denen „Gnostizismus", „Platonismus"', „Spinozismus", „Pantheismus", „Identitätsphilosophie" die bekanntesten sein mögen. Auch die kuriose theologische Sprachregelung, die den Begriff „Idealismus" zeitweilig zur Vokabel der Polemik hat werden lassen, kann in diesem Zusammenhang genannt werden. Solche Abhängigkeitsthesen, die in neuerer Zeit vor allem im Wirkungsbereich der dialektischen Theologie das Vorurteil über Schleiermacher bestimmt haben, sind schon von dessen frühesten Kritikern vorge10

11

Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen aus dem Jahre 1933, Philologisch-historische Klasse, S. 30-52. - Ähnliche Überlegungen hatte bereits Otto Ritschi geltend gemacht, vgl. seine „Studien zur Geschichte der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert", Zeitschrift für Theologie und Kirche, 5. Jahrgang (1895), S. 486-529, bes. S. 491 ff. AaO. S. 35.

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tragen worden, und er hat sich in den Sendschreiben an Lücke noch selber mit ihnen auseinandergesetzt. Eine gründliche Ausführung hat die Abhängigkeitsthese in der umfassenden Darstellung erfahren, die der Ritschi-Schüler Wilhelm Bender von Schleiermachers Denken gegeben hat. Sein zweibändiges [16] Werk „Schleiermachers Theologie mit ihren philosophischen Grundlagen dargestellt" (1876/78) macht als solche Grundlage „pantheistische Metaphysik" namhaft (I, S. IV). Der spezifische Leistungsanspruch dieses Interpretationstyps tritt im Unternehmen einer Gesamtdarstellung eindrücklich hervor. Er kann vor allen Einzelargumenten dies für sich in Anspruch nehmen, daß nur er in der Lage sei, Schleiermachers Denken und Werk als Einheit zu begreifen12. Schließlich ist ein dritter Interpretationstyp zu nennen, der einen Mittelweg zu weisen scheint. Er sieht bei Schleiermacher ein — sei es harmonisches, sei es künstliches — Nebeneinander von Theologie und Philosophie. Schleiermacher wird wesentlich als apologetischer Vermittler verstanden 13 . Diese Auffassung läßt mannigfache Variationen zu je nachdem, ob der Vermittlungsversuch als faktisch gelungen oder als 12

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Die Schleiermacherliteratur ist arm an Darstellungen, die das Ganze seines Denkens zu umfassen trachten. Das bedeutendste Unternehmen dieser Art, Wilhelm Diltheys Entwurf einer zugleich genetischen und systematischen Darstellung ist bekanntlich Fragment geblieben. Sein „Leben Schleiermachers" ist in dem von ihm selbst veröffentlichten I. Band (1870; 2. Auflage — vermehrt um Stücke der Fortsetzung aus dem Nachlaß Diltheys — hg. von Hermann Mulert 1922; 3. Auflage — Text der 1. Auflage, jedoch ohne die auch bei Mulert fehlenden „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers" — hg. von Martin Redeker 1970) nach wie vor grundlegend für das Verständnis der Werdegeschichte Schleiermachers trotz mancher Korrekturen, die das von Dilthey gezeichnete Bild seither empfangen hat. Die von ihm hinterlassenen Manuskripte und Manuskriptfragmente zur Darstellung des Schleiermacherschen Systems hat Martin Redeker als II. Band des „Leben Schleiermachers" ediert (2 Halbbände 1966). — Als maßgebende Gesamtdarstellung aus neuerer Zeit sind die beiden großen Schleiermacher-Kapitel im IV. und V. Band von Emanuel Hirschs „Geschichte der neuern evangelischen Theologie (1949/54, 19684) anzusprechen. Auch diese Auffassung findet in den Sendschreiben an Lücke ein Dictum, auf das sie sich berufen kann und das sich häufiger Zitierung erfreut: „Wenn die Reformation, aus deren ersten Anfängen unsere Kirche hervorgegangen ist, nicht das Ziel hat, einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der nach allen Seiten freigelassenen, unabhängig für sich arbeitenden wissenschaftlichen Forschung, so daß jener nicht diese hindert und diese nicht jenen ausschließt: so leistet sie den Bedürfnissen unserer Zeit nicht Genüge, und wir bedürfen noch einer ändern, wie und aus was für Kämpfen sie sich auch gestalten möge. Meine feste Überzeugung aber ist, der Grund zu diesem Vertrag sei schon damals gelegt, und es tue nur not, daß wir zum bestimmteren Bewußtsein der Aufgabe kommen, um sie auch zu lösen" (SW I, 2, S. 617f.).

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gescheitert angesehen wird, [17] ob er als prinzipiell notwendig oder als in sich haltlos beurteilt wird. David Friedrich Strauß hat eine originelle Variante insofern beigesteuert, als er Schleiermacher eines doppelten Verrats bezichtigt hat. Er kennzeichnet ihn zunächst als einen „Überläufer" aus dem Lager der Philosophie in das der Theologie, fügt dann aber hinzu: „Freilich, will man eben dem Manne um dieses Verrates willen zürnen, so muß man ihm wieder gut werden, wenn man bemerkt, daß er nicht bloß die Philosophie an die Theologie, sondern ebenso die Theologie an die Philosophie verraten hat: und gerade diese Zweiseitigkeit und Zweideutigkeit ist das Wesen seiner Stellung in der Geschichte der Theologie, um deren willen sein Wirken von beiden Seiten her nur als ein segensreicher Fluch oder fluchwürdiger Segen erscheinen kann." 14 Auch solche Interpreten Schleiermachers, die — freundlicher urteilend — sein Denken als Synthese oder Syntheseversuch kennzeichnen wollen, halten zumeist doch „Zweiseitigkeit" als Grundcharakter dieses Denkens fest. Eine monographische Ausführung hat diese Sicht in der Arbeit von Felix Flückiger „Philosophie und Theologie bei Schleiermacher" (1947) gefunden, die — Anregungen Karl Barths aufnehmend — sich zum Ziel gesetzt hat, „die relative [18] Selbständigkeit der dogmatischen Grundlagen aufzuweisen, ohne ... indessen die sehr starke Beeinflussung der Dogmatik durch die Philosophie" zu bestreiten (S. 17). Dieser Interpretationstyp hat seine Stärke darin, daß er beanspruchen kann, die Hauptar14

Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt, 2 Bände, 1840/41; II, S. 176 f. - Vgl. ferner seine Abhandlung „Schleiermacher und Daub in ihrer Bedeutung für die Theologie unserer Zeit", zuerst erschienen in den „Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst" (1839), dann wieder abgedruckt in dem Aufsatzsammeiband „Charakteristiken und Kritiken" (1839) 18442, S. 3-212. Diese Abhandlung hat das Urteil über Schleiermacher im 19. Jahrhundert stark beeinflußt. Das Dictum „Schleiermacher ist der Kant der protestantischen Theologie", das dann von Dilthey wiederholt worden ist, findet sich schon hier (S. 205). Es bezieht sich bei Strauß auf die Art der Stellung und Wirkung Schleiermachers; als philosophische „Grundlage" der Schleiermacherschen Theologie macht er hingegen nicht Kantianismus, sondern Spinozismus namhaft. Er fügt hinzu: „Von dem Schreiber dieses wird wohl niemand meinen, daß er durch die Nachweisung einer Spinozischen Grundlage seiner Glaubenslehre Schleiermachern einen religiösen oder moralischen Vorwurf machen wolle; nur das findet er tadelnswert, daß Schleiermacher, statt geradeaus zu gehen, Winkelzüge macht, daß er, wie man wohl Soldaten, die auf der Bühne zu figurieren haben, erst in andere Uniformen steckt, so den philosophischen Truppen, die in seiner Glaubenslehre auftreten, zuvor die Kutte des frommen Gefühls überwirft, die aber, so sorgfältig sie auch gearbeitet ist, doch nicht verhüten kann, daß nicht hin und wieder bei einer rascheren Bewegung der eigentliche Anzug aus ihr herausblicke" (S. 171 f.).

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gumente der beiden anderen Typen — Schleiermachers eigene Unabhängigkeitserklärungen einerseits, Einheit des Gesamtwerks andererseits — gleichermaßen zu berücksichtigen und zur Geltung zu bringen.

IV. Methodische Orientierung Die Konkurrenz der Interpretationen fordert zur Stellungnahme auf. Man könnte allerdings erwägen, ob vielleicht die wahre Lösung des Problems darin bestünde, daß eine eindeutige Stellungnahme gar nicht möglich sei. Die Unterschiedlichkeit der Deutungs- und Beurteilungsmöglichkeiten könnte den Gedanken nahelegen, daß die Frage des Verhältnisses von Theologie und Philosophie bei Schleiermacher selber nicht hinreichend geklärt ist, daß jedenfalls die Texte eine eindeutige Antwort nicht erlauben. Die verschiedenen Interpretationstypen wären dann womöglich anzusehen als Markierungen eines sachbedingten hermeneutischen Spielraums. Diese Erwägung soll nicht zur These befördert werden. Sie vermag uns aber den Hinweis zu liefern, daß die Verstehensbemühung um das Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Schleiermacher ihre Orientierung suchen muß an seiner eigenen Stellung zur Sache, an der Verhältnisbestimmung, die er selbst in seinen Schriften und Entwürfen vollzogen bzw. vorausgesetzt hat. Nur wenn es möglich ist, Schleiermachers eigene Stellungnahme durchsichtig zu erklären, kann zum Widerstreit der Interpreten eindeutig Stellung genommen werden. Als Nebenergebnis einer gelungenen Aufhellung müßte zugleich sichtbar werden, wie die so widersprüchlichen Deutungen und Thesen entstehen konnten. Der allgemeine Rückverweis auf die von Schleiermacher selbst vollzogene Verhältnisbestimmung bedarf der Präzisierung und der Aufgliederung. Es besteht Anlaß zu der Vermutung, daß die Divergenz der Deutekonzepte wesentlich begründet ist in der Vernachlässigung einiger elementarer methodischer Gesichts-[19]punkte und Grundsätze. Es sind drei Punkte, die hier Beachtung fordern und die im Folgenden erläutert werden sollen. Sie betreffen erstens die Unterscheidung von Deutebegriffen und Systembegriffen, zweitens die Unterscheidung von Systematik und faktischer Gestaltung des Schleiermacherschen Gesamtwerkes, drittens die Unterscheidung von systembezogener und nichtsystembezogener Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie bei Schleiermacher selbst.

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1. Die Unterscheidung von Deutebegriffen und Systembegriffen Es war schon eingangs darauf aufmerksam gemacht worden, daß die Erörterung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie in der Versuchung steht, die eigenen Deutebegriffe und Schleiermachers Systembegriffe ineinanderfließen zu lassen. Eine solche Möglichkeit verdient um so mehr Beachtung, als sich mit dem Schema „Theologie und Philosophie" in der Theologie nach Schleiermacher häufig Vorstellungen verbunden haben, die seinem Denken durchaus inkongruent sind. Das ist vor allem dort der Fall, wo Philosophie und Theologie als Glieder einer Konfrontation, wenn nicht gar einer Alternative gedacht werden, wo „Philosophie" als Titel des theologisch „Illegitimen" erscheint. Wird unter solchen Bedingungen nach philosophischen Voraussetzungen der Theologie gefragt, dann hat die Frage von vornherein den Sinn eines Phüosophieverdachtes, sei es daß er vom Ankläger bewiesen, sei es daß er vom Verteidiger widerlegt werden soll. Auch der Verteidiger erkennt das Gewicht der vorgebrachten Anklage an, er bestreitet nur, daß sie zutrifft. Ankläger wie Verteidiger sind sich jedoch darin einig, daß Theologie sich nur um den Preis ihrer Reinheit mit Philosophie verbinden könne, sie sind sich einig im Postulat einer säuberlichen Abgrenzung, das im übrigen seine Näherbestimmung auf unterschiedliche Weise gewinnen kann. Die Abgrenzungsforderung kann sich orientieren an einem Überordnungsverhältnis der Theologie über die Philosophie, wie es für die protestantische Orthodoxie leitend gewesen war und wie es formell auch von der Philosophie und Theologie der deutschen Aufklärung noch vorausgesetzt worden ist. Häufiger ist das Trennungspostulat bestimmt von Konfliktserfahrungen, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von der protestantischen Theologie gemacht worden sind. Wo jedoch der Konfliktfall als der Normalfall im Verhältnis von Theologie und Philosophie [20] angesehen wird, dort zeichnet sich ein Auslegungsschema ab, das zur Erfassung der Schleiermacherschen Konzeption ebenso ungeeignet ist wie jenes Überordnungsschema. Zwar besteht weder Anlaß noch Möglichkeit, derartige „Definitionen" auszuschließen, wohl aber kann und muß als methodische Minimalleistung dies verlangt werden, daß die eigenen Interpretationsbegriffe von den Schleiermacherschen Systembegriffen, die dann bloße Äquivokationen sind, ausdrücklich abgehoben und unterschieden werden. 2. Die Unterscheidung von Systematik und faktischer Gestaltung des Schleiermacherschen Gesamtwerks Schleiermacher ist wie seine großen philosophischen Zeitgenossen geleitet gewesen von der Vorstellung eines Gesamtzusammenhangs des Wis-

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sens und einer allgemeinen Systematik der Wissenschaften, der alle Einzeldisziplinen sich einordnen lassen. Er hat jedoch diese Systematik nicht zusammenhängend dargestellt, er hat kein „System" veröffentlicht, wie das nicht wenige seiner Zeitgenossen getan haben. Seine philosophischen und theologischen Veröffentlichungen und Vorlesungen sind anzusehen als Teile eines Ganzen, das er als solches nicht dargestellt hat. Infolgedessen kann man aus den Teilen seines Werkes leicht den Eindruck gewinnen, daß sie eigentümlich unverbunden nebeneinander stehen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch den Umstand, daß Schleiermacher ein Gegner fester Terminologie gewesen ist. Seine Vorlesungen zeigen, daß er sich in verschiedenen Disziplinen, hin und wieder sogar in verschiedenen Entwürfen innerhalb derselben Disziplin, das begriffliche Instrumentarium jeweils neu gebildet hat. Für die Interpretation entsteht daraus — auch wenn man von den Unvollkommenheiten der Nachlaßeditionen einmal absieht — die Aufgabe einer Rekonstruktionsleistung. Sie muß vor allem den von Schleiermacher vorausgesetzten wissenschaftssystematischen Zusammenhang und die sich daraus ergebenden Zuordnungsverhältnisse rekonstruieren. Sie darf die faktische Gestakung des Schleiermacherschen Gesamtwerks, wie sie in der posthumen Ausgabe der Sämtlichen Werke vorliegt, nicht ohne weiteres für die in allen Teilen konsequente Gestalt seines Denkens nehmen. Die faktische Gestaltung der einzelnen Entwürfe ist weithin bedingt durch die Gegebenheiten und Bedürfnisse der akademischen Lehre. Für die Vorlesungen, die aus dem Nachlaß ediert worden sind, [21] liegt das ohnehin auf der Hand. Es gilt aber auch für die beiden großen theologischen Veröffentlichungen aus der Berliner Zeit. Die „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" gibt im Untertitel ausdrücklich ihre Bestimmung „zum Behuf einleitender Vorlesungen" an. Auch die Glaubenslehre ist, wie ihre formale Gestaltung (Leitsätze und Erläuterungen) deutlich erkennen läßt, aus Vorlesungen hervorgegangen und hat Vorlesungen als Grundlage gedient. Es liegt in der Natur der Sache, daß Vorlesungen bestrebt sind, jeweils in sich ein Ganzes darzubieten, daß in ihnen nur begrenzt auf allgemeine wissenschaftssystematische Zusammenhänge und daß natürlich gar nicht auf andere Vorlesungen eingegangen wird. Immerhin ist es möglich, aus den einleitenden Partien der „Dialektik" und der „Ethik" die von Schleiermacher vorausgesetzte Systematik der Wissenschaften zu erheben und in diesem Rahmen dann auch den Gehalt und das Zuordnungsverhältnis von „Theologie" und „Philosophie" zu bestimmen.

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3. Die Unterscheidung von systembezogener und nicht-systembezogener Erörterung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie Die hier geltend zu machende Unterscheidung läßt sich an das eben Ausgeführte anschließen. Wenn man die Frage stellt, von welchen Texten in Schleiermachers theologischem Opus Auskunft über seine Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie erwartet werden kann, so ist in erster Linie die Veröffentlichung zu nennen, in der er zwar nicht die allgemeine Systematik der Wissenschaften, wohl aber die Systematik der theologischen Wissenschaften ausführlich erörtert hat, also die „Kurze Darstellung des theologischen Studiums". Die hier begegnenden Erörterungen können systembezogen genannt werden, sofern Schleiermacher in ihnen seine eigene Systematik der theologischen Wissenschaften entwickelt; primär von hier aus ist daher die systembezogene Frage nach dem Verhältnis zur Philosophie zu stellen. Etwas anders stellen sich die Dinge dar bei den Ausführungen über Philosophie und Theologie, Philosophie und Dogmatik, die sich in der Glaubenslehre und in den Sendschreiben an Lücke finden. Diese Ausführungen nämlich sind primär nicht auf die eigene Systematik bezogen. Schleiermacher konnte bei den Lesern seiner Glaubenslehre schließlich nicht die Kenntnis seiner eigenen philosophischen Entwürfe voraussetzen, die er nur in Vorlesungen vor-[22]getragen hatte. Infolgedessen sind seine einschlägigen Aussagen anzusehen als allgemeine Bestimmungen und Abgrenzungen, nicht aber als Erläuterungen zu dem spezifischen Verhältnis, das zwischen seinen eigenen philosophischen und theologischen Entwürfen waltet. Die philosophisch-theologischen Bezüge des eigenen Werkes fügen sich zwar den allgemeinen Bestimmungen und Abgrenzungen ein, sie empfangen in ihnen jedoch keine volle Erläuterung. Die hier entfalteten Gesichtspunkte und Grundsätze sollen im Folgenden nun bezogen werden auf die drei Veröffentlichungen Schleiermachers, die seine theologische Wirkung vor allem getragen haben und auf die sich auch die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie vorzugsweise bezieht: die Reden, die Enzyklopädie und die Glaubenslehre.

V. Die Reden „Über die Religion" Theologie oder Philosophie? Schleiermachers berühmte und wirkungsreiche Frühschrift könnte hier unerörtert bleiben, da sie an einer Verhältnisbestimmung von Philoso-

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phie und Theologie kein eigenes Interesse zeigt. Nicht die Schrift selbst, sondern ihre Interpretationsgeschichte ist es, welche dazu nötigt, auch im Blick auf diesen Text die genannte Frage aufzunehmen. Von den Darstellern und Erklärern der Reden ist die Frage gestellt und geradezu als Schlüsselfrage behandelt worden, ob es ein philosophisches oder ein theologisches Konzept sei, das in ihnen entwickelt werde. Charakteristischerweise sind zwei jüngere Monographien zu den Reden — bei im übrigen unterschiedlicher Zielsetzung — beide ausdrücklich dieser Frage verpflichtet. Die Arbeit von Paul Seifert „Die Theologie des jungen Schleiermacher" (1960) deutet bereits durch ihren Titel Voraussetzungen und Absichten einer Interpretation an, die — in Anlehnung an eine schon von Otto Ritschi proklamierte „Ehrenrettung" 15 — um den Nachweis bemüht ist, daß Schleiermacher in den Reden nicht als romantischer Philosoph spreche, sondern als christlicher Prediger, [23] daß er in ihnen nicht eine religionsphilosophische Studie vorgelegt habe, sondern „eine mit philosophischen Mitteln vorgetragene Apologie" des Christentums (S. 15), kurz: daß es sich hier nicht um Philosophie handele, sondern um Theologie. Womöglich noch deutlicher tritt die theologisch-philosophische Alternative hervor in der auf kritische Rezeption zielenden Arbeit von Friedrich Hertel „Das theologische Denken Schleiermachers untersucht an der ersten Auflage seiner Reden ,Über die Religion'" (1965). Hertel gibt als Leitgesichtspunkt seiner Untersuchung ausdrücklich die Frage an, „ob die Theologie Schleiermachers mit Recht Theologie genannt werden kann oder ob der Vorwurf, Schleiermachers Theologie sei im Grunde Philosophie oder Anthropologie, zu Recht besteht" (S. 12). Als „theologischer Ansatz" Schleiermachers wird seine Theorie der Religion gewürdigt. Die Thesen beider Arbeiten können hier nicht ausgeführt und diskutiert werden 16 . Zu beiden ist jedoch grundsätzlich anzumerken, daß die von ihnen vorausgesetzte Deutealternative fragwürdig ist. Das zeigt sich sofort, wenn man einmal Schleiermachers Reden nicht für sich nimmt, sondern sie im Zusammenhang der Debatte betrachtet, in die sie eingreifen, im Zusammenhang also der aufklärerisch-nachaufklärerischen Dis15

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Vgl. seine Schrift „Schleiermachers Stellung zum Christentum in seinen Reden über die Religion: Ein Beitrag zur Ehrenrettung Schleiermachers", 1888; die „Ehrenrettung" resultiert aus der These, die Reden nähmen bewußt einen fremden Standpunkt, nämlich den ihrer gebildet verachtenden Adressaten ein. Vgl. dazu meine Besprechung der beiden Arbeiten in den Zeitschriften „Verkündigung und Forschung. Theologischer Jahresbericht" 1958/59, erschienen 1960/62, S. 155 f. (Seifert) und „Lutherische Monatshefte" 5. Jahrgang (1966), S. 398 f. (Hertel).

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kussion über Offenbarung, Kirche, Christentum, Religion, die bis zum Jahre 1799 bereits eine kleine Bibliothek gefüllt hatte17. Semlers „Über historische, gesellschaftliche und moralische Religion der Christen" (1786), Fichtes „Versuch einer Kritik aller Offenbarung" (1792), Kants „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" (1793), Hegels unveröffentlicht gebliebene Manuskripte, denen ihr Herausgeber Herman Nohl dann den Titel „Theologische Jugendschriften" (1907) gegeben hat — das sind nur die bekanntesten Dokumente aus einer Fülle von thematisch verwandten Veröffentlichungen, von deren Vielzahl jeder Buchkatalog der achtziger und neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts ein eindrückliches Bild zu geben vermag. Als allgemeines Kennzeichen dieser Debatte kann man [24] nun gerade das ansehen, daß in ihr veränderte Bedingungen des christlichen Denkens hervortreten 18 , unter denen die hergebrachten Verhältnisbestimmungen und Kompetenzabgrenzungen von Philosophie und Theologie, von (philosophischer) theologia rationalis und (biblischer) theologia revelata in Frage gestellt werden. Man braucht das Alternativschema von Philosophie oder Theologie nur einmal versuchsweise auf die genannten Dokumente anzuwenden, um seine Unbrauchbarkeit zu erkennen. Schleiermachers Beitrag zu der Debatte hat seine Eigenart jedenfalls nicht darin, daß er als theologischer den philosophischen gegenüberträte19. Zwar kann man als auffälligstes Kennzeichen der in den Reden entwickelten Religionstheorie die scharfe Unterscheidung der Religion von Metaphysik und Moral angeben. Die Intention dieser Unterschei17

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Emanuel Hirsch hat gelegentlich hingewiesen auf „die trotz Wilhelm Dilthey noch nicht überwundne Einseitigkeit der theologischen Schleiermacherforschung ... Schleiermachers Religions- und Glaubenslehre so zu behandeln, als ob eine Sintflut, abgesehn von Kant, alle ändern Dokumente des Denkens der Schleiermacherzeit verschlungen hätte" (Geschichte der neuern evangelischen Theologie IV, S. 411). Dieser Thematik — und ihren gegenwartsrelevanten Aspekten — ist die Arbeit von Trutz Rendtorff „Kirche und Theologie. Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie" (1966) 19702 zugewandt; vgl. v.a. auch das Schleiermacher gewidmete (IV.) Kapitel. Zur Interpretatian der Reden vgl. jetzt auch die detailreiche Arbeit von Erwin H. U. Quapp: „Christus im Leben Schleiermachers. Vom Herrnhuter zum Spinozisten", 1972. Sie behandelt Schleiermachers Werdegeschichte bis 1796, hat als eigentliches Ziel der Darstellung jedoch die „Christologie" der Reden, zu denen sie immer wieder den Bogen schlägt; eine Fortführung der Darstellung bis 1799 hat Vf. angekündigt. Die Kennzeichnung der Reden durch das „Fazit", sie seien „Schleiermachers Religionsphilosophie" (S. 311) läßt nicht ganz deutlich werden, ob sie auf die Theologie-Philosophie-Alternative, die auch in diesem Buche eine Rolle spielt, bezogen ist.

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düng wäre jedoch gründlich mißverstanden, wenn sie mit der von Theologie und Philosophie gleichgesetzt würde. Das zeigt sich schon darin, daß für Schleiermacher der Unterscheidung von Religion und Metaphysik die von Religion und Theologie auf der ganzen Linie korrespondiert. Den „scholastischen und metaphysischen Geist barbarischer und kalter Zeiten" sieht der Redner in den „Systemen der Theologie, diesen Theorien vom Ursprung und Ende der Welt, diesen Analysen von der Natur eines unbegreiflichen Wesens" nicht weniger am Werk als in den „übelzusammengenähten Bruchstücken von Metaphysik und Moral, die man vernünftiges Christentum nennt"(Reden 1. Aufl. S. 25f). Eine Verhältnisbestimmung und Kompetenzabgrenzung von Theologie und Philosophie liegt gänzlich abseits vom Interesse der Reden. Ihr Kennzeichen in dieser Hinsicht ist gerade die Gleichgültigkeit gegenüber hergebrachten Verhältnisbestimmungen, denen sie sich entnommen wissen. [25] Die Frage, ob die Reden ein theologisches oder ein philosophisches Konzept entwickeln, ist also nicht sinnvoll zu beantworten, da jede der beiden möglichen Antworten dann falsch ist, wenn sie als Alternative zu der anderen gedacht wird. Im Blick auf Schleiermachers eigenen späteren Sprachgebrauch kann man natürlich eine Einordnung der Reden vollziehen. Im Rahmen der von ihm entwickelten Wissenschaftssystematik wären sie derjenigen Disziplin zuzuordnen, der er den Namen „Philosophische Theologie" gegeben hat20. Das führt dann in die Thematik des nächsten Abschnitts hinein.

VI. Die „Kurze Darstellung" und ihr Programm der „Philosophischen Theologie" Erst nach seinem Eintritt in die akademische Lehrtätigkeit und in die fachtheologische Arbeit hat Schleiermacher eine Theorie der wissenschaftlichen Bedingungen und Aufgaben der Theologie ausgebildet, in 20

Als Beleg für diese Einordnung können die Verweise auf die Reden angesehen werden, die Schleiermacher in der Einleitung zu seiner Glaubenslehre gegeben hat; sie finden sich in den Partien (§§ 3 u. 10), die wissenschaftssystematisch der „Philosophischen Theologie" angehören. — Vgl. dazu auch Schleiermachers Bemerkung in der Erläuterung zur 2. Rede, die der 3. Auflage des Buches (1821) beigegeben ist: „In meiner Glaubenslehre, deren Einleitung, weil sie die Grundzüge dessen enthält, was nach meiner Ansicht unter Religionsphilosophie eigentlich soll verstanden werden, in mannigfaltigen Berührungen mit diesem Buche steht ..." (Reden, Kritische Ausgabe von G. Ch. Bernhard Pünjer, 1879, S. 141).

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die auch eine Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie eingegangen ist. Diese Theorie der Theologie liegt vor in dem schmalen, jedoch höchst gewichtigen Band, der als Grundlage seiner Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie gedient hat: „Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen" (1811; 2. Auflage, nach deren Paragraphen im Folgenden zitiert wird, 1830). Schleiermachers Enzyklopädie gliedert die Theologie in drei große Teile, denen er die Namen „Philosophische Theologie", „Historische Theologie", „Praktische Theologie" gegeben hat. Die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie findet ihren sachgemäßen Einsatz bei dem Programm einer Philosophischen Theologie, die im übrigen schon durch ihren Namen die Aufmerk-[26]samkeit darauf lenkt, daß sie im Verhältnis zur herkömmlichen Gliederung der theologischen Fächer eine auffällige Neuerung darstellt. Als Aufgabe und Thema der von ihm postulierten neuen Disziplin nennt Schleiermacher eine Theorie des Christentums, die sich darauf richtet, „sowohl das Wesen desselben in seinem Gegensatz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen, als auch das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Tätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen" (§21). Bei dieser Formulierung ist zu beachten, daß der Begriff „Kirche" von Schleiermacher generalisierend gebraucht wird, so also, daß er religiöse Gemeinschaften überhaupt, nicht nur die christliche bezeichnet. Verglichen mit der üblichen Terminologie, deren er selber sich etwa in den Reden bedient hatte, ersetzt „Frömmigkeit" den Begriff „die Religion", während für „Religionen" teils „Glaubensweisen" steht, teils die quasi soziologischen Begriffe „Kirchen" bzw. „fromme Gemeinschaften". Schleiermachers Konzept einer Philosophischen Theologie findet also seine „Grundlagen" (§ 24) in einer vergleichenden „Religionsphilosophie" (§ 23) — das deutet die Wendung „Gegensatz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen" an — sowie in einer anthropologisch-soziologischen Theorie der Religion („Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Tätigkeiten des menschlichen Geistes"). In den Aufgabenbereich der Philosophischen Theologie, der zusammenfassend durch die Formel „Wesen des Christentums" bezeichnet wird (§ 24), bezieht Schleiermacher im übrigen auch eine Theorie des Protestantismus und der Konfessionen mit ein (vgl. §§36, 39, 40). In der näheren Ausführung gliedert er die Philosophische Theologie dann in zwei Teile, zu deren Benennung er die älteren Fächerbezeichnungen „Apologetik" und „Polemik" verwandelnd aufnimmt und deren spezifische Fragestel-

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lungen er auf die Wahrheit (Apologetik) und auf die Reinheit (Polemik) des Christentums und des Protestantismus gerichtet sieht21. [27] Diese Philosophische Theologie hat unverkennbar die Funktion der theologischen Grunddisziplin. Sie ist, wenn man so will, Fundamentaltheologie22. „Alle theologischen Prinzipien (haben) in diesem Teile des Ganzen ihren Ort" (§67 Anm.). In vereinfachender Zuspitzung kann man sagen: Die Philosophische Theologie, die mit ihrer Fassung der Frage nach dem Wesen des Christentums die Bedingungen neuzeitlicher Theologie zur Geltung bringt, tritt an die Stelle der klassischen Prinzipienlehre der protestantischen Dogmatik, die im wesentlichen auf eine Lehre von der Autorität der Heiligen Schrift sich konzentriert hatte. Wenn man die fundierende Bedeutung wahrnimmt, welche diese Disziplin in Schleiermachers Konzept hat, dann wird die Frage um so dringlicher, welchen Sinn das Attribut „philosophisch" in ihrem Namen hat und wie das dabei vorausgesetzte Verhältnis von Philosophie und Theologie zu beschreiben ist. Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir den Rahmen der Betrachtung etwas weiter spannen und zunächst zu erfassen suchen, wie bei Schleiermacher die Theologie überhaupt dem allgemeinen System der 21

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„§ 39. Wie jeder in seiner Kirchengemeinschaft nur ist vermöge seiner Überzeugung von der Wahrheit der sich darin fortpflanzenden Glaubensweise: so muß die erhaltende Richtung der Kirchenleitung auch die Abzweckung haben, diese Überzeugung durch Mitteilung zur Anerkenntnis zu bringen. Hiezu bilden aber die Untersuchungen über das eigentümliche Wesen des Christentums und ebenso des Protestantismus die Grundlage, welche daher den apologetischen Teil der philosophischen Theologie ausmachen, jene der allgemeinen christlichen, diese der besonderen des Protestantismus." „§ 40. Da jeder, nach Maßgabe der Stärke und Klarheit seiner Überzeugung, auch Mißfallen haben muß an den in seiner Gemeinschaft entstandenen krankhaften Abweichungen: so muß die Kirchenleitung, vermöge ihrer intensiv zusammenhaltenden Richtung, zunächst die Abzweckung haben, diese Abweichungen als solche zum Bewußtsein zu bringen. Dies kann nur vermöge richtiger Darstellung von dem Wesen des Christentums und so auch des Protestantismus geschehen, welche daher in dieser Anwendung den polemischen Teil der philosophischen Theologie bilden, jene der allgemeinen, diese der besonderen protestantischen." — Der programmatische Charakter der Ausführungen über die Philosophische Theologie tritt im abschließenden § 68 noch einmal hervor, der zu Apologetik und Polemik, wie Schleiermacher sie verstehen will, lapidar konstatiert: „Beide Disziplinen der philosophischen Theologie sehen ihrer Ausbildung noch entgegen." Unter diesem — die spezifischen Verstehensbedingungen katholischer Theologie signalisierenden — Titel ist sie erörtert bei Robert Stalder: „Grundlinien der Theologie Schleiermachers. I. Zur Fundamentaltheologie", 1969. Vgl. bes. den Abschnitt S. 46 ff. („Philosophische Theologie als Fundamentaltheologie").

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Wissenschaften ein- bzw. zugeordnet ist. Man wird dabei ausgehen müssen von der Beobachtung, daß die „Kurze Darstellung" Wesen und Aufgabe der Theologie nicht thematisch definiert, sondern funktional, nicht durch Nennung besonderer Erkenntnisprinzipien oder eines spezifischen Sachbereichs, sondern durch die Angabe eines funktionalen Bezugs, durch Hinweis auf die Aufgabe, um derentwillen Theologie nötig [28] ist. Die bekannten Grundaussagen der Schleiermacherschen Enzyklopädie lauten: „Die Theologie in dem Sinne, in welchem das Wort hier immer genommen wird, ist eine positive Wissenschaft, deren Teile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christentum" (§ 1). Die hier genannte „Beziehung auf das Christentum1''' erfährt ihre Näherbestimmung in § 5: „Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist."23 Von den Implikationen und Problemen, die sich mit diesem funktionalen Theologiebegriff verbinden, sollen im vorliegenden Zusammenhang nur die Konsequenzen hervorgehoben werden, die sich für die Zuordnung der Theologie zum allgemeinen Zusammenhang der Wissenschaften ergeben. Die wissenschaftliche Organisation der Theologie ist nach Schleiermacher zu begreifen als funktionsbedingte Ausbildung und Zusammenfassung von Disziplinen, deren Gegenstände grundsätzlich auch außerhalb der Theologie wissenschaftlich bearbeitet werden bzw. bearbeitet werden können. Daß die theologische Arbeit, wie sie im Zusammenhang der neuzeitlichen Universitätsgeschichte an den theologischen Fakultäten sich gestaltet hat, thematisch und methodisch in wesentlichem Bezug zu außertheologischen Wissenschaften steht, das erfährt bei Schleiermacher eine prinzipielle Reflexion und eine scharfe Pointierung. Er erklärt ausdrücklich: „Dieselben Kenntnisse, wenn sie ohne Beziehung auf das Kirchenregiment erworben und besessen werden, hören auf, theologische zu sein, und fallen jede der Wissenschaft anheim, der sie ihrem Inhalte 23

Die Ausdrücke „Leitung der christlichen Kirche" und „Kirchenregiment" sind insofern mißverständlich, als sie den weiten und unklerikalen Sinn nicht erkennen lassen, den Schleiermacher mit ihnen verbindet. — Vgl. auch Martin Doerne: „Theologie und Kirchenregiment. Eine Studie zu Schleiermachers praktischer Theologie", Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, 10. Band (1968), S. 360—386.

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nach angehören" (§ 6). Die Theologie findet ihren Platz in der Wissenschaftssystematik also nicht als Einzelwissenschaft neben — oder über — anderen Einzelwissenschaften, sondern sie stellt in spezifischer Auswahl und Begrenzung eine funktionsbedingte Zusammenfassung verschiedener Fächer, gewissermaßen eine universitas in der Universität dar. Zur Erfassung dieses Sach-[29]verhalts verwendet Schleiermacher den Ausdruck „positive Wissenschaft". Seine Schrift „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn" (1808), in der er der neu zu gründenden Berliner Reformuniversität das Programm geschrieben hat, zeigt, daß er neben der Theologie auch die Medizin und die Jurisprudenz als positive Wissenschaften gedeutet hat 24 , als einen „Inbegriff wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben, als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft notwendigen Bestandteil der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur, sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind" („Kurze Darstellung" § l Anmerkung). Damit ergibt sich ein Verständnis der wissenschaftlichen Theologie, das die thematische und methodische Differenzierung zu berücksichtigen vermag, die Resultat und Charakteristikum ihrer neuzeitlichen Geschichte ist und in der sie — in ihren verschiedenen Disziplinen — teilhat an der allgemeinen Entwicklung der Wissenschaften. Die Attribute der drei großen Bereiche der Theologie — philosophisch, historisch, praktisch — markieren diese thematisch methodische Differenzierung. Für das Verständnis des Beiworts „philosophisch" ist damit eine wichtige Einsicht gewonnen. In Schleiermachers Nomenklatur zeichnet sich nämlich ab, daß für ihn das Verhältnis von Philosophie und Theologie nicht die Würde eines Grundthemas hat. Ein spezifisches Verhältnis zur Philosophie hat die Theologie in keinem anderen Sinne als so, wie sie auch ein spezifisches Verhältnis zur Historic und zur Praxistheorie hat. Anders gesagt: die Philosophische Theologie ist in dem Sinne philosophisch, in dem die Historische Theologie historisch und die Praktische Theologie praktisch ist. Seine genauere Bestimmung erfährt der Gehalt des Attributes „philosophisch", wenn man die von Schleiermacher vollzogene Aufgliederung der Theologie auf ihr Verhältnis zu der von ihm vorausgesetzten allgemeinen Wissenschaftssystematik befragt. Die Grundzüge eines Systems der Wissenschaften hat Schleiermacher skizziert in seinen Vorlesungen 24

Sie ist wieder abgedruckt SW III. Abt., 1. Band, S. 535-644. - Vgl. auch die Einleitung zu Schleiermachers Vorlesungen über Praktische Theologie, SW I. Abt., 13. Band, S. 7 ff.

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über Dialektik 25 und über [30] Ethik 26 . Seinem Aufriß 27 liegt als einfachstes Schema die antike Dreigliederung der Philosophie in Dialektik, Physik und Ethik zugrunde. Die Dialektik ist von Schleiermacher konzipiert worden als formale Theorie des Wissens und der Wissenschaft, die für alle realen Wissenschaften fundierende Bedeutung hat. Die realen Wissenschaften ordnen sich in die beiden Hauptbereiche Wissenschaft der Natur (Physik) und Wissenschaft der Vernunft bzw. der Geschichte (Ethik). Die Dreigliederung erweitert sich dann zum Fünferschema dadurch, daß nach der in der Dialektik gegebenen Analyse das Wissen in zwei Grundformen auftritt, als im Begriff wurzelndes, auf das Wesen gehendes spekulatives Wissen und als im Urteil wurzelndes, auf das Dasein sich richtendes empirisches Wissen. So wird im Blick auf die Wissenschaft der Natur dann unterschieden zwischen der spekulativen Physik und der empirischen Naturkunde, im Blick auf die Wissenschaft der Vernunft bzw. der Geschichte zwischen der spekulativen Ethik und der empirischen Geschichtskunde. Für den Bereich der spekulativen und empirischen Naturwissenschaften hat Schleiermacher keine Kompetenz beansprucht. Seine Vorlesungen wie seine Veröffentlichungen behandeln neben der Dialektik nur solche Disziplinen, die auf die Seite der Wissenschaften von der Geschichte gehören. Schließlich ist zu erwähnen, daß in diesem Bereich neben die Unterscheidung von Ethik (verstanden als Theorie des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens) und Geschichtskunde noch zwei weitere Gruppen von wissenschaftlichen Disziplinen treten. Schleiermacher nennt hier 25

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Schleiermachers Manuskripte zur „Dialektik" sind 1839 von L. Jonas ediert worden (Sämtliche Werke III. Abt., Band 4,2). Daneben verdient die Ausgabe Beachtung, die Rudolf Odebrecht 1942 veranstaltet hat und in der versucht ist, aus Vorlesungsnachschriften von 1822 den Text des von Schleiermacher in der Vorlesung Ausgeführten zu rekonstruieren. Alle früheren Ausgaben der Ethik (Schweizer 1835, Twesten 1841, von Kirchmann 1870) sind zwar seit langem überholt durch die von Otto Braun veranstaltete Ausgabe „Entwürfe zu einem System der Sittenlehre" (1913), da nur in ihr alle Manuskripte ediert sind; gleichwohl finden sie gelegentlich noch Benutzer und Zitatoren. Ausführlicher ist Schleiermachers Wissenschaftssystematik erörtert in meiner Arbeit „Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems" (1964), S. 30 ff. — Über die Entwicklung von Schleiermachers Konzeption des Systems der Wissenschaften unterrichtet Hermann Suskind „Der Einfluß Schellings auf die Entwicklung von Schleiermachers System" (1909), über ihre Werdegeschichte bis 1803 die Arbeit von Eilert Herms „Herkunft, Entfaltung und erste Gestak des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher" (1973).

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erstens „kritische Disziplinen", die gewissermaßen zwischen Spekulation und Empirie stehen und die allgemeine Theorie auf das Einzelmaterial der empirischen Geschichtskunde beziehen. [31] Ein Beispiel bietet sein Konzept einer Religionsphilosophie, der er die Aufgabe zuweist, unter Rückgriff auf die im Rahmen der Ethik zu entwickelnde allgemeine Theorie der Religion und der religiösen Gemeinschaft eine strukturelle Vergleichung der geschichtlichen Religionen zu leisten. „Die Gesamtheit aller durch die eigentümliche Verschiedenheit ihrer Basen voneinander gesonderten Kirchengemeinschaften nach ihren Verwandtschaften und Abstufungen als ein geschlossenes, den Begriff erschöpfendes Ganzes darzustellen, wäre das Geschäft eines besonderen Zweiges der wissenschaftlichen Geschichtskunde, welchen man ausschließend mit dem Namen Religionsphilosophie bezeichnen sollte, so wie der Name Rechtsphilosophie vielleicht am besten aufgespart bliebe für eine analoge kritische Disziplin, welche mit Bezug auf den in der Ethik entwickelten allgemeinen Begriff des Staates dasselbe zu leisten hätte für die verschiedenen individuellen Gestaltungen bürgerlicher Vereine."28 Als zweite Gruppe erwähnt Schleiermacher die „technischen Disziplinen" oder „Kunstlehren", die unter Voraussetzung des Spekulativen wie des Empirischen Regeln zur Gestaltung einzelner Bereiche menschlichgeschichtlichen Lebens entwickeln. Als eine solche technische Disziplin, die es nicht mit „Kenntnissen" zu tun hat, sondern mit „Kunstregeln", hat er neben der Pädagogik und der Hermeneutik auch die Praktische Theologie verstanden und konzipiert29. Von dieser allgemeinen Wissenschaftssystematik her fällt nun Licht auf die Gliederung der theologischen Wissenschaften. Man kann geradezu sagen, daß in ihr die allgemeine Systematik in der Weise eines Ausschnitts abgebildet wird. Die Philosophische Theologie stellt sich dabei dar als Zusammenfassung von Elementen der spekulativen Ethik und der kritischen Religionsphilosophie. Sie ist, wie Schleiermacher in der ersten Auflage der „Kurzen Darstellung" sagt, „ihrem innern Wesen nach Kritik und führt ihren Namen nur in einem weitern Sinne, wegen ihrer unmittelbaren Beziehung auf die Hauptsätze der Ethik"30. Diese Notiz 28

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Glaubenslehre § 2,2; vgl. auch „Kurze Darstellung" § 23. Zu dem Ausdruck „Kirchengemeinschaften" vgl. oben S. [26] 175. Vgl. neben den einschlägigen Passagen der „Kurzen Darstellung" (§§25; 257 ff.) auch die Nachlaßausgabe der Vorlesungen „Die praktische Theologie", hg. von Jacob Frerichs, SW I. Abt., 13. Band. Kurze Darstellung 1. Aufl. S. 13, § 12. — Die 2. Auflage notiert zum Begriff „Philosophische Theologie": „Die Benennung rechtfertigt sich teils aus dem Zusammenhang

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läßt er-[32]kennen, daß Schleiermacher unter dem Titel „Philosophie" innerhalb seines eigenen Wissenschaftskonzeptes primär die spekulativen Disziplinen Physik und Ethik mit der Dialektik zusammenfaßt, daß ein weiterer Sprachgebrauch aber auch die „Kritik", also die kritischen Disziplinen mit einbeziehen kann, wie das ja auch an der Begriffsbildung „Religions/?^/7o50p/7/e" deutlich wird. Die Philosophische Theologie trägt also ihren Namen um ihres wissenschaftssystematischen Bezugs zur Ethik und zur Religionsphilosophie willen. In analoger Weise ist die Einordnung der beiden anderen großen Bereiche der Theologie zu verstehen. Die Historische Theologie ist ihrem Inhalt nach ein Teil der allgemeinen Geschichtskunde. Die Praktische Theologie gehört der Gruppe der technischen Disziplinen zu. So zeigt sich, daß für Schleiermacher das Verhältnis der Theologie zur Philosophie nur einen Teilaspekt ihres allgemeinen Verhältnisses zum System der Wissenschaften ausmacht. Daß die Theologie, vor allem in ihrer Grunddisziplin Philosophische Theologie, an philosophischen Fragestellungen teil hat, das jedenfalls steht völlig außer Frage. Daß im übrigen der Philosophischen Theologie nicht etwa eine eigentliche, gewissermaßen eine theologische Theologie gegenübersteht, das bedarf wohl kaum des ausdrücklichen Hinweises. Die durch das Attribut „philosophisch" geleistete Unterscheidung und Abhebung bezieht sich auf die Historische und die Praktische Theologie. Die „eigentliche" Theologie ist gegeben im Ganzen der Theologie, im Zusammenhang ihrer Disziplinen, die zu einem Ganzen zusammengeschlossen werden durch „das Interesse am Christentum" („Kurze Darstellung" § 8).

VII. Dogmatik und Philosophie nach der Glaubenslehre Es ist nun auf das Werk noch einzugehen, das zumeist allein oder doch primär gemeint ist, wenn von der Theologie Schleiermachers gesprochen wird, auf seine große Dogmatik „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt" (1821/22; 2. Auflage, nach deren Paragraphen im Folgenden zitiert wird, 1830/31). Die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie der Aufgabe mit der Ethik, teils aus der Beschaffenheit ihres Inhaltes, indem sie es großenteils mit Begriffsbestimmungen zu tun hat" (§ 24 Anmerkung; vgl. noch § 37).

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findet in der Glaubenslehre ihren vernehmlichen Anhalt einmal an dem eigentümlichen Phänomen von „Lehnsätzen", die Schleiermacher in die Einleitung des Wer-[33]kes eingebracht hat, zum anderen und vor allem an seinen ausdrücklichen Äußerungen über Philosophie und Dogmatik, zu denen die einschlägigen Aussagen in den Sendschreiben an Lücke hinzuzunehmen sind. Wir wenden uns zunächst dem wissenschaftssystematischen Problem zu, das mit den „Lehnsätzen" gegeben ist. Sie finden sich im ersten Teil der umfänglichen, über Begriff und Methode der Dogmatik handelnden Einleitung, und zwar handelt es sich um drei Abschnitte, die — in der zweiten Auflage — die Überschriften tragen: „Zum Begriff der Kirche. Lehnsätze aus der Ethik" (§§3 — 6), „Von den Verschiedenheiten der frommen Gemeinschaften überhaupt. Lehnsätze aus der Religionsphilosophie" (§§7 — 10), „Darstellung des Christentums seinem eigentümlichen Wesen nach. Lehnsätze aus der Apologetik" (§§ 11 —14) 31 . Diese Zwischenüberschriften finden sich erst in der zweiten Auflage; ein sachlicher Wandel gegenüber der ersten liegt jedoch nicht vor32. Da nun Ethik und Religionsphilosophie in Schleiermachers Wissenschaftssystematik als philosophische Disziplinen figurieren, scheint sich für das Phänomen der Lehnsätze die Formel anzubieten, daß in ihnen die Theologie eine philosophische Grundlegung empfange. Eine solche Formulierung wäre jedoch ungenau, ja irreführend. Das zeigt sich schon daran, daß zwar Ethik und Religionsphilosophie Titel aus Schleiermachers philosophischem Fächerkatalog sind, nicht aber Apologetik. Sie wird von der „Kurzen Darstellung" als theologisches Fach vorgestellt, als Teil der Philosophischen Theologie. Da nun aber Ethik und Religionsphilosophie nach Schleiermachers Schematik diejenigen philosophischen Disziplinen sind, auf die sich die Philosophische Theologie bezieht und von denen sie ihren Beinamen hat, ergibt sich für die wissenschaftssystematische Einordnung der Lehnsätze insgesamt, daß sie anzusprechen sind als eine partielle, auf die Bedürfnisse einer Dogmatikeinleitung begrenzte Ausführung des Programms, das die „Kurze Darstellung" 31

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Eine Exegese von §§3 — 14 der Glaubenslehre bietet die Arbeit von Doris Offermann „Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre", 1969. Schleiermachers Begründung für die Neugestaltung der Einleitung nennt die Absicht, den Unterschied zwischen Dogmatik und Einleitung deutlicher zu markieren und den Zusammenhang der von der Einleitung repräsentierten „besonderen theologischen Disziplin mit denjenigen allgemeinen Wissenschaften, an welche sie sich ihrer wissenschaftlichen Form wegen vorzüglich zu halten hat", hervortreten zu lassen. Sendschreiben an Lücke, SW I. Abt., 2. Band, S. 641.

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unter dem Titel Philosophische Theologie [34] entwickelt hatte33. Nicht um eine Fundierung der Theologie in der Philosophie handelt es sich also, sondern um die Fundierung der von Schleiermacher als historischtheologische Disziplin verstandenen Glaubenslehre in der Philosophischen Theologie. Ein Problem eigener Art bieten nun noch die Aussagen sowohl der Glaubenslehre wie der Sendschreiben an Lücke, in denen Schleiermacher nachdrücklich auf der Selbständigkeit der Dogmatik gegenüber der Philosophie, auf der Differenz philosophischer und dogmatischer Sätze beharrt und gegen die „Verwechslung von Philosophie und Dogmatik" (so Glaubenslehre 5 33,3) sich verwahrt. Da sie zum Kernbestand des Zitatenschatzes gehören, der in der Geschichte der Schleiermacher-Kommentierung sich herausgebildet hat, dürften sie eine ausführlichere Erörterung verdienen. In diesem Zusammenhang ist zunächst einer vielzitierten Äußerung zu gedenken, die sich nicht in der Glaubenslehre findet, sondern aus einer Zeit stammt, in der Schleiermacher diese noch gar nicht im Druck veröffentlicht hatte. Sie findet sich in einem Brief Schleiermachers an Friedrich Heinrich Jacobi vom 30. März 181834. Dieser hatte ihm — zur Erläuterung seiner Ansichten — einen Brief zugänglich gemacht, den er seinerseits an Karl Leonhard Reinhold, Philosophieprofessor in Kiel, gerichtet hatte und in dem es unter anderem hieß: „Durchaus ein Heide mit dem Verstande, mit dem ganzen Gemüte ein Christ, schwimme ich zwischen zwei Wassern, die sich mir nicht vereinigen wollen, so daß sie gemeinschaftlich mich trügen — sondern wie das eine mich unaufhörlich hebt, so versenkt zugleich auch unaufhörlich mich das andere."35 An diese Wendung anknüpfend schreibt Schleiermacher: „Sie sind mit dem Verstand ein Heide, mit dem Gefühl ein Christ. Dagegen erwidert meine Dialektik: Heide und Christ sind als solche einander entgegengesetzt auf demselben Gebiet, nämlich dem der Religion. Haben auf dieses Verstand und Gefühl so gleiche Ansprüche, daß [35] sie -" Ob Schleiermacher mit der Einführung seiner quasi privaten Definitionen von Ethik, Religionsphilosophie und Apologetik in den Text der Einleitung der beabsichtigten Abwehr von Mißverständnissen wirklich gedient hat, wird man allerdings — trotz der von ihm beigegebenen Begriffserläuterungen (§ 2,2) — bezweifeln können. 34 „Schleiermacher als Mensch. Sein Wirken. Familien- und Freundesbriefe 1804-1834", hg. von Heinrich Meisner, 1923, S. 272—276. — Undatiert ist der Brief gedruckt in der vierbändigen Briefausgabe „Aus Schleiermachers Leben", hg. von L. Jonas und W. Dilthey, 1858/1863, II, S. 341-345. - Zur Druckgeschichte vgl. Martin Cordes „Der Brief Schleiermachers an Jacobi", ZThK 68, 1971, S. 195-212. 35 Mitgeteilt bei Jonas/Dilthey S. 341.

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sich teilen könnten auf die entgegengesetzten Formen? Die Religiosität ist die Sache des Gefühls; was wir zum Unterschied davon Religion nennen, was aber immer mehr oder weniger Dogmatik ist, das ist nur die durch Reflexion entstandene Dolmetschung des Verstandes über das Gefühl. Wenn Ihr Gefühl christlich ist, kann dann Ihr Verstand heidnisch dolmetschen? Darin kann ich mich nicht finden. Mein Satz dagegen ist also der: Ich bin mit dem Verstande ein Philosoph; denn das ist die unabhängige und ursprüngliche Tätigkeit des Verstandes; und mit dem Gefühl bin ich ein ganz Frommer, und zwar als solcher ein Christ und habe das Heidentum ganz ausgezogen oder vielmehr nie in mir gehabt ... Wenn nun mein christliches Gefühl sich eines göttlichen Geistes in mir bewußt ist, der etwas anders ist als meine Vernunft, so will ich es nie aufgeben, diesen in den tiefsten Tiefen der Natur der menschlichen Seele aufzusuchen; und wenn mein christliches Gefühl sich eines Gottessohnes bewußt wird, der von dem Besten unsereins anders als durch ein „noch Besseres" unterschieden ist, so will ich nie aufhören, die Erzeugung dieses Gottessohnes in den tiefsten Tiefen der Natur aufzusuchen und mir zu sagen, daß ich den ändern Adam wohl eben sobald begreifen werde als den ersten oder die ersten Adams, die ich auch annehmen muß, ohne sie zu begreifen. Dies ist meine Art von Gleichgewicht in den beiden Wassern; sie ist freilich auch nichts anderes als ein wechselweise von dem einen gehoben und von dem anderen versenkt werden. Aber, Lieber! warum wollen wir uns das nicht gefallen lassen? Die Oscillation ist ja die allgemeine Form alles endlichen Daseins, und es ist doch ein unmittelbares Bewußtsein, daß es nur die beiden Brennpunkte meiner eigenen Ellipse sind, aus denen dieses Schwanken hervorgeht, und ich habe in diesem Schweben die ganze Fülle meines irdischen Lebens. Meine Philosophie also und meine Dogmatik sind sehr entschlossen, sich nicht zu widersprechen, aber eben deshalb wollen auch beide niemals fertig sein, und so lange ich denken kann, haben sie immer gegenseitig aneinander gestimmt und sich auch immer mehr angenähert." 36 Aus der Metaphorik dieser Briefstelle ist die Ellipse als Erläuterungsfigur in die Schleiermacher-Literatur eingegangen. Dabei ist freilich zu beachten, daß im Kontext des Briefes das Bild von den beiden Brennpunkten nicht auf das Verhältnis von Philosophie und Theologie bzw. Philosophie und Dogmatik bezogen wird, sondern [36] auf das von Verstand und Gefühl37. Die Dogmatik wird durchaus als Verstandesleistung, 36 17

Meisner S. 273 f.; Jonas/Dilthey S. 341 ff. Vgl. dazu auch eine spätere Stelle des Briefes, an der Schleiermacher noch einmal auf Jacobis Bild zurückkommt: „Es fällt mir eben noch etwas ein, um unsere Differenz zu

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nämlich als „die durch Reflexion entstandene Dolmetschung des Verstandes über das Gefühl" gewürdigt. Über das Verhältnis von Philosophie und Dogmatik, das als solches ja gar nicht Gegenstand der Erörterung ist, kann man dem Brief lediglich die autobiographisch stilisierte Widerspruchsfreiheits- und Annäherungsbekundung entnehmen. Nicht Annäherung jedoch, sondern „Verschiedenheit" und „Sonderung" sind die Stichworte, die dann in den Erklärungen der Glaubenslehre zum Verhältnis von Philosophie und Dogmatik zu dominieren scheinen. Die ausführlichste und wohl charakteristischste Äußerung dieser Art findet sich in einem Zusatz zum § 16, in dem es u. a. heißt: „Die evangelische Kirche insbesondere trägt das einmütige Bewußtsein in sich, daß die ihr eigentümliche Gestaltung der dogmatischen Sätze nicht von irgendeiner philosophischen Form oder Schule abhängt oder überhaupt von einem spekulativen Interesse ausgegangen ist, sondern nur von dem der Befriedigung des unmittelbaren Selbstbewußtseins allein mittelst der echten und unverfälschten Stiftung Christi; sie kann also auch folgerechterweise nur solche Sätze, welche dieselbe Abstammung aufzeigen können, als ihr angehörige dogmatische Sätze aufnehmen. Unsere dogmatische Theologie wird aber nicht eher auf eigenem Grund und Boden ebenso sicher stehen, als die Weltweisheit schon lange auf dem ihrigen, bis die Sonderung beider Arten von Sätzen so vollständig sein wird, daß zum Beispiel eine so wunderliche Frage wie die, ob derselbe Satz in der Philosophie wahr sein könne und in der christlichen Theologie falsch und umgekehrt, deswegen nicht mehr vorkommt, weil ein Satz, so wie er in der einen ist, in der anderen keinen Platz finden kann, sondern wie ähnlich er auch klinge, die Verschiedenheit doch immer vorausgesetzt werden muß." [37] In die gleiche Richtung weisen die einschlägigen Ausführungen Schleiermachers, die sich in seinen Sendschreiben an Lücke finden. Sie empfangen einen besonderen Akzent noch dadurch, daß sie versetzt sind mit Polemik gegen seinen Universitätskollegen Hegel und gegen die — auf Hegels Interpretation des christlichen Dogmas sich berufende — spekulative Theologie, wie sie von seinem Fakultätskollegen Philipp Konrad erläutern, von Ihrem Bilde aus, daß Ihnen sich die beiden Wasser nicht vereinigen wollen. Mir wollen sie sich auch nicht vereinigen; aber Sie wünschen diese Vereinigung und vermissen sie schmerzlich, und ich lasse mir die Trennung gefallen. Verstand und Gefühl bleiben auch mir nebeneinander, aber sie berühren sich und bilden eine galvanische Säule; das innerste Leben des Geistes ist für mich nur in dieser galvanischen Operation, in dem Gefühl vom Verstande und dem Verstand vom Gefühl, wobei aber beide Pole immer voneinander abgekehrt bleiben." Meisner S. 275, Jonas/Dilthey S. 345.

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Marheineke vertreten wurde. Ohne Marheinekes Namen zu nennen, hat Schleiermacher eine ganze Anzahl von förmlichen Zitaten kommentierend in seine Ausführungen aufgenommen. In der folgenden Passage aus dem Zweiten Sendschreiben sind diejenigen Wendungen durch Kursivdruck hervorgehoben, die wörtliche Zitate aus Marheinekes Hauptwerk „Die Grundlehren der christlichen Dogmatik als Wissenschaft" (18272) darstellen. Im Anschluß an eine Auseinandersetzung mit dem theologischen Rationalismus schreibt Schleiermacher über die spekulative Theologie: „Die großartigen Sätze, auf die es uns hier vorzüglich ankommt, daß göttliche und menschliche Natur an sich gar nicht getrennt sind38, daß die göttliche Natur die Wahrheit der menschlichen Natur ist und die menschliche Natur die Wirklichkeit der göttlichen Natur39, verhalten sich zu den Fundamenten jener (sc. der rationalistischen) Behandlungsweise ungefähr wie der philosophische Tiefsinn zu der Sprichwörterklugheit des gemeinsten Lebens; und wenn ich lese, daß in der Person ]esu Christi diese Einheit Gottes mit dem Menschen offenbar und wirklich ist als ein Geschehensein40: so denke ich, das kann ein schöner und wahrer Ausdruck sein für unsern Glauben. Wenn ich dann aber lese, daß diese Wahrheit ihre Gewißheit hat in dem Begriff der Idee Gottes und des Menschen oder im Wissen*1: so lasse ich der Tiefsinnigkeit der Spekulation volle Gerechtigkeit widerfahren, aber ich bleibe immer dabei, daß ich sie nicht anerkennen kann als den Grund der Gewißheit meines Glaubens an jene Wahrheit. So daß, wenn die beiden ersten Sätze in der Tat meine Philosophie darstellten, was ich aber gar nicht etwa gesagt haben will, so wäre der dritte Satz höchstens eine Formel, welche aussagt, wie sich diese Philosophie mit jenem Glauben verträgt. Niemals aber werde ich mich dazu bekennen können, daß mein Glaube an Christum von dem Wissen oder der Philosophie her sei, sei es nun diese oder irgendeine andere."42 Überblickt man [38] diese Trennungs- und Abgrenzungspostulate, so erhebt sich die Frage, ob und wenn ja, wie sie mit dem zu vereinen sind, was im bisherigen Gang der Erörterung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Schleiermacher festgestellt wurde. Die Antwort liegt in einem Doppelten. Einmal ist an die Unterscheidung von systembezogener und nichtsystembezogener Erörterung zu erinnern. Die generellen Aussagen über 38 39 40

41 42

Marheineke §319. AaO. § 320. AaO. S 326. AaO. §328. SW I. Abt., 2. Band, S. 615 f.

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die Philosophie, die „Weltweisheit", die sich in Glaubenslehre und Sendschreiben finden, können nicht als Auskunft über das Spezifische des Philosophie-Theologie-Verhältnisses in Schleiermachers Gesamtwerk angesehen werden. Sie empfangen ihre Farben eher aus der Bezugnahme auf seine philosophische Umwelt als aus der auf seine eigenen philosophischen Entwürfe. Daß er sich in den Sendschreiben gleich mehrfach einen Dilettanten in der Philosophie nennt 43 , gehört in den Zusammenhang solcher distanzierenden Rede- und Erörterungsweise hinein. Zum ändern: Wenn den genannten Äußerungen auch keine Erläuterung über das spezifische Verhältnis von Schleiermachers eigener Philosophie zu seiner Dogmatik zu entnehmen sind, so haben sie doch in jedem Falle die Bedeutung von Rahmenbestimmungen. Überdies fehlt es nicht an der förmlichen Versicherung Schleiermachers, seiner Philosophie „keinen Einfluß auf den Inhalt der Glaubenslehre gestattet zu haben" 44 . Die hier auftauchende Schwierigkeit löst sich, wenn man einen Sachverhalt beachtet, der ganz elementar ist, dessen Vernachlässigung gleichwohl nicht wenige Interpreten auf Irrwege geführt hat. Die zitierten Erklärungen beziehen sich samt und sonders auf das Verhältnis von Philosophie und Dogmatik, nicht auf das Verhältnis von Philosophie und Theologie überhaupt. Für Schleiermacher sind, wie seine Enzyklopädie ja deutlich genug zeigt, Theologie und Dogmatik nicht identisch, auch nicht in dem Sinne, daß etwa die Dogmatik die Sachmitte der Theologie oder die eigentliche Theologie repräsentierte. Die Dogmatische Theologie mit ihren beiden Teilen Glaubenslehre und Sittenlehre wird von der „Kurzen Darstellung" als Teildisziplin vorgestellt und — auffällig genug — der Historischen Theologie zugeordnet, und zwar dem dritten Abschnitt „Die geschichtliche Kenntnis von dem [39] gegenwärtigen Zustande des Christentums" (vgl. §§ 195ff). Diese Einordnung ist von der Schleiermacher-Interpretation oft nicht hinlänglich beachtet oder doch nicht ganz ernst genommen worden. Die von Schleiermacher so grandios ausgeführte Glaubenslehre hat durch ihr sachliches Schwergewicht die Konturen seines Theologieverständnisses, wie es in der Enzyklopädie entwickelt ist, der Aufmerksamkeit entzogen. Sie hat vor allem Dogmatiker in der Neigung bestär43

44

Vgl. neben der oben bei Anm. 9 zitierten Stelle (SW 1. Abt., 2. Band, S. 650) noch S. 594 u. 625. SW I. Abt., 2. Band, S. 650. - „Daß Philosophisches und Dogmatisches nicht vermischt werden dürfen, ist der Grundgedanke der vorliegenden Bearbeitung." Glaubenslehre 1. Aufl., § 2 Anm. b.

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ken können, ihre eigene Disziplin mit dem Ganzen oder doch mit dem Eigentlichen der Theologie zu identifizieren und eine solche Auffassung auch bei Schleiermacher vorauszusetzen. Eine derartige Einschätzung der Dogmatik kann jedoch weder auf die „Kurze Darstellung" noch auf die Glaubenslehre sich stützen. In einem Zusatz zu § 19 der Glaubenslehre, der die Aufgabe dieser Disziplin zusammenfassend bestimmt, erklärt Schleiermacher, nicht mit jenen Theologen zusammenstimmen zu können, „welche die Dogmatik für die ganze christliche Theologie erklären, so daß sie alle anderen theoretischen theologischen Disziplinen, die Schriftauslegung und die Kirchengeschichte, beide im weitesten Umfang und mit allen ihren Zubehörungen gedacht, nur als Hilfswissenschaften von jener ansehen. Denn wenngleich beide für die dogmatische Theologie notwendig sind: so besteht doch nicht ihr ganzer Wert in dem Dienst, den sie dieser leisten, sondern jede von ihnen hat auch ihren eigentümlichen Wert unmittelbar für die Förderung und Leitung der Kirche, welche der letzte Zweck aller christlichen Theologie, mithin auch der dogmatischen ist."45 Die von Schleiermacher geforderte Trennung von Philosophie und Dogmatik kann also nicht gegen die aus der „Kurzen Darstellung" erhobene Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie ins Feld geführt werden. Was es mit der Einordnung der Dogmatik in die Historische Theologie auf sich hat, kann hier nicht ausführlich erörtert werden46. Die zunächst naheliegende Vermutung, daß [40] mit ihr so etwas wie eine „Historisierung" des Fachs proklamiert sei, wird durch die Ausführung, die Schleiermacher seiner eigenen Glaubenslehre gegeben hat, rasch widerlegt. Man wird die Sache eher umgekehrt ansehen und diese Einordnung als Indiz dafür nehmen können, daß Schleiermacher überhaupt die Historische Theologie nicht als historisierende Theologie verstanden hat. Im vorliegenden Zusammenhang kommt es darauf an zu sehen, daß die betonte Unterscheidung von Philosophie und Dogmatik 45

46

Analoge kritische Notizen widmet die Vorlesung über Praktische Theologie 1831 der „Ansicht, welche schon früher sehr weit verbreitet war, hierauf im Hintergrunde stand, jetzt aber wieder auftritt, daß die Dogmatik die eigentliche Theologie sei, alles andere nur Hilfswissenschaft". SW I. Abt., 13. Band, S. 6. — Vgl. ferner den Aufsatz von Carl Clemen „Schleiermachers Vorlesung über theologische Enzyklopädie", der über eine Nachschrift aus dem WS 1831/32 informiert; Theologische Studien und Kritiken 78. Jahrgang, 1905 (S. 226-245), S. 238. Vgl. dazu meinen Aufsatz „Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik", Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 5. Band, 1963, S. 119-131. S. o. S. 99-112.

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mit der Eingliederung der Dogmatik in die Historische Theologie insofern zusammenhängt, als sich darin die allgemeine Unterscheidung von spekulativen und empirischen Wissenschaften abzeichnet. Die Dogmatik ist in Schleiermachers Verständnis als historische eine empirische Disziplin, dem Geschichtlich-Individuellen des Christentums zugewandt, das nicht spekulativ abgeleitet werden kann 47 . Sie hat es zu tun mit der Darstellung und kritischen Erörterung der vorgegebenen, sich geltend machenden christlichen Lehre. Ihre genauere Fassung empfängt die dogmatische Aufgabe in einer Theorie der Eigenart religiöser und dogmatischer Sätze (§§ 15 — 19 der Glaubenslehre), welche die Sprache und Vorstellungswelt der christlichen Lehre als Ausdruck und Darstellung des christlich-frommen Selbstbewußtseins verstehen läßt48. Als „empi[41]rische" Analyse des christlichen Bewußtseins und seiner Darstellung in religiöser Rede und kirchlicher Lehre ist die Dogmatik inhaltlich unabhängig von der „spekulativen" Philosophie, steht sie „auf eigenem Grund und Boden", insistiert sie auf der Differenz philosophischer und dogmatischer Sätze. Diese Unabhängigkeit der Dogmatik von der Philosophie wird im übrigen von Schleiermacher nur in materialer Hinsicht geltend gemacht. In formaler Hinsicht hingegen wird die Dogmatik um des „dialektischen Charakters" ihrer Sprache, um der Klarheit ihrer Begriffe willen ausdrücklich an die Philosophie gewiesen. Im Vergleich mit anderen theologischen Disziplinen, etwa mit Exegese und Kirchengeschichte, gilt, daß 47

48

In diesem Sinne hat Schleiermacher den Begriff des Übervernünftigen aus dem dogmatischen Vokabular verwandelnd aufnehmen und sagen können, alle christlichen Sätze seien übervernünftig „in derselben Beziehung, in der auch alles Erfahrungsmäßige übervernünftig ist, wie es denn auch eine innere Erfahrung ist, auf welche sie alle zurückgehen, nämlich daß sie auf einem Gegebenen beruhen und ohne dieses nicht hätten können durch Ableitung oder Zusammensetzung aus allgemein anerkannten und mitteilbaren Sätzen entstehen ... Daher gehört zu dieser Übervernünftigkeit auch, daß eine wahre Aneignung der christlichen Sätze nicht auf wissenschaftliche Weise erfolgen kann, also ebenfalls außer der Vernunft liegt; sondern sie erfolgt nur, sofern jeder selbst hat wollen die Erfahrung machen, wie ja alles Einzelne und Eigentümliche nur kann durch die anschauenwollende Liebe aufgefaßt werden." Vorher schon: „In demselben Sinn wie das christliche Selbstbewußtsein ist auch die ganze Natur übervernünftig ...". Glaubenslehre § 13 Zusatz. In Schleiermachers berühmte Formel für die Aufgabe der Dogmatik im § 19 der Glaubenslehre („Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre"} ebenso wie in die knappe Formel im § 195 der „Kurzen Darstellung" („Kenntnis der jetzt in der evangelischen Kirche geltenden Lehre") ist das vorausgesetzte Verständnis dogmatischer Sätze und kirchlicher Lehre nicht expressis verbis eingegangen.

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sie „mehr als die ändern, wenngleich immer nur der Form nach von der Weltweisheit abhängt" (Glaubenslehre § 19 Zusatz). Schleiermacher hat in der Einleitung der Glaubenslehre diesem Sachverhalt einen eigenen Paragraphen gewidmet (§ 28). Grenzen für die dogmatische Rezeption philosophischer Begriffe und Konzepte hat er dabei folgendermaßen markiert: „Untauglich aber für die dogmatische Sprache gebraucht zu werden sind zunächst nur solche Ansichten, welche die Begriffe von Gott und Welt auf keine Weise auseinanderhalten, einen Gegensatz zwischen gut und böse nicht zulassen und also auch in dem Menschen nicht bestimmt Geistiges und Sinnliches unterscheiden" (§ 28,1). In der „Kurzen Darstellung" ist die Grenzziehung ähnlich vollzogen: „Das dialektische Element des Lehrbegriffs kann sich an jedes philosophische System anschließen, welches nicht das religiöse Element, entweder überhaupt oder in der besonderen Form, welcher das Christentum zunächst angehören will, durch seine Behauptungen ausschließt oder ableugnet. Daher alle entschieden materialistischen und sensualistischen Systeme, die man aber wohl schwerlich für wahrhaft philosophisch gelten lassen wird — und alle eigentlich atheistischen werden auch diesen Charakter haben — nicht für die dogmatische Behandlung zu brauchen sind" (§ 214). Schleiermacher rechnet also — das wird aus diesen Zitaten deutlich — grundsätzlich mit einer Philosophie, die nicht atheistisch ist. Er erörtert in der Glaubenslehre ausdrücklich die Möglichkeit einer philosophischen Gotteslehre49. Die betonte Abstandnahme [42] der Dogmatik von einer spekulativen Entwicklung des Gottesgedankens impliziert keineswegs die Behauptung von deren Unmöglichkeit. Im Gegenteil, Schleiermacher hat es dem „Wissenden" zur Aufgabe gemacht, sich der „Zusammenstimmung" von Spekulation und Dogmatik zu vergewissern, allerdings die Glaubenslehre von dieser Aufgabe entlastet wissen wollen. „Dieselbigen Glieder der christlichen Gemeinschaft nämlich, durch welche allein die wissenschaftliche Form der Glaubenslehre entsteht und besteht, sind auch die, in denen das spekulative Bewußtsein erwacht ist. Wie nun dieses die höchste objektive Funktion des menschlichen Geistes ist, das fromme Selbstbewußtsein aber die höchste subjektive: so würde ein Widerspruch zwischen beiden das Wesen des Menschen treffen, und ein solcher kann also immer nur ein Mißverständnis sein. Nun ist es ... 49

„Da das rein wissenschaftliche Bestreben, welches die Anschauung des Seins zur Aufgabe hat, wenn es nicht in Nichts zerrinnen soll, ebenfalls mit dem höchsten Wesen entweder anfangen oder enden muß ..." Glaubenslehre § 16 Zusatz; vgl. auch §33 Zusatz.

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freilich nicht genug, daß nur ein solcher Widerspruch nicht sei, sondern für den Wissenden entsteht die Aufgabe, sich der Zusammenstimmung beider positiv bewußt zu werden: allein dies hat die Glaubenslehre um so weniger zu leisten, als von derselben religiösen Stellung aus das Verfahren doch für jede andere Art zu philosophieren, auch ein anderes sein müßte" (§ 28,3). Diese Aussage ist nicht systembezogen, sondern ganz allgemein formuliert, aber sie hat natürlich auch für Schleiermachers eigene Philosophie und Dogmatik Geltung. Man kann sie geradezu als ein Selbstzeugnis ansehen, das den Darlegungen des Briefes an Jacobi zur Seite gestellt werden kann. Daß er selber darauf verzichtet hat, die Zusammenstimmung seiner Dogmatik mit seinen philosophischen Entwürfen zum Gegenstand eigener Darstellung zu machen, mag beklagenswert erscheinen. Immerhin kann seinem Zeugnis eine Interpretationsregel entnommen werden. Auch für die Interpretation der Schleiermacherschen Glaubenslehre gilt, daß sie durch den Anspruch derselben auf inhaltliche Selbständigkeit gegenüber der Philosophie nicht der Aufgabe überhoben wird, sich der Zusammenstimmung von Schleiermachers Dogmatik mit seiner Philosophie, insonderheit mit seiner Dialektik und seiner Ethik ausdrücklich zu vergewissern50. [43]

VIII. Zusammenfassung Die Einsichten, die sich aus unserem Erörterungsgang ergeben haben, können in Anspruch nehmen, als Leitgesichtspunkte für jede Einzelerörterung des Verhältnisses von Philosophischem und Theologischem in Schleiermachers Werk zu dienen. Sie sollen abschließend in vier Punkten noch einmal thetisch zusammengefaßt werden: 1. Die Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie bei Schleiermacher, die vor allem als Frage theologischer SchleiermacherInterpretation aufgetreten ist, vermag nur dann ihrem Gegenstande gerecht zu werden, wenn sie sich nicht mit Konfrontations- und Alternativvorstellungen von Philosophie und Theologie verbindet. 2. Die Bestimmung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie bei Schleiermacher findet ihre Orientierung an der von ihm vorausgesetzten Wissenschaftssystematik. In dieser hat das Verhältnis von Theo50

Aus der älteren Literatur zur Glaubenslehre verdient unter diesem Gesichtspunkt nach wie vor das Buch von Heinrich Scholz „Christentum und Wissenschaft in Schleiermachers Glaubenslehre" (1909, 2. Aufl. 1911) empfehlende Erwähnung.

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logic und Philosophie nicht die Würde des Grundthemas, sondern zeigt sich als Teilaspekt einer umfassenderen Thematik, nämlich des Verhältnisses der theologischen Wissenschaften zum allgemeinen System der Wissenschaften. Die allgemeinste Formel für dieses Verhältnis ist die, daß die Theologie eine funktionsbedingte Zusammenfassung von wissenschaftlichen Disziplinen darstellt, deren Gegenstände auch außerhalb der Theologie wissenschaftlich bearbeitet werden, wenn auch das die Theologie konstituierende „Interesse" — das „Interesse am Christentum" — eine spezifische Ausbildung dieser Disziplinen zur Folge hat. 3. Schleiermacher hat das von ihm vorausgesetzte allgemeine System der Wissenschaften nicht als Ganzes dargestellt, sondern in seinen Vorlesungen nur Teile desselben behandelt. Von seinen posthum edierten philosophischen Vorlesungen haben zwei für die Theologie besondere Bedeutung, die Dialektik und die Ethik. Die Dialektik, verstanden als formale Theorie der Erkenntnis und des Wissens, behandelt Voraussetzungen wie aller Einzelwissenschaften so auch der Theologie. Die Ethik, verstanden als Theorie menschlich-geschichtlichen Lebens, ist die (spekulative) Grundwissenschaft wie für alle Vernunft-, Geisteswissenschaften so auch für die Theologie; auf sie wird sowohl in [44] der Schleiermacherschen Enzyklopädie wie in seiner Glaubenslehre ausdrücklich Bezug genommen. 4. Schleiermachers oft zitierte programmatische Unabhängigkeitserklärungen beziehen sich nicht auf den Gesamtorganismus theologischer Disziplinen, in dem gerade die auf Ethik und Religionsphilosophie rekurrierende Philosophische Theologie die Funktion der Grunddisziplin hat, sondern sie präzisieren sein Programm der Dogmatik: sie markieren die inhaltliche Unabhängigkeit der christlichen Religion und ihrer Darstellung in religiöser Rede und Lehre von spekulativer Begründung, setzen dabei aber die „Zusammenstimmung" von philosophischem Gottesgedanken und dogmatischer Entfaltung des christlichen Gottesglaubens ausdrücklich voraus.

12. Friedrich Schleiermacher (1768 — 1834) [1978]* Als „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts" ist Schleiermacher einst gefeiert, später befehdet worden. Die Theologie des 20. Jahrhunderts hat lange Zeit im Zeichen von Programmen gestanden, die in betonter Abkehr von ihm entworfen worden sind, geradezu als Alternativbildungen zu der von ihm repräsentierten Entwicklung der neuzeitlichen Theologie. Karl Barth, der wichtigste Wortführer jener theologischen Wendebewegung, hat den epochalen Rang seines Werkes gleichwohl souverän bestätigt: „An die Spitze einer Theologie der neuesten Zeit gehört und wird für alle Zeiten gehören der Name Schleiermacher und keiner neben ihm" (Theologie 19522, 379). Seit etwa zwanzig Jahren hat sich eine förmliche Wiederentdeckung Schleiermachers vollzogen, die sein Ansehen als maßgebender Denker des neuzeitlichen Protestantismus neu bekräftigt hat. Über die Epochenbrüche und über die Richtungsgegensätze der neueren Theologiegeschichte hinweg haben seine Einsichten und seine Fragestellungen sich als Orientierung und Wegweisung bewährt. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ist am 21. November 1768 in Breslau geboren. Er stammt aus einer preußischen Pastorenfamilie. Sein Vater war reformierter Feldprediger für Schlesien. Nach Friedrich d. Gr., unter dessen Fahnen er am Siebenjährigen Krieg teilgenommen hatte, gab er dem Sohn den Rufnamen. Beide Großväter sind ebenfalls Pastoren gewesen. Ein Bruder der Mutter, Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, lehrte als Theologieprofessor in Halle. Er war Schleiermachers Taufpate. Später hat er ihn zeitweise in sein Haus aufgenommen und ist sein väterlicher Vertrauter geworden. Seine Eltern hat Schleiermacher zuletzt gesehen, als er vierzehnjährig von ihnen Abschied nahm, um in das Pädagogium Niesky, ein Lehrinstitut der Brüdergemeine, einzutreten. Er hat dort zwei Jahre verbracht, in denen er ganz in herrnhutische Frömmigkeit hineingewachsen ist. 1787 ist er übergewechselt in die Hochschule der Gemeine, in das Seminar zu Barby. Im Einklang mit den Wünschen * Vgl. Bibliographie Nr. 38

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des Vaters, der in reifen Jahren innerlich ein Herrnhuter geworden war, stand ihm als Berufsziel vor Augen, herrnhutischer Lehrer oder Prediger zu werden. Aus der vorgezeichneten Bahn ist er hinausgeworfen worden durch eine Krise [10] seiner religiösen Überzeugungen, die ihm die Aussicht auf ein Amt in der Gemeine versperrte. In einem bewegenden Brief (vom 21.1.1787; Briefe I, 42 ff.) hat er dem Vater seine Zweifel an der kirchlichen Lehre von der Gottheit Christi und vom stellvertretenden Leiden Christi bekannt. Er hat dem Widerstrebenden schließlich die Zustimmung dazu abgerungen, daß er sein Studium an der Universität Halle fortsetzen durfte. Der Bruch mit der Gemeine ist nicht Schleiermachers letztes Wort gewesen. Er ist sich später dessen bewußt gewesen, in ihr Unverlierbares empfangen zu haben. Nach einem Besuch bei seiner älteren Schwester Charlotte, die in die Gemeine eingetreten war, hat er im Jahre 1802 geschrieben: „Ich kann sagen, daß ich nach allem wieder ein Herrnhuter geworden bin, nur von einer höheren Ordnung." (Briefe I, 295) Die Universität Halle, an der Schleiermacher zwei Jahre studiert hat (1787—1789), war ein knappes Jahrhundert zuvor gegründet worden. Sie hatte sich rasch zu einer der führenden deutschen Universitäten und zu einem akademischen Zentrum der Aufklärung entwickelt. In der philosophischen Fakultät hatte Christian Wolff gelehrt, die schlechthin beherrschende Gestalt der deutschen Aufklärungsphilosophie. In der theologischen Fakultät war aus pietistischen Anfängen in allmählichem Übergang die sog. Neologie erwachsen. Ihr führender Vertreter, Johann Salomo Semler, lehrte noch in Halle, als Schleiermacher dort studierte. Dieser scheint allerdings der Hallenser Theologie kaum mehr als pflichtmäßiges Interesse entgegengebracht zu haben. Der akademische Lehrer, von dem er die stärksten Anstöße empfangen hat, ist der Philosoph Johann August Eberhard gewesen. Bei ihm hat er die Philosophie der Griechen studiert, die dann eines seiner Lebensthemen geworden ist. Bei ihm hat er die Auseinandersetzung der durch Wolff geprägten Schulphilosophie mit den kritischen Hauptschriften Immanuel Kants erlebt, die in jenen Jahren in rascher Folge erschienen. Die Beschäftigung mit Kant hat ihn über Jahre begleitet. 1790 hat Schleiermacher als Einundzwanzigjähriger vor dem reformierten Kirchendirektorium in Berlin das erste Examen (pro licentia concionandi) abgelegt, vier Jahre später das zweite (pro ministerio). Beide Male hat er die relativ schwächste Note im Fach Dogmatik erhalten, in dem seine Kenntnis beim ersten Mal als „ziemlich", beim zweiten als „hinlänglich" beurteilt wurde. Predigerseminare gab es damals noch nicht. Der examinierte Theologe mußte zusehen, wie er zurechtkam, bis sich eine Pfarrstelle für ihn fand.

12. Friedrich Schleiermacher (1768-1834) [1978]

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Wie viele andere junge Theologen ist Schleiermacher eine Zeitlang „Hofmeister" (Hauslehrer) gewesen, dann Lehrer, nach dem zweiten Examen „Adjunkt" (Hilfsprediger). Seine aus dieser [11] Zeit erhaltenen Predigten sind von den Ideen der christlichen Aufklärung bestimmt. Einige Themen, die er 1793 in einem Brief an seinen Vater mitgeteilt hat, können als repräsentativ gelten: „Am zweiten Ostertag: über die Pflichten, welche die Gewißheit der Auferstehung uns auferlegt; nach Ostern: über die Geschichte von Thomas, vom vernünftigen Glauben; die wahre Furcht Gottes; eine Kommunionspredigt über die wahre Einigkeit der Christen, Text: Joh. 17, 20—22; ... von der notwendigen Einschränkung der Anhänglichkeit ans irdische Glück, über das Evangelium am zweiten Advent; die durch Christum aufgehobene Unmündigkeit des menschlichen Geschlechts, über die Epistel am Sonntag nach Weihnacht." (Briefe I, 106) Es bedeutete eine folgenreiche Wende in Schleiermachers Biographie, als er 1796 die erste selbständige Pfarrstelle übertragen bekam und — neben einem lutherischen Kollegen — reformierter Prediger an der Berliner Charite wurde. Die Pflichten des Krankenhauspfarramts haben ihm viel freien Raum für private Studien und Unternehmungen gelassen. Er wurde eingeführt in die Geselligkeit der Berliner Salons und gewann Anschluß an die philosophisch-literarische Bewegung der Frühromantik. 1797 kam Friedrich Schlegel nach Berlin, 25 Jahre alt, mit literarischem Ruhm geschmückt. Er wurde Schleiermachers Freund und teilte mit ihm zeitweise die Wohnung. Bei der Feier von Schleiermachers 29. Geburtstag gelang es den Gratulanten, ihm das feierliche Versprechen abzugewinnen, er werde binnen Jahresfrist ein Buch schreiben. Er hat dieses Versprechen, das er zunächst bereute, glanzvoll eingelöst. 1799 erschien — ohne Angabe des Verfassers — die Schrift, die seine berühmteste geworden ist: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern." Im Untertitel ist der geistige Ort des Buches angedeutet. Schleiermacher wendet sich an Leser, die er auf die gemeinsame Voraussetzung der Bildung anspricht. Der Begriff „Bildung" fungiert dabei als Losung desjenigen Einklangs von Kunst, Philosophie und Leben, den zu vertreten das Selbst- und Sendungsbewußtsein des Romantikerkreises ausmachte. Die Frage nach dem Wesen der Religion, ein Hauptthema der philosophisch-theologischen Debatte im späten 18. Jahrhundert, wird im Horizont solcher Bildung neu aufgeworfen, und zwar so, daß ausgegangen wird von der Kritik und der Verachtung, die der Religion widerfährt. In dieser Anknüpfung an die Religionsverachtung hat Schleiermacher

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die Dogmen- und Kirchenkritik der Aufklärung sowohl rezipiert wie überboten. Im Namen der Religion bekräftigt er die Kritik der kirchlichen Orthodoxie, die Verachtung der dogmatischen Sy-[12]steme, nicht minder die Verachtung, die der Empfehlung von Religion als Stütze für Sittlichkeit, Recht und Ordnung gilt. Die staatskirchliche Verfassung der Religion wird (1799!) rundum als „Quelle des Verderbens" bezeichnet: „Hinweg mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat!" (Reden 1. Aufl. 224). Als „übel zusammengenähte Bruchstücke von Metaphysik und Moral" wird die metaphysisch-moralische Religionstheorie der Aufklärung verworfen. „Dieses Gemisch von Meinungen über das höchste Wesen oder die Welt, und von Geboten für ein menschliches Leben (oder gar für zwei) nennt ihr Religion!" (1. Aufl. 44). Das Wesen der Religion ist weder Metaphysik noch Moral, „weder Denken noch Handeln". Die neuen Leitbegriffe, mit denen Schleiermacher in der 2. Rede „Das Wesen der Religion" beschreibt, heißen „Sinn und Geschmack für das Unendliche", „Anschauen des Universums". „Das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns in jedem Augenblick. Jede Form, die es hervorbringt, jedes Wesen, dem es nach der Fülle des Lebens ein abgeschlossenes Dasein gibt, jede Begebenheit, die es aus seinem reichen, immer fruchtbaren Schoß herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf uns; und so alles einzelne als Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion" (1. Aufl. 56). Jede solche Anschauung des Universums ist individuell. Das ist Schleiermachers These gegen das aufklärerische Konzept einer allgemeinen natürlich-vernünftigen Religion. Das ist zugleich das Thema der abschließenden 5. Rede „Über die Religionen", die Kategorien für das Verständnis der geschichtlichen Religionen und damit des Christentums entwickelt. Die fünf Reden, in die das Buch sich gliedert, sind nie gehalten worden. Es handelt sich um eine literarische Stilisierung, die zur Geltung bringen soll, daß die Thematik der Religion ihre sachgemäße Darstellung nicht in theoretischer Abhandlung und Erörterung findet, sondern in persönlichem, autobiographisch gefärbtem Zeugnis, in bekenntnishafter Anrede. Dabei will jedoch beachtet sein, daß diese Stilisierung den theoretischen Anspruch keineswegs ausschließt. Vielmehr macht nicht zuletzt dies das „romantische" Gepräge der Schrift aus, daß sie ihr theoretisches Konzept in den Formen von Rede und Anrede, von Hinweis und Anspielung zur Geltung bringt. Dem entspricht es, daß das Buch auf höchst unterschiedliche Weise gewirkt hat und gelesen werden kann. Nicht wenigen Lesern ist es so etwas wie ein Erbauungsbuch „höherer Ord-

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nung" geworden. Der Erweckungstheologe Claus Harms hat in seiner „Lebensbeschreibung" (1851) geschildert, wie er bei der Lektüre der Reden eine förmliche Bekehrung erfahren [13] hat, „die Geburtsstunde meines höheren Lebens". Das Buch kann andererseits gelesen werden als ein — in Auseinandersetzung mit der repräsentativen Theologie und Philosophie seiner Zeit entwickelter — religionstheoretischer Entwurf, der für die Theologie, aber auch für Religionsphilosophie und Religionswissenschaft den Rang eines klassischen Dokuments gewonnen hat. Im Jahr 1800 hat Schleiermacher die „Monologen" veröffentlicht, wiederum anonym. Der Titel gibt die literarische Form an, die auch hier absichtsvoll gewählt ist: das Büchlein entwirft eine Ethik der Individualität. Im gleichen Jahr ist die Schrift „Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde" erschienen, mit der Schleiermacher dem heftig debattierten Roman des Freundes verteidigend und deutend zur Seite trat. 1802 ist er dem mittlerweile wirrenreichen Kreis der Berliner Freunde entnommen worden durch eine Versetzung nach Stolp in Pommern. In dem Städtchen von damals rund 4000 Einwohnern bildeten die etwa 250 Reformierten seine Gemeinde. In der Zeit des Stolper „Exils" (1802—1804) ist seine erste im engeren Sinne wissenschaftliche Schrift erschienen, die „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" (1803). Ferner hat Schleiermacher damals die ersten Bände seiner Plato-Übersetzung fertiggestellt. Dieses wissenschaftliche Großprojekt, das er ursprünglich zusammen mit Friedrich Schlegel geplant hatte, dann aber allein ausführen mußte, hat ihn über Jahrzehnte beschäftigt (6 Bände; 1804, 1809, 1828). Seine kritischen Einleitungen gelten als Beginn der neueren Platoforschung. Schließlich ist aus dieser Zeit zu erwähnen die Schrift „Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens" (1804). Ihre Beobachtungen und Thesen zum lutherisch-reformierten Verhältnis sowie zum „sogenannten Verfall der Religion" vermögen die Dauerhaftigkeit bestimmter Probleme protestantischer Kirchenreform zu demonstrieren. 1804 ist Schleiermacher — in Abwendung eines Rufs an die Universität Würzburg — als außerordentlicher Professor und reformierter Universitätsprediger nach Halle berufen worden, wo ihm allerdings nur eine Lehrtätigkeit von vier Semestern beschieden war. Nach der preußischen Niederlage von 1806 wurde die Stadt von französischen Truppen besetzt und die Universität geschlossen. Als Halle an das neue Königreich Westfalen fiel, übersiedelte Schleiermacher nach Berlin. In der Hallenser Zeit ist „Die Weihnachtsfeier" erschienen (1806), ein eigentümlicher und hellsichtiger Beitrag zur Christologie. Die Schilderung eines Beisammenseins

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am Weihnachtsabend läßt in Gesprächen, Erzählungen und Reden vor Augen treten, wie der Sinn des Festes von den Beteiligten in [14] unterschiedlicher Weise erfahren und gedeutet wird. Manche Passagen lesen sich wie eine Vorwegnahme von Themen und Positionen, die erst in den christologischen Debatten der Folgezeit hervorgetreten sind. Als Schleiermacher 1807 nach Berlin ging, 38 Jahre alt, war er ohne Amt und ohne feste Einkünfte. Er lebte zunächst als Privatgelehrter in äußerst beengten Verhältnissen. Wie Fichte, der im Winter 1807/08 die „Reden an die deutsche Nation" vorgetragen hat, und wie andere Gelehrte hielt er öffentliche Vorlesungen. 1809 ist er reformierter Prediger an der Dreifaltigkeitskirche geworden, 1810 Professor an der neuen Universität. 1809 hat er geheiratet. Seine um zwei Jahrzehnte jüngere Frau Henriette, geb. v. Mühlenfels war die Witwe eines Pfarrers, Ehrenfried v. Willich, der zu seinem Freundeskreis gehört hatte. Schleiermacher hat in jenen Jahren in naher Verbindung zu den Führern der preußischen Reform gestanden. Er ist zeitweilig an Plänen und Vorbereitungen für eine Erhebung gegen die französische Besatzungsmacht beteiligt gewesen und hat in dieser Angelegenheit mehrere Reisen unternommen. In verschiedenen Ämtern hat er an der Reform des preußischen Schulwesens und der preußischen Kirche mitgewirkt. Er ist ein entschiedener Anwalt der Union von lutherischen und reformierten Gemeinden gewesen, die in Preußen 1817 zum Reformationsjubiläum vollzogen wurde. In den Auseinandersetzungen um eine neue Kirchenverfassung und Gottesdienstordnung hat er der Reform von oben Widerstand geleistet und den Konflikt mit seinem liturgisch engagierten König auch literarisch ausgefochten. In einer seiner kirchenpolitischen Schriften steht der Satz, der dann häufig zitiert worden ist: „Die Reformation geht noch fort." (SW 1/5, 624) Unter den veränderten Bedingungen, die sich nach den Befreiungskriegen einstellten, hat Schleiermacher als politisch verdächtig gegolten. Das Wartburgfest von 1817 und noch mehr die Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue durch den Theologiestudenten Karl Ludwig Sand im Jahre 1819 lösten polizeiliche Untersuchungen aus, denen auch Schleiermacher über Jahre hinweg ausgesetzt gewesen ist. Sein Kollege und Freund Wilhelm Martin Leberecht de Wette ist wegen eines von der Polizei beschlagnahmten Trostbriefs an die Mutter Sands entlassen worden. Bei Schleiermachers Schwager Ernst Moritz Arndt, der seine Halbschwester Nanny geheiratet hatte, und bei seinem Verleger Georg Reimer wurden Haussuchungen durchgeführt und Briefe beschlagnahmt. Wegen einiger Äußerungen in diesen Briefen ist Schleiermacher mehrfach

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auf dem Polizeipräsidium vernommen worden. Seine [15] Predigten sind zeitweise polizeilich überwacht worden. Eine Untersuchungskommission hat damals vorgeschlagen, ihn nach Königsberg zu versetzen und im Falle seiner Weigerung die Dienstentlassung zu verfügen. Die einschlägigen Akten lassen erkennen, daß es der Verschleppungstaktik des Unterrichtsministers Altenstein zu verdanken ist, daß diese Drohung nicht wahrgemacht wurde. Das Doppelamt des Pastors und Universitätsprofessors hat Schleiermacher fünfundzwanzig Jahre lang bis zu seinem Tod innegehabt. Er hat regelmäßig gepredigt und unter seiner Kanzel eine Personalgemeinde aus der ganzen Stadt versammelt. Die von ihm veröffentlichten und die nach seinem Tode herausgegebenen Predigten bilden nach Umfang und Inhalt einen gewichtigen Teil seines Gesamtwerks. In der Ausgabe der Sämtlichen Werke umfassen sie zehn Bände. Unter Schleiermachers Konfirmanden ist Otto von Bismarck gewesen. Schleiermacher hat zu den ersten Lehrern der 1810 eröffneten Berliner Universität gehört, die dann zum Modell für die deutsche Universitätsreform des 19. Jahrhunderts geworden ist. Er ist an den Gründungsvorbereitungen maßgeblich beteiligt gewesen. Sein Beitrag zur damaligen Reformdebatte und zur Theorie der Universität liegt vor in der Schrift „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn" (1808). Seine Lehrwirksamkeit hat dazu beigetragen, der Neugründung Glanz zu verleihen. Er hat in zwei Fakultäten gelehrt. In der Mehrzahl der Semester hat er drei fünfstündige Vorlesungen gehalten, zwei in der theologischen, eine in der philosophischen Fakultät. Die theologische Fakultät zählte anfänglich nur drei Professoren. Neben Schleiermacher, der ihr erster Dekan war, lehrten de Wette sowie der spätere Wortführer des theologischen Hegelianismus Philipp Konrad Marheineke, der auch an der Dreifaltigkeitskirche sein (lutherischer) Kollege war. Fachprofessuren im heute geläufigen Sinn gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht. Schleiermachers Vorlesungen haben sich über alle theologischen Fächer mit Ausnahme des Alten Testaments erstreckt. Den relativ größten Anteil haben — noch vor den systematisch-theologischen die neutestamentlichen Vorlesungen gehabt. Von seinen exegetischen Veröffentlichungen ist vor allem die noch aus der Hallenser Zeit stammende Untersuchung „Über den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos" (1807) zu nennen. Sie hat durch Vergleich mit Sprache und Komposition anderer Paulusbriefe der Einsicht die Bahn bereitet, daß dieser Brief nicht von Paulus geschrieben sein kann.

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Das Recht, an der philosophischen Fakultät zu lehren, hatte Schlei[16]ermacher als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften. Ihrer philosophischen Klasse hat er seit 1810 angehört, seit 1814 ist er ihr Sekretär gewesen. Dieses Recht wahrnehmend hat er — in Konkurrenz mit Fichte, später mit Hegel — eine Lehrtätigkeit von universaler Reichweite entfaltet. Seine Vorlesungen über Geschichte der Philosophie, Dialektik, Philosophische Ethik, Psychologie, Ästhetik, Politik, Erziehungslehre sind nach seinem Tod aus dem Nachlaß herausgegeben worden. Für die Editoren Schleiermachers ergab (und ergibt) sich dabei die Schwierigkeit, daß er sich zumeist nur mit äußerst knappen Notizen auf seine Vorlesungen vorbereitet hat, so daß zur Herstellung eines lesbaren Textes vielfach Nachschriften hinzugenommen werden mußten. Die Ausgaben sind von recht unterschiedlicher Qualität, zum Teil sind sie mit großer Verzögerung erschienen. Eine größere Wirkung ist ihnen versperrt geblieben. Eine Ausnahme bilden die Vorlesungen über Erziehungslehre (hg. v. Platz 1849). Sie haben die neuere Pädagogik stark beeinflußt und Schleiermacher zu einem ihrer Klassiker gemacht. Für die Erfassung der systematischen Zusammenhänge seines Denkens sind vor allem die Vorlesungen über Dialektik (hg. v. Jonas 1839, v. Odebrecht 1942) und über Philosophische Ethik (hg. v. Schweizer 1835, kritische Ausgabe v. Braun 1913) wichtig. Von den theologischen Nachlaßausgaben verdient „Die christliche Sitte" (hg. v. Jonas 1843) besondere Beachtung. Die theologische Wirkung Schleiermachers ist fast ausschließlich von drei Schriften getragen worden. Neben den „Reden" sind es die „Kurze Darstellung" und die Glaubenslehre, die demjenigen Bestand theologischer Literatur zugehören, der Gegenstand von ausgiebiger Bezugnahme, Interpretation und Auseinandersetzung ist. Die „Kurze Darstellung des theologischen Studiums", zuerst 1811 erschienen, 1830 in zweiter neu bearbeiteter Auflage, ist die wissenschaftstheoretische Grundschrift der neueren Theologie geworden. Das schmale Buch trägt seinen Titel zu Recht. Es bietet knappe Leitsätze mit ebenso knappen Anmerkungen. „Zum Behuf einleitender Vorlesungen entworfen", wie der vollständige Titel besagt, hat es als Textgrundlage für Schleiermachers Vorlesung über „Theologische Enzyklopädie" gedient. Eine solche Vorlesung, die einen Überblick über die Theologie im ganzen vermittelte, ist bis in die Anfänge unseres Jahrhunderts hinein Bestandteil des üblichen akademischen Lehrangebots gewesen. Schleiermachers Entwurf ist dadurch charakterisiert, daß er nicht eine inhaltliche Übersicht darbietet, sondern eine sogenannte formale Enzyklopädie, eine Theorie der Theologie also, eine Erörterung ihrer Aufgabe,

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ihres [17] Aufbaus, des Zusammenhangs ihrer Fächer. Schleiermachers Verständnis der als Wissenschaft organisierten Theologie ist zusammengefaßt in den beiden Sätzen: „§ 1. Die Theologie in dem Sinne, in welchem das Wort hier immer genommen wird, ist eine positive Wissenschaft, deren Teile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christentum. — § 5. Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist." (2. Aufl.) Diese Sätze geben der Theologie eine funktionale Definition. Sie verweisen nicht auf ein besonderes theologisches Erkenntnisprinzip, wie das die altprotestantische Orthodoxie in ihrer Lehre vom Schriftprinzip getan hatte, und sie definieren die Theologie nicht durch Nennung eines besonderen Gegenstandsbereichs, wie das in der an den Wortsinn sich anlehnenden Bestimmung als „Lehre von Gott und den göttlichen Dingen" geschah. Schleiermacher überführt die Frage: Was ist Theologie? in die andere: Wozu gibt es Theologie? Er versteht sie als eine „positive" Wissenschaft, die konstituiert wird durch ihren Bezug auf eine gegebene Aufgabe und Praxis. Das Wozu der Theologie, das spezifische Kenntnisse und Regeln sowie deren wissenschaftliche Organisation erfordert, wird von den Begriffen „Leitung der christlichen Kirche" und „Kirchenregiment" angegeben. In ziemlich mißverständlicher Weise, wie man hinzufügen muß. Erst aus späteren Ausführungen erfährt man, daß Schleiermacher dabei keineswegs nur an Aufgaben übergemeindlicher Kirchenleitung denkt, sondern nicht minder an den Dienst des Pfarrers und Lehrers, ja daß er den Begriff der Kirchenleitung ausdehnt bis hin zu der „freien Einwirkung auf das Ganze, welches jedes einzelne Mitglied der Kirche versuchen kann, das sich dazu berufen glaubt" (§312). Die so verstandene Theologie ist weder eine Wissenschaft, die einen Platz über allen anderen Wissenschaften beansprucht, noch steht sie als einzelne Fachwissenschaft neben anderen. Sie stellt sich vielmehr selber als ein Zusammenschluß verschiedener wissenschaftlicher Fächer dar. In funktionsbedingter Ausbildung und Auswahl bilden diese gewissermaßen eine universitas in der Universität. Sie werden zusammengeschlossen durch den Bezug auf die genannte Aufgabe oder, wie Schleiermacher auch sagen kann, durch das „Interesse am Christentum". Es macht den Rang des Schleiermacherschen Entwurfs aus, daß er auf diese Weise die

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[18] thematische und methodische Differenzierung zu erfassen und zu erläutern vermag, die das eigentliche Charakteristikum der neuzeitlichen Entwicklung der Theologie ist. Der Aufriß der theologischen Fächer, den er gibt, stellt dann weniger eine Beschreibung der damaligen Gegebenheiten dar als vielmehr in vielen Punkten ein Programm künftiger Entwicklungen. Davon läßt bereits die Hauptgliederung etwas Sichtbarwerden. Schleiermacher unterscheidet drei große Teile: Philosophische Theologie, Historische Theologie, Praktische Theologie. Ihr Zusammenhang läßt sich am besten erläutern, wenn man bei der Praktischen Theologie einsetzt. Sie hat als Themenfeld die Formen und Regeln desjenigen leitenden Handelns, von dem her die Theologie im ganzen ihre Aufgabe empfängt. Sie bekommt damit im Zusammenhang der theologischen Fächer einen festen Ort. Schleiermacher gilt deswegen als der eigentliche Begründer einer wissenschaftlichen praktischen Theologie. In der 1. Auflage seines Buches hat er, was die Fachvertreter gern und häufig zitiert haben, die Praktische Theologie als „Krone des theologischen Studiums" bezeichnet, zu der sich die Historische als „Körper" und die Philosophische als „Wurzel" verhält. In diesem botanischen Bild, das zunächst einfach den Gang und die Akzente des Studiums bezeichnen soll, ist zugleich ein Fundierungsverhältnis angedeutet. Die Praktische Theologie ist auf die Historische angewiesen, denn als Theorie des leitenden Handelns setzt sie die Kenntnis des zu leitenden Ganzen voraus, das aus seiner Geschichte von seinem Ursprung her begriffen werden muß. Das von diesem Bezug bestimmte Verständnis der Historischen Theologie bringt es mit sich, daß deren Gegenwartsaspekt besonders betont wird. Sie umfaßt in Schleiermachers Aufgliederung neben der — dem Ursprung zugewandten — Exegetischen Theologie und der Kirchengeschichte einen eigenen dritten Komplex „Die geschichtliche Kenntnis von dem gegenwärtigen Zustande des Christentums". In diesem Rahmen hat er — unter dem Titel „Statistik" — der späteren Konfessionskunde das Programm geschrieben. In diesen Rahmen hat er — zum Mißfallen der damaligen und späteren Fachvertreter — die Dogmatik eingeordnet. Die Historische Theologie schließlich ist angewiesen auf Verstehenskategorien, die im Zusammenhang einer Theorie der Religion und einer Wesensbestimmung des Christentums gewonnen werden müssen. Für diese Thematik hat Schleiermacher eine eigene neue Disziplin vorgesehen, der er den Namen „Philosophische Theologie" gegeben hat. Die von der „Kurzen Darstellung" postulierte neue Grunddisziplin hat sich in dieser Form nicht eingebürgert. Schleiermacher selber [19] hat sie

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nicht im Zusammenhang ausgeführt. Eine teilweise Bearbeitung hat er im Rahmen der Einleitung zu seiner Glaubenslehre gegeben. Mit diesem Verfahren kann er als Anfänger einer Entwicklung namhaft gemacht werden, die für die protestantische Dogmatik im 19. und 20. Jahrhundert insgesamt charakteristisch ist. Die Grundfragen neuzeitlicher Theologie, die seine Enzyklopädie einem eigenen Fach hatte zuweisen wollen, sind von der neueren Dogmatik aufgenommen worden im Zusammenhang der dogmatischen Prolegomena, die dabei eine starke Erweiterung, durchgreifende Veränderung und zunehmende Individualisierung erfahren haben. Schleiermachers Glaubenslehre ist 1821/22 in zwei Bänden erschienen unter dem Titel „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt". Die betonte Bezugnahme des Untertitels auf die „evangelische" Kirche signalisiert, daß das Werk als Unionsdogmatik konzipiert ist. Den Kontroversthemen zwischen lutherischer und reformierter Lehre wird die kirchentrennende Bedeutung bestritten. Das Buch ist aus Vorlesungen erwachsen und hat späteren Vorlesungen Schleiermachers als Grundlage gedient. Die Herkunft aus dem Lehrbetrieb kann man an der Gestaltung ablesen. Jeder Paragraph wird eröffnet durch einen Leitsatz, dessen Elemente dann in mehreren, in sich geschlossenen Abschnitten eine ausführliche Erläuterung empfangen. Eine Neuauflage ist erst nach einem knappen Jahrzehnt nötig geworden. Schleiermacher hat die Gelegenheit zu einer gründlichen Überarbeitung genutzt, die allerdings bewirkt hat, daß die zweite Auflage — bei in der Sache unverändertem Gesamtgepräge — in sprachlichstilistischer Hinsicht erheblich schwerer zugänglich ist als die erste. In der Fassung der 2. Auflage von 1830/31, die in die Sämtlichen "Werke einging und mehrere Neudrucke erlebte, ist die Glaubenslehre in der Folgezeit gelesen, studiert und zitiert worden. Die umfängliche Einleitung führt — in Gestalt von „Lehnsätzen" — diejenigen Teile des Programms der „Philosophischen Theologie" aus, die für die Grundlegung der Dogmatik wichtig sind: die Grundbegriffe einer Theorie der Religion und der religiösen Gemeinschaft, ein Schema der Religion und eine Wesensbestimmung des Christentums. Mit dieser Thematik und mit ihrer fundamentalen Rolle hängt es zusammen, daß die Einleitung des Werkes mindestens im gleichen Maße beachtet, debattiert und interpretiert worden ist wie das Ganze der materialen Dogmatik. Die bekannten Formulierungen, mit denen Schleiermacher — in korrigierender Fortbildung der Aussagen der „Reden" — das Wesen [20] der Religion bestimmt, lauten (in der Fassung der 2. Auflage): „Die Fröm-

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migkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins" (§3 Leitsatz). „Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen anderen Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe besagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind" (§ 4 Leitsatz). Schleiermachers Berliner Universitätskollege Hegel hat dieser Wesensbestimmung den unfreundlichen Kommentar gewidmet, danach sei der Hund der beste Christ, denn er trage das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit am stärksten in sich. In dieser Polemik ist, von anderem abgesehen, allerdings verkannt, daß der Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsbewußtseins als Leitbegriff einer allgemeinen Theorie der Religion auftritt, nicht als eine Formel für die Eigenart des christlichen Gottesglaubens. Das Wesen des Christentums wird von Schleiermacher folgendermaßen bestimmt: „Das Christentum ist eine der ideologischen Richtung der Frömmigkeit angehörige monotheistische Glaubensweise, und unterscheidet sich von anderen solchen wesentlich dadurch, daß alles in derselben bezogen wird auf die durch Jesum von Nazareth vollbrachte Erlösung" (2. Aufl. § 11 Leitsatz). Vorausgesetzt ist dabei ein Schema von Stufen und Arten der Religion. Unter den Religionen der höchsten, der monotheistischen Stufe gehört das Christentum dem „teleologischen", d. h. dem ethischen, aktiven Typus zu, im Unterschied zum „ästhetischen" Typus des Schicksalsglaubens. Zentrum des Christentums ist die von Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung, die sich in dem von ihm ausgehenden „Gesamtleben" vollzieht als menschheitserneuernde Befreiung des religiösen Bewußtseins. Es gehört zu den auffälligen Besonderheiten dieser Grundlegung der Dogmatik, daß sie gipfelt in einer förmlichen Vorwegnahme der Christologie. Die Aussagen über das Wesen des Christentums nehmen die Stelle ein, die in der älteren Dogmatik die Lehre von der Autorität der Heiligen Schrift innegehabt hatte. Das zeigt die veränderten Voraussetzungen an, unter denen Schleiermachers Glaubenslehre steht, und es zeichnet die Aufgabe vor, die sie sich in der Darstellung der christlichen Lehre stellt. Ihr Thema sind nicht „credenda", nicht Lehrsätze, die unter Berufung auf die Autorität von Bibel und Bekenntnis Glauben fordern. Vielmehr wird die christliche Lehre verstanden und erörtert als Ausdruck und Darstellung der Erfahrung des Glau-[21]bens, des „christlich-from-

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men Selbstbewußtseins". Als Motto hat Schleiermacher seinem Werk das Anselm-Zitat vorangestellt: „Neque enim quaero intelligere ut credam, sed credo ut intelligam. — Nam qui non crediderit, non experietur, et qui expertus non fuerit, non intelliget." Die Ausführung der Dogmatik ist geprägt durch eine Verbindung von konstruktiver Systematik, die ihre Gesichtspunkte aus der Analyse des christlichen Glaubens gewinnt, mit umfassender Sichtung der dogmatischen Tradition. Bei jedem einzelnen Lehrstück werden die einschlägigen Aussagen der reformatorischen Bekenntnisse und der traditionellen protestantischen Dogmatik erörtert, nicht selten auch patristische und scholastische Äußerungen. Bei jedem Lehrstück wird zugleich die Kritik berücksichtigt, welche die kirchliche Lehre seit der Aufklärung erfahren hatte. So ist gleichsam der Gesamtertrag protestantischer Dogmatik eingegangen in ein Unternehmen der Prüfung, der Interpretation, der Weiterbildung, das dann seinerseits die Dogmatik der Folgezeit auf unabsehbare Weise beeinflußt hat. Schleiermacher ist am 12. Februar 1834 im 66. Lebensjahr an einer Lungenentzündung gestorben. Unmittelbar vor seinem Tod hat er mit seiner Familie das Abendmahl gefeiert. Er ist beigesetzt worden auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde, der im heutigen Berlin-Kreuzberg liegt. An dem Trauerzug haben nach zeitgenössischen Berichten Zehntausende teilgenommen. Schleiermachers Fakultätskollege August Neander, der einst in Halle sein Schüler gewesen war, hat in der Vorlesung die Nachricht von seinem Tod mit den Worten mitgeteilt, es sei der Mann dahingeschieden, von dem man künftig eine neue Epoche in der Theologie datieren werde (überliefert von Friedrich Lücke ThStKr 1834, 750). Emanuel Hirsch, der Geschichtsschreiber der neuzeitlichen Theologie, hat über Schleiermacher geurteilt, er gehöre „zu den wenigen bahnbrechenden christlichen Denkern, denen über Jahrhunderte fortzuwirken bestimmt ist" (Geschichte V, 316). Werke Sämtliche Werke, 3 Abteilungen, 1835-1864. Werke in Auswahl, 4 Bde., 1910-1913, 2. Aufl. 1927-1928, Nachdruck 1967. Kleine Schriften und Predigten, 3 Bde., 1969-1970. Ausgewählte pädagogische Schriften, 2. Aufl. 1964. Reden, Kritische Ausgabe von B. Pünjer, 1879. - Ausgabe der 1. Aufl. von R. Otto (1899), 6. Aufl. 1967.

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- Ausgabe der 1. Aufl. von H.-J. Rothert, 1958. — Ausgabe der 1. Aufl. von C. H. Ratschow (Reclam o.J.). Kurze Darstellung, Kritische Ausgabe von H. Scholz, 1910. Nachdruck 1961 u. ö. Der christliche Glaube, Kritische Ausgabe der 2. Aufl. von M. Redeker, 1960. Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, 4 Bde., 1858 — 1864, Nachdruck 1974. T. N. Tice: Schleiermacher Bibliography, 1966. Darstellungen K. Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (1947), 3. Aufl. 1960. H.-J. Birkner: Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation, 1974 (Lit.). W. Dilthey: Leben Schleiermachers, 1870, neu hg. von M. Redeker, 1970. B. Gerner (Hg.): Schleiermacher, Interpretation und Kritik, 1971 (päd. Lit.). E. Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bde. 4 und 5, 1952-1954, 5. Aufl. 1975. — Schleiermachers Christusglaube, 1968. F. W. Kantzenbach: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (rowohlts monographien), 1968 (Lit.). M. Redeker: Friedrich Schleiermacher, Leben und Werk (Göschen), 1968.

13. Schleiermacher als Ethiker [1980]* Im philosophisch-theologischen Lebenswerk Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768 — 1834) nehmen die Arbeiten zur Ethik einen wichtigen Platz ein. Seine Jugendmanuskripte (von Wilhelm Dilthey 1870 im Anhang zu seiner Schleiermacher-Biographie teilweise veröffentlicht) sind zum großen Teil ethischen Studien gewidmet, insbesondere der Auseinandersetzung mit der Ethik Kants. Auch in den frühen Veröffentlichungen überwiegen die ethischen Themen. Dokumente seiner Teilhabe an der ethischen Debatte und Programmatik der Frühromantik sind — neben Beiträgen zum „Athenäum" — seine Schriften „Monologen" und „Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde" (beide 1800). Als Manifest einer Ethik der Individualität haben die „Monologen" eine breite Wirkung erlangt. An Kant und Fichte anknüpfend, stellen sie deren Pflichtethik überbietend entgegen, „was jezt meine höchste Anschauung ist: daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll". Die „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" (1803) sind die erste im engeren Sinne wissenschaftliche Schrift Schleiermachers, eine Analyse der ethischen Systeme seit der Antike. In seinen Vorlesungen in Halle (1804-1806) und in Berlin (1810-1834) hat er dann — in auffälliger Doppelung — sowohl die philosophische wie die theologische Ethik regelmäßig behandelt. Grundbegriffe und Teilaspekte der philosophischen Ethik (vor allem Begriff der Tugend, der Pflicht, des höchsten Gutes; Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz) sind von ihm in Abhandlungen der Berliner Akademie dargelegt worden (abgedruckt SW III/2). Sein System der Ethik ist erst durch die posthum veröffentlichten Vorlesungsmanuskripte bekannt geworden (in Auswahl hrsg. von Alexander Schweizer 1835 und von August Twesten 1841, vollständig von Otto Braun 1913). Die Aufgabe der Ethik hat Schleiermacher als die einer „Wissenschaft von den Prinzipien der Geschichte" bestimmt, welche die Strukturen und Formen menschlich-gesellschaftliVgl. Bibliographie Nr. 42

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chen Lebens behandelt. In Schleiermachers Wissenschaftssystematik hat daher die Ethik die Stellung einer Grundwissenschaft. Hinsichtlich der Theologie wird diese Rolle u. a. dadurch demonstriert, daß in der 2. Aufl. seiner Dogmatik „Der christliche Glaube" (1830/31) die einleitenden Ausführungen über „Frömmigkeit" und „Kirche" unter die Überschrift „Lehnsätze aus der Ethik" gestellt sind. Schleiermachers theologische Vorlesungen über christliche Sittenlehre (Die christliche Sitte, posthum hrsg. von Ludwig Jonas 1843) haben als Thema das christliche Leben, dessen Beschreibung zu einer förmlichen Theologie der Kultur gestaltet ist. Von Schleiermachers zahlreichen Predigten mit ethischer Thematik sind die „Über den christlichen Hausstand" (1820) am bekanntesten geworden. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers, 1870 (darin: Denkmale zur inneren Entwicklung) — Albert Reble, Schleiermachers Kulturphilosophie, 1935 — Hans-Joachim Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre, 1964 (Lit.).

14. Einleitung zu Schleiermachers „Brouillon zur Ethik (1805/06)" [1981]* 1. Schleiermachers Schriften zur Ethik Im philosophisch-theologischen Lebenswerk Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768 — 1834) nehmen die zahlreichen Schriften zur Ethik in biographischer wie in systematischer Hinsicht einen bedeutsamen Platz ein. Die Ethik ist das Feld seiner ersten wissenschaftlichen Arbeiten gewesen. Die Aufzeichnungen aus der Studenten-, Kandidatenund Hilfspredigerzeit (1787—1796), die fast ausschließlich philosophischen Texten und Themen gewidmet sind, lassen erkennen, daß frühe literarische Vorhaben sich zunächst aus der Beschäftigung mit der aristotelischen Ethik ergeben haben, dann vor allem aus der Auseinandersetzung mit der Ethik Kants. Damals entstandene Aufsätze über das höchste Gut, über die Freiheit, über den Wert des Lebens sind erst Jahrzehnte nach Schleiermachers Tod — und auch dann nur teilweise — bekannt geworden: Wilhelm Dilthey hat sie (zusammen mit anderen Aufzeichnungen) im Anhang zu seiner großen Biographie „Leben Schleiermachers" (1870) unter dem Titel „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers" beschrieben und auszugsweise abgedruckt. 1 Die ersten Veröffentlichungen Schleiermachers stammen aus der Zeit seiner Tätigkeit als Krankenhauspfarrer an der Berliner Charite (1796—1802) und seiner Zugehörigkeit zum Berliner Romantikerkreis. Vgl. Bibliographie Nr. 43 Die der „Einleitung" beigegebene „Auswahl-Bibliographie" (XXIX—XXXIV) ist nur mit den ersten vier Abschnitten abgedruckt, auf die auch in der „Einleitung" Bezug genommen wird, nicht hingegen mit dem 5. Abschnitt (Schriften über Schleiermachers Ethik). In der 2. Auflage des Werks, hg. 1922 von Hermann Mulert, und in der 3. Auflage, hg. 1970 von Martin Redeker, ist dieser Anhang nicht enthalten. — Eine Edition sämtlicher Jugendmanuskripte, hg. von Günter Meckenstock, erscheint in der Kritischen Gesamtausgabe.

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Auch in ihnen ist das Schwergewicht der ethischen Thematik unverkennbar. Im Jahre 1800 hat er anonym die Schrift „Monologen" erscheinen lassen, das Manifest einer Ethik der Individualität. Der Titel gibt die absichtsvoll gewählte literarische Form an. Nicht als theoretische Abhandlung tritt diese Individualitätsethik auf, sondern als individuelles Zeugnis und Bekenntnis. An Kant und Fichte anknüpfend, stellt sie deren Pflichtethik [VIII] überbietend entgegen: „So ist mir aufgegangen, was jetzt meine höchste Anschauung ist; es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit alles, was aus ihrem Schöße hervorgehen kann." (1. Auflage 40 f). Beiträge zur ethischen Programmatik und zur ethischen Debatte der frühen Romantik enthalten auch die Fragmente und die Rezensionen, die Schleiermacher der Zeitschrift „Athenäum" (1798-1800) beigesteuert hat. Vor allem die 1798 veröffentlichte „Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen" ist weithin bekannt geworden. Fast unbekannt ist der „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" geblieben, den Schleiermacher 1799 — wiederum anonym — im „Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks" veröffentlicht hat. Diesen Aufsatz, der ohne die damals angekündigte Fortsetzung geblieben ist, hat erst Herman Nohl im Jahre 1911 als Schrift Schleiermachers wiederentdeckt. Schließlich ist in diesem Zusammenhang die ebenfalls anonym gedruckte Schrift „Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde" (1800) zu erwähnen, mit der Schleiermacher dem umstrittenen Roman des Freundes verteidigend und deutend zur Seite getreten ist. Das erste Buch Schleiermachers, das im engeren Sinne wissenschaftlichen Charakter hat, ist wiederum dem ethischen Themenfeld gewidmet gewesen. Als Gemeindepfarrer in der pommerschen Kleinstadt Stolp hat er die „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" (1803) veröffentlicht, eine Analyse der ethischen Theorien und Systeme von der Antike bis zu Kant und Fichte unter dem Gesichtspunkt ihrer wissenschaftlichen Form und ihres thematischen Bestandes. Diese kritische Sichtung ist Ausgangspunkt und Grundlage seines eigenen Entwurfs der Ethik geworden, den er in seinen Hallenser und Berliner Vorlesungen vorgetragen hat. Auf diese Vorlesungen und [IX] auf die Manuskripte zum System der Ethik wird in einem eigenen Abschnitt einzugehen sein. Im Blick auf Schleiermachers akademische Lehrtätigkeit ist noch der auffällige Sachverhalt zu notieren, daß er die Ethik zwiefach vorgetragen hat. Neben den Vorlesungen über philosophische Ethik hat er im Rahmen

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seines theologischen Lehrprogramms ein eigenes Kolleg über christliche Sittenlehre gehalten, die er als Beschreibung des christlichen Lebens konzipiert hat. Ethische Themen hat er auch in zahlreichen Predigten behandelt, von denen vor allem die „Über den christlichen Hausstand" (1820) bekannt geworden sind. Schleiermacher hat lange Zeit die Absicht gehabt, sowohl seine philosophische wie seine theologische Ethik im Druck zu veröffentlichen. Beide Pläne sind nicht zur Ausführung gelangt. Die theologische Ethik ist neun Jahre nach seinem Tode in einer Nachlaßausgabe veröffentlicht worden, die Ludwig Jonas aus Manuskripten und Nachschriften gestaltet hat: „Die christliche Sitte" (1843)2. Schleiermachers philosophische Ethik ist zu seinen Lebzeiten zumindest in ihren Hauptzügen bekanntgeworden durch eine Reihe von Abhandlungen über Grundfragen und Grundbegriffe der Ethik, die er in der Berliner Akademie der Wissenschaften vorgetragen und in deren Jahrbüchern veröffentlicht hat: „Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs" (1819, gedruckt 1820), „Über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs" (1824, gedruckt 1826), „Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz" (1825, gedruckt 1828), „Über den Begriff des Erlaubten" (1826, gedruckt 1829), „Über den Begriff des höchsten Gutes" (1. Abhandlung 1827, 2. Abhandlung 1830, beide gedruckt 1832). Weitere Akademie-Abhandlungen, die z. T. erst aus dem Nachlaß veröffentlicht worden sind, haben ethisch-politische Themen behandelt: die Staatsformen (1814, gedruckt 1818), den Beruf des Staates zur Erziehung (1814, gedruckt 1835), die Auswanderungsverbote (1817, gedruckt 1819), die Staatsverteidigung (1820, ge-[X]druckt 1835). Beiträge zur politischen Ethik enthalten auch die „Reden bei besonderen Veranlassungen", die Schleiermacher in der Akademie anläßlich von Geburtstagen des regierenden Königs und von Geburtstagen Friedrichs d. Gr. gehalten hat. Einen eigenen wichtigen Aspekt seiner wissenschaftlichen Arbeit repräsentieren schließlich die historisch-philologischen Abhandlungen zur aristotelischen Ethik. 3 2

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Die Ausgabe stützt sich in der Hauptsache auf Nachschriften der Vorlesungen von 1822/23; als „Beilage" teilt sie sämtliche Manuskripte Schleiermachers mit. — Von Manuskripten und Nachschriften des WS 1826/27 hat Hermann Peiter eine Edition veranstaltet, die nur in Vervielfältigung vorliegt: „Das christliche Leben nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt". „Über die griechischen Scholien zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles" (1816, gedruckt 1819); „Über die Echtheit der aristotelischen Ethiken" (1816, ungedruckt); „Über die ethischen Werke des Aristoteles" (1. Abhandlung 1817, gedruckt 1835; 2. Abhandlung 1818, ungedruckt); „Einiges über die Scholien zur Nikomachischen Ethik"

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

Schleiermacher ist im Blick auf seine philosophische Ethik der Zuversicht gewesen, „jeder werde sie sich mit Hilfe der Grundlinien und aus anderem, was bereits öffentlich vorliege, selbst zu machen imstande sein". Alexander Schweizer, der diese Äußerung 1835 im Vorwort zu seiner Nachlaßausgabe mitteilt (SW III/5, IX), fügt hinzu, er halte es „für unmöglich, daß jemand aus dem schon Gedruckten Schleiermachers Ethik sich selbst machen könnte; ein berühmter Gelehrter sagte noch vor wenig Jahren, als doch alles Ethische von Schleiermacher bis auf das hier Gegebene schon gedruckt war, er beneide mich, dessen Vorlesungen hören zu können, denn ihm sei es ein Rätsel, wie der Mann, welcher durch seine Kritik jede Konstruktion der Ethik vernichtet zu haben scheine, noch imstande sei, eine solche positiv aufzubauen" (aaO X). Man wird zudem vermuten müssen, daß die Veröffentlichungen in den Jahrbüchern der Akademie nur eine Öffentlichkeit sehr begrenzter Art erreicht haben dürften. Faktisch sind es erst die Nachlaßausgaben der Manuskripte zum System gewesen, die Schleiermachers Verständnis der Ethik, die auch die fundierende Rolle dieser Disziplin in seiner Wissenschaftssystematik deutlich vor Augen gestellt haben. Seine in mehrfachem Neuansatz ausgearbeiteten Entwürfe gliedern sich in vier große Teile. Die — zunehmend ausgeweitete — „Einleitung" behandelt die Stellung der Ethik im System der Wissenschaften und erörtert ihre Gestaltung. Mit den dann folgenden drei großen Teilen „Güterlehre" bzw. „Lehre vom höchsten Gut", „Tugendlehre" und „Pflichtenlehre" nimmt Schleiermacher die Formen [XI] auf, in denen die Ethik geschichtlich behandelt worden ist. Er versteht sie als einander in der Weise ergänzend, daß in jeder das Ganze in jeweils anderer Hinsicht dargestellt wird. Thema der Pflichtenlehre sind die sittlichen Handlungsweisen, Thema der Tugendlehre die Kraft des sittlichen Handelns, Thema der Güterlehre die Hervorbringungen des sittlichen Handelns. In dieser Zuordnung stellt sich die Güterlehre als die Grund- und Hauptform dar. Das Unzulängliche der Nebenformen Tugend- und Pflichtenlehre erblickt Schleiermacher darin, daß in ihnen nur der Einzelne als Subjekt des Handelns erfaßt wird und daß das Handeln getrennt wird von dem daraus hervorgehenden Werk. Seine eigene Ethik hat so in der Güterlehre ihre charakteristische Fassung gefunden. Die Güterlehre ist konzipiert als Beschreibung der Gesamtheit dessen, was durch das sittliche Handeln, durch das Handeln der (menschlichen) Vernunft auf die (irdische) (1818, ungedruckt). Die ungedruckt gebliebenen Abhandlungen sind nach dem von Ludwig Jonas mitgeteilten Verzeichnis aufgeführt (SW HI/3, XIII-XVI).

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Natur, hervorgebracht wird. Sie ist, wie Schleiermacher mit einer signifikanten Formel sagt, „Wissenschaft von den Prinzipien der Geschichte", welche die Strukturen und Formen menschlich-geschichtlichen Lebens zum Thema hat. In der Literatur hat sie infolgedessen auch unter Titeln wie „Kulturphilosophie" oder „Sozialphilosophie" verhandelt werden können. In Schleiermachers "Wissenschaftssystematik figuriert die so verstandene „Ethik" als Grundwissenschaft für alle Disziplinen, die es mit dem menschlich-geschichtlichen Leben zu tun haben. Hinsichtlich der Theologie wird diese ihre Rolle u. a. dadurch demonstriert, daß Schleiermacher in der 2. Auflage seiner Dogmatik („Der christliche Glaube", 1830/31) die grundlegenden Ausführungen über Religion („Frömmigkeit") und über religiöse Gemeinschaft („Kirche") unter die Überschrift „Lehnsätze aus der Ethik" gestellt hat. Von den philosophischen Disziplinen, die er in Vorlesungen und Akademievorträgen behandelt hat, stehen vor allem die Lehre vom Staat und die Erziehungslehre mit der Ethik in engem Zusammenhang. [XII]

2. Die Nachlaßausgaben des Systems der Ethik Von Schleiermachers Manuskripten zur philosophischen Ethik liegen fünf Ausgaben vor, von denen zwei allerdings den Text früherer Ausgaben wiedergeben. Im Rahmen der nach seinem Tod erschienenen Sämtlichen Werke (1834—1864) ist der „Entwurf eines Systems der Sittenlehre" (als 5. Band der III. Abteilung) bereits 1835 von seinem Schüler Alexander Schweizer herausgegeben worden. In der singularischen Fassung des Titels, die angesichts der Mehrzahl der Entwürfe mißverständlich ist, deutet sich die Gestaltung dieser Ausgabe an: Schweizer hat eine Kompilation aus verschiedenen Manuskripten veranstaltet und diesen Text mit einer eigenen durchlaufenden Zählung versehen. Er hat dabei diejenigen Entwürfe zugrunde gelegt, die er als die jüngsten angesehen hat, und ergänzende Passagen aus anderen Manuskripten, ferner Auszüge aus seiner eigenen Vorlesungsnachschrift von 1832 sowie aus drei anderen Nachschriften hinzugefügt. Die verschiedenen Manuskripte sind durch Buchstaben kenntlich gemacht, welche die von Schweizer angenommene Entstehungszeit angeben (a: „um 1827"; c: „ungefähr 1812"; b: „zwischen a und c"). Die summarischen Datierungen sind nur teilweise zutreffend. Der Text dieser Ausgabe hat (ohne die Einleitung Schweizers) 35 Jahre später noch einmal einen Neudruck erfahren: „Friedrich Schleierma-

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cher's Philosophische Sittenlehre, herausgegeben und erläutert von J. H. v. Kirchmann", 1870 (Philosophische Bibliothek Bd. 24). Als eigene Zutat hat der neue Herausgeber umfängliche Anmerkungen beigesteuert, die allerdings weniger der Erläuterung als der Ausbreitung von kritischen Kommentaren gewidmet sind. Neben das von Schweizer gebotene Konglomerat hatte August Twesten, Schüler Schleiermachers und sein Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl, bereits 1841 eine Ausgabe gestellt, die sich auf eine Auswahl der wichtigsten Manuskrip-[XIII]te beschränkte: „F. Schleiermachers Grundriß der philosophischen Ethik". Als Haupttext enthält sie die das Ganze der Ethik umfassenden beiden Manuskripte aus dem WS 1812/ 13, deren Zusammengehörigkeit von Schweizer verkannt worden war. Drei Manuskripte aus späteren Jahren, die nur Teile des Systems behandeln, sind ergänzend mitgeteilt: am Anfang die letzte Fassung der Einleitung und die letzte Fassung des ersten Teils der Güterlehre, am Schluß die letzte Fassung der Pflichtenlehre. Von diesen letzten Entwürfen, die im Manuskript die Form von Leitsätzen mit knappen Erläuterungen haben, hat Twesten zumeist nur die Leitsätze abgedruckt. Um der Ergänzungen am Anfang und am Schluß willen hat er im übrigen die inhaltlich entsprechenden Teile des Haupttextes von 1812/13 herausgelöst und sie in einem Anhang mitgeteilt. Die ausführliche „Vorrede" Twestens (100 S.) ist nach Umfang und Inhalt als eine kleine Monographie zu Schleiermachers Ethik anzusprechen. Sie enthält u. a. eine Revision und Korrektur der von Schweizer angegebenen Datierungen. Ein Neudruck dieser Ausgabe ist (ohne die Vorrede Twestens) 1911 von Friedrich Michael Schiele veranstaltet worden: „F. Schleiermachers Grundriß der philosophischen Ethik (Grundlinien der Sittenlehre)". (Der unter der Nummer 85 in der Philosophischen Bibliothek erschienene Band löste in dieser den v. Kirchmannschen Neudruck der Schweizerschen Ausgabe ab.) Schiele hat die Anordnung der Manuskripte geändert: Er hat den Entwurf von 1812/13 im Zusammenhang abgedruckt und ihn durch die späteren Entwürfe umrahmt. Im Jahr 1913 hat Otto Braun zum ersten Mal eine vollständige Edition der vorhandenen Manuskripte vorgelegt: „Entwürfe zu einem System der Sittenlehre". In der Datierung der Manuskripte hat er sich Twesten angeschlossen. Er hat auch die zahlreichen Marginalien abgedruckt, die sich in den Manuskripten finden, und auch bei ihnen eine Datierung versucht. An den Anfang seiner Ausgabe hat er [XIV] Auszüge „Aus Schleiermachers Tagebuch" gestellt, die aufgrund der Veröffentlichung im Anhang zu Diltheys „Leben Schleiermachers" (1870) wiedergegeben

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sind. Ferner hat Herman Nohl im Rahmen dieser Ausgabe den von ihm wiederentdeckten „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" ediert. Die Braunsche Ausgabe ist als 2. Band der von ihm (und Johannes Bauer) herausgegebenen „Werke. Auswahl in vier Bänden" erschienen (Philosophische Bibliothek 136-139, 1910/13; 1927/282, Reprint 19677 81); sie stellt unter editorischem Gesichtspunkt deren bestes Stück dar. Die Veröffentlichung im Rahmen einer Auswahlausgabe, die in ihren übrigen Bänden nicht den Charakter einer kritischen Edition trägt, hat sich allerdings als wirkungshindernd erwiesen. In der SchleiermacherLiteratur sind überwiegend noch die älteren unvollständigen Ausgaben benutzt worden.

3. Die Vorlesungen und die Manuskripte zum System der Ethik Schleiermacher hat achtmal über (philosophische) Ethik gelesen: in Halle in den Wintersemestern 1804/05 und 1805/06, in Berlin Anfang 1808 (vor Eröffnung der Universität), dann im Wintersemester 1812/13 und in den Sommersemestern 1816, 1824, 1827 und 1832. Als Bezeichnung der Disziplin begegnet in den Vorlesungsankündigungen, in den Manuskripten und im Briefwechsel teils „Ethik", teils „Sittenlehre"; „Moral" kommt nur in Ankündigungen und Briefen der Hallenser Zeit vor. Im Schleiermacher-Nachlaß des Zentralen Archivs der Akademie der Wissenschaften der DDR befinden sich neun Manuskripte (Hefte), die das Ganze oder größere Teile des Systems der Ethik behandeln. Sie sind im folgenden mit ihrer Überschrift aufgeführt, soweit sie eine solche haben, daneben mit einer inhaltlichen Kennzeichnung; ferner ist [XV] die Datierung bzw. die vermutliche Entstehungszeit angegeben. Bei jedem Manuskript ist außerdem die Nachlaßsignatur des AkademieArchivs mitgeteilt, ferner wie es in den Ausgaben von Schweizer und von Braun bezeichnet und wie es bei Braun datiert ist. Die Jahreszahlen, die Braun im Anschluß an Twesten angegeben hat, können im wesentlichen als zutreffend angesehen werden. Er hat allerdings nicht deutlich werden lassen, an welchen Stellen es sich um erschlossene Datierungen handelt. Die Begründung für die von mir angegebenen Daten, die nur an einer Stelle stärker von denen der Braunschen Ausgabe abweichen, ergibt sich aus den nachfolgenden Ausführungen. 1. „Der Sittenlehre zweiter Teil. Die Tugendlehre". Vollständiger Entwurf der Tugendlehre. Vermutlich im Zusammenhang mit der Vorle-

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sung von 1804/05 entstanden. (Nachlaß: 122. Schweizer: e. Braun: I; 1804/05). „Brouillon zur Ethik 1805". Gesamtentwurf der Ethik, bis zum Anfang der Pflichtenlehre reichend. Manuskript der Vorlesung von 1805/06. (Nachlaß: 115. Schweizer: d. Braun: II; 1805/06). „Ethik". Vollständiger Entwurf der Einleitung und der Güterlehre. Im Zusammenhang mit der Vorlesung von 1812/13 entstanden. (Nachlaß: 116. Schweizer: c. Braun: III; 1812/13). Tugend- und Pflichtenlehre. Vollständiger Entwurf der Tugendlehre, Teilentwurf der Pflichtenlehre. Im Zusammenhang mit der Vorlesung von 1812/13 entstanden. (Nachlaß: 121. Schweizer: b. Braun: IV; 1812/13). Einleitung: Vollständige Neufassung der Einleitung von 1812/13. Vermutlich 1813 entstanden. (Nachlaß: 120. Schweizer: b. Braun: VII; 1816). „Vorletzte Bearbeitung der Einleitung ins höchste Gut und des ersten Abschnitts". Neufassung des Anfangs der Güterlehre. Vermutlich 1814/15 entstanden. (Nachlaß: 118. Schweizer: b. Braun: V; 1814/ 16). ' Pflichtenlehre. Vollständiger Entwurf. Vermutlich 1814/15 [XVI] oder 1816/17 entstanden. (Nachlaß: 123. Schweizer: c. Braun: VI; 1814/16). „Neuer Anfang der Ethik". Vollständige Neufassung der Einleitung. Vermutlich 1816/17 entstanden. (Nachlaß: 117. Schweizer: a. Braun: VIII; 1816). „Güterlehre. Letzte Bearbeitung". Neufassung des Anfangs der Güterlehre. Vermutlich 1816/17 entstanden. (Nachlaß: 119. Schweizer: a. Braun: VIII; 1816).

Für das Verständnis dieser Entwürfe ist es wichtig zu beachten, daß es sich nicht einfach um die Manuskripte der oben erwähnten Vorlesungen handelt. Schleiermacher hat sich auf seine Vorlesungen in der Regel so vorbereitet, wie er es zu Beginn seiner Hallenser Lehrtätigkeit geschildert hat: „Du kannst denken, daß ich auch nur die Hauptsätze notiere und übrigens frei rede, und dabei werde ich auch bleiben." (An E. u. H. v. Willich am 30. Oktober 1804, Briefe 2,10). Seine Vorlesungsmanuskripte bestätigen, daß er lebenslang bei dieser Praxis geblieben ist. Sie enthalten in der Tat nur die „Hauptsätze", knappe, zumeist thesenartige Notizen, manchmal auch nur thematische Stichworte. Zum Teil sind seine Aufzeichnungen auch erst nach dem jeweiligen Kolleg entstanden. In einem

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Brief vom 31. Mai 1805 notiert er, auf dem Katheder lasse er seinen Gedanken „weit freieren Lauf als auf der Kanzel, und so kommt mir manches dort durch Inspiration, was ich denn des Aufzeichnens für die Zukunft wert achte und woraus mir so noch eine Nacharbeit entsteht." (Briefe 4,113 = Meisner 2,37). Von den erhaltenen Ethik-Entwürfen ist nur das Brouillon von 18057 06 als genuines Vorlesungsmanuskript anzusprechen. Die Aufzeichnungen, die im Zusammenhang mit den Vorlesungen von 1812/13 und von 1816 niedergeschrieben worden sind, waren zugleich als Ausarbeitungen für einen Grundriß der Ethik gedacht. Schließlich gibt es Manuskripte, die ganz unabhängig von Vorlesungen für den Druck ausgearbeitet worden sind. Die für den Druck bestimmten Entwürfe lassen andererseits deutlich die Herkunft aus dem Lehrbetrieb [XVII] erkennen. Sie haben die Form von Leitsätzen, die auf Entfaltung und Erläuterung angelegt sind. Schleiermacher hat dabei ein Kompendium von der Art seiner theologischen Enzyklopädie beabsichtigt (Kurze Darstellung des theologischen Studiums, 1811. 18302), nicht ein Lehrbuch, wie er es später für die Dogmatik vorgelegt hat (Der christliche Glaube, 1821/22. 1830/312). Die oben unter Nr. 3 — 5 aufgeführten Manuskripte haben die Form der 1. Auflage der „Kurzen Darstellung": sie bieten lediglich Leitsätze. In den unter Nr. 6 — 9 genannten Entwürfen ist — wie in der 2. Auflage der „Kurzen Darstellung" — den Leitsätzen zumeist eine kurze Erläuterung beigefügt. Nur zwei Entwürfe umfassen das Ganze bzw. fast das Ganze des Systems der Ethik. Beide sind im Zusammenhang mit Vorlesungen entstanden (1805/06 und 1812/13); beide sind von Schleiermacher selbst datiert worden. Die übrigen Manuskripte behandeln jeweils nur Teile des Systems. Sie sind nicht datiert. Ihre zeitliche Einordnung kann jedoch einigermaßen zuverlässig erschlossen werden, insbesondere aus Hinweisen, die sich Schleiermachers Briefwechsel entnehmen lassen. Als Schleiermacher 1804 als außerordentlicher Professor der Theologie an die Universität Halle berufen wurde, geschah das in Abwendung eines Rufes nach Würzburg, wo er „das Fach der theologischen Sittenlehre und den gesamten praktischen Teil der Theologie" hätte vertreten sollen (Briefe 3,387). In Halle hat die Ethik zu seinen ersten Vorlesungen gehört; neben ihr hat er im Wintersemester 1804/05 zwei theologische Vorlesungen gehalten. Ausarbeitungen dieser ersten Ethikvorlesung hat er Freunden zur kritischen Durchsicht übersandt. Ein Brief an Henriette Herz, der am 27. März 1805, also gegen Semesterende, entstanden ist, erwähnt einen früher übersandten Teil und fügt hinzu: „Die Tugendlehre hoffe ich diese Woche noch fertigzumachen und schicke sie dann gleich.

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Von der Pflichtlehre habe ich überall kein Wort aufgeschrieben, und es ist mir recht lieb, daß Euer Lesen mich gewissermaßen bindet, so daß sie auch aufs Papier [XVIII] kommen muß." (Meisner 2,34). Einen Entwurf, der Tugend- und Pflichtenlehre nicht enthielt, hat auch Joachim Christian Gaß erhalten (Gaß 25 f). Auf dessen Frage nach den noch ausstehenden Teilen teilt Schleiermacher am 6. September 1805 zum „Tugendbegriff" mit, daß „die kurze Skizze, die ich davon aufs Papier gebracht", durch ein Mißverständnis nicht weitergeleitet worden sei. Für den „Pflichtbegriff" stellt er in Aussicht, daß eine Aufzeichnung bei der Vorlesung des bevorstehenden Wintersemesters entstehen solle (Gaß 30 f = Meisner 2,44 f). In Schleiermachers Nachlaß befindet sich ein undatiertes Manuskript mit der Überschrift „Der Sittenlehre zweiter Teil. Die Tugendlehre" (oben Nr. 1), bei dem es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um die im Briefwechsel erwähnte Ausarbeitung handelt. Das brieflich erwähnte Manuskript des ersten Teils der Ethik ist im Nachlaß nicht erhalten. Im Wintersemester 1805/06 hat Schleiermacher — wiederum neben zwei theologischen Vorlesungen — die Ethik zum zweiten Mal vorgetragen. Das Manuskript dieses Semesters ist erhalten; es trägt die Aufschrift „Brouillon zur Ethik 1805" (oben Nr. 2). Nachdem Halle von französischen Truppen besetzt und die Universität im Oktober 1806 geschlossen worden war, ist Schleiermacher 1807 nach Berlin übersiedelt, wo er alsbald an den Vorbereitungen für eine neue Universität teilgenommen hat. Wie andere Gelehrte hat er schon vor ihrer Eröffnung Vorlesungen gehalten. In den ersten Monaten des Jahres 1808 hat er — neben der theologischen Enzyklopädie — erneut die Ethik behandelt.4 An der 1810 eröffneten Universität ist er dann in zwei Fakultäten zu Hause gewesen, als Professor in der Theologischen, als Mitglied der Akademie der Wissenschaften in der Philosophischen Fakultät, an der er von nun an die (philosophische) Ethik vorgetragen hat. In den Vorlesungsverzeichnissen findet sich das „System der Sittenlehre" (jeweils 5-stündig) für die folgenden Semester angekündigt: WS 1812/13, SS 1824, SS 1827, SS 1832. Aus brieflichen Äußerungen Schleiermachers ergibt sich, daß er [XIX] die Vorlesung außerdem im Sommersemester 1816 gehalten hat (Meisner 2,231; Briefe 4,212; Gaß 128 = Meisner 2,242). Vgl. dazu Rudolf Köpke: Die Gründung der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 1860, S. 58.141. Daß Schleiermacher diese - in den bisherigen EthikAusgaben nicht erwähnte — Vorlesung gehalten hat, wird bestätigt durch das in seinem Nachlaß (Signatur 437) befindliche „Erinnerungsbuch für das Jahr 1808", das unter dem 6. Januar die Eintragung enthält: „Angefangen zu lesen Ethik und theol. Encyclopädie".

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Bereits bei seiner ersten Ethikvorlesung in Halle hatte Schleiermacher die Absicht bekundet: „Von der Ethik denke ich, wenn ich sie erst noch einmal gelesen habe, vor dem dritten Mal einen kleinen Grundriß drucken zu lassen." (Am 17. Dezember 1804, Gaß 7; vgl. auch Briefe 4,109). Im Vorblick auf das Ethikkolleg des Wintersemesters 1805/06 erwähnt er das Projekt erneut, allerdings mit dem Zusatz, er wolle „wenigstens erst dreimal Vorlesungen darüber gehalten haben, und das kann wohl nicht eher als 1807 geschehen" (Briefe 4,117). Als er 1808 das dritte Mal Ethik liest, schiebt er die geplante Veröffentlichung weit hinaus (Briefe 4,150 = Meisner 2,102). Im Zusammenhang mit der Vorlesung von 1812/13 gewinnt der Plan dann feste Konturen: „Ich arbeite mir jetzt vor zu Compendien der Ethik und Dogmatik. Bis jetzt habe ich noch ohne Lücke geschrieben, und die erste denke ich denn womöglich noch im künftigen Jahre fertigzumachen". (An Gaß am 21. November 1812, Briefe 4,190; vgl. auch Gaß 107, ferner Meisner 2,151). Schleiermacher hat in diesem Semester einen nahezu vollständigen Entwurf ausgearbeitet, der in zwei Manuskripten im Nachlaß vorliegt (oben Nr. 3 und Nr. 4). Es kann verwunderlich erscheinen, daß die Veröffentlichung damals nicht zustande gekommen ist, denn die noch ausstehenden Abschnitte der Pflichtenlehre hätten kaum mehr als 10 zusätzliche Seiten ausgemacht. Eine Erklärung läßt sich einem Brief an Friedrich Schlegel vom 12. Juni 1813 entnehmen. Im Anschluß an die Bemerkung, „wie ungeheuer schwer ein Compendium" sei, schreibt Schleiermacher: „Doch hatte ich eben angefangen, eins über meine Ethik auszuarbeiten, als das Landsturmedikt erschien und mich in eine große Tätigkeit setzte, in der seither alles andre untergegangen ist." (Briefe 3,430 = Meisner 2,190). Die Wendung „eben angefangen" paßt allerdings nicht zu den beiden umfänglichen Manuskripten, die während des [XX] Semesters entstanden waren. Sie legt vielmehr die Vermutung nahe, daß Schleiermacher im Anschluß an die Vorlesung, die am 26. März geschlossen worden war, eine Überarbeitung begonnen hat, die nach 4 Wochen — das Landsturmedikt ist auf den 21. April 1813 datiert — unterbrochen und in den Unruhen des Jahres 1813 dann nicht weitergeführt worden ist. In seinem Nachlaß befindet sich ein undatiertes Manuskript „Einleitung" (oben Nr. 5), das als eine überarbeitete Fassung der Einleitung von 1812 anzusprechen und vermutlich mit dem im Brief erwähnten Anfang eines Kompendiums identisch ist.5 5

Die bisherigen Ausgaben haben es auf spätere Jahre datiert. Schweizers Spätdatierung auf 1827 ist bereits von Twesten korrigiert worden, dem Braun mit der Angabe des Jahres 1816 folgt. Gegen diese Datierung spricht nicht nur die Form des Manuskripts

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

Schleiermachers Briefen läßt sich entnehmen, daß er in den folgenden Jahren noch zweimal (1814/15 und 1816/17) über einen längeren Zeitraum hinweg an einem solchen Kompendium gearbeitet hat. Die erste dieser beiden Arbeitsphasen reicht — ohne Zusammenhang mit einer Vorlesung — vom Herbst 1814 (vgl. Gaß 121 = Meisner 2,214; ferner Briefe 4,203 = Meisner 2,215) bis in den Sommer 1815 (vgl. Meisner 2,221). Am 5. August 1815 schreibt er dann, er stehe „noch immer in der Lehre vom höchsten Gut, und was fertig ist, ist doch auch noch nicht einmal recht fertig" (Briefe 4,208 = Meisner 2,224). Als Ergebnis dieser Phase ist mit großer Wahrscheinlichkeit das Manuskript anzusehen, das durch eine spätere Randbemerkung als „die vorletzte Bearbeitung der Einleitung ins höchste Gut und des ersten Abschnitts" bezeichnet ist (oben Nr. 6). Diese teilweise Neubearbeitung der Güterlehre unterscheidet sich von den früheren Entwürfen in formaler Hinsicht dadurch, daß den Leitsätzen Erläuterungen hinzugefügt sind. Im Zusammenhang mit der Ethikvorlesung des Sommersemesters 1816 hat sich Schleiermacher ein weiteres Mal die Ausarbeitung des Kompendiums vorgenommen (vgl. Meisner 2,231; Briefe 4,212; Meisner 2,235). Nach einer längeren Unterbrechung hat er die Arbeit daran um die Jahreswende 1816/17 fortgesetzt. Am 4.1.1817 schreibt er: „An der Ethik arbeite ich langsam und werde sie wohl erst im Sommer voll[XXIjenden." (Briefe 4,214; vgl. auch Gaß 128 = Meisner 2,242). Am 5. Juli 1817 heißt es schließlich: „Die Ethik liegt wieder ganz". (Gaß 139 = Meisner 2,256). Im Nachlaß befinden sich zwei Manuskripte, die mit großer Wahrscheinlichkeit als Ausarbeitungen von 1816/17 anzusehen sind. Es handelt sich einmal um eine Neufassung der Einleitung, die auf dem Umschlagblatt als „Neuer Anfang der Ethik" bezeichnet ist (oben Nr. 8), zum anderen um ein Manuskript mit der Überschrift „Güterlehre. Letzte Bearbeitung", eine Neufassung des Anfangs der Güterlehre (oben Nr. 9). Daß ein Entwurf der Ethik bis in die Güterlehre hinein ausgearbeitet sei, hat Schleiermacher in späteren Jahren erwähnt. 6 Schwieriger zu datieren ist ein Manuskript, das eine fast vollständige Ausarbeitung

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(Leitsätze ohne Erläuterungen), sondern auch der Sachverhalt, daß es wenig wahrscheinlich ist, daß Schleiermacher im Jahr 1816 gleich zwei Neufassungen der Einleitung (vgl. oben Nr. 8) niedergeschrieben haben sollte. Am. 4. August 1826: „Was meine Ethik betrifft, so ruht die ja sehr. Ein großer Teil davon (jedoch noch nicht die ganze Lehre vom höchsten Gut) liegt seit mehreren Jahren ausgearbeitet da." Briefe 4,356. Vgl. auch den Brief vom 8. September 1825 in: C. F. G. Heinrici: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, 1889, 382. [XXVII]

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der Pflichtenlehre enthält (oben Nr. 7). Es könnte sowohl der Arbeitsphase von 1816/17, wie der vorhergegangenen von 1814/15 entstammen. 1819 hat Schleiermacher begonnen, Grundbegriffe der Ethik in Akademieabhandlungen zu erörtern. In der ersten dieser Abhandlungen hat er ausdrücklich darauf Bezug genommen, daß er „schon seit langer Zeit in der Ausarbeitung eines eignen Entwurfs der Sittenlehre" begriffen sei und daß er wegen der Verzögerung eine Probe seines Verfahrens mitteilen wolle (SW 111/2,350 f). In der Folgezeit sind diese Abhandlungen praktisch an die Stelle des zunächst geplanten Kompendiums getreten.7 Für seine Ethikvorlesungen von 1824, 1827 und 1832 hat Schleiermacher die älteren Manuskripte benutzt. Einzelne Anmerkungen und Ergänzungen hat er teils auf ihren Rändern, teils auf gesonderten Zetteln und Blättern notiert. Im Folgenden ist der Inhalt der Manuskripte noch einmal in schematischer Übersicht angegeben. Inhaltsbezeichnungen in Klammern bedeuten, daß der betreffende Teil nicht vollständig ausgeführt ist; Jahreszahlen in Klammern bedeuten, daß die Datierung nicht von Schleiermacher selbst stammt, sondern erschlossen ist. [XXII]

1. (1804/05) 2 . 1805/06 3. 1812/13 4. 1812/13 5. (1813) 6. (1814/15) 7. (1814/17) 8. (1816/17) 9. (1816/17)

Einleitung

Güterlehre

Tugendlehre

x

x

x

Pflichtenlehre ( x ) (x)

x (x) x x (x)

Die Übersicht macht augenfällig, welche Manuskripte als die Hauptquellen für Schleiermachers System der Ethik anzusehen sind. Es sind dies Unter Bezugnahme auf vier Abhandlungen, die damals teils bereits vorlagen, teils sich im Druck befanden, schreibt Schleiermacher am 4. August 1826: „Kann ich nun noch ein paar ähnliche aus dem ersten Teile liefern, so kann dann wohl ohne Schaden die Zusammenstellung des Ganzen noch ausgesetzt bleiben." Briefe 4, 357. Zwei Abhandlungen zum „ersten Teil" der Ethik, also zur Lehre vom höchsten Gut, hat er 1827 und 1830 vorgetragen.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

einmal der frühe Gesamtentwurf von 1805/06, sodann der zweite Gesamtentwurf, der in den beiden Manuskripten von 1812/13 vorliegt, schließlich die letzten Fassungen der Einleitung, des Anfangs der Güterlehre und der Pflichtenlehre.

4. Die vorliegende Ausgabe Das Hallenser „Brouillon zur Ethik" von 1805/06 stellt den ersten der beiden Gesamtentwürfe dar, die Schleiermacher im Zusammenhang mit Vorlesungen über das System der Sittenlehre niedergeschrieben hat.8 Die vorliegende Studienausgabe bietet den Text nach der Edition von Otto Braun (Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 19272), in der dieses wichtige Manuskript zum ersten Mal vollständig veröffentlicht worden ist, nachdem die Ausgabe von Alexander Schweizer bereits Auszüge mitgeteilt hatte. Die Seitenzahlen Brauns sind in der vorliegenden Ausgabe am oberen inneren Seitenrand in Klammern angegeben. Die Zahlen daneben bezeichnen die [XXIII] Seiten des Originalmanuskripts; der Seitenumbruch des Manuskripts ist im Drucktext durch einen Schrägstrich markiert. Über die Grundsätze, denen er bei der Wiedergabe des Textes gefolgt ist, hat Braun sich folgendermaßen geäußert: „Im allgemeinen bin ich getreu dem Original gefolgt, ja ich habe sogar die Schwankungen in der Schreibweise verschiedener Worte beibehalten ... Nur in einem Punkte bin ich in größerem Maßstabe konsequent von Schleiermacher abgewichen: beim Großschreiben nach dem Artikel, also beim substantivierten Adjektivum, Verbum usw. ... Die Interpunktion ist ebenfalls im ganzen konservativ behandelt. Doch setzte ich stets vor Nebensätzen ein Komma, mit Ausnahme der Infinitivsätze, und verwandelte das Kolon in Komma, wenn es Haupt- und Nebensatz trennte (namentlich vor „so"). Abkürzungen Schleiermachers wurden aufgelöst, ohne Bemerkung, wenn die Auflösung unzweifelhaft war. Sonst fügte ich spitze Klammern hinzu, z. B. Bew. Auch sind einzelne Worte, die ich gelegentlich zur Ergänzung in den Text Schleiermachers einfügte, in dieselben Klammern gesetzt. Alle runden Einklammerungen rühren von Schleiermacher 8

Ein Neudruck des anderen Gesamtentwurfs, der 1812/13 entstanden ist, erscheint, zusammen mit den letzten Fassungen der Einleitung, der Güterlehre und der Pflichtenlehre, als Band 335 der Philosophischen Bibliothek.

14. Einleitung zu Schleiermachers „Brouillon zur Ethik (1805/06)" [1981]

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her. Meine Zusätze in und unter dem Text sind in eckige Klammern geschlossen, z. B. [?] oder kursiv, stellenweise beides ..." (XXI f). Braun hat darüber hinaus einzelne editorische Maßnahmen getroffen, die er nicht eigens erwähnt hat. Im Blick auf das Manuskript von 1805/ 06 ist zu erwähnen, daß er die Angabe der Stundenzählung einheitlich nach dem Muster der ersten 16 Stunden gestaltet hat. Im Manuskript ist nur für diese Stunden die Zählung im Text ausgeschrieben; von der 17. Stunde an ist sie mit römischen Ziffern am Rand angegeben. Im ganzen ist seine Ausgabe als zuverlässig zu beurteilen. Ein Neudruck des Brouillon von 1805/06 aufgrund dieser Ausgabe erscheint um so eher gerechtfertigt, als die seit 1980 erscheinende Kritische Gesamtausgabe die Edition der Vorlesungen Schleiermachers erst für eine spätere Arbeitsphase vorsieht. Der gesonderte Abdruck kann vielleicht dazu beitragen, die[XXIVjsen frühen Gesamtentwurf, der in der Schleiermacher-Literatur nur selten für sich behandelt und gewürdigt worden ist9, in seiner Eigenart hervortreten zu lassen. Zur Entstehung und zur Gestaltung des Manuskripts dieser zweiten Ethikvorlesung Schleiermachers sind noch folgende Hinweise zu geben. Als der Sechsunddreißigjährige im Jahre 1804 zunächst nach Würzburg, dann nach Halle berufen wurde, war er der wissenschaftlichen Welt außer als Plato-Übersetzer vor allem als der Kritiker aller bisherigen Sittenlehre bekannt. Seine Absichten richteten sich darauf, der kritischen Leistung eine konstruktive folgen zu lassen, ein „eigenes System". Am 28. Januar 1804 schrieb er an Ehrenfried v. Willich: „Mein eignes System wird, im wissenschaftlichen Kleide angetan, wohl so bald noch nicht erscheinen, indessen werde ich es in Würzburg als christliche Sittenlehre, auf die ich besonders gewiesen bin, vielleicht schon im ersten Halbjahr meines Lehramtes vortragen müssen." (Briefe 1,390). Als er statt nach Würzburg nach Halle ging, hat er dort für das Wintersemester 1804/05 ebenfalls „Christliche Sittenlehre" angekündigt, dann aber über philosophische Ethik gelesen. An Gaß am 13. November 1804: „Meine Ethik ist, wohl überlegt, philosophisch geworden ... Ich glaube, wenn ich sie einige Male werde gelesen haben, werde ich wohl im Stande sein, mein System aufzustellen." (Gaß 3 = Meisner 2,22; vgl. Briefe 2,8). Für das Wintersemester 1805/06 hat er angekündigt, er lese „v.s. Cursus der Moral den ersten philosophischen Teil".10 Für diese Vorlesung hat er die 9

10

Vgl. v. a. Albert Reble: Schleiermachers Kulturphilosophie, 1935, 101-170; ferner Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie 4 (1952), 542—559. Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung Jg. 1805, Sp. 1265. — Entsprechend ist für das Sommersemester 1806 die Vorlesung über „Christliche Moral" angekündigt

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

„ethischen Papiere" zurückerbeten, die im Gefolge der Vorlesung von 1804/05 entstanden und an Freunde verschickt worden waren. (Vgl. den Brief vom 6. September 1805, Gaß 31). Die neue Vorlesung hat dann jedoch eine Gestaltung empfangen, die sich von der früheren offenbar nicht unwesentlich unterschied. „Die Ethik erfährt, was die Darstellung betrifft, eine ziemliche Umarbeitung, so daß sie mir auch diesmal noch viel Zeit kostet. Allein die Mühe bleibt, wie es mir scheint, auch nicht ohne Erfolg. Weniger steif und hart, freier und lebendi-[XXV]ger erscheint mir das Ganze". (Am 16. November 1805, Gaß 37 = Meisner 2,46; vgl. auch Briefe 2,70). Das von Schleiermacher als „Brouillon" (Entwurf) bezeichnete Manuskript, das er im Laufe des Wintersemesters niedergeschrieben hat, ist das Dokument dieser neuen Bearbeitung. Auf dem Titelblatt findet sich unter der Aufschrift „Brouillon zur Ethik 1805" die Angabe, daß die Vorlesung am 21. Oktober angefangen und am 27. März geschlossen worden ist. Daß es sich dabei um das Wintersemester 1805/06 und nicht etwa um die Vorlesung des vorhergegangenen Jahres handelt, ergibt sich u. a. daraus, daß der 21. Oktober 1804 ein Sonntag war, während für 1805 auch durch eine briefliche Äußerung bestätigt wird, daß Schleiermacher seine Vorlesungen am Montag, dem 21. Oktober, begonnen hat (Briefe 2,39 f.). Eine Randnotiz zur 17. Stunde „N. B. Einmal ausgesetzt wegen Massow" steht sichtlich in Zusammenhang mit dem Besuch des Ministers v. Massow in Halle, von dem Schleiermacher in einem Brief vom 16. November 1805 berichtet (Meisner 2,47). Die Notiz zur 30. Stunde „Eine Stunde ausgesetzt wegen Dulons Concert" bezieht sich offenbar auf das Flötenkonzert, das Schleiermacher auch im Zusammenhang mit der Entstehung seiner Schrift „Die Weihnachtsfeier" (1806) erwähnt hat. 11 Nach seinem brieflichen Bericht hatte Schleiermacher in der Ethikvorlesung „50—60 Zuhörer, was dermalen viel ist in einem philosophischen Collegio".12 Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Universität Halle im

11

12

als „2cer Teil seines ethischen Cursus" (Intelligenzblatt Jg. 1806, Sp. 338). Es fällt auf, daß diese Art der Zuordnung von philosophischer und christlicher Sittenlehre, die bei späteren Vorlesungen nicht mehr vorkommt, im Manuskript der Vorlesung von 18057 06 keine Erwähnung und Erläuterung findet. Vgl. Briefe 4, 122. — Der Flötenvirtuose Friedrich Ludwig Dulon hat am 2. Dezember 1805 in Halle gastiert; vgl. dazu Ekkehard Börsch in: Theologische Zeitschrift 13 (1957), 354-356. An Georg Reimer am 25. Oktober 1805, Briefe 2,70 = Meisner 2,46. - An Gaß am 16. November 1805: „In der Ethik habe ich nun schon über 50 Zuhörer, und darunter, was man lange nicht erlebt hat, mehrere Juristen und Mediziner." Gaß 37 = Meisner 2,46.

14. Einleitung zu Schleiermachers „Brouillon zur Ethik (1805/06)" [1981]

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Winter 1805/06 insgesamt 944 Studenten zählte, darunter 360 Theologen; an der Philosophischen Fakultät waren lediglich drei Studenten eingeschrieben.13 In der (öffentlichen) Vorlesung über den Galaterbrief hatte Schleiermacher 120 Hörer, in seiner Dogmatikvorlesung hingegen „nur etwa eine Mandel", also ca. 15 (Gaß 37 = Meisner 2,46). Die Vorlesung ist fünfstündig gehalten worden. Dem entspricht die Gliederung in 94 Stunden. Ein Strich nach der 42. Stunde markiert die Weihnachtspause; der Wieder-[XXVI]beginn im neuen Jahr ist durch die Datumsangabe „d. 6. Jan." bezeichnet. Das wechselnde Bild der Handschrift läßt den Schluß zu, daß das Manuskript im Laufe des Semesters im wesentlichen von Stunde zu Stunde niedergeschrieben worden ist. Dazu stimmt auch der Sachverhalt, daß es mit der 94. Stunde mitten in der Pflichtenlehre abbricht. Das Ende des Semesters hat verhindert, daß der so weit gediehene Entwurf zum Abschluß geführt wurde. Es macht den besonderen Reiz und Rang dieses frühen Gesamtentwurfs aus, daß er einerseits — bis in Unausgeglichenheiten der Terminologie hinein — das Werden der Gedanken noch erkennen läßt, daß andererseits die neue Konzeption der als philosophische Grundwissenschaft verstandenen Ethik in allen wesentlichen Zügen vor Augen tritt. Anders als die späteren Entwürfe hat das Brouillon noch nicht die Form eines Kompendiums (mit gezählten Leitsätzen und mit Zwischenüberschriften). Es trägt vielmehr die Züge eines Vorlesungsmanuskripts, in dem die Gedanken oft nur skizzenhaft angedeutet sind. Im Aufriß zeigen die späteren Entwürfe an zwei Stellen eine augenfällige Veränderung. Einmal ist die Einleitung, die im Brouillon nur wenige Seiten umfaßt, später zu einer förmlichen wissenschaftstheoretischen Grundlegung ausgeweitet worden. Zum anderen bildet die Behandlung der großen Gemeinschaftsformen, die im Brouillon innerhalb des Viererschemas der Vernunftfunktionen erfolgt, später einen eigenen Teil. Im übrigen zeigt die Sachgliederung, die sich aus dem Manuskript erheben läßt und die oben im Inhaltsverzeichnis angegeben ist, denjenigen Grundriß der Ethik, der von da an für Schleiermachers Entwürfe bestimmend geblieben ist. [XXIX]

13

Vgl. dazu die statistischen Angaben über die preußischen Universitäten bei Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 4. Bd., 1910, 23.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

Auswahl-Bibliographie 1. Bibliographien Tice, Terrence N.: Schleiermacher Bibliography, Princeton/ New Jersey, 1966. Takamori, Akira: Schleiermacher-Literatur in Japan besonders in theologischer Sicht, in: Kwansei Gakuin University Annual Studies, 1976, Vol. XXV, 1-8. Eine Ergänzung der Bibliographie von Tice für die Jahre 1964—1977 enthält die unten genannte Monographie von G. Moretto (1979). — Spezielle Bibliographien zu Schleiermachers Ethik finden sich in der unten genannten Ausgabe der „Monologen" von H. Mulert (1914; 1978) und in meiner unten genannten Monographie (1964). 2. Sammelausgaben Sämmtliche Werke. I.Abt. Zur Theologie (11 Bde.), II. Abt. Predigten 10 Bde.), III. Abt. Zur Philosophie (10 Bde.), 1834-1864. (Abk.: SW) Werke, Auswahl in vier Bänden, hg. v. O. Braun u. J. Bauer, 1910—1913. 1927/19282. Neudruck 1967/81. (Abk.: Auswahl) Kleine Schriften und Predigten, hg. v. H. Gerdes u. E. Hirsch, 3 Bde., 1969/70. (Abk.: Schriften) Kritische Gesamtausgabe, 1980 ff. 3. Briefwechsel Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, hg. v. W. Gaß, 1852. (Abk.: Gaß) Aus Schleiermachers Leben. In Briefen, 4 Bde. Bde. l u. 2 (1858) I8602; Bde. 3 u. 4 1861/63. Neudruck 1974. (Abk.: Briefe) Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familien- und Freundesbriefe, hg. v. H. Meisner, 2 Bde., 1922/23. (Abk: Meisner) 4. Schleiermachers Schriften zur Ethik (Fragmente und Rezensionen) in: Athenäum 1798 — 1800. Neudruck 1960. (Die Schleiermacher zugeschriebenen Fragmente sind abge[XXX]druckt im Anhang zu W. Dilthey: Leben Schleiermachers, 1870. — Die Rezensionen sind abgedruckt in: SW III/l). Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks 1799; neu hg. v. H. Nohl in: Auswahl 2, 1-31.

14. Einleitung zu Schleiermachers „Brouillon zur Ethik (1805/06)" [1981]

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Monologen. Eine Neujahrsgabe 1800. 18102. 18223. 18294 - 4. Aufl. abgedruckt in: SW HI/1. - 1. Aufl. abgedruckt in: Auswahl 1; Schriften 1. - Krit. Ausg. v. F. M. Schiele 1902; 2. erw. Aufl. v. H. Mulert 1914, Neudruck (3. Aufl.) 1978. Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde, 1800. Abgedruckt in: SW HI/1; Schriften 1. (Rezensionen aus den Jahren 1800—1807) abgedruckt in: Briefe 4. Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, 1803. 18342. Abgedruckt in: SW HI/1; Auswahl 1. Predigten über den christlichen Hausstand, 1820. 18262. Abgedruckt in: SW II/l; Auswahl 3; teilweise in: Schriften 1. Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen (gelesen 1814), gedruckt in: Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1818. Abgedruckt in: SW III/2. Über die griechischen Scholien zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles (gelesen 1816), gedruckt in: Abhandlungen ... 1819. Abgedruckt in:

sw m/2.

Über die Auswanderungsverbote (gelesen 1817), gedruckt in: Abhandlungen ... 1819. Abgedruckt in: SW HI/2. Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs (gelesen 1819), gedruckt in: Abhandlungen ... 1820. Abgedruckt in: SW HI/2; Auswahl 1. Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffes (gelesen 1824), gedruckt in: Abhandlungen ... 1826. Abgedruckt in: SW HI/2; Auswahl 1. Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz (gelesen 1825), gedruckt in: Abhandlungen ... 1828. Abgedruckt in: SW HI/2; Auswahl 1. Über den Begriff des Erlaubten (gelesen 1826), gedruckt in: Abhandlungen ... 1829. Abgedruckt in: SW HI/2; Auswahl 1. Über den Begriff des höchsten Gutes (1. Abhandlung gelesen 1827, 2. Abhandlung gelesen 1830), gedruckt in: Abhandlungen ... 1832. Abgedruckt in: SW HI/2; Auswahl 1. Reden bei besonderen Veranlassungen, gelesen in der Königlichen Akademie der Wissenschaften (1810-1833), hg. v. L. Jonas, in: SW HI/3, 1835. Über den Beruf des Staates zur Erziehung (gelesen 1814), hg. v. L Jonas, in: SW HI/3, 1835; abgedruckt in: Auswahl 1. [XXXI] Über die ethischen Werke des Aristoteles (gelesen 1817), hg. v. L. Jonas, in: SW HI/3, 1835.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

Über die verschiedene Gestaltung der Staatsverteidigung (gelesen 1820), hg. v. L. Jonas, in: SW III/3, 1835. Über Platons Ansicht von der Ausübung der Heilkunst (gelesen 1825), hg. v. L. Jonas, in: SW III/3, 1835. Entwurf eines Systems der Sittenlehre, hg. v. A. Schweizer (SW HI/5) 1835. Geschichte der Philosophie, hg. v. H. Ritter (SW 111/4,1) 1839. Grundriß der philosophischen Ethik, hg. v. A. Twesten, 1841. Neuer Abdruck besorgt von F. M . Schiele, 1911. Die christliche Sitte, hg. v. L. Jonas (SW 1/12) 1843. 18842. Die Lehre vom Staat, hg. v. C. A. Brandis (SW III/8) 1845. Über das Anständige, hg. v. W. Dilthey, in: Briefe 4 (1863. Neudruck 1974). Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, in: W. Dilthey, Leben Schleiermachers, 1870. Philosophische Sittenlehre, hg. v. J. H. v. Kirchmann, 1870. Entwürfe zu einem System der Sittenlehre (Auswahl 2), hg. v. O. Braun (1913) 19272. Neudruck 1967. 1981.

15. Einleitung zu Schleiermachers „Ethik (1812/13)" [1981]* 4. Die vorliegende Ausgabe Die vorliegende Studienausgabe enthält als Haupttext den zweiten der beiden Gesamtentwürfe Schleiermachers zur Ethik, der in zwei Manuskripten aus dem Wintersemester 1812/13 vorliegt.8 Alle späteren Entwürfe bieten nur Neubearbeitungen von Teilen des Systems. Von diesen späteren Manuskripten sind die drei wichtigsten aufgenommen: die vollständig ausgeführte letzte Bearbeitung der Einleitung, die nicht zu Ende geführte letzte Bearbeitung der Güterlehre (beide vermutlich 1816/17 entstanden) und die nahezu vollständige letzte Bearbeitung der Pflichtenlehre (vermutlich 1814/17 entstanden). Der Band umfaßt damit diejenigen Manuskripte, [XXIII] die auch in den Auswahlausgaben von August Twesten (1841) und von Friedrich Michael Schiele (1911) enthalten waren, dort allerdings mit Kürzungen in den beiden Manuskripten von 1816/17. Er bietet den Text nach der Ausgabe von Otto Braun, der diese Manuskripte zum ersten Mal vollständig veröffentlicht und der auch die zahlreichen Randbemerkungen Schleiermachers zum ersten Mal bekannt gemacht hat (Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, 19272). Die * Vgl. Bibliographie Nr. 44. — Die Einleitung zu Schleiermachers „Ethik (1812/13)" ist text- und seitenidentisch mit den ersten drei Abschnitten der Einleitung zu Schleiermachers „Brouillon zur Ethik (1805/06)" (vgl. hier S. 209-222: „1. Schleiermachers Schriften zur Ethik. 2. Die Nachlaßausgaben des Systems der Ethik. 3. Die Vorlesungen und die Manuskripte zum System der Ethik") und wird deshalb hier nicht noch einmal geboten. Lediglich im 4. Abschnitt („Die vorliegende Ausgabe") weichen die beiden Einleitungen mit den entsprechenden Anmerkungen (ab Nr. 8) voneinander ab. Deshalb kommt hier nur dieser letzte 4. Abschnitt mit den dazugehörigen Anmerkungen zum Abdruck. In der 2. verbesserten Auflage dieser Edition ist die „Auswahl-Bibliographie" leicht verändert und ergänzt worden. Von einem Abdruck dieser Bibliographie wird hier aber abgesehen. Vgl. o. (S. 209) *Anm. zur Einleitung zu Schleiermachers „Brouillon zur Ethik (1805/1806)". 8 Eine Ausgabe des ersten Gesamtentwurfs, des Hallenser „Brouillon zur Ethik" von 1805/06, ist als Band 334 der Philosophischen Bibliothek erschienen.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

Seitenzahlen der Braunschen Ausgabe sind jeweils am oberen inneren Seitenrand in Klammern angegeben. Die Zahlen daneben bezeichnen die Seiten des Originalmanuskripts; der Seitenumbruch des Manuskripts ist im Drucktext durch einen Schrägstrich markiert. Braun hat sich über die Grundsätze, die seine Wiedergabe des Textes bestimmt haben, folgendermaßen geäußert: „Im allgemeinen bin ich getreu dem Original gefolgt, ja ich habe sogar die Schwankungen in der Schreibweise verschiedener Worte beibehalten ... Nur in einem Punkte bin ich in größerem Maßstabe konsequent von Schleiermacher abgewichen: beim Großschreiben nach dem Artikel, also beim substantivierten Adjektivum, Verbum usw. ... Die Interpunktion ist ebenfalls im ganzen konservativ behandelt. Doch setzte ich stets vor Nebensätzen ein Komma, mit Ausnahme der Infinitivsätze, und verwandelte das Kolon in Komma, wenn es Haupt- und Nebensatz trennte (namentlich vor „so"). Abkürzungen Schleiermachers wurden aufgelöst, ohne Bemerkung, wenn die Auflösung unzweifelhaft war. Sonst fügte ich spitze Klammern hinzu, z. B. Bewußtsein). Auch sind einzelne Worte, die ich gelegentlich zur Ergänzung in den Text Schleiermachers einfügte, in dieselben Klammern gesetzt. Alle runden Einklammerungen rühren von Schleiermacher her. Meine Zusätze in und unter dem Text sind in eckige Klammern geschlossen, z. B. [?] oder kursiv, stellenweise beides ..." (XXI f.). Braun hat darüber hinaus eine Reihe von editorischen Maßnahmen getroffen, die er nicht eigens erwähnt hat. Im ganzen kann seine Ausgabe als zuverlässig bezeichnet werden. Ein [XXIV] Neudruck der wichtigsten Ethik-Manuskripte aufgrund dieser Ausgabe erscheint um so eher gerechtfertigt, als die seit 1980 erscheinende Kritische Gesamtausgabe die Edition der Vorlesungen Schleiermachers erst für eine spätere Arbeitsphase vorsieht. Zur Entstehung und zur Gestaltung der Manuskripte sind noch folgende Hinweise zu geben.

Ethik 1812/13 Schleiermacher hat die Ethik an der — zum Wintersemester 1810/11 eröffneten — Berliner Universität zuerst im Winter 1812/13 behandelt. Das Vorlesungsverzeichnis gibt den zwiefachen Status seiner Lehrtätigkeit präzis an, wenn es unter „Philosophische Wissenschaften" anzeigt, daß „Herr Schleiermacher, Mitglied der Königl. Akademie der Wissenschaften" fünfmal wöchentlich von 5 — 6 Uhr „Das System der Sitten-

15. Einleitung zu Schleiermachers „Ethik (1812/13)" [1981]

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lehre"9 vortrage, während unter „Gottesgelahrtheit" angezeigt ist, daß „Herr Prof. Dr. Schleiermacher" das Evangelium und die Episteln Johannis auslege (viermal wöchentlich von 9 — 10 Uhr) und die Dogmatik lehre (fünfmal wöchentlich von 8 — 9 Uhr). Die Vorlesungszeit hat von 19. Oktober 1812 bis zum 26. März 1813 gedauert. Sowohl mit der Ethik- als auch mit der Dogmatikvorlesung hat Schleiermacher die Absicht verbunden, im Laufe des Semesters die Vorarbeit für ein zum Druck bestimmtes Kompendium zu leisten. Arn 24. Oktober 1812 schreibt er an J. Chr. Gaß: „Daß ich nun wieder im Collegienlesen und in aller Arbeit tief darinstecke, weißt Du. Ich schreibe mir Paragraphen auf zur Ethik und zur Dogmatik, als Vorarbeit zu künftigen Compendien; und da mir der Johannes ganz neu ist, so bin ich denn beladen genug, zumal ich diesen Winter durchaus etwas am Platon tun muß." (Gaß 107; vgl. auch den Brief an Gaß vom 21. November 1812, Briefe 4,190). Unmittelbar vor Semesterschluß, in einem Brief vom 23.727. März 1813, erwähnt er noch ein-[XXV]mal, daß er an „Handbüchern über die Ethik und Dogmatik" arbeite (Meisner 2,151). Die während des Semesters entstandenen Aufzeichnungen zur Ethik machen mit ihren gezählten Leitsätzen und ihrer ausgeführten systematischen Gliederung in der Tat weniger den Eindruck eines Vorlesungsmanuskripts als den eines Kompendienentwurfs. Dieser Entwurf liegt in zwei Manuskripten vor. Das erste von ihnen, das die Einleitung und die Güterlehre umfaßt, hat ursprünglich die Aufschrift „Zur Ethik 1812" getragen, die nachträglich in „Ethik" korrigiert worden ist. Die Benutzung in der Vorlesung von 1812/13 zeichnet sich darin ab, daß am Rande der Manuskriptseiten mit römischen Ziffern eine Stundenzählung durchgeführt ist (insgesamt 73 Stunden), zusätzlich eine Wochenzählung („Zweite Woche" usw., insgesamt 16 Wochen). Bei der XLV. Stunde ist zu der Angabe „Elfte Woche" die Jahreszahl 1813 in Klammern hinzugefügt, offenkundig beim Wiederbeginn der Vorlesungen nach der Weihnachtspause. 10 Das zweite Manuskript, das ohne Aufschrift und Jahreszahl ist, enthält die Tugendlehre und die nicht ganz zu Ende geführte Pflichtenlehre. Auffälligerweise ist die Benutzung im Kolleg bei diesem Manuskript auf 9

10

Unter diesem Titel ist die Vorlesung auch in den späteren Semestern angekündigt. Im lateinischen Index lectionum ist sie einmal (SS 1824) als „Systema ethices universalis" angezeigt, sonst stets als „Ethice". Die vorhergegangene „Zehnte Woche" umfaßt nur drei statt fünf Stunden, vermutlich die Tage von Montag, d. 21. bis Mittwoch, d. 23. Dezember 1812.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

andere Weise bezeichnet als beim ersten. Am Rande der Seiten ist für jede Stunde Wochentag und Datum (jedoch ohne Jahr) angegeben, beginnend mit „Montag, 22. Febr.", endend mit „Freitag, 26. März".11 Die Wochentage und Daten passen für die Ethikvorlesung von 1813 und nur für sie, da die späteren Vorlesungen alle in einem Sommersemester gehalten worden sind. Die Datierung der ersten Stunde des zweiten Manuskripts auf den 22. Februar schließt unmittelbar an die letzte Angabe des ersten Manuskriptes an. Die dort genannte 16. Vorlesungswoche des Semesters ist die am 15. Februar begonnene, sofern man davon ausgeht, daß die Vorlesungen im neuen Jahr erst in der Woche nach Epiphanias wieder begonnen haben. Die Stunden-, Wochen- und Tagesangaben, die in der Braunschen Ausgabe mit abgedruckt sind, konnten in der vorliegen-[XXVI]den Studienausgabe wegen des kleineren Satzspiegels nicht wiedergegeben werden. Ihr Ort ist am Seitenrand jeweils durch einen Stern (*) bezeichnet, so daß der Umfang der einzelnen Vorlesungsstunden erkennbar ist. Beide Manuskripte von 1812/13 tragen zahlreiche Randbemerkungen, die erkennen lassen, daß sie in wichtigen Teilen auch den Vorlesungen der späteren Jahre (1816, 1824, 1827, 1832) als Grundlage gedient haben. Die von Braun vorgenommenen Datierungen dürften zum größten Teil zutreffen; eine gründliche Revision muß einer künftigen kritischen Ausgabe vorbehalten bleiben. 1832 hat Schleiermacher auf breiten Papierstreifen fortlaufende Vorlesungsnotizen aufgezeichnet, die nach Stunden gezählt sind (insgesamt 84 Stunden). 12 Sie enthalten zahlreiche Verweise auf die früher ausgearbeiteten Manuskripte, die er für die 11

12

Die unterschiedliche Stundenzählung hat wahrscheinlich mit veranlaßt, daß Alexander Schweizer, der erste Herausgeber der Schleiermacherschen Ethik, die beiden Manuskripte, die nach Form und Inhalt zusammengehören, auf verschiedene Jahre datiert hat, wobei er hinsichtlich des zweiten durch die Jahreszahl 1827 in einer späteren Notiz Schleiermachers irregeführt worden ist. Alexander Schweizer hat diese Notizen 1835 in seiner Ausgabe mitgeteilt, und zwar so, daß er sie unter Auflösung ihres Zusammenhangs einzelnen Paragraphen als „Anmerkung" beigegeben hat. Sein Abdruck ist unvollständig, nicht selten auch ungenau; vor allem läßt er nicht deutlich werden, daß es sich nicht um einzelne Anmerkungen, sondern um ein förmliches Vorlesungsmanuskript handelt, das sich allerdings an andere Manuskripte anlehnt. Otto Braun hat 1913 die „Bemerkungen zur Ethik (1832)" nach Schweizer abgedruckt, da er sie im Nachlaß nicht mehr vorfand. Wolfgang Virmond hat das Manuskript 1980 im Twesten-Nachlaß der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek entdeckt. Offenbar hat Twesten, der für seine Auswahlausgabe den Gesamtbestand der Ethik-Manuskripte eingesehen hatte, diesen Teil versehentlich nicht zurückgegeben.

15. Einleitung zu Schleiermachers „Ethik (1812/13)" [1981]

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damalige Vorlesung benutzt hat. Es sind nicht weniger als fünf, auf die er sich bezieht: bei der Einleitung auf die letzte Bearbeitung „Neuer Anfang der Ethik" (von 1816/17); beim Anfang der Güterlehre auf die „vorletzte Bearbeitung" (von 1814/15), da er, wie er selbst angibt, „die letzte verlegt hatte"; danach auf die wiedergefundene „letzte Bearbeitung" (von 1816/17); für den Rest der Güterlehre und für die Tugendund Pflichtenlehre auf die beiden Manuskripte von 1812/13.13 Daß Schleiermacher die Ethik von 1812/13 noch 20 Jahre später, zwei Jahre vor seinem Tod, seiner Vorlesung zugrunde legen und in der erwähnten Weise mit anderen Manuskripten kombinieren konnte, das läßt deutlich werden, daß es sich bei diesen späteren Entwürfen nicht um Dokumente einer gänzlich neuen Konzeption handelt, sondern um partielle Fortbildungen des alten Gesamtentwurfs, der als ganzer nicht ersetzt worden ist.

Letzte Bearbeitung der Einleitung und der Güterlehre (1816/17) Für das Sommersemester 1816, in dem Schleiermacher sich erneut der Ausarbeitung des geplanten Ethikkompendiums [XXVII] zugewandt hat, sind in der deutschen wie in der lateinischen Fassung des Berliner Vorlesungsverzeichnisses nur seine beiden theologischen Kollegs angekündigt (Dogmatik von 7—8 Uhr, eine neutestamentliche Vorlesung von 8 — 9 Uhr, beide fünfstündig). Die an der Philosophischen Fakultät gelesene Ethik ist nicht erwähnt. Aus brieflichen Äußerungen ergibt sich, daß die Vorlesung von 6 — 7 Uhr morgens gehalten worden ist. Am 10. Mai 1816: „Ich lese täglich drei Stunden hintereinander von 6—9, und zwei Tage in der Woche bin ich von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends in Einem Treiben, und es bekommt mir wohl. Ja ein etwas fauler Mensch, wie ich unleugbar bin, hat kein befriedigenderes Gefühl seines Lebens als in 13

Einzelne Anmerkungen aus dem Jahre 1832 finden sich auch am Rand der Manuskripte von 1812/13. Eine Notiz zur Güterlehre (unten S. 111) und einen längeren Zusatz zur Pflichtenlehre (unten S. 179) hat Schleiermacher selbst mit der Jahreszahl 1832 versehen. — Mit dem „anderen Heft", das an der zuletzt genannten Stelle erwähnt wird, dürfte die letzte Bearbeitung der Pflichtenlehre gemeint sein. Wie Randbemerkungen zu diesem Manuskript zeigen, ist es of-[XXXIII]fenbar - als sechstes in jener Vorlesung! — für denjenigen Teil der Pflichtenlehre benutzt worden, der im Entwurf von 1812/13 nicht ausgeführt ist.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

solchem Zustande. Ich schreibe jetzt neben dem Lesen meine Ethik und sehe den ersten Band des Platon und die erste Sammlung Predigten durch, zum Behuf neuer Auflagen." (Meisner 2, 231). Gesundheitliche Beschwerden und Arbeitsüberlastung haben dazu geführt, daß die begonnene Ausarbeitung während des Semesters abgebrochen wurde. Zu den Pflichten der Lehre, zu denen an der Akademie und zu denen des Pfarramts an der Dreifaltigkeitskirche kamen damals noch die des Rektorats, das Schleiermacher im Amtsjahr 1815/16 wahrgenommen hat. In einem Brief, der am 5. August, also gegen Semesterende, entstanden ist, schreibt er nach einer Erwähnung der Magenkrämpfe, die ihn seit Monaten geplagt hatten: „Das liebe Rektorat kostet auch mehr Zeit als nötig wäre. Und so geschieht denn trotz aller guten Vorsätze fast nichts, als daß ich meine drei Collegia von 6 — 9 Uhr morgens abhalte, meine Predigten und Katechisationen besorge und meinen Leichnam pflege. Ich dachte neben dem Collegio meine Ethik fertigzuschreiben, aber daraus ist nun, ohnerachtet ich einen gutenAnfang gemacht hatte, nichts geworden." (Briefe 4,212; vgl. auch Meisner 2,235). Die Vorlesung hat — außer in zwei Manuskripten — in einer Reihe von Randbemerkungen zur Güterlehre von 1812/13 einen Niederschlag gefunden. Diese Marginalien, bei denen zum Teil der Wochentag, zum Teil auch das Datum [XXVIII] (ohne Jahr) angegeben ist14, sind im Juli und in den ersten Augusttagen niedergeschrieben. Die Angaben („Montag, 22. Juli" usw.) passen nur für die Vorlesung des Jahres 1816. Die Randbemerkungen dürften dort einsetzen, wo der neue Entwurf nicht weitergeführt wurde. Sie lassen zugleich erkennen, daß Schleiermacher in diesem Semester nur die Güterlehre abgeschlossen hat und zur Behandlung der Tugend- und der Pflichtenlehre nicht mehr gekommen ist. Gegen Ende des Jahres 1816 hat er die im Sommer unterbrochene Arbeit noch einmal aufgenommen. An Gaß am 29. Dezember 1816: „Im Sommer dachte ich ... neben dem Collegium die Ethik fertigzumachen, und eine ganze Zeit lang blieb ich auch parallel, aber bald machte mein schlechter Gesundheitszustand es mir unmöglich. Seit der Reise habe ich sie gestern zuerst wieder hervorgesucht und einige Paragraphen geschrieben, aber recht ernsthaft werde ich sie wohl erst nach Ostern vornehmen können. Doch zweifle ich nun, wenn ich nur das künftige Jahr in leidlicher Gesundheit ablebe, nicht mehr an ihrer Vollendung." (Gaß 128 = 14

Vgl. unten S. 80,83,87,93,96,99. [Diese Angaben beziehen sich auf den Text der Edition. D. Hg.]

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Meisner 2,242; vgl. auch Briefe 4,214). In Briefen aus dem Frühjahr und Sommer zeichnet sich dann der Verzicht auf das geplante Kompendium ab. Am 26. Mai 1817: «... daß ich anfange die Segel einzuziehen mit literarischen Projekten und fürchte, daß ich manches nicht zustande bringen werde, was ich gern möchte. So ist mir die Ethik dadurch, daß ich so oft habe wieder davon gehen müssen, fast schon zuwider geworden; ich sehe, ich müßte ihr ein Jahr hintereinander alle meine freien Stunden widmen, wenn ich sie, so wie ich eigentlich wünsche, zustande bringen sollte, und dazu sehe ich bei so viel anderen Obliegenheiten, die sich von selbst immer wieder heranfinden, die Möglichkeit nicht." (Meisner 2,252; vgl. auch die Briefe an Twesten vom 11. Mai 1817, Meisner 2,249 und an Gaß vom 5. Juli 1817, Gaß 139 = Meisner 2,256). Die 1816/17 entstandenen Ausarbeitungen liegen mit großer Wahrscheinlichkeit in den beiden undatierten Manuskrip-[XXIX]ten vor, welche die letzte Bearbeitung der Einleitung einerseits, eines Teils der Güterlehre andererseits enthalten. Sie gehören nach Form und Inhalt zusammen; Braun hat sie in seiner Ausgabe als ein Manuskript gezählt. Das erste Manuskript trägt auf dem Umschlagblatt die Aufschrift „Neuer Anfang der Ethik", darunter die Bemerkung „Dieser müßte als Probe vorangedruckt werden, dann aber doch das andere vollständig folgen". Diese Notiz erlaubt die Erwägung, daß Schleiermacher das Manuskript als druckfertig angesehen hat. 15 Die Einleitung ist derjenige Teil des Systems der Ethik, den er am gründlichsten bearbeitet hat. Während sie 1805/06 nur eine skizzenhafte Ausführung erfahren hatte, ist sie 1812/13 zu einer systematischen Grundlegung ausgestaltet worden, die anschließend (vermutlich 1813) eine durchgehende und vollständige Überarbeitung, 1816/17 schließlich — in teilweiser Umgestaltung — die letzte Fassung empfangen hat. Schleiermacher entwickelt in der Einleitung zur Ethik die Grundzüge seiner Wissenschaftstheorie und seiner Wissenschaftssystematik, so daß ihr Schlüsselbedeutung für das Verständnis seines wissenschaftlichen Gesamtwerks zukommt. Das zweite Manuskript trägt die Aufschrift „Güterlehre. Letzte Bearbeitung". Dieser letzten waren drei frühere Bearbeitungen vorausgegangen, zwei vollständige (1805/06 und 1812/13) und eine fragmentarische (die vermutlich 1814/15 entstandene „vorletzte Bearbeitung"). Die letzte ist ebenfalls Fragment geblieben. Sie ist nur bis zur Mitte der zweiten von insgesamt drei Abteilungen (Grundzüge, Elementarischer Teil, Kon15

Als Schönheitsfehler ist der terminologische Wechsel von „Ethik" zu „Sittenlehre" in den Zwischenüberschriften zu notieren.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

struktiver Teil) gediehen. In der Ausführung zeigen sich noch formale Mängel. Die Erste Abteilung (Grundzüge) ist versehentlich als „Erster Abschnitt" bezeichnet. Die Zählung der Leitsätze läuft nach der Einleitung in der Ersten Abteilung zunächst weiter, setzt bei der Zweiten Abteilung jedoch neu ein. Die „Zweite Abteilung. Elementarischer Teil oder Ausführung der Gegensätze" gliedert sich in die Abschnitte: I. Die bildende Tätigkeit, II. Die bezeich-[XXX]nende Tätigkeit, die beide 1. im allgemeinen, 2. unter ihren entgegengesetzten Charakteren (Einerleiheit und Verschiedenheit) behandelt werden sollten. Schleiermacher hat die den Text gliedernden Überschriften im Manuskript nachträglich am Rand eingetragen. Dabei hat er im „I. Abschnitt: Die bildende Tätigkeit" versehentlich Gesichtspunkte der Untergliederung mit römischen Ziffern weitergezählt, so daß dann „Die bezeichnende Tätigkeit" im Manuskript als IV. statt als II. Abschnitt figuriert. Diese offenkundigen Versehen sind im Text der Ausgabe nicht korrigiert worden. Sie sind jedoch im Inhaltsverzeichnis, das am Anfang dieses Bandes mitgeteilt ist, nicht reproduziert. Dieses gibt vielmehr den Aufriß so an, wie er Schleiermachers Systematik entspricht.

Pflichtenlehre. Letzte Bearbeitung (vermutlich 1814/17) Die letzte Bearbeitung der Pflichtenlehre, der zwei frühere vorangegangen waren (1805/06 und 1812/13), ist als einzige nahezu vollständig ausgeführt. Sie ist nicht datiert. Braun hat sie auf 1814/16 angesetzt, ohne diese Angabe zu begründen. Da das Manuskript im Briefwechsel nicht erwähnt wird und da nichts auf einen Zusammenhang mit einer bestimmten Vorlesung hindeutet, sind über seine Entstehung nur Vermutungen möglich. Seiner Form nach (Leitsätze mit Anmerkungen) gehört es mit der vorletzten Bearbeitung der Güterlehre und mit den letzten Bearbeitungen der Einleitung und der Güterlehre zusammen. Daß es bei Gelegenheit der Vorlesung von 1816 niedergeschrieben sein sollte, muß als unwahrscheinlich gelten, da Schleiermacher in diesem Semester gar nicht zur Behandlung der Pflichtenlehre gekommen ist. Eher scheint denkbar, daß es in der brieflich bezeugten Arbeitsphase im Winter 18167 17 entstanden ist oder schon während der ebenfalls brieflich bezeugten Arbeit an der Ethik in der Zeit vom Herbst 1814 bis zum Sommer 1815. Allerdings kann auch eine spätere Entstehung nicht ausgeschlossen werden.

16. Schleiermacher als philosophischer Lehrer [1983]* Als Friedrich Schleiermacher die 2. Auflage seiner großen Dogmatik „Der christliche Glaube" (1830/31) vorbereitete, hat er dieser Neubearbeitung zwei Sendschreiben vorausgeschickt, in denen er sich mit Rezensenten und Kritikern der 1. Auflage (1821/22) auseinandergesetzt hat 1 . Er hat dabei nicht zuletzt solche Interpreten abgewehrt, die den Versuch unternommen hatten, für seine Dogmatik eine philosophische Genealogie zu ermitteln. Diesen Versuchen hat er das folgende Votum entgegengestellt: „Lassen Sie mich also bei meinem timeo Danaos et dona ferentes immer bleiben und mich freuen, daß ich dem Vorsatz treu geblieben bin, meinem eignen philosophischen Dilettantismus, und wenn ich mehr auf diesem Gebiet aufzuweisen hätte, würde meine Maxime doch dieselbe geblieben sein, keinen Einfluß auf den Inhalt meiner Glaubenslehre gestattet zu haben." 2 Das ist ein interessantes Selbstzeugnis. In der Schleiermacher-Literatur, insbesondere in der theologischen, ist es häufig zitiert und verhandelt worden. Dem Vorhaben, Schleiermacher als philosophischen Lehrer vorzustellen, scheint es wenig günstig zu sein. Nicht nur will beachtet sein, daß er sich ausdrücklich als philosophischen Dilettanten bezeichnet, vielmehr scheint sich auch eine grundsätzliche Distanz zur Philosophie abzuzeichnen, wenn deren mögliche Leistung für die Glaubenslehre im Bilde des furchterregenden Danaergeschenks apostrophiert wird. Auf dieses Bildwort und auf das darin angedeutete Verhältnis von Philosophie und Glaubenslehre wird an späterer Stelle noch einmal zurückzukommen sein. Daß Schleiermachers Äußerung nicht eine pauschale Absage an die Philosophie meint, das dürfte allerdings für sich klar sein. * Vgl. Bibliographie Nr. 46 1 Die an seinen Freund Friedrich Lücke, Theologieprofessor in Göttingen, adressierten Sendschreiben sind im Jahrgang 1829 der Theologischen Studien und Kritiken erschienen. Sie sind abgedruckt in: Sämtliche Werke (abgekürzt SW) I. Abt., Bd. 2, S. 575 — 653. Eine kritische Ausgabe hat 1908 Hermann Mulert veranstaltet. 2 SW I. Abt., Bd. 2, S. 650.

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Die Rede von seinem philosophischen Dilettantismus zeigt jedenfalls ein Engagement „auf diesem Gebiet" an. Ob die Selbsteinschätzung, die der Begriff „Dilettantismus" ausspricht, als understatement zu beurteilen ist, ob womöglich Ironie hineinspielt, das ist nicht ganz leicht zu sagen. Schleiermachers Sendschreiben setzen sich mit Autoren auseinander, die ihm höchst unterschiedliche [42] philosophische Einflüsse attestiert hatten (Spinoza, Fichte, Schelling, Jacobi). Vor diesem Hintergrund kann die Bezugnahme auf den „eigenen philosophischen Dilettantismus" auch als Bekräftigung philosophischer Selbständigkeit gelesen werden. Im übrigen trägt der Ausdruck wohl einfach dem Sachverhalt Rechnung, daß Schleiermacher von Profession nicht Philosoph gewesen ist, sondern Theologe. In der Rede, die er am 10. Mai 1810 bei seiner Aufnahme in die philosophische Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin gehalten hat, findet sich ebenfalls der Hinweis, daß er „alles, was hier in Erwägung kommen kann, immer nur als Liebhaberei betrieben" habe.3 Der Ertrag dieser „Liebhaberei" ist freilich schon dem äußeren Umfang nach beachtlich. In der posthumen Ausgabe seiner Sämtlichen Werke, deren drei Abteilungen „Schriften zur Theologie", „Predigten", „Schriften zur Philosophie" den großen Bereichen seiner Wirksamkeit entsprechen, nimmt die philosophische (III.) Abteilung mit 10 Bänden nahezu den gleichen Umfang ein wie die theologische (I.) Abteilung, die 11 Bände umfaßt. Die Verbindung von philosophischer und theologischer Arbeit, die sich in den Sämtlichen Werken abzeichnet, kann geradezu als die Signatur von Schleiermachers Lebens werk angesehen werden. Der 1768 in Breslau geborene Sohn eines preußischen Feldpredigers hat seine Ausbildung zunächst in Lehrinstituten der Brüdergemeinde erhalten. Aus der Hochschule der Herrnhuter, dem Seminar zu Barby, ist er 1787 nach einer Krise seiner religiösen Überzeugungen ausgeschieden. Er ist dann zwei Jahre lang Student der Theologie in Halle gewesen. In der Folgezeit hat er vor dem reformierten Kirchendirektorium in Berlin die beiden theologischen Examina abgelegt, 21jährig das examen pro licentia concionandi, vier Jahre später das examen pro ministerio. Nach Tätigkeiten als „Hofmeister" (Hauslehrer), als Lehrer und als „Adjunkt" (Hilfsprediger) ist er von 1796 bis 1802 reformierter Krankenhaus-Pfarrer an der Berliner Charite gewesen, danach von 1802 bis 1804 Gemeindepfarrer in der pommerschen Kleinstadt Stolp. Alles in allem sind das charakteristische Daten und Stationen einer Theologenbiographie. Auffällig ist die geringe Rolle, die in dieser ganzen Zeit das Fachtheologische 1

SW III. Abt., Bd. 3, S. 4.

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in Schleiermachers Studien, in seinen frühen Aufzeichnungen, auch in seinen ersten Veröffentlichungen spielt. Wilhelm Diltheys berühmte Biographie „Leben Schleiermachers" (1870), die Fragment geblieben ist und nur bis zum Jahre 1802 [43] führt 4 , hat die Darstellung dieser Jugendund Werdegeschichte zu einem Gemälde der Philosophie und Literatur der ganzen Epoche gestaltet. Die damalige Theologie hingegen kommt in ihr allenfalls beiläufig vor. Die marginale Rolle des Theologischen in Diltheys Werk entspricht dem Bild, das sich aus Schleiermachers Jugenddokumenten ergibt. Während des Studiums in Halle hat er seinen wichtigsten Lehrer in der Philosophischen Fakultät gefunden: Johann August Eberhard 5 . Bei ihm hat er die Philosophie der Griechen studiert, die eines seiner Lebensthemen geworden ist; in seinen Kollegs hat er die Auseinandersetzung der von Christian Wolff geprägten Schulphilosophie mit den Hauptschriften Immanuel Kants erlebt. Die frühen Manuskripte Schleiermachers sind fast ausschließlich philosophischen Themen und Texten gewidmet 6 . Aristoteles, Spinoza, Leibniz, Kant, Jacobi — das sind die Autoren, mit denen er sich exzerpierend und kommentierend beschäftigt hat. Seine erste Veröffentlichung ist dann zwar die Übersetzung eines Predigtbandes aus dem Englischen gewesen. Der weit überwiegende Teil seiner frühen Schriftstellerei jedoch ist nach Inhalt und Form durch die — kritische und produktive — Teilnahme an der damaligen philosophischen und literarischen Debatte bestimmt. Als der 35jährige 1804 als außerordentlicher Professor der Theologie nach Halle berufen worden war, hat er in Briefen gelegentlich bekundet, wie sehr er bei der Ausarbeitung der Vorlesungen seine mangelnde Kenntnis der theologischen Literatur empfand 7 . 4

5

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7

Eine 2. Auflage ist 1922 in der Bearbeitung Hermann Mulerts erschienen; sie enthält aus Diltheys Nachlaß Bruchstücke der geplanten Fortsetzung, welche die Jahre bis 1806 umfassen. Die von Martin Redeker veranstaltete 3. Auflage (1970) bietet in einem ersten Halbband den Text der Originalfassung und in ei-[52]-nem zweiten die von Mulert veröffentlichten Abschnitte. Zur Bedeutung der hallischen Schulphilosophie für Schleiermacher vgl. Eilen Herms, Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, 1974. Auszüge aus diesen Manuskripten hat Dilthey 1870 als Anhang zu seiner Biographie unter dem Titel „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers" mitgeteilt. Die 2. Aufl. (hrsg. von Mulert) und die 3. Aufl. (hrsg. von Redeker) enthalten diesen Anhang nicht. — Eine Edition sämtlicher Jugendmanuskripte erscheint in der kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe. „Sie sehen ... lieber Freund, wie wenig ich eigentlich mit der theologischen Literatur bekannt bin, und wenn Sie den Mangel in seinem ganzen Umfang kennten, würden Sie erschrecken. Es ist aber bei meiner Denkungsart und Lage ganz natürlich. Denn

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In Berlin und in Stolp hat Schleiermacher unter höchst unterschiedlichen Bedingungen gelebt. Das Berliner und das Stolper Amt haben allerdings das gemeinsam gehabt, daß sie ihrem Inhaber viel Zeit für seine Interessen und Arbeiten gelassen haben. Aus beiden Phasen sollen je zwei Veröffentlichungen hervorgehoben werden. 1799 ist die Schrift erschienen, die, obwohl zunächst anonym gedruckt, Schleiermachers Namen rasch bekannt gemacht hat und die bis heute seine einflußreichste Veröffentlichung geblieben ist: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern"8. Die Wirkungsgeschichte des Büchleins hat es sowohl für die Theologie wie für die Religionsphilosophie und Religionswissenschaft zu einem klassischen Dokument werden lassen. Die dritte Rede „Über die Bildung zur Religion" kann überdies als wichtige Urkunde der Religionspädagogik genannt werden. Im Jahre 1800 hat Schleiermacher die „Monologen" veröffentlicht, das Manifest einer Ethik der Individualität 9 . An Kant und Fichte anknüpfend [44] stellt es deren Pflichtethik überbietend entgegen: „So ist mir aufgegangen, was jetzt meine höchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll, in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare, und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit alles, was aus ihrem Schöße hervorgehen kann." 10 Der Titel „Monologen" gibt die literarische Form an, die absichtsvoll gewählt ist. Diese Individualitätsethik macht ihre Eigenart nicht zuletzt dadurch kenntlich, daß sie nicht als theoretische Abhandlung auftritt, sondern als individuelles Zeugnis und Bekenntnis, dessen Stilisierung — in ähnlicher Weise wie auch schon die „Reden" — die vom Romantikerkreis proklamierte Einigung von Philosophie, Kunst und Leben realisiert. ehe ich hierher kam, war ich gar nicht in Verlegenheit um einzelne theologische Kenntnisse, und als Ganzes aus freier Liebe zog mich weniges an, und ich ließ mich um alles gern unbekümmert." Brief an Joachim Christian Gal? vom 6. September 1805, in: Heinrich Meisner (Hrsg.), Schleiermacher als Mensch. Sein Wirken. Familien- und Freundesbriefe 1804-1834. Gotha 1923, S. 43 f. 8 Eine kritische Ausgabe, welche die vier Auflagen von 1799, 1806, 1821 und 1831 berücksichtigt, hat Bernhard Pünjer veranstaltet (Braunschweig 1879). Die neueren Ausgaben bieten durchweg nur den Text der Erstausgabe: Rudolf Otto (1899, 1967), Hans-Joachim Rothert (= Philosophische Bibliothek 255, 1958, Nachdruck 1970), Carl Heinz Ratschow (Reclam o. J.). * Kritische Ausgabe von Friedrich Michael Schiele (1902), 2. erweiterte Auflage von Hermann Mulert (1914), 3. Auflage (Nachdruck) 1978. 10 Monologen (1. Aufl.) S. 40.

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In die Stolper Zeit fällt die erste im engeren Sinne wissenschaftliche Schrift Schleiermachers, die „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre" (1803).11 Sie hat ein gänzlich anderes Gepräge als die vorhergegangenen Veröffentlichungen. Sie unternimmt eine kritische Analyse der ethischen Systeme seit der Antike. Auf die Nennung von Büchern, auf Referate und Zitate ist dabei völlig verzichtet. Schleiermacher setzt eigentlich Leser voraus, welche die Kenntnis der Geschichte der Ethik schon mitbringen. Man wird fürchten müssen, daß seine Darstellung eben deswegen nicht allzu viele Leser gefunden hat. Die kritische Leistung des Buches ist Grundlage und Ausgangspunkt für Schleiermachers eigene Ethik-Vorlesungen geworden. Das zweite gewichtige Arbeitsvorhaben, das ihn während der Stolper Zeit beschäftigt hat, ist die PlatoÜbersetzung gewesen. Dieses große wissenschaftliche Projekt, das ursprünglich von Friedrich Schlegel und ihm gemeinsam geplant worden war, hat er dann allein ausführen müssen. Es hat ihn über Jahrzehnte beschäftigt. Der erste Band seiner Übersetzung ist 1804 erschienen, der sechste Band 1828.12 Seine kritischen Einleitungen zu den einzelnen Schriften gelten als Beginn der neueren Plato-Forschung. An der Universität Halle hat Schleiermacher nur vier Semester gelehrt, vom Winter 1804/05 bis zum Sommer 1806. Nach der Schließung der Universität ist er 1807 nach Berlin übersiedelt, wo er dann — nach einer zweijährigen Übergangszeit als Privatgelehrter — 25 Jahre lang in einem kirchlich-theologischen Doppelamt gestanden hat. Von 1809 bis zu seinem Tode im Jahre 1834 ist er reformierter Prediger an der Dreifaltigkeitskirche gewesen; auf dem [45] Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde ist er begraben. Seit der Eröffnung der neuen Universität im Jahre 1810 ist er gleichzeitig Professor an der Theologischen Fakultät gewesen. In Berlin hat auch seine philosophische Wirksamkeit einen quasi amtlichen Status bekommen. 1810 ist er Mitglied der philosophischen Klasse der Akademie geworden. Seit 1814 ist er Sekretär dieser Klasse gewesen, seit 1826 Sekretär der historisch-philologischen Klasse. Beide Klassen sind 1827 zur historisch-philosophischen vereinigt worden. 11

12

Abgedruckt SW III. Abt., Bd. l - Kritische Ausgabe 1910 von Otto Braun, sowohl selbständig erschienen wie im 1. Bd. von: Schleiermachers Werke, Auswahl in 4 Bänden, hrsg. von Otto Braun und Johannes Bauer. Von der 2. Aufl. (1927/28) dieser Auswahlausgabe ist 1967 ein Nachdruck erschienen. Die in der Reihe „Rowohlts Klassiker" erschienene Plato-Taschenbuch-Ausgabe (Sämtliche Werke, hrsg. von W. F. Otto, E. Grassi, G. Plamböck) bietet Schleiermachers Übersetzung.

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In der schon erwähnten Rede bei seinem Eintritt in die Akademie hat er als Feld seines Interesses und seiner Arbeit „die mannichfaltigen Versuche des Altertums in dem Gebiet der Philosophie"13 genannt. Diese Selbstvorstellung war im Blick auf seine bereits vorliegenden Leistungen wohlbegründet. Von der Plato-Übersetzung waren bis dahin fünf Bände erschienen. 1808 hatte er eine Abhandlung über Heraklit veröffentlicht.14 Das in der Antrittsrede genannte philosophiehistorische Arbeitsprogramm ist für ihn auch in der Folgezeit leitend geblieben. Von den insgesamt 36 Abhandlungen, die er in der Akademie vorgetragen hat 15 , handeln nicht weniger als neunzehn über Themen der antiken Philosophie16. Neben diesen philosophiegeschichtlichen Abhandlungen stehen systematische, unter denen die zu Grundbegriffen der Ethik (Begriff der Tugend, der Pflicht, des Erlaubten, des höchsten Gutes; Unterschied zwischen Natur- und Sittengesetz) den wichtigsten Komplex darstellen. Die Mitgliedschaft in der Akademie ist noch in anderer Hinsicht bedeutungsvoll gewesen. Mit ihr war das Recht verbunden, Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät zu halten. Schleiermacher hat dieses Recht im Vollmaß wahrgenommen. Er hat in der Mehrzahl der Semester sowohl in der Theologischen wie in der Philosophischen Fakultät gelesen. In der Regel hat er zwei fünfstündige theologische Vorlesungen gehalten, daneben ein ebenfalls fünfstündiges philosophisches Kolleg. Die Vorlesungsverzeichnisse geben den unterschiedlichen Status präzis an: Die theologischen Vorlesungen werden angekündigt durch „Herrn Prof. Schleiermacher", die philosophischen hingegen durch „Herrn Schleiermacher, Mitglied der Akademie der Wissenschaften". Schleiermacher hat an der Berliner Universität unter Bedingungen gelehrt, die er selbst mitgestaltet hatte. An den Gründungsvorbereitun13

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SW III. Abt., Bd. 3, S. 8. — Vgl. dazu auch seine Einleitung zu der ersten Abhandlung, die er in der Akademie vorgetragen hat („Über Diogenes von Apollonia", gelesen am 29. Januar 1811), SW III. Abt., Bd. 2, S. 149 ff. Herakleitos der dunkle, von Ephesos, dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten, in: Museum für Alterthums-Wissenschaft, hrsg. von F. A. Wolf und Ph. Buttmann, Bd. I (1808); abgedruckt in: SW III. Abt., Bd. 2. Vgl. dazu das Verzeichnis SW III. Abt., Bd. 3, S. XIII ff. - Dreizehn Abhandlungen, die bereits in den Jahrbüchern der Akademie erschienen waren, sind wieder abgedruckt in SW III. Abt., Bd. 2. Der 3. Bd. enthält die ungedruckt gebliebenen Abhandlungen (mit Ausnahme von neun, deren Manuskripte schon 1835 nicht mehr auffindbar waren), daneben 21 Akademiereden, die „bei besonderen Veranlassungen gelesen" worden sind. U. a. über Anaximander, Empedokles, Diogenes von Apollonia, Sokrates, Demokrit; mehrere Abhandlungen sind Plato-Themen gewidmet; mehrere beschäftigen sich mit Aristoteles, u. a. mit seinen ethischen Schriften.

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gen und an der Organisation der Universität ist er maßgeblich beteiligt gewesen. Er gehört zu der kleinen Zahl akademischer [46] Reformer, denen es zuteil geworden ist, die Realisierung ihrer Programme zu erleben. Über seine Schrift „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn" (1808) hat Helmut Schelsky — mißbilligend, aber zutreffend — geurteilt, daß sie „im Grunde genommen den größten Einfluß ausgeübt hat, da die Berliner Universität seinem Bilde am ähnlichsten geworden ist" 17. Die Aufgabe der Universität — im Unterschied zur Schule einerseits, zur Akademie andererseits — hat Schleiermacher folgendermaßen beschrieben: „Die Idee der Wissenschaft in den edleren, mit Kenntnissen mancher Art schon ausgerüsteten Jünglingen zu erwecken, ihr zur Herrschaft über sie zu verhelfen auf demjenigen Gebiet der Erkenntnis, dem jeder sich besonders widmen will, so daß es ihnen zur Natur werde, alles aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaft zu betrachten, alles einzelne nicht für sich, sondern in seinen nächsten wissenschaftlichen Verbindungen anzuschauen und in einen großen Zusammenhang einzutragen in beständiger Beziehung auf die Einheit und Allheit der Erkenntnis, daß sie lernen, in jedem Denken sich der Grundgesetze der Wissenschaft bewußt zu werden und eben dadurch das Vermögen, selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen allmählich in sich herausarbeiten, dies ist das Geschäft der Universität. Hierauf deutet auch dieser ihr eigentlicher Name, weil eben hier nicht nur mehrere, wären es auch andere und höhere, Kenntnisse sollen eingesammelt, sondern die Gesamtheit der Erkenntnis soll dargestellt werden, indem man die Prinzipien und gleichsam den Grundriß alles Wissens auf solche Art zur Anschauung bringt, daß daraus die Fähigkeit entsteht, sich in jedes Gebiet des Wissens hineinzuarbeiten. Hieraus erklärt sich die kürzere Zeit, welche jeder auf der Universität zubringt als auf der Schule; nicht als ob nicht um alles zu lernen mehr Zeit erfordert würde, sondern weil man das Lernen des Lernens wohl abmachen kann in kürzerer; weil eigentlich, was auf der Universität verlebt wird, nur ein Moment ist, nur ein Akt vollbracht wird, daß nämlich die Idee des Erkennens, das höchste Bewußtsein der Vernunft, als ein leitendes Prinzip in dem Menschen aufwacht." 18 17

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Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, 1963, S. 64. Gelegentliche Gedanken, abgedruckt: SW III. Abt., Bd. 1; hier zitiert nach dem Abdruck in: Schleiermacher, Pädagogische Schriften, 2 Bde., hrsg. von E. Weni-[53]ger, 1957, Bd. 2 (S. 81-139), S. 95.

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Diesem Verständnis des akademischen Studiums, das in der Formel „Lernen des Lernens" zusammengefaßt ist, korrespondieren spezifische Anforderungen an den akademischen Lehrer. Hochschuldidaktik gehört zu den klassischen Themen der Universitätsreform. „Der Lehrer muß alles, was er sagt, vor dem Zuhörer entstehen lassen; er muß nicht erzählen, was er weiß, sondern sein eigenes Erkennen, die Tat selbst, reproduzieren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die Tätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Erkenntis unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden. Der Hauptsitz dieser Kunst des Vertrags ist freilich die Philosophie, das ei[47]gentlich Spekulative; aber alles Lehren auf der Universität soll ja auch hievon durchdrungen sein, also ist doch dies überall die eigentliche Kunst des Universitätslehrers."19 Diese Passagen sind geeignet, zugleich eine Vorstellung von Schleiermachers Lehrwirksamkeit zu vermitteln. Seine Hörer haben bezeugt, daß er dem selbstformulierten Anspruch in besonderer Weise gerecht geworden ist. In einem Vortrag „Über die Lehrmethode Schleiermachers", den Adolf Diesterweg 1834, wenige Monate nach Schleiermachers Tod, gehalten hat, findet sich ein höchst anschaulicher Bericht, in dem es u. a. heißt: „Es war ein lebendiger Denkprozeß, der Prozeß des Denkens stand jedem, der vor Schleiermacher saß, in der lebendigsten, unmittelbarsten, ergreifendsten Anschauung vor Augen; man sah denken, man hörte denken, man fühlte es. Man erkannte in ihm die lebendige Werkstätte des zeugenden Geistes, man beobachtete das Werden der Gedanken und man fühlte sich selbst zum Gedankenerzeugen erregt und bewegt. Wer von ihm nicht denken lernte, konnte es nirgends lernen. ... Seine Methode war die sokratische in ihrer zeitgemäßen Anwendung auf die Wissenschaften der Gegenwart in den Hörsälen der Universitäten des 19ten Jahrhunderts." 20 Schleiermachers Vorlesungen haben sich praktisch über das Gesamtspektrum der damaligen philosophischen Fächer erstreckt. Ich nenne ihre Themen: Geschichte der griechischen Philosophie, Geschichte der Philosophie unter den christlichen Völkern21, Dialektik, Ethik, Psycholo19

20

21

Ebd., S. 107. Der Vortrag ist 1834 veröffentlicht; er ist hier zitiert nach dem Abdruck in: Schriften und Reden, Bd. 2, 1950 (S. 117-133), S. 127. Zu den Hörern dieser Vorlesung hat im Sommersemester 1812 Schopenhauer gehört. Vgl. die Angaben in: Schopenhauer, Sämtliche Werke, hrsg. von Julius Frauenstädt, 2. Aufl., Neue Ausgabe, 1922; Bd. l, S. 150, 153.

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gie, Politik bzw. Staatslehre22, Ästhethik, Erziehungslehre. Einen Sonderfall stellt die Hermeneutik dar. Schleiermacher hat sie — von einer Ausnahme abgesehen — als theologische Vorlesung vorgetragen. Er hat sie jedoch als allgemeine Hermeneutik entwickelt, mit der er in einem zweiten Gang die Anwendung auf das neue Testament verbunden hat. 23 Während aus Schleiermachers theologischer Lehrtätigkeit zwei Werke hervorgegangen sind, die — zusammen mit den „Reden" — die wichtigsten Träger seiner theologischen Wirkung geworden sind24, haben die philosophischen Vorlesungen einen literarischen Niederschlag nur in einigen der zu Schleiermachers Lebzeiten gedruckten Akademieabhandlungen gefunden. Schleiermacher hat geplant, die Dialektik und die philosophische Ethik als Buch zu veröffentlichen, also diejenigen Disziplinen, die in seiner Wissenschaftssystematik die grundlegenden sind. Die von ihm begonnenen Ausarbeitungen für den Druck sind jedoch Fragment geblieben. Nach seinem Tode im Jahre 1834 haben Schüler und Freunde die philosophischen Vorlesungen aus dem Nachlaß herausgegeben. [48] Schleiermachers Editoren haben vor Aufgaben von besonderer Schwierigkeit gestanden. Sie mußten Entwürfe und Notizen aus verschiedenen Semestern berücksichtigen. Diese Manuskripte sind zum Teil von extremer Knappheit, so daß oft Nachschriften hinzugenommen werden 22

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Mit Bezug auf die Vorlesung des Sommersemesters 1817 hat der preußische Staatskanzler Hardenberg am 8. Dezember 1817 an den Unterrichtsminister Altenstein geschrieben: „Bei dieser Gelegenheit mache ich Ew. Excellenz auf die Vorlesungen des Professors Schleiermacher aufmerksam. Sie hatten hauptsächlich eine politische Tendenz, dienten, ohne einen reellen Nutzen zu gewähren, dazu, die Gemüter zu bewegen und zu entzweien. Se. Majestät der König haben sich mehrmals mißfällig darüber geäußert, und sie dürfen unter diesen Umständen nicht ferner gestattet werden"; zitiert bei Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 2, 1910, S. 39. — Schleiermacher hat lange Zeit als politisch verdächtig gegolten. Seine Vorlesungen, auch seine Predigten sind zeitweise polizeilich überwacht worden. Im Sommersemester 1814 hat er ausnahmsweise eine förmliche Aufteilung vorgenommen. „Die allgemeinen Grundsätze der Auslegungskunst" hat er (vierstündig) in der philosophischen Fakultät angekündigt, „Die Hermeneutik des N. Testaments" (zweistündig) in der theologischen (und zwar mit dem Zusatz, daß er sie „nach Beendigung der allgemeinen Hermeneutik" vortragen werde). Die knappe theologische Enzyklopädie „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" (1811, 2. umgearbeitete Ausgabe 1830) ist, wie der vollständige Titel angibt, „zum Behuf einleitender Vorlesungen" entworfen. — Die zweibändige Dogmatik „Der christliche Glaube" (1821/22, 2. umgearbeitete Ausgabe 1830/ 31) zeigt in ihrer Gestaltung — Leitsätze mit angeschlossenen Erläuterungen — deutlich die Herkunft aus dem Lehrbetrieb.

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mußten, wenn überhaupt ein lesbarer Text hergestellt werden sollte. Schleiermachers Aufzeichnungen sind zudem oft in einer Mikroschrift gehalten, deren Entzifferung erhebliche Probleme bereitet. Die Veröffentlichung dieser Nachlaßausgaben hat sich über einen langen Zeitraum hingezogen. 1835 ist die Ethik25 erschienen, 1839 die „Geschichte der Philosophie"26 und die „Dialektik" 27 , 1842 die „Aesthetik"28, 1845 die „Lehre vom Staat"29, 1849 die „Erziehungslehre"30, 1862 schließlich 28 Jahre nach Schleiermachers Tod — die „Psychologie"31. Die Ausgaben sind von recht unterschiedlicher Qualität. Im ganzen wird man urteilen müssen, daß ihnen nur eine begrenzte "Wirkung zuteil geworden ist. Es spricht für sich, daß die Mehrzahl dieser Bände noch hundert Jahre nach ihrem Erscheinen beim Verlag de Gruyter, dem Nachfolger von Schleiermachers Verleger G. Reimer, vorrätig war. Die stärkste Wirkung dürfte von der Ausgabe der „Erziehungslehre" ausgegangen sein, die in den letzten hundert Jahren mehrfach neu gedruckt worden ist. Durch sie ist Schleiermacher zu einem Klassiker der neueren Pädagogik geworden. Die Wiederentdeckung seiner Pädagogik verbindet sich vor allem mit dem Wirken Wilhelm Diltheys und seiner Schüler. Dilthey hat auch die Hermeneutik Schleiermachers dem Vergessen entris25

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Entwurf eines Systems der Sittenlehre, hrsg. von Alexander Schweizer (SW III. Abt., Bd. 5). Auf dieser Ausgabe beruht die von J. H. von Kirchmann edierte Philosophische Sittenlehre, 1870. — Eine Ausgabe mit veränderter Auswahl und Gestaltung hat 1841 August Twesten veranstaltet: Grundriß der philosophischen Ethik; neuer Abdruck 1911, besorgt von F. M. Schiele. — Eine kritische Ausgabe sämtlicher Manuskripte ist 1913 von Otto Braun vorgelegt worden: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre; sie ist erschienen als Bd. 2 von: Schleiermachers Werke. Auswahl in 4 Bänden, 1910/13, 2. Aufl. 1927/28, Nachdruck 1967. Einen Neudruck der wichtigsten Manuskripte bieten die beiden Bände: Brouillon zur Ethik (1805/06), Ethik (1812/13) auf der Grundlage der Ausgabe von O. Braun, hrsg. u. eingeleitet von H.-J. Birkner, 1981 (Philosophische Bibliothek 334 und 335). Hrsg. von H. Ritter (SW III. Abt., Bd. 4, Teil 1). Hrsg. von Ludwig Jonas (SW III. Abt., Bd. 4, Teil 2). — Weitere Ausgaben (mit anderer Auswahl und Gestaltung) von Isidor Halpern 1903, von Rudolf Odebrecht 1942. Hrsg. von Bernhard G. C. Lommatzsch (SW III. Abt., Bd. 7). — Neue Ausgabe von Rudolf Odebrecht 1931. Hrsg. von Chr. A. Brandis (SW III. Abt., Bd. 8). Hrsg. von C. Platz (SW III. Abt., Bd. 9). Alle späteren Ausgaben sind Nach- bzw. Teildrucke dieses Textes. Zusammen mit anderen pädagogischen Dokumenten Schleiermachers ist er enthalten in: Pädagogische Schriften, hrsg. von Erich Weniger, 2 Bde., 1957, ebenso in: Ausgewählte Pädagogische Schriften, hrsg. von Ernst Lichtenstein, 1959, 2. Aufl. 1964. [54] Hrsg. von L. George (SW III. Abt., Bd. 6).

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sen. Sie hat in der hermeneutischen Debatte unseres Jahrhunderts eine neue Beachtung gefunden 32 . Weitere Wiederentdeckungen wird man für möglich halten können, vor allem im Blick auf Schleiermachers — als Theorie des Wissens und der Wissenschaft konzipierte — Dialektik und im Blick auf seine Ethik, die als Lehre von den Formen und Strukturen der menschlich-geschichtlichen Welt gestaltet ist. Mit seinen Vorlesungen hat Schleiermacher an der Berliner Philosophischen Fakultät in anspruchsvoller Konkurrenz gestanden. In den ersten Jahren hat er neben Johann Gottlieb Fichte gelesen33, nach dessen frühem Tod im Jahre 1814 neben Hegel, der 1818 als Fichtes Nachfolger nach Berlin gekommen war. Schleiermachers Verhältnis zu ihm hat sich spannungsreich gestaltet. Das ist nicht zuletzt bedingt gewesen durch den theologieübergreifenden Anspruch der Hegeischen Philosophie. Hegel hat diesen Anspruch auch gegenüber Schleiermacher schroff zur Geltung ge-[49]bracht. Dessen Formel für das Wesen der Religion, nämlich Gefühl Schlechthinniger Abhängigkeit 34 , hat er in der Vorrede zur Religionsphilosophie seines Schülers H. F. W. Hinrichs mit dem verletzenden Kommentar bedacht: „Soll das Gefühl die Grundbestimmung des Wesens des Menschen ausmachen, so ist er dem Tiere gleichgesetzt; denn das Eigene des Tieres ist es, das, was seine Bestimmung ist, in dem Gefühle zu haben und dem Gefühle gemäß zu leben. Gründet sich die Religion im Menschen nur 32

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Die „Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament" ist 1838 als Bd. 7 der I. (theologischen) Abteilung der SW von Friedrich Lücke herausgegeben worden. Einen Nachdruck dieses Textes (mit einigen Auslassungen) hat 1977 Manfred Frank veranstaltet: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers (= suhrkamp taschenbuch Wissenschaft — 211). Eine kritische Ausgabe sämtlicher Manuskripte Schleiermachers hat Heinz Kimmerle besorgt: Hermeneutik, 1959, 2. verbesserte und erweiterte Auflage 1974. Daß er neben Fichte gelesen hat, gilt im qualifizierten Sinn. Die erste philosophische Vorlesung, die er an der Berliner Universität gehalten hat, ist die Dialektik im Sommersemester 1811 gewesen. August Twesten, der spätere Nachfolger Schleiermachers, hat in seinem studentischen Tagebuch unter dem 25. März 1811 notiert: „Schleiermacher hat seine Dialektik in dieselbe Stunde verlegt, wo Fichte die Wissenschaftslehre liest. Er scheint es mit Fleiß getan zu haben; wenigstens will er sich auf eine Versetzung der Stunde gar nicht einlassen." Vgl. C. F. Georg Heinnci, D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, 1889, S. 158. Der christliche Glaube (1821/22): „Die Frömmigkeit an sich ist weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Neigung und Bestimmtheit des Gefühls" (§8). — „Das Gemeinsame aller frommen Erregungen, also das Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, das heißt, daß wir uns abhängig fühlen von Gott" (§ 9).

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auf ein Gefühl, so hat solches richtig keine weitere Bestimmung, als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu sein, und so wäre der Hund der beste Christ; denn erträgt dieses am stärksten in sich und lebt vornehmlich in diesem Gefühle. Auch Erlösungsgefühle hat der Hund, wenn seinem Hunger durch einen Knochen Befriedigung wird."35 Die letzte Bemerkung zielt darauf, daß Schleiermacher als Mitte des Christentums „das Bewußtsein der Erlösung durch die Person Jesu von Nazareth" namhaft gemacht hat.36 Hegels Programm einer spekulativen Rekonstruktion der christlichen Lehre hat in Schleiermachers eigener Fakultät einen engagierten Anwalt gehabt in Philipp Konrad Marheineke. Dessen Hauptwerk „Die Grundlehren der christlichen Dogmatik als Wissenschaft" stellt — in der Fassung der 2. Auflage von 1827 — das wichtigste Dokument des theologischen Hegelianismus, der später sogenannten Hegeischen Rechten, dar. Schleiermacher hat sich mit diesem Werk, das nur wenige Jahre nach seiner eigenen Glaubenslehre erschienen war, in den Sendschreiben an Lücke auseinandergesetzt, zwar ohne Marheinekes Namen zu nennen, jedoch mit der Anführung von wörtlichen Zitaten aus dessen Dogmatik37. Schleiermachers Einwand gegen die „spekulative Theologie", gegen ihre Verhältnisbestimmung von Religion und Philosophie lautet: „Die spekulative Theologie bedroht uns mit einem den Äußerungen Christi, welcher will, sie sollen alle von Gott gelehrt sein, gar nicht gemäßen Gegensatz esoterischer und exoterischer Lehre; die Wissenden haben allein den Grund des Glaubens, die Nichtwissenden haben nur den Glauben und erhalten ihn daher wohl nur auf dem Wege der Überlieferung."38 In diesen Zusammenhang gehört die eingangs zitierte Äußerung über das Verhältnis von Philosophie und Glaubenslehre, aus diesem Zusammenhang empfängt sie ihre Akzente. Auf Hegel und auf Marheineke zielt Schleiermachers Rede vom Danaergeschenk. Was er gegen beide geltend macht, das ist die inhaltliche Unabhän-[50]gigkeit des christlichen Glaubens von den Leistungen der Philosophie, dieser Philosophie, jeder Philosophie. In diesem Sinne hat er auch für seine eigene Philosophie verneint, 35

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Vorrede zu: H. F. W. Hinrichs, Die Religion im innern Verhältnis zur Wissenschaft, 1822; abgedruckt in: Sämtliche Werke, Jubiläums-Ausgabe Bd. 20, S. 19. Der christliche Glaube (1821/22), § 18. Vgl. dazu H.-J. Birkner, Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation, 1974, S. 37 f. [S. o. (157-192) S. 185 f.] Sendschreiben an Lücke, SW I. Abt., Bd. l, S. 617.

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daß er ihr einen Einfluß auf den Inhalt seiner Glaubenslehre gestattet habe. Das ist etwas anderes als eine prinzipielle theologische Absage an die Philosophie. Eine solche wäre Schleiermacher als Kuriosität erschienen. In seinem Aufriß der theologischen Fächer, wie er in der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" skizziert ist, heißt die theologische Fundamentaldisziplin „Philosophische Theologie". Grundzüge dieser „Philosophischen Theologie" hat Schleiermacher in der Einleitung zu seiner Glaubenslehre entwickelt. Die einschlägigen Partien tragen in der 2. Auflage des Werkes eine interessante Benennung. Sie heißen „Lehnsätze" (aus der Ethik, aus der Religionsphilosophie, aus der Apologetik). Die Kennzeichnung als „Lehnsätze" hat wissenschaftssystematischen Sinn. Sie hebt diese Einleitung ab von der nachfolgenden materialen Dogmatik. Sie zeigt an, auf welche Disziplinen der Philosophie (nämlich Ethik und Religionsphilosophie) und der Philosophischen Theologie (nämlich Apologetik) die Ausführungen der Einleitung Bezug nehmen. Schleiermacher begegnet so als philosophischer Lehrer auch in demjenigen Werk, das sein theologisches opus magnum geworden ist.

Anhang: Schleiermachers philosophische Vorlesungen Ethik (1804/05), 1805/06; Winter 1807/08; 1812/13, (1816), 1824, 1827, 1832 Hermeneutik (und Kritik) 1805; Winter 1809/10; 1810/11, 1814, 1819, 1822, 1826/27, 1828/29, 1832/33 Geschichte der griechischen Philosophie Sommer 1807; 1811/12, 1815, 1819/20, (1823) Politik/Lehre vom Staat Winter 1808/09; 1813, 1817, (1817/18), 1829, 1833 Geschichte der christlichen Philosophie Sommer 1810; 1812, (1820) [51] Dialektik 1811,1814/15, 1818/19, 1822, 1828, 1831 Pädagogik 1813/14,(1820/21), 1826

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Psychologie 1818, 1821, 1830,1833/34 Ästhetik 1819, 1825, 1832/33 Die Vorlesungen sind (in vereinfachter und vereinheitlichter Benennung) nach den gedruckten Ankündigungen aufgeführt. (Nicht aufgenommen ist die für das SS 1813 angekündigte Vorlesung über „Die allgemeinen Grundsätze der Erziehungskunst", die Schleiermacher dann nicht gehalten hat; vgl. dazu: Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, 1852, S. 144). Angaben in Klammern beziehen sich auf Vorlesungen, die Schleiermacher gehalten hat, die jedoch in den Vorlesungsverzeichnissen nicht erwähnt sind. (Vgl. dazu bes. M. Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 2, S. 208.) Während seiner Lehrtätigkeit in Halle (1804—06) hat Schleiermacher seine philosophischen Vorlesungen im Rahmen der Theologischen Fakultät angekündigt. In Berlin hat er in den Jahren 1807—1810 bereits vor der Eröffnung der Universität Vorlesungen gehalten. (Vgl. dazu R. Köpke, Die Gründung der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 1860, S. 141.) Nach Eröffnung der Universität hat er die philosophischen Vorlesungen in seiner Eigenschaft als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften bei der Philosophischen Fakultät angekündigt, mit Ausnahme der Hermeneutik, die er in der Regel bei der Theologischen, im SS 1814 teils bei der Philosophischen, teils bei der Theologischen Fakultät angezeigt hat (s. o. Anm. 23).

17. Friedrich Schleiermacher [1985]* I. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (Schleyermacher) wurde am 21. November 1768 in Breslau geboren, wo er sein erstes Lebensjahrzehnt verbrachte. Sein Vater Gottlieb Schleyermacher (1727—1794) war preußischer Feldprediger, der die Soldaten reformierten Bekenntnisses in den Garnisonen Schlesiens zu betreuen hatte. Da er häufig auf Dienstreisen unterwegs war, fiel die Erziehung der Kinder — neben Friedrich die drei Jahre ältere Schwester Charlotte und der vier Jahre jüngere Bruder Carl — weitgehend der Mutter Catharina Maria, geb. Stubenrauch (1736—1783) zu. 1778 siedelte die Familie nach Pleß in Oberschlesien über, ein Jahr später in das nahe bei Pleß gelegene Dorf Anhalt, wo der Vater zusätzlich zum Feldpredigeramt die Pfarrstelle der kleinen reformierten Gemeinde übernahm. 1782 entschlossen sich die Eltern, ihre drei Kinder der Obhut der Brüdergemeine anzuvertrauen. Friedrich und Carl wurden 1783 in das Paedagogium zu Niesky in der Oberlausitz aufgenommen, Charlotte trat in das Schwesternhaus Gnadenfrei in Niederschlesien ein. Einige elementare biographische Sachverhalte verdienen Hervorhebung. Zunächst: Schleiermacher kam aus einer Pastorenfamilie. Wie der Vater waren beide Großväter Theologen, dazu eine Reihe von Vorfahren und von weiteren Verwandten. Seine Großväter hat Schleiermacher nicht kennengelernt. Der Großvater mütterlicherseits Timotheus Christian Stubenrauch, zuletzt Hof- und Domprediger in Berlin, war bereits 1750 gestorben. Der Großvater Daniel Schleyermacher, der sein Taufpate war und nach dem er seinen zweiten Vornamen hat, lebte in Holland. Er war als reformierter Prediger in Elberfeld mit einer apokalyptischen Gemeinde des radikalen Pietismus in Verbindung gekommen, die sich um den Bandfabrikanten Elias Eller gesammelt hatte, schließlich jahrelang deren * Vgl. Bibliographie Nr. 49

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Prediger in Ronsdorf bei Elberfeld gewesen. Nach dem Bruch mit Eller in den Auseinandersetzungen um die Sekte der Hexerei und Zauberei angeklagt, hatte er sich der Verhaftung durch die Flucht entzogen. Schleiermachers Vater, in seiner Jugend selber Mitglied dieser Sekte, wurde später zu einem Prediger, der sein Amt im Sinne der christlichen Aufklärung wahrnahm. Er gehörte einer Freimaurerloge an. Als Fünfzigjähriger ist er der Brüdergemeine [88] begegnet und innerlich zum Herrnhuter geworden, der in einem Brief an seinen Sohn rückblickend urteilte, er habe „wenigstens zwölf Jahr lang als ein wirklich Ungläubiger gepredigt" (Briefe l, 84). Schleiermacher hat seinen Vater und seine Mutter zuletzt gesehen, als er beim Eintritt in Niesky vierzehnjährig von ihnen Abschied nahm. Die Mutter starb wenige Monate später. Der Vater, der bald wieder heiratete und in der zweiten Ehe noch zwei Kinder hatte, starb 1794. Auch wenn man die Strapazen und die Kosten damaliger Reisen in Rechnung stellt, bleibt es auffällig, daß in elf Jahren ein Wiedersehen nicht zustande gekommen ist. Ein Bruder der Mutter, Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch, auch er Theologe, hat in den folgenden Jahren den Neffen mehrfach für längere Zeit in sein Haus aufgenommen und ist dessen väterlicher Vertrauter geworden. Nach diesem Onkel, der ebenfalls Taufpate war, hat Schleiermacher den Vornamen Ernst. Sodann: Schleiermacher war Preuße. Seinen Rufnamen hat er sichtlich nach Friedrich dem Großen, unter dessen Fahnen der Vater seit 1760 diente. Schleiermacher hat, mit Ausnahme der in herrnhutischen Lehrinstituten verbrachten Zeit und abgesehen von Reisen, immer in Preußen gelebt. Von den elf Orten, in denen er längere Zeit gewohnt und gewirkt hat, sind sieben heute polnisch: Breslau, Pleß, Anhalt, Drossen, Schlobitten, Landsberg, Stolp; in der DDR liegen Niesky, Barby, Halle und das alte Berlin; der Friedhof mit Schleiermachers Grab liegt im Westberliner Bezirk Kreuzberg. Die Ereignisse und Wendungen der preußischen Geschichte — die Niederlage von 1806, die Reform, die Befreiungskriege, die Restauration — haben sein Leben und Wirken aufs stärkste bestimmt. Ferner: Schleiermacher war reformierter Konfession. Er gehörte damit in Preußen einer Minderheit an, die jedoch eine besondere Stellung insofern hatte, als das Herrscherhaus reformiert war. Das Verhältnis von Lutheranern und Reformierten ist ein wichtiges Thema wie seiner Theologie so insbesondere seines kirchenpolitischen Wirkens geworden. Schließlich verdient auch das Hervorhebung: Der „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts", als der Schleiermacher teils gefeiert, teils befehdet worden ist, war ein Kind des 18. Jahrhunderts. Fast mit der Hälfte seiner

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Lebenszeit gehört er dem Jahrhundert an, dessen Kirchen- und Theologiegeschichte durch das Neben- und Gegeneinander von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung gekennzeichnet ist. In seiner Familiengeschichte, vor allem in der Lebensgeschichte des Vaters, begegnet ein Spektrum religiöser, kirchlicher, theologischer Möglichkeiten dieses Jahrhunderts. In seiner eigenen Werdegeschichte sind der herrnhutische Pietismus und die neologische Aufklärung die prägenden Mächte. Das Erbe beider ist in seine Theologie eingegangen. [89]

II. In den beiden Jahren, die Schleiermacher im Schulinternat zu Niesky verbracht hat, ist er ganz in herrnhutische Frömmigkeit hineingewachsen. Nach Erlangung der Reife für das Theologiestudium trat er im September 1785, noch nicht siebzehn Jahre alt, in die kleine Hochschule der Gemeinde ein, in das Seminarium zu Barby, unweit von Magdeburg gelegen. Leben und Studium der etwa zwanzig Studierenden waren durch feste Regeln geordnet. Ihre Lektüre unterlag der Zensur, mit der Folge, daß die verbotene Literatur heimlich um so intensiver studiert und debattiert wurde. Schleiermacher hatte im Einklang mit den Wünschen des Vaters Prediger oder Lehrer in der Gemeinde werden wollen. Aus der vorgezeichneten Bahn ist er durch eine Krise seiner religiösen und theologischen Überzeugungen herausgeworfen worden. In einem bewegenden Brief (vom 21. Januar 1787) hat er sich dem Vater erschlossen: „Ich kann nicht glauben, daß der ewiger, wahrer Gott war, der sich selbst nur den Menschensohn nannte, ich kann nicht glauben, daß sein Tod eine stellvertretende Versöhnung war, weil er es selbst nie ausdrücklich gesagt hat, und weil ich nicht glauben kann, daß sie nötig gewesen; denn Gott kann die Menschen, die er offenbar nicht zur Vollkommenheit, sondern nur zum Streben nach derselben geschaffen hat, unmöglich darum ewig strafen wollen, weil sie nicht vollkommen geworden sind" (Briefe l, 42 f.). Der Brief schließt mit der Bitte, ihm die Möglichkeit zu geben, für zwei Jahre an die Universität Halle zu gehen. Der Vater, der durch diesen Brief aufs äußerste erschüttert wurde, hat es dem Sohn nicht leicht gemacht, an seinem Entschluß festzuhalten, schließlich aber seine Unterstützung nicht versagt. Der Bruch mit der Brüdergemeine ist nicht Schleiermachers letztes Wort gewesen. Durch die lebenslange enge Verbindung mit seiner Schwester Charlotte ist auch die Verbindung zur Gemeinde nie abgerissen.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

Sein Verhältnis zu dieser hat er später so ausdrücken können, daß er im Esoterischen, in der Religion, mit den Herrnhutern einig sei, nur im Exoterischen, in der Theologie, nicht (Briefe 4, 87f.). Während eines Besuchs bei seiner Schwester in Gnadenfrei im Jahre 1802 hat er in einem Brief geschrieben: „Ich kann sagen, daß ich nach allem wieder ein Herrnhuter geworden bin, nur von einer höhern Ordnung" (Briefe l, 295). Die Universität Halle, an der Schleiermacher vier Semester studiert hat (SS 1787 bis WS 1788/89), war ein knappes Jahrhundert zuvor gegründet worden. Sie hatte sich rasch zu einer der führenden deutschen Universitäten und zu einer akademischen Bastion der deutschen Aufklärung entwickelt. In der Philosophischen Fakultät hatte Christian Wolff (1679—1754) gelehrt, die beherrschende Gestalt der deutschen Aufklärungsphilosophie, dessen Schüler in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Mehrzahl der philosophischen Lehrstühle an deutschen Universitäten besetzt hielten. In der Theologischen Fakultät war aus den von August Hermann Francke (1663 — 1727) geprägten pietistischen Anfängen in [90] allmählichem Übergang die frühe theologische Aufklärung hervorgewachsen, die sog. Neologie. Ihr führender Vertreter Johann Salomo Semler (1725 — 1791) lebte und lehrte noch in Halle, als Schleiermacher dort studierte. Schleiermacher wohnte anfangs bei seinem Onkel Stubenrauch, der als Rektor des reformierten Gymnasiums auch Professor an der Theologischen Fakultät war, bis dieser 1788 eine Pfarrstelle in Drossen in der Nähe von Frankfurt/Oder übernahm. Von den Hallenser Theologieprofessoren war neben Stubenrauch auch Samuel Mursinna ein Verwandter. Dieser hat ihm beim Abgang von der Universität ein „glänzendes Zeugnis" (Meisner, 34) ausgestellt. In Schleiermachers Selbstzeugnissen aus dieser Zeit spielen die Hallenser Theologen, spielt überhaupt die Theologie nur eine geringe Rolle. Sein eigentlicher akademischer Lehrer war der Philosophieprofessor und Wolff-Anhänger Johann August Eberhard (1739-1809). Bei ihm hat er die Philosophie der Griechen studiert, die eines seiner Lebensthemen geworden ist. Auf Anregungen Eberhards geht die älteste wissenschaftliche Arbeit zurück, die in seinem literarischen Nachlaß erhalten ist, ausführliche Anmerkungen zum 8. und 9. Buch von Aristoteles' Nikomachischer Ethik und eine Übersetzung dieser Bücher. Bei Eberhard hat Schleiermacher die Auseinandersetzung der an Wolff sich anschließenden Schulphilosophie mit Kant erlebt, dessen Hauptschriften seit 1781 in rascher Folge erschienen. Die Beschäftigung mit Kant, dessen „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik"

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(1783) er bereits in Barby mit Freunden gelesen hatte (Briefe l, 66), begleitete ihn in die nächsten Jahre hinein. Schleiermachers Jugendmanuskripte, auch seine frühen Veröffentlichungen, sind zu einem guten Teil Dokumente der Auseinandersetzung mit Kant, vor allem mit dessen Ethik. An den „Jugendschriften 1787 — 1796", die seit 1983 zum ersten Mal in einer vollständigen kritischen Ausgabe vorliegen (KGA I, 1) fällt auf, daß diese frühen Manuskripte ausschließlich philosophischen (und philologischen) Fragen gewidmet sind, während theologische Themen völlig fehlen. Im Mai 1789 fand Schleiermacher wiederum Aufnahme im Hause Stubenrauch. In der Bibliothek des Pfarrhauses in Drossen bereitete er sich auf das erste theologische Examen („pro licentia concionandi") vor, das er im folgenden Jahr, einundzwanzig]ährig, vor dem reformierten Kirchendirektorium in Berlin ablegte. Seine Leistungen wurden teils als sehr gut, teils als gut, lediglich im Fach Dogmatik nur als „ziemlich" beurteilt (vgl. Meisner, 48). Predigerseminare gab es damals noch nicht. Der examinierte Theologe mußte zusehen, wie er zurechtkam, bis er eine Pfarrstelle fand. Schleiermacher hat sechseinhalb Jahre auf die erste selbständige Stelle warten müssen. Wie viele junge Theologen wurde er zunächst Hofmeister (Hauslehrer), und zwar auf dem Schloß der gräflichen Familie Dohna in Schlobitten (Ostpreußen), wo er zweieinhalb „im ganzen genommen recht glückliche Jahre" (Briefe l, 13), vom Oktober 1790 bis Mai 1793, verbrachte. Von Schlobitten aus hat er bei einer Reise nach Königsberg Kant einen Besuch abgestattet (Briefe l, 87 f.; 3, 38 f.). [91] Nach einem erneuten Aufenthalt in Drossen wurde er im Winter 17937 94 für ein halbes Jahr Lehramtskandidat in Berlin an dem von Friedrich Gedike geleiteten Seminarium für gelehrte Schulen. Gleichzeitig gab er — für freie Wohnung und Verpflegung — Unterricht am Kornmesserschen Waisenhaus. Im März 1794 legte er das zweite theologische Examen („pro ministerio") ab — wiederum mit der relativ schwächsten Note („hinlänglich") im Fach Dogmatik (vgl. Meisner, 66) —, um gleich darauf eine Stelle als „Adjunkt" in Landsberg an der Warthe anzutreten. Der dortige reformierte Prediger Johann Lorenz Schumann, der mit einer Schwester der Mutter Schleiermachers verheiratet war, benötigte wegen seines Gesundheitszustandes einen Helfer. Als er 1795 starb, wünschte sich die Gemeinde den Adjunkten als Nachfolger. Das reformierte Kirchendirektorium entschied anders. Es berief den Onkel Stubenrauch nach Landsberg und übertrug dem Neffen die Stelle des reformierten Predigers an der Berliner Charite.

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Schleiermacher hat in Drossen gelegentlich, in Schlobitten des öfteren, in Landsberg regelmäßig gepredigt. Einige Predigten aus dieser Zeit hat er später in den Sammelband aufgenommen, den er — mit der Widmung an den Onkel Stubenrauch — 1801 veröffentlicht hat (SW II, 1), weitere sind aus seinem Nachlaß herausgegeben worden (SW II, 7). Neben den philosophischen Jugendmanuskripten verdienen diese frühen Predigten als Zeugnisse seiner Werdegeschichte eigenes Interesse. Es sind Dokumente eines jungen Theologen, der in den Ideen der christlichen Aufklärung lebt. Einige Predigtthemen aus der Schlobittener Zeit, die er 1793 in einem Brief an den Vater mitgeteilt hat, können als repräsentativ angesehen werden. Am zweiten Ostertag hat Schleiermacher gepredigt „Über die Pflichten, welche die Gewißheit der Auferstehung uns auflegt", nach Ostern „Über die Geschichte vom Thomas, vom vernünftigen Glauben". Als weitere Themen sind genannt „Die wahre Furcht Gottes", „Die wahre Einigkeit der Christen" (eine Kommunionspredigt), „Von der notwendigen Einschränkung der Anhänglichkeit ans irdische Glück", „Die durch Christum aufgehobene Unmündigkeit des menschlichen Geschlechts" (Briefe I, 106). Die Anliegen christlicher Aufklärung treten selbst in diesen knappen Stichworten deutlich hervor: Aufhebung der Unmündigkeit, sittliches Streben, wahrer vernünftiger Glaube. Der junge Prediger hat sich auch als Predigtübersetzer betätigt. Seine ersten Veröffentlichungen sind Übersetzungen von zeitgenössischen englischen Predigtbänden gewesen. Von der fünfbändigen deutschen Ausgabe der „Predigten" von Hugh Blair, die Friedrich Samuel Gottfried Sack begonnen hatte, hat er den 4. Band (1795) zum größeren Teil, den 5. Band (1802) allein übersetzt. 1798 hat er eine zweibändige Übersetzung der „Predigten" von Joseph Fawcett vorgelegt. [92]

III. Die Stelle an der Berliner Charite hat Schleiermacher nicht ganz sechs Jahre innegehabt, vom September 1796 bis Mai 1802. Da er nur für die reformierten Insassen des Krankenhauses und des anfangs damit verbundenen Altersheimes zuständig war, ließen die amtlichen Pflichten ihm viel Zeit für private Studien und Unternehmungen. Er wurde eingeführt in die Geselligkeit der Berliner Salons und gewann Anteil an der philosophisch-literarischen Bewegung der frühen Romantik. Eine enge Freundschaft entwickelte sich zwischen ihm und Henriette Herz, Ehefrau des hoch angesehenen jüdischen Arztes Marcus Herz, deren Salon zu den

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prominenten Begegnungsstätten im damaligen Berlin gehörte. 1797 kam Friedrich Schlegel (1772-1829) nach Berlin, 25 Jahre alt, mit frühem literarischen Ruhm geschmückt. Er wurde Schleiermachers Freund und zog zu ihm. Fast zwei Jahre lang haben beide die Wohnung geteilt, die Schleiermacher auf der Chaussee vor dem Oranienburger Tor (heute Chausseestraße) bezogen hatte, als er die Dienstwohnung in der Charite wegen eines Umbaus verlassen mußte. Im Ideen- und Anregungsaustausch mit Schlegel und mit den Berliner Romantikern ist Schleiermacher zum Schriftsteller geworden. Für die von den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel herausgegebene programmatische Zeitschrift „Athenaeum" (1798 — 1800) wurde er — neben Novalis und anderen — als Mitarbeiter gewonnen. Außer Rezensionen hat er vor allem „Fragmente" beigesteuert, die teils in seinen früheren Aufzeichnungen ihre Grundlage haben, teils im „Symphilosophieren" der Berliner Freundesrunde entstanden sind (Krit. Ausg. in KGA I, 2). Von diesen Beiträgen, die anonym erschienen, ist besonders die „Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen" (1798) weithin bekannt geworden. Bei der Feier seines 29. Geburtstages gewannen die Gratulanten Schleiermacher das Versprechen ab, binnen Jahresfrist ein Buch zu schreiben. Er hat dieses Versprechen, das er zunächst bereute, glanzvoll eingelöst. 1799 erschien — ohne Nennung des Autors — die Schrift, die seine berühmteste geworden ist „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern". Im Titel des Buches ist mit dem Thema auch sein geistiger Ort angegeben. Schleiermacher wendet sich an Leser, die er auf die gemeinsame Voraussetzung der Bildung anspricht. Dieser Begriff fungiert als Losungswort der neuen Lebens- und Weltanschauung, als Losungswort desjenigen Einklangs von Kunst, Philosophie und Leben, den zu vertreten das Selbstbewußtsein und das Sendungsbewußtsein des Romantikerkreises ausmachte. Die Religionsthematik, in philosophischen und theologischen Abhandlungen des späten 18. Jahrhunderts vielfach verhandelt, wird in diesem Horizont neu aufgenommen, und zwar in spezifischer Zuspitzung, sofern nämlich ausgegangen wird von der Verachtung und von der Kritik, welche der Religion widerfährt. [93] Die 1. Rede („Apologie") unternimmt eine Analyse der Motive und Formen solcher Verachtung. Die Dogmen- und Kirchenkritik der Aufklärung wird dabei zugleich rezipiert und überboten. Im Namen der Religion wird die Verachtung dogmatischer Systeme, wird die Kritik der kirchlichen Orthodoxie ausdrücklich bekräftigt. Nicht minder verfällt es der Verachtung, wenn Religion als Stütze für Sittlichkeit, Recht und Ord-

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nung empfohlen wird. Zugleich richtet sich die Kritik gegen die metaphysisch-moralische Religionsdeutung der Aufklärung. Schleiermacher spricht von „übel zusammengenähten Bruchstücken von Metaphysik und Moral, die man vernünftiges Christentum nennt" (1. Aufl., 25). „Dieses Gemisch von Meinungen über das höchste Wesen oder die Welt und von Geboten für ein menschliches Leben (oder gar für zwei) nennt ihr Religion!" (44). „Das Wesen der Religion" — Thema der 2. Rede — ist weder Denken noch Handeln, weder Metaphysik noch Moral. Ihr gehört „eine eigne Provinz im Gemüte..., in welcher sie unumschränkt herrscht" (37). Die Begriffe und Formen, mit denen Schleiermacher die eigene Dimension der Religion bezeichnet, lauten „Anschauung und Gefühl" (50), „Sinn und Geschmack fürs Unendliche" (53), „Anschauen des Universums" (55). „Das Universum ist in einer ununterbrochenen Tätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick. Jede Form, die es hervorbringt, jedes Wesen, dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt, jede Begebenheit, die es aus seinem reichen, immer fruchtbaren Schöße herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf uns; und so alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion" (56). Die 3. Rede „Über die Bildung zur Religion" skizziert — in kritischer Wendung gegen die Aufklärung und ihre Pädagogik — Grundgedanken einer religiösen Erziehungslehre. Die 4. Rede „Über das Gesellige in der Religion oder über Kirche und Priestertum" erläutert das Verständnis religiöser Gemeinschaft, das sich im Zusammenhang dieser Religionstheorie ergibt. Die Gemeinschaft derer, die von der Religion ergriffen sind, ist eine Gemeinschaft ohne Hierarchie, „ein priesterliches Volk, ... eine vollkommne Republik" (184). Einen Unterschied von Priestern und Laien, von Redenden und Hörenden gibt es in ihr nur so, daß in der Gemeinschaft gegenseitiger Mitteilung jeder sowohl Priester als auch Laie, sowohl produktiv als auch empfangend sein kann. Für diese Gemeinschaft nimmt Schleiermacher den Begriff der „wahren Kirche" in Anspruch. Sie ist überall da, wo Menschen sich begegnen, in denen der religiöse Sinn lebendig ist. Unverkennbar ist es ein Gruß an die Brüdergemeine, wenn Schleiermacher in diesem Zusammenhang schreibt: „Vielleicht ist nur in einzelnen abgesonderten, von der großen Kirche gleichsam ausgeschlossenen Gemeinheiten etwas Ähnliches in einem bestimmten Raum zusammengedrängt zu finden" (192). In diesem Verständnis der wahren Kirche ist die Kritik an der bestehenden Kirche vorgezeichnet. Die 4. Rede mündet in ein Programm der Kirchenreform. „Der ganze Zuschnitt dieser Anstalt müßte ein anderer

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sein" (200). Sie wird [94] eingestuft als „eine Vereinigung solcher, welche die Religion erst suchen" (192 f.), als „Anstalt für die Lehrlinge in der Religion" (203). Für sie ist daher der Unterschied von Priestern und Laien, von Meistern und Lehrlingen konstitutiv. Es kommt jedoch darauf an, daß die Inhaber des priesterlichen Amtes wirklich Meister, „Virtuosen" sind und daß die „Lehrlinge" sich nach ihren Anlagen und Bedürfnissen einen Meister wählen können. Schleiermacher plädiert für die Ablösung der Parochialgemeinden durch Personalgemeinden. Als Grundschaden des bestehenden Kirchenwesens, als „Quelle alles Verderbens" (210) macht er die staatskirchliche Verfassung der Religion namhaft. Er fordert die Trennung von Kirche und Staat, wie sie von der Französischen Revolution, der „großen Erschütterung ... im nachbarlichen Lande" (226) vollzogen worden war. „Hinweg also mit jeder solchen Verbindung zwischen Kirche und Staat! — das bleibt mein Catonischer Ratspruch bis ans Ende oder bis ich es erlebe, sie wirklich zertrümmert zu sehen" (224). Im Zusammenhang mit Schleiermachers Kritik am Staatskirchentum ist eine kleine Schrift zu erwähnen, die er nahezu gleichzeitig mit den „Reden" veröffentlicht hat, ebenfalls anonym: „Briefe bei Gelegenheit der politisch-theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter" (1799). Der merkwürdig anmutende Titel erklärt sich daraus, daß er auf zwei Dokumente einer Debatte Bezug nimmt, welche die Rechtsstellung der Juden betraf. Juden konnten im damaligen Preußen die bürgerlichen Rechte nur erlangen, wenn sie zum Christentum übertraten. Diese Rechtslage hatte den Vorschlag des von Schleiermacher genannten Sendschreibens veranlaßt, Juden in die protestantische Kirche aufzunehmen aufgrund des Bekenntnisses zu den im Sinne der Aufklärung verstandenen Grundwahrheiten der natürlich-vernünftigen Religion. Schleiermacher hat diesen Vorschlag und die zugrundeliegende Religionsauffassung entschieden abgelehnt. Er ist zugleich über diesen Vorschlag weit hinausgegangen und hat gefordert, die Verleihung der bürgerlichen Rechte vom christlichen Bekenntnis unabhängig zu machen. Die 5. Rede handelt „Über die Religionen" so, daß sie Kategorien für das Verständnis geschichtlicher Religionen entwickelt und abschließend auf den „Judaismus" — im damaligen Sprachgebrauch Oberbegriff für die alttestamentliche Religion und das nachbiblische Judentum — und auf das Christentum eingeht. Schleiermacher setzt sich auch hier mit der Religionstheorie der Aufklärung auseinander, attestiert ihr die „Negation alles Positiven und Charakteristischen in der Religion" (277). Das Wesen der geschichtlichen, der positiven Religionen ist nicht von einem allge-

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meinen Grundbestand natürlicher Religion her zu begreifen, es muß vielmehr im Eigentümlichen, im Positiven, im Charakteristischen einer jeden Religion erfaßt werden, in ihrer — das ist Schleiermachers Schlüsselbegriff — „Grundanschauung" oder „Zentralanschauung". „Anschauen des Universums" — das war in der 2. Rede als „die allgemeinste und höchste Formel der Religion" (55) genannt worden. Jede solche Anschauung ist individu-[95]ell. Unzählige solcher Anschauungen sind möglich. Das Wesen einer geschichtlichen Religion ist zu erfassen in derjenigen Anschauung, die in ihr die alles bestimmende Grundanschauung ist, die vom Ursprung dieser Religion her für alle von ihr Ergriffenen zur eigenen Grundanschauung wird. Geschichtliche Religionen sind Gemeinschaften einer Grundanschauung. In diesem Sinne ist das Christentum die Gemeinschaft der Grundanschauung Jesu. Diese wird von Schleiermacher folgendermaßen beschrieben: „Sie ist keine andere, als die des allgemeinen Entgegenstrebens alles Endlichen gegen die Einheit des Ganzen, und der Art, wie die Gottheit dieses Entgegenstreben behandelt, wie sie die Feindschaft gegen sich vermittelt und der größer werdenden Entfernung Grenzen setzt durch einzelne Punkte über das Ganze ausgestreut, welche zugleich Endliches und Unendliches, zugleich Menschliches und Göttliches sind. Das Verderben und die Erlösung, die Feindschaft und die Vermittlung, das sind die beiden unzertrennlich miteinander verbundenen Seiten dieser Anschauung, und durch sie wird die Gestalt alles religiösen Stoffs im Christentum und seine ganze Form bestimmt" (291). Schleiermachers Ausführungen über das Christentum haben einen aphoristischen Zug. Im Zusammenhang der Theologie um 1800 gewannen sie ihre besondere Kontur dadurch, daß diese so unorthodoxen „Reden" in ihrer Christentumsdeutung solche Begriffe in die Mitte rückten, die in der Aufklärungstheologie an den Rand getreten waren, nämlich „Verderben" und „Erlösung". Am Schluß der 5. Rede, die auf das Verhältnis des Christentums zu anderen Religionen eingeht, hat Schleiermacher seiner Deutung noch einen besonderen Akzent gegeben. In der Konsequenz seiner ganz vom Individualitätsgedanken beherrschten Religionstheorie kann keine einzelne Religion exklusive Bedeutung beanspruchen. So heißt es auch über das Christentum: „Es verschmäht diesen Despotismus" (310). Gleichwohl hat das Christentum eine besondere Stellung insofern, als die Religion selber das Feld seiner Grundanschauung, der Anschauung von Verderben und Erlösung, ist. Das Christentum ist gewissermaßen die Kritik aller Religion. Es ist, wie Schleiermacher mit einer charakteristischen Formel sagt, „die Religion der Religionen" (310).

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Die fünf Reden sind nie gehalten worden. Es handelt sich um eine literarische Stilisierung, die zur Geltung bringen soll, daß die Thematik der Religion nicht in theoretischer Abhandlung ihre sachgemäße Darstellung findet, sondern in persönlichem Zeugnis, in bekenntnishafter Rede und Anrede. Es macht das „romantische" Gepräge der Schrift aus, daß mit dieser Stilisierung sich durchaus theoretische Absichten und Ansprüche verbinden. Diesem Gepräge entspricht es, daß die Schrift auf höchst unterschiedliche Weise gelesen werden kann und gewirkt hat. Nicht wenigen Lesern ist sie ein Erbauungsbuch „höherer Ordnung" geworden. Claus Harms (1778 — 1855) hat in seiner „Lebensbeschreibung" (1851) geschildert, wie er als Kieler Student bei der Lektüre der „Reden" eine religiöse Wende erfahren hat, „die Geburtsstunde meines höhern Lebens". Die [96] „Reden" können andererseits gelesen werden als ein religionstheoretischer Entwurf, entwickelt in Auseinandersetzung mit der repräsentativen Philosophie und Theologie ihrer Zeit. Als solcher Entwurf hat das Buch für die Theologie, auch für die Religionsphilosophie und die Religionswissenschaft den Rang eines klassischen Dokuments gewonnen. Die „Reden" sind Schleiermachers erfolgreichste Schrift geworden. Zu seinen Lebzeiten hat sie vier Auflagen erlebt, danach zahlreiche Neudrucke, zum Teil mit großen Auflagen. Sie ist ins Englische, Französische, Italienische, Schwedische, Russische und Japanische übersetzt worden, ins Japanische nicht weniger als fünfmal. Die 2. Auflage von 1806, die mit einer Widmung an den Jugendfreund Gustaf von Brinkmann auch den Namen des Autors enthält, bietet eine überarbeitete Fassung, in der sich ein Wandel der Religionstheorie — abzulesen am Zurücktreten des Begriffs „Anschauung" zugunsten des Begriffs „Gefühl" — abzeichnet. In der 3. Auflage von 1821 sind am Schluß jeder Rede ausführliche „Erläuterungen" zu einzelnen Aussagen und Formulierungen beigefügt. Die 4. Auflage erschien 1831. In dieser Fassung, die mehrfach neu gedruckt wurde und in die Sämmtlichen Werke einging, ist das Buch im 19. Jahrhundert gelesen worden. Dagegen ist im 20. Jahrhundert die Interpretations- und Wirkungsgeschichte der „Reden", oft das Schleiermacher-Verständnis im ganzen, durch die Erstfassung von 1799 bestimmt worden, insbesondere durch die Jubiläumsausgabe, die Rudolf Otto (1869-1937) als Göttinger Privatdozent 1899 herausgab. Sie erlebte in mehreren Auflagen eine weite Verbreitung. Auch die danach erschienenen Ausgaben haben alle den Text der Erstfassung abgedruckt. In den ersten Tagen des Jahres 1800 erschien — wiederum anonym — Schleiermachers Schrift „Monologen. Eine Neujahrsgabe". Sie wurde

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neben den „Reden" am häufigsten gedruckt und übersetzt. Zu seinen Lebzeiten sind vier Auflagen erschienen, danach mehr als 20 Neudrucke, die meisten davon noch im 19. Jahrhundert. Wilhelm Dilthey schrieb 1870: „Eine nicht kleine Anzahl von Menschen begegnet jedem Achtsamen, die den Anlaß zu einem bewußten höheren sittlichen Leben den Monologen danken" (Leben, 2. Aufl, 494). Es handelt sich um ein ethisches Manifest, um den Entwurf einer Ethik der Individualität. Der Titel gibt die literarische Form an, die wiederum absichtsvoll die Einigung von Kunst, Philosophie und Leben demonstriert. In Monologen, die den Leser teilnehmen lassen an den Erfahrungen und Überzeugungen des Autors, erschließt sich eine ethische Selbstanschauung und Weltansicht, deren Leitbegriffe „Individualität" und „Bildung" sind. In Anknüpfung an die Pflichtethik Kants und Fichtes und in Auseinandersetzung mit ihr wird ein Ziel der Humanität namhaft gemacht, das höher liegt als das allgemeine Bewußtsein der Pflicht: „So ist mir aufgegangen, was jetzt meine höchste Anschauung ist, es ist mir klar geworden, daß jeder Mensch auf eigne Art die Menschheit darstellen soll in einer eignen Mischung ihrer Elemente, damit auf jede Weise sie sich offenbare und wirklich werde in der Fülle der Unendlichkeit alles, was aus [97] ihrem Schöße hervorgehen kann" (1. Aufl., 39f.). Die Schrift hat viele autobiographische Züge. Ethischen Themen hat Schleiermacher in dieser Zeit mehrere Arbeiten gewidmet, in die zum Teil frühere Aufzeichnungen eingegangen sind. 1799 veröffentlichte er im „Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks" anonym den — unvollendet gebliebenen — „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens", der erst 1911 von Herman Nohl als Schrift Schleiermachers identifiziert worden ist. 1800 trat er mit der ebenfalls anonymen Schrift „Vertraute Briefe über Friedrich Schlegels Lucinde" dem umstrittenen Roman des Freundes verteidigend und deutend zur Seite. 1803 erschien seine erste im engeren Sinne wissenschaftliche Schrift: „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre", eine Analyse ethischer Theorien von der Antike bis hin zu Kant und Fichte unter dem Gesichtspunkt ihrer wissenschaftlichen Form und ihres thematischen Umfangs. Diese kritische Sichtung der ethischen Tradition ist Ausgangspunkt und Grundlage seines eigenen Entwurfs der Ethik geworden, den er später in Hallenser und Berliner Vorlesungen vorgetragen hat.

IV. Als dieses Buch erschien, befand sich Schleiermacher bereits nicht mehr in Berlin. 1802 hat er den inzwischen spannungs- und wirrenreichen

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Kreis der dortigen Freunde verlassen und die Stelle des reformierten Hofpredigers (ohne Hof) im pommerschen Stolp (Stolpe) übernommen, die 80 Jahre zuvor sein Großvater Stubenrauch innegehabt hatte. Er gewann damit auch zumindest räumlich Distanz zu einem persönlichen Problem. Er hoffte, die Frau eines Berliner Predigers zu heiraten, Eleonore Grunow, der er zur Trennung von dem ungeliebten Ehemann geraten hatte. Schleiermacher hat jahrelang auf ihre Entscheidung gewartet. Eleonore Grunow hat sich erst 1805 endgültig entschlossen, bei ihrem Mann zu bleiben. Schleiermacher hat die Zeit in Stolp (1802 — 1804) als „Exil" empfunden. Das Städtchen hatte rund 4000 Einwohner, von denen die etwa 250 Reformierten seine Gemeinde bildeten. Zumindest darin waren die Lebensbedingungen denen in Berlin vergleichbar, daß die Amtspflichten viel Zeit für eigene Arbeiten ließen. Schleiermacher hat sie intensiv genutzt. Zu der Arbeit an den „Grundlinien" kam die an den ersten Bänden seiner Plato-Übersetzung. Dieses wissenschaftliche Großprojekt, ursprünglich von Friedrich Schlegel angeregt und mit diesem gemeinsam geplant und begonnen, dann von Schleiermacher allein ausgeführt, hat ihn über Jahrzehnte hinweg beschäftigt. 1804/05 erschienen die ersten drei Bände, weitere Teile 1807, 1809 und — nach langer Unterbrechung — 1828. Schleiermacher hat die Übersetzung nicht ganz zum Abschluß führen können. Seine Einleitungen zu den einzelnen Schriften gelten als Beginn der neueren Plato-Forschung.[98] Aus der Stolper Zeit ist schließlich eine anonym veröffentlichte Schrift zu erwähnen, in der Erfahrungen des Pfarramts sich zu kirchenreformerischen Vorschlägen verdichtet haben: „Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens zunächst in Beziehung auf den Preußischen Staat" (1804). Diese Gutachten sind nicht durch einen amtlichen Auftrag veranlaßt worden. Es sind aus eigenem Antrieb verfaßte Memoranden, eine Form „unvorgreiflicher" Mitwirkung an den öffentlichen Angelegenheiten, die damals häufig benutzt wurde. Das erste Gutachten handelt „Über die bisherige Trennung der beiden protestantischen Kirchen" und plädiert für die Aufhebung dieser Trennung. Das zweite Gutachten „Über die Mittel, dem sogenannten Verfall der Religion vorzubeugen", setzt damit ein, daß es gängige Verfallsdiagnosen kritisch erörtert. Die im weiteren entwickelten Reformvorschläge betreffen insbesondere die Gestaltung der Gottesdienste sowie die Ausbildung und die Stellung der Geistlichen. 1804 erhielt Schleiermacher einen Ruf an die eben neu organisierte Universität Würzburg, zu deren Neuerungen es gehörte, daß sie katholi-

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sehe und protestantische Theologen in einer Sektion vereinte. Als renommierter protestantischer Gelehrter war der Rationalist Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761 — 1851) gewonnen worden, der an Schleiermachers Berufung beteiligt war. Schleiermacher wollte dem Ruf folgen. Die von ihm beantragte Entlassung aus dem preußischen Dienst wurde jedoch verweigert. Er wurde als außerordentlicher Professor und als Universitätsprediger nach Halle berufen. Die Stätte seines eigenen Studiums war nach wie vor die bedeutendste preußische Universität. Sie zählte etwa 1000 Studenten, unter denen die Theologen mehr als ein Drittel ausmachten. Nahezu gleichzeitig mit Schleiermacher kam Henrich Steffens (1773 — 1845) als Professor für Naturphilosophie, Physiologie und Mineralogie nach Halle. Zwischen ihm und Schleiermacher entstand ein lebhafter Austausch und eine enge Freundschaft. In Steffens Autobiographie „Was ich erlebte" (1840/44) findet sich die folgende Schilderung des Freundes: „Schleiermacher war bekanntlich klein von Wuchs, etwas verwachsen, doch so, daß es ihn kaum entstellte. In allen seinen Bewegungen war er lebhaft, seine Gesichtszüge höchst bedeutend. Etwas Scharfes in seinem Blick mochte vielleicht zurückstoßend wirken. Er schien in der Tat einen jeden zu durchschauen ... Sein Gesicht war länglich, alle Gesichtszüge scharf bezeichnet, die Lippen streng geschlossen, das Kinn hervortretend, das Auge lebhaft und feurig, der Blick fortdauernd ernsthaft, zusammengefaßt und besonnen. Ich sah ihn in den mannigfaltigsten wechselnden Verhältnissen des Lebens, tief nachsinnend und spielend, scherzhaft, mild und erzürnt, von Freude wie durch Schmerz bewegt: fortdauernd schien eine unveränderliche Ruhe, größer, mächtiger als die vorübergehende Bewegung, sein Gemüt zu beherrschen ... Die Kunst hat seine Gesichtszüge auf eine bewundernswürdige Weise verewigt. Rauchs Büste ist eins der größten Meisterstücke der Kunst, und wer mit ihm so [99] innig gelebt hat wie ich, kann fast erschrecken, wenn er sie betrachtet. Es ist mir oft, noch in diesem Augenblick, als wäre er da, in meiner Nähe, als wollte er die streng verschlossenen Lippen zum bedeutenden Gespräch öffnen" (Auswahl von W. A. Koch 1956, 179 f.). Die von Steffens erwähnte Büste hat Christian Daniel Rauch 1825 geschaffen. Schleiermacher hat in Halle nur zwei Jahre gelehrt, vom Wintersemester 1804/05 bis zum Sommersemester 1806. Nach der preußischen Niederlage von 1806 wurde Halle von französischen Truppen besetzt, die Universität geschlossen. Als sie im Frieden von Tilsit an das neue Königreich Westfalen fiel, ging Schleiermacher nach Berlin. In den Vorlesungen seiner vier Hallenser Semester wurden die Entwürfe seiner philosophi-

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sehen Ethik, seiner Hermeneutik, seiner theologischen Enzyklopädie, seiner Glaubenslehre und seiner christlichen Sittenlehre skizziert. Im Zusammenhang mit exegetischen Vorlesungen über paulinische Briefe entstand seine erste fachtheologische Veröffentlichung, die Schrift „Über den sogenannten ersten Brief des Paulos an den Timotheos". Das Titelblatt der 1807 gedruckten Schrift weist den Verfasser als „ordentlichen Professor der Theologie und außerordentlichen der Philosophie" aus. Die Ernennung zum ordentlichen Professor, damit die akademische Gleichberechtigung mit den lutherischen Professoren der Fakultät, hatte Schleiermacher 1806 erlangt, nachdem er die Berufung auf eine Predigerstelle an der Kirche Unser lieben Frauen in Bremen abgelehnt hatte. Anfang 1806 ist ein Büchlein erschienen, das Schleiermacher im Dezember des vorangegangen Jahres in kurzer Zeit niedergeschrieben hatte und das eigentlich zu dem Fest vorliegen sollte, dem es gewidmet ist: „Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch". Im Untertitel zeichnet sich ab, daß der Übersetzer Platos wohl dessen Dialoge als Vorbild vor Augen hatte. Faktisch handelt es sich weniger um ein Gespräch als um ein Gemälde der Geselligkeit, die Beschreibung eines Weihnachtsabends, den eine Familie zusammen mit Freunden singend, musizierend, redend verbringt. In der Schilderung der Bescherung, in Erzählungen der Frauen und in Reden der Männer tritt vor Augen, wie der Sinn des Festes von den Beteiligten — von dem Kind Sofie, von den Frauen, von den Männern — in unterschiedlicher Weise erfahren und gedeutet wird. Als eigentliches Thema der Weihnachtsfeier tritt die Frage nach Ursprung und Wesen des Christentums hervor. Das Interesse der Schleiermacher-Interpreten hat sich vor allem auf die Reden der Männer gerichtet, die als Vertreter divergenter und kontroverser theologischer Auffassungen auftreten. Vereinfachend lassen sich ihre Positionen kennzeichnen als die radikaler historischer Kritik (Leonhardt), als die einer Erfahrungstheologie (Ernst) und als die einer spekulativen Geschichtstheologie (Eduard). Ihre Auffassungen sind nicht als Wiedergabe damaliger theologischer Programme anzusehen. Manche Passagen lesen sich eher wie eine hellsichtige Vorwegnahme von Themen und Thesen, die erst in späteren christologischen [100] Debatten des 19. Jahrhunderts hervorgetreten sind. Die naheliegende Frage, in welchem der drei Beiträge Schleiermacher seine eigene Auffassung ausgesprochen habe, wird man so beantworten müssen, daß es sich einerseits in allen drei Fällen um Entwürfe seiner theologischen Phantasie handelt, daß andererseits in allen dreien auch Aspekte seines eigenen Denkens zur Geltung kommen. Zugleich ist zu beachten, daß in den Reden der

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drei Männer nur eine von mehreren Weisen der Weihnachtserfahrung dargestellt wird. Die Art, wie Schleiermacher diese Reden in das Ganze einordnet, bringt zum Ausdruck, daß die christliche Gemeinschaft immer mehr ist als ihr theologischer Ausdruck und daß sie durch theologische Kontroversen nicht aufgehoben wird. Am Anfang der Schrift steht das Kind Sofie mit der Unmittelbarkeit seiner Weihnachtsfreude im Mittelpunkt. Im Schluß der Schrift wird ein spät hinzukommender Gast Josef eingeführt, der gewissermaßen eine höhere Unmittelbarkeit repräsentiert. Die Anmutung, seinerseits redend einen Beitrag zu liefern, weist er zurück: „Alle Formen sind mir zu steif und alles Reden zu langweilig und kalt. Der sprachlose Gegenstand verlangt oder erzeugt auch mir eine sprachlose Freude, die meinige kann wie ein Kind nur lächeln und jauchzen ... Kommt denn und das Kind vor allen Dingen mit, wenn es noch nicht schläft, und laßt mich eure Herrlichkeiten sehn und laßt uns heiter sein und etwas Frommes und Fröhliches singen" (1. Aufl., 133.135).

V. Als Schleiermacher im Dezember 1807 endgültig nach Berlin übersiedelte — im Sommer des Jahres hatte er dort bereits Vorlesungen über Geschichte der griechischen Philosophie gehalten — war er neununddreißig Jahre alt und ohne Amt. Er lebte zunächst als Privatgelehrter in äußerst beengten Verhältnissen. Wie Fichte, der im Winter 1807/08 die unter dem Titel „Reden an die deutsche Nation" veröffentlichten Vorträge hielt, und wie andere Gelehrte hielt er öffentliche Vorlesungen. 1809 wurde er reformierter Prediger an der Dreifaltigkeitskirche, einer der lutherisch-reformierten Simultankirchen Berlins, 1810 Professor an der neu gegründeten Universität. Durch die Bezüge aus beiden Ämtern, zu denen andere Einkünfte, insbesondere aus seinen Veröffentlichungen, kamen, ist Schleiermacher von da an gut situiert gewesen (vgl. die Angaben in: Schleiermacher als Mensch 2, 5 f.). 1809 hat er geheiratet. Seine Frau Henriette, geb. v. Mühlenfels (1788 — 1840), zwanzig Jahre jünger als er, war die Witwe eines Pfarrers Ehrenfried v. Willich, der zum Freundeskreis Schleiermachers gehört hatte und 1807 plötzlich verstorben war. Zu den zwei Kindern aus der ersten Ehe seiner Frau — Ehrenfried und Henriette v. Willich — kamen in den folgenden Jahren die Töchter Elisabeth (1810-1881), Gertrud (1812-1839), Hildegard (1817-1889). Der 1820 geborene Sohn Nathanael starb im Alter von [101] neun Jahren.

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Schleiermacher ist in der Lage gewesen, ihm die Grabrede zu halten (abgedruckt SW II, 4). Schleiermacher ist an den politischen Geschehnissen seiner Zeit intensiv beteiligt gewesen. Er stand nach 1806 in enger Verbindung mit den Führern der preußischen Reform. Auf Veranlassung des Freiherrn vom Stein arbeitete er 1808 den Entwurf für eine Verfassung der preußischen Kirche aus. Im selben Jahr war er an Plänen und Vorbereitungen für eine Erhebung gegen die im Lande verbliebenen französischen Truppen beteiligt und unternahm in geheimer Mission mehrere Reisen. Eine Zeitlang ist er auch als politischer Journalist tätig gewesen. Der bei seinem Verleger Georg Reimer vom April 1813 bis Ende 1814 erschienene „Preußische Correspondent" wurde im Sommer und Herbst 1813 von Schleiermacher redigiert, der dabei mit der Zensur in Konflikt geriet. Von 1810 — 1814 war er in einem politischen Amt, als ordentliches Mitglied der Unterrichtssektion im Ministerium des Inneren, an der Reform des preußischen Schulwesens beteiligt. Unter den Konstellationen der Restauration hat Schleiermacher als politisch verdächtig gegolten. Das Wartburgfest von 1817, noch mehr die Ermordung des Schriftstellers August v. Kotzebue durch den Theologiestudenten Karl Ludwig Sand im Jahre 1819 lösten Verdächtigungen und polizeiliche Untersuchungen aus, von denen besonders die Universitäten betroffen waren und denen auch Schleiermacher über Jahre hinweg ausgesetzt gewesen ist. Sein Fakultätskollege de Wette wurde 1819 wegen eines von der Polizei beschlagnahmten Briefs an die Mutter Sands entlassen. Schleiermachers Schwager Ernst Moritz Arndt (1769—1860), seit 1817 mit seiner Halbschwester Nanny verheiratet, wurde 1820 der Professur in Bonn enthoben, in die er erst 1840 wieder eingesetzt wurde. Bei ihm wie bei Schleiermachers Verleger Reimer wurden Haussuchungen durchgeführt und Briefe beschlagnahmt. 1823 wurde Schleiermacher dreimal auf dem Berliner Polizeipräsidium wegen brieflicher Äußerungen vernommen. Seine Predigten wurden überwacht. Eine Untersuchungskommission hat bereits 1820 vorgeschlagen, ihn nach Königsberg zu versetzen und im Falle seiner Weigerung die Dienstentlassung zu verfügen. Aus den einschlägigen Akten ist zu ersehen, daß es der Verschleppungstaktik des Unterrichtsministers Altenstein zu verdanken war, daß es dazu nicht kam. Schleiermachers Mitwirkung an der Reform des preußischen Kirchenwesens hat sich zum größeren Teil im Konflikt mit der staatlichen Kirchenpolitik vollzogen. Die großen Themen der Reformdebatte waren die Kirchenverfassung, die Union und die Gottesdienstordnung. Schleierma-

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chers Beiträge zu den Verfassungsbestrebungen zielten in dieser Zeit nicht mehr wie 1799 auf die Trennung von Kirche und Staat, wohl aber auf die Selbständigkeit der Kirche im Staat, auf eigene kirchliche Vertretungsorgane, auf eine Synodalverfassung („Über die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung", 1817). Daß eine solche Verfassung nicht zustande kam, daß sie vielmehr im Zuge der politischen Entwicklung dem Mißtrauen gegen jede Art [102] von Repräsentativverfassung verfiel, veränderte die Voraussetzungen sowohl für die Union wie vor allem für die Gottesdienstreform, die dem König besonders am Herzen lag und die nun als Reform von oben ins Werk gesetzt wurde. Für die Union von Lutheranern und Reformierten, die in Preußen zum Reformationsfest 1817 mit gemeinsamen Abendmahlsfeiern eingeleitet wurde, ist Schleiermacher nachdrücklich eingetreten. Er hat sie gegen Kritiker wie den Kieler Lutheraner Claus Harms mit seinen 95 Thesen von 1817 und den Dresdner Oberhofprediger Christoph Friedrich von Ammon auch literarisch verteidigt („An Herrn Oberhofprediger D. Ammon über seine Prüfung der Harmsischen Sätze", 1818). Seine eigene Dogmatik „Der christliche Glaube" (1821/22) hat Schleiermacher als Unionsdogmatik gestaltet. Der Reform von oben hat er im sog. Agendenstreit der Jahre 1822—1829 leidenschaftlich widersprochen. Es ging dabei um eine neue Agende, die Friedrich Wilhelm III. unter Berufung auf das liturgische Recht des Landesfürsten in allen preußischen Gemeinden eingeführt wissen wollte. Schleiermacher hat in seiner Schrift „Über das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten", die er unter dem Pseudonym Pacificus Sincerus 1824 außerhalb Preußens in Göttingen erscheinen ließ, ein solches Recht verneint. Als sein liturgisch engagierter König mit einer auf Luther sich berufenden Schrift, die anonym erschien, selber in die literarische Debatte eingriff, ist Schleiermacher ihm öffentlich entgegengetreten: „Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift: Luther in Bezug auf die neue preußische Agende" (anonym, Leipzig 1827). Er hat am Schluß dieser Schrift die Trennung von der preußischen Kirche und die Gründung einer freien Gemeinde erwogen (vgl. auch Briefe 4, 363). Ein Satz aus ihr ist zur vielzitierten Losung geworden: „Die Reformation geht noch fort" (SW I, 5, 625). Das Amt des reformierten Dreifaltigkeitspredigers hat Schleiermacher neben der Universitätsprofessur bis zu seinem Tode innegehabt. Er hat regelmäßig gepredigt und eine Personalgemeinde aus der ganzen Stadt unter seiner Kanzel versammelt. „Bunter ist überhaupt wohl kein Fischzug als mein kirchliches Auditorium: Herrnhuter, Juden, getaufte und

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ungetaufte, junge Philosophen und Philologen, elegante Damen" schreibt er in einem Brief aus dem Jahre 1808 (Briefe 4, 156). Die von ihm veröffentlichten und die nach seinem Tod aus dem Nachlaß herausgegebenen Predigten bilden nach Umfang und Inhalt einen bedeutsamen Teil seines Gesamtwerks. In der Ausgabe der Sämmtlichen Werke umfassen sie zehn Bände. Zu Schleiermachers Konfirmanden hat im Jahre 1831 Otto v. Bismarck gehört. Die Dreifaltigkeitskirche ist im 2. Weltkrieg zerstört worden. Vom Pfarrhauskomplex (damals Ecke Kanonier-/Taubenstraße, heute Glinka-/Johannes-Dieckmann-Straße) sind das lutherische Pfarrhaus, das Küsterhaus und der Garten erhalten, während das reformierte Pfarrhaus, Schleiermachers Dienstwohnung, ebenfalls zerstört ist. Er wohnte dort nur einige Jahre, später im Hause seines Verlegers und Freundes Reimer in der Wilhelmstraße. Schleiermacher ist am 12. Februar 1834 im 66. Lebensjahr an einer Lungenent-[103]zündung gestorben. Über seine letzten Tage und Stunden gibt es eine Aufzeichnung von der Hand seiner Frau (veröffentlicht Briefe 2, 510—513). Unmittelbar vor seinem Tode hat er mit seiner Familie das Abendmahl gefeiert. Am 15. Februar ist er auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde beigesetzt worden. Die Beerdigung hat unter großer Teilnahme der Berliner Bevölkerung stattgefunden. Nach dem Bericht Leopold v. Rankes waren 20000 bis 30000 Menschen auf den Straßen, als der Trauerzug durch die Stadt zog. Die Gedenkrede in der Universität hielt Schleiermachers alter Freund Henrich Steffens, der 1832 von Breslau nach Berlin berufen worden war. Die Erträgnisse aus dem Druck der Reden und Predigten, die bei den verschiedenen Trauerfeiern gehalten wurden, bildeten den Grundstock für die seit 1835 bestehende Schleiermachersche Stiftung.

VI. An den Gründungsvorbereitungen der 1810 eröffneten Berliner Universität, die zum Modell für die deutsche Universitätsreform des 19. Jahrhunderts wurde, war Schleiermacher maßgeblich beteiligt. Sein Beitrag zur Theorie der Universität liegt vor in der Schrift „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende" (1808). Schleiermacher hat in zwei Fakultäten gelehrt, als Professor in der Theologischen, als Akademiemitglied in der Philosophischen Fakultät. Seine Lehrwirksamkeit hat dazu beigetragen, der Neugründung Glanz zu verleihen. Nach bescheidenen Anfängen —

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im Winter 1810/11 waren 256 Studenten immatrikuliert, davon 29 Theologen — erlebte sie nach den Befreiungskriegen einen raschen Aufschwung. Im letzten Semester der Lehrtätigkeit Schleiermachers (Winter 1833/34) zählte sie 2561 Studenten, davon 595 Theologen. Die Theologische Fakultät hatte anfangs drei Professoren. Schleiermacher war ihr erster Dekan und mit 42 Jahren ihr Senior. Neben ihm begannen zwei Dreißigjährige, Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780-1849) und Philipp Konrad Marheineke (1780-1846). De Wette und Schleiermacher wurden Freunde. Zusammen mit Friedrich Lücke (1791-1855) gaben sie 1819-1822 die „Theologische Zeitschrift" heraus. 1819 wurde de Wette entlassen. Nach dem Bericht von Paul de Lagarde hing später sein Bild als einziges in Schleiermachers Studierstube. Zu Marheineke, in späteren Jahren Freund Hegels und Vertreter des konservativen Hegelianismus, gestaltete sich das Verhältnis zeitweise schwierig. Marheineke war seit 1819 auch an der Dreifaltigkeitskirche Schleiermachers (lutherischer) Kollege. 1813 kam August Neander hinzu, vierundzwanzig Jahre alt (1789 — 1850), einer derjenigen Vertreter der Erweckungstheologie, die von Schleiermacher Anstöße empfangen haben. Er war nicht zuletzt unter dem Eindruck der „Reden" vom Judentum zum Christentum übergetreten und hatte Schleiermacher 1806 in Halle gehört. [104] 1828 wurde Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802-1869) ordentlicher Professor, mit der von ihm 1827 begründeten „Evangelischen Kirchenzeitung" publizistischer Wortführer der aus der Erweckung hervorgegangenen Neuorthodoxie, von der Schleiermacher heftig befehdet wurde. Schleiermacher blieb in dem Vierteljahrhundert seiner Berliner Universitätswirksamkeit stets der älteste der theologischen Professoren, zugleich stets derjenige, der die kritische, die dem Erbe der Aufklärung verpflichtete Linie protestantischer Theologie vertrat. Fachprofessuren im heute geläufigen Sinne gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch nicht. Schleiermachers Vorlesungen haben sich über alle theologischen Fachgebiete mit Ausnahme des Alten Testaments erstreckt. In seiner Lehrtätigkeit ist er in erster Linie Neutestamentler gewesen. In der Regel hat er in jedem Semester zwei fünfstündige theologische Kollegs gehalten, von denen eines dem Neuen Testament gewidmet war. Neben exegetischen Vorlesungen, in denen er außer der Offenbarung Johannis alle Schriften des Neuen Testaments ausgelegt hat, hielt er Vorlesungen über das Leben Jesu und über Einleitung in das Neue Testament. Auch die Hermeneutik gehörte in sein theologisches Lehrprogramm. Er hat sie als allgemeine Theorie der Auslegung entworfen

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und damit die Anwendung auf das Neue Testament verbunden. Unter den Vorlesungsmanuskripten seines Nachlasses, die im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR aufbewahrt sind, haben die neutestamentlichen bei weitem den größten Umfang. 1817 ist — mit einer Widmung an de Wette — der erste Teil seiner Untersuchung „Über die Schriften des Lukas" erschienen. Zur Ausarbeitung des zweiten Teils ist er nicht gekommen. Die theologischen Vorlesungen, die er neben den neutestamentlichen gehalten hat, haben behandelt: Theologische Enzyklopädie, Dogmatik, Christliche Sittenlehre, Praktische Theologie, Kirchengeschichte, Kirchliche Statistik. Seit 1810 war Schleiermacher Mitglied der philosophischen Klasse der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1814 wurde er Sekretär (Vorsitzender) dieser Klasse, 1826 daneben Sekretär der historisch-philologischen Klasse. Beide Klassen wurden 1827 zur historischphilosophischen Klasse vereint. In der Rede, die Schleiermacher am 10. Mai 1810 beim Eintritt in die Akademie hielt, nannte er als Bereich seines besonderen Arbeitsinteresses „die mannichfaltigen Versuche des Altertums in dem Gebiet der Philosophie" (SW III, 3, 8). Im Blick auf seine bis dahin vorliegenden Arbeiten war das eine wohl begründete Selbstvorstellung. Von seiner Plato-Übersetzung waren zu diesem Zeitpunkt fünf Bände erschienen. 1807 hatte er die große Abhandlung „Herakleitos der dunkle, von Ephesos, dargestellt aus den Trümmern seines Werkes und den Zeugnissen der Alten" veröffentlicht. Dem in der Eintrittsrede genannten philosophiehistorischen Arbeitsprogramm ist Schleiermacher treu geblieben. Neunzehn der insgesamt sechsunddreißig Abhandlungen, die er in der Akademie vorgetragen hat (vgl. das Verzeichnis SW III, 3, XHIff.), sind Themen der antiken Philosophie gewidmet. Neben den philosophiegeschichtli-[105]chen und philologischen Untersuchungen bilden die Akademieabhandlungen zu Grundbegriffen der Ethik einen eigenen gewichtigen Komplex: „Über die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs" (1819), „Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des Pflichtbegriffs" (1824), „Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz" (1825), „Über den Begriff des Erlaubten" (1826), „Über den Begriff des höchsten Gutes" (zwei Abhandlungen 1827/1830). Sie wurden — zum Teil mit starker Verzögerung — in den Jahrbüchern der Akademie gedruckt. Einer größeren Öffentlichkeit sind sie erst durch den Abdruck in den Sämmtlichen Werken (SW III, 2) bekannt geworden. Als Akademiemitglied hatte Schleiermacher das Recht, Vorlesungen an der Philosophischen Fakultät zu halten. Er hat dieses Recht in der

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Mehrzahl seiner Berliner Semester wahrgenommen und — in Konkurrenz mit Fichte (1762-1814), seit 1818 mit dessen Nachfolger Hegel (1770—1831) — eine Lehrtätigkeit von universaler Reichweite entfaltet. Seine Vorlesungen über Geschichte der griechischen Philosophie, Geschichte der Philosophie unter den christlichen Völkern, Dialektik, Ethik, Psychologie, Politik bzw. Staatslehre, Ästhetik, Erziehungslehre sind nach seinem Tode aus dem Nachlaß herausgegeben worden. Die Editoren standen vor einer schwierigen Aufgabe. Schleiermacher hat sich in der Regel nur mit äußerst knappen Notizen auf seine Vorlesungen vorbereitet. Um überhaupt einen lesbaren Text herzustellen, mußten Hörernachschriften in die Ausgaben einbezogen werden. Da Schleiermacher diese Vorlesungen durchweg mehrfach — zum Teil schon in Halle — gehalten hat, waren Manuskripte und Nachschriften aus verschiedenen Semestern seiner dreißigjährigen Lehrtätigkeit zu berücksichtigen. Seine eigenen Aufzeichnungen sind überdies oft in einer Mikroschrift gehalten, die sehr schwer zu entziffern ist. Die Veröffentlichung der Nachlaßausgaben hat sich über einen langen Zeitraum hingezogen. Ihre Qualität fiel sehr unterschiedlich aus. Daß diesen Bänden nur eine begrenzte Beachtung zuteil geworden ist, läßt sich daran ablesen, daß die Mehrzahl von ihnen noch hundert Jahre nach ihrem Erscheinen beim Verlag de Gruyter, dem Nachfolger von Schleiermachers Verleger G. Reimer, vorrätig war. Die stärkste Wirkung ist von der „Erziehungslehre" ausgegangen, die 1849 von C. Platz herausgegeben (SW III, 9) und danach mehrfach neu gedruckt wurde. Durch sie ist Schleiermacher zum Klassiker der neueren Pädagogik geworden. Die Wiederentdeckung seiner Pädagogik verbindet sich vor allem mit dem Wirken Wilhelm Diltheys (1833-1911) und seiner Schüler. Durch Dilthey ist auch die Hermeneutik Schleiermachers (hg. v. F. Lücke 1838, SW I, 7; krit. Ausg. v. H. Kimmerle, 2. Aufl. 1974) dem Vergessen entrissen und in die hermeneutische Diskussion des 20. Jahrhunderts — weniger in die der Theologen als in die der Philosophen und der Literaturwissenschaftler — eingebracht worden. Für die Erfassung der philosophischen Grundlagen und der systematischen Zusammenhänge des Schleiermacherschen Denkens sind vor allem die Vorlesungen über Dialektik (hg. v. L. Jonas 1839, SW III, 4, 2; v. I. Halpern 1903; v. [106] R. Odebrecht 1942) und die über (philosophische) Ethik (hg. v. A. Schweizer 1835, SW III, 5; v. A. Twesten 1841; krit. Ausg. v. O. Braun 1913) wichtig. Von den Nachlaßausgaben theologischer Vorlesungen verdient besonders „Die christliche Sitte" (hg. von L. Jonas 1843, SW I, 12) Beachtung, daneben „Die praktische Theologie" (hg. v. J. Frerichs 1850, SW I, 13).

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Die große Wirkung Schleiermachers in der Theologie ist jedoch ganz überwiegend von drei Schriften getragen worden, die er selbst in den Druck gegeben hat. Neben den „Reden" sind es die „Kurze Darstellung" und die Glaubenslehre, die demjenigen Bestand klassischer theologischer Literatur zugehören, der Gegenstand ausgiebiger Bezugnahme, Interpretation und Auseinandersetzung ist.

VII. Die „Kurze Darstellung des theologischen Studiums", erwachsen aus Vorlesungen, die Schleiermacher in Halle und noch vor der Eröffnung der Universität in Berlin gehalten hat, erschien 1811. Diese Erstfassung ist kaum beachtet worden. Eine neue Auflage erschien erst nach knapp zwei Jahrzehnten. In der stark überarbeiteten und ergänzten Fassung von 1830 ist das schmale Büchlein die wissenschaftstheoretische Grundschrift der neueren Theologie geworden. Den Titel einer kurzen Darstellung trägt es zu Recht. Es bietet knappe Leitsätze, denen in der 2. Auflage ebenso knappe Anmerkungen beigefügt sind. „Zum Behuf einleitender Vorlesungen" entworfen, wie der vollständige Titel besagt, hat es als Textgrundlage für Schleiermachers Vorlesung über „Theologische Enzyklopädie" gedient. Eine solche Vorlesung, die einen Überblick über die Theologie im ganzen vermittelte, ist bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein fester Bestandteil des üblichen theologischen Lehrprogramms gewesen. Schleiermachers Darstellung bietet keine materiale Enzyklopädie, keine inhaltliche Einführung in die einzelnen theologischen Fächer, sondern eine sogenannte formale Enzyklopädie, eine Theorie der Theologie also, eine Erörterung ihrer Aufgabe, ihres Aufbaus, des Zusammenhangs ihrer Fächer. Schleiermachers Verständnis der als Wissenschaft organisierten Theologie ist zusammengefaßt in den beiden Leitsätzen: „§ 1. Die Theologie in dem Sinne, in welchem das Wort hier immer genommen wird, ist eine positive Wissenschaft, deren Teile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins, die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christentum. — § 5. Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist" (Zitate nach der 2. Aufl.).

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Diese Sätze geben der Theologie eine funktionale Definition. Sie verweisen nicht [107] auf ein besonderes theologisches Erkenntnisprinzip, wie das die altprotestantische Orthodoxie in ihrer Lehre vom Schriftprinzip getan hatte („Was die Heilige Schrift lehrt, das ist unfehlbar wahr"), und sie definieren die Theologie nicht durch die Nennung eines besonderen Gegenstandsbereichs, wie das in der an den Wortsinn von Theo-logie sich anlehnenden Bestimmung als „Lehre von Gott und den göttlichen Dingen" geschehen ist. Schleiermacher überführt die Frage: Was ist Theologie? in die andere: Wozu gibt es Theologie? Er versteht sie als eine „positive Wissenschaft", die konstituiert wird durch den Bezug auf ein Positum, auf eine ihr vorgegebene Aufgabe und Praxis. „Eine positive Wissenschaft . . . ist nämlich ein solcher Inbegriff wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben, als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft notwendigen Bestandteil der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind" (§ l, Anm.). In diesem Sinne heißen in Schleiermachers Schrift „Über Universitäten in deutschem Sinn" (1808) neben der theologischen Fakultät auch die juristische und die medizinische „positive Fakultäten". Der spezifische Praxisbezug der Theologie, ihr Wozu, das besondere Kenntnisse und Regeln sowie deren wissenschaftliche Bearbeitung und Organisation erfordert, wird in § 5 der „Kurzen Darstellung" mit den Begriffen „Leitung der christlichen Kirche" und „Kirchenregiment" angegeben. Diese Angabe ist mißverständlich, jedenfalls erläuterungsbedürftig. Der Begriff der Leitung wird von Schleiermacher in einem ganz weiten Sinn gebraucht. Er umfaßt sowohl die Aufgaben übergemeindlicher Leitung („Kirchenregiment") als auch alle Formen leitender Tätigkeit in der einzelnen Gemeinde („Kirchendienst"), insbesondere also Liturgie, Predigt, Unterricht, Seelsorge. Er umfaßt darüber hinaus neben den institutionell geordneten Formen leitender Tätigkeit, neben dem „gebundenen" Element auch das „ungebundene", die „freie Einwirkung auf das Ganze, welches jedes einzelne Mitglied der Kirche versuchen kann, das sich dazu berufen glaubt" (§ 312), die „freie Geistesmacht in der evangelischen Kirche" (§ 328). Die so verstandene Theologie ist weder eine Wissenschaft, die einen Platz über den anderen Wissenschaften beansprucht, noch steht sie als einzelnes wissenschaftliches Fach neben anderen Fächern. Sie stellt sich vielmehr selber als ein Zusammenschluß verschiedener wissenschaftlicher Fächer dar, die in funktionsbedingter Auswahl und Ausgestaltung eine universitas in der Universität bilden. Es macht den Rang des

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Schleiermacherschen Entwurfs aus, daß er auf diese Weise das zu erfassen und zu erläutern vermag, was das eigentliche Charakteristikum der Theologie in ihrer neuzeitlichen Entwicklung ausmacht, ihre thematische und methodische Auffächerung und ihre thematische und methodische Beziehung zu außertheologischen wissenschaftlichen Disziplinen. Schleiermachers Ausführungen über die einzelnen theologischen Fächer geben zum größeren Teil weniger eine Beschreibung damaliger Gegebenheiten als ein [108] Programm künftiger Entwicklungen. Davon läßt bereits die Hauptgliederung etwas sichtbar werden. Schleiermacher unterscheidet drei große Teile: Philosophische Theologie, Historische Theologie, Praktische Theologie. Der zwischen ihnen bestehende Zusammenhang gestufter Fundierung läßt sich am besten erläutern, wenn man bei der Praktischen Theologie einsetzt. Diese hat als Themenfeld die Formen und „Kunstregeln" desjenigen leitenden Handelns, von dem her die Theologie im ganzen ihre Aufgabe empfängt. Damit bekommt sie im Zusammenhang der theologischen Fächer ihren festen Ort. Schleiermacher gilt deswegen als der eigentliche Begründer einer wissenschaftlichen Praktischen Theologie. In der 1. Auflage seines Büchleins hat er sie, was spätere Fachvertreter oft und gern zitiert haben, als „Krone des theologischen Studiums" bezeichnet, die Historische Theologie als „Körper" und die Philosophische Theologie als „Wurzel". In diesem botanischen Bild, das Gang und Akzente des Studiums angeben soll, ist zugleich das sachliche Fundierungsverhältnis bezeichnet. Die Praktische Theologie ist auf die Historische angewiesen, weil sie als Theorie leitenden Handelns die Kenntnis des zu leitenden Ganzen voraussetzt, das aus seiner Geschichte und von seinem Ursprung her begriffen werden muß. Schleiermachers Historische Theologie umfaßt mehr und hat andere Gewichtungen als das heutige Fach Kirchengeschichte. Neben der Kirchengeschichte im engeren Sinn gehört dazu die „Exegetische Theologie" als „Kenntnis des Urchristentums". Diese Einordnung der neutestamentlichen Exegese signalisiert, daß diese nicht mehr als Hilfswissenschaft der Dogmatik verstanden wird, auch nicht als deren Konkurrenz, sondern als eine historische Disziplin, die nach den allgemeinen Regeln und Normen historischer Arbeit die Schriften des Neuen Testaments als Dokumente der Ursprungsgeschichte des Christentums auslegt. Manche Ausführungen Schleiermachers lesen sich wie ein Programm exegetischhistorischer Forschungen, die erst hundert Jahre später — seit der religionsgeschichtlichen Schule — in Angriff genommen wurden. „§ 140. Keine Schrift kann vollkommen verstanden werden, als nur im Zusam-

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menhang mit dem gesamten Umfang von Vorstellungen, aus welchem sie hervorgegangen ist, und vermittelst der Kenntnis aller Lebensbeziehungen, sowohl der Schriftsteller, als derjenigen, für welche sie schrieben. — § 141. Der geschichtliche Apparat zur Erklärung des Neuen Testamentes umfaßt daher die Kenntnis des älteren und neueren Judentums, sowie die Kenntnis des geistigen und bürgerlichen Zustandes in den Gegenden, in welchen und für welche die neutestamentischen Schriften verfaßt wurden." Aus § 141 kann man ersehen, wie Schleiermacher die Wissenschaft vom Alten Testament (und vom Spätjudentum), die damals ihren akademischen Ort vielfach noch in der Philosophischen Fakultät hatte, in den Zusammenhang der theologischen Fächer eingliedert. Er hat die alttestamentliche Exegese als Hilfsdisziplin der neutestamentlichen angesehen, das Alte Testament als „das allgemeinste Hilfsbuch zum Verständnis des Neuen Testamentes" (§ 141 Anm.). Die Anfor-[109]derungen, die er mit dieser Hilfswissenschaft verbindet, gehen über das in neuerer Zeit Übliche hinaus. Schleiermacher fordert von jedem Theologen „die Kenntnis beider alttestamentischen Grundsprachen" (§ 131), also neben der des Hebräischen auch die des Aramäischen, von den exegetischen Fachleuten eine „hinreichende Kenntnis" aller semitischen Sprachen (§ 129). Aus der Fassung der theologischen Aufgabe im ganzen resultiert, daß innerhalb der Historischen Theologie der Gegenwartsthematik ein hervorragender Platz zukommt. Neben der Exegetischen Theologie und neben der Kirchengeschichte im engeren Sinne umfaßt die Historische Theologie als dritten Komplex „Die geschichtliche Kenntnis von dem gegenwärtigen Zustande des Christentums" (§ 195 ff.). In diesem Rahmen hat Schleiermacher unter dem Titel „Kirchliche Statistik" das Programm einer Darstellung „des gesellschaftlichen Zustandes in allen verschiedenen Teilen der christlichen Kirche" (§ 195) skizziert, das seit dem späten 19. Jahrhundert — in Ablösung der auf konfessionelle Lehrbegriffe und Unterscheidungslehren sich begrenzenden Symbolik — von der Konfessionskunde und der ökumenischen Kirchenkunde ausgeführt worden ist. Dem mit der Gegenwart befaßten Zweig der Historischen Theologie hat Schleiermacher — zum Mißfallen vieler damaliger und späterer Fachvertreter — auch die Dogmatische Theologie eingeordnet, als „Kenntnis der jetzt in der evangelischen Kirche geltenden Lehre" (§ 195). Die auffälligste Neuerung in Schleiermachers Aufriß stellt die Philosophische Theologie dar. Sie hat die Funktion der theologischen Grunddisziplin, sofern es in ihr um die Kategorien geht, die Verstehen von Geschichte und Gegenwart des Christentums erschließen. Der Beiname

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„philosophisch" hat wissenschaftssystematischen Sinn. Aufgabe und Thema der Philosophischen Theologie ist eine Theorie des Christentums, die sich darauf richtet, „sowohl das Wesen desselben in seinem Gegensatz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen, als auch das Wesen der Frömmigkeit und frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Tätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen" (§ 21). Die von der „Kurzen Darstellung" postulierte neue Fundamentaldisziplin hat sich in dieser Form nicht eingebürgert. Schleiermacher selber hat weder eine Philosophische Theologie veröffentlicht noch eine Vorlesung unter diesem Titel gehalten. Eine partielle Ausführung hat er im Rahmen der umfänglichen „Einleitung" zu seiner Glaubenslehre gegeben. Mit diesem Verfahren kann er als Anfänger einer Entwicklung angesehen werden, die für die protestantische Dogmatik im 19. und 20. Jahrhundert insgesamt charakteristisch geblieben ist. Die Grundfragen neuzeitlicher Theologie, die sein enzyklopädischer Entwurf einem eigenen Fach zuweisen wollte, sind von der Dogmatik aufgenommen worden im Zusammenhang der einleitenden Grundlegung, der sog. Prolegomena. Die dogmatischen Prolegomena, die in der klassischen protestantischen Dogmatik ganz auf die Lehre von der Heiligen Schrift konzentriert waren, [110] haben mit dieser Erweiterung und Veränderung auch eine zunehmende Individualisierung erfahren.

VIII. Schleiermachers große Dogmatik „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt" erschien in zwei Bänden 1821/22. Das Werk ist aus Hallenser und Berliner Vorlesungen erwachsen und hat späteren Vorlesungen Schleiermachers als Grundlage gedient. Die Herkunft aus dem Lehrbetrieb zeichnet sich in der Gestaltung ab. Jeder Paragraph wird durch einen Leitsatz eröffnet, dem — anders als in der „Kurzen Darstellung" — ausführliche Erläuterungen folgen. Die betonte Bezugnahme auf die „evangelische Kirche" im Untertitel des Werkes zeigt an, daß es als Unionsdogmatik konzipiert ist. Den Kontroversthemen zwischen lutherischer und reformierter Lehre wird die kirchentrennende Bedeutung abgesprochen. Ein Nachdruck der Erstauflage erschien 1828. 1830/31 hat Schleiermacher eine zweite umgearbeitete Ausgabe vorgelegt. Die Überarbeitung ist so ausgefallen, daß sie bei sachlich unverändertem Gesamtgepräge in sprachlich-stilistischer Hinsicht schwerer zugänglich ist als die Ursprung-

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liehe Fassung. Zur Entlastung der Neufassung hat Schleiermacher ihr in den „Theologischen Studien und Kritiken" 1829 zwei „Sendschreiben" vorangeschickt („Dr. Schleiermacher über seine Glaubenslehre an Dr. Lücke"), in denen er sich mit Rezensenten und Kritikern auseinandergesetzt und zur damaligen theologischen Lage Stellung genommen hat. In der Fassung der 2. Auflage von 1830/31, die in die Sämmtlichen Werke einging und mehrere Abdrucke erlebte, ist die Glaubenslehre in der Folgezeit gelesen, studiert und zitiert worden. Die ausführliche „Einleitung" des Werkes enthält wichtige Teile der von Schleiermacher konzipierten Philosophischen Theologie: die Grundzüge einer Theorie der Religion und der religiösen Gemeinschaft, eine schematische Erörterung der geschichtlichen Religionen, eine Wesensbestimmung des Christentums und des Protestantismus. In der Fassung von 1830/31 ist der wissenschaftssystematische Status dieser Darlegungen in Zwischenüberschriften eigens markiert. Sie werden als „Lehnsätze" (aus der philosophischen „Ethik", der „Religionsphilosophie" und der „Apologetik") gekennzeichnet. Mit der gewichtigen Thematik der „Einleitung" hängt es zusammen, daß diese mindestens im gleichen Maße beachtet, interpretiert und debattiert worden ist wie alle folgenden Teile der Glaubenslehre, in denen die materiale Dogmatik entfaltet wird. Die bekannten Formulierungen, mit denen Schleiermacher — in korrigierender Fortbildung der „Reden" — das Wesen der Religion bestimmt, lauten (in der Fassung der 1. Aufl.): „Die Frömmigkeit an sich ist weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Neigung und Bestimmtheit des Gefühls" (§ 8 Leitsatz). — [111] „Das Gemeinsame aller frommen Erregungen, also das Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig bewußt sind, d. h. daß wir uns abhängig fühlen von Gott" (§ 9 Leitsatz). Hegel, seit 1818 Schleiermachers Kollege an der Berliner Universität, hat 1822 in der Vorrede zu dem Buche eines Schülers (H. F. W. Hinrichs, „Die Religion im inneren Verhältnisse zur Wissenschaft") dieser Wesensbestimmung den verletzenden Kommentar gewidmet, danach sei der Hund der beste Christ, denn er trage das Gefühl seiner Abhängigkeit am stärksten in sich. In solcher Polemik ist — von anderem abgesehen — allerdings verkannt, daß der Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls als Leitbegriff einer allgemeinen Theorie der Religion auftritt, nicht als Formel für das Spezifische des christlichen Gottesglaubens. Schleiermachers Formel für das Wesen des Christentums lautet: „Das Christentum ist eine eigentümliche Gestaltung der Frömmigkeit in ihrer ideologischen Richtung, welche Gestaltung sich dadurch von allen

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ändern unterscheidet, daß alles Einzelne in ihr bezogen wird auf das Bewußtsein der Erlösung durch die Person Jesu von Nazareth" (1. Aufl. § 18, Leitsatz). Vorausgesetzt ist dabei ein Schema von „Stufen" der Religion (Fetischismus, Polytheismus, Monotheismus) und eine Unterscheidung zweier „Richtungen". Unter den Religionen der höchsten, der monotheistischen Stufe gehört das Christentum der „teleologischen", d. h. der ethischen, aktiven Richtung zu im Unterschied zur „ästhetischen" Richtung des Schicksalsglaubens. Nicht im Schema erfaßbar ist das „Eigentümliche", das Geschichtlich-Individuelle des christlichen Gottesglaubens, „das Bewußtsein der Erlösung durch die Person Jesu von Nazareth". Es gehört zu den auffallenden Besonderheiten dieser Grundlegung der Dogmatik, daß sie gipfelt in der förmlichen Vorwegnahme einer „Christologie". Ihre Aussagen über das Christentum und über Jesus von Nazareth nehmen die Stelle ein, die in der älteren protestantischen Dogmatik die Lehre von der Heiligen Schrift innegehabt hatte. Das zeigt die veränderten Voraussetzungen an, unter denen Schleiermachers Glaubenslehre steht, und es zeichnet die Aufgabe vor, die sie sich in der Darstellung und Erörterung der christlichen Lehre stellt. Die Aufgabe der Dogmatik wird im Leitsatz von S l (1. Aufl.) folgendermaßen formuliert: „Dogmatische Theologie ist die Wissenschaft von dem Zusammenhange der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer bestimmten Zeit geltenden Lehre." Die Wendung „zu einer bestimmten Zeit" verdient besondere Beachtung. Sie wehrt die Vorstellung einer zeitlos gültigen Lehre ab. Die kirchliche Lehrtradition wird mit der Frage nach ihrer gegenwärtigen Geltung dargestellt und erörtert. Thema dieser Glaubenslehre sind nicht „credenda", nicht Lehrsätze, die unter Berufung auf die Autorität von Bibel und Bekenntnis Glauben fordern, vielmehr wird die christliche Lehre verstanden als Ausdruck und Darstellung der Erfahrung des Glaubens, des „christlich-frommen Selbstbewußtseins". Als Motto hat Schleiermacher beiden Auflagen seines Werks die Anselm-Zitate vorangestellt: „Neque enim quaero intellegere ut credam, sed [112] credo ut intelligam. — Nam qui non crediderit, non experietur, et qui expertus non fuerit, non intelliget." Die Gestaltung der materialen Dogmatik ist geprägt durch die Verbindung von konstruktiver Systematik, die ihre Gesichtspunkte aus der Analyse des christlichen Bewußtseins gewinnt, mit umfassender Sichtung der dogmatischen Tradition. Beide Seiten der Gestaltung sind bereits am kunstvollen Aufbau des Werkes abzulesen. Es handelt sich um einen Aufriß mit neun (bzw. zehn) Abteilungen, die sich aus der Kreuzung von zwei Dreierschemata ergeben. Die Hauptgliederung in drei große Teile

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bildet die Struktur des christlichen Bewußtseins als Bewußtsein von Sünde und Gnade ab. Drei Teile entstehen dadurch, daß Schleiermacher zunächst das christliche Bewußtsein abgesehen von Sünde und Gnade beschreibt, danach das Bewußtsein der Sünde, schließlich das Bewußtsein der Gnade. Damit kreuzt er die Unterscheidung von drei Formen dogmatischer Sätze: „Beschreibungen menschlicher Zustände", „Begriffe von göttlichen Eigenschaften", „Aussagen von Beschaffenheiten der Welt". In das so entstehende neunteilige Fächerwerk werden die „Lehrstücke" der dogmatischen Tradition eingeordnet, wobei sich die Kunst der Darstellung auch darin bewährt, daß die herkömmliche Themenordnung weitgehend gewahrt bleibt. Außerhalb des neungliedrigen Aufrisses, als „Schluß", begegnet die Lehre „Von der göttlichen Dreiheit". Diese ungewöhnliche Plazierung der Trinitätslehre ist nicht als deren Verabschiedung zu verstehen, allerdings auch nicht im Sinne einer Krönung des Werkes. Schleiermachers im wesentlichen kritisch gehaltene Erörterung ist von der Absicht geleitet, „daß die ganze Lehre mehr die Form eines noch schwebenden Problems erhalte" (§ 188, Zusatz). Er hat gemeint, daß ihr eine gründliche Umbildung noch bevorstehe. Die Behandlung der einzelnen Lehrstücke ist so gestaltet, daß jedesmal eine „Einleitung" vorangeht, oft mehrere Paragraphen umfassend, in der die Gesichtspunkte entwickelt werden, die den Rahmen für die Erörterung der Lehrtradition abgeben. Danach werden die einschlägigen Aussagen der lutherischen und der reformierten Bekenntnisschriften sowie der älteren und der zeitgenössischen Dogmatik eingehend verhandelt, nicht selten auch patristische und scholastische Äußerungen. Bei jedem Lehrstück wird zugleich die Kritik berücksichtigt, welche die kirchliche Lehre seit der Aufklärung erfahren hatte. So ist gleichsam der Gesamtertrag der Dogmatik eingegangen in ein Unternehmen der Prüfung, der Interpretation, der Weiterbildung, das dann seinerseits die Theologie der Folgezeit auf unabsehbare Weise beeinflußt hat. Über die Richtungsgegensätze und über die Epochenbrüche der neueren Theologiegeschichte hinweg haben Schleiermachers Fragestellungen und Einsichten sich als Orientierung und Wegweisung bewährt. Emanuel Hirsch hat über ihn geurteilt, er gehöre „zu den wenigen bahnbrechenden christlichen Denkern, denen über Jahrhunderte fortzuwirken bestimmt ist" (Geschichte V, 316). [113]

Bibliographie Tice, Terrence N.: Schleiermacher Bibliography. Princeton/New Jersey 1966 (Ein Nachtrag erscheint 1985).

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Werke Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. H.-J. Birkner u. G. Ebeling, H. Fischer, H. Kimmerle, K.-V. Selge. Berlin-New York 1980. Die KGA gliedert sich in 5 Abteilungen (I. Schriften und Entwürfe, II. Vorlesungen, III. Predigten, IV. Übersetzungen, V. Briefwechsel und biographische Dokumente). Bislang liegen fünf Bände aus der I. Abteilung vor: Jugendschriften 1787-1796. Hg. v. G. Meckenstock. 1983 (KGA I, DSchriften aus der Berliner Zeit 1796—1799. Hg. v. G. Meckenstock. 1984 (KGA I, 2). Der christliche Glaube (1821/22). Hg. v. H. Peiter u. U. Barth. 3 Teilbde. 1980/83 (KGA I, 7, 1-3). (Studienausgabe der Teilbde. 1. u. 2. Berlin-New York 1984). Sämmtliche Werke. I.Abt. Zur Theologie (11 Bde.), II. Abt. Predigten (10 Bde.), III. Abt. Zur Philosophie (10 Bde.). Berlin 1834-1864. (Abk.: SW). Aus Schleiermachers Leben. In Briefen. 4 Bde. Bde. l u. 2 Berlin (1858), 2. Aufl. 1860; Bde. 3 u. 4 1861/63 (Nachdruck Berlin-New York 1974). (Abk.: Briefe). Werke. Auswahl in vier Bänden, Hg. v. O. Braun u. J. Bauer. Leipzig 1910-1913, 2. Aufl. 1927/28 (Nachdruck Aalen 1967). Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familien- und Freundesbriefe. Hg. v. H. Meisner. 2 Bde. Gotha 1922/23. Pädagogische Schriften. Hg. v. E. Weniger. 2 Bde. Düsseldorf/ München 1957 (Neudruck als Ullstein TB Berlin 1983). Kleine Schriften und Predigten. Hg. v. H. Gerdes u. E. Hirsch. 3 Bde. Berlin 1969/70. Theologische Schriften. Hg. v. K. Nowak. Berlin 1983. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Krit. Ausg. v. G. Ch. B. Pünjer. Braunschweig 1879. (Von den zahlreichen Ausgaben der „Reden" berücksichtigt diese als einzige alle vier Auflagen der Schrift.) Räthsel und Charaden. 3. Aufl. Berlin 1883. Monologen. Krit. Ausg. v. F. M. Schiele. Leipzig 1902. 2. erw. Aufl. v. H. Mulert. Leipzig 1914. 3. Aufl. (Nachdruck) Hamburg 1978. Die Weihnachtsfeier. Krit. Ausg. v. H. Mulert. Leipzig 1908. Schleiermachers Sendschreiben über seine Glaubenslehre an Lücke. Krit. Ausg. v. H. Mulert. Gießen 1908. Kurze Darstellung des theologischen Studiums. Krit. Ausg. v. H. Scholz. Leipzig 1910 (Nachdruck Darmstadt 1961 u. ö.).

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H. Zum Leben und Werk Schleiermachers

Ästhetik. Hg. v. R. Odebrecht. Berlin-Leipzig 1931. Dialektik. Hg. v. R. Odebrecht. Leipzig 1942 (Nachdruck Darmstadt 1976). Hermeneutik. Krit. Ausg. d. Handschriften v. H. Kimmerle. Heidelberg 1959. 2. verb. u. erw. Aufl. 1974. Der christliche Glaube. Krit. Ausg. der 2. Aufl. von 1830/31 v. M. Redeker. 2 Bde. Berlin 1960. Hermeneutik und Kritik. Hg. v. M. Frank. Frankfurt/M. 1977. Brouillon zur Ethik (1805/06). Auf der Grundlage der Ausgabe von O. Braun hg. v. H.-J. Birkner. Hamburg 1981. Ethik (1812/13). Auf der Grundlage der Ausgabe v. O. Braun hg. v. H.J. Birkner. Hamburg 1981. [114] Christliche Sittenlehre. Einleitung (Wintersemester 1826/27). Hg. v. H. Peiter. Stuttgart 1983. Ästhetik (1819/25). Über den Begriff der Kunst (1831/32). Hg. v. Th. Lehnerer. Hamburg 1984. Darstellungen Barth, K.: Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung. Göttingen 1923/ 24. Hg. v. D. Ritschi. Zürich 1978. Barth, U.: Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhanges von Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion. Göttingen 1983. Bauer, J.: Schleiermacher als patriotischer Prediger. Gießen 1908. Birkner, H.-J.: Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems. Berlin 1964. Birkner, H.-J.: Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation. München 1974. Dilthey, W.: Leben Schleiermachers. 1. Band. Berlin 1870. 2. Aufl. hg. v. H. Mulert 1922. 3. Aufl. hg. v. M. Redeker 1970. - 2. Bd. Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. Aus dem Nachlaß hg. v. M. Redeker. 2 Teilbde. Berlin 1966. Frank, M.: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher. Frankfurt/M. 1977. Grab, W: Humanität und Christentumsgeschichte. Eine Untersuchung zum Geschichtsbegriff im Spätwerk Schleiermachers. Göttingen 1980. Herms, E.: Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher. Gütersloh 1974.

17. Friedrich Schleiermacher [1985]

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Hirsch, E.: Geschichte der neuern evangelischen Theologie. 5 Bde., 5. Aufl. Gütersloh 1975 (4, 490-582; 5, 281-364). Hirsch, E.: Schleiermachers Christusglaube. Gütersloh 1968. Honecker, M.: Schleiermacher und das Kirchenrecht. München 1968. J0rgensen, Theodor H.: Das religionsphilosophische Offenbarungsverständnis des späteren Schleiermacher. Tübingen 1977. Kade, F.: Schleiermachers Anteil an der Entwicklung des preußischen Bildungswesens von 1808-1818, Leipzig 1925. Kantzenbach, F. W.: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, (rowohlts monographien 126). Reinbek b. Hamburg 1967 u. ö. Lange, D.: Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen F. Schleiermacher und D. F. Strauß. Gütersloh 1975. Meisner, H.: Schleiermachers Lehrjahre. Berlin/Leipzig 1934. Meyer, E. R.: Schleiermachers und C. G. von Brinkmanns Gang durch die Brüdergemeine. Leipzig 1905. Offermann, D.: Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre. Berlin 1969. Reble, A.: Schleiermachers Kulturphilosophie. Erfurt 1935. Redeker, M.: Friedrich Schleiermacher. Leben und Werk. Berlin 1968. Reuter, H.-R.: Die Einheit der Dialektik Friedrich Schleiermachers. Eine systematische Interpretation. München 1979. Schenkel, D.: Friedrich Schleiermacher. Ein Lebens- und Charakterbild. Elberfeld 1868. Scholtz, G.: Schleiermachers Musikphilosophie. Göttingen 1981. Scholtz, G.: Die Philosophie Schleiermachers. Darmstadt 1984. Schrofner, E.: Theologie als positive Wissenschaft. Prinzipien und Methoden der Dogmatik bei Schleiermacher. Frankfurt/M. 1980. [115] Schulze, Th.: Stand und Probleme der erziehungswissenschaftlichen Schleiermacher-Forschung in Deutschland. In: Paedagogica Historica l (1961), 291-326. Trillhaas, W: Schleiermachers Predigt. 2. Aufl. Berlin-New York 1975. Willich, E. v.: Aus Schleiermachers Hause. Berlin 1909.

18. Schleiermachers „Kurze Darstellung" als theologisches Reformprogramm [1986] * „So sehr sich auch in unserem Jahrhundert die Formen der meisten Wissenschaften verändert haben, so giebt es doch schwerlich eine, mit der eine so totale Umbildung vorgegangen wäre, wie die Theologie eine erfahren hat. Diese Umbildung ist nicht bloß bey ihrer Form stehen geblieben, sondern sie hat auch die Materie, sie hat das eigentliche Objekt der Wissenschaft in einem viel bemerklicheren Grad ergriffen, als es bey irgend einer ändern — wenn man höchstens die Physik ausnimmt — geschehen ist." Diese Beschreibung der theologischen Lage datiert aus dem Jahre 1794. Sie stammt von einem älteren Zeitgenossen Schleiermachers, von dem Göttinger Theologieprofessor Gottlieb Jakob Planck (1751 — 1833). Es handelt sich um die ersten Sätze seiner „Einleitung in die Theologischen Wissenschaften" (2 Teile, Leipzig 1794/95; l,lf). Schleiermacher hat das Werk herangezogen, als er zehn Jahre später selber eine Einleitung in die Theologie vortrug. Wenn Planck von „totaler Umbildung" spricht, so ist das nicht eine programmatische, sondern eine diagnostische Formel. Es geht nicht um Veränderungen, die erst noch zu bewerkstelligen wären, sondern um solche, die sich bereits vollzogen haben, die jedoch nach ihren Resultaten erfaßt und hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Gestaltung von Lehre und Studium bedacht werden sollen. Damit ist die Konstellation angegeben, unter der Schleiermachers Theologiestudium in Halle (Wintersemester 1784/85 — Sommersemester 1786) gestanden hat. Die dortige Theologische Fakultät war an der von Planck konstatierten Umbildung maßgeblich beteiligt, vor allem durch das Wirken Johann Salomo Semlers (1725 — 1791), der noch in Halle lehrte, als Schleiermacher dort studierte. Die von Planck diagnostizierte Veränderung gibt auch für Schleiermachers Lehrtätigkeit in [60] Halle (1804-1806) und in Berlin (1810—1834) den Hintergrund und den Bezugsrahmen ab. Vgl. Bibliographie Nr. 51

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

In besonderer Weise gilt für Schleiermachers eigenen Beitrag zur Theologiereform in seiner Schrift „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" (1811, 18302), daß er nicht eine Reformdebatte neu anstößt, sondern daß er in eine Debatte eingreift, die längst im Gange war. Die Eigenart seines Beitrags muß vor diesem Hintergrund gesehen und von ihm abgehoben werden. Im Folgenden soll zunächst auf die Entstehungsund die Wirkungsgeschichte der Schrift kurz eingegangen werden, danach auf das in ihr entwickelte Theologieverständnis, schließlich auf ihr reformerisches Potential, das an ausgewählten Beispielen erläutert und durch Hinweise einerseits auf die vorgegebenen Verhältnisse und Auffassungen, andererseits auf nachfolgende Entwicklungen ins Licht gesetzt werden soll.

II. Die „Kurze Darstellung" ist aus Vorlesungen über „Theologische Enzyklopädie" hervorgewachsen, die Schleiermacher in Halle und in Berlin gehalten hat. Wie der Untertitel angibt, ist sie „zum Behuf einleitender Vorlesungen" entworfen, denen sie als Grundlage gedient hat. Nach der Glaubenslehre ist die Enzyklopädie diejenige theologische Disziplin, über die Schleiermacher am häufigsten gelesen hat, insgesamt zwölfmal. Während seiner vier Hallenser Semester hat er die Vorlesung zweimal gehalten (1804/05, 1805). Für das Wintersemester 1806/07 war eine weitere Wiederholung geplant, die nicht zustande kam, weil nach der Besetzung Halles durch französische Truppen die Universität geschlossen wurde.1 In Berlin hat Schleiermacher die Enzyklopädie einmal bereits vor der Eröffnung der Universität in einer öffentlichen Vorlesung behandelt (1808), dann im Eröffnungssemester 1810/11, danach siebenmal unter Zugrundelegung der 1811 veröffentlichten Schrift (1811/12, 1814/15, 1816/17, 1819/20, 1824, 1827, 1829), schließlich einmal unter Zugrundelegung der 1830 gedruckten Neufassung (1831/32).2 In den Berliner 1

2

Vgl. den Brief an Gaß vom Sommer 1806 in: W. Gaß (Hg.), „Fr. Schleiermacher's Briefwechsel mit J. Chr. Gaß", Berlin 1852 (im Folgenden zitiert als: Gaß), S. 53. Auch in H. Meisner (Hg.), „Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familienund Freundesbriefe", 2 Bände, Gotha 1923 (im Folgenden zitiert als: Meisner), 2, S. 66. Einen Bericht über eine Hörernachschrift aus dem Wintersemester 1831/32 mit Auszügen aus derselben bietet C. Clemen, „Schleiermachers Vorlesung über theologische Enzyklopädie", in: „Theologische Studien und Kritiken 78", 1905, S. 226-245.

18. „Kurze Darstellung" als theologisches Reformprogramm [1986]

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Vorlesungsverzeichnissen ist die Enzyklopädie außerdem für das Wintersemester 1813/14 angekündigt. Diese Vorlesung hat wegen der kriegsbedingten schwachen Frequenz der Universität nicht stattgefunden. 3 In Halle hat Schleiermacher die Vorlesung vierstündig gehalten, [61] in Berlin anfangs zweistündig, 1811/12 dreistündig, seit 1814/15 vierstündig, seit 1819/20 fünfstündig. Derartige Einführungs- und Überblicksvorlesungen gehörten bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein an allen evangelisch-theologischen Fakultäten zum üblichen Lehrprogramm. Die Theologische Fakultät in Halle, an der Schleiermacher studiert und an der er seine ersten Lehrerfahrungen gesammelt hat, ist von ihren Anfängen her, die im Zeichen pietistischer Studienreform standen, auf die Anleitung ihrer Studierenden besonders bedacht gewesen. Der Hallenser Professor Samuel Mursinna, ein Verwandter Schleiermachers, hat mit seinem Werk „Primae lineae encyclopaediae theologicae in usum praelectionum ductae" (1. Teil 1764, 17942; 2. Teil 1794) die Bezeichnung Theologische Enzyklopädie für eine solche Überblicksdarstellung eingebürgert. Als Schleiermacher zum Wintersemester 1804/05 als außerordentlicher Professor nach Halle kam, hatte die dortige Fakultät gerade eine „Anweisung für angehende Theologen zur Übersicht ihres Studiums und zur Kenntniß der vorzüglich für sie bestimmten Bildungsanstalten und anderer academischen Einrichtungen auf der Königl. Preuß. Friedrichsuniversität" in den Druck gegeben.4 Zu den Professoren, neben denen Schleiermacher in Halle vier Semester lang lehrte, gehörte Johann August Nösselt (1734—1807), dessen „Anweisung zur Bildung angehender Theologen", in drei Teilen zuerst 1786/89 erschienen, noch 1818/19 eine 3. Auflage erlebte. (Ich zitiere das Werk im Folgenden nach der Erstfassung von 1786/89.) Als Schleiermacher selber im ersten Semester seiner Hallenser Lehrtätigkeit über Enzyklopädie las, hat er das Werk Nösselts neben dem Plancks Vgl. Gaß, S. 114; Meisner 2, S. 207. Die „Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung" brachte 1806 in den Nummern 77 und 78 eine ausführliche, sehr kritisch gehaltene Besprechung (2. Band, S. 1 — 13). Schleiermacher war mit dieser Kritik einverstanden, empfand es jedoch als mißlich, daß er als Verfasser vermutet wurde. Vgl. Gaß, S. 45; Meisner 2, S. 62. — Die Erklärung, mit der sich die Fakultät gegen die Rezension wandte (Intelligenzblatt der Hallischen Allgemeinen Literaturzeitung vom 14. Mai 1806), hat er aus Gründen der Kollegialität, obschon mit Hemmungen, mit unterzeichnet. Der Text der Erklärung ist abgedruckt in: Gaß, S. 52, ferner in: „Aus Schleiermachers Leben. In Briefen", Berlin, Bände l und 2 (1858) I8602, Bände 3 und 4 1861/63. Neudruck 1974 (im Folgenden zitiert als: Briefe), 4, S. 125 f. Vgl. dazu auch Gaß, S. 52 f; Meisner 2, S. 65 f.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

benutzt 5 , der seinerseits Nösselts „Anweisung" als einziges Werk der Gattung einschränkungslos empfohlen hat (a. a. O. l, S. 148). Im Zusammenhang mit den Vorlesungen der vier Hallenser Semester hat Schleiermacher gleich für eine ganze Serie von Disziplinen die Veröffentlichung von Grundrissen geplant (Philosophische Ethik, Theologische Enzyklopädie, Hermeneutik, Glaubenslehre, Christliche Sittenlehre) und zum Teil auch mit deren Ausarbeitung begonnen. Von diesen Projekten sind schließlich nur zwei verwirklicht worden, die große Darstellung der Dogmatik „Der christliche Glaube", erst 1821/22 erschienen, und das knappe Kompendium der Enzyklopädie: „Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen entworfen von F. Schleiermacher, der Gottesgelahrtheit [62] Doctor und öffentl. ord. Lehrer an der Universität zu Berlin, evang. ref. Prediger an der Dreifaltigkeitskirche daselbst, ordentl. Mitglied der Königl. Preuß. und corresp. der Königl. Bairischen Akademie der Wissenschaften. Berlin, 1811". Die Kürze der enzyklopädischen Darstellung, die in der Fassung von 1811 nur 96 Seiten umfaßt, erklärt sich daraus, daß Schleiermacher nicht eine Druckfassung seiner Vorlesung im ganzen veröffentlicht hat, wie er es anfangs erwogen hatte 6 , sondern lediglich knappe Leitsätze, die darauf angelegt waren, im Kolleg erläutert und ausgeführt zu werden. Es ist nicht verwunderlich, daß Leser, die solche Erläuterungen entbehren mußten, die Schrift als schwierig, als rätselhaft, als unverständlich empfanden, zumal sie auch in Aufriß und Terminologie mit Ungewöhnlichkeiten nicht sparte. Aus einem Brief Schleiermachers an Alexander zu Dohna (vom 23. März 1813) erfährt man, daß die Schrift um ihrer 5

6

Er erwähnt diesen Sachverhalt in einem Brief an Gaß vom 13. November 1804, in dem er über seine ersten Lehrerfahrungen berichtet und die Sorge äußert, daß er womöglich mit dem Stoff nicht auskommen werde wegen [80] seiner „zu wenig detaillierten Art". In diesem Zusammenhang schreibt er: „Dem letzten suche ich abzuhelfen, indem ich z. E. vor der Encyklopädie allemal etwas aus unseres ehrlichen Nösselts Anweisung oder Plancks nicht minder geschwätziger Einleitung lese: allein es hilft wenig; aus fremder Art und Weise kommt einmal nichts in meine hinein." Gaß, S. 2; Meisner 2, S. 21. Nachdem er die Vorlesung zum zweiten Mal gehalten hatte, kündigte er seinem Freund Gaß am 6. September 1805 die Übersendung seiner Notizen mit der Bemerkung an: „Denn gedrukkt möchte wohl nicht eher etwas davon werden, bis ich einmal das Collegium satt bin und die Vorlesungen in extenso drukken lasse. Denn bei Aphorismen würde, wenn sie ins große Publicum kämen, Mißverstand fast unvermeidlich sein." Gaß, S. 28; Meisner 2, S. 43.

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Schwerverständlichkeit willen als Instrument der Intrige gehandhabt werden konnte: „Was die Darstellung des theologischen Studiums betrifft, so weiß ich recht gut, daß bei Hofe darüber geklatscht worden ist; daß meine dortigen Freunde es mit den gehörigen Anmerkungen begleitet dem Könige in die Hände gespielt haben, und daß dieser gesagt hat, gelehrte Leute bei der Universität sollten doch verständiger schreiben. Aber ein Handbuch ist nur für die Zuhörer, denen es in den Vorlesungen erklärt wird, es soll grade ihnen die Sachen vorher unverständlich machen, die sie leider großentheils schon zu verstehen glauben, und soll ihnen hernach dienen, um an jeden Paragraphen eine Masse von Erinnerungen anzuknüpfen." (Meisner 2, S. 151). Die Schrift von 1811 ist alles andere als ein literarischer Erfolg gewesen. Von der damaligen Theologie ist sie praktisch nicht zur Kenntnis genommen worden. Eine bedeutsame Ausnahme bildet der Tübinger katholische Theologe Johann Sebastian Drey. Seine 1819 veröffentlichte „Kurze Einleitung in das Studium der Theologie" ist stark von Schleiermachers Schrift beeinflußt, die auch in der Vorrede (S. IV) genannt wird. Eine ausführliche Rezension hat der Heidelberger Theologieprofessor Friedrich Heinrich Christian Schwarz (1766—1837) in den „Heidelbergischen Jahrbüchern der Litteratur" (Jahrgang 1812, 513 — 530) veröffentlicht. Im übrigen spricht es für sich selbst, daß eine Neuauflage erst nach zwei Jahrzehnten erschien: „Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. Entworfen [63] von Dr. F. Schleiermacher. Zweite umgearbeitete Ausgabe. Berlin, 1830". (Die im Folgenden gegebenen Zitate bieten, wo nichts anderes vermerkt ist, Text und Paragraphenzählung der 2. Auflage.) Die Ausgabe von 1830 brachte neben der Überarbeitung und Neufassung der meisten Leitsätze auch eine nicht unbeträchtliche Erweiterung, da Schleiermacher vielen Leitsätzen erläuternde Zusätze beigab. Die Schrift wuchs dadurch mit 145 Seiten auf mehr als das Anderthalbfache an. Diese Fassung von 1830, die in die „Sämmtlichen Werke" einging und mehrere Abdrucke erlebte, hat die weitere Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der Schrift bestimmt. War die Wirkung der „Kurzen Darstellung" zu Schleiermachers Lebzeiten im wesentlichen identisch mit der seiner Vorlesungen, so gewann sie nach seinem Tod rasch das Ansehen eines Entwurfs von klassischem Rang. 7 Die enzyklopädischen und 7

Eine Skizze der Wirkungsgeschichte der „Kurzen Darstellung" im 19. Jahrhundert enthielt der erste Band der „Einführung in die Prinzipien und Methoden der evangelischen Theologie" von Alfred Ecken, 2 Bände, Leipzig 1908/09, l, S. 13-96.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

theologietheoretischen Werke des 19. Jahrhunderts nehmen durchweg auf sie Bezug und sind ihr zumeist in vielen Zügen verpflichtet. 8 1910 veranstaltete Heinrich Scholz (1884-1956) eine „Kritische Ausgabe", die beide Auflagen der Schrift berücksichtigte. Diese Ausgabe9 ist seither die Grundlage für die Beschäftigung mit der „Kurzen Darstellung" gewesen. Die Vorrede des damals fünfundzwanzigjährigen Herausgebers, der sich im selben Jahr an der Berliner Theologischen Fakultät habilitiert hatte, läßt erkennen, daß die Neuausgabe zugleich als Beitrag zur damaligen theologischen Grundlagendebatte gemeint war. Sie beginnt mit den Sätzen: „Die Wendung zu Schleiermacher ist zweifellos eine der wichtigsten Bewegungen auf dem Felde der systematischen Theologie seit dem Tode Albrecht Ritschis. Es hat sich in zwanzigjähriger Prüfung gezeigt, daß der Göttinger Meister dem Theologen der Glaubenslehre doch nicht so überlegen ist, wie er selbst von sich geglaubt hat. Mehr und mehr hat man angefangen, auf die Schleiermacherschen Problemstellungen zurückzugehen, sie historisch zu analysieren und auf ihre bleibende Bedeutung zu prüfen." (S. V.). Diese Sätze können als repräsentativ für die „Schleiermacher-Renaissance" in der Theologie des Jahrhundertanfangs angesehen werden. Zehn Jahre nach dieser Empfehlung einer Rückwende von Ritschi zu Schleiermacher stand die protestantische Theologie im Zeichen von Wendeprogrammen gänzlich anderen Zuschnitts. Von den Wortführern der nach dem 1. Weltkrieg hervortretenden neuen Theologie, allen voran [64] von Karl Barth, wurde die Abkehr wie von Ritschi so von Schleiermacher, ja die Abkehr von der Gesamtentwicklung neuzeitlicher Theologie proklamiert. Schleiermacher wurde nun als der Repräsentant eines epochalen theologischen Irrwegs eingestuft. Barth hat in seiner Göttinger Vorlesung über „Die Theologie Schleiermachers" (Wintersemester 1923/ 24) in der letzten Kollegstunde sein Votum in den Worten zusammengefaßt: „Der Protestantismus hat tatsächlich seit den Reformatoren keinen 8

9

Das gilt nicht zuletzt für das erfolgreichste Werk der ganzen Gattung, für die „Encyclopädie und Methodologie der Theologischen Wissenschaften" des Basler Theologieprofessors Karl Rudolf Hagenbach (1801^1874), die zuerst 1833 erschien, also noch zu Schleiermachers Lebzeiten, und die in der Folgezeit in nicht weniger als 12 Auflagen Generationen von Theologiestudenten begleitet hat. Die 10. und 11. Auflage (1880 und 1884} wurden von Emil Kautzsch, die 12. Auflage (1889) wurde von Max Reischle herausgegeben. Sie erschien als 10. Heft der „Quellenschriften zur Geschichte des Protestantismus", hg. von Carl Stange, Leipzig 1910. Nachdruck 1935. Weitere Nachdrucke seit 1961.

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größeren Theologen gehabt als diesen. Dieser aber hat uns, hat das Ganze in diese Sackgasse geführt!"10 Barth hat mit dieser Feststellung den Aufruf nicht zu theologischer Reform, sondern zur „theologischen Revolution" verbunden. 11 Die Frage, was Theologie sei und sein solle, wurde — beginnend mit Barths Aufsatz von 1922 „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie" — über Jahrzehnte hin Gegenstand programmatischer Erörterungen und anspruchsvoller Verlautbarungen. Soweit diese sich nicht auf die Mitteilung privattheologischer Definitionen und Manifeste begrenzten, sondern sich auf die Arbeitsbedingungen und die Problemlage der wissenschaftlich organisierten Theologie einließen, blieb allerdings die „Kurze Darstellung" derjenige Bezugstext, der gerade auch in kritischer Auseinandersetzung sein Ansehen als klassisches Dokument behauptete.

III. Schleiermacher stellt seine Schrift als eine „formale" Enzyklopädie vor, die sich darauf begrenzt, „eine richtige Anschauung von dem Zusammenhang der verschiedenen Theile der Theologie unter sich, und dem eigenthümlichen Werth eines jeden für den gemeinsamen Zweck" zu vermitteln (§ 18, vgl. dazu § 20). Es handelt sich also um eine Theorie der Theologie, um eine Erörterung ihrer Aufgabe und ihres von daher zu begreifenden Aufbaus. Anders als etwa die Werke Nösselts und Plancks, anders als überhaupt die Mehrzahl früherer und späterer Einleitungen in die Theologie und in das Theologiestudium bietet Schleiermachers Grundriß keinen Überblick über die Inhalte der theologischen Disziplinen, auch keine theologische Bücherkunde. Die langfristige Wirkung der Schrift ist gerade durch dieses formale Gepräge, das anfänglich ihrer Wirkung hinderlich war, begünstigt worden. 10

11

Karl Barth, „Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24". Hg. von Dietrich Ritschi, Zürich 1978, S. 461. „Sieht man in Schleiermacher keineswegs den rechtmäßigen Erben und Testamentsvollstrecker der Reformatoren und in der fraglosen Herrschaft seiner Richtung nicht eine gnädige, sondern eine ungnädige Führung Gottes, ein Zorngericht über den Protestantismus, das zur Buße und Umkehr und nicht zum Weitermachen einladet, dann bleibt offenbar — und ich sehe nicht ein, wie dem auszuweichen sein wird — die Möglichkeit der theologischen Revolution, das grundsätzliche Nein! zu der ganzen Schleiermacherschen Religions- und Christentumslehre und der Versuch eines Neubaus gerade an der Stelle, an der wir ihn immer wieder mit erstaunlicher Beharrlichkeit, Kunst und Kühnheit haben vorbeieilen sehen." A. a. O., S. 462.

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II. Zum Leben und Werk Schleiermachers

[65] Sein Verständnis der als Wissenschaft organisierten Theologie hat Schleiermacher zusammengefaßt in den beiden Leitsätzen: „§ 1. Die Theologie in dem Sinne, in welchem das Wort hier immer genommen wird, ist eine positive Wissenschaft, deren Theile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf eine bestimmte Glaubensweise, d. h. eine bestimmte Gestaltung des Gottesbewußtseins; die der christlichen also durch die Beziehung auf das Christenthum." — „§ 5. Die christliche Theologie ist sonach der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besiz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment nicht möglich ist." Diese Sätze bestimmen den wissenschaftlichen Status der Theologie dadurch, daß sie ihr eine funktionale Definition geben. Sie verweisen nicht auf ein besonderes theologisches Erkenntnisprinzip, wie das die altprotestantische Orthodoxie in ihrer Lehre vom Schriftprinzip (Quidquid sacra scriptura docet, infallibiliter certum est) getan hat. Sie definieren die Theologie auch nicht durch die Nennung eines Gegenstandsbereichs, wie das die traditionelle, an den Wortsinn von Theologie sich anlehnende Bestimmung als „Lehre von Gott und den göttlichen Dingen" tat oder wie es in anderer Weise geschah, wenn die Aufklärungstheologie — im Gefolge der Unterscheidung von Religion und Theologie — Theologie als „Wissenschaft der Religion" bestimmte, als „gelehrte Erkenntniß derjenigen Lehren und Wahrheiten ..., welche uns über unsere Verhältnisse gegen Gott, über unsere Pflichten gegen ihn, die aus diesen Verhältnissen entspringen, und über die Hofnungen, die wir auf diese Verhältnisse bauen dürfen, den zu unserer Glückseligkeit und Beruhigung nöthigen Unterricht geben." (Planck a. a. O. l, S. 29. Ähnlich Nösselt a. a. O. l, S. 3.) Schleiermacher überführt die Frage: Was ist Theologie? in die Frage: Wozu gibt es Theologie? Er versteht sie als eine „positive Wissenschaft", die konstituiert wird durch den Bezug auf ein Positum, auf ein Gegebenes, genauer: durch den Bezug auf eine vorgegebene Aufgabe und Praxis, die wissenschaftlicher Bearbeitung bedarf. Der spezifische Praxisbezug der Theologie, ihr Wozu, das besondere Kenntnisse und „Kunstregeln" sowie deren wissenschaftliche Organisation erfordert, wird in § 5 der „Kurzen Darstellung" mit den Begriffen [66] „Leitung der Kirche" und „Kirchenregiment" angegeben. Diese Begriffe sind mißverständlich, jedenfalls der Erläuterung bedürftig. Der Begriff der „Leitung" wird von Schleiermacher in einem sehr weiten Sinn gebraucht. Er umfaßt sowohl die Aufgaben übergemeindlicher Leitung („Kirchenregiment", vgl. §§ 309—334) als auch alle Formen leitender

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Tätigkeit in der Einzelgemeinde, die Schleiermacher im Begriff „Kirchendienst" zusammenfaßt (vgl. §§ 277—308), insbesondere also Liturgie, Predigt, Unterricht, Seelsorge. „Leitung der christlichen Kirche" umfaßt darüber hinaus neben den institutionell geordneten Formen leitender Wirksamkeit, neben dem „gebundenen" Element, auch das „ungebundene". Gemeint ist die „freie Einwirkung auf das Ganze, welche jedes einzelne Mitglied der Kirche versuchen kann, das sich dazu berufen glaubt" (S 312), die „freie Geistesmacht" (§ 328). Die so verstandene Theologie ist weder eine Wissenschaft, die einen Platz über allen anderen Wissenschaften beansprucht, noch steht sie als einzelnes wissenschaftliches Fach neben anderen Fächern. Sie ist vielmehr selber ein „Inbegriff", ein Zusammenschluß verschiedener Fächer, deren Auswahl und Ausgestaltung durch den spezifischen Praxisbezug der Theologie bestimmt ist. Die Theologie ist, wie Schleiermacher mit einer terminologischen Anleihe bei Schellings „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums" (1803) sagt, eine „positive Wissenschaft". In der 1. Auflage der „Kurzen Darstellung" gehörte dieser Begriff zu den unerläuterten terminologischen Neuerungen. In der 2. Auflage hat Schleiermacher ihm die folgende Anmerkung beigegeben: „Eine positive Wissenschaft überhaupt ist nämlich ein solcher Inbegriff wissenschaftlicher Elemente, welche ihre Zusammengehörigkeit nicht haben, als ob sie einen vermöge der Idee der Wissenschaft nothwendigen Bestandtheil der wissenschaftlichen Organisation bildeten, sondern nur sofern sie zur Lösung einer praktischen Aufgabe erforderlich sind." ( § 1. Zusatz) Es handelt sich dabei nicht um einen Wissenschaftsbegriff, der etwa eigens auf die Theologie zugeschnitten wäre, sondern um ein Grundelement aus Schleiermachers allgemeiner Theorie der Wissenschaften und der Universität. Seine Schrift „Über Universitäten in deutschem Sinn" von 1808 versteht die drei sogenannten „oberen" Fakultäten der traditionellen Universität — Theologie, Jurisprudenz und Medizin — insgesamt als „positive Fakultäten", die durch den Bezug auf eine praktische Aufgabe konstituiert werden, im Unterschied [67] zur Philosophischen Fakultät, die als Repräsentant des Systems der Wissenschaften aufgefaßt wird. Es macht die Eigenart und den Rang von Schleiermachers enzyklopädischem Entwurf aus, daß er auf diese Weise das zu erfassen und zu erläutern vermag, was das eigentliche Charakteristikum der Theologie in ihrer neuzeitlichen Entwicklung darstellt, nämlich ihre methodische und thematische Auffächerung, samt den damit gegebenen methodischen und thematischen Beziehungen zu außertheologischen Disziplinen. Die

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Theologie, wie sie zu Schleiermachers Zeit sich gestaltet hatte und wie sie seither sich weiterentwickelt hat, ist nicht ein einzelnes wissenschaftliches Fach, sie ist vielmehr ein Ensemble von Fächern, die ihrerseits jeweils zu anderen wissenschaftlichen Fächern in einem Verhältnis der Nachbarschaft und der Konkurrenz, der Arbeitsgemeinschaft und der Arbeitsteilung stehen. Schleiermachers funktionale Definition läßt diese Auffächerung der Theologie und die damit gesetzten Beziehungsverhältnisse als in ihrer spezifischen Aufgabe begründet verstehen.

IV. Schleiermachers Ausführungen über die einzelnen theologischen Fächer können hier nur im Grundriß und in markanten Einzelzügen ins Auge gefaßt werden. In ihnen ist durchweg die Verfassung der damals modernen Theologie vorausgesetzt, wie sie sich als Resultat der von Planck beschworenen „totalen Umgestaltung" herausgebildet hatte. Dieser Hintergrund der Darlegungen Schleiermachers muß um so mehr beachtet werden, als diese selber zum größeren Teil nicht eine Beschreibung der damaligen Gegebenheiten darbieten, sondern eine kritische Sichtung und eine konstruktive Fortbildung. In nicht wenigen Zügen ist die Schrift zum Programm künftiger Entwicklungen geworden. Ihr programmatischer Charakter tritt bereits in der Aufgliederung der Theologie hervor. Die übliche Gliederung, die sich im 18. Jahrhundert herausgebildet hatte, war die in vier Hauptfächer: „Man ist jetzt fast allgemein übereingekommen, alles, was zu einer gelehrten Erkenntniß der Religion gehören soll, unter vier Hauptfächer zu ordnen, wovon man eines der Exegese, ein zweytes der historischen, das dritte der systematischen Theologie, und das vierte denjenigen besonderen Wissenschaften widmet, die man sehr schicklich durch den Namen der angewandten [68] Theologie, Theologia applicata, oder auch, wenn man wollte, Theologia applicatrix bezeichnen könnte." (Planck a. a. O. l, S. 89). Die Exegetische Theologie, Altes und Neues Testament umfassend, war dasjenige Fach, das mit der historischen Erforschung des Kanons und seiner Schriften das eigentliche Feld der neuen Fragestellungen bildete, zusammen mit der Historischen Theologie, die sich erst im 18. Jahrhundert zur selbständigen Disziplin entwickelt hatte. Die Rolle der Systematischen Theologie, die sich als Systematisierung biblischer Aussagen verstand, war hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Exegetischen Theologie

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Gegenstand einer unabgeschlossenen Debatte. Die Stellung der Praktischen Theologie war unsicher. Schleiermachers Aufriß weicht von der geläufigen Viergliederung ab. Er nennt drei große Teile, die nach ihrem wissenschaftssystematischen Status unterschieden werden: Philosophische Theologie, Historische Theologie, Praktische Theologie.12 Ihr Zusammenhang, der sich aus dem funktionalen Bezug der Theologie ergibt, ist der einer gestuften Fundierung: die Praktische Theologie setzt die Historische, diese ihrerseits die Philosophische Theologie voraus. Dieser Zusammenhang läßt sich am besten erläutern, wenn man bei der Praktischen Theologie einsetzt. Die Praktische Theologie hat als Themenfeld die Formen und die „Kunstregeln" desjenigen leitenden Handelns, von dem her die Theologie im ganzen ihre Aufgaben empfängt. Wissenschaftssystematisch hat sie den Charakter einer „Technik" (§ 25). Im Zusammenhang der theologischen Fächer bekommt die Praktische Theologie so ihren festen Ort. Schleiermacher gilt deswegen als der eigentliche Begründer einer wissenschaftlichen Praktischen Theologie, als der Anfänger ihrer neueren Entwicklung. Ein Blick auf die Behandlung des Fachs bei Planck ist aufschlußreich. Bei ihm heißt es „Theologia applicata", weil es hier nicht um theologische Erkenntnis, sondern um deren Anwendung gehe. Eben deswegen gilt es ihm nicht als theologisches Fach im engeren Sinne. Er schreibt über die angewandte Theologie und über ihre Teile Homiletik, Katechetik und Pastoraltheologie: „Eigentlich gehören sie also nicht zu der Theologie an sich betrachtet, oder sie sind nicht nothwendig, um uns das eigene Studium ihrer Wahrheiten, und die eigene Erkenntniß ihrer Lehre möglicher oder leichter zu machen, sondern [69] sie sollen uns nur die beste und natürlichste, die schicklichste und wirksamste Art lehren, wie wir unsere schon erlangte Erkenntniß auch ändern mittheilen, und in verschiedenen Formen mittheilen können: dann aber schöpfen ja diese besondere Wissenschaften ihre meiste Grundsätze nicht aus der Theologie selbst, sondern sie müssen sie 12

Werner Jetter hat auf eine entsprechende Dreigliederung hingewiesen, die sich bereits in der kleinen Programmschrift von Johann August Christian Nöbling „Über das Bedürfnis einer theoretisch-praktischen Anleitung zur weisen und vorsichtigen Sonderung der zum christlichen Volksunterricht gehörigen Materialien von den Gegenständen der akroamatischen Theologie", Göttingen 1796, [81] findet. Bei Nöbling ist es nicht die Theologie im ganzen, sondern sein eigenes Themenfeld, das in einen historischen, einen philosophischen und einen praktischen Teil gegliedert wird. Näheres bei Jetter, „Populäre oder elementare Theologie?" in: „Pastoraltheologie" 74, 1985, S. 396-406.

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von ändern entlehnen, und nur auf die Wahrheiten der Religion übertragen." (Planck l, S. 117). In Plancks Werk wird das Fach infolgedessen nur in einem 15 Seiten umfassenden „Anhang über diejenigen theologischen Wissenschaften, die zu der angewandten Theologie gehören" abgehandelt (2, S. 593—607). Nösselt zählt die mit Anwendung befaßten Disziplinen ebenfalls nicht zu den „eigentlich theologischen Wissenschaften" (vgl. 2, S. 289—292), widmet ihnen jedoch den ganzen 3. Teil seiner „Anleitung". Zwei Sachverhalte sind es, die Plancks Bedenken gegen den theologischen Status der praktischen Theologie begründen, einmal ihr Anwendungsbezug, zum anderen ihre Rezeption außertheologischer „Grundsätze". Eben diese Sachverhalte lassen den Unterschied zur Auffassung Schleiermachers deutlich hervortreten, nicht nur hinsichtlich der Praktischen Theologie, sondern hinsichtlich der Theologie im ganzen. Schleiermacher sieht die Theologie als ganze durch den Anwendungsbezug konstituiert, und er setzt die Beziehung zu anderen Wissenschaften für alle theologischen Fächer voraus. In der 1. Auflage seiner Schrift hat Schleiermacher die Praktische Theologie als die „Krone des theologischen Studiums" bezeichnet, eine Formulierung, die spätere Vertreter des Fachs oft und gern zitiert haben. Daß diese Metapher in der 2. Auflage nicht wiederholt wurde, ist nicht als Ausdruck veränderter Einschätzung anzusehen. Allerdings ist zweierlei anzumerken, nämlich einmal daß Schleiermacher nicht von der Krone der Theologie spricht, wie häufig falsch zitiert wird, sondern von der des Studiums (l. Aufl. Einleitung §31), zum anderen, daß es sich dabei um ein botanisches Bild handelt, bei dem die Historische Theologie als „Körper" (ebd. § 36), die Philosophische als „Wurzel" (ebd. § 26) figuriert. In der 2. Auflage ist davon nur erhalten geblieben, daß die Historische Theologie als „der eigentliche Körper des theologischen Studiums" bezeichnet wird (§ 28). Die Absicht jener Bildrede ist es, Gang und Akzente des Theologiestudiums anzugeben. In ihr zeichnet sich jedoch auch das sachliche Verhältnis ab, das zwischen den Teilen der Theologie besteht. Die Praktische Theologie ist auf [70] die Historische angewiesen, weil sie als Theorie leitenden Handelns „die Kenntniß des zu leitenden Ganzen in seinem jedesmaligen Zustande" voraussetzt (§ 26), das aus seiner Geschichte und von seinem Ursprung her begriffen werden muß.

V. Die große Rolle, welche der Historischen Theologie nach Umfang und Stellenwert in Schleiermachers Enzyklopädie zukommt, entspricht dem

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Gang, welchen die theologische Forschung und Lehre im 18. Jahrhundert genommen hatte. Schleiermachers Historische Theologie umfaßt allerdings mehr und sie hat andere Gewichtungen als das damalige Fach gleichen Namens und als das heutige Fach Kirchengeschichte. Neben der Kirchengeschichte im engeren Sinn wird die „Exegetische Theologie" als „Kenntnis des Urchristentums" hier eingeordnet. Als dritte Teildisziplin wird „Die geschichtliche Kenntnis von dem gegenwärtigen Zustand des Christentums" genannt. In der Einordnung der Exegetischen Theologie in die Historische kommt zur Geltung, daß Schleiermacher eine Bibelexegese vor Augen hat, die sich nicht mehr als Hilfswissenschaft der Dogmatik versteht, die sich vielmehr als historische Wissenschaft ihrer selbständigen Rolle und Aufgabe bewußt ist. Im Blick auf die damalige Diskussionslage verdient daneben ein anderer Aspekt der Beziehung von Exegese und Dogmatik Beachtung. Planck muß sich mit Kritikern der Systematischen Theologie auseinandersetzen, die sich bemühen, „den an sich wahren Unterschied zwischen eigentlich-biblischer und systematisch-dogmatischer Theologie in ein recht starkes Licht zu setzen, um daraus einen Vorbeweiß für die Entbehrlichkeit und selbst zuweilen für die Schädlichkeit der letzten herzuleiten, indem man sie schon durch ihre Verschiedenheit von der ersten voraus verdächtig zu machen gesucht hat" (a. a. O. l, S. 112). Auch Nösselt widmet der Verteidigung der Systematischen Theologie gegen das Programm einer „Biblischen Theologie" eine längere Passage (a. a. O. 2, S. 533—541). Schleiermachers Einordnung der Exegetischen Theologie hat auch den Aspekt, daß ihr die Rolle einer Konkurrenz der Dogmatik streitig gemacht wird. Das tritt expressis verbis in seiner Stellungnahme zur „biblischen Theologie" (1. Aufl.) bzw. zur „biblischen [71] Dogmatik" (2. Aufl.) hervor. Diese wird als eine historische Darstellung der Dogmatik des apostolischen Zeitalters eingestuft, die als solche nicht Dogmatik der Gegenwart sein kann. „Was man biblische Theologie nennt, ist nur eine ... Darstellung des Lehrbegriffs in der kanonischen Zeit, in sofern man diese als Einen Moment ansehen kann." (1. Aufl. S. 70 § 4; vgl. 2. Aufl. §250). Die neutestamentliche Exegese im ganzen erscheint bei Schleiermacher unter wissenschaftssystematischem und unter methodischem Gesichtspunkt als eine historische Disziplin, die nach den allgemeinen Regeln philologisch-historischer Wissenschaft die Schriften des Neuen Testaments als Dokumente der Ursprungsgeschichte des Christentums erschließt. Dem entspricht sein Verständnis der biblischen Hermeneutik. Sie wird als ein Sonderfall der allgemeinen Hermeneutik angesehen. „Die

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neutestamentische Specialhermeneutik kann nur aus genaueren Bestimmungen der allgemeinen Regeln in Bezug auf die eigenthümlichen Verhältnisse des Kanon bestehen" (§ 137). Diese Auffassung hat nicht den Charakter programmatischer Neuerung. Sie liegt ganz auf der Linie dessen, was im Wirkungsbereich Johann Salomo Semlers als anerkannt gelten konnte. Der Semler-Schüler Nösselt: „Man muß also die biblischen Bücher wie andre erklären, und kan sie anders nicht verstehen lernen als durch rechtmäßigen Gebrauch der hermeneutischen Hülfsmittel". (A.a.O. l, S. 360. Vgl. dazu auch Planck 2, S. 110 f.) Schleiermachers Einordnung der Exegetischen Theologie macht auf der Ebene der theologischen Enzyklopädie die Konsequenzen dieser Auffassung sichtbar. Er hat damit den Weg bezeichnet, den die historische Bibelauslegung der Folgezeit beschritten hat. Einige seiner Ausführungen lesen sich wie ein Programm exegetisch-historischer Forschungen, die zum Teil erst hundert Jahre später — seit der religionsgeschichtlichen Schule — wirklich in Angriff genommen wurden. Die im Folgenden zitierten Thesen mögen für sich selber sprechen. „§ 140. Keine Schrift kann vollkommen verstanden werden als nur im Zusammenhang mit dem gesammten Umfang von Vorstellungen, aus welchem sie hervorgegangen ist, und vermittelst der Kenntniß aller Lebensbeziehungen, sowol der Schriftsteller als derjenigen für welche sie schrieben. — § 141. Der geschichtliche Apparat zur Erklärung des neuen Testamentes umfaßt daher die Kenntniß des älteren und neueren Judenthums, so wie die Kenntniß des geistigen und bürgerlichen Zustandes in denen Gegenden, in welchen und für [72] welche die neutestamentischen Schriften verfaßt wurden. — § 142. Viele von diesen Hülfsquellen sind bis jezt noch weder in möglichster Vollständigkeit noch mit der gehörigen Vorsicht gebraucht worden. (Zusatz) Beides gilt besonders von den gleichzeitigen und späteren jüdischen Schriften." Aus § 141 ist auch zu ersehen, wie Schleiermacher „die Kenntniß des älteren und neueren Judenthums", also die Wissenschaft vom Alten Testament und vom Spätjudentum, die in den deutschen Universitäten im 18. Jahrhundert und danach vielfach noch in der Philosophischen Fakultät angesiedelt war, in den Zusammenhang der theologischen Fächer eingliedert. Im Einklang mit der damals gängigen Auffassung und Praxis sieht er die alttestamentliche Exegese als Hilfsdisziplin der neutestamentlichen an, das Alte Testament als „das allgemeinste Hülfsbuch zum Verständniß des neuen Testamentes" (§ 141. Zusatz). In analoger Weise und ebenso pauschal wird bei Nösselt das Alte Testament eingeführt (vgl. a. a. O. 2, S. 379). Die Anforderungen, die Schleiermacher

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mit dieser Hilfswissenschaft verbindet, entsprechen dem zu seiner Zeit Üblichen; sie gehen infolgedessen über das in neuerer Zeit Übliche hinaus. Er fordert von jedem Theologen „die Kenntniß beider alttestamentischen Grundsprachen" (§ 131), also neben der des Hebräischen auch die des Aramäischen, von den exegetischen Fachleuten eine „hinreichende Kenntniß" aller semitischen Sprachen (§ 129).13 Aus Schleiermachers Fassung der theologischen Aufgabe im ganzen resultiert, daß innerhalb der Historischen Theologie der Gegenwartsthematik ein hervorragender Platz zukommt. Neben der Exegetischen Theologie und neben der Kirchengeschichte im engeren Sinn umfaßt die Historische Theologie als dritten Komplex „Die geschichtliche Kenntniß von dem gegenwärtigen Zustande des Christenthums" (§§ 195 — 250). In diesem Rahmen hat Schleiermacher unter dem Titel „Kirchliche Statistik" die Aufgabe einer Darstellung „des gesellschaftlichen Zustandes in allen verschiedenen Theilen der christlichen Kirche" skizziert. Es handelt sich in den Grundzügen um das Programm, das seit dem späten 19. Jahrhundert — in Überschreitung der auf konfessionelle „Lehrbegriffe" und „Unterscheidungslehren" konzentrierten „Symbolik" — unter den Titeln „Vergleichende Konfessionskunde" und „Oekumenische Kirchenkunde" ausgeführt worden ist. Schleiermacher notiert bereits 1830: „Die Disciplin, welche man gewöhnlich [73] Symbolik nennt, ist nur aus Elementen der kirchlichen Statistik zusammengesezt, und kann sich in diese wieder zurükkziehn." (§249). Dieser Satz bezieht sich nicht auf die — im Bereich des Luthertums entwickelte — ältere Symbolik, die ihren Namen daher hatte, daß sie die Symbole (Bekenntnisschriften) der eigenen (lutherischen) Kirche darstellte, während die Lehre anderer Kirchen von der Polemik kontroverstheologisch traktiert wurde. Schleiermacher versteht unter Symbolik vielmehr „eine Zusammenstellung des eigenthümlichen in dem Lehrbegriff der noch jezt bestehenden christlichen Partheien" (§ 249. Zusatz). Er setzt also die damals neue vergleichende Sym11

Nösselts Erwartungen gehen weiter. Seine Empfehlung an die Theologiestudierenden lautet: „Es wäre...ratsam, eher das in Absicht auf Grammatik und Sprachgebrauch leichtere Syrisch als das Hebräische zu lernen, alsdann sich das Chaldäische bekannt zu machen, welches mit dem Syrischen fast einerley Sprache und in wenigeren, auch nicht einmal originellen Schriften vorhanden ist, hierauf das Hebräische folgen zu lassen, und zuletzt das wegen seiner Weitläufigkeit und seines Reichtums schwerere Arabisch zu treiben." (A. a. O. l, S. 144). — Dagegen ist Plancks Stellungnahme eher zurückhaltend. Das Hin und Her seiner Erwägungen läuft darauf hinaus, daß eine „kompendiarische Sprachkenntnis" des Hebräischen als wünschenswert und ausreichend erscheint (a.a.O. 2, S. 85).

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bolik voraus, als deren Begründer G. J. Planck gilt mit seiner Schrift „Abriß einer kritischen und vergleichenden Darstellung der dogmatischen Systeme unserer verschiedenen christlichen Hauptparteien" (Göttingen 1796). Die Übernahme des älteren Begriffs Symbolik für eine solche vergleichende Darstellung geht auf Schleiermachers Berliner Fakultätskollegen Philipp Marheineke zurück: „Christliche Symbolik oder historisch-kritische und dogmatisch-komparative Darstellung des katholischen, lutherischen, reformierten und socinianischen Lehrbegriffs", I. (einziger) Teil, 3 Bde., Heidelberg 1810/13. Dem mit der Gegenwart befaßten Zweig der Historischen Theologie hat Schleiermacher auch die Dogmatische Theologie zugewiesen. Er versteht sie als „die zusammenhängende Darstellung der Lehre wie sie zu einer gegebenen Zeit...in einer einzelnen Kirchenparthei geltend ist" (§ 97, vgl. § 196f). Von den damaligen und von den späteren Vertretern des Fachs ist diese Einordnung zumeist mit mißbilligendem Kopfschütteln bedacht worden. Die nächstliegende Vermutung, daß hier die Historisierung der Dogmatik proklamiert sei, daß ihre Verwandlung in Dogmengeschichte angebahnt werde, diese Vermutung wird allerdings durch die Gestaltung von Schleiermachers eigener Glaubenslehre in keiner Weise bestätigt. Im vorliegenden Zusammenhang muß es genügen, darauf hinzuweisen, daß seine Auffassung ein verändertes Verständnis von Historischer Theologie voraussetzt, in dem gerade die Gegenwartsthematik konstitutive Bedeutung hat. In der zitierten Definition der Dogmatik trägt die Wendung „zu einer gegebenen Zeit" den Hauptakzent. Dreierlei ist hervorzuheben. Einmal: Schleiermacher wendet sich damit gegen die gängige Auffassung, welche die Aufgabe der Dogmatik bzw. der Systematischen [74] Theologie als die einer Systematisierung biblischer Lehren verstand. So beschreibt etwa Nösselt die Systematische Theologie als „eine Wissenschaft... worin die in der heiligen Schrift zerstreuten Lehren erklärt, in einen ordentlichen Zusammenhang gebracht, durch einander bestimmt und eingeschränkt, bestätigt, und weiter aufgeklärt werden" (a. a. O. 2, S. 455). Ganz ähnlich Planck: „Systematische Theologie ist Inbegriff eben der Religionswahrheiten, die in der Bibel enthalten sind, nur daß sie hier nach ihren Voraussetzungen und Folgen weiter entwickelt, in den Zusammenhang, der ihren Beziehungen auf einander gemäß ist, gebracht, oder — mit ändern Worten — in einer Ordnung dargestellt sind, worin eine die andre entweder beweißt und erläutert, oder einschränkt und genauer bestimmt." (A.a.O. l, S. 113). Planck betont nachdrücklich, die Systematische Theologie habe „kein anderes Objekt, und

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soll...durchaus kein anderes haben, als die biblische" (l, S. 114). Diese Auffassung samt der ungeklärten Konkurrenz von Dogmatik und biblischer Theologie wird von Schleiermacher verabschiedet. Der Dogmatik wird als ihr eigenes Themenfeld die zu einer gegebenen Zeit geltende und sich geltend machende Lehre zugewiesen. Sodann: Diese Auffassung schließt in sich, daß die Vorstellung eines zeitlos gültigen Lehrbestandes verneint wird. Die Aufgabe der Dogmatik, die kirchliche Lehre und Lehrtradition mit der Frage nach ihrer gegenwärtigen Geltung darzustellen und zu erörtern, schließt zugleich die Aufgabe der Weiterbildung ein. Schleiermacher hat das auf die Formel gebracht, daß jede dogmatische Darstellung auch Heterodoxes enthalten müsse. „§ 203. Jedes Element der Lehre welches in dem Sinn construirt ist, das bereits allgemein anerkannte zusamt den natürlichen Folgerungen daraus fest zu halten, ist orthodox; jedes in der Tendenz construirte, den Lehrbegriff beweglich zu erhalten und ändern Auffassungsweisen Raum zu machen, ist heterodox." — „§ 204. Beide sind, wie für den geschichtlichen Gang des Christenthums überhaupt so auch für jeden bedeutenden Moment als solchen, gleich wichtig." Er hat zugleich betont, daß es nicht notwendig sei, „daß alle die sich auf dieselbe Periode derselben Kirchengemeinschaft beziehen, unter sich übereinstimmen" (§ 196). Schließlich: Schleiermachers Einordnung [75] der Dogmatik in das theologische Fächergefüge macht unübersehbar, daß Theologie nicht mehr identisch ist mit Dogmatik, daß diese vielmehr zu einem Fach neben anderen Fächern geworden ist.

VI. Die auffälligste Neuerung in Schleiermachers Grundriß der theologischen Fächer stellt die Philosophische Theologie dar. Sie hat die Funktion der theologischen Grunddisziplin, in der es um die Kategorien geht, die Verstehen von Geschichte und Gegenwart des Christentums erschließen. „Es giebt kein Wissen um das Christenthum, wenn man, anstatt sowol das Wesen desselben in seinem Gegensaz gegen andere Glaubensweisen und Kirchen, als auch das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Thätigkeiten des menschlichen Geistes zu verstehen, sich nur mit einer empirischen Erfassung begnügt." (§21). Die großen Themen der Philosophischen Theologie, die in dieser Formulierung stichwortartig angegeben werden,

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sind eine anthropologische Theorie der Religion („das Wesen der Frömmigkeit und der frommen Gemeinschaften im Zusammenhang mit den übrigen Thätigkeiten des menschlichen Geistes") und eine Theorie des Christentums (in seinem Verhältnis zu anderen „Glaubensweisen und Kirchen", d. h. zu anderen Religionen und religiösen Gemeinschaften). Der Beiname „philosophisch" hat wiederum wissenschaftstheoretischen Sinn. In der von Schleiermacher entworfenen allgemeinen Systematik der Wissenschaften sind die Philosophische Ethik und die Religionsphilosophie diejenigen Fächer, auf welche die Philosophische Theologie sich methodisch und thematisch bezieht (vgl. dazu §§ 23.29.35.43 Zusatz). Von diesem Bezug hat sie ihren Namen. Als Schleiermacher die „Kurze Darstellung" in den Druck gab, hat er mit Kommentatoren gerechnet, die sagen würden, „daß viel Gespenster darin seien, ... theologische Disciplinen, die es nie gegeben habe und nie geben werde" (Gaß, S. 87; Meisner 2, S. 132). Für den damit angesprochenen Zug des Büchleins bietet die „Philosophische Theologie" selber einen markanten Beleg. Die Ausführungen zu diesem neuen Fach liefern weitere Beispiele. So betont Schleiermacher den sachlichen Bezug der Philosophischen Theologie zur Ethik, die als „Wissenschaft der [76] Principien der Geschichte" (§ 29) bezeichnet wird. Eine Erläuterung geben Schleiermachers Vorlesungen über Philosophische Ethik, die freilich erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden. Sie behandeln — in der Güterlehre — die Formen und Strukturen menschlich-geschichtlichen Lebens, damit auch die Religion „im Zusammenhang mit den übrigen Thätigkeiten des menschlichen Geistes" (§21). Dieses Verständnis von Ethik mußte freilich denjenigen Lesern der „Kurzen Darstellung" unverständlich bleiben, die nicht auch Hörer seiner Ethik-Vorlesung waren. Schwarz schreibt in der eingangs erwähnten Rezension der 1. Auflage der Schrift: „Auf die Ethik weiset jeder Theil hin. Diese wäre also das tiefste Prinzip, worin unsere ganze Theologie wurzelt, und wodurch sie hervorgetrieben wird. Wir bedauern aber, daß dieses Buch nichts von diesem über Allem liegenden Grund eröffnet." 14 Zur „Religionsphilosophie", die als vergleichende Theorie der geschichtlichen Religionen konzipiert ist, hat Schleiermacher in der Fassung von 1830 selber angemerkt, vorsorglich, aber selbstbewußt, daß er diesen Namen in einem „noch nicht ganz gewöhnlichen Sinne" gebrauche (§ 23. Zusatz). Die Philosophische Theologie gliedert sich dann in seinem Aufriß in zwei Disziplinen, die unter den Titeln „Apologetik" 14

A. a. O., S. 522.

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und „Polemik" auftreten. In beiden Fällen geht es um vorgefundene Fächerbenennungen, die jedoch bei Schleiermacher eine ganz neue Definition erhalten. Bei der Apologetik handelte es sich um eine vergleichsweise moderne theologische Unternehmung. Planck führt dieses Fach folgendermaßen ein: „Man hat ... diesen Nahmen erst neuerlich, ja erst zu unserer Zeit für die Kenntniß und Wissenschaft derjenigen Beweise erfunden, durch welche die Göttlichkeit des Christenthums, oder das göttliche Ansehen und der göttliche Ursprung der christlichen Lehre gegen Einwürfe aller Art behauptet und gerettet werden kann" (a. a. O. l, S. 271). Es sind die Probleme der großen Auseinandersetzung mit der Bibel- und Offenbarungskritik des 18. Jahrhunderts, die unter dem Titel „Apologetik" einen festen Platz im Fächerwerk der Theologie erhalten sollen. Aus dem Bezug auf die Bibelfrage erklärt es sich, daß Planck das neue Fach als ersten Teil der Exegetischen Theologie aufführt, obwohl er den neuen Gedanken seinerseits Rechnung trägt, wenn er nachdrücklich erklärt, es gehe bei solcher Apologetik gerade nicht um den göttlichen Ursprung der biblischen Schriften, sondern um den göttlichen Ursprung der Lehre, die in ihnen enthalten ist (a. a. O. l, [77] S. 277). In der Disziplin, die Schleiermacher unter dem Namen „Apologetik" vorstellt, geht es weder um das eine noch um das andere. Ihre Thematik wird durch die Frage nach dem Wesen der Religion und durch die nach dem Wesen des Christentums bezeichnet sowie — angesichts der konfessionellen Spaltung — durch die Frage nach dem Wesen des Protestantismus. Im Zusammenhang der theologischen Fächer tritt diese Thematik an diejenige Stelle, die in der klassischen protestantischen Dogmatik die Lehre von der Heiligen Schrift eingenommen hatte. 15 Es handelt sich um das Programm einer neuen Grundlegung der Theologie . Die kontroverstheologische Polemik galt an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert als antiquiert. Unter den theologischen Wissenschaften, in die Planck seine Leser einleitete, kam sie gar nicht mehr vor.16 Schleiermacher trägt dieser Sachlage Rechnung, wenn er schreibt, die 15

16

Eine anknüpfende Bezugnahme auf die ältere Bibellehre und auf die von Planck repräsentierte Apologetik zeigt sich insofern, als Schleiermacher dem neuen Fach die Aufgabe zuweist, die Begriffe „Offenbarung, Wunder und Eingebung" neu zu bestimmen (§45). Als weitere Themen, die neuer Bearbeitung zugeführt werden sollen, nennt er die Unterscheidung des Natürlichen und des Positiven (§ 43), ferner Weissagung und Vorbild (§46), Kanon und Sakrament (§47), Hierarchie und Kirchengewalt (§48). Vgl. dazu seine Bemerkungen 2, S. 539 f. — Nösselt behandelt und verteidigt die Polemik. A.a.O. 2,5.550-561.

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Polemik habe, „vorzüglich weil man ihre Richtung verkannte, schon seit geraumer Zeit aufgehört als theologische Disciplin bearbeitet und überliefert zu werden" (§ 68. Zusatz). Seine eigene Absicht geht nicht dahin, die Polemik traditioneller Art neu zu beleben. Er kennzeichnet diese vielmehr als eine von der Praktischen Theologie zu behandelnde „klerikalische Ausübung, welche einerseits mit unserer Disciplin nichts gemein hat, andererseits auch schwerlich von einer wohl bearbeiteten Praktischen Theologie als heilsam dürfte anerkannt werden" (§41. Zusatz). Schleiermacher gibt dem Fach eine neue „Richtung" und Fassung. Seine „Polemik" richtet sich nicht nach außen, sondern nach innen. Sie ist die aus der Wesensbestimmung des Christentums resultierende Kritik desselben, die Kritik seiner „krankhaften Abweichungen" ($40). Die Ausführungen über die Philosophische Theologie, über Apologetik und Polemik, schließen mit dem Leitsatz: „§ 68. Beide Disciplinen der philosophischen Theologie sehen ihrer Ausbildung noch entgegen." Diese Weissagung ist so nicht in Erfüllung gegangen. Die von Schleiermacher erwartete Ausbildung hat jedenfalls nicht in der Weise stattgefunden, daß sich eine Fundamentaldisziplin, wie er sie postuliert hatte, in der protestantischen Theologie eingebürgert hätte. Auch er selber hat weder eine Philosophische Theologie veröffentlicht noch je eine Vorlesung unter diesem Titel gehalten. Eine partielle Ausführung seines Programms hat er im Rahmen der umfänglichen Einleitung zu seiner Dogmatik „Der christliche Glaube" (1821/22, 2. Auflage 1830/31) gegeben. In der Fassung von 1830/31 ist der wissenschaftssystematische [78] Status dieser Darlegungen in Zwischenüberschriften eigens markiert. Sie werden dort als „Lehnsätze" aus der Ethik, aus der Religionsphilosophie und aus der Apologetik bezeichnet. Genaugenommen umfaßt Schleiermachers Dogmatik also zwei Disziplinen seines eigenen enzyklopädischen Grundrisses. Neben bzw. vor der eigentlichen Glaubenslehre enthält sie in ihrer „Einleitung" die Grundzüge seiner Philosophischen Theologie. Im Zusatz zu $ 68 der „Kurzen Darstellung" hat Schleiermacher im Blick auf die von ihm konzipierte Apologetik kritisch notiert, daß „die hieher gehörigen Sätze nicht ohne bedeutenden Nachtheil für die klare Uebersicht des ganzen Studiums in den Einleitungen zur Dogmatik ihren Ort fanden". Angesichts des Verfahrens seiner eigenen Dogmatik, die er im Jahre 1830 gerade in 2. Auflage in den Druck gab, ist das eine verwunderliche Notiz. Er hat mit diesem Verfahren eine Entwicklung wenn nicht inauguriert, so doch befördert, die für die protestantische Dogmatik im 19. und im 20. Jahrhundert charakteristisch geblieben ist.

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Die Grundfragen neuzeitlicher Theologie, die sein enzyklopädischer Entwurf einem eigenen Fach zugewiesen hatte, sind wie von seiner Glaubenslehre so von der Dogmatik seither aufgenommen worden im Zusammenhang der einleitenden Grundlegung in den sogenannten Prolegomena. Diese Prolegomena, die in der klassischen protestantischen Dogmatik auf die Lehre der Heiligen Schrift konzentriert waren, haben dabei nicht nur eine thematische Erweiterung, sondern eine strukturelle Veränderung erfahren, zugleich eine zunehmende Individualisierung. Friedrich Lücke (1791 — 1855), Theologieprofessor in Göttingen, hat nach Schleiermachers Tod in den „Theologischen Studien und Kritiken", deren Mitherausgeber er war, einen ausführlichen Gedenkaufsatz „Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher" veröffentlicht (7. Jahrgang, 1834, S. 745 —813), in dem die „Kurze Darstellung" folgendermaßen gewürdigt wird: „Man weiß nicht, was man an der Schrift mehr bewundern soll, den großartigen Grundriß, wonach das Ganze angelegt ist, oder die Kühnheit und Originalität der Ausführung. Der Grundriß lag allein in Schleiermachers Geiste; die damalige Gestalt der Theologie enthielt nur einige Grundlinien und Grundverhältnisse dafür, und auch diese zum Theil in einer ändern Ordnung und Verbindung. Da die Idee der Theologie, von der Schleiermacher ausging, größer war als die damalige Wirklichkeit, so enthält seine Darstellung mehr eine Theologie der Zukunft, als der Gegenwart. In diesem Sinne ist es [79] zum Theil ein wahrhaft prophetisches Werk, welches bei lebendigem Fortschritte in unsrer Wissenschaft und Kirche je länger je mehr in Erfüllung gehen wird." (S. 773). Dieser Einschätzung wird man auch nach 150 Jahren zustimmen können. Die langfristige Wirkung und dauerhafte Bedeutung der Darstellung Schleiermachers, deren Differenz von der damaligen Wirklichkeit Lücke so stark hervorhebt, ist freilich nicht zuletzt darin begründet, daß sie diejenigen Entwicklungen aufgenommen und diejenigen Fragestellungen artikuliert hat, die im theologischen Umbildungsprozeß des 18. Jahrhunderts hervorgetreten waren. Sie hat eben damit Bedingungen erfaßt, unter denen die neuzeitliche Theologie stand und steht.

III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

19. Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern vorgestellt Wolfgang Trillhaas zum 31. Oktober 1988 [1989]* Die Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe (KGA), deren erste Bände 1980 erschienen, hat eine lange Vorgeschichte, die 1834 begann. Ich gehe zunächst auf die Hauptetappen dieser Geschichte ein, die bezeichnet werden durch die Ausgabe der „Sämmtlichen Werke" (I), durch das aus der Schleiermacher-Forschung des Jahrhundertanfangs erwachsene Editionsprojekt Hermann Mulerts (II) und durch die neueren Planungen seit 1960 (III), um anschließend über die Organisation der neuen Ausgabe (IV), über ihre Planung und ihre Grundsätze (V) sowie über den Stand und Fortgang ihrer Arbeit (VI) zu berichten.

I. Schleiermacher ist am 12. Februar 1834 verstorben. Noch nicht vier Monate danach, am 2. Juni 1834, veröffentlichte sein Verleger und Freund Georg Reimer die Ankündigung „eine(r) möglichst vollständige^) Ausgabe seiner Werke..., die alles enthalten sollte, was in gedruckten sowohl als handschriftlichen Arbeiten hinterblieben ist, und nun, in geordneter Folge, binnen einem Zeitraum von 3 — 4 Jahren erscheinen soll". Mit der Ankündigung war die Einladung zur Subskription verbunden. (Der Text ist als Anhang abgedruckt.) Die zu veröffentlichenden Schriften werden bereits hier in die [13] drei Abteilungen I. Theologie, II. Predigten, III. Philosophie und Philologie (später nur: Philosophie) gegliedert. Neben Ludwig Jonas 1 , dem Schleiermacher seinen wissen* Vgl. Bibliographie Nr. 55 1 Ludwig Jonas (1797—1859), Schüler Schleiermachers, seit 1833 Pfarrer an der Nikolaikirche in Berlin. Hg. v. SW 1/12 (Christliche Sitte), HI/3 (Akademie-Abhandlungen), HI/4, 2 (Dialektik).

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

schaftlichen Nachlaß anvertraut hatte, wurden acht weitere „Verehrer und Freunde und Schüler" als Mitarbeiter genannt. Die Verteilung der Aufgaben wurde von Jonas 1835 in dem (auf den 31. Oktober datierten) Vorwort zu dem Band „Reden und Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften vorgetragen" (SW HI/3) bekanntgegeben (S. VHIf.). Einen umfangreichen Anteil übernahm er selber (Dialektik, Psychologie, Akademische Reden und Abhandlungen, Christliche Sittenlehre, Leben Jesu), einen ähnlich großen Friedrich Lücke 2 (Hermeneutik und Kritik, Einleitung in das Neue Testament, Evangelium des Matthäus und des Johannes, Katholische Briefe, Brief an die Hebräer). Der Gesamtkomplex der Predigten wurde Adolf Sydow3 übertragen, der außerdem die Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie und die über Kirchliche Statistik herausgeben sollte. Als Herausgeber einzelner Vorlesungen wurden genannt Friedrich Bleek4 (Paulinische Briefe), Eduard Bonneil 5 (Kirchengeschichte), Christian August Brandis 6 (Pädagogik, Politik), Carl Lachmann 7 (Schriften des Lukas), Carl Lommatzsch 8 (Ästhetik), Carl Immanuel Nitzsch9 (Praktische Theologie), Heinrich Ritter 10 (Ge2

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Gottfried Christian Friedrich Lücke (1791-1855), 1816-1818 Privatdozent für Theologie in Berlin, 1818 ord. Professor in Bonn, seit 1822 in Göttingen. Mit Schleiermacher und de Wette Herausberger der „Theologische(n) Zeitschrift" (1819-1822). Hg. v. SW 1/7 (Hermeneutik und Kritik). [33] Karl Leopold Adolf Sydow (1800-1882), 1827 Prediger am Kadetteninstitut zu Berlin, 1836 Hof- und Garnisonprediger in Potsdam, seit 1846 Pfarrer an der Neuen Kirche in Berlin. Hg. v. SW II/7-10. Schleiermachers Stiefsohn Ehrenfried von Willich schreibt in seinen Jugenderinnerungen „Aus Schleiermachers Hause" (1909): „Sydow war ein begeisterter Verehrer meines Vaters, ohne ihm oder unserer Familie persönlich näher bekannt gewesen zu sein." (192f.). Friedrich Bleek (1793-1859), Schüler Schleiermachers, 1821 theol. Privatdozent, 1823 außerord. Professor in Berlin, seit 1829 ord. Professor in Bonn. Eduard Bonnell (1802—1877), Konfirmand Schleiermachers und sein Schüler, 1830 Professor am Gymnasium zum Grauen Kloster, seit 1837 Direktor des Friedrich-Werder'schen Gymnasiums in Berlin. Hg. v. SW I/11 (Geschichte der christlichen Kirche). Christian August Brandis (1790-1857), seit 1823 ord. Professor der Philosophie in Bonn. Hg. v. SW HI/8 (Lehre vom Staat). Carl Lachmann (1793-1851), Philologe, 1818 außerord. Professor in Königsberg, seit 1825 in Berlin, 1827 ord. Professor. Carl Bernhard Lommatzsch (1788 — 1865), Professor und Konrektor am Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster, seit 1830 verheiratet mit Schleiermachers Tochter Gertrud (1812-1839). Hg. v. SW HI/7 (Ästhetik). Carl Immanuel Nitzsch (1787-1868), 1822 ord. Professor der Theologie in Bonn, seit 1847 in Berlin. August Heinrich Ritter (1791-1869), Schüler Schleiermachers, 1817 philosophischer Privatdozent in Berlin, 1823 außerord., 1825 ord. Professor, 1833 in Kiel, seit 1837 in Göttingen. Hg. v. SW HI/4, l (Geschichte der Philosophie).

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schichte der Philosophie), Alexander Schweizer11 (Philosophische Ethik). Gegenüber der Ankündigung von 1834 ist sowohl eine personelle Erweiterung zu registrieren (Bleek, Nitzsch) als auch eine Vermehrung des Materials (Enzyklopädie). Die Zahl der beteiligten Universitätslehrer wuchs dadurch auf sieben (von insgesamt elf Herausgebern). Mit der Ausnahme des 26jährigen A. Schweizer handelte es sich um ordentliche Professoren, z. T. von hohem Ansehen. Nur die [14] jüngeren von ihnen waren unmittelbare Schüler Schleiermachers. Den relativ größten Anteil an der Ausführung des Unternehmens hatten im Ergebnis die beiden Pastoren Jonas und Sydow. Es fällt auf, daß die Verteilung der Aufgaben sich auf die Bände des Nachlasses begrenzt. Jonas schließt seine Mitteilung mit dem Satz: „Hier sei nur noch bemerkt, daß der literarische Nachlaß der ursprünglichen Absicht entgegen nunmehr selbständig hervortritt, und daß ich an der Herausgabe der auch sonst schon gedruckt vorliegenden Schriften Schleiermachers keinen Theil nehme, sondern meine Thätigkeit lediglich auf dasjenige beschränke, was mir von ihm selbst anvertraut ist." (A.a. O. X). Man wird diese Bemerkung wohl so deuten müssen, daß der Wiederabdruck der schon veröffentlichten Schriften der Disposition des Verlags vorbehalten blieb. Die Ausgabe ist bekanntlich weder im vorgesehenen Zeitraum noch im vorgesehenen Umfang zustande gekommen. Drei bis vier Jahre waren genannt, über 30 Jahre hat sie sich hingezogen. Daß mehr Bände geplant waren als im Ergebnis erschienen sind, zeichnet sich unübersehbar in der Bandzählung der I. Abteilung ab, wo die Bandziffern 9 und 10 Lücken bezeichnen. In Wahrheit sind es weit mehr als zwei Bände, die nicht zustande gekommen sind. Gegenüber der Planung von 1835 fehlt in der Ausführung der Gesamtkomplex der Auslegungen neutestamentlicher Schriften, der mindestens fünf Bände umfaßt hätte; es fehlt ferner die Vorlesung über Theologische Enzyklopädie sowie die über Kirchliche Geographie und Statistik. Der ursprünglich veranschlagte Zeitraum von 3 — 4 Jahren war knapp bemessen, er war jedoch nicht so unrealistisch, wie es im Blick auf die Zeitmaße kritischer Editionen erscheinen könnte. Ein beachtlicher Teil der Planung ist erstaunlich rasch verwirklicht worden, wie [15] die fol" Alexander Schweizer (1808-1888), Schüler Schleiermachers, seit 1834 Vikar (1844 Pfarrer) am Großmünster [34] in Zürich, gleichzeitig außerord., seit 1840 ord. Professor der Theologie. Hg. v. SW III/5 (Entwurf eines Systems der Sittenlehre).

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

gende Übersicht zeigt, welche die Bände nach Erscheinungsjahren, gegliedert nach den drei Abteilungen, aufführt. (Mit N sind Nachlaßbände bezeichnet, mit solche, die einen anderen Herausgeber als den 1835 genannten haben.) I. Abt.

1834 1835 1836 1837 1838 1839 1840 1842 1843 1845 1846 1847 1849 1850 1856 1862 1864

3 2.4

II. Abt. 1.2 3.4.5Nx.6Nx

III. Abt. 3N.5N 7N

8N 7N

2 4.1N. 4.2N

UN 7N

1.12N 8Nx 5

8N l 9N 9Nx

13Nx ION 6Nx 6Nx

Von den 31 Bänden, die insgesamt erschienen sind, lagen 1838, nach knapp fünf Jahren, immerhin 15 vor, nach zehn Jahren 21, nach fünfzehn Jahren 26. Die letzten 5 Bände sind dann in einem Zeitraum von 16 Jahren erschienen. Bei der I. und III. Abteilung fällt das verzögerte Erscheinen derjenigen Bände auf, in denen bereits früher veröffentlichte Schriften wieder abgedruckt wurden. Die [16] letzten beiden dieser Bände — von insgesamt sieben — kamen erst 1846 heraus, 12 Jahre nach dem Beginn der Ausgabe (SW 1/5 und III/l). Die Verzögerung dürfte ihren Grund darin haben, daß Einzelausgaben der in diesen Bänden versammelten Schriften beim Verlag noch vorrätig waren und blieben. Das Problem einer Konkurrenz zwischen Gesamtausgabe und Einzelausgabe bestand auch sonst. In denjenigen Fällen, wo es sich um ganze Bände handelte, ist es auf elegante Weise dadurch gelöst worden, daß diese teils mit, teils ohne Titelblatt der Gesamtausgabe verkauft wurden. In dieser Weise sind —

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nach den Angaben des Kayserschen Bücherlexicons von 184212 — die 3. Ausgabe der Glaubenslehre von 1835/36 und die vier ersten Bände der Predigtabteilung sowohl als Bände der Sämmtlichen Werke als auch für sich angeboten worden. Auf solche Weise wurde auch die zweibändige Ausgabe „Predigten über das Evangelium Marci und den Brief Pauli an die Kolosser" integriert, die Friedrich Zabel 1835 im Verlag von Friedrich August Herbig begonnen hatte.13 Als Nebeneffekt ergab sich dabei der auffällige Sachverhalt, daß diese Bände (SW II/5 u. 6) auf den Titelblättern, auch auf denjenigen mit den Angaben zu den Sämmtlichen Werken, statt des Verlags Reimer den Verlag Herbig nennen. Fünf Bände der I. und der III. Abteilung sind schließlich von anderen als den 1835 genannten Herausgebern veröffentlicht worden. F. Lücke delegierte die Ausgabe der „Einleitung in das Neue Testament" an den damaligen Repetenten an der Göttinger Theologischen Fakultät G. Wolde, der sie — mit einem Vorwort von Lücke — 1845 vorlegte (SW 1/8). Die „Erziehungslehre" — wohl die wirkungsreichste unter diesen Nachlaßeditionen — wurde 1849 statt von C. A. Brandis von C. Platz herausgegeben (SW III/9). C. I. Nitzsch übertrug die Herausgabe des Bandes „Die praktische Theologie" seinem [17] früheren Schüler Jakob Frerich, nachdem dieser sich bei ihm brieflich nach dem Stand der Sache erkundigt hatte (SW 1/13, 1850, vgl. dort S. VI). Als letzte erschienen zwei Bände, die ursprünglich Jonas sich selber vorbehalten hatte. Sie wurden nach seinem Tod (1859) von zwei Heraus12

Vgl. Christian Gottlob Kayser: Neues Biicher-Lexicon enthaltend alle von 1833 bis Ende 1840 gedruckten Bücher, 2. Teil L-Z Leipzig 1842, 315. '·' Zabels Vorrede zum ersten der beiden Bände vom 18. Juni 1835 ist zu entnehmen, daß eine gescheiterte Verhandlung mit dem Verleger Reimer vorausgegangen war (vgl. l, IV f.). In der (undatierten) späteren Vorrede zum zweiten Band heißt es: „Der Herausgeber war früher der Meinung, daß er zur Herausgabe der von ihm nachgeschriebenen Predigten Schleiermacher's ohne Weiteres berechtigt sei. Von dieser Meinung ist er jedoch zurückgekommen; er hat sich während des Druckes des zweiten Theils dieser von ihm besorgten Ausgabe der Schleiermacherschen Frühpredigten über das Evangelium Marci und den Brief Pauli an die Colosser überzeugt, daß, um die Ausgabe zu einer rechtmäßigen zu machen, ihr die Genehmigung der Wittwe des verstorbenen Verfassers, so wie des von diesem selbst zur Herausgabe seines literarischen Nachlasses beauftragten Herrn Prediger Jonas nicht fehlen dürfe. Deshalb hat er nachträglich diese Genehmigung sich erbeten, und es ist ihm dieselbe mit anerkennenswerther Bereitwilligkeit ertheilt worden, indem zugleich die genannten Predigten der Gesammtausgabe des Schleiermacherschen literarischen Nachlasses einverleibt sind." Ein entsprechender Hinweis auf die von den Erben und von Jonas erteilte Genehmigung ist dem ersten der beiden Bände auf einer gesonderten Seite beigegeben worden.

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gebern übernommen, die beide noch zur Generation der SchleiermacherSchüler gehörten. Der Philosoph Leopold George14 gab 1862 die „Psychologie" heraus (SW /6). Der Theologe Karl August Rütenik, der sich bereits zu Schleiermachers Lebzeiten auch literarisch zu ihm bekannt hatte, 15 veröffentlichte 1864 „Das Leben Jesu" (SW 1/6) aufgrund von Manuskripten und Nachschriften, die er von Jonas' Amtsnachfolger an der Nikolaikirche Thomas erhalten hatte (vgl. a. a. O. S. VIII), und zwar unter Begrenzung auf die Vorlesung des Sommersemesters 1832. Im Vorwort wurde von ihm ein Supplementband angekündigt, der ergänzende Materialien aus früheren Semestern darbieten und „in Jahresfrist" herauskommen sollte (a. a. O. S. XIII). Er ist nicht erschienen.16 Auch die ursprünglich geplanten Ausgaben neutestamentlich-exegetischer Vorlesungen kamen nicht zustande. Die für sie vorgesehenen Herausgeber sind bereits in den fünfziger Jahren des Jahrhunderts verstorben (Lachmann 1851, Lücke 1855, Bleek 1859). Die Sämmtlichen Werke sind unvollständig geblieben. Die einzelnen Bände, insbesondere die mit Vorlesungseditionen — immerhin 13 der 22 Bände der I. und III. Abteilung — sind von sehr unterschiedlicher Quali14

15

16

Johann Friedrich Leopold George (1811 — 1873), Schüler Schleiermachers, 1834 philosophischer Privatdozent in Berlin, Gymnasiallehrer, seit 1858 ord. Professor der Philosophie in Greifswald. Karl August Rütenik: Der christliche Glaube, nach dem lutherischen Katechismus in katechetischen Vorträgen zusammenhängend dargestellt, Berlin 1829. — Die Christliche Lehre für Konfirmanden, 2. Theil: Sittenlehre, mit Zuziehung Schleiermacher'scher Predigten [35] aus dem Begriff des Reiches Gottes entwikkelt, Berlin 1832. — Neben der Bezugnahme auf Schleiermacher im zweiten Titel verdient auch die Formulierung des ersten, der der Glaubenslehre nachgebildet ist, Beachtung. Rütenik erwähnt in seiner Vorrede, daß Jonas wegen der Beschaffenheit des Materials Bedenken hatte, die Leben-Jesu-Vorlesung zu veröffentlichen (a. a. O. S. VII). — David Friedrich Strauß hat dazu angemerkt: „Unter den von Schleiermacher gehaltenen Vorlesungen ist bei seinen Lebzeiten die über das Leben Jesu schon deswegen besonders berühmt gewesen, weil sie in dem Kreise akademischer Vorträge eine Neuigkeit war. Daß gleichwohl nach seinem Tode, während seine übrigen wichtigern Vorlesungen der Reihe nach von seinen Schülern herausgegeben wurden, gerade sie volle dreißig Jahre ungedruckt blieb, mußte Befremden erregen ... Jetzt kann ich es ja wohl sagen, ohne den Vorwurf der Ruhmredigkeit und fast auch ohne Widerspruch befürchten zu müssen: wäre nicht im Jahre nach Schleiermacher's Tode mein Leben Jesu herausgekommen, so würde das seinige nicht so lange im Versteck gehalten worden sein." Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher'schen Lebens Jesu, 1865, Ges. Schriften 5, Bonn 1877, 5. - Strauß' Kritik von 1865 hat u. a. eine Rolle dabei gespielt, daß der angekündigte Supplementband nicht mehr herauskam.

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tat. Im ganzen stellt die Ausgabe gleichwohl eine bedeutende Leistung dar. Sie ist bis heute das größte editorische Unternehmen im Feld der Schleiermacher-Forschung und sie wird das noch für eine Weile bleiben. Sie ist ersetzungsbedürftig, aber es wird noch lange dauern, bis sie in allen Teilen ersetzt sein wird. Sie hat für seit-[18]herige und künftige Editionen wichtige Voraussetzungen bereitgestellt, indem sie dazu beitrug, daß der wissenschaftliche Nachlaß Schleiermachers beieinandergehalten wurde und daß zusätzliche Materialien, vor allem Nachschriften von Vorlesungen und Predigten, gesammelt wurden. Ein Teil dieser Nachschriften wurde den Besitzern zurückgegeben, viele sind verloren, ein beachtlicher Teil verblieb im Schleiermacher-Nachlaß.17 Eine Briefausgabe war in den Sämmtlichen Werken nicht vorgesehen. Infolgedessen hat eine vergleichbare Sammlung von Briefen oder von Briefabschriften damals nicht stattgefunden. Eine größere Ausgabe, die eine Auswahl von Briefen aus dem Besitz der Familie bekannt machte, erschien erst 1858 (wieder im Verlag G. Reimer) in den zwei Bänden „Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen" (2. Auflage 1860). Ein Herausgeber ist bei diesen Bänden nicht genannt. Sie wurden, wie inzwischen feststeht, von Schleiermachers Tochter Hildegard Gräfin Schwerin und von seinem Stiefsohn Ehrenfried von Willich herausgegeben.18 1861/63 traten zwei weitere Bände hinzu, die Ludwig Jonas vorbereitet hatte und die nach dessen Tod von Wilhelm Dilthey herausgebracht wurden.

II. Bereits im 19. Jahrhundert traten den Sämmtlichen Werken einzelne Ausgaben ergänzend und ersetzend zur Seite.19 Im Zusammenhang der17

18

19

Die Hauptmasse des Nachlasses befindet sich heute im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin. Wichtige Materialien beherbergt auch das Archiv des Verlags Walter de Gruyter in Berlin (Nachfolger des Verlags G. Reimer). Den größten Anteil machen hier Dokumente aus, die mit der von Sydow betreuten Ausgabe der Predigten zusammenhängen (v. a. Nachschriften). Daß auch Materialien Schleiermachers zu den Vorlesungen über Theologische Enzyklopädie sowie über Kirchliche Geographie und Statistik hier aufbewahrt sind, hängt vermutlich damit zusammen, daß diese Vorlesungen ebenfalls von Sydow herausgegeben werden sollten. [36] Vgl. dazu Andreas Arndt/Wolfgang Virmond: Zur Entstehung und Gestaltung der beiden ersten Bände „Aus Schleiermacher's Leben. In Briefen", in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 1981, 60-68. Neben den Band „Entwurf eines Systems der Sittenlehre" (SW HI/5), den Alexander Schweizer, der Jüngste im Herausgeberkreis, so rasch vorgelegt hatte (1835), trat schon 1841 die weit besser gelungene Ausgabe „Grundriß der philosophischen Ethik", die

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

jenigen Zuwendung zu Schleiermacher, die sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vollzog — in der Theologie in Auseinandersetzung mit der Theologie Albrecht Ritschis, z. T. in Abkehr von ihm — erschien eine ganze Serie von neuen Ausgaben, darunter zahlreiche kritische Editionen, [19] überwiegend von jungen Privatdozenten besorgt (Schiele, Otto, Mulert, Nohl, Scholz, Braun). 20 Das bereits damals geltend gemachte Desiderat einer neuen Gesamtausgabe führte erst 1927 zu einer konkreten Planung. In diesem Jahr versammelte Hermann Mulert21 42 Gelehrte verschiedener Fachrichtungen um eine Eingabe, die von der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin die Veranstaltung einer Ausgabe erbat, deren erste Bände zu Schleiermachers 100. Todestag 1934 erscheinen sollten.

20

21

August Twesten (1789—1876, Schüler Schleiermachers und sein Nachfolger auf dem Berliner Lehrstuhl) besorgte. - 1870 veröffentlichte der junge Dilthey (1833-1911, damals Professor in Kiel) als Anhang zu seinem „Leben Schleiermachers" Auszüge aus den Manuskripten des jungen Schleiermacher. — 1879 veranstaltete der Jenenser theologische Privatdozent Bernhard Pünjer (1850-1885, seit 1880 außerord. Professor) eine kritische Ausgabe der „Reden", die den Text der Erstfassung wieder zugänglich machte, daneben alle anderen Auflagen berücksichtigte. — 1882 und 1887 gab Friedrich Zimmer (1855-1919, 1880 theologischer Privatdozent in Bonn, 1884 außerord. Professor in Königsberg) frühe Predigtentwürfe heraus. Die Reihe wurde 1899 eröffnet durch die „Reden" von 1799, herausgegeben von dem damaligen Göttinger theologischen Privatdozenten Rudolf Otto (1869—1937). Es folgten 1902 die „Monologen", herausgegeben von Friedrich Michael Schiele (1867 — 1913), in erweiterter 2. Auflage 1914 von dem Privatdozenten Hermann Mulert (1879—1950), der seinerseits 1908 kritische Ausgaben der „Weihnachtsfeier" und der Sendschreiben an Lücke herausbrachte. 1903 war die Dialektik-Ausgabe des Dilthey-Schülers Isidor Halpern erschienen. 1910 veröffentlichte Carl Stange (1870—1959, damals ord. Professor für Systematische Theologie in Greifswald) seine kritische Ausgabe beider Fassungen der Einleitung in die Glaubenslehre, im gleichen Jahr der eben in Berlin habilitierte theologische Privatdozent Heinrich Scholz (1884—1956) die Ausgabe beider Fassungen der „Kurzen Darstellung". 1911 veranstaltete Schiele einen Neudruck der Ethik-Ausgabe Twestens. 1910—1913 erschienen in vier Bänden die „Werke" in Auswahl, herausgegeben von dem philosophischen [37] Privatdozent (Münster) Otto Braun (1885—1922) sowie von dem Heidelberger Ordinarius für Praktische Theologie Johannes Bauer (1860—1933), der außerdem wichtige Predigtausgaben vorgelegt hat. Als kritische Leistung ragt in der vierbändigen Auswahl der 2. Band hervor: Brauns Ausgabe der „Entwürfe zu einem System der Sittenlehre" (1913), zu der Herman Nohl (1879—1960, damals philosophischer Privatdozent in Jena) den von ihm als Schrift Schleiermachers wiederentdeckten „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" beigesteuert hat. Hermann Mulert (1879-1950), Privatdozent in Halle, in Berlin und in Kiel, hier 1917 außerord., 1920 persönlicher ord. Professor, 1935 im Zusammenhang der Maßnahmen nationalsozialistischer Hochschulpolitik entpflichtet.

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Der Text der Eingabe ist im Anhang mitgeteilt.22 Er ist sichtlich so gehalten, daß hinsichtlich der Planung den Beratungen der Akademie nicht vorgegriffen wird. Die Lücken und Mängel der „Sämmtlichen Werke" und die daraus resultierenden Aufgaben werden in prägnanter Weise markiert. Mulert hebt hervor, daß die alte Ausgabe von den Druckschriften nur die Ausgaben letzter Hand bietet und die frühen Fassungen unberücksichtigt läßt, daß die Edition der Handschriften kritischen Ansprüchen nicht genügt, daß die Ausgabe gegenüber ihrer eigenen Planung Lücken aufweist, daß sie einzelne Aufsätze, Rezensionen, Denkschriften und vor allem den Gesamtbestand der Jugendmanuskripte nicht berücksichtigt, daß der Briefwechsel fehlt, daß die Ausgabe keine Register hat. Auf das Fehlen der Plato-Übersetzung wird ebenfalls hingewiesen, während Schleiermachers Übersetzungen aus dem Englischen nicht erwähnt werden. Eigenes Interesse verdient die Liste der Unterzeichner. Es handelt sich um ein bemerkenswertes Dokument eines Konsensus, der akademische Fächer, theologische und philosophische Richtungen, auch Generationen, selbst Konfessionen übergreift. Das Spektrum der akademischen Fächer umfaßte neben Theologie — die reichliche Hälfte der Unterzeichner waren Theologen — und Philosophie — u. a. die Schüler und Erben Diltheys Georg Misch und [20] Herman Nohl — auch Geschichtswissenschaft (Otto Scheel), Literaturwissenschaft (Oskar Walzel, Rudolf Unger), Klassische Philologie (Werner Jäger), Rechtswissenschaft (Günther Holstein). Unter den Theologen waren vor allem Systematiker beteiligt — u. a. Ferdinand Kattenbusch, Rudolf Otto, Karl Heim, Paul Tillich (damals Professor für Religionswissenschaft in Dresden) — daneben Kirchenhistoriker, unter ihnen die Häupter des Fachs Adolf von Harnack und Karl Müller, auch der katholische Kirchenhistoriker Sebastian Merkle. Im ganzen dominierten die renommierten Gelehrten. Nur wenige der Unterzeichner von 1927 waren jünger als 45 Jahre (Friedrich SiegmundSchultze geb. 1885, P. Tillich geb. 1886, W. Jäger und Erich Seeberg geb. 1888, G. Holstein geb. 1892). Mit der Ausnahme von Tillich fehlten die erst nach dem 1. Weltkrieg hervorgetretenen Wortführer der „neuen" Theologie und Philosophie. Das große Vorhaben ist allerdings nicht an 22

Er wird mit freundlicher Genehmigung des Zentralen Archivs der Akademie der Wissenschaften der DDR abgedruckt. Der Schriftwechsel über die Eingabe hat die Signatur II-VII e l Bd. 33 H. 1.

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

mangelnder Unterstützung durch diese Jüngeren gescheitert, sondern daran, daß der Akademie die für die Drucklegung veranschlagten Mittel nicht zur Verfügung standen.23

III. Die nächsten drei Jahrzehnte waren der Erneuerung eines derartigen Vorhabens nicht günstig, nicht zuletzt deswegen, weil die protestantische Theologie in dieser Zeit weithin im Zeichen einer programmatischen Absage an ihre neuzeitliche Geschichte und an Schleiermacher als deren Hauptrepräsentanten stand. Gegen Ende der fünfziger Jahre zeichnete sich eine Revision jener Einschätzung ab, ein neues Interesse an Schleiermacher, das auch durch einzelne neue Ausgaben24 sowohl dokumentiert als [21] auch befördert wurde. Damals wurde auch der Plan einer großen Ausgabe neu beraten. Am 17. Februar 1961 fand im Haus der Heidelberger Akademie der Wissenschaften eine Planungssitzung statt, an der für die Akademie der Kirchenhistoriker Heinrich Bornkamm und der Philosoph Hans-Georg Gadamer beteiligt waren, daneben die Kirchenhistoriker Martin Schmidt (damals ord. Professor in Mainz) und Heinz Liebing (damals Dozent in Tübingen), ferner die damaligen Habilitanden und Nachwuchswissenschaftler Hermann Fischer (Systematische Theologie) und Heinz Kimmerle (Philosophie), außerdem Heinz Wenzel für den Verlag de Gruyter. Es wurde ein vorläufiger Plan entworfen, der die Dreigliederung der alten Ausgabe übernahm, jedoch zusätzlich eine Abteilung für den Briefwechsel vorsah, der ferner die Namen möglicher 23

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Einem Brief Mulerts vom 9. Februar 1928 ist zu entnehmen, daß der Verlag de Gruyter zunächst mit 500 Subskribenten gerechnet hatte, während Mulert nur 300 für wahrscheinlich hielt. Unter dieser Voraussetzung wurde bei einem Zuschuß von 300 Mark pro Bogen selbst für eine reduzierte Planung (ohne Predigten und ohne Plato-Übersetzung) ein Zuschußbedarf von 200 000 Mark errechnet, der nicht zu erlangen war. — „Im Auftrag der Preußischen Akademie der Wissenschaften" hat einige Jahre später Rudolf Odebrecht (1883 — 1945, Privatdozent für Philosophie in Berlin) seine Ausgaben der „Ästhetik" (1931) und der „Dialektik" (1942) veranstaltet. Neben den Ausgaben „Pädagogische Schriften" von Erich Weniger (2 Bände, 1957) und „Ausgewählte pädagogische Schriften" von Ernst Lichtenstein (1959) ist als kritische Edition die der „Hermeneutik" von Heinz Kimmerle (1959) zunennen. Die theologischen Hauptschriften wurden wieder zugänglich durch die Ausgabe der „Reden" von Hans-Joachim Rothert (1958), durch die kritische Edition der Glaubenslehre (18307 31) von [38] Martin Redeker (1960), durch den Neudruck von Scholz' Ausgabe der „Kurzen Darstellung" (1961).

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(nebenamtlicher) Mitarbeiter aufführte. Ein halbes Jahr danach teilte H. Bornkamm in einem Rundschreiben vom 3. August 1961 den Beteiligten mit, 1. daß nach dem Urteil von Joachim Rogge, der eine erste Bestandsaufnahme des Schleiermacher-Nachlasses in Berlin vorgenommen hatte, etwa ein Jahr nötig sein würde, um zunächst den Nachlaß gründlich zu ordnen, 2. daß Bemühungen um einen Zuschuß vorerst erfolglos geblieben seien, 3. „daß die Suche nach weiteren Mitarbeitern ebenfalls bisher nicht sonderlich erfolgreich gewesen" sei. Das Ineinandergreifen der genannten Schwierigkeiten hat dazu geführt, daß die Heidelberger Planung schließlich nicht weiter verfolgt wurde. Sieben Jahre später, aus Anlaß von Schleiermachers 200. Geburtstag, war für den 18. und 19. November 1968 ein Schleiermacher-Kongreß in Kiel geplant, zu dem die Theologische Fakultät und die in diesem Jahr begründete Schleiermacher-Forschungsstelle eingeladen hatten. Für den Nachmittag des 19. November, 15.00 Uhr, war als [22] Programmpunkt vorgesehen: „Der Plan einer kritischen Ausgabe der gesammelten Werke Schleiermachers. Mitarbeiterbesprechung." Initiator wie des Kongresses so dieser Beratung war der Kieler Systematische Theologe Martin Redeker. Die Besprechung fand nicht statt, da der Kongreß kurzfristig abgesagt wurde, weil man eine derjenigen Störaktionen befürchtete, die damals an deutschen Universitäten vorkamen. M. Redeker, der mit dem Ende des Wintersemesters 1968/69 emeritiert wurde, starb am 14. Mai 1970, so daß ein Schleiermacher-Symposion, das er ersatzweise für den 28. —30.9.1970 in Timmendorfer Strand geplant hatte, ebenfalls nicht stattfand.

IV. Die mehrfachen Anläufe zu einer neuen Schleiermacher-Ausgabe haben, auch wenn sie zunächst nicht zum Ziel führten, doch dazu beigetragen, die hier bestehende Aufgabe im Bewußtsein zu halten und ihre Unterstützung vorzubereiten. Als das Projekt der Kritischen Gesamtausgabe 1972 in Angriff genommen wurde, fand es in mehrfacher Hinsicht günstige Bedingungen vor. Ich nenne zuerst das Engagement des Verlags Walter de Gruyter, insbesondere dasjenige von Professor Dr. Heinz Wenzel, des langjährigen Anwalts einer neuen Schleiermacher-Ausgabe. Eigene Hervorhebung verdient es, daß der Verlag, der bereits an den früheren Planungen beteiligt war, für die Kritische Gesamtausgabe keinen Druck-

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

kostenzuschuß vorsah, so daß diejenige Schwierigkeit gar nicht erst entstand, an der die Planung von 1927 gescheitert war. Sodann ist zu erwähnen, daß die neue Ausgabe in einer kultur- und wissenschaftspolitischen Situation [23] begonnen wurde, die der Förderung von Editionen freundlich war und blieb. Die Ausgabe reihte sich an die großen Editionen philosophischer Klassiker der gleichen Epoche an, die bereits vorher begonnen worden waren, an die Fichte-Ausgabe (seit 1964 erscheinend), die Hegel-Ausgabe (seit 1968), die SchellingAusgabe (seit 1975). Auf die Veränderung der theologischen Gesamtlage, die sich seit den 50er Jahren vollzogen hatte — in Auseinandersetzung vor allem mit der Theologie Karl Barths, zum Teil in Abkehr von ihm —, ist bereits hingewiesen worden. Wer sich mit Schleiermacher beschäftigte, — unter den jetzt Jüngeren eine zunehmende Zahl — der war in minderem Maße als vorher dem theologischen Relevanzzweifel ausgesetzt. Zu den günstigen Voraussetzungen des neuen Unternehmens gehörte auch dies, daß der Schleiermacher-Nachlaß im Berliner AkademieArchiv, dessen Zustand zu den Hauptproblemen der Planung von 1961 gehört hatte, in den Jahren danach durch Friedrich Laubisch in mustergültiger Weise geordnet und erschlossen worden war. Schließlich bedeutete die von Martin Redeker begründete Schleiermacher-Forschungsstelle in Kiel, so bescheiden sie zunächst ausgestattet war, einen Ansatz zur Institutionalisierung der Schleiermacher-Forschung. Die Planung der Kritischen Gesamtausgabe ging aus einer Konsultation hervor, die am 15. Dezember 1972 auf Einladung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in deren Haus in Bonn-Bad Godesberg stattfand. Damals wurde eine vorbereitende Kommission eingesetzt, die später zur Herausgeberkommission wurde, bestehend aus den Systematischen Theologen Hans-Joachim Birkner (Kiel), Gerhard Ebeling (Zürich), Hermann Fischer (Mainz, ab 1974 Hamburg) und dem Philosophen Heinz Kimmerle (damals Bochum, jetzt Rotterdam), zu denen 1979 der Kirchenhistoriker Kurt-Victor [24] Selge, Leiter der damals neueingerichteten Schleiermacher-Forschungsstelle Berlin, hinzutrat. Geschäftsführender Herausgeber ist H.-J. Birkner, Leiter der Schleiermacher-Forschungsstelle Kiel. Die Kommission hat seither in regelmäßigen — anfangs halbjährlichen, inzwischen jährlichen — Sitzungen alle Fragen beraten, welche die Planung und Gestaltung der Ausgabe betreffen. Die Organisation der editorischen Arbeit hat sich im übrigen relativ kompliziert gestaltet, als die beiden Forschungsstellen in Berlin und in Kiel verschiedene Förderer, auch einen unterschiedlichen Status haben.

19. Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern [1989]

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Die Kieler Forschungsstelle, anfangs unselbständig (angeschlossen an das damalige Sozialethische Institut) und ohne eigene Mittel, hat seit 1978 den Status einer selbständigen Einrichtung der Theologischen Fakultät mit einem eigenen kleinen Etat. Die Mittel für die Stellen der hauptamtlichen Editoren (seit 1975 zunächst eine, seit 1978 zwei) sind in diesem Etat allerdings nicht enthalten. Sie wurden vom 1. September 1975 bis zum 31. Dezember 1983 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gewährt. Seit dem 1. Januar 1984 hat die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen die Förderung übernommen (im Rahmen des Akademien-Programms der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung). Die Berliner Forschungsstelle wurde 1979 mit Mitteln des Landes Berlin und der Evangelischen Kirche der Union unter Beteiligung der Kirchlichen Hochschule Berlin bei derselben eingerichtet; Träger der Förderung wurde die Schleiermachersche Stiftung (1835 begründet, damals als Stipendien-Stiftung).25 Diese Mittel wurden 1979 für einen Zeitraum von 10 Jahren bewilligt. Ab dem 1. Januar hat die Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die 1987 gegründet wurde, die Trägerschaft übernommen. [25]

V. Die Planung sieht eine Gesamtausgabe vor. Das wird einleuchten, wenn man sich den Rang und die vielseitige Bedeutung von Schleiermachers Werk vor Augen stellt. Das kann Bedenken erregen, wenn man überlegt, wieviele Bände nötig sein werden, um das Gesamtziel zu erreichen. Dabei begründen diejenigen Schriften, die Schleiermacher selbst in den 25

Der Verein zur Gründung der Stiftung trat am 21. März 1834 zusammen, wenige Wochen nach Schleiermachers Tod. Die Statuten der Stiftung vom 12. August 1835 nannten als deren Zweck, „junge Männer, die nach gründlicher philologischer Vorbildung, welche sie durch vollkommen genügende Schulzeugnisse nachzuweisen haben, unter den in Berlin Theologie Studirenden sich vortheilhaft auszeichnen und dabei ein spekulatives Talent darthun, so daß sie eine gegründete Hoffnung zu vorzüglichen wissenschaftlichen oder kirchlichen Leistungen geben, in ihren Studien, welche auf keinen einzelnen Theil und keine einseitige Auffassung der Theologie beschränkt werden sollen, aufs Beste zu fördern." (§ 1). Das Stipendium bestand damals „zunächst jährlich aus zweihundert Thalern". (§ 2). Im Jahr 1882 wurde angesichts des bis zu diesem Zeitpunkt auf 36 200 Mark angewachsenen Vermögens zusätzlich ein Reisestipendium begründet. 1979 wurde die Satzung der Stiftung neu gefaßt und die Förderung der kritischen Schleiermacher-Ausgabe in den Stiftungszweck einbezogen.

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

Druck gegeben hat, keine Probleme. In der alten Ausgabe machen sie nur 11 von insgesamt 31 Bänden aus. Auch wenn in diesen manches übergangen ist und insbesondere die Übersetzungen fehlen, so handelt es sich doch um einen überschaubaren Bestand. Auch das, was Schleiermacher an wissenschaftlichen Aufzeichnungen hinterlassen hat, ist überschaubar. Probleme wegen der Fülle des Materials ergeben sich allerdings bei den Vorlesungen, vor allem im Blick auf die Vielzahl der Nachschriften, ebenso beim Briefwechsel, hier vor allem bei den Briefen an Schleiermacher. Auf beide Themen werde ich noch einmal zurückkommen. Bei der Gliederung der Ausgabe ist die alte Dreiteilung nicht übernommen worden. Diese war sichtlich orientiert an den Bereichen der amtlichen Wirksamkeit Schleiermachers in seiner Berliner Zeit (einmal als Theologieprofessor, daneben als Pfarrer, schließlich als Akademiemitglied mit dem Recht, in der Philosophischen Fakultät Vorlesungen zu halten). Sie kombinierte jedoch eine Gattung (Predigten) einerseits mit zwei Sachbereichen (Philosophie, Theologie) anderseits, was bei einzelnen Schriften problematische Einordnungs- und Deutungsalternativen erzeugte. Daß auch die gängige Gliederung in Werke, Nachlaß und Briefe nicht gewählt wurde, hängt mit den Besonderheiten des Materials zusammen. Die unterschiedlichen literarischen Gattungen [26] in Schleiermachers Werk hätten auch bei einer solchen Gliederung berücksichtigt werden müssen. Die Ausgabe wurde daher nach Gattungen gegliedert (I. Schriften und Entwürfe, II. Vorlesungen, III. Predigten, IV. Übersetzungen, V. Briefwechsel und biographische Dokumente), wobei jeder der fünf Abteilungen auch der jeweilige literarische Nachlaß zugewiesen wird. Bei der allgemein gehaltenen Überschrift, welche die I. Abteilung erhalten hat, wurde eine Ungenauigkeit insofern in Kauf genommen, als die Abteilung genaugenommen diejenigen „Schriften und Entwürfe" umfaßt, die keiner anderen Abteilung zugehören. Probleme der Zuordnung bleiben auch bei der Gliederung nach Gattungen nicht aus, etwa wenn in zusammenhängenden Aufzeichnungen zwei verschiedene Gattungen vertreten sind.26 Auf die Frage, wie man in einem solchen Fall verfahren soll, lautet die generelle Antwort: mit Augenmaß. 26

Ich gebe zwei Beispiele aus den bereits vorliegenden Bänden. Mit der frühesten wissenschaftlichen Aufzeichnung Schleiermachers, die erhalten ist — es handelt sich um Anmerkungen zum 8. und 9. Buch der Nikomachischen Ethik aus dem Jahr 1788 (KGA I/l, 1—43) — hängt eng zusammen eine etwas später (1789) entstandene Übersetzung des Aristoteles-Textes. Hier ist so verfahren worden, daß die Übersetzung wegen ihres engen Zusammenhangs mit den Anmerkungen ebenfalls abgedruckt worden ist, und zwar in einem kleineren Schriftgrad (KGA I/l, 45—80). — Schleiermachers Marginalien

19. Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern [1989]

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Die editorischen Grundsätze der Kritischen Ausgabe können hier nicht im einzelnen vorgestellt werden. Die Allgemeinen Grundsätze für die I. Abteilung wurden 1980 im Band 1/7, l veröffentlicht, die Besonderen Grundsätze für die Edition von Handschriften 1983 im Band 1/7, 3, beide Teile zusammen im Band I/l (1983). Die Grundsätze für die Edition des Briefwechsels wurden 1985 im Band V/1 veröffentlicht. Was an diesen Stellen auf wenigen Seiten mitgeteilt ist, das hat die Herausgeberkommission in vielen Sitzungen beschäftigt. Die Grundsätze sind in engem Zusammenhang mit der editorischen Arbeit und mit den dabei auftretenden Fragen beraten worden. Von den Themen dieser Beratungen ist nur ein Teil in die formulierten Grundsätze eingegangen. Viele Einzelfragen, die zu entscheiden waren, werden durch die faktische Gestaltung beantwortet, welche die Bände erfahren haben. [27] Zwei Themen, die auch von einzelnen Rezensenten angesprochen worden sind, sollen eigens erwähnt werden, nämlich die Art der Kommentierung der edierten Texte und der in besonderen Fällen vorgesehene Anhang. Eine Kommentierung erfolgt einerseits durch die Einleitung der Bandherausgeber, andererseits durch den Sachapparat. Die Einleitungen sind relativ ausführlich gehalten. Sie informieren in der I. Abteilung über die Entstehungs- und die Überlieferungsgeschichte der einzelnen Schriften, gegebenenfalls auch über deren unmittelbare Rezeption (Rezensionen, Reaktionen von Zeitgenossen in Briefen etc.). In der V. Abteilung bieten sie einen biographischen Überblick sowie Informationen über die Quellenlage, über die Korrespondenten, gegebenenfalls über Besonderheiten einzelner Briefwechsel. Der Sachapparat ist knapp gehalten. Er bietet die Nachweise von Literatur, die Schleiermacher zitiert oder auf die er verweist, daneben nur diejenigen Erläuterungen, die zum Verständnis des Textes unerläßlich sind. Die Ausgabe verfährt in dieser Hinsicht bewußt zurückhaltend und greift Kommentatoren nicht vor. Zur Entlastung des Sachapparats ist in besonderen Fällen ein „Anhang" vorgesehen mit Auszügen aus Texten, auf die Schleiermacher verweist und die er in der Hand seiner Leser voraussetzt, die heute jedoch schwer zugänglich sind. So enthält z. B. der 3. Teilband der Edition der Glaubenslehre von 1821/22 einen umfänglichen Anhang mit Texten teils zur Glaubenslehre selber, teils zu den im 3. Teilband abgedruckten Marginalien Schleiermachers. Der Band „Schriften aus der Berzur Glaubenslehre von 1821/22 (KGA 1/7, 3) sind aus unterschiedlichen Anlässen entstanden, z. T. im Zusammenhang mit Vorlesungen über diesen Text. Die Marginalien sind selbstverständlich vollständig abgedruckt worden.

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

liner Zeit 1796—1799" enthält als Anhang zwei Schriften aus der damaligen Debatte über die Rechtsstellung der Juden, weil Schleiermacher sich auf diese Schriften bezogen hat. Auch die Anhänge sind bestimmt und begrenzt durch die Aufgabe, die [28] Texte Schleiermachers zu erläutern, denen sie zugeordnet sind.27 Wenn im Anhang zur Glaubenslehre auch Rezensionen zu derselben abgedruckt sind, so deswegen, weil Schleiermacher sich in seinen Randbemerkungen mit ihnen auseinandergesetzt hat, weil diese Randbemerkungen ohne Text der betreffenden Besprechungen nicht verständlich sind und weil diese Texte durchweg nur schwer zu beschaffen sind. Handelt es sich bei der Auseinandersetzung mit Rezensenten um einen Sonderfall, der in ähnlicher Weise nur in den Sendschreiben über die Glaubenslehre an Lücke wiederkehrt, so gibt es daneben doch eine ganze Reihe von Schriften Schleiermachers, die „bei Gelegenheit" einer anderen Schrift entstanden und durch die Auseinandersetzung mit ihr bestimmt sind. Im Falle der im Band 1/2 enthaltenen „Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter" (1799) sind es gleich zwei andere Schriften, auf die bereits der Titel Bezug nimmt. Auch in einem solchen Fall hat der Anhang nicht die allgemeine Funktion, wichtige Dokumente aus Schleiermachers Umwelt darzubieten, sondern die spezifische, diejenigen Texte bereitzustellen, auf die er sich expressis verbis bezogen hat.

VI. Es bleibt noch, über den bisherigen Gang der editorischen Arbeit, über ihren gegenwärtigen Stand und über die nächsten Aufgaben zu berichten. Die Arbeit der Kieler Forschungsstelle, die — nach einer Phase vorbereitender Recherchen und Beratungen — im September 1975 begonnen wurde, konzentriert sich zunächst auf die I. Abteilung. Diese soll 13 Bände umfassen (mit Teilbänden 16), von denen die ersten 5 nach biographischen Ab-[29] schnitten gegliedert sind, während in den folgenden Bänden die Schriften der Berliner Zeit von 1807—1834 unter thematischen Gesichtspunkten zusammengefaßt werden. 27

Die zahlreichen Verweise auf andere theologische Autoren, welche die Glaubenslehre (in beiden Auflagen) enthält, sind vermutlich seit langem nur von wenigen [39] Lesern beachtet worden. Wenn man die betreffenden Texte nachliest, was für die Erstfassung durch den neugegebenen Anhang jetzt leicht möglich ist, dann entdeckt man, in welchem Maße Schleiermachers Argumentation durch die Auseinandersetzung mit den von ihm genannten Autoren bestimmt ist.

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Zuerst erschien die Ausgabe der Glaubenslehre von 1821/22, die nach einem frühen Nachdruck von 1828 keine neue Ausgabe mehr erlebt hatte. Der Text des Werkes wurde 1980 in zwei Teilbänden von Hermann Peiter herausgegeben (KGA 1/7, 1 — 2). Der 3. Teilband, der die bislang unbekannten Marginalien in Schleiermachers Handexemplar, daneben den erwähnten Anhang enthält, wurde 198328 von Ulrich Barth herausgegeben (KGA 1/7, 3). Seit Anfang 1978 hat — nach Bewilligung einer zweiten Editorenstelle — Günter Meckenstock die zum Teil extrem schwer lesbaren frühen Manuskripte Schleiermachers bearbeitet, von denen W. Dilthey 1870 Teile bekannt gemacht hatte. 29 1983 erschien der Band „Jugendschriften 1787-1796" (KGA I/l) mit 19 Manuskripten, 1984 der Band „Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799" (KGA 1/2) mit 5 Druckschriften und 8 Manuskripten, 1988 der Band „Schriften aus der Berliner Zeit 1799-1802" (KGA 1/3) mit 12 Druckschriften und 8 Manuskripten. Die Arbeit an dem von Friedrich Traulsen — unter Mitwirkung von Martin Ohst — herausgegebenen Band „Theologischdogmatische Schriften" (KGA 1/10) geht 1989 dem Abschluß entgegen. Als externer Mitarbeiter bearbeitet Hermann Patsch den Band „Schriften aus der Hallenser Zeit (1804-1807)" (KGA 1/5). Die im September 1979 begonnene Arbeit der Berliner Forschungsstelle konzentriert sich zunächst auf die V. Abteilung „Briefwechsel und biographische Dokumente". Die beiden seither dort tätigen Editoren Andreas Arndt (Philosoph) und Wolfgang Virmond (Germanist) hatten in der Vorbereitungsphase zunächst ausgedehnte Nachforschungen anzustellen. Als Ergebnis ihrer Recherchen, die [30] sich auf mehr als 1.000 Bibliotheken und Archive erstreckten, konnten — neben anderen Materialien — über den Briefbestand des Schleiermacher-Nachlasses im Berliner Akademie-Archiv hinaus (rund 3.000, davon ca. 850 von Schleiermacher geschriebene, ca. 2.150 an ihn gerichtete Briefe) ca. 1.000 weitere Briefe festgestellt werden, davon ca. 750 von Schleiermacher. Die Briefe von und an Schleiermacher werden in chronologischer Reihenfolge veröffentlicht. Sie werden fortlaufend numeriert, wobei auch solche Briefe in die Numerierung einbezogen werden, die nur erschlossen 28

29

Dieser Band ist ebenso wie Band I/l noch 1983 erschienen, wie es im Impressum beider Bände auf der Rückseite der Titelblätter angegeben ist, während auf den Vorderseiten das Jahr 1984 genannt ist, zu dessen Beginn die Bände ausgeliefert wurden. Vgl. dazu Günter Meckenstock: Diltheys Edition der Schleiermacherschen Jugendschriften, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge (Schleiermacher-Archiv 1), 2 Teilbände, Berlin 1985, 2, 1229-1242.

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

werden konnten. 1985 erschien, von A. Arndt und W. Virmond gemeinsam herausgegeben,30 als 1. Band der V. Abteilung der „Briefwechsel 1774-1796 (Briefe 1-326)". Von den 326 gezählten Briefen sind 114 erschlossen. Von den übrigen 212 (70 von, 142 an Schleiermacher) sind 42 (6 von ihm, 36 an ihn) in diesem Band zum ersten Mal veröffentlicht. Der 2. Band „Briefwechsel 1796-1798 (Briefe 327-552)" erschien 1988. Aus den genannten Zahlen wird deutlich, welchen Umfang die einschlägigen Materialien haben, auch wie groß der Anteil der Briefe an Schleiermacher dabei ist. In den ersten beiden Bänden sind wie die Briefe Schleiermachers so auch die an ihn vollständig mitgeteilt. Die editorischen Grundsätze für die V. Abteilung sehen allerdings vor, daß von dieser Regel in besonderen Fällen abgewichen werden kann und daß „Briefe an Schleiermacher in Regestform gegeben werden" können. 31 Zwei von fünf Abteilungen werden bislang bearbeitet. Die übrigen, also die Vorlesungen, die Predigten, die Übersetzungen, werden in einer späteren Phase in Angriff genommen, auch wenn Vorarbeiten bereits vorher zu leisten sind. Anfragen in Gesprächen, in Briefen, in Rezensionen haben sich vor allem auf die Edition von Vorlesungen [31] gerichtet, hier besonders auf die Dialektik, die Philosophische Ethik, die Hermeneutik. Dazu noch zwei Bemerkungen. Einmal. Im Blick auf die Vorlesungen im ganzen ist es nützlich, sich die Dimensionen der Aufgabe zu verdeutlichen. Schleiermacher hat in seiner mehr als 25jährigen Lehrtätigkeit in jedem Semester mindestens zwei, häufig drei Vorlesungen gehalten (eine neutestamentlich-exegetische, eine weitere theologische, eine philosophische). Insgesamt handelt es sich um mehr als 25 Kollegs mit verschiedenen Themen,32 zu denen aus verschiedenen Semestern Aufzeichnungen erhalten sind, dazu Nach30

Das entspricht der Arbeitsweise der Berliner Forschungsstelle, die sich aus den Besonderheiten des Briefwechsels ergibt und die insofern von derjenigen der Kieler Stelle abweicht, als dort jeweils ein Editor für einen Band verantwortlich ist, wobei Probleme in den regelmäßigen Besprechungen gemeinsam erörtert, ferner Korrekturarbeiten gemeinsam erledigt werden. ·" KGA V/I, XVIII. 32 Eine präzise Angabe ist schwierig wegen der zahlreichen exegetischen Vorlesungen, in denen Schleiermacher neutestamentliche Schriften in unterschiedlichen Kombinationen behandelt hat. Die übrigen theologischen Vorlesungen: Theologische Enzyklopädie, Glaubenslehre, Hermeneutik, Christliche Sittenlehre, Kirchengeschichte, Praktische Theologie, Leben Jesu, Kirchliche Geographie und Statistik, Einleitung in das Neue Testament; die Philosophischen Vorlesungen: Ethik, Geschichte der griechischen Philosophie, Politik, Geschichte der christlichen Philosophie, Dialektik, Pädagogik, Psychologie, Ästhetik. [40]

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Schriften von Hörern. Schleiermachers Manuskripte sind höchst unterschiedlich beschaffen. Das Spektrum reicht von ganz knappen Notizen über kompendienartige Entwürfe mit thetischen Leitsätzen bis hin zu relativ ausführlichen Kollegheften (bes. für die exegetischen Vorlesungen). Wo nur knappe Notizen oder Leitsätze vorliegen, können diese Texte durch die Heranziehung von Nachschriften erschlossen werden, wie das bereits in den Vorlesungsbänden der Sämmtlichen Werke geschehen ist. Dabei sind gegebenenfalls zu einer Vorlesung Nachschriften aus mehreren Semestern zu berücksichtigen, nicht selten auch mehrere Nachschriften aus einem Semester.33 Eine solide Planung und Bearbeitung dieses ganzen Komplexes, die außerdem im Blick auf die Zahl möglicher Bände realistisch bleibt, bedarf gründlicher Vorarbeiten.34 Zum anderen. In Einzelfällen kann es angezeigt sein, besonders wichtige Dokumente bereits vor der Inangriffnahme der Abteilung „Vorlesungen" und außerhalb derselben zu veröffentlichen. Ich denke dabei allerdings nicht an solche Manuskripte Schleiermachers, von denen es — wie im Falle der Dialektik, der Philosophischen Ethik, [32] der Hermeneutik — bewährte Ausgaben schon gibt,35 sondern an bislang unveröffentlichte Materialien. Als Beispiel nenne ich W. Virmonds Ausgabe der von August Twesten angefertigten Abschrift des Heftes „Allgemeine Hermeneutik" von 1909/1036 und A. Arndts Ausgabe der Twesten'schen Abschrift des Dialektikmanuskripts Schleiermachers aus dem Jahr ·'·* Die von Hermann Peiter außerhalb der KGA veröffentlichte Nachschriftenedition „Christliche Sittenlehre. Einleitung (Wintersemester 1826/27}" (Stuttgart 1983) bietet eine Kompilation von drei Nachschriften aus diesem Semester. 34 Ein Verzeichnis der Vorlesungen, das die Ankündigungen und sonstige Nachrichten sowie eine Liste der erhaltenen, der gedruckten und der bezeugten Nachschriften enthalten soll, wird von A. Arndt und W. Virmond vorbereitet. Es soll zusammen mit einem Gesamtverzeichnis des Briefwechsels in der Reihe „Schleiermacher-Archiv" erscheinen. 15 Unter den drei Ausgaben der Dialektik — von Ludwig Jonas (SW HI/4, 2, 1839), von Isidor Halpern (1903) und von Rudolf Odebrecht (1942) — hat die von Jonas ihren Rang nicht zuletzt deswegen behauptet, weil sie alle Manuskripte abdruckt. — Für die Ethik-Manuskripte liegt die Ausgabe von Otto Braun (1913) vor, die auch den beiden Studienausgaben „Brouillon zur Ethik (1805/06)" und „Ethik 1812/13", hg. v. H.J. Birkner 1981, zugrunde liegt. — Für die Hermeneutik-Manuskripte gibt es die Ausgabe von Heinz Kimmerle (1959, 19742). 36 Friedrich Schleiermachers „Allgemeine Hermeneutik" von 1809/10, hg. v. W. Virmond, in: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge (Schleiermacher-Archiv 1), 2 Teilbände, Berlin 1985, 2, 1269-1310. Vgl. dazu auch W. Virmond, Neue Textgrundlagen zu Schleiermachers früher Hermeneutik. Prolegomena zu einer kritischen Edition, a. a. O. l, 575—590.

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

181l.37 Wichtig und hilfreich wäre auch die Edition einer guten Nachschrift der Philosophischen Ethik, die zeigt, wie Schleiermacher die Leitsätze seiner Ethik-Entwürfe in der Vorlesung erläutert und ausgeführt hat. Dem analogen Bedürfnis, das hinsichtlich der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" besteht, da die von A. Sydow beabsichtigte Ausgabe der Enzyklopädie-Vorlesung nicht zustande gekommen ist, wird jetzt abgeholfen durch die von Walter Sachs veranstaltete Ausgabe der Enzyklopädie-Nachschrift von David Friedrich Strauß aus dem Wintersemester 1831/32.38 Die Reihe „Schleiermacher-Archiv",39 in der dieser Band 1987 erschien, ist 1985 als begleitendes Organ zur Kritischen Gesamtausgabe eingerichtet worden, nicht zuletzt deswegen, um für wichtige Materialien dieser Art einen Publikationsort zu schaffen.

Anhang 1. Ankündigung der „Sämmtlichen Werke" 1834 „Bei dem Hinscheiden eines großen durch eben so vielseitige, als segensreiche Wirksamkeit vorzugsweise von Gott begnadigten Mannes ist es Beruf und Pflicht seiner Zeitgenossen, ihm ein Ehrendenkmal zu setzen, das seiner würdig sei, und dienen möchte denen, welchen es vergönnt wurde, das lebendige Wort aus seinem Munde zu vernehmen, und Belehrung, Erbauung und Trost aus unversieglicher Quelle von ihm zu empfangen, eine bleibende Erinnerung zu gewähren, zugleich aber auch den Segen, welcher von ihm ausging, über kommende Geschlechter zu verbreiten, und so sein Andenken zu verewigen. Für diesen Zweck schien den Hinterbliebenen sowohl, wie den Freunden des Verklärten nichts geeigneter als eine möglichst vollständige Ausgabe seiner Werke zu veranstalten, die alles enthalten sollte, was in gedruckten sowohl als handschriftlichen Arbeiten hinterblieben ist, und nun, in geordneter Folge, binnen einem Zeitraum von 3 — 4 Jahren erscheinen soll. 37

38

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Dialektik (1811), hg. v. A. Arndt, Hamburg 1986. Eine Studienausgabe der wichtigsten Manuskripte bietet der Band „Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik (1833)", hg. v. A. Arndt, Hamburg 1988. Theologische Enzyklopädie (1831/32). Nachschrift David Friedrich Strauß, hg. v. Walter Sachs (Schleiermacher-Archiv 4), Berlin 1987. [41] Der Herausgeberkreis ist mit demjenigen der KGA identisch. Geschäftsführender Herausgeber des „Schleiermacher-Archivs" ist Hermann Fischer.

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In Beziehung auf den ungedruckten Nachlaß hat der Verewigte alles mit dem vollsten Vertrauen in die Hand seines Schülers und innigen Freundes, des Prediger Jonas, niedergelegt, der sich auch willig der großen Aufgabe unterzogen hat, den zum Theil nur fragmentarisch oder in Kollegienheften vorhandenen Stoff zu ordnen, und soweit es erforderlich und möglich sein sollte, zu ergänzen. Da indeß die Lösung derselben nicht wohl das Werk eines Einzelnen sein kann, so hat er es zweckmäßig gefunden, sich zu diesem Behuf mit Verehrern und Freunden und Schülern des Unvergeßlichen zu vereinigen, und es haben sich vorläufig folgende: Herr Herr Herr Herr Herr Herr Herr Herr

Professor Brandis, Professor Bonnell, Professor Lachmann, Conrector Dr. Lommatzsch, Professor Lücke, Professor H. Ritter, Prediger Schweizer, Prediger Sydow [42]

mit dem dankenswerthesten Entgegenkommen dazu bereit erklärt, theilweise dem großen Werk ihre Kräfte widmen zu wollen. Der Inhalt der Werke wird hier im Allgemeinen folgendergestalt bezeichnet: Erste Abtheilung. — Theologie. ""Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen. "'Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. *Die Weihnachtsfeier. Ein Gespräch. Hermeneutik. Einleitung ins Neue Testament. *Über den sogenannten ersten Brief des Paulus an den Timotheus. Ein kritisches Sendschreiben. Das Leben Jesu. Auslegung der Paulinischen Briefe. Auslegung des Briefes an die Hebräer. Auslegung des Briefes Jakobi und des ersten Briefes Petri. Auslegung des Evangeliums des Matthäus. ""Über die Schriften des Lucas. Ein kritischer Versuch. Erster Theil. Allgemeine Betrachtungen des ersten Buches oder des Evangeliums.

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

Auslegung des Evangeliums und der Apostelgeschichte des Lucas. Auslegung des Evangeliums des Johannes. Kirchengeschichte. *Der christliche Glaube, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Kirchliche Geographie und Statistik. Praktische Theologie. Verschiedene kleinere schon gedruckte theologische Schriften. Zweite Abtheilung. — Predigten. sowol alle bisher im Druck erschienenen, als die, welche sich aus der großen Menge der Nachschriften zusammenstellen lassen. [43] Dritte Abtheilung. — Philosophie und Philologie. Dialektik. Ethik. ^Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. ^Monologen. Eine Neujahrsgabe. Psychologie. Politik. ""Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Pädagogik. Ästhetik. Geschichte der griechischen Philosophie. Geschichte der neueren Philosophie. !; "Recensionen. — Viele in der Königl. Akademie der Wissenschaften vorgelesene theils gedruckte theils, ungedruckte Abhandlungen und Reden nebst anderen kleinen Schriften. Die * bezeichnen was schon gedruckt vorliegt. Über die Art und Weise, wie die vorhandenen Mittel benutzt werden, um jedem Werke die nöthige Vollendung und Rundung zu verschaffen, wird an der entsprechenden Stelle besondere Rechenschaft gegeben werden; hier möge nur die Versicherung stehen, daß die höchste Gewissenhaftigkeit jeden Schritt begleiten soll, damit alles so treu als möglich in der vollen Eigenthümlichkeit des großen Mannes hervortreten möge. Dem Unterzeichneten, dem sein verewigter Freund in allen Verhältnissen ein seltenes, mehr als brüderliches Vertrauen stets auf eine, nie mit

19. Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern [1989]

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genügsamen Dank anzuerkennende Weise geschenkt hat, ist ein gleiches von den theuern Hinterbliebenen zugewandt worden. Dankbarkeit und Treue machen es ihm zur Pflicht, alles was in seinen Kräften steht anzuwenden, um den äußerlichen Erfolg des Unternehmens so ersprießlich als möglich für diejenigen zu machen, denen die in höherer Beziehung unschätzbare Erbschaft zunächst angehört. Hinsichtlich der äußeren Verhältnisse, namentlich der Preis-Bestimmungen, ist nur noch zu bemerken, daß das gedruckte Alphabet den Subscribenten auf weißem Druckpapier l 1/2 Thlr., und auf besserem Papier l 3/4 Thlr., auf Velinpapier aber 2 1/4 Thlr. kosten wird. Diese Bestimmung gilt jedoch nicht für die Predigten (2te Abth.), von denen die bisher gedruckten, etwa 200 an der Zahl, binnen 2 — 3 Monaten in 4 starken Bänden erscheinen [44] werden, wofür der Subscriptions-Preis für die 3 verschiedenen Ausgaben 6 Thlr., 7 Thlr. und 9 Thlr. beträgt. Diesen werden sich die noch aus den Nachschriften herauszugebenden Predigten später anschließen und zu einem verhältnismäßigen Preise zu haben sein. Auch steht es Jedem frei, auf die beiden anderen Abtheilungen, wie sie oben näher bezeichnet worden, einzeln zu unterzeichnen, ohne für das Ganze gebunden zu sein. Außerdem aber werden auch die einzelnen Werke unter besonderen Titeln zu Gunsten derjenigen zu haben sein, die sich schon im Besitz der bisher bereits erschienenen befinden. Berlin, 2ten Juni, 1834.

G. Reimer

Die unterzeichneten Freunde des verewigten Schleiermacher, eingedenk des tiefen und allgemeinen Eindrucks, welchen sein unerwartetes Hinscheiden in allen Ständen unserer Mitbewohner, so wie in ganz Deutschland, erregt hat, gründen darauf die sichere Erwartung, daß die vorstehende Anzeige Vielen höchst willkommen sein werde. Denn nicht bloß der Besitz der hier angekündigten Werke, in weit größerer Ausdehnung als er bisher zu erlangen möglich war, wird einem sehr verbreiteten Wunsche entgegen kommen, sondern Viele werden sich auch dieser Gelegenheit freuen, ihre Verehrung und Dankbarkeit gegen den Verewigten durch Unterstützung dieser Ausgabe auf sichtbare Weise an den Tag legen zu können. Die Unterzeichneten erbieten sich, Subscription auf die angekündigten Werke, oder auch auf einzelne Abtheilungen derselben, zu sammeln, v. Savigny, Geh. Ober-Revisionsrath, Ehrenvormund der Schleiermacherschen Kinder.

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

Dr. Neander, evangelischer Bischof. Eichhorn, Wirklicher Geheimer Legations-Rath. Nicolovius, Wirklicher Geheimer Ober-Regierungs-Rath. Dr. Neander, Consistorial-Rath und Professor. Dr. Strauß, d. Z. Rector der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität. A. Klenze, ord. Professor der Rechte. Lachmann, ord. Professor. Dr. Hoßbach, Consistorial-Rath. [45] Dr. Meineke, Director des Joachimsthalschen Gymnasiums. I. Bekker, Professor. H. Steffens, Professor." 2. Eingabe an die Preußische Akademie der Wissenschaften 1927 „Die preußische Akademie der Wissenschaften bitten wir, die Veranstaltung einer kritischen Ausgabe der Werke Schleiermachers zu erwägen. Der gegebene Zeitpunkt, von dem an sie erscheinen sollte, wäre Schleiermachers hundertjähriger Todestag, der 12. Februar 1934. Die alte (bisher einzige) Gesamtausgabe von Schleiermachers Werken (1836—1864) hat namentlich folgende Mängel: 1. Die Schriften sind nach der letzten von ihm selbst veranstalteten Ausgabe abgedruckt, also die Reden über die Religion nach der vierten von 1831, die Monologen nach der vierten von 1829; gerade bei diesen Schriften aber ist der Text der Urausgaben von 1799 bzw. 1800 charakteristischer und wichtiger; auch die Textgestalt der dazwischen liegenden Ausgaben ist bisweilen bedeutsam. 2. Soweit Schriften Schleiermachers nach seinen Handschriften gedruckt werden, ist auch das in verbesserungsbedürftiger Weise geschehen. Wie sehr eine heute nach wissenschaftlichen Grundsätzen gemachte Ausgabe sich von der alten unterscheiden würde, sieht man, wenn man Schweizers Ausgabe der philosophischen Ethik Schleiermachers (in der Gesamtausgabe) mit der vergleicht, die Braun (im zweiten Bande der bei F. Meiner erschienenen Auswahl) veranstaltet hat. 3. Mindestens zwei der angekündigten Bände sind überhaupt nicht erschienen (von Schleiermachers theologischen Werken Bd. 9 und 10, während Bd. 1 — 8 und 11 — 13 vorliegen); vergleicht man aber, was Jonas (in der Vorrede zum 3. Bande von Schleiermachers philosophischen Werken) angekündigt hat und was dann wirklich erschienen ist, so ergibt sich, daß noch mehr fehlt, als jene zwei Bände enthalten haben würden. (Lachmann wollte Schleiermachers Handschriften über Lukas herausgeben, Bleek die über die paulinischen Briefe usw.) 4. Auch manche Auf-

19. Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern [1989]

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sätze Schi.'s sind in der Gesamtausgabe überhaupt nicht enthalten, nicht nur der erst in neuerer Zeit von Nohl wiederentdeckte über die Theorie des geselligen Betragens, sondern auch die wichtigen Denkschriften, die Schi, als Mitglied der Unterrichtssektion im Ministerium verfaßt hat, und die z. T. [46] durchaus des Druckes werten ältesten Arbeiten Schi.'s, von denen Dilthey im Anhang seiner Biographie Auszüge mitgeteilt hat, endlich Schi.'s für das Verständnis des romantischen Geistes bedeutsame Beiträge zu den Fragmenten im Athenäum der Brüder Schlegel. 5. von seinen wissenschaftlichen Tagebüchern enthält die Gesamtausgabe gleichfalls nichts, 6. ebensowenig von seinen Rezensionen, 7. auch nichts von seinem Briefwechsel, 8. sie hat keinerlei Register, entbehrt auch anderer einem heutigen Benutzer erwünschter Hilfsmittel. Dem unter l genannten Schaden ist z. T. abgeholfen durch neuere Ausgaben, für die Reden über die Religion durch Ausgaben der Urgestalt und durch die kritische Ausgabe von Pünjer, für die Monologen durch die kritische Ausgabe von Schiele, für die kurze Darstellung des theologischen Studiums durch die von Scholz, für die Weihnachtsfeier durch die von Mulert. Von der Glaubenslehre die Texte der beiden Auflagen nebeneinander darzubieten, hat Stange unternommen; daß diese Auflage [wohl gemeint: Ausgabe H. F.] nicht über die Einleitung hinausgekommen ist, hat seinen Grund in dem besonderen Verhältnis, in dem hier beide Texte zueinander stehen. Was zweitens die nach Schi.'s Handschriften gedruckten Vorlesungen betrifft, so mögen seine Leistungen auf manchem anderen Gebiet nicht so bedeutsam sein, wie die in der Ethik, die einer neuen Ausgabe wie der vorhin erwähnten Braun'schen besonders bedurfte. Deshalb wird zu fragen sein, inwieweit bei einer Neuausgabe seine Vorarbeiten zu seinen Vorlesungen vollständig abgedruckt werden sollen. Wie viel aber hier überhaupt zu tun sein wird, zeigt der Vergleich der (s. Z. von der Akademie unterstützten) Halpern'schen Ausgabe der Dialektik mit der alten Jonas'schen, obwohl Halpern gar nicht dasselbe bieten wollte, wie Braun später für die Ethik geleistet hat, sondern eine einheitliche Textfassung anstrebte. Eine neue Ausgabe würde auch für Schi.'s andere Vorlesungen wie Staatslehre, Ästhetik, Erziehungslehre, Psychologie und die theologischen einen besseren Text darzubieten haben. Sie würde weiter Schi.'s Aufsätze vollständig zu enthalten haben, insbesondere die amtlichen Denkschriften, und wenn die Beiträge aus dem Athenäum und die von Dilthey im Auszug mitgeteilten ältesten Arbeiten Schi.'s (über den Wert des Lebens usw.) neu gedruckt werden, geschieht das besser nicht wieder im Anhang einer Biographie — der 1922 erfolgte Neudruck der unvollendet gebliebenen [47] Dilthey'-

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

sehen enthält sie denn auch nicht wieder — sondern in einer kritischen Gesamtausgabe, der auch solche, jetzt verstreute Arbeiten einzuverleiben sind, wie Schi.'s Aufsatz über Spinoza und Jacobi, den Mulert im Chronicon Spinozanum 1923 zu drucken angefangen hat. Endlich würde sie das Wichtigste von Schi.'s Recensionen und den Briefwechsel Schi.'s enthalten. Die bekannte alte Ausgabe von Schi.'s Briefen durch Jonas und Dilthey umfaßt den Grundstock, aber erstens ist Vieles in anderen Sammlungen verstreut, Vieles erst in neuester Zeit gedruckt worden, namentlich in Meisners Sammlungen und in den Mitteilungen aus dem Literaturarchiv, und manches besonders von Schi.'s Briefwechsel mit Gelehrten ist noch ungedruckt. Zweitens aber bietet jene alte Sammlung, wie Meisner erwiesen hat, den Text oft in einer Weise verändert, die willkürlich ist und schon damals nicht durch Rücksicht auf noch Lebende zu rechtfertigen war; die neueren Ausgaben aber enthalten sämtlich wiederum nur Teile von Schi.'s Briefwechsel. Bei dieser Sachlage würden viele Einzelheiten, so auch in betreff des theologischen Teils von Schi.'s Werken und seinen Predigten, sowie seiner Platon-Übersetzung, ehe eine neue Ausgabe erscheint, gründlicher Vorberatung bedürfen. Aber je mehr durch neuere Forschungen und Funde die Vielseitigkeit Schi.'s ins Licht getreten ist, umso wichtiger würde für das Verständnis jener grossen Zeit deutschen Geistes eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende neue Ausgabe von Schi.'s Werken sein. Durch sie würde deutlicher werden, was er für die Entwicklung der Wissenschaft und des Protestantismus, für das deutsche Bildungswesen und den preußischen Staat, nicht zum wenigsten auch für die preußische Akademie der Wissenschaften bedeutet hat. Zuschriften in dieser Sache erbitten wir an den mit unterzeichneten Prof. Mulert, Kiel, Feldstr. 120. Hans Achelis, Prof. der Kirchengeschichte, Leipzig. Bruno Bauch, Prof. der Philosophie, Jena. Johannes Bauer, Prof. der praktischen Theologie, Geh. Kirchenrat, Heidelberg. Adolf von Harnack, Prof. der Kirchengeschichte, Wirkl. Geh. Rat, Berlin. Paul Hensel, Prof. der Philosophie, Geh. Regierungsrat, Erlangen. Günther Holstein, Prof. d. öffentl. Rechts, Greifswald. Werner Jaeger, Prof, der klass. Philologie, Berlin. [48] Ferdinand Kattenbusch, Prof. der system. Theologie, Geh. Kons. Rat, Halle. Arthur Liebert, Prof. der Philosophie, Berlin.

19. Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern [1989]

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Theodor Litt, Prof. der Philosophie, Leipzig. Heinrich Meisner, Direktor i. R. der Staatsbibliothek, Berlin. Sebastian Merkle, Prof. der Kirchengeschichte, Würzburg. August Messer, Prof. der Philosophie, Giessen. Georg Misch, Prof. der Philosophie, Göttingen. Karl Müller, Prof. der Kirchengeschichte, Tübingen. Hermann Mulert, Prof. der syst. Theologie, Kiel. Herman Nohl, Prof. der Philosophie, Göttingen. Rudolf Otto, Prof. der syst. Theologie, Marburg. Martin Rade, Prof. der syst. Theologie, Marburg. Otto Scheel, Prof. der Geschichte, Kiel. Heinrich Scholz, Prof. der Philosophie, Kiel. Hermann Scholz, Pfarrer a. D., Geh. Kons. Rat, Berlin. Hans von Schubert, Prof. der Kirchengeschichte, Geh. Rat, Heidelberg. Hermann Schwarz, Prof. der Philosophie, Geh. Reg. Rat, Greifswald. Erich Seeberg, Prof. der Kirchengeschichte, Berlin. Reinhold Seeberg, Prof. der syst. Theologie, Berlin. Friedrich Siegmund-Schultze, Prof. der Jugendwohlfahrtskunde, Berlin. Nathan Söderblom, Erzbischof, Uppsala. Horst Stephan, Prof. der syst. Theologie, Leipzig. Arthur Titius, Prof. der syst. Theologie, Berlin. Rudolf Unger, Prof. der deutschen Literatur, Göttingen. Johannes Volkelt, Prof. der Philosophie, Geh. Hofrat, Leipzig. Oskar Walzel, Prof. der deutschen Literatur, Geh. Hofrat, Bonn. Georg Wehrung, Prof. der syst. Theologie, Halle. Heinrich Weinel, Prof. der syst. Theologie, Jena. Hugo Weizsäcker, Vizepräsident a. D. des Oberlandesgerichts, Gelle. Johannes Wendland, Prof. der syst. Theologie, Basel. Paul Wernle, Prof. der Kirchengeschichte, Basel. Georg Wobbermin, Prof. der syst. Theologie, Göttingen. Leopold Zscharnack, Prof. der Kirchengeschichte, Königsberg." In Mulerts Begleitschreiben vom 18. Juni 1927 heißt es: „Die Preußische Akademie der Wissenschaften bitte [49] ich zu gestatten, daß ich die Unterschriften beiliegender Eingabe nicht im Original vorlege. Sie sind in meinem Besitz." Nachträglich hat er mitgeteilt, am 23. Juni, daß „Karl Heim, Prof. der Syst. Theologie, Tübingen", am 1. Juli, daß „Paul Tillich, Prof. der Religionswissenschaft an der Technischen Hochschule zu Dresden" sich der Eingabe angeschlossen hatten.

20. Die

Schleiermacher-Gesamtausgabe

Ein Editionsunternehmen der SchleiermacherForschungsstellen Berlin und Kiel [1991]* Seit 1980 erscheint im Verlag Walter de Gruyter „Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe", herausgegeben von HansJoachim Birkner und Hermann Fischer, Gerhard Ebeling, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge. Das Editionsunternehmen hat seither einen zügigen Fortgang genommen. Bis Ende 1990 sind neun Bände im Druck vorgelegt worden, sieben aus der I. Abteilung „Schriften und Entwürfe", zwei aus der V. Abteilung „Briefwechsel und biographische Dokumente". Weitere Bände befinden sich in Vorbereitung. Die Kritische Gesamtausgabe (KGA) ist seit dem Erscheinen der ersten Bände in zahlreichen theologischen, philosophischen und literaturwissenschaftlichen Fachzeitschriften des In- und Auslandes begrüßt und gewürdigt worden. Das Echo demonstriert die Bedeutung Schleiermachers und seines Lebenswerks für eine Vielzahl von Bereichen und von wissenschaftlichen Fächern. Es demonstriert zugleich den Aufschwung der SchleiermacherForschung, dem die Ausgabe sich ihrerseits schon verdankt und dem sie inzwischen selber neue Impulse gegeben hat. 1 Ein kurzer Bericht über die Ausgabe kann auf ihre Entstehung und Planung, auf Organisation, Probleme und Stand der editorischen Arbeit nur in einigen Hauptpunkten eingehen. 2 Eine kritische Ausgabe der Vgl. Bibliographie Nr. 58 Für Arbeiten, die im Zusammenhang mit der Ausgabe entstehen oder auf sie bezogen sind, wurde 1985 mit der Reihe „Schleiermacher-Archiv" ein begleitendes Publikationsorgan geschaffen. Bis Ende 1990 sind acht Bände erschienen. Einen ausführlicheren Bericht „Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern vorgestellt" habe ich 1989 im 1. Band des Jahrbuchs „New Athenaeum — Neues Athenaeum. A Scholarly Journal Specializing in Schleiermacher Research and Nineteenth Century Studies / Zeitschrift für Schleiermacher-Forschung und für Studien zum 19. Jahrhundert" veröffentlicht (S. 12-49) [s. hier S. 309-335]. Das zweisprachige Jahrbuch, Dokument der internationalen Schleiermacher-Rezeption,

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Friedrich Schleiermachers (1768 — 1834) ist ein altes Desiderat. Die meisten seiner Schriften, Vorlesungen und Predigten werden bis heute zitiert nach der alten Ausgabe der „Sämmtlichen Werke" (insgesamt 31 Bände, 1834—1864). Obschon diese fraglos eine bedeutende Leistung darstellte, genügt sie doch kritischen Maßstäben in keiner "Weise. Überdies weist sie empfindliche Lücken auf. Von den Druckschriften berücksichtigt sie jeweils nur die letzte Auflage, die Schleiermacher selber besorgt hat. Sein literarischer Nachlaß ist in ihr nur teilweise und zumeist in völlig unzulänglicher Weise ediert. Immerhin hat sie dazu beigetragen, daß dieser Nachlaß beisammen gehalten wurde und daß zusätzliche Materialien, vor allem Nachschriften von Vorlesungen und von Predigten, gesammelt wurden. Eine Edition des Briefwechsels war in ihr nicht vorgesehen, so daß eine vergleichbare Sammlung von Briefen oder Briefabschriften damals nicht stattgefunden hat. Eine größere Auswahl, bis heute die umfänglichste und die am häufigsten zitierte Ausgabe, erschien erst in der vierbändigen Sammlung „Aus Schleiermachers Leben. In Briefen" (1858 — 1863), die ihrerseits der Ergänzung und der Revision in höchstem Maße bedürftig ist. Nur von einzelnen Schriften und von Teilen des Briefwechsels sind seit dem späten 19. Jahrhundert Ausgaben erschienen, die den Ansprüchen einer wissenschaftlichen Edition Rechnung tragen. Ansätze zu einer kritischen Gesamtausgabe hat es mehrfach gegeben. Besondere Erwähnung verdient die Initiative des Kieler Theologen Hermann Mulert, der im Jahr 1927 eine Schar von 42 renommierten Gelehrten, die ein bemerkenswertes Spektrum sowohl der wissenschaftlichen Fächer als auch der da-[22]maligen philosophischen und theologischen Richtungen repräsentierten, um eine Eingabe an die Preußische Akademie der Wissenschaften versammelte, in der eine Gesamtausgabe erstrebt wurde, deren erste Bände zu Schleiermachers 100. Todestag im Jahre 1934 erscheinen sollten. Der Plan ist trotz der prominenten Unterstützung an finanziellen Schwierigkeiten gescheitert. Das gleiche Schicksal erlitt ein Projekt, das 1961 in der Heidelberger Akademie beraten wurde. Die neue Planung ging aus einer Konsultation hervor, die Ende 1972 auf Einladung der Deutschen Forschungsgemeinschaft stattfand. Zu ihren günstigen Voraussetzungen zählte neben einer editonsfreundlichen wissenschaftspolitischen Gesamtlage und neben einer neuen Zuwendung erscheint im Verlag The Edwin Meilen Press, Lewiston/Queenston/Lamperer, der gleichzeitig eine große Reihe „Schleiermacher: Studies and Translations" begonnen hat.

20. Die Schleiermacher-Gesamtausgabe [1991]

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zu Schleiermacher in der protestantischen Theologie nicht zuletzt auch dies, daß der Schleiermacher-Nachlaß im Archiv der damaligen Akademie der Wissenschaften der DDR von Friedrich Laubisch in mustergültiger Weise geordnet und erschlossen worden war. Es wurde eine Kommission gebildet, die später zur Herausgeberkommission wurde, bestehend aus den Theologen H.-J. Birkner (Kiel), G. Ebeling (Zürich), H. Fischer (Hamburg) und dem Philosophen H. Kimmerle (damals Bochum, inzwischen Rotterdam), zu denen 1979 der Theologe K.-V. Selge, Leiter der damals neu eingerichteten Schleiermacher-Forschungsstelle Berlin, hinzutrat. Geschäftsführender Herausgeber wurde H.-J. Birkner, Leiter der bereits 1968 begründeten Schleiermacher-Forschungsstelle Kiel. Die Kommission beriet und berät seither in regelmäßigen Sitzungen alle Fragen, welche die Planung und die Gestaltung der Ausgabe sowie die Organisation der editorischen Arbeit betreffen. Die Editionsgrundsätze wurden von ihr in engem Zusammenhang mit der editorischen Arbeit und mit den dabei auftretenden Fragen erarbeitet.3 Bei der Gliederung der Ausgabe ist die alte Dreiteilung der Sämmtlichen Werke in die Abteilungen Theologie, Predigten, Philosophie nicht übernommen worden. Diese war sichtlich orientiert an den Bereichen der amtlichen Wirksamkeit Schleiermachers in seiner Berliner Zeit: als Theologieprofessor, als Pfarrer, als Akademiemitglied mit dem Recht, in der Philosophischen Fakultät Vorlesungen zu halten. Sie kombinierte jedoch eine Gattung (Predigten) mit zwei Sachbereichen (Theologie und Philosophie), mit denen sich überdies problematische Einordnungs- und Deutungsalternativen verbinden konnten (markante Beispiele: die „Reden", die Hermeneutik). Daß auch die gängige Gliederung in Werke, Nachlaß, Briefe nicht gewählt wurde, hängt mit den Besonderheiten des Materials zusammen. Die unterschiedlichen literarischen Gattungen in Schleiermachers Werk hätten auch bei einer solchen Gliederung berücksichtigt werden müssen. Die Ausgabe wurde daher nach Gattungen gegliedert, wobei jeder ihrer 5 Abteilungen auch der jeweilige literarische Nachlaß zugewiesen wird: I. Schriften und Entwürfe, II. Vorlesungen, Die Allgemeinen Grundsätze für die I. Abteilung wurden 1980 in KG A 1/7,1 veröffentlicht, die Besonderen Grundsätze für die Edition von Handschriften 1983 in KGA I/ 7,3, beide Teile zusammen in KGA I/l (1983). Die Grundsätze für die Edition des Briefwechsels wurden 1985 in KGA V/l vorgelegt. Was an diesen Stellen jeweils auf wenigen Seiten mitgeteilt ist, das hat die Herausgeber und die Mitarbeiter der Ausgabe in vielen Sitzungen beschäftigt. Von den Themen dieser Beratungen ist nur ein Teil in die formulierten Grundsätze eingegangen. Viele Einzelfragen, die zu entscheiden waren, werden durch die faktische Gestaltung der Bände beantwortet.

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

III. Predigten, IV. Übersetzungen, V. Briefwechsel und biographische Dokumente. Die Organisation der Ausgabe hat sich relativ kompliziert gestaltet. Die beiden Forschungsstellen in Berlin und Kiel haben unterschiedliche Träger und unterschiedliche Förderer mit jeweils eigenen Aufsichtsgremien. Das Gefüge der Instanzen und Zuständigkeiten hat sich im ganzen eher als Hilfe denn als Erschwerung erwiesen. Probleme der Kooperation und Koordination, die dabei unvermeidlich auftreten, wurden in der Regel mit derjenigen Leichtigkeit gemeistert, die das gemeinsame sachliche Interesse verleiht. Hervorzuheben ist auch das besondere Engagement, das der Verlag de Gruyter, Nachfolger von Schleiermachers Verlag G. Reimer, bei der Inaugurierung der Ausgabe wie bei ihrem Fortgang bewährt hat. Die Kieler Forschungsstelle, die bei ihrer Gründung im Jahr 1968 zunächst unselbständig war, hat seit 1978 den Status eines selbständigen Universitätsinstituts innerhalb der Theologischen Fakultät. Die Ausgabe stellt nicht das einzige, jedoch das wichtigste Arbeitsprojekt der Forschungsstelle dar, die sich dabei vorerst auf die I. Abteilung konzentriert. Dieses Projekt wurde vom 1. September 1975 bis Ende 1983 mit Sachund mit Personalmitteln (anfangs für einen Editor, seit 1978 für zwei) von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Seit dem 1. Januar 1984 wird es im Rahmen des Aka-[23]demien-Programms der BundLänder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung unterstützt. Die Verwaltung dieser Mittel, die je zur Hälfte vom Bund und vom Land Schleswig-Holstein kommen, ist der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen übertragen, die auch die wissenschaftliche Aufsicht wahrnimmt. Die editorische Arbeit wurde nach einer Phase vorbereitender Recherchen und Beratungen im Herbst 1975 an der Kieler Forschungsstelle mit der I. Abteilung „Schriften und Entwürfe" begonnen. Diese Abteilung, für die bewußt ein allgemeiner Titel gewählt worden ist, enthält sämtliche von Schleiermacher im Druck veröffentlichte Schriften mit Ausnahme der Predigten und der Übersetzungen, ferner die mit diesen Druckschriften zusammengehörigen handschriftlichen Materialien (z. B. Notizen in Handexemplaren), schließlich die von ihm nicht veröffentlichten Arbeiten und Entwürfe, soweit sie nicht aufgrund ihres Genus in eine andere Abteilung gehören. Der Edition der Druckwerke und Handschriften wird jeweils eine Einleitung der Bandherausgeber vorangestellt, die eine historische Einführung und einen editorischen Bericht umfaßt. Die edierten Texte werden

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erläutert und erschlossen durch textkritischen Apparat, Sachapparat sowie durch Register. 1980 erschien in zwei Teilbänden die von Hermann Peiter betreute Edition der Erstfassung von Schleiermachers berühmter Dogmatik „Der christliche Glaube" von 1820/21, die seit mehr als 150 Jahren nicht mehr gedruckt worden war.4 In dem 1983 veröffentlichten dritten Teilband, den Ulrich Barth herausgegeben hat, sind zum erstenmal die umfänglichen Randbemerkungen Schleiermachers in seinem Handexemplar bekanntgemacht. 1983 erschien ferner die von Günter Meckenstock bearbeitete Ausgabe der „Jugendschriften 1787 — 1796", die 19 Manuskripte aus dem Nachlaß umfaßt, von denen nur vier bereits vorher vollständig publiziert waren. Auch in den sich daran anschließenden beiden Bänden, welche die Schriften aus der Berliner Zeit 1796 — 1799 bzw. 1800-1802 enthalten - erschienen 1984 bzw. 1988 - hat G. Meckenstock neben den einschlägigen Druckschriften wiederum umfängliche Manuskripte ediert, die bis dahin gar nicht oder nur in Auszügen bekannt waren. 1990 erschien, von Hans-Friedrich Traulsen unter Mitwirkung von Martin Ohst herausgegeben, der Band „Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften", der acht Dokumente aus den Jahren 1817-1831 enthält. Die Abteilung gliedert sich in 13 Bände (mit Teilbänden 16), von denen die ersten fünf nach biographischen Abschnitten geliedert sind, während in den folgenden Bänden die Schriften der Berliner Zeit 1807—1834 unter thematischen Gesichtspunkten zusammengefaßt werden. Die folgende Übersicht markiert, welche Bände bereits erschienen (xx) und welche in Vorbereitung sind (x): xx xx xx

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1. Jugendschriften 1787—1796, hg. von G. Meckenstock, 1983 2. Schriften aus der Berliner Zeit 1796—1799, hg. von G. Meckenstock, 1984 3. Schriften aus der Berliner Zeit 1800—1802, hg. von G. Meckenstock, 1988 4. Schriften aus der Stolper Zeit 1802—1804 (in Vorbereitung, Hg. G. Meckenstock) 5. Schriften aus der Hallenser Zeit 1804—1806 (in Vorbereitung, Hg. Hermann Patsch, externer Mitarbeiter) Von ihr konnte seither dank einer Druckbeihilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland eine preisgünstige Studienausgabe veranstaltet werden, die zur 150. Wiederkehr von Schleiermachers Todestag im Jahr 1984 erschien.

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6. Universitätsschriften. Kurze Darstellung des theologischen Studiums 1. und 2. Aufl. xx 7. Der christliche Glaube 1. Aufl., Teilbände l und 2, hg. von H. Peiter, 1980; Teilband 3 (Marginalien und Anhang), hg. von U. Barth, 1983 8. Exegetische Schriften 9. Kirchenpolitische Schriften (in Vorbereitung, Hg. H.-F. Traulsen) xx 10. Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. von H.-F. Traulsen, 1990 11. Akademieabhandlungen und verschiedene Schriften 12. Über die Religion (2.-)4. Aufl., Monologen (2.-)4. Aufl. 13. Der christliche Glaube 2. Aufl. [24] Die Berliner Forschungsstelle wurde 1979 mit Mitteln des Landes Berlin und der Evangelischen Kirche der Union unter Beteiligung der Kirchlichen Hochschule Berlin bei derselben eingerichtet, und zwar eigens für die Ausgabe. Träger der Förderung war 10 Jahre lang die Schleiermachersche Stiftung. Am 1. Januar 1989 nahm die 1987 begründete Akademie der Wissenschaften den Berliner Anteil der Ausgabe in ihre Obhut. Nach Auflösung der Akademie zum 31. Dezember 1990 ist zunächst das Land Berlin an ihre Stelle getreten. An der Berliner Forschungsstelle wurde im September 1979 die Arbeit an der V. Abteilung „Briefwechsel und biographische Dokumente" von zwei Editoren begonnen. In der Vorbereitungsphase waren zunächst ausgedehnte Nachforschungen anzustellen, die sich auf mehr als 1000 Bibliotheken und Archive erstreckten. Über den Briefbestand des Schleiermacher-Nachlasses im Berliner Akademie-Archiv hinaus (ca. 3000) konnten ca. 1000 weitere Briefe ermittelt werden, wodurch sich insbesondere der Bestand der Briefe von Schleiermachers Hand — im Nachlaß überwiegen naturgemäß die Briefe an ihn — nahezu verdoppelte (insgesamt ca. 1500). Ein großer Teil der Korrespondenz ist bisher nicht oder nur auszugsweise publiziert. Die Briefe werden in der Ausgabe chronologisch geordnet. Die von Schleiermachers Hand und diejenigen an ihn werden nach einheitlichen Prinzipien ediert, wobei die Editionsgrundsätze allerdings vorsehen, daß Briefe an ihn in begründeten Fällen in Regestform gegeben werden können. Die Briefe werden durch eine historische Einführung, durch einen Sachapparat, durch verschiedene Register erläutert und erschlossen. 1985 erschien, herausgegeben von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, als 1. Band der V. Abteilung der „Briefwechsel 1794-1796 (Briefe

20. Die Schleiermacher-Gesamtausgabe [1991]

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1—326)". Von den 326 gezählten Briefen sind 114 erschlossen. Von den übrigen 212 (70 von, 142 an Schleiermacher) sind 42 in diesem Band zum erstenmal veröffentlicht (6 von ihm, 36 an ihn). Der 2. Band „Briefwechsel 1796-1798 (Briefe 327-552)" erschien 1988. Zwei weitere Bände (3. Briefwechsel 1799-1800, 4. Briefwechsel 1800-1802) sind in Vorbereitung. Schließlich ist eine bedeutsame Erweiterung der editorischen Arbeit zu erwähnen, die 1989 in Berlin durch die Einrichtung einer dritten Editorenstelle ermöglicht wurde. Dadurch konnte die Edition der II. Abteilung „Vorlesungen" in Angriff genommen werden, für deren Bearbeitung Walter Jaeschke gewonnen wurde. Es handelt sich um eine Aufgabe, deren Dimensionen beträchtlich sind. Schleiermacher hat in seiner fast drei Jahrzehnte währenden Lehrtätigkeit in jedem akademischen Semester mindestens zwei Vorlesungen gehalten, häufig sogar drei (eine neutestamentlich-exegetische, eine weitere theologische, eine philosophische). Insgesamt handelt es sich um mehr als 25 thematisch verschiedene Vorlesungen; eine präzise Angabe der Zahl ist deswegen schwierig, weil er die neutestamentlichen Schriften in seinen exegetischen Vorlesungen in unterschiedlichen Abgrenzungen und Kombinationen behandelt hat. Zu diesen zahlreichen Vorlesungen sind in der Regel Aufzeichnungen Schleiermachers aus verschiedenen Semestern erhalten. Dazu kommen Hörernachschriften in unterschiedlicher Zahl und von unterschiedlicher Qualität. Schleiermachers eigene Manuskripte sind sehr verschieden beschaffen. Neben ganz knappen Notizen finden sich kompendienartige Entwürfe mit thetischen Leitsätzen, schließlich aber auch relativ ausführliche Kolleghefte (besonders für die exegetischen Vorlesungen). Wo nur kurze Notizen oder Leitsätze vorliegen, sind diese Texte durch Heranziehung von Nachschriften zu erschließen, wobei gegebenenfalls Nachschriften aus mehreren Semestern zu berücksichtigen sind, nicht selten auch mehrere Nachschriften aus demselben Semester. Eine solide Planung und Bearbeitung dieses großen Komplexes, die zudem hinsichtlich der Zahl möglicher Bände realistisch bleibt, bedarf gründlicher Vorbereitung.

21. Ernst Troeltschs Marginalien zu Schleiermachers „Kurze Darstellung" [1991]* Die „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" (1811, 18302) ist von Ernst Troeltsch als „der geniale Entwurf von Schleiermachers Enzyklopädie" gewürdigt worden (Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft, 1909, hier zitiert nach dem Abdruck in: Gesammelte Schriften II, 19222, 210); er hat sie als epochale Wegweisung eingestuft: „... sein Programm bleibt das große Programm aller wissenschaftlichen Theologie und bedarf somit nur der Ausarbeitung, nicht des Ersatzes durch neue Erfindungen" (aaO 226). Dieser Sachverhalt ist geeignet, ein spezifisches Interesse an Troeltschs eigenem Handexemplar der 2. Auflage des Büchleins zu begründen, das zahlreiche Anstreichungen, daneben auch Randbemerkungen enthält. Es ist erhalten in demjenigen Bestand seiner Bibliothek, der nach seinem Tod in den Besitz des Systematisch-theologischen Seminars der Berliner Universität kam. Hans-Jürgen Gabriel hat in den einleitenden Bemerkungen zu dem von ihm zusammengestellten „Verzeichnis von aufgefundenen Büchern aus Troeltschs Besitz" (Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft IV, 1989, 169—173) dieses Buch eigens hervorgehoben und besonderer Aufmerksamkeit empfohlen. Eine Durchsicht des Dokuments, von dem er mir auf meine Anfrage und Bitte hin dankenswerterweise eine Kopie übersandt hat, erbringt zwar keine Sensationen, ermöglicht aber doch einige Beobachtungen, deren Mitteilung den an Schleiermacher oder an Troeltsch oder an beiden Interessierten willkommen sein mag. i. Bestand: Troeltsch hat ein Exemplar des Originaldrucks der 2. Auflage der „Kurzen Darstellung" (1830) besessen und benutzt. Seine Anstreichungen und Notizen erstrecken sich — in ungleichmäßiger Verteilung — über das Ganze des Textes. Sie demonstrieren, daß er zu denjenigen Lesern der — als Thesenreihe für eine zuletzt fünfstündig (!) gehaltene Vorlesung konzipierten — Enzyklopädie gehört hat, die das faszinieVgl. Bibliographie Nr. 59

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

rende, jedoch höchst spröde Büchlein vollständig gelesen, studiert, durchgearbeitet haben. Die 'Form der Marginalien legt die Annahme nahe, daß sie in einem Durchgang entstanden sind. Sie sind [9] nicht datiert und bieten einem Datierungsversuch keinen äußeren Anhalt. Von den 338 Paragraphen, in die Schleiermachers Text sich gliedert, zeigen knapp 100 entweder Unterstreichungen einzelner Worte im Text oder Anstreichungen am Rande, die sich teils auf einzelne Zeilen, teils auf ganze Passagen beziehen. Zu Unterstreichungen wie zu Anstreichungen ist hin und wieder als elementare Kommentierung ein Ausrufezeichen (zwölfmal), seltener ein Fragezeichen (viermal) oder auch die Abbreviatur „NB" (nota bene) hinzugefügt. Bei rund 30 Paragraphen finden sich außerdem am Rande knappe Notizen. Sie sind fast durchweg in sehr kleiner Schrift geschrieben, im allgemeinen gut lesbar oder doch recht zuverlässig zu entziffern. Die Zuordnung der Notizen zum Text ist im allgemeinen dadurch eindeutig, daß sie mit Unter- oder Anstreichungen verbunden sind. Der insgesamt geringe Umfang der eigentlichen Randnotizen erlaubt es, sie im Zusammenhang des Folgenden vollständig mitzuteilen (mit Ausnahme einer von mir nicht entzifferten Notiz, die neben dem Zusatz von § 219 steht). Um Sinn und Scharfsinn von Troeltschs Bemerkungen zu würdigen, müssen freilich die Texte der „Kurzen Darstellung", auf die sie sich jeweils beziehen, nachgeschlagen werden. 2. Funktion: Sowohl die Striche in und neben dem Text als auch die Notizen am Rande haben Funktionen unterschiedlicher Art. Welche Bedeutung die Hervorhebung einzelner Worte oder Passagen durch Striche jeweils hat, das kann im Einzelfall die Phantasie des Interpreten beschäftigen, erst recht, wenn ein Ausrufezeichen, ein Fragezeichen oder ein „NB" hinzugesetzt ist. Manche Unterstreichungen, auch einige Randbemerkungen haben die elementare Aufgabe, die Gliederung des Textes zu erfassen und zu markieren — eine Bemühung, die allen Lesern der gedrängten Formulierungen der „Kurzen Darstellung" vertraut ist. Von den Randnotizen bieten viele eine Erläuterung oder eine Verdeutlichung des Textes. In einigen Fällen artikulieren sie eine Stellungnahme. Der Gliederung des Textes, die häufig durch Unterstreichung einzelner Wörter hervorgehoben wird, dienen gelegentlich auch Notizen am Rande. So ist neben dem Leitsatz § 116 angemerkt: „Übergang [10] zur niederen oder Textkritik". Vorhergegangen war neben dem Leitsatz § 113 die Bemerkung: „Sach oder Litterarkritik", die sowohl die Gliederung markiert als auch dem im Text des Leitsatzes unterstrichenen Begriff „höhere Kritik" eine Erläuterung gibt.

21. Ernst Troeltschs Marginalien zu Schleiermachers „Kurze Darstellung" [1991]

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Diejenigen Notizen, die der Erläuterung oder Verdeutlichung von einzelnen Formulierungen oder Thesen dienen, werden oft durch die Abbreviatur „dh" eingeleitet, die nach dem Kontext als „das heißt" aufzulösen ist. So findet sich beim Leitsatz § 48 neben der am Rand angestrichenen Textstelle „Begriff der aus der Menschheit sich entwickelnden Organisationen gemeinsamen Lebens" die Erläuterung: „dh Staat, Wissenschaft etc". Zum Schluß des Zusatzes von § 124 ist angemerkt: „dh es würde in Philologie des Hellenismus ausmünden". Zum Leitsatz § 134 ist notiert: „dh Anwendung der philologisch-historischen Methode". Wenn Troeltsch neben dem Ende des Leitsatzes § 40 vermerkt: „dh Polemik nach innen gerichtet", so dient diese Verdeutlichung sichtlich auch der Hervorhebung des Auffälligen in Schleiermachers Verständnis des Fachs Polemik. Eine eigene Gruppe bilden diejenigen Notizen, in denen eine Hervorhebung oder Erläuterung mit Interpretationsbegriffen erfolgt, die eigene Interessen und Intentionen Troeltschs artikulieren. Neben dem Leitsatz § 37 ist zum Textbegriff „geschichtskundliche Kritik" vermerkt: „dh prinzipielle Beurteilung der Geschichte". Zum 1. Satz des Zusatzes von § 50 ist notiert: „vergleichend geschichtsphilosophisch"; zum 1. Satz des Zusatzes von § 69: „geschichtsphilosophisch. relativ" (neben der zweiten Hälfte steht ein „NB!"); zum Zusatz von § 83: „geschichtsphilosophische". Neben dem Leitsatz § 94 steht das Wort: „Soziologisch". An vier Stellen wird der Begriff des christlichen „Prinzips" zur Interpretation von Aussagen Schleiermachers aufgeboten. Beim Zusatz von § 103 ist die Wendung „Darstellung des eigenthümlich christlichen Glaubens" erläutert durch: „dh des Prinzips". Beim Zusatz von § 108 steht neben der im Text unterstrichenen Wendung „nur in Christo" die Bemerkung: „dh Prinzip nur in X". Zum Leitsatz § 111 findet sich — offenbar in Rückbezug auf die Aussage von § 109 über die „apostolischen Väter" — die Bemerkung: „dh kein Begriff des Prinzips aus ap Vätern". Neben dem Leitsatz § 113 findet sich — offenbar als Interpretation der Wendung im Text „Congruenz der innern und äußern Zeichen" — die [11] Erläuterung: „Übereinstimmung mit Prinzip u Nähe am Ursprung". Einige wenige Marginalien artikulieren eine kritische Stellungnahme zu Aussagen Schleiermachers. Dessen Apostrophierung der Begriffe Kanon und Sakrament im Leitsatz § 47 ist am Rande angestrichen, mit einem Ausrufezeichen versehen und als: „sehr willkürlich" eingestuft. Zu den Aussagen des Zusatzes von § 48 über Kirche, Staat und Wissenschaft findet sich — neben dem Ende der Passage — das Urteil: „nicht so einfach". Eine bemerkenswerte Kommentierung hat die Aussage des § 103

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

über den neutestamentlichen Kanon erfahren. Im Leitsatz sind die Worte „ursprünglichen, mithin" unterstrichen; am Rande ist notiert: „Construktion des N. T. auf historischer Grundlage, aber sehr fraglich". 3. Verteilung: Die Spuren von Troeltschs Lektüre erstrecken sich über das Ganze der „Kurzen Darstellung", sie verteilen sich jedoch keineswegs gleichmäßig. Vorworte und Inhaltsverzeichnis haben keine Hervorhebungen oder Randbemerkungen erhalten. In der „Allgemeinen Einleitung" (§§ 1—31) finden sich erst ab § 13 wenige Randstriche, jedoch keine Randbemerkungen. Im I. Teil „Von der philosophischen Theologie" (§§ 32 — 68) sind neben einer Anzahl von An- und Unterstreichungen insgesamt sechs Notizen (zu den §§ 37, 40, 47, 48, 50) zu registrieren, die bereits zitiert worden sind. Im gesamten III. Teil „Von der praktischen Theologie" (§§ 257—338) finden sich fast nur An- und Unterstreichungen, dazu neben dem Zusatz von § 267 und neben dem Leitsatz § 278 zwei übereinstimmende Abkürzungen (in weit größerer Schrift als sonst), die schwer deutbar sind. Sie können als „Soz." gelesen werden und würden in der Auflösung „Soziologisch" oder „Soziologie" auch gut zum Inhalt der betreffenden Paragraphen passen. Man müßte bei dieser Lesart freilich voraussetzen, daß Troeltsch, der sich sonst immer der deutschen Schrift bedient, an dieser Stelle lateinisch geschrieben hätte. Die Hauptmenge der Marginalien ist im II. Teil „Von der historischen Theologie" (§§ 69—256) zu verzeichnen, innerhalb dessen sich noch einmal eine Konzentration im 1. Abschnitt „Die exegetische Theologie" (§§ 103—148) abzeichnet. Insbesondere sind es Schleiermachers Aussagen über den Kanon, die Troeltsch zu Hervorhebungen und zu Kommentaren angeregt haben. Die beiden Randnotizen zum [12] einleitenden § 103 sind bereits erwähnt worden. Im Zusatz des folgenden § 104 ist die These, das richtige Verständnis des Kanons sei die „einzige wesentliche" Aufgabe der exegetischen Theologie, durch Unterstreichung der beiden zitierten Worte hervorgehoben, am Rande mit einem Fragezeichen bedacht und außerdem mit dem Vermerk versehen: „Vgl die sofort kommenden Einschränkungen". Neben den bereits früher zitierten Notizen zu den §§ 108, 111, 113, sind noch zwei Bemerkungen zu zitieren, die der sachlichen Verdeutlichung dienen. Zum 2. Satz des Zusatzes von § 107 schreibt Troeltsch: „also auch sekundär Evv" — eine Erläuterung zu Schleiermachers Gebrauch des Begriffs „apostolische Väter", der auch außerkanonische Evangelien umfaßt. In einer Notiz zum Leitsatz § 114 wird das komplexe konjunktivische Gefüge von Schleiermachers Bestimmungen reduziert auf das Ergebnis: „dh Beiseitesetzung des Kanons". Der Vollständigkeit halber noch die weiteren Randnotizen. Neben dem Zusatz von § 112: „ "; zum Leitsatz § 113 neben der Wen-

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düng „Gebiet der apokryphischen Behandlung": „dh Sekten"; am Ende des Leitsatzes § 131: „Herder? Michaelis? Paulus?"; zum Leitsatz § 141: „NTliche Zeitgeschichte"; zum Leitsatz $ 147: „Prinzip der Vermittelung"; zum Zusatz von § 196, in dessen Text die Worte „derselben Zeit bei uns Verschiedenes" unterstrichen sind: „dh verschiedene Dogmatiker". Die zuletzt zitierte Randnotiz ist im übrigen die einzige, die sich in dem gesamten Abschnitt über „Die dogmatische Theologie" (§§ 196 — 231) findet. Noch auffälliger als die Zurückhaltung in diesem Komplex, der immerhin einige An- und Unterstreichungen empfangen hat, kann freilich der Sachverhalt erscheinen, daß die grundlegenden Paragraphen der „Allgemeinen Einleitung" ohne Hervorhebungen und ohne Randnotizen geblieben sind, insbesondere auch diejenigen Aussagen, die Schleiermachers Theologiebegriff formulieren und sein Programm wissenschaftlicher Theologie umreißen.

22. Schleiermacher-Literatur [l 960/62] * Schleiermacher, „Pädagogische Schriften", unter Mitwirkung von Theodor Schulze, hg. von Erich Weniger. 1957, Helmut Küpper, Düsseldorf und München, 1. Bd. (Die Vorlesungen aus dem Jahre 1826) XIX u. 476 S., DM 18.80, 2. Bd. (Pädagogische Abhandlungen und Zeugnisse) XXXII u. 240 S., DM 12.80. Schleiermacher, „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (= Philosophische Bibliothek Band 255), hg. von Hans-Joachim Rothert. 1958, Felix Meiner, Hamburg, XIV u. 176 S., DM 6.50, Ln. DM 9.50. Schleiermacher, „Hermeneutik", nach den Handschriften neu hg. u. eingel. von Heinz Kimmerle (= Abh. der Heidelb. Akademie der Wiss. Phil.-hist. Kl., Jg. 1959, 2. Abh.). 1959, Carl Winter, Heidelberg, 175 S., DM 25.-. Schleiermacher, „Der christliche Glaube", 7. Aufl., auf Grund der zweiten Aufl. u. kritischer Prüfung des Textes neu hg. von Martin Redeker. 1960, Walter de Gruyter & Co., Berlin, 1. Bd. XLII u. 459 S., Ln. DM 28.-, 2. Bd. 580 S., Ln. DM 30.-. Werner Schultz, „Schleiermacher und der Protestantismus" (= Theologische Forschung Bd. 14). 1957, Herbert Reich Evang. Verlag GmbH., Hamburg-Bergstedt, 127 S., DM 10.-. Holger Samson, „Die Kirche als Grundbegriff der theologischen Ethik Schleiermachers". 1958, Evangelischer Verlag AG., Zollikon, 96 S., DM 11.-. Poul Henning J0rgensen, „Die Ethik Schleiermachers" (= Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus 10. Reihe, Bd. XIV). 1959, Chr. Kaiser Verlag, München, 223 S., DM 13.50. Klaus-Martin Beckmann, „Der Begriff der Häresie bei Schleiermacher" (= Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus 10. Reihe, Bd. XVI). 1959, Chr. Kaiser Verlag, München, 143 S., DM 9.-. * Vgl. Bibliographie Nr. 9

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Paul Seifert, „Die Theologie des jungen Schleiermacher" (= Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 49. Bd.). 1960, Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh, 208 S., Ln. DM 19.80. Daß eine Sammelbesprechung neuer Schleiermacher-Literatur nötig wird, ist in sich ein bemerkenswertes Phänomen. Die Zahl der Neuerscheinungen ist ein erstaunlicher und erfreulicher Beleg dafür, daß Schleiermacher nach einer Periode der Vernachlässigung offenbar mit einem neuen Interesse rechnen kann. Bemerkenswert ist der starke Beitrag der jüngeren Generation (Rothert, Kimmerle; Samson, Jorgensen, Beckmann) zu den im Druck erschienenen Arbeiten kommt noch eine große Anzahl ungedruckter theologischer und philosophischer Dissertationen. Zunächst sind nun mehrere Neuausgaben einzelner Werke Schleiermachers zu verzeichnen. Sie haben unterschiedliche Zielsetzung und Gestaltung. Die — unter Mitwirkung von Theodor Schulze — von Erich Weniger veranstaltete Ausgabe der pädagogischen Schriften entspringt wohl vor allem dem Wunsch, diesen Teil des Schleiermacherschen Werkes überhaupt wieder zugänglich zu machen. Schleiermachers „Erziehungslehre" ist zuerst 1849 von C. Platz herausgegeben worden (Sämtliche Werke III. Abt., 9. Bd.). Diese Ausgabe, nach der üblicherweise zitiert wird, bietet im Hauptteil den aus Manu-[151]skript und Nachschriften rekonstruierten Text der Schleiermacherschen Pädagogik-Vorlesung von 1826, sodann Schleiermachers Manuskript von 1813/14, einzelne Notizen Schleiermachers und Auszüge aus seinen Vorlesungen von 1820/21. Auf ihr fußen die später erschienenen Auswahlausgaben und Neudrucke. Da die von Platz benutzten Manuskripte und Nachschriften nicht erhalten sind, greift auch Weniger auf die alte Ausgabe zurück. Er druckt — im 1. Band — den wichtigsten Teil der Platzschen Ausgabe ab: die Vorlesungen von 1826, die einen zusammenhängenden Text bieten, sowie den größeren Teil des Manuskriptes von 1813/14. Verschiedene Korrekturen des von Platz gebotenen Textes sind in Anmerkungen sorgfältig begründet. Eine wertvolle Bereicherung dieses 1. Bandes bilden das Register und die „Einführung in die Methode und den Aufbau der pädagogischen Vorlesungen" von Theodor Schulze. Im 2. Band sind einige Selbstzeugnisse sowie kleinere pädagogische Abhandlungen und Schriften Schleiermachers zusammengestellt. Eine Abhandlung über den Geschichtsunterricht ist hier zum erstenmal vollständig abgedruckt. Erfreulicherweise ist auch die schöne Universitätsschrift von 1808 „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn" vollständig aufgenommen; sie formuliert Schleiermachers Wissenschaftsverständnis und ist so für das

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Verständnis von Sinn und Ethos seines Gesamtwerks, vor allem auch seiner Theologie, außerordentlich wichtig. Eine besondere Kostbarkeit des 2. Bandes ist schließlich ein biographischer Artikel „Schleiermacher" aus der Feder Wilhelm Diltheys. Der Artikel ist 1859 erschienen und stellt Diltheys ersten Versuch einer Lebensbeschreibung Schleiermachers dar; in seinen Gesammelten Schriften ist er nicht enthalten. Es ist sehr zu begrüßen, daß er nun der Vergessenheit entrissen ist. Beide Bände der Wenigerschen Ausgabe sind in Anmerkungen zuverlässig und sorgfältig kommentiert. Sie wird als Studienausgabe vorzügliche Dienste leisten. Schleiermachers epochemachendes theologisches Jugendwerk, die Reden „Über die Religion", ist durch die Ausgabe von Hans-Joachim Rothert dem Studium neu erschlossen. Auch diese Ausgabe ist nicht von kritischen Ambitionen bestimmt, sondern von dem Wunsche, einen wichtigen Schleiermacher-Text wieder zugänglich zu machen. Der Herausgeber druckt den Text der Erstauflage von 1799 ab, deren Seitenzahlen mit angegeben sind. Seiner Meinung freilich, eine Begründung für den ausschließlichen Abdruck der 1. Auflage erscheine überflüssig (S. XIII), wird man nicht ohne weiteres beipflichten können. Einmal hat Emanuel Hirsch starke Gründe dafür geltend gemacht, daß die 2. Auflage des Werkes (1806) als die eigentliche Reifegestalt anzusehen ist (Geschichte der neuern ev. Theologie IV, 559ff); zum ändern bleibt für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Schleiermacher die Benutzung aller Auflagen der Reden unerläßlich. Eine kritische synoptische Ausgabe nach dem Vorbild der längst vergriffenen von Pünjer (1879) bildet ein bleibendes Desiderat. Die Ausgabe der Schleiermacherschen Hermeneutik von Heinz Kimmerle betritt editorisches Neuland. Zwar ist Schleiermachers „Hermeneutik und Kritik mit besonderer Beziehung auf das Neue Testament" schon 1838 von Friedrich Lücke herausgegeben worden (Sämtl. Werke I. Abt., 7. Bd.). Aber Lücke bietet lediglich Schleiermachers Vorlesungsmanuskript von 1819, das dann durch Auszüge aus Nachschriften reichlich ergänzt ist. Demgegenüber ist bei Kimmerle zum erstenmal der gesamte handschriftliche Nachlaß Schleiermachers zum [152] Thema Hermeneutik kritisch ediert. Auf den Abdruck von Vorlesungsnachschriften ist verzichtet worden. Auch Schleiermachers Vorlesung über „Kritik" ist ausgeklammert. Die neue Ausgabe ermöglicht einen Einblick in die Entwicklung der Schleiermacherschen Hermeneutik. In der Einleitung des Herausgebers finden sich dazu Hinweise und Erwägungen. Mir scheint allerdings die Differenz der einzelnen Entwürfe und die Eigenbedeutung der Frühgestalt von Schleiermachers Hermeneutik durch Kim-

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merle überschätzt zu werden. Seine Annahme, „daß Schleiermacher erst ...spät (1829) seine Theorie des Verstehens eindeutig als Kunstlehre oder Technik aufgefaßt hat" (S. 21, vgl. S. 20), stimmt nicht. Schon in dem Entwurf der Ethik von 1812/13 ist die Hermeneutik als „technische Disziplin" in das System der Wissenschaften eingeordnet (Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, hrsg. von O. Braun, 1913, S. 356, vgl. S. 252). Kimmeries Ausführungen geben jedoch wichtige Anregungen. Seine Ausgabe bietet der künftigen Beschäftigung mit Schleiermachers Hermeneutik eine solide und zuverlässige Grundlage. Die Lückesche Ausgabe ist durch sie überholt; lediglich für Schleiermachers „Kritik" bleibt man noch auf sie angewiesen. Die von Martin Redeker veranstaltete Neuauflage der Glaubenslehre ist ein besonders erfreuliches Ergebnis des neu erwachenden Interesses an Schleiermacher und seinem Werk. Das theologische Hauptwerk Schleiermachers hat hier eine Edition gefunden, die allen Ansprüchen gerecht wird. Der Herausgeber bietet den Text der 2. Auflage. Im Unterschied zu früheren Neudrucken, welche die in Schleiermachers Sämtlichen Werken enthaltene 3. Auflage reproduzierten, ist dabei sorgfältig auf den von Schleiermacher selbst besorgten Text von 1830/31 zurückgegangen. Die Seitenzahlen der 2. Auflage sind mit angegeben. Der Wert dieser Neuausgabe wird erhöht durch verschiedene Beigaben und Benutzungshilfen. In einem ersten Apparat unter dem Text sind Schleiermachers handschriftliche Anmerkungen zu den §§ 1 — 85 abgedruckt, die sich in seinem Handexemplar finden und bereits 1873 von C. Thönes gesondert herausgegeben worden waren. Ein zweiter Apparat bringt die Nachweise der von Schleiermacher gegebenen Zitate sowie Konjekturen und Erläuterungen zum Text. Die Einleitung des Herausgebers informiert über Entstehung und Aufnahme der Glaubenslehre. Ein Anhang schließlich bringt ein vergleichendes Register der Seitenzahlen aller Drucke der 2. Auflage, ein Personen-, Bibelstellen- und Stichwortverzeichnis sowie — besonders dankenswert — eine Synopse der Leitsätze der 1. und 2. Auflage mit bisher unveröffentlichten Zusätzen aus Schleiermachers Kollegheft. Bewußt verzichtet worden ist auf den Versuch, auch den Text der 1. Auflage der Glaubenslehre (1821/22) in die Neuausgabe einzuarbeiten. Man wird diese Beschränkung nur begrüßen können. Wer jemals Carl Stanges kritische Ausgabe der Einleitung in die Glaubenslehre (1910), in der beide Auflagen berücksichtigt sind, in der Hand gehabt hat, wird an der Sinnhaftigkeit und Durchführbarkeit einer entsprechenden Bearbeitung des Gesamtwerks begründete Zweifel hegen. Es bleibt freilich zu hoffen, daß auch der Text der 1. Auflage

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wieder einmal zugänglich gemacht wird, ein gesonderter Abdruck dürfte dann das sinnvollste sein. Der so schönen Neuausgabe der 2. Auflage kann man nur wünschen, daß sie viele Leser und Benutzer finden möchte. Durch die neuen Ausgaben der Hermeneutik und der Glaubenslehre ist die — ohnehin unvollständige und unzurei-[153]chende — alte Ausgabe von Schleiermachers „Sämtlichen Werken" erneut in wichtigen Teilen überholt worden. Ihre gänzliche Ersetzung durch eine neue kritische Gesamtausgabe ist ein bleibendes Bedürfnis. Neben Neuausgaben einzelner Werke Schleiermachers sind in den letzten Jahren mehrere Schleiermachermonographien veröffentlicht worden. Der Kieler Systematiker Werner Schultz ist bereits früher mit mehreren Untersuchungen zu Schleiermachers Werk hervorgetreten. Seine neue Arbeit „Schleiermacher und der Protestantismus" will „die Thematik Katholizismus und Protestantismus in ihrer Bedeutung für die letzten Grundlagen der Theologie Schleiermachers" näher durchleuchten (S. 7). Es handelt sich dabei jedoch nicht, wie man zunächst vermuten könnte, um eine Untersuchung der Schleiermacherschen Deutung der Konfessionen. Die Frage der Arbeit zielt vielmehr auf Recht und Unrecht des protestantischen Selbstbewußtseins Schleiermachers. In einem I. Teil (Die protestantische Thematik bei Schleiermacher) würdigt der Verfasser die „protestantische Struktur" einiger Grundthemen und Grundanliegen der Schleiermacherschen Theologie. Der — doppelt so umfangreiche — II. Teil ist der „Kritik an Schleiermachers Deutung der protestantischen Thematik" gewidmet. Durchgehendes Thema dieser Kritik ist die Feststellung, daß Schleiermacher „die griechische Diktion von Wesen und Erscheinung" übernimmt, von ihr aus Religion und Christentum deutet, damit letztlich die Theologie und den Glauben von der Philosophie abhängig und „den zunächst kraftvoll vorgetragenen protestantischen Ansatzpunkt völlig unwirksam" macht (S. 41), so daß er schließlich in die Nähe des Katholizismus gerät (S. 95). Diese These wird in einer anhangweise veröffentlichten Studie „Die theologia cordis bei Augustin und Schleiermacher" noch einmal bekräftigt. Die Untersuchung bringt viele interessante Einzelbeobachtungen (z. B. zum Zeitbegriff Schleiermachers, S. 45ff). An ihre Grundthese wird man die Frage richten müssen, ob es eine theologiegeschichtlich sinnvolle Fragestellung ist, wenn man Schleiermachers Ort zwischen den als eindeutig vorausgesetzten Größen „griechisches Denken" und „reformatorische Schau" zu bestimmen sucht. Aber bei dieser Arbeit handelt es sich wohl der Intention nach gar nicht um eine theologiegeschichtliche Untersuchung im strengen (engen?) Sinn, sondern mehr um historisch-systematische Reflexio-

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nen im Blick auf gegenwärtige Fragen und Probleme. Dazu stimmt dann auch dies, daß die Theologie Schleiermachers durchgehend mit der Rudolf Bultmanns konfrontiert wird (vgl. S. 14ff, 41 ff, 63ff, 92ff). Die in der Schleiermacherforschung weithin ungebührlich vernachlässigte „Christliche Sitte" ist Gegenstand der Untersuchung von Holger Samson: „Die Kirche als Grundbegriff der theologischen Ethik Schleiermachers". Der Titel der Arbeit gibt das Programm. Es wird vom Verfasser so durchgeführt, daß er in einem I. Teil Aufbau und Inhalt der Christlichen Sittenlehre skizziert, von da aus in Teil II Struktur und Gehalt des Kirchenbegriffs entfaltet, um dann in Teil III den Einfluß dieses Kirchenbegriffs auf die Ethik am Beispiel der Begriffe Gewissen, Liebe, Leben kritisch zu untersuchen. Leider isoliert die Darstellung die Christliche Sittenlehre zu sehr vom Gesamtwerk Schleiermachers. Sie nimmt auf Schleiermachers philosophische Ethik nur aphoristisch Bezug, läßt die Frage nach dem Verhältnis von philosophischer und christlicher Sittenlehre unerörtert und klammert überhaupt die Prinzipienlehre weitgehend aus der Betrachtung aus. So ergeben sich in der Darstellung mancherlei Unklarheiten und [154] Fehler. Der folgenreichste Irrtum, der durch die ganze Arbeit hindurchgeht, dürfte das Mißverständnis dessen sein, was Schleiermacher in der Christlichen Sittenlehre die innere und äußere Sphäre nennt. Der Verfasser setzt diese Unterscheidung gleich der von Kirche und Welt. „Solange die Kirche noch in der Welt — und das heißt im Gegensatz zur Welt — existiert, bildet sie nur den inneren Kreis, die innere Sphäre alles Lebens, während die Welt, die nach der C. S. durch Staat und Gesellschaft repräsentiert ist, noch die äußere Sphäre darstellt, solange sie noch nicht Kirche ist, sondern nur Vorstufe zu derselben" (S. 16, vgl. S. 22 u. ö.). „Die vollkommene Kirchwerdung der Menschheit ist auch das letzte Ziel — das Ende des Staates" (S. 32). Das sind Ideen, die Schleiermacher völlig fremd sind. Der Unterschied von innerer und äußerer Sphäre betrifft nicht das Verhältnis der Kirche zu der ihr entgegengesetzten Welt (wie es Thema der Ekklesiologie der Glaubenslehre ist), er betrifft vielmehr das Verhältnis der Kirche zu den anderen wesentlichen Formen menschlich-geschichtlichen Lebens, zu den anderen „Kulturbereichen", so wie sie in Schleiermachers philosophischer Ethik entfaltet werden. Der — in der philosophischen Ethik entwickelte — Kirchenbegriff ist im übrigen Grundbegriff nicht nur der Christlichen Sittenlehre, sondern der gesamten Theologie Schleiermachers. In der „Christlichen Sitte" kommt seine tragende Funktion allerdings besonders schön zum Ausdruck. Darauf hingewiesen zu haben, ist das Verdienst der Samsonschen Arbeit.

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Nicht die theologische, sondern die philosophische Sittenlehre ist das Thema der — aus einer Preisaufgabe der Kopenhagener Universität hervorgegangenen — Schrift von Poul Henning J0rgensen „Die Ethik Schleiermachers". Die zentrale Bedeutung, welche die philosophische Ethik für das Gesamtwerk Schleiermachers hat, ist hier gut herausgestellt. Die Arbeit bietet mehr, als der Titel verspricht. Der Verfasser stellt zunächst in Teil I (Das Sein) die „Ontologie", in Teil II (Sein und Wissen) die „Erkenntnistheorie" Schleiermachers dar. Nach diesen allgemeinen philosophischen Voraussetzungen kommt dann in Teil III (Sein und Tun) die Ethik selber nach wesentlichen Grundzügen und Grundthemen zur Sprache. Teil IV (Sein und Sollen) behandelt eines dieser Grundthemen ausführlicher: Schleiermachers Ablehnung der Imperativischen und sein Eintreten für eine beschreibende, indikativische Ethik samt den damit gesetzten Problemen und Konsequenzen. Teil V (Sein und Gefühl) schließt eine Erörterung der Christlichen Sittenlehre und einiger theologischer Themen an. Die Darstellung bleibt immer nahe an den Texten, sie bietet eine große Zahl von Zitaten und Belegen, wobei freilich gelegentlich frühe und späte Äußerungen Schleiermachers zu unbefangen und undifferenziert nebeneinander gestellt sind. Die Fülle des behandelten Stoffes ist übergroß. Die Interpretation kann so notwendig nur nach sehr allgemeinen und zumeist formalen Gesichtspunkten erfolgen. Vor allem wird die für Schleiermachers Denken charakteristische Dialektik der relativen Gegensätze vom Verfasser immer neu herausgearbeitet. Handelt es sich dabei zunächst um ein seit jeher bekanntes formales Charakteristikum, so erblickt J0rgensen hier nicht nur das eigentliche Geheimnis des Schleiermacherschen Systems sondern zugleich dessen „Grundschaden" (S. 37). Seine These geht dahin, „daß Schleiermachers Gegensatzdenken in Wirklichkeit gar kein solches ist" (S. 41), daß „immer das Identitätsprinzip, der Gesichtspunkt der Nicht-Differenz... bei Schleiermacher den Sieg davonträgt" (S. 103, vgl. S. [155]38, 80 ff., 189). Konsequent ist dann auch die Behauptung, „daß man Schleiermacher nur mit scheinbarem Recht einen Vorkämpfer für die Individualität genannt" habe (S. 20), denn er rede zwar oft über das Individuelle, habe „sich aber nicht ganz klar gemacht..., was er damit meint" (S. 102). Das sind kühne Thesen, an deren zureichender Begründbarkeit man dann doch Zweifel haben wird. In einer Hinsicht bietet die Arbeit weniger, als der Titel zu versprechen scheint. Die Ethik Schleiermachers ist vor reichlich hundert Jahren schon einmal Thema einer Kopenhagener Preisaufgabe gewesen. Aus ihr ist die bisher ausführlichste und umfassendste Gesamtdarstellung hervorgegangen: Franz Vorländer, „Schleiermachers

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Sittenlehre", Marburg 1851. Diese Arbeit ist überholt, seit Otto Braun 1913 zum erstenmal alle Ethik-Entwürfe Schleiermachers vollständig abgedruckt hat. Eine Arbeit, welche die verschiedenen Entwürfe Schleiermachers differenziert darstellt, ist so eine schon lange bestehende Aufgabe. J0rgensen hat sie nicht gelöst und auch gar nicht lösen wollen. Er geht auf die Entwicklung der Schleiermacherschen Ethik nicht ein, scheint auch die Braunsche Ausgabe nicht zu kennen, sondern zitiert nach der alten Ausgabe von Alexander Schweizer (1835). Die genannte Aufgabe harrt also noch der Bearbeitung. Klaus-Martin Beckmanns Arbeit: „Der Begriff der Häresie bei Schleiermacher" könnte zunächst wegen ihrer Thematik verwundern, denn der bekannte Häresieparagraph in Schleiermachers Glaubenslehre bietet an sich keine Verstehensprobleme von eigenem Gewicht. Die Wahl dieses Themas erklärt sich jedoch aus einer Verbindung von historischen und systematischen Interessen. Die eigentliche Absicht des Verfassers geht dahin, „die Schleiermachersche Konstruktion der Häresie für heute fruchtbar zu machen" (S. 115). Die Besinnung über Schleiermacher ist Ausgangsposition für den Versuch, „den Begriff und die Konstruktion der Häresie für heute neu zu fassen" (S. 9). Die Anlage der Arbeit entspricht dieser Zielsetzung. Kapitel I (Die Bestimmung der Häresie in der Einleitung zur Glaubenslehre) zeichnet die einschlägigen Ausführungen Schleiermachers sorgfältig nach, wobei beide Auflagen der Glaubenslehre wie auch die „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" in umsichtiger Weise berücksichtigt sind. Kapitel II (Grundlagen der Häresiebestimmung in Christologie und Soteriologie) und Kapitel III (Kriterien der Häresiebestimmung im Blick auf Kirche, Schrift und Konfessionsspaltung) bieten eine umfassende kritische Erörterung der theologischen Voraussetzungen des Schleiermacherschen Häresiebegriffs. Seine Konzeption wird als in sich „schlüssig und einleuchtend" gewürdigt (S. 50), zugleich jedoch kritisch eingegrenzt, indem der Verfasser auf Schleiermachers „Abstand von der reformatorisch-kirchlichen Lehre" hinweist (S. 60) und den „Neuansatz Barths Schleiermacher gegenüber zum Austrag kommen" läßt (S. 62). Kapitel IV unternimmt eine historische Prüfung des Schleiermacherschen Häresienschemas, dessen formale Struktur bei der in Kapitel V gegebenen materialen Neubestimmung von Begriff und Konstruktion der Häresie festgehalten wird. Die Arbeit ist so ein interessantes Dokument für Möglichkeiten und Grenzen einer Schleiermacherrezeption vom „Neuansatz Barths" aus. Das Buch von Paul Seifert: „Die Theologie des jungen Schleiermacher" hat ganz anderen Charakter. Es ist ein Beitrag zur Schleiermacherfor-

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schung im eigentlichen Sinn. Der Titel ist etwas weit gegriffen. Genauer handelt es sich [156] um eine Untersuchung über Schleiermachers Reden in ihrer Erstgestalt von 1799. Gesichtspunkt der Untersuchung ist die Stellung zum Christentum, die Schleiermacher in diesem Frühwerk einnimmt. Unter Aufnahme einer bereits von Otto Ritschi (Schleiermachers Stellung zum Christentum in seinen Reden über die Religion, 1888) formulierten These ist es das Anliegen des Verfassers, zu zeigen, daß es sich in den Reden nicht um ein Dokument romantischer Religionsphilosophie handelt, sondern „um eine mit philosophischen Mitteln vorgetragene Apologie eines bestimmten Verständnisses des Christentums" (S. 15), „daß es die Endabsicht des Redners war, ein Zeugnis für das Christentum abzulegen" (S. 187). Hand in Hand mit dieser ersten These geht eine zweite, nach der man in Schleiermachers Reden mit „exoterischen", uneigentlichen Argumentationsreihen zu rechnen hat, die sein eigentliches Anliegen vielfach verdecken. Diese Grundthesen stimmen im wesentlichen mit denen Otto Ritschis überein, sind aber gegenüber seinen groben Aufstellungen in der Durchführung mannigfach präzisiert und verfeinert. Teil I der Untersuchung (Das Buch und die Zeit) erläutert und begründet die These vom „Exoterismus" der Reden. Die Eigenart vor allem der zweiten Rede (Über das Wesen der Religion) wird aus ihrer apologetischen Form, nicht aber aus ihrem romantischen Charakter oder aus ihren philosophischen Intentionen verstanden. Teil II (Zeugnis und Wirklichkeit) hebt den „prophetischen" Charakter der Reden hervor. Der Redner wird als Prediger aufgefaßt, der „die Reden selbst als ein Stück der Verkündigung ansieht, die ihm als einem Geistlichen im echten Sinn aufgetragen ist" (S. 114). Eine Analyse des Schleiermacherschen Individualitätsgedankens, seines Mittlerbegriffs und seines Christentumsverständnisses gibt die näheren Erläuterungen. Teil III der Untersuchung (Der Weg und das Ziel) beschäftigt sich im Rückblick noch einmal mit Methode und Aufbau der Reden und markiert die Grenzen der Schleiermacherschen Konzeption. Das Buch ist reich an Einzelbeobachtungen, die im Rahmen dieser Besprechung nicht gewürdigt werden können. Hervorzuheben ist die Einbeziehung der vielfach vernachlässigten Predigten Schleiermachers in die Untersuchung, sodann die reichliche Berücksichtigung der geistigen Umwelt Schleiermachers. Die beiden Grundthesen des Buches scheinen mir dann doch verfehlt. Ich würde meinen, der Fehler liege bereits in der Fragestellung. Der Verfasser übernimmt den Grundansatz der Schleiermacherkritiker, gegen die er sich sonst wendet (z. B. Emil Brunner). Auch für ihn sind Christentum, christlicher Glaube und christliche Predigt letztlich fixe Größen, die zu

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Idealismus und Romantik in einem exklusiven Verhältnis stehen. Es mag sich mit dieser Sicht der Dinge verhalten wie es will, zur Grundlage historischer Interpretation taugt sie nicht. Die Frage, ob die Reden als Apologie des Christentums zu verstehen seien oder als romantische Religionsphilosophie, ist falsch gestellt, weil für Schleiermacher beides offenbar nicht aus- sondern ineinander gelegen hat. Sinnvoll ist die Frage nach dem Christentumsverständnis, das in den Reden vorausgesetzt ist. Da dürfte es aber dabei bleiben, daß dieses Christentumsverständnis geistesgeschichtlich kaum anders charakterisiert werden kann denn als romantisch und daß es mit der in den Reden entfalteten romantischen Religionstheorie aufs beste zusammenstimmt. Überblickt man abschließend die genannten Monographien, so zeigen sich bei allen Unterschieden der Thematik und der Behandlungsweise doch auffällige Gemeinsamkeiten. Auffällig ist die mehrfachbegegnende Verbindung von histo-[157]rischen und systematischen Interessen. Auffällig ist die häufige Überfremdung der Schleiermacherdarstellung durch Begriffe des zeitgenössischen theologischen Vokabulars. Auffällig ist die Zahl der Arbeiten, die nicht eigentlich als Beitrag zur Schleiermacherforschung angesehen werden wollen und können. Vergleichsweise selten wird an die ältere Schleiermacherforschung angeknüpft. Großen Raum nimmt dagegen die Auseinandersetzung mit der Schleiermacherkritik der dialektischen Theologie ein. In den Vorworten fast aller Arbeiten spricht sich in dieser Hinsicht ein Gegensatzbewußtsein aus. Die Argumente eben dieser Schleiermacherkritik erfreuen sich dann aber doch eines fast kanonischen Ansehens. Die in ihnen fixierte Auseinandersetzung mit Schleiermacher hat ihren geschichtlichen Ort und ihr geschichtliches Recht. Aber die formelhafte Wiederholung dieser Auseinandersetzung, die Art und Weise, wie da in stehenden Wendungen Schleiermacher teils gelobt, mehr aber getadelt wird, das ist oft nicht ohne geheime Komik. Vielfach scheint die Vorstellung zu walten, als fielen bei der Beschäftigung mit Schleiermacher historisches und systematisches theologisches Interesse so auseinander, daß sie erst durch die kritische Anstrengung des Monographen zusammengebunden werden müßten. Der neue Einsatz der Beschäftigung mit Schleiermacher ist trotzdem verheißungsvoll. Angesichts der mannigfachen Überlieferungsbrüche in der jüngeren evangelischen Theologiegeschichte kann heute die Distanz zu Schleiermacher durchweg vorausgesetzt werden. Vielleicht könnte gerade dieser Umstand es mehr als bisher möglich machen, daß die präfabrizierten Waffen der Kritik fürs erste beiseite gelegt werden. Wenn Schleierma-

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361

chers Werk sich wieder unverdeckt zeigt — und wie könnte es das anders als in einer unbefangenen historischen Betrachtung —, dann könnte auch das kritische Verhältnis neue Lebendigkeit bekommen, unser kritisches Verhältnis zu Schleiermacher und, wer weiß, vielleicht auch sein kritisches Verhältnis zu uns.

23. Schleiermacher-Interpretation heute [1976]* I. Ein Bericht über die neuere Schleiermacher-Interpretation kann sich auf den vergleichsweise knappen Zeitraum von etwa anderthalb Jahrzehnten konzentrieren. In diesen Jahren hat sich in der evangelischen Theologie eine neue Zuwendung zu ihrem größten neuzeitlichen Lehrer vollzogen, die förmlich den Charakter einer Wiederentdeckung gehabt hat. Diese Entwicklung ist nicht nur an einer Vielzahl einschlägiger Monographien und Aufsätze abzulesen, und sie betrifft nicht nur die SchleiermacherForschung im engeren Sinne. Sie zeigt sich ebenso an der Häufigkeit und an der Art der Zitierung Schleiermachers in der allgemeinen theologischen Debatte; sie zeichnet sich in Vorlesungsverzeichnissen und in Examensthemen ab. Schleiermachers 200. Geburtstag im Jahre 1968 hat Beiträge zur Belebung, aber auch schon zur Dokumentation des neuen Interesses gebracht.1 Einer der interessantesten ist der Beitrag Karl Barths gewesen, ein Nachwort zu einer kleinen Schleiermacher-Auswahl 2 , in dem er die Geschichte seines kritischen Verhältnisses zu Schleiermacher resümiert hat, mit der Pointe, daß das abschließende Urteil ausdrücklich offen bleibt. Vgl. Bibliographie Nr. 36 Vgl. den Vortrag Martin Doernes auf der Gedenkfeier der Theologischen und Philosophischen Fakultät in Göttingen (Protestantische Humanität. Göttinger Universitätsreden Nr. 54, 1969) und den Gerhard Ebelings in Berlin (Frömmigkeit und Bildung, gedruckt in: Fides et communicatio. Festschrift für Martin Doerne, 1970, S. 69—100; wieder abgedruckt in: Wort und Glaube, 3. Band, 1975, S. 60-95). Einen Überblick über die Breite der Schleiermacher-Debatte vermitteln die ihr gewidmeten Hefte im Jg. 1968 der Neuen Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie (mit Beiträgen von F. Kaulbach, W. Schultz, W. Trillhaas, S. Keil, E. Lichtenstein, M. Doerne, H.-W. Schütte) und im Jahrgang 1969 der Archives de Philosophie (mit Beiträgen von M. Schmidt, H.-G. Gadamer, H. Kimmerle, M. Simon, R. Stalder und mir). Nachwort zu „Schleiermacher-Auswahl", hg. v. Heinz Bolli (Siebenstern-Taschenbuch 113/114), S. 290-312.

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

Die neue Beachtung, deren Schleiermacher sich erfreut, bildet einen auffälligen Kontrast zu der jahrzehntelangen Vernachlässigung, die ihm seit den späten zwanziger Jahren zuteil geworden war. Die nach dem 1. Weltkrieg aufgetretene Theologie, vor allem die Gruppierung der sogenannten dialektischen Theologie, hatte ihre Programme der theologischen Wende zur Absage an die Gesamtentwicklung neuzeitlicher Theologie gesteigert. Ihre Verdikte über „das" 19. Jahrhundert, über Neuprotestantismus, Liberalismus, Subjektivismus hatte sie exemplarisch exekutiert an dem Theologen, der als „Kirchenvater" jenes Jahrhunderts gerühmt worden war und der nun als Repräsentant eines epochalen Abfalls und Irrtums eingestuft wurde. Das Urteil über den besonderen Rang seines Werkes blieb dabei durchaus in Geltung, nur gewann es im Kontext der vermeintlichen Irrtumsgeschichte einen höchst fragwürdigen Sinn. Die ostentative Abgrenzung gegen Schleier-[323]macher übernahm nun in der theologischen Debatte diejenige Verständigungsfunktion, die früher die Bezugnahme auf seine Autorität gehabt hatte. Theologischer Verwandtschaft oder auch nur Nachbarschaft zu Schleiermacher verdächtig zu sein, galt als hochproblematisch, und der Versuch, solche Beziehungen nachzuweisen, wurde zum gern gehandhabten Mittel der Polemik. Daß die Herrschaft solcher Wertvorurteile der Beschäftigung mit Schleiermacher nicht förderlich sein konnte, liegt auf der Hand. War bei den neuen Wortführern die Kritik an seiner Theologie durch Lektüre und Kenntnis fundiert gewesen, so mußten den Schülern und Jüngern der neuen Lehre dergleichen Kenntnisse bald als unnützer Ballast erscheinen. Im Lehrbetrieb der theologischen Fakultäten wurde die Behandlung von Schleiermacher-Texten aus der Regel zur Ausnahme, nicht zuletzt deswegen, weil auch die Verlage den veränderten Konstellationen sich angepaßt hatten und Schleiermachers Schriften allenfalls im Antiquariat erstanden werden konnten. Die Schleiermacher-Forschung wurde unter diesen Bedingungen auf eine quasi insulare Existenz reduziert, in der sie überdies dem Relevanzzweifel, wenn nicht gar einem Illegitimitätsverdacht ausgesetzt blieb. Diese Feststellungen beziehen sich nur auf das Ansehen Schleiermachers in der Theologie. Sie betreffen nicht die Geltung, die er in anderen wissenschaftlichen Fächern gewonnen hat, als Übersetzer Platos, als Ethiker, als Religionstheoretiker, als Begründer der neueren Hermeneutik. Sie gelten vor allem nicht für die Pädagogik, die ihn zu ihren großen Lehrmeistern zählt und die auf eine eigene Tradition der Forschung und Interpretation verweisen kann. Der instruktive Bericht, den Theodor

23. Schleiermacher-Interpretation heute [1976]

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Schulze 1961 über „Stand und Probleme der erziehungswissenschaftlichen Schleiermacher-Forschung in Deutschland" gegeben hat 3 , konstatiert hinsichtlich der Würdigung Schleiermachers als Anfänger der modernen Pädagogik einen fraglosen Konsensus. Die seitens der Theologie vollzogene Absage an Schleiermacher ist im übrigen auch für ihr Verhältnis zur Pädagogik folgenreich gewesen. Diese Absage hat eine gemeinsame Bezugsgröße ausfallen lassen und so den zeitweiligen Abbruch der Beziehungen verstärkt und bekräftigt. Daß die neuere pädagogische Schleiermacher-Literatur dessen theologisches Werk zumeist völlig unberücksichtigt läßt, das wird man zumindest teilweise als Nachund Rückwirkung jener Entwicklung ansprechen können. Zur Orientierung über die Bedingungen, Tendenzen und Themen der Diskussion seit etwa 1960 sollen zunächst heute zugängliche Ausgaben vorgestellt werden, sodann einige Einführungen und Darstellungen, die dem Gesamtwerk gewidmet sind, schließlich soll auf wichtige Einzelthemen eingegangen werden. Angesichts der Vielzahl der neueren Veröffentlichungen [324] kann es sich dabei nicht um einen Literaturbericht, sondern nur um auswählende Hinweise handeln. Die Literatur bis einschließlich 1964 ist verzeichnet in der Bibliographie, die der amerikanische Theologe Terrence N. Tice 1966 vorgelegt hat. 4 Sie ist die erste vollständige Schleiermacher-Bibliographie überhaupt und schon deswegen — ungeachtet einiger Mängel in den Details — von allen einschlägig Interessierten mit lebhaftem Dank begrüßt worden. Daß diese Leistung aus den Vereinigten Staaten kommt, ist nicht ohne Signifikanz, denn die amerikanischen Veröffentlichungen machen einen beachtlichen Anteil der neueren Schleiermacher-Literatur aus.5

II. Charakteristisches Indiz und Resultat der zunehmenden Beachtung, die Schleiermacher auch im akademischen Lehrbetrieb gefunden hat, sind 3

4

5

Paedagogica Historica, Jg. 1961, S. 291 — 326. — Der Aufsatz ist teilweise wieder abgedruckt in einem Studienbuch, das ältere und neuere Beiträge der pädagogischen Schleiermacher-Literatur auszugsweise dokumentiert: Schleiermacher. Interpretation und Kritik, hg. v. Berthold Gerner, 1971. Schleiermacher Bibliography with Brief Introductions, Annotations and Index. Princeton Pamphlets No. 12, Princeton, New Jersey 1966. — Das Verzeichnis umfaßt rund 2.000 Titel. Tice erwähnt „the introduction of Schleiermacher seminars in most graduate centers since about 1958" (S. 138).

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

die Ausgaben, die in jüngerer Zeit erschienen sind. Neudrucke älterer Ausgaben sind relativ zahlreich vertreten; es sind jedoch auch wichtige neue Editionen zu nennen. In einem Neudruck liegen vor die vier Bände „Schleiermachers Werke in Auswahl", die Otto Braun und Johannes Bauer zuerst 1910/13 herausgegeben hatten. Der Neudruck (1967) reproduziert die 2. Auflage von 1927/28. Die Ausgabe berücksichtigt das Gesamtwerk. Die Bände sind allerdings recht unterschiedlich gestaltet. Sie bieten teils ausgewählte Texte, teils vollständige Schriften, teils sogar kritische Editionsleistungen. Das letztere trifft zu für den 2. Band (Entwürfe zu einem System der Sittenlehre), in dem Otto Braun Schleiermachers Manuskripte zu seinen Vorlesungen über (philosophische) Ethik zum ersten Male vollständig ediert hat. Die drei Schriften Schleiermachers, die — jedenfalls in der Theologie — die eigentlichen Träger seiner Wirkung gewesen sind, liegen in neuen Einzelausgaben vor. Von seiner wohl berühmtesten Schrift — „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" gibt es gleich drei Ausgaben, die sich hinsichtlich ihres Gebrauchswertes nur wenig unterscheiden. 6 Alle drei bieten den Text der Erstfassung von 1799. Die beiden neueren Ausgaben folgten damit dem Vorbild der ebenfalls wieder vorgelegten Ausgabe von Rudolf Otto (1899), welche die Bevorzugung der Erstfassung eingebürgert hat. Da diese Studienausgabe zu Beginn des Jahrhunderts weit verbreitet war, hat sie das SchleiermacherBild der damaligen Theologie, gerade auch das der von ihm sich abkehrenden Nachkriegstheologie stark geprägt. Daß es gegenwärtig zwar drei Ausgaben der Reden von 1799, jedoch keine der letzten von Schleiermacher besorgten Fassung (1831) gibt, ist ebenso [325] kurios wie bedauerlich. Schleiermacher hat bei Gelegenheit der 2. Auflage (1806) den Reden eine starke Überarbeitung angedeihen lassen, deren Absicht und Bedeutung ein eigenes Thema der Forschung darstellt. Bei der 3. Auflage (1821) hat er jeder der fünf Reden Erläuterungen beigegeben, die ihrerseits Beachtung verdienen. Als zweites Hauptwerk ist das schmale, aber gewichtige Büchlein zu nennen, das als Grundlage für Schleiermachers Vorlesungen über theologische Enzyklopädie gedient hat, in dem er also seine Theorie der wissenschaftlichen Theologie entwickelt: „Kurze Darstellung des theologischen Studiums" (1811; 2. Auflage 1830). Eine kritische Ausgabe, die 6

Hg. v. Hans-Joachim Rothert (Philosophische Bibliothek 255) 1958; v. Carl Heinz Ratschow (Reclam); v. Rudolf Otto (1899) 19676.

23. Schleiermacher-Interpretation heute [1976)

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beide Auflagen berücksichtigt, hat 1910 Heinrich Scholz vorgelegt; sie ist seit 1961 mehrfach neu gedruckt worden. Von Schleiermachers großer Dogmatik „Der christliche Glaube" hat Martin Redeker 1960 eine kritische Edition der 2. Auflage von 1830/31 veranstaltet. (Die auf dem Titelblatt angegebene Zählung als 7. Auflage, die durch Berücksichtigung verschiedener Abdrucke des vorigen Jahrhunderts zustande kommt, ist irreführend.) Von der Glaubenslehre ist — anders als von den Reden — stets nur der Text der 2. Auflage neu gedruckt worden, die eine erhebliche Umarbeitung der Erstfassung von 1821/22 darstellt. Es gilt jedoch auch hier, daß die Erstfassung ein eigenes Interesse verdient und daß sie einer kritischen Edition durchaus würdig ist.7 Eine wichtige Ergänzung zu den genannten theologischen Hauptwerken stellen die drei Bände „Kleine Schriften und Predigten" bereit, die Hayo Gerdes und Emanuel Hirsch 1969/70 herausgegeben haben. In ihnen sind u. a. wieder zugänglich gemacht: in Band I die „Monologen" (1800) und „Die Weihnachtsfeier" (1806), in Band II die wichtigsten kirchenpolitischen Schriften, in Band III die Augustana-Predigten von 1830 sowie ausgewählte Festpredigten. Einen Auswahlband „Predigten" hat 1969 auch Hans Urner vorgelegt. Von den Vorlesungen und Schriften zur Pädagogik liegen zwei neuere Studienausgaben vor, eine zweibändige, die Erich Weniger unter Mitwirkung von Theodor Schulze veranstaltet hat (Pädagogische Schriften, 1957) und eine einbändige von Ernst Lichtenstein (Ausgewählte pädagogische Schriften, 1959, 19642). Die genannten Ausgaben sind durchweg von der Absicht bestimmt, Schleiermachers Werke überhaupt wieder zugänglich zu machen. An kritischen Editionen ist neben der Ausgabe der Glaubenslehre vor allem noch die der „Hermeneutik" zu nennen, die Heinz Kimmerle veranstaltet hat (1959; 2. verbesserte und erweiterte Auflage 1974).8 Die alte Ausgabe der Sämtlichen Werke (1834/64) ist in ihrer Hauptmasse nach wie vor der Ersetzung durch [326] kritische Editionen bedürftig. Nicht in den Sämtlichen Werken enthalten ist der Briefwechsel, an dem keiner vorbeigehen darf, der Schleiermacher gründlicher kennenlernen will. Die umfänglichste Sammlung liegt vor in den vier Bänden „Aus Schleiermachers Leben. In Briefen", 1858/64 (zumeist 7

Eine Ausgabe wird an der Schleiermacher-Forschungsstelle in Kiel vorbereitet. " Eine ungedruckte Edition von Manuskripten und Nachschriften zu Schleiermachers Vorlesung über die Christliche Sittenlehre im WS 1826/27 liegt von Hermann Peiter vor (Das christliche Leben nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt).

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

zitiert als Ausgabe von Jonas und Dilthey, was allerdings nur für den 3. und 4. Band zutrifft). Da seither veröffentlichte Einzelausgaben — die Bibliographie von Tice zählt immerhin 88 Titel — stets nur partielle Ersetzungen und Ergänzungen gebracht haben, hat die vierbändige Sammlung trotz mannigfacher Mängel bis heute ihre Bedeutung behalten. 1974 ist ein fotomechanischer Nachdruck erschienen.

III. Im Jahre 1968, pünktlich zum 200. Geburtstag Schleiermachers, sind zwei Darstellungen seines Lebens und seines Werkes erschienen, welche die Funktion einer Einführung übernehmen können. Friedrich Wilhelm Kantzenbach hat „Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten" dargestellt (in der Reihe „rowohlts monographien"). Das Schwergewicht seiner Darstellung liegt im Biographischen und hier dann bei der Jugend- und Werdegeschichte. Der Ausstattung der Reihe entsprechend sind zahlreiche Bilder beigegeben; im Anhang findet sich eine relativ umfängliche Auswahlbibliographie. In Martin Redekers Göschen-Band „Friedrich Schleiermacher. Leben und Werk" bildet die biographische Skizze den Rahmen für die Darstellung des philosophischen und theologischen Werkes, auf der der eigentliche Akzent liegt. Neben diesen beiden Schriften, die sich angesichts ihrer unterschiedlichen Akzentuierung in gewisser Weise ergänzen, muß noch die Theologiegeschichte Emanuel Hirschs genannt werden. Die zwei großen Kapitel, die sie Schleiermacher widmet, sind als die maßgebende und am besten orientierende Gesamtdarstellung seiner Theologie — in ihren verschiedenen Phasen und mit ihren philosophischen Voraussetzungen und Implikationen — anzusprechen. 9 Schließlich ist noch auf ein Werk hinzuweisen, das über mehr als 100 Jahre seinen Rang bewährt und seinen Glanz bewahrt hat. Es handelt sich um Wilhelm Diltheys hochberühmte Biographie „Leben Schleiermachers", von Redeker in 3. Auflage 1970, hundert Jahre nach dem ersten Erscheinen, neu herausgegeben.10 Dilthey hatte eine zugleich genetische und systemati9

10

Geschichte der neuern evangelischen Theologie, 5 Bände (1949/54); 1975s; 46. Kapitel: Die Anfänge Schleiermachers (4. Band, S. 490—582), 51. Kapitel: Schleiermachers Philosophie und Theologie in ihrer Reifezeit (5. Band, S. 281—364). Eine 2. Auflage war 1922 in der Bearbeitung von Hermann Mulert erschienen, der druckreife Abschnitte der geplanten Fortsetzung aus Diltheys Nachlaß hinzugefügt, jedoch die in der ersten Auflage anhangsweise mitgeteilten „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers" weggelassen hatte. Die letzteren fehlen auch in der 3. Auflage, die in

23. Schleiermacher-Interpretation heute [1976]

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sehe Gesamtdarstellung des Lebens und Denkens Schleiermachers geplant, die [327] zunächst auf zwei, später auf drei Bände berechnet war. Der erste Band, in dem er die Lebensgeschichte Schleiermachers bis zum Jahre 1802 geschrieben hat, ist dann der einzige geblieben. Er ist bis heute grundlegend für das Verständnis der Werdegeschichte, trotz mannigfacher Ergänzungen und Korrekturen, die das von Dilthey gezeichnete Bild erfahren hat. Manuskripte und Manuskriptfragmente aus Diltheys Nachlaß, die Teile der geplanten Darstellung der Schleiermacherschen Systematik enthalten, hatte Redeker bereits 1966 veröffentlicht. 11

IV. Von den zahlreichen neueren Arbeiten, die einzelne Themen und Teile des Schleiermacherschen Werkes behandeln, können hier nur wenige genannt werden, die je auf ihre Weise repräsentativ sind für Tendenzen und Probleme der Forschung, auch für den Bezug der Schleiermacher-Interpretation zur allgemeinen theologischen Debatte. Die Reden haben auch in der neuen Zuwendung zu Schleiermacher das besondere Gewicht behalten, das sie in seiner Wirkungsgeschichte seit je gehabt haben. Der Umstand, daß vornehmlich auf dieses Buch die theologische Verwerfung Schleiermachers gezielt hatte, wirkt in der neueren Literatur insofern nach, als die Abwehr jener Kritik zumindest als Nebenabsicht der Interpretation eine eigene Rolle spielt.12 Es entspricht der Hochschätzung der Reden, daß sie in der Regel als eigentlicher Zielpunkt der Werdegeschichte des Schleiermacherschen Denkens behandelt werden.13 Daß diese Sicht keineswegs selbstverständlich ist, hat Eilert Herms gezeigt, der — unter dem Gesichtspunkt des wissenschaftlichen Systemkonzepts — die Entwicklung des Schleiermacherschen Denkens bis zum Jahre 1804, also bis zu Beginn seiner Hallenser Universitätswirksamkeit, dargestellt hat. 14 einem ersten Halbband Diltheys Text von 1870 und in einem zweiten die von Mulert veröffentlichten Stücke bietet. 11 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, 2. Band: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie, 2 Halbbände, 1966. 12 Eine materialreiche historische Analyse der Reden, verbunden mit der These, daß Schleiermacher in ihnen nicht als romantischer Religionsphilosoph, sondern als christlicher Prediger spreche, bietet Paul Seifert: Die Theologie des jungen Schleiermacher, 1960. " Vgl. v. a. die Arbeit von Erwin H. U. Quapp: Christus im Leben Schleiermachers, 1972. Sie stellt das Werden seiner Gedanken bis zum Jahre 1796 dar, schlägt dabei jedoch ständig den Bogen zu den Reden, deren Interpretation das eigentliche Ziel ist. 14 Herkunft, Entfaltung und erste Gestalt des Systems der Wissenschaften bei Schleiermacher, 1974.

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

Zu der kleinen Schrift „Die Weihnachtsfeier" (1806) ist eine meisterliche Analyse aus der Feder Emanuel Hirschs zu erwähnen, enthalten in seiner Schrift „Schleiermachers Christusglaube" (1968). Die Schrift bietet daneben zwei Studien über „Schleiermachers Oster- und Himmelfahrtspredigt" sowie über „Schleiermachers Predigt von Jesu Sterben am Kreuz". Auf diese ist um so nachdrücklicher aufmerksam zu machen, als die Predigten Schleiermachers, die in den Sämtlichen Werken immerhin 10 Bände ausmachen, von den Interpreten zumeist vernachlässigt werden. In diesem Zusammenhang ist ferner hinzuweisen auf den Neudruck der einzigen neueren Gesamtdar-[328]stellung zu Schleiermachers Predigten: Wolfgang Trillhaas, „Schleiermachers Predigt und das homiletische Problem" (1933) 19752. In den theologischen Verhandlungen neuerer Zeit haben vornehmlich die hermeneutische und die wissenschaftstheoretische Debatte spezifischen Anlaß zur Erinnerung an und zum Rückgriff auf Schleiermacher gegeben. Während seine Hermeneutik, deren Bedeutung zuerst von Dilthey ans Licht gestellt worden war, vorzugsweise hinsichtlich ihres historischen Ranges gewürdigt worden ist15, hat seine „Kurze Darstellung" ihren Rang als wissenschaftstheoretisches Grunddokument der neuzeitlichen Theologie in einem über das Historische hinausreichenden Sinn bewahrt. Schleiermachers funktionale Definition der Theologie, welche deren wissenschaftliche Organisation von ihrer Aufgabe, von ihrem „Praxisbezug" her begreift, enthält sowohl hinsichtlich des Problems der „Kirchlichkeit" der Theologie wie hinsichtlich ihres Verhältnisses zu anderen Wissenschaften wie hinsichtlich ihrer Fächergliederung Gesichtspunkte, die eine überraschende Aktualität beweisen.16 Auch bei anderen Themen sind Bedingungen und Bedürfnisse der aktuellen Situation zumindest als Impulse der Interpretation wirksam geworden. Ich nenne vor allem den Religionsbegriff (der Reden)17, die 15

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Vgl. dazu Heinz Kimmerle: Hermeneutische Theorie oder ontologische Hermeneutik, Zeitschrift für Theologie und Kirche, 59. Jg., 1962, S. 114-130. - Unter den Texten, die M. Redeker aus Diltheys Nachlaß veröffentlicht hat, ist das wohl interessanteste Stück dessen Preisschrift von 1860 über Schleiermachers Hermeneutik (a. a. O. — vgl. Anm. 11 — S. 595—787). Diltheys spätere Veröffentlichungen zu Schleiermachers Hermeneutik haben diese Schrift auszugsweise verwertet, die sich nach ihrer vollständigen Veröffentlichung nun als die wichtigste Darstellung zum Thema erweist. Vgl. dazu die förmliche Rezeption in dem Gutachten „Theologiestudium. Entwurf einer Reform" von Wolfgang Herrmann und Gerd Lautner, 1965 (S. 46 ff.); daneben die kritische Diskussion bei Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, 1973, S. 247 ff. Vgl. dazu Friedrich Hertels Interpretation: Das theologische Denken Schleiermachers, untersucht an der 1. Auflage seiner Reden „Über die Religion", 1965.

23. Schleiermacher-Interpretation heute [1976]

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Religionstheorie der Glaubenslehre („Gefühl Schlechthinniger Abhängigkeit")18, den Kirchenbegriff19, die Christologie20. Schleiermacher hat seine theologische Prinzipienlehre in der „Einleitung" zu seiner Glaubenslehre (teilweise) entwickelt.21 Er selber hat für diesen The-[329]menkomplex in seiner Aufgliederung der Theologie den Titel „Philosophische Theologie" gebraucht. In diesem Ausdruck deutet sich an, daß die viel erörterte Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie in seinem Werk dann fehlgeht, wenn sie von Alternativvorstellungen geleitet wird. Schleiermachers Bestimmung dieses Verhältnisses erschließt sich, wenn die Wissenschaftssystematik rekonstruiert wird, in der sich die Teile seines vielschichtigen Werkes einander zuordnen.22 Seine philosophischen Entwürfe, vor allem seine Vorlesungen über „Dialektik"23 und „Ethik" verdienen im übrigen in sich selber Beachtung, nicht nur hinsichtlich ihrer Bedeutung für seine Theologie.

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Vgl. Gerhard Ebeling: Schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl als Gottesbewußtsein, in: Mutuum Colloquium. Festgabe für Helmuth Kittel, 1972, S. 89—108; wieder abgedruckt in: Wort und Glaube, 3. Band, 1975, S. 116-136. Vgl. dazu das 4. Kapitel in Trutz Rendtorffs Buch „Kirche und Theologie", das „die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie" - dies der Untertitel - erörtert (1966; 19702). Vgl. dazu Dietz Lange: Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich Schleiermacher und David Friedrich Strauß, 1975. — Das Buch ist in dem ersten seiner beiden Hauptteile faktisch eine umfassende Monographie zu Schleiermachers Christologie. Vgl. dazu Doris Offermann: Schleiermachers Einleitung in die Glaubenslehre, 1969; ferner Robert Stalder: Grundlinien der Theologie Schleiermachers. I. Zur Fundamentaltheologie, 1969. Vgl. dazu meine Arbeiten: Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems, 1964; Theologie und Philosophie. Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation, 1974. Vgl. dazu L. Oranje: God en Wereld. De vraag naar het transcendentale in Schleiermachers „Dialektik", Kämpen 1968; ferner Falk Wagner: Schleiermachers Dialektik. Eine kritische Interpretation, 1974.

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

V. Die rasche und durchgreifende Änderung, welche die theologische Einschätzung Schleiermachers in den letzten 15 Jahren erfahren hat, kann nicht übersehen lassen, daß die indirekten Nachwirkungen der jahrzehntelangen Abkehr beträchtlich sind. Sie zeigen sich nicht nur in der Auseinandersetzung mit der Schleiermacher-Kritik, deren Autoritätsdruck immerhin noch groß genug ist, um die Interpreten gelegentlich in die Rolle von Apologeten zu drängen. Daß die Debatte über Schleiermacher so lange als Prinzipienstreit der Dogmatiker geführt worden ist, hat bewirkt, daß Kirchenhistoriker sich aus diesem Feld zunehmend zurückgezogen haben. Ihre Rückkehr wird erhofft. Vorerst ist die theologische SchleiermacherForschung fast gänzlich zur Domäne der systematischen Theologie geworden. Einer Vielzahl von Untersuchungen zu systematisch-theologischen Themen steht ein Minimum an biographisch-historischen Arbeiten gegenüber. Eigene Schwierigkeiten ergeben sich daraus, daß die zeitgenössische Forschung und Interpretation nicht an eine halbwegs kontinuierliche Debatte anknüpfen kann, daß sie vielmehr in vielen Beziehungen auf Vorarbeiten zurückgreifen muß, die bereits vor Jahrzehnten, in einer völlig anderen wissenschaftlichen Umwelt entstanden sind. Welche Bedeutung die Leistungen der älteren Forschung nach wie vor haben, vor allem in editorischer Hinsicht, das läßt sich unschwer an der Zahl der Neudrucke ablesen. Welches andererseits die Dimensionen der unerledigten Aufgaben sind, das tritt in dem dreifachen Sachverhalt vor Augen, daß es keine kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe gibt, keine umfassende Biographie, keine ausführliche Gesamtdarstellung seines philosophisch-theologischen Werkes. In dieser Hinsicht besteht der Ertrag der neuen Zuwendung zunächst einfach darin, daß die Aufgaben nach langer Vertagung überhaupt wieder in den Blick gekommen sind und daß die Zahl der Vorarbeiten zu ihrer Bewältigung zunimmt.

24. Einzelrezensionen zu Schleiermacher-Literatur Hertel, Friedrich: Das theologische Denken Schleiermachers, untersucht an der ersten Auflage seiner Reden „Über die Religion". Studien zur Dogmengeschichte und Systematischen Theologie, Bd. 18, Zwingli-Verlag, Zürich, 1965, 334 S., kart. 27,80 DM. [1966] * Mit Hertels Arbeit — einer Züricher Dissertation, die von Gerhard Ebeling angeregt worden und die ihm auch gewidmet ist — liegt nach dem Buch von Paul Seifert (Die Theologie des jungen Schleiermacher, 1960, vgl. die Besprechung im Theologischen Literaturheft 1965, S. 27) eine zweite neuere Monographie zu Schleiermachers epochemachender und wirkungsreicher Frühschrift vor. Hertel will mit dem Seifertschen Buch, das eine allseitige historische Untersuchung und Einordnung der Reden intendiert, nicht in volle Konkurrenz treten. Seine Absicht ist einerseits begrenzter, sie greift andererseits über eine historische Analyse der Reden hinaus. Der Leitgesichtspunkt seiner Untersuchung wird von ihm selbst markiert durch die Frage, „ob die Theologie Schleiermachers mit Recht Theologie genannt werden kann oder ob der Vorwurf, Schleiermachers Theologie sei im Grunde Philosophie oder Anthropologie, zu Recht besteht" (S. 12). Diese Formulierung empfängt ihre Stichworte unverkennbar von der Schleiermacherkritik, die von der dialektischen Theologie vorgetragen worden ist. Die Auseinandersetzung mit dieser Kritik nennt Hertel als Ursprung und Einsatz seiner Arbeit, diese Auseinandersetzung gibt seinem Buche den Rahmen. Er macht mit Recht geltend, daß eine Antwort auf die so pauschal formulierte Frage sachgemäß nur gewonnen werden kann im Eingehen auf Schleiermachers eigenes Verständnis der theologischen Aufgabe. Seine Untersuchung konzentriert sich dabei auf Schleiermachers Verständnis von Theologie in der ersten Fassung der Reden (1799). * Vgl. Bibliographie Nr. 68

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

Die Arbeit ist in 10 Paragraphen gegliedert. § l („Einführung") verbindet die Erläuterung des Themas mit einem kurzen Bericht über die neuere Schleiermacherdiskussion und -Literatur (seit etwa 1920). §2 bietet methodische Erwägungen. Die Überschrift — „Einführung in das Befragen der Schleiermacherschen Reden ,Über die Religion'" — scheint eine Stileigentümlichkeit des Verfassers programmatisch rechtfertigen zu sollen: die Reihung von — sei es rhetorischen, sei es katechetischen, sei es hermeneutischen — Fragen, von der Hertel einen exzessiven Gebrauch macht. Die Fragen und Erwägun-[399]gen dieses Paragraphen münden dann etwas unvermittelt in eine überraschende These aus, in die These, der „theologische Ansatz" der Reden sei uneinheitlich. Die erste und zweite Rede, dann die dritte und vierte, schließlich die fünfte werden als drei voneinander zu unterscheidende „Entwürfe" bezeichnet, als „drei Versuche Schleiermachers, sein Religionsverständnis zu rechtfertigen" (S. 43). Diese These bestimmt im weiteren den Aufbau der Arbeit. Die drei Komplexe werden nacheinander auf ihren „theologischen Ansatz" hin untersucht, wobei das eigentliche Interesse den beiden ersten Reden gilt. Ihnen wird auf achtzig Seiten (S. 45—124) eine ausführliche Analyse und Erörterung zuteil (§§ 3 und 4), während die beiden anderen Komplexe in den §§ 5 und 6 nur eine relativ kurze Einordnung erfahren (S. 125 — 144). Im § 7 ist dann das Ergebnis rückblickend zusammengefaßt, der Zielpunkt der Untersuchung scheint erreicht. Der Verfasser findet allerdings noch keinen Schluß. Er läßt mehrere summarisch-aphoristische Überblicke folgen, die den zunächst abgesteckten Rahmen weit überschreiten. So ist in den § 7 ein Abschnitt eingebaut, der es unternimmt, auf dreißig Seiten „Das Verhältnis Schleiermachers zu seiner theologiegeschichtlichen und philosophiegeschichtlichen Tradition" zu skizzieren (S. 151 — 180). Der nächste Paragraph bietet einen „Ausblick auf das Verhältnis von Theologie und Philosophie in Schleiermachers weiterer Entwicklung" (S. 199—254). Und nachdem der § 9 auf zwei Seiten „Hermeneutische Schlußbemerkungen" hingestellt hat, folgt noch eine „Ergänzung": § 10 „Die theologische Entwicklung Schleiermachers bis zum Erscheinen seiner Glaubenslehre" (S. 257—278). Diese Anbauten erscheinen im vorliegenden Zusammenhang um so eher als entbehrlich, als ihr Wegfall dem Eindruck, den das Hauptgebäude vermittelt, zugute gekommen wäre. Die Themen und Fragen, die Hertel hier anschneidet und zu denen er eine Reihe erwägenswerter Beobachtungen beibringt, würden eine eingehendere Behandlung nicht nur verdienen, sondern verlangen. Schließlich sind der Untersuchung — neben einem dankenswert reichhaltigen Literaturverzeichnis — nicht weniger als fünf Anhänge beigegeben.

24. Einzelrezensionen zu Schleiermacher-Literatur

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Anhang A bietet eine Vergleichstabelle zwischen den Seitenzahlen der 1. Auflage der Reden und denen der Ausgabe von Hans-Joachim Rothert (Philosophische Bibliothek), nach der Hertel zitiert. Diese Tabelle wäre allerdings überflüssig gewesen, wenn gleich nach den Seitenzahlen der 1. Auflage zitiert worden wäre, die sowohl in der Ausgabe von Rothert wie in den von Otto und Pünjer veranstalteten mit angegeben sind. Nützlich ist der Anhang B, der die Gliederung der Reden skizziert, hilfreich für die künftige Beschäftigung mit ihnen auch das Begriffsregister (Anhang C) und das Register der Anspielungen auf Bibelstellen (Anhang E). Von den drei Tabellen zur Häufigkeit der wichtigsten Begriffe (Anhang D) vermag die erste das Interesse zu fesseln: Sie notiert zu jedem der aufgeführten Begriffe die Häufigkeit des Vorkommens in jeder der fünf Reden wie im Ganzen des Buches. Daß eigene Tabellen die Begriffe noch einmal ordnen — nach ihrer Häufigkeit in jeder einzelnen Rede und nach ihrer „Gesamthäufigkeit" — bedeutet eine Konzession an die Bequemlichkeit des Benutzers, die in jedem Sinne fast zu weit geht. Der gewichtigste Teil der Arbeit ist zweifellos in den Abschnitten gegeben, die der Analyse und Interpretation der ersten und zweiten Rede gewidmet sind. Das Interesse wie die Leistung der Arbeit scheint mir mit der vom Verfasser selbst formulierten These und Zielsetzung nur unvollkommen bezeichnet zu sein. Zu der These, die mit der Unterscheidung dreier Entwürfe „dem Übel der bisherigen Forschung, mit Gewalt eine einheitliche Religionsanschauung aus den Reden zu eruieren" (S. 147), entgegentreten will, ist zunächst zu sagen, daß hier entweder die Behauptung den Beweis ersetzen muß oder — was mir wahrscheinlicher ist — daß Hertel seine Intention mißverständlich formuliert hat. Seine eigenen Darlegungen führen jedenfalls über die Beobachtungen und Einsichten der „bisherigen Forschung" an dieser Stelle nicht hinaus. Sie konstatieren Unterschiede, die teils in der Werdegeschichte des Buches, teils im thematisch bedingten Wandel der Aspekte begründet sind. Ergebnis seiner Ausführungen ist weniger die Markierung solcher Differenzen als vielmehr der Nachweis der fundierenden Bedeutung, die das in der ersten und zweiten Rede entfaltete Verständnis von Religion für das Ganze der Schrift behält. Damit dürfte er gegen die interpretative Überlastung der fünften Rede, wie sie von Seifert erneuert worden ist, das Richtige vertreten. Sucht man die Absicht der Differenzthese in dieser Richtung, so ergibt sich auch ein Bezug zu der Zielsetzung, Schleiermachers Verständnis von Theologie und das Verhältnis von Theologie und Philosophie in seinen Reden zu bestimmen. Hertel ist sich dessen bewußt, daß die Fragestellung, von der er ausgeht, an der Begrifflichkeit der Reden keinen Anhalt hat. Gegenstand seiner Untersuchung ist faktisch

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Schleiermachers Verständnis von Religion, in dem sein „theologischer Ansatz" gewürdigt wird, sowie die bekannte Abgrenzung der Religion gegen Metaphysik und Moral, die als Abwehr des Übergriffs der Philosophie auf die Theologie verstanden wird. Er macht damit indirekt deutlich, daß die aus der neueren Diskussion aufgenommene Frage nach dem Verhältnis von Theologie und Philosophie nicht ohne Umformung auf die Problemsituation des christlichen Denkens an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bezogen werden kann. Seiner Interpretation ist zu bezeugen, daß sie darauf zielt, die in der vorgegebenen Fragestellung angelegten Fixierungen zu überwinden und den Blick auf die Sache selbst freizugeben. Die Arbeit ist wohl am zutreffendsten als eine systematisch-theologische Hinführung zu Schleiermachers Reden zu charakterisieren und als solche zu empfehlen.

Dilthey, Wilhelm: Leben Schleiermachers, II. Band: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. Herausgegeben von Martin Redeker. Walter de Gruyter & Co., Berlin, 1966, 2 Halbbände, LXXX, 811 S., Ln. 98,- DM. Erscheint gleichzeitig als Band XIV der Gesammelten Schriften Wilhelm Diltheys im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen.

[1968]* Das Werk hat eine Vorgeschichte, die sich als eine Geschichte mehrfach erneuerter, nun endlich erfüllter Versprechungen darstellt. Der I. Band von Diltheys „Leben Schleiermachers" ist 1870 erschienen. Die glanzvolle Biographie, in der zum erstenmal die Werdegeschichte Schleiermachers unter Nutzung aller erreichbaren Quellen umfassend dargestellt wurde, markiert den Beginn der neueren Schleiermacherforschung und hat bis heute grundlegende Bedeutung behalten. Dilthey hat in diesem ersten Band seiner zunächst auf zwei, später auf drei Bände berechneten Darstellung die Lebensgeschichte Schleiermachers bis zu dessen Abschied von Berlin im Jahre 1802 geschrieben, in einem Anhang außerdem — unter dem Titel „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers" — ungedruckt Vgl. Bibliographie Nr. 71

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gebliebene Jugendarbeiten zum erstenmal veröffentlicht. Wie so manche der Arbeiten Diltheys ist dann auch dieses Fragment geblieben, die geplanten Folgebände sind nicht veröffentlicht worden. Mehr als fünfzig Jahre nach dem ersten Erscheinen, mehr als zehn Jahre nach Diltheys Tod (gest. 1911) hat Hermann Mulert im Jahre 1922 eine als 2. Auflage bezeichnete Neuausgabe vorgelegt, die sich freilich von der Erstgestalt nicht unwesentlich unterscheidet. Diltheys Text hat auf Grund der in seinem Handexemplar sich findenden Änderungen und Einfügungen mannigfache Korrekturen erfahren. Anmerkungen tragen den nach 1870 erschienenen Beiträgen zur Schleiermacherforschung Rechnung. Vor allem hat Mulert aus Diltheys Nachlaß druckreife Abschnitte des geplanten H. Bandes beigefügt, so daß nun die Biographie bis in die Zeit der Hallenser Wirksamkeit Schleiermachers (1804—1807) führt. Der Erweiterung der Biographie sind freilich die „Denkmale" zum Opfer gefallen, so daß man seither auf die Benutzung beider Ausgaben angewiesen ist. Mulert wollte die „Denkmale" in einem zweiten Band wieder abdrucken zusammen mit „umfänglichen Abschnitten" des von Dilthey projektierten III. Bandes, der Schleiermachers philosophisches und theologisches System darstellen sollte. Auch dieses Versprechen blieb unerfüllt. Es sind diese von Mulert erwähnten Manuskripte und Manuskriptfragmente, die nun — nahezu ein Jahrhundert nach dem Erscheinen des I. Bandes — von Martin Redeker als II. Band des „Leben Schleiermachers" ediert worden sind. Der Herausgeber hat sie — den Intentionen Diltheys folgend — in zwei großen Teilen angeordnet, die „Schleiermachers System als Philosophie" und „Schleiermachers System als Theologie" überschrieben sind. Der erste Halbband bietet zunächst Fragmente zu einer Darstellung der entwicklungs- und der philosophiegeschichtlichen Voraussetzungen von Schleiermachers System. Es folgen die beiden umfänglichsten Manuskriptkomplexe, nachzeichnende Darstellungen der beiden Entwürfe, die in Schleiermachers philosophischer Systematik fundierende Bedeutung haben, der „Dialektik" (S. 65—227) und der „Philosophischen Ethik" (S. 229—357). Diese Manuskripte vor allem werden das Interesse der Sachkenner finden. Zu anderen Gliedern der Schleiermacherschen Wissenschaftssystematik zu Staatslehre, Ästhetik, Physik (Naturphilosophie) und Psychologie haben sich nur relativ kurze Fragmente gefunden. Mehr noch als die Darstellung des philosophischen Systems ist die des theologischen bruchstückhaft geblieben. Vergleichsweise umfängliche Texte des zweiten Halbbandes handeln über „Schleiermachers Stellung in der Geschichte des Christentums" (S. 473—526) und über „Schleiermachers Lehre von Religion und Kirche" (S. 557—587). Daneben sind nur Fragmente vom Umfang

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weniger Seiten veröffentlicht. Außer den Entwürfen aus den späteren Lebensjahren Diltheys teilt die Ausgabe allerdings noch eine Arbeit aus seiner frühesten Zeit mit, für die er 1860 den Preis der SchleiermacherStiftung erhalten hat. Das Thema der Preisarbeit lautet: „Das eigentümliche Verdienst der Schleiermacherschen Hermeneutik ist durch Vergleichung mit älteren Bearbeitungen dieser Wissenschaft...ins Licht zu setzen". Teile dieser Abhandlung sind von Dilthey in späteren Veröffentlichungen verwendet worden, als ganze ist sie hier zum erstenmal gedruckt (S. 595—787). Der Überblick dürfte deutlich machen, daß die Manuskripte sich nicht zu einer auch nur annähernd vollständigen Darstellung zusammenfügen. Wie Schleiermachers philosophisch-theologisches Werk, dessen fragmentarischer Charakter den Versuch einer rekonstruierenden Gesamtdarstellung seines Denkens herausgefordert hatte, bleibt auch die Diltheysche Darstellung ein Fragment. Gleichwohl sind die nun veröffentlichten Teile wichtig genug. Die Texte sind sorgfältig ediert, Anmerkungen weisen die von Dilthey gebotenen Zitate nach, die Einleitung des Herausgebers skizziert und würdigt die Diltheyschen Entwürfe. Aus dem Bericht über die Manuskripte und Manuskriptfragmente, den der Herausgeber unter der Überschrift „Textkritische Anmerkungen" gegeben hat (S. LXI—LXXVI), kann man einiges von den Mühen erkennen, welche die Edition zu bewältigen hatte. Dem Herausgeber und seinen Helfern ist zu danken, daß sie diese Mühsal auf sich genommen und das bedeutende, so lange erwartete Stück aus Diltheys Nachlaß endlich zugänglich gemacht haben.

Terrence N. Tice: Schleiermacher Bibliography with brief Introductions, Annotations, and Index, Princeton Pamplets No. 12. Princeton/New Jersey 1966, 168 S. [1974] * Mit dieser Bibliographie hat der amerikanische Theologe Terrence N. Tice der Schleiermacher-Forschung ein Hilfsmittel an die Hand gegeben, das um so mehr auf Dank rechnen kann, als es lange entbehrt worden ist. Das im Dezember 1964 abgeschlossene Verzeichnis ist die * Vgl. Bibliographie Nr. 76

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erste Schleiermacher-Bibliographie überhaupt, die Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. Sie umfaßt in drei Teilen insgesamt 1928 Nummern, wobei zuweilen mehrere Titel unter einer Ziffer vereinigt sind. Der erste Teil „Schleiermachers Life and Writings" gliedert sich in sieben Abschnitte. Die ersten vier bieten 1. („Manuscripts") Hinweise auf die im Literatur-Archiv in Berlin lagernden Schleiermacher-Manuskripte, 2. („Collected Works") eine Übersicht über den Bestand der alten (unzulänglichen) Ausgabe der Sämtlichen Werke, 3. („Biography") Notizen zu biographischen Materialien, 4. („Sermons") Angaben zur Editionsgeschichte von Schleiermachers Predigten. Den eigentlichen Umfang des I. Teiles machen die restlichen drei Abschnitte aus. Der 5. Abschnitt („Texts, 1791 — 1833") bietet eine vollständige chronologische Liste der von Schleiermacher in den Druck gegebenen Arbeiten (111 Nummern). Wo kritische Ausgaben und Übersetzungen vorliegen, sind sie jeweils mit angegeben. So erfährt man u. a., daß die „Reden" erst ein knappes Jahrhundert nach ihrem Erscheinen eine Übersetzung ins Englische erlebt haben (1894; Neudruck 1958), die Glaubenslehre gar erst 1928 (Neudrucke 1948 und 1963). Dagegen ist von der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" schon 1850 eine englische Ausgabe erschienen; T. selber hat im Jahre 1966 eine neue Übersetzung vorgelegt. Im 6. Abschnitt sind dann „Additional Texts and Selected Works" zusammengefaßt (39 Nummern). Mit dem Ausdruck „Additional Texts" sind Nachlaßveröffentlichungen gemeint, wobei allerdings nicht klar wird, warum T. einige Texte bereits im 5. Abschnitt vorweg genommen hat, so z. B. die von Dilthey in seinem „Leben Schleiermachers" auszugsweise publizierten Jugendmanuskripte. Es dürfte sich empfehlen, bei einer Neuauflage der Bibliographie diesen Abschnitt auf Auswahlausgaben zu begrenzen und den Nachlaßeditionen eine eigene zusätzliche Rubrik zu gönnen, in der dann auch die im Rahmen der Sämtlichen Werke veröffentlichten Vorlesungen getrost noch einmal aufgeführt werden könnten. Der 7. Abschnitt („Correspondence") verdient besondere Hervorhebung, denn sein Umfang — nicht weniger als 87 Titel — dürfte auch Kenner der Schleiermacher-Literatur überraschen. Die Vielzahl der Einzelveröffentlichungen macht einmal mehr sehr augenfällig, wie sehr die alte Jonas-Diltheysche Briefausgabe der Ersetzung durch eine kritische Edition bedürftig ist. Im II. Teil der Bibliographie ist die darstellende Literatur zusammengestellt („The Schleiermacher Literature, 1800-1964", 1547 Titel), wobei die dem Pädagogen Schleiermacher gewidmeten Untersuchungen

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ausgeklammert und einem eigenen III. Teil vorbehalten sind („Ped[298]agogical Literature", 107 Titel). Es liegt in der Natur der Sache, daß im II. Teil die theologischen Beiträge überwiegen. Dieser Sachverhalt bestimmt auch die von T. vollzogene Gliederung in sechs Abschnitte, über die er schreibt: „The remaining material has been separated into six periods, following what might be considered the natural joints of theological history from Schleiermacher's time to the present" (S. 4). Jeder Abschnitt wird eingeleitet durch eine kurze Charakteristik des Zeitraumes, in dem die weiterhin aufgeführten, alphabetisch nach Autoren geordneten Arbeiten entstanden sind. Ein erster Abschnitt umfaßt die Arbeiten über Schleiermacher, die noch zu seinen Lebzeiten erschienen sind. Die folgenden Zeitabschnitte werden dann durch die Jahreszahlen 1834, 1869, 1899, 1918, 1939, 1964 begrenzt. Periodisierungsversuche dieser Art sind unvermeidlich, auch wenn sie im einzelnen immer Einwänden ausgesetzt bleiben. Mir scheint die von T. vollzogene Gliederung des Materials im Blick auf die ersten vier Gruppen sachgemäß und einleuchtend. Im Blick auf die beiden letzten Zeitabschnitte (1919 — 1939, 1940 — 1964) würde ich eine andere Abgrenzung für erwägenswert halten. Zwar steht es außer Frage, daß das Ende des Ersten Weltkriegs auch in der Geschichte der protestantischen Theologie, zumal in Deutschland, einen Einschnitt markiert; doch wird man fragen können, ob das für die Beschäftigung mit Schleiermacher in gleicher Weise gilt. Die Schleiermacher-Kritik der Nachkriegstheologie hat doch zunächst — freilich unter neuen Gesichtspunkten und Maßstäben — die lebhafte SchleiermacherDebatte der Vorkriegstheologie fortgesetzt. Ein deutlicher Einschnitt scheint mir erst mit dem spürbaren Abklingen des Interesses an Schleiermacher gegeben zu sein, das sich im Gefolge der neuen theologischen Entwürfe allmählich eingestellt hat und das gegen Ende der zwanziger Jahre offenkundig ist. Eine auffällige Änderung des theologischen „Klimas" ist erst — wiederum drei Jahrzehnte später — gegen Ende der fünfziger Jahre eingetreten, so daß der nächste Einschnitt eher hier als im Jahre 1939 anzusetzen wäre. Dazu stimmt im übrigen der von T. (S. 138 f.) gegebene Hinweis, daß mehr als ein Drittel der seit 1940 erschienenen Arbeiten und mehr als die Hälfte der in dieser Zeit entstandenen Dissertationen in die Jahre nach 1958 fallen. Erst im letzten Jahrzehnt also hat sich eine Entwicklung angebahnt, die zu der von T. geäußerten Vermutung Anlaß gibt, „that the groundswell of Schleiermacher-research is still on the rise" (S. 139). Auffällig ist, worauf T. selber hinweist, der hohe Anteil amerikanischer Veröffentlichungen an den Arbeiten dieses Zeitraumes; T. erwähnt „the introduction of Schleiermacher seminars in most graduate centers since about 1958" (S. 138).

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Die Gliederung des III. Teiles („Pedagogical Literature") folgt grundsätzlich den gleichen Gesichtspunkten wie die des II. Teiles; allerdings sind die beiden ersten Zeitabschnitte ausgelassen, da die wenigen einschlägigen Titel aus diesen Jahrzehnten in den II. Teil aufgenommen sind. Die Bibliographie wird abgeschlossen durch einen vierteiligen Index (1. General Literature, 2. Biographical Material, 3. Names, 4. Subjects), der den Gebrauchswert noch einmal erhöht. Angesichts dieser Leistung eines einzelnen Gelehrten verbindet sich der Respekt für die immense Arbeit des Sammeins und Sichtens mit der Bewunderung für den detektivischen Scharfsinn, der Verborgenes aufgespürt und Entlegenes nicht übersehen hat. Neben den im Druck erschienenen Arbeiten (Monographien, Aufsätze, Lexikon-Artikel, übergreifende Darstellungen) sind die vielen deutschen Dissertationen berücksichtigt, die nur in Maschinenschrift vorliegen. Ferner sind hin und wieder auch solche Arbeiten aufgenommen, in denen [299] nur gelegentlich auf Schleiermacher Bezug genommen wird. Es liegt auf der Hand, daß hier die Grenzen ebenso weiter wie auch enger gezogen werden könnten; so führt T. z. B. mehrere Arbeiten Paul Tillichs auf (Nr. 1808), von dem er im übrigen zutreffend bemerkt: „He pays very little attention in his writings to Schleiermacher" (S. 151). Im ganzen ist dem Autor zu bezeugen, daß sein Verzeichnis das Maß von Vollständigkeit erreicht hat, das hier überhaupt denkbar und wünschenswert ist. Mit der Bekundung von Respekt und Dank möchte man die Hoffnung verbinden, daß eine Neuauflage der Bibliographie uns zugleich die Nachträge über die seither erschienenen Veröffentlichungen bringen möchte.

Klaus Eberhard Welker: Die grundsätzliche Beurteilung der Religionsgeschichte durch Schleiermacher Leiden/Köln, 1965. E. J. Brill 222 S., Ln. Gld. 36,-.

[1974]* Bei dieser Untersuchung, die nach Auskunft des Vorwortes von dem Bonner Religionswissenschaftler Gustav Mensching angeregt und betreut worden ist, handelt es sich um den interessanten, weil vergleichsweise Vgl. Bibliographie Nr. 77.

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seltenen Fall einer Schleiermacherarbeit, die ausdrücklich von religionswissenschaftlichen Gesichtspunkten geleitet ist. Vf. hat die Interessen der Arbeit folgendermaßen summiert: „Es soll untersucht werden, wie Schleiermacher die geschichtlich-konkreten Religionsgestalten, die ,positiven Religionen', und die Ausdrucksformen religiöser Erfahrung grundsätzlich beurteilt. Weiterhin soll gezeigt werden, welche Bedeutung Schleiermacher für die religionswissenschaftliche Methodenlehre ...hat" (S. IX). Die Formulierung des Titels, die Frage nach Schleiermachers „Beurteilung der Religionsgeschichte" ist allerdings geeignet, Verwunderung zu erregen, denn so bedeutend und wirkungsreich Schleiermachers anthropologische Theorie der Religion sich darstellt — der Rdigionsgeschichte hat er bekanntermaßen nur geringe Beachtung geschenkt, ja, er dürfte, so weit im übrigen der Rahmen seiner wissenschaftlichen Interessen und Leistungen gespannt ist, auf diesem Felde nur begrenzte Kenntnisse besessen haben. Was sich in seiner berühmten Jugendschrift „Über die Religion" und was sich in der Einleitung seiner großen Dogmatik „Der christliche Glaube" an einschlägigen Notizen und Ausführungen finden läßt, das muß karg genannt werden, vor allem wenn man es etwa mit der Fülle der Materialien vergleicht, die zur gleichen Zeit sein Berliner Universitäts-Kollege Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion eingebracht hat. „Daß Schleiermachers religionsgeschichtliche Kenntnisse noch nicht sehr umfassend waren", das weiß und notiert dann auch die vorliegende Monographie (S. 39, vgl. S. 14). Bei näherem Zusehen zeigt sich, daß dieser Umstand ihr deswegen wenig Beschwer macht, weil in ihrem Titel das Wort „grundsätzlich" den Hauptakzent trägt. Schleiermacher wird wesentlich als Überwinder „rationalistischer Beurteilung und Verkennung der Religion und ihrer Erscheinungsformen" (S. IX), als Bahnbrecher prinzipieller Zuwendung zu den geschichtlichen, individuellen, positiven Religionen gewürdigt. Nicht seiner Kenntnis und Deutung religionsgeschichtlicher Materialien, sondern seiner Theorie des Geschichtlichen der Religion ist die Aufmerksamkeit des Verfassers zugewandt, der über Schleiermachers Leistung urteilt: „Von Bedeutung ist nicht so sehr die exakte Darstellung und Kenntnis der Einzelheiten, als vielmehr sein Versuch, alle religiösen [300] Erscheinungen in der Geschichte vorurteilslos und angemessen zu beurteilen" (S. 40). Die thematische Beschränkung auf das Grundsätzliche ist vom Vf. in solcher Entschiedenheit durchgeführt worden, daß selbst die Ausführungen und Aussagen Schleiermachers, die in der Tat einzelnen geschichtli-

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chen Religionen sowie dem Problem religionsgeschichtlicher Begriffsund Theoriebildung gewidmet sind, vernachlässigt werden. Immerhin ist in der Einleitung zur Glaubenslehre unter der Überschrift „Von den Verschiedenheiten der frommen Gemeinschaften überhaupt, Lehnsätze aus der Religionsphilosophie" (2. Auflage §§ 7—10) so etwas wie das Programm einer vergleichenden Theorie der Religionen entworfen. Bei W. ist davon nur in der Weise beiläufiger Registrierung die Rede. Gar das Drei-Stufen-Schema von Fetischismus — Polytheismus — Monotheismus, die Deutung dieses Schemas aus der Differenzierung von Gottes- und Weltbewußtsein, die Unterscheidung von ästhetischer und teleologischer Frömmigkeit, die Aussagen über Judentum und Islam, die Formel für das Wesen des Christentums — das alles wird bei W. noch nicht einmal erwähnt, geschweige denn erörtert. Der thematischen Beschränkung entspricht der fünfgliedrige Aufbau der Arbeit. Im ersten Teil „Einleitende Vorfragen zur SchleiermacherInterpretation" (S. 1 — 40) stellt Vf. zunächst die Quellen vor, auf die seine Darstellung sich vorzugsweise stützt (Reden, Glaubenslehre; Dialektik, Hermeneutik;) er geht dann knapp auf Schleiermachers Gebrauch und Kritik des Terminus „Religion" ein; er erörtert schließlich — zustimmend und verteidigend — Recht und Sinn der Frage nach dem Wesen der Religion. Schleiermachers Antwort auf diese Wesensfrage bildet das Thema des zweiten Teiles (S. 41 — 99), dessen Überschrift „Die Divination des Unendlichen im Endlichen" in loser Anlehnung an eine Formel der Reden gebildet ist. Der dritte Teil handelt über „Die positive Religionsgestalt in Verstehen und Mißverstehen" (S. 100—142) bzw. über Schleiermacher als Kritiker des geschichtsfeindlichen Konzepts der „natürlichen Religion" und als Wegbereiter rechten Verstehens des Geschichtlich-Positiven. Im vierten Teil „Die unmittelbaren religiösen Darstellungsformen und ihr Ausdruckswert" (S. 143—163) ist einiges über Schleiermachers Theorie der religiösen Mitteilung mitgeteilt. Der fünfte und letzte Teil schließlich „Ausblick und zusammenfassender Vergleich mit Rudolf Ottos Anschauungen" (S. 164—208) nimmt, um „die Aktualität der religionswissenschaftlichen Problemansätze bei Schleiermacher aufzuzeigen" (S. 164), in vier Abschnitten die Thematik der vorhergegangenen Teile in der Weise wieder auf, daß jeweils Schleiermachers Auffassung kurz zusammengefaßt und mit der Rudolf Ottos weniger verglichen als durch ein monoton wiederholtes „auch bei Otto..." reihend verknüpft wird. Beigegeben sind der Arbeit ein umfängliches Literaturverzeichnis, ein Namen- und ein Sachregister sowie ein Porträt Schleiermachers.

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Im Rahmen der hervorgehobenen Beschränkung ist die Leistung der Arbeit bedingt und begrenzt durch Art und Weise ihrer Quellenbenutzung. Diese ist freilich, um das kritische Urteil gleich vorwegzunehmen, von der Art, daß eine die verfügbaren Quellen allseitig nutzende Darstellung der Schleiermacherschen Religionstheorie einschließlich ihres Werdens und ihres Wandels nicht entstehen konnte und nicht entstanden ist. W. bezieht sich in seinen Ausführungen primär auf die Reden „Über die Religion", die er nahezu ausschließlich nach der ersten Auflage (1799) zitiert, „da diese wegen ihrer Ursprünglichkeit besonders geschätzt wird" (S. 4). Der Erörterung der Differenzen zwischen der ersten und der zweiten Auflage (1806) — Differenzen, die gerade für den [301] Religionsbegriff wichtig sind — entzieht er sich durch beifällige Zitierung solcher Voten der darstellenden Literatur, in denen der Unterschied der Auflagen als gering veranschlagt wird. Daß diese Sicht nichts weniger als unumstritten ist, daß die Scheiermacher-Forschung im ganzen eher die gegenteilige Ansicht vertritt, bleibt unerwähnt. Die zweite große Quelle neben den Reden bildet die Glaubenslehre. Anders als die Reden wird sie in der Regel nicht nach der ersten Fassung (1821/22), sondern nach der zweiten (1830/31) zitiert, ohne daß die hier waltende geringere Schätzung von „Ursprünglichkeit" erläutert und begründet würde. Im Ergebnis sind daher Zitate aus der Schrift von 1799 und aus dem Werk von 1830/31 unbefangen und undifferenziert nebeneinander placiert — ein Verfahren, dem offenbar die Meinung zugrunde liegt, daß hinsichtlich der Religionstheorie wie zwischen der ersten und der zweiten Auflage der Reden so auch zwischen den Reden und der Glaubenslehre gewichtigere Unterschiede nicht bestehen. Der bekannte terminologische Sachverhalt, daß die Formeln, mit denen Schleiermacher 1799 das Wesen der Religion gekennzeichnet hatte („Anschauung des Universums", „Anschauung und Gefühl", „Sinn und Geschmack für das Unendliche") späterhin so nicht wiederkehren, daß vielmehr einmal der Begriff der Anschauung ausgeschieden worden ist, zum anderen der Begriff des Gefühls als „Gefühl Schlechthinniger Abhängigkeit" präzisiert worden ist, dieser Sachverhalt wird nur erwähnt, um als unerheblich eingestuft zu werden. Dieser Einstufung Argumente beizugeben, hat Vf. nicht für nötig gehalten. So ergibt sich eine nivellierende Darstellung, welche weder die Konturen der in den Reden skizzierten Religionstheorie, noch die der in der Glaubenslehre entwickelten Auffassung hervortreten läßt. So ergibt sich z. B. eine Feststellung wie die folgende: „Eine eigentlich bewertende Einteilung der historischen Religionsgestalten ist nach

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Schleiermacher wegen ihrer jeweiligen Einmaligkeit nicht durchzuführen (S. 193, vgl. S. 119 ff.) — ein Satz, der allenfalls als Charakteristik der Auffassung von 1799 passieren mag, der jedoch auf die Glaubenslehre bezogen schlicht unrichtig ist wie bereits die — von W. nicht erörterte — Rezeption des Drei-Stufen-Schemas (Fetischismus — Polytheismus — Monotheismus) zeigt, dessen Funktion kaum anders als im Sinne „bewertender Einteilung" verstanden werden kann. Neben den beiden von Schleiermacher selbst in den Druck gegebenen Schriften nennt W. als Quelle seiner Darstellung zwei Nachlaßveröffentlichungen, die Vorlesungen über Dialektik und die über Hermeneutik. Merkwürdig und kaum verständlich ist es, daß er die Entwürfe zur philosophischen Ethik offenbar nicht zu den Texten rechnen will, „die für diese Problematik in Betracht kommen" (S. 1). Schleiermacher hat in der zweiten Auflage der Glaubenslehre den religionstheoretischen Partien der Einleitung ausdrücklich die Überschrift „Lehnsätze aus der Ethik" (§§ 3 — 6) gegeben. Das dabei vorausgesetzte Verständnis von Ethik hat er an anderer Stelle zusammengefaßt in der Formel, daß sie als „die Wissenschaft der Prinzipien der Geschichte" zu verstehen sei (Kurze Darstellung des theologischen Studiums, Z.Auflage 1830, § 29). Obwohl W. diese Formel selber an einer Stelle zitiert (S. 12), scheint ihm die fundierende Bedeutung der (philosophischen) Ethik in der von Schleiermacher entworfenen Wissenschaftssystematik ebenso entgangen zu sein wie der Sachverhalt, daß im Rahmen dieser Systematik die anthropologische Theorie der Religion nirgends anders als in der Ethik ihren genuinen Ort hat. Wie sonst soll man die Vernachlässigung ausgerechnet dieser Quelle erklären? Die genannten Sachverhalte sind so elementar, daß sie für sich sprechen. Sie machen das Urteil unvermeidlich, daß [302] Ws. Arbeit den Beitrag zur Schleiermacher-Interpretation, den man angesichts ihrer Zielsetzung erhofft, nicht bietet. Im Blick auf die Gestaltung der Untersuchung kann außerdem nicht unerwähnt bleiben, daß sie in einer alles Maß vergessenden Weise von Zitaten aus der darstellenden Literatur Gebrauch macht. An die Stelle eigener Formulierung und Argumentation ist auf weiten Strecken die Reihung fremder Ansichten und Meinungen getreten. Eine gewisse Linie zeigt die Bezugnahme auf Autoren und Autoritäten insofern, als dabei eine deutliche Dominanz der Arbeiten Rudolf Ottos unverkennbar ist. Seiner Begrifflichkeit entstammen die Interpretationskategorien; er gilt als der maßgebliche Interpret ebenso wie als der vollmächtige Erbe und Vollender der Schleiermacherschen Religionslehre. Schleiermacher wird als Vorläufer Ottos gesehen, Otto

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als „Schleiermacher redivivus" (S. 165) gefeiert. Vielleicht wird man der Arbeit besser gerecht, wenn man hier ihr eigentliches Interesse wahrnimmt, wenn man sie also weniger als Interpretationsleistung beurteilt, mehr als einen Beitrag zur Wirkungsgeschichte Schleiermachers, dessen eigentliche Absicht darauf geht, aus seiner Theorie der Religion solche Motive hervorzuheben, die in einer auf Herkunft und Ahnenreihe sich besinnenden Religionswissenschaft Beachtung beanspruchen können. In diesem Falle bliebe freilich anzumerken, daß sie einer solchen Zielsetzung besser gerecht geworden wäre, wenn sie die Schleiermacher-Interpretation und -Rezeption Rudolf Ottos statt zum fraglosen Maßstab zum Gegenstand ihrer Untersuchung gemacht hätte.

Barth, Karl: Die Theologie Schleiermachers. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24, hrsg. v. D. Ritschi Zürich: Theologischer Verlag 1978. XII, 480 S. 8° = Karl Barth Gesamtausgabe. II. Akademische Werke 1923/24. Lw. sfr 54, — .

[1981]* Karl Barth hat diese Vorlesung, die als elfter Band der Gesamtausgabe aus dem Nachlaß erschienen ist, im fünften Semester seiner Göttinger Lehrwirksamkeit als Honorarprofessor für reformierte Theologie gehalten, nach seiner brieflichen Auskunft (zitiert S. VIII) vor 30 — 35 Hörern. Der Text ist von ihm wörtlich ausgearbeitet worden. Der am Rande angegebenen Datierung der Stunden ist zu entnehmen, daß die Vorlesung dreistündig gehalten worden ist. Der Hrsg. hat in seinem knappen Vorwort einige (noch ergänzungsfähige) Hinweise zur Entstehung und zur Einordnung der Vorlesung beigesteuert, ferner die bei der Edition befolgten Prinzipien der Gesamtausgabe angegeben. Deren Gestaltung folgend, sind dem Band Register der Bibelstellen, der Namen und der Begriffe beigefügt. (Über den Nutzen eines Bibelstellenregisters, das die Texte der behandelten SchleiermacherPredigten mit den biblischen Zitaten und Anspielungen Barths zusammenfaßt, kann man allerdings geteilter Meinung sein.) Zu den Zitaten Barths und zu seinen Anspielungen sind in Anmerkungen sorgfältige Vgl. Bibliographie Nr. 79

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Nachweise gegeben, deren Ermittlung zuweilen detektivische Leistungen erfordert haben dürfte. Ein Abschnitt der Vorlesung ist übrigens seit langem bekannt. Der 1925 in „Zwischen den Zeiten" veröffentlichte Aufsatz „Schleiermachers Weihnachtsfeier" (abgedruckt in dem Sammelband „Die Theologie und die Kirche", 1928) stellt sich als eine nur leicht überarbeitete Fassung der einschlägigen Passagen der Vorlesung dar (98 — 134). Dem Hrsg. und seinen Mitarbeitern ist nachdrücklich zu danken, daß sie nun den vollständigen Text der Vorlesung von 1923/24 zugänglich gemacht haben. Nach einer Vorrede, die das Programm entwickelt, gliedert die Vorlesung sich in zwei große Kapitel: „Die Predigt" und „Die Wis-[60]senschaft". Die drei Paragraphen des 1. Kapitels behandeln zunächst „Die Sonntagspredigt der letzten Jahre", sodann „Die christologische Festpredigt" (unter Einbeziehung der Schrift „Die Weihnachtsfeier" von 1806), schließlich „Die Hausstandspredigten" von 1818 (mit einem Exkurs über die Lucinde-Briefe von 1800). Die vier Paragraphen des nach der Weihnachtspause begonnenen II. Kapitels haben als Themen: „Die Enzyklopädie", „Die Hermeneutik", „Der christliche Glaube", „Die Reden über die Religion". Einige Besonderheiten der Auswahl und der Anordnung erklären sich daraus, daß die Planung im Laufe des Semesters eine Änderung erlitten hat. Der in der ersten Semesterstunde mitgeteilte Aufriß sah drei Kapitel vor. Nach der Behandlung der Predigten sollte sich das zweite Kapitel den „theologischen Werken im engeren Sinn, der ,Kurzen Darstellung des theologischen Studiums' und den großen Arbeiten ,Der christliche Glaube' und ,Die christliche Sitte' vor Allem zuwenden", während das dritte Kapitel gewidmet sein sollte „der Schleiermacherschen Philosophie, soweit sie uns eben zum Verständnis seiner Theologie angeht, d. h. den vorwiegend philosophischen Teilen der theologischen Schriften (Einleitung zur Glaubenslehre!) seiner Dialektik, philosophischen Ethik, Psychologie usf..., aber auch seinen Reden über die Religion, die ja nach Form und Inhalt entschieden in diesen Zusammenhang gehören" (llf). Bei der Zusammenfassung der beiden geplanten Kapitel zu einem einzigen (unter der Überschrift „Wissenschaft") sind die philosophischen Entwürfe entfallen. Von der Glaubenslehre hat Barth nur die Einleitung behandelt. Die „Reden", die — zusammen mit Teilen dieser Einleitung — der Philosophie zugewiesen worden waren, sind zum Schlußthema geworden. Die Planung wie die Ausführung zeigen charakteristische, auffällige, auch überraschende Züge. Überraschend wirkt schon dies, daß zu den ersten Vorlesungen Barths ausgerechnet eine über Schleiermacher gehört hat. Bereits am 27. November 1921, als er im ersten Semester seiner Göt-

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tinger Lehrtätigkeit über den Heidelberger Katechismus las (daneben über den Epheserbrief), hat er die Absicht mitgeteilt, nach der für den Sommer angekündigten Calvin-Vorlesung im folgenden Winter Schleiermacher zu behandeln (Barth-Thurneysen-Briefwechsel II, 15). Die Vorlesung über „Die Theologie Calvins" hat im Sommersemester 1922 stattgefunden. Die des Wintersemesters 1922/23 hat jedoch „Die Theologie Zwingiis" behandelt, die des Sommersemesters 1923 „Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften". In der Reihe der Themen zeichnet sich der Sachverhalt ab, daß Barth durch seinen Lehrauftrag an die reformierte Theologie gewiesen war. Fast legt sich der Gedanke nahe, daß bei der im fünften Semester realisierten Vorlesung über „Die Theologie Schleiermachers" dessen reformierte Herkunft eine Rolle gespielt haben könnte. Zu berücksichtigen ist auch Barths spätere Bekundung, er habe die theologiegeschichtlichen Vorlesungen dieser Semester angekündigt „wesentlich zu meiner eigenen Unterrichtung" (Nachwort zu der von H. Bolli veranstalteten „Schleiermacher-Auswahl", 1968, 296). Auffällig ist es, von welchen Äußerungen der Unlust und der „Antipathie" die Anfänge der Vorlesung in den gleichzeitigen Briefen begleitet werden. Neben den Stellen, die der Hrsg. im Vorwort erwähnt (VHIf), ist vor allem der Brief an Bultmann vom 9.10.1923 zu nennen, in dem es heißt: „Diesen Winter lese ich über Schleiermacher. Der Teufel soll ihn holen, ich mag ihn wirklich nicht und suche bis jetzt vergeblich nach einem Modus, um mit der auf Universitäten nun einmal erwünschten scheinheiligen Gerechtigkeit über ihn vorzutragen". (Barth-Bultmann-Briefwechsel, 18). Eine solche Äußerung spricht dafür, daß die Vorlesung in der Tat als eine „Generalabrechnung" einzuschätzen ist (so der Hrsg., X), die Barth der im Sommersemester 1924 begonnenen Dogmatik (angekündigt als „Unterricht in der christlichen Religion") vorausgeschickt hat. Um so bemerkenswerter ist es dann, daß die Vorlesung keineswegs als eine derartige Abrechnung stilisiert ist. Sie hat ein gänzlich anderes Gepräge als das nahezu gleichzeitig veröffentlichte Buch Emil Brunners „Die Mystik und das Wort" (1924). Barth hat das Erscheinen des Buches, dessen Manuskript er teilweise eingesehen hatte, in der Vorlesung mit der Bemerkung angekündigt, daß er mit dessen Kritik — „soweit ich sehe" (7) — einig gehe. Seine eigene Zielsetzung hat er davon ausdrücklich abgesetzt. „Der Zweck meiner Vorlesung ist nicht der, Sie gegen den allverehrten Schleiermacher scharf zu machen, sondern mit Ihnen sehen, kennen und verstehen zu lernen" (6). (In die spätere kritische Besprechung „Brunners Schleiermacher-[61]buch" im Heft VIII von „Zwischen den Zeiten", 1924, ist der Ertrag der Vorlesung eingegangen, teilweise

24. Einzelrezensionen zu Schleiermacher-Literatur

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kann die Rezension geradezu als deren Summe gelesen werden.) Der genannten Zielsetzung entspricht die Ausführung durchaus. Unter Aufbietung zahlloser, zum Teil langer Zitate werden Schleiermachers Predigten und Schriften eingehend vorgestellt, referiert, analysiert, erläutert. Auch die Literatur über ihn wird an vielen Stellen erwähnt und besprochen. Die Bekundungen des Respekts vor Schleiermachers Rang und Leistung sind zahlreich. Die kritische Distanznahme wird anfangs fast behutsam vollzogen. Sie erfolgt durch Pointierung bestimmter Begriffe und Aussagen, insbesondere durch die Anmeldung von Fragen. Im Fortgang der Vorlesung, zumal im II. Kapitel, werden die Einreden häufiger und umfänglicher, die Abweisungen kräftiger. Die abschließende Erörterung der „Reden" ist völlig von Kritik und Polemik bestimmt. Hervorzuheben ist die große Rolle, die Schleiermachers Predigten in Barths Vorlesung spielen. Mit ihnen setzt er ein, nicht weniger als die Hälfte der Vorlesung ist ihnen gewidmet. Anhand der Predigten aus den Jahren 1831 — 1834 wird eine erste Skizze der Theologie Schleiermachers entworfen, die dann nach der dogmatischen Seite ausgeführt wird durch die Analyse der Weihnachts-, Karfreitags- und Osterpredigten, nach der ethischen Seite durch die Erörterung der Hausstandspredigten. Einer brieflichen Mitteilung ist zu entnehmen, daß ursprünglich noch ein vierter Paragraph über „Die Zeitpredigt" geplant war (Barth-ThurneysenBriefwechsel II, 198; vgl. Vorl., 198), der aus zeitlichen Gründen entfallen ist. In dem Einsatz bei den Predigten zeichnet sich die besondere Qualifizierung ab, welche die Predigt erfährt. Zugleich wird damit ein Teil des Schleiermacherschen Werkes zur Geltung gebracht, der von vielen Interpreten sträflich vernachlässigt worden ist. Barth ist sich dieses Zugs seiner Vorlesung mit Recht bewußt gewesen (vgl. 92); noch in seiner letzten Äußerung zu Schleiermacher hat er ihn in betonter Weise erwähnt (Nachwort zur „Schleiermacher-Auswahl", 1968, 297). Zum charakteristischen Gepräge der Vorlesung gehört schließlich der programmatische Verzicht auf theologiegeschichtliche und auf genetische Fragestellungen. Schon die Gliederung, die mit den spätesten Predigten einsetzt und mit den „Reden" (in der Erstfassung von 1799) endet, spricht in dieser Hinsicht für sich selbst. Frühe und späte Zeugnisse werden letztlich auf einer Linie gesehen. Schleiermacher soll zu Wort kommen, so lautet eine bezeichnende Wendung, „in dem was er schließlich unzweideutig war und wollte, nicht in der Zweideutigkeit seines Werdens" (10). Faktisch wird er, worauf der Hrsg. hinweist, „von seiner Einwirkung auf das 19. Jahrhundert her interpretiert" (IX). Noch mehr ist es die Schleiermacher-Rezeption in den Anfängen des 20. Jh., die

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

Barths Perspektive bestimmt. „Wenn wir Schleiermacher kennenlernen, so lernen wir uns selbst kennen, die prinzipiellen Züge unserer heutigen theologischen Lage" heißt es in der ersten Vorlesungsstunde (4). Wie diese Lage in ihrem Bezug zu Schleiermacher einzuschätzen sei, das wird in der letzten Stunde auf eine Formel gebracht, die Bewunderung und Abwehr zusammenfaßt: „Der Protestantismus hat tatsächlich seit den Reformatoren keinen größeren Theologen gehabt als diesen. Dieser aber hat uns, hat das Ganze in diese Sackgasse geführt" (461). Unter den Zeugnissen der Auseinandersetzung Barths mit Schleiermacher ist diese Vorlesung dasjenige, das die zugleich intensivste und extensivste Beschäftigung mit seinem Werk dokumentiert. Für alle späteren Äußerungen zum Thema sind in ihr die Linien vorgezeichnet. Dietrich Ritschi hat in seinem Vorwort den Bogen zu der letzten Äußerung von 1968 geschlagen und auf die sich durchhaltenden Argumente hingewiesen, zugleich die Auffassung abgewehrt, daß sich in dem Nachwort von 1968 eine Wendung in der Stellung zu Schleiermacher zeige. Von einer Wendung wird man in der Tat nicht sprechen können, eine Differenz gleichwohl anmerken müssen. Die Darstellung von 1923/24 wird begleitet durch zahlreiche Fragen an Schleiermacher, die sich gewissermaßen summieren und die am Schluß jedenfalls eine eindeutige Antwort finden. Das Nachwort zur „Schleiermacher-Auswahl" von 1968 mündet aus in fünf Alternativfragen, wobei die Antwort ausdrücklich offen bleibt. Das letzte Fragenpaar hat die vorhergegangenen vier Alternativen selber zum Thema und läßt schließlich auch offen, ob diese Fragen überhaupt „der Intention Schleiermachers entsprechend" gestellt sind.

Weymann, Volker: Glaube als Lebensvollzug und der Lebensbezug des Denkens. Eine Untersuchung zur Glaubenslehre Friedrich Schleiermachers Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977. 261 S. gr. 8° = Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts, 25. Kart. DM 57,-. [1981]* Die Schrift bietet die überarbeitete Fassung einer bei G. Ebeling angefertigten Dissertation, die bereits 1973 der Theologischen Fakultät in Zürich * Vgl. Bibliographie Nr. 80

24. Einzelrezensionen zu Schleiermacher-Literatur

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eingereicht worden ist. In den Stichworten des Haupttitels sind die theologischen Motive dieser Untersuchung zur Glaubenslehre genannt. Sie verhandelt ausgewählte Texte und Themen unter dem Gesichtspunkt, „daß dem Denken Schleier machers, was das Verständnis des Glaubens als Lebensvollzug und den Lebensbezug des Denkens anbelangt, Einsichten und Anregungen zu entnehmen sind, die man schwerlich als überholt wird betrachten können" (12). Vf. bezieht sich primär auf die 2. Auflage des Werkes (18307 31), berücksichtigt jedoch auch die Erstfassung von 1821/22, daneben andere Schriften und Zeugnisse. Von den fünf Kapiteln, in die sich seine Arbeit gliedert, sind die beiden ersten dem Themenbereich der Einleitung (und Grundlegung) der Glaubenslehre zugewandt. Schleiermachers Theorie der Religion (der „Frömmigkeit") wird erörtert unter der Überschrift „Ausrichtung des theologischen Denkens auf das Leben — dargestellt an Paragraph 3 bis 6 der Glaubenslehre" (1. Kap.). Die Theorie dogmatischer Sätze und der Aufriß des Werkes werden erörtert unter dem Titel „Sprache und Leben: Die Bildung dogmatischer Aussagen und der Aufbau der Glaubenslehre in ihrer Orientierung am Lebenszusammenhang von Frömmigkeit" (2. Kap.). Im weiteren stehen Grundthemen der materialen Dogmatik zur Debatte: „Sünde und Gnade als Hemmung und Förderung des Lebens" (3. Kap.), „Gott als Grund des Lebens" (4. Kap.). Das abschließende 5. Kap. „Denken und Leben: Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie" nimmt eine vieldiskutierte Frage auf, die über die Glaubenslehre hinausgreift. Der Begriff „Leben" ist so aspektreich, daß er den Fragestellungen aller fünf Kapitel als Leitvokabel zu dienen vermag. In der ausgiebigen Handhabung des Begriffs gehen zitierender und interpretierender [507] Gebrauch ineinander über. Vf. bezieht sich auf die „häufige Verwendung" (13) und auf „das Gewicht des Lebensbegriffs bei Schleiermacher" (16) und notiert zugleich, daß dieser Sachverhalt nur von wenigen Interpreten beachtet worden sei. Er hat allerdings keine Anstalten gemacht, die Lücke seinerseits durch eine umfassende und gründliche Analyse zu füllen. Sein interpretativ gebrauchter Orientierungs- und Deutebegriff, der vom Sprachgebrauch Schleiermachers nicht explizit abgehoben wird, gewinnt Nuancen und Funktionen vorzugsweise aus Bezügen und Assoziationen, die sich im Kontext der zeitgenössischen theologischen Debatte einstellen. Der Titel des Buches ist insofern ungeschickt gewählt, als er auf eine Untersuchung recht spezieller Art hinzudeuten scheint. Faktisch handelt es sich eher um einen Gang durch das Ganze der Glaubenslehre, um die Erörterung von Themen und Fragen, die für das Verständnis des Werkes im ganzen bedeutungsvoll sind. Da diese Erörterung zumeist dicht an den Texten bleibt, dabei auf andere Interpreten und auf Kritiker eingeht (auf Barths Schleiermacher-Kritik in einem eigenen Exkurs, 200ff.), da

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

sie zudem anregend geschrieben ist, kann sie auf weiten Strecken förmlich als Einführung in Schleiermachers Dogmatik gelesen werden.

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Theologische Schriften, Hrsg. u. eingeleitet von K. Nowak Berlin: Union Verlag 1983. 483 S. 8° = Texte zur Philosophie- und Religionsgeschichte. Lw. M 38, — .

[1984]* Der von dem Leipziger Dozenten für Kirchengeschichte Kurt Nowak vorgelegte Band enthält den vollständigen Text der „Reden" (in der Erstfassung von 1799), der „Weihnachtsfeier" (in der Erstfassung von 1806) und der „Kurzen Darstellung des theologischen Studiums" (in der Fassung der 2. Auflage von 1830), ferner die Leitsätze beider Auflagen der Glaubenslehre (1821/22 und 1830/31), schließlich - unter der Überschrift „Selbstzeugnisse zur Theologie" — zwei wichtige Briefe Schleiermachers (an Friedrich Samuel Gottfried Sack vom Juni 1801 und an Friedrich Heinrich Jakobi vom 30. März 1818) sowie Auszüge aus den beiden Sendschreiben Schleiermachers über seine Glaubenslehre an Lükke (1830). Die Texte sind nach den Originaldrucken wiedergegeben. Da keine kritische Edition beabsichtigt war, ist Schleiermachers Orthographie modernisiert, dabei der Lautbestand jedoch erhalten worden. Die Seitenzahlen der Originaldrucke sind — mit Ausnahme der Leitsätze der Glaubenslehre, die man nach den Paragraphenzahlen zu zitieren pflegt — am Rand angegeben; der Seitenumbruch ist im Text markiert. Ein „Anhang" (451—464) enthält Angaben zu den Druckvorlagen sowie zu anderen Drucken und Editionen, daneben knappe „Sachanmerkungen", die insbesondere Nachweise zu Zitaten und Anspielungen sowie Erläuterungen zu Namen geben. Eigene Hervorhebung verdient die „Einleitung" des Herausgebers (17 — 50), die in die einzelnen Schriften so einführt, daß dabei sowohl der biographische und historische Kontext als auch die Schleiermacher-Interpretation berücksichtigt werden. Der Band besticht durch die gelungene Auswahl, durch die sorgfältige Gestaltung, durch die konzise und kundige Kommentierung. Er bietet eine solide Ausgabe derjenigen Schriften Schleiermachers, die als die markan* Vgl. Bibliographie Nr. 81

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ten Dokumente seines theologischen Weges, als die wichtigsten Träger seiner theologischen Wirkung und als die dauerhaften Bezugstexte der seinem theologischen Werk gewidmeten Debatte anzusehen sind. Diese Auswahl ist daher auch als Studienausgabe für den akademischen Unterricht vorzüglich geeignet. Von den im Umfang vergleichbaren Auswahlausgaben, die in neuerer Zeit Horst Beintker (Friedrich Schleiermacher, 3 Hefte, 1963) und Heinz Bolli (Schleiermacher-Auswahl, 1968) besorgt haben, unterscheidet sie sich dadurch, daß sie darauf verzichtet hat, durch Auszüge und Beispiele das weite Spektrum der Wirksamkeit Schleiermachers zu dokumentieren, daß sie vielmehr theologische Hauptschriften vollständig darbietet. Sie wird damit hoffentlich zu ihrem Teil dazu bei[748]tragen, dem durch das Kopierwesen begünstigten Übelstand entgegenzuwirken, daß klassische Texte im Lehrbetrieb nicht nur der Schulen, sondern auch der Universitäten vielfach nur noch in Auszügen zur Kenntnis genommen werden. Bei der Glaubenslehre hat der Herausgeber mit der Aufnahme der — nacheinander abgedruckten — Leitsätze beider Auflagen eine glückliche und sachgemäße Lösung gefunden, die zumindest thetisch und umrißweise das Ganze des dogmatischen Lehrgebäudes, überdies in beiden Fassungen, vor Augen treten läßt. Zu bedauern ist allerdings, daß die beiden Sendschreiben an Lücke nicht vollständig aufgenommen, sondern „aus Raumgründen" (42) um mehr als die Hälfte gekürzt worden sind. Die Auslassungen sind jeweils kenntlich gemacht. Da der vollständige Abdruck den Umfang des Bandes nur um etwa 30 Seiten vermehrt hätte, möchte man hoffen, daß der Verlag im Falle einer Neuauflage diese Erweiterung vorsehen und so die Vorzüge dieser Schleiermacher-Auswahl um einen weiteren vermehren kann.

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Philosophische Schriften. Hrsg. u. eingel. v. Jan Rachold Berlin: Union Verlag 1984, 406 S. 8° = Texte zur Philosophieund Religionsgeschichte. Lw. M 34, — .

[1986]* Dieser Band tritt neben die von Kurt Nowak veranstaltete Auswahl „Theologische Schriften", die 1983 im gleichen Verlag erschienen ist (vgl. Vgl. Bibliographie Nr. 82

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III. Schleiermachers Werk im Spiegel der Editionen und der Wirkungsgeschichte

ThLZ 109, 1984, 747 f). Er enthält folgende Dokumente: die Abhandlung „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens" (1799), die „Monologen" (in der Erstfassung von 1800), das „Brouillon zur Ethik" (aus dem Wintersemester 1805/1806), die Akademieabhandlungen „Über die Begriffe der verschiedenen Staatsformen" (1814), „Über den Unterschied zwischen Naturgesetz und Sittengesetz" [52] (1825), „Über den Begriff des höchsten Gutes" (2 Abhandlungen 1827/1830), schließlich 11 Briefe Schleiermachers und zwei an ihn. Die Gestaltung der Ausgabe entspricht im wesentlichen derjenigen der „Theologischen Schriften". Die ausgewählten Schriften sind erfreulicherweise vollständig dargeboten. „Monologen" und Akademieabhandlungen werden nach den Originaldrucken wiedergegeben, „Versuch" und „Brouillon" nach der Ausgabe von Otto Braun („Entwürfe zu einem System der Sittenlehre", 1913, 21927). Die Seitenzahlen der zugrunde gelegten Drucke sind — außer bei den Briefen — am Rand vermerkt, der Seitenumbruch ist im Text angegeben. Die Orthographie ist unter Wahrung des Lautbestandes modernisiert worden. Fremdsprachigen Begriffen und Wendungen ist in eckigen Klammern die deutsche Übersetzung beigegeben. Eine Reihe von „Sachanmerkungen", vor allem zu den Briefen, ist am Schluß des Bandes zusammengestellt (403 — 406). Die „Einleitung" des Herausgebers (7—37) verbindet mit einem knappen biographischen Abriß (unter der Überschrift „Der liberale Kirchenmann") eine Skizze der philosophischen Entwicklung und der frühen philosophischen Arbeiten Schleiermachers. Diese Skizze, die relativ ausführlich gehalten ist, bricht auffälligerweise mit der Vorstellung des Ethikentwurfs von 1805/06 ab. Die späteren philosophischen Schriften und Vorlesungen finden lediglich im Rahmen des biographischen Abrisses eine pauschale Erwähnung. In einem Band, der dem Philosophen Schleiermacher gewidmet ist, wäre eine vollere Information, und sei es in der Form einer bibliographischen Übersicht, angezeigt gewesen. — Die Ausführungen der „Einleitung" enthalten einige Unklarheiten und Versehen. Ich nenne v. a. die Angaben über Schleiermachers Vorlesungen in Halle (11, Theologische Enzyklopädie und Hermeneutik werden nicht erwähnt) und in Berlin (12, Geschichte der Philosophie, Politik und Pädagogik werden nicht erwähnt); über seine Berufung nach Bremen (11, sie erging auf eine Predigerstelle); über die Briefausgabe „Aus Schleiermachers Leben" (31, Jonas und Dilthey haben nur die Bände 3 und 4 herausgegeben). Zu einer Reihe von Themen ergibt sich Neues aus den seither von Günter Meckenstock im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe veröffentlichten Bänden „JugendSchriften 1787-1796" (1983) und „Schriften aus der Berliner Zeit 1796-1799"

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(1984), die der Herausgeber des vorliegenden Bandes noch nicht berücksichtigen konnte. Angesichts der Vielschichtigkeit der philosophischen Unternehmungen Schleiermachers und angesichts der besonderen Überlieferungslage (Rolle und Umfang der Nachlaßausgaben, insbesondere von Vorlesungen) ist es alles andere als leicht, eine sachgemäße Auswahl in einem Band zu bieten. Die vorliegende Zusammenstellung ist zum größten Teil so beschaffen, daß man sie rundum begrüßen kann. Fraglos sind es wichtige und charakteristische Schriften Schleiermachers, die hier zugänglich gemacht werden. Die „Monologen" durften auf keinen Fall fehlen; die vier Akademieabhandlungen sind gut ausgewählt; der wenig bekannte fragmentarische „Versuch eine Theorie des geselligen Betragens" (1799 anonym veröffentlicht, erst 1911 von Herman Nohl als Schrift Schleiermachers identifiziert) stellt eine reizvolle Zugabe dar. Über die Aufnahme des „Brouillon", das für den Schleiermacher-Forscher freilich hochinteressant ist, wird man streiten können. Ich hätte der wichtigen und wirkungsreichen Schrift „Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn" (1808) den Vorzug gegeben, dazu von den Akademieabhandlungen noch die über den Tugendbegriff (1819) und über den Pflichtbegriff (1824) aufgenommen, was ungefähr auf den gleichen Umfang hinausgelaufen wäre, neben der Ethik jedoch andere Aspekte des Schleiermacherschen Denkens zur Geltung gebracht hätte. Jan Rachold hat sich bewußt auf Schriften zur Ethik konzentriert (7). In diesem Rahmen bleibt zu fragen, ob statt des ersten der beiden Gesamtentwürfe zur Ethik, also statt des Hallenser „Brouillon", nicht eher der zweite Entwurf sich empfohlen hätte, also die Berliner „Ethik" von 1812/13. Anders als der erste Entwurf hat der zweite das Gepräge einer Ausarbeitung für den Druck; in wichtigen Teilen hat er [53] allen späteren Ethik-Vorlesungen Schleiermachers als Grundlage gedient; durch die Ausgaben von Twesten (1841) und Schiele (1911) hat er große wirkungsgeschichtliche Bedeutung gewonnen. Schließlich kann man bedauern, daß die „Fragmente", die Schleiermacher der Zeitschrift „Athenaeum" 1798 beigesteuert hat, nicht berücksichtigt worden sind, auch keine seiner philosophischen Rezensionen. Dem naheliegenden Einwand, daß Streichungen vorschlagen muß, wer Ergänzungen beantragt, läßt sich mit dem Hinweis auf Zahl und Umfang der beigegebenen Briefe begegnen (40 Seiten), zumal deren Funktion im vorliegenden Band nur teilweise einleuchtend ist.

Bibliographie der Schriften Hans-Joachim Birkners (1959-1991) von Arnulf von Scheliha

Die vorliegende Bibliographie umfaßt in sechs Abteilungen die selbständig erschienenen Monographien Hans-Joachim Birkners [I.], die von ihm mitveranstalteten Sammelbände [II.], Aufsätze, Lexikonartikel, Einleitungen und Vorworte [III.], Rezensionen [IV.], Rundfunkbeiträge (Vorträge und Buchanzeigen) [V.] sowie Texteditionen und seine Reihen-Herausgeberschaft [VI.]. Innerhalb der Abteilungen sind die Publikationen nach dem Erscheinungsjahr chronologisch geordnet. Erscheinen in einem Jahr mehrere Beiträge, so werden in der Abteilung III. zuerst die Aufsätze, dann die Lexikonartikel, Einleitungen und Vorworte jeweils in der wahrscheinlichen Reihenfolge ihres Erscheinens aufgeführt. In der Abteilung V. richtet sich die Ordnung nach dem Sendedatum. Vorträge und Rezensionen wurden hier nicht unterschieden. Die Manuskripte und Aufnahmebänder sind beim Deutschlandfunk nicht mehr vorhanden. Jeder Titel ist mit einer kursiv gesetzten Ordnungszahl versehen. Wörtliche Wiederabdrucke, Übersetzungen und Zweitauflagen sind unter der Ordnungszahl der Erstveröffentlichung in kleinerer Drucktype und eingerückt nachgewiesen. Der in eckigen Klammern angebrachte —* verweist auf Vorstudien und andere Veröffentlichungsorte des gleichen Titels. Das betrifft v.a. die Publikation von Rundfunkbeiträgen sowie Aufsätze, die in von Hans-Joachim Birkner mitveranstalteten Sammelbänden erschienen sind. Erläuterungen zu einzelnen Titeln sind jeweils am Ende der bibliographischen Angabe in eckigen Klammern und recte gesetzt angebracht. Die Beiträge, die in den vorliegenden Band aufgenommen wurden, sind mit einem * gekennzeichnet. Die Titelaufnahme — auch der von Hans-Joachim Birkner rezensierten Schriften — erfolgt in Anlehnung an die Regeln für die alphabetische Katalogisierung (RAK). Abgekürzte Vornamen werden stillschweigend ergänzt. Auf die Angabe der Verlage wird grundsätzlich verzichtet. I. Selbständig erschienene Monographien 1. Spekulation und Heilsgeschichte: Die Geschichtsauffassung Richard Rothes. — München, 1959 (Forschungen zur Geschichte und Lehre des Protestantismus. — Zehnte Reihe; Bd. 17) 2. Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen Systems. — Berlin, 1964 (Theologische Bibliothek Töpelmann; Bd. 8)

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3. [—* 103. —111.] Protestantismus im Wandel: Aspekte, Deutungen, Aussichten. — München, 1971 Protestantismus im Wandel: Aspekte, Deutungen, Aussichten l Ins Japanische übersetzt von Makoto Mizutani. — Tokio, 1991

*4. Theologie und Philosophie: Einführung in Probleme der Schleiermacher-Interpretation. — München, 1974 (Theologische Existenz heute; Bd. 178) II. Sammelbände 5. /—»· 13.] (Mit Heinz Liebing; Klaus Scholder) Das konfessionelle Problem in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts. — Tübingen, 1966 (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte; Bd. 245/246) 6. [—* 20.] Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums / Hrsg. von Hans-Joachim Birkner; Dietrich Rössler. — Berlin, 1968 7. /—* 46.] (Mit Heinz Kimmerle; Giovanni Moretto) Schleiermacher Filosofo. — Neapel, 1985 (Memorie dell'Istituto Italiano per gli studi Filosofici; Bd. 14) 8. [—+51.] (Mit Michel Despland; Roberto Osculati; Sergio Sorrentino; Fulvio Tessitore; Giovanni Moretto) Schleiermacher e la Modernitä. — Turin, 1986 (Collana della Facoltä Valdese di teologia; Bd. 15) III. Aufsätze, Lexikonartikel, Einleitungen und Vorworte :;

"9. Schleiermacher-Literatur. — in: Verkündigung und Forschung: Theologischer Jahresbericht 1958/59. - München, 1960/62. - S. 150-157 *10. Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie: Ein theologiegeschichtlicher Überblick. — Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie. - 3. J. - Berlin, 1961. - S. 279-295 *11. Beobachtungen zu Schleiermachers Programm der Dogmatik. — in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie. - 5. J. - Berlin, 1963. - S. 119-131 12. Eschatologie und Erfahrung. — in: Wahrheit und Glaube: Festschrift für Emanuel Hirsch zu seinem 75. Geburtstag / Hrsg. von Hayo Gerdes. - Itzehoe, 1963. - S. 31-41 *13. [—» 5.] Deutung und Kritik des Katholizismus bei Schleiermacher und Hegel. — in: Das konfessionelle Problem in der evangelischen Theo-

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logie des 19. Jahrhunderts / Drei Beiträge von Hans-Joachim Birkner; Heinz Liebing; Klaus Scholder. — Tübingen, 1966 (Sammlung gemeinverständlicher Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte; Bd. 245/246). - S. 7-20 14. Art. Gerechtigkeit. — in: Evangelisches Staatslexikon / Hrsg. von Hermann Kunst; Siegfried Grundmann. — Stuttgart; Berlin, 1966. — Sp. 620-625 25. Art. Gleichheitssatz: I. Die Gleichheitsproblematik; E. Gleichheit und Freiheit. — in: Evangelisches Staatslexikon / Hrsg. von Hermann Kunst; Siegfried Grundmann. — Stuttgart; Berlin, 1966. — Sp. 699 Art. Gleichheitssatz: I. Die Gleichheitsproblematik; E. Gleichheit und Freiheit. — in: Evangelisches Staatslexikon / Hrsg. von Hermann Kunst; Roman Herzog; Wilhelm Schneemelcher. — Stuttgart; Berlin, 197'S2. — Sp. 900

16. Art. Gleichheitssatz: I. Die Gleichheitsproblematik; F. Gleichheit als theologisches Problem. — in: Evangelisches Staatslexikon / Hrsg. von Hermann Kunst; Siegfried Grundmann. — Stuttgart; Berlin, 1966. — Sp. 699f Art. Gleichheitssatz: I. Die Gleichheitsproblematik; F. Gleichheit als theologisches Problem. — in: Evangelisches Staatslexikon / Hrsg. von Hermann Kunst; Roman Herzog; Wilhelm Schneemelcher. - Stuttgart; Berlin, 19752. - Sp. 900f

17. Art. Pragmatismus. — in: Evangelisches Staatslexikon / Hrsg. von Hermann Kunst; Siegfried Grundmann. — Stuttgart; Berlin, 1966. — Sp.1593f 18. [—> 94. —96.] Die Weihnachtsgeschichten. — in: Bibel im Kreuzverhör: Geschichte und Bedeutung der historisch-kritischen Forschung mit Textanalysen von Herbert Donner; Hans-Joachim Birkner; Hans Graß / Hrsg. von Wilhelm Schmidt. - Gütersloh, 1968. - S. 83-100 19. [—* 97.] Richard Rothe. — in: Unbefangenes Christentum: Deutsche Repräsentanten und Interpreten des Protestantismus; Eine Sendereihe des Deutschlandfunks / Hrsg. von Wilhelm Schmidt. — München, 1968. - S. 101-112 s·20.

[—* 6.] Über den Begriff des Neuprotestantismus.— in: Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums / Hrsg. von Hans-Joachim Birkner; Dietrich Rössler. - Berlin, 1968. - S. 1-15 21. Philosophie et Theologie chez Schleiermacher. — in: Archives de Philosophie. - 32. J. - Paris, 1969. - S. 179-205

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Bibliographie der Schriften Hans-Joachim Birkners (1959-1991)

*22. Beobachtungen und Erwägungen zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie. — in: Fides et Communicatio: Festschrift für Martin Doerne zum 70. Geburtstag / Hrsg. von Dietrich Rössler; Gottfried Voigt; Friedrich Wintzer. - Göttingen, 1970. - S. 9-20 23. /—»· 113.] Religiöser Sozialismus. — in: Gesellschaftliche Herausforderung des Christentums: Vom Kulturprotestantismus zur Theologie der Revolution / Hrsg. von Wilhelm Schmidt. — München, 1970. — S. 29-38 24. Zur Besinnung kommen. — in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt: Unabhängige Wochenzeitung für Politik Wirtschaft Kultur. — 24. J. — Hamburg, Nr. 31 vom I.August 1971. — S. 2 [Meditation zu 1. Petr. 4,8] 25. Immer noch Reformation?: Gedanken zum Reformationstag 1971. — in: Kirche der Heimat: Gemeindeblatt in Schleswig-Holstein, Hamburg und Nordschleswig. — 47. J. — Kiel, Nr. 20 vom 2. Oktober 1971. - S. l 26. Art.: Anthropozentrisch. — in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. - Bd. 1. - Basel; Stuttgart, 1971. - Sp. 380 27. /—» 120.] Max Horkheimer. — in: Die Religion der Religionskritik / Hrsg. von Wilhelm Schmidt. - München, 1972. - S. 80-89 28. Theologische Fakultäten abschaffen? Zur Diskussion um Kirche, Staat und Wissenschaft. — in: Kirche der Heimat: Nordeibische Kirchenzeitung in Schleswig-Holstein, Hamburg und Nordschleswig. — 49. J. — Kiel, Nr. 4 vom 2. Februar 1973. - S. l 29. Zur theologischen Situation. — in: Nordelbischer Konvent kirchlicher Mitarbeiter. — Heft 3: Die Rolle der Theologie in Kirche und Gesellschaft. - Kiel, 1973. - S. 51-54 *30. „Liberale Theologie". — in: Zeugnis und Dienst: Beiträge zu Theologie und Kirche in Geschichte und Gegenwart; Günter Besch zum 70. Geburtstag / Hrsg. von Gottfried Sprondel. — Bremen, 1974. — S. 174— 186 „Liberale Theologie". — in: Kirchen und Liberalismus im 19. Jahrhundert / Hrsg. von Martin Schmidt; Georg Schwaiger. — Göttingen, 1976 (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts; Bd. 19). — S. 33—42

31. Vorwort zum Neudruck von: Aus Schleiermachers Leben: In Briefen. — in: Aus Schleiermachers Leben: In Briefen. — Bd. 1. — Berlin, I8602.

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— Fotomechanischer Nachdruck. — Berlin; New S. IX-XI

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York, 1974. —

32. Art.: Gefühl Schlechthinniger Abhängigkeit. — in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. - Bd. 3. - Basel; Stuttgart, 1974. - Sp. 98 33. Art.: Gefühlsreligion. — in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. - Bd. 3. - Basel; Stuttgart, 1974. - Sp. 99f 34. Art.: Gefühlstheologie. — in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. - Bd. 3. - Basel; Stuttgart, 1974. - Sp. lOOf 35. Art.: Glaubensphilosophie. — in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. - Bd. 3. - Basel; Stuttgart, 1974. - Sp. 664f *36. Schleiermacher-Interpretation heute. — in: Der evangelische Erzieher: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie. — 28. J. — Frankfurt am Main; Berlin; München, 1976. - S. 322-329 37. Das Verhältnis von Dogmatik und Ethik. — in: Handbuch zur christlichen Ethik / Hrsg. von Anselm Hertz; Wilhelm Korff; Trutz Rendtorff; Hermann Ringeling. — Bd. I. — Freiburg; Basel; Wien; Gütersloh, 1978. - S. 281-296 *38. Friedrich Schleiermacher (1768 — 1834). — in: Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert / Hrsg. von Martin Greschat. — Bd. 1. — Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz, 1978 (Urban-Taschenbücher; Bd. 284). — S. 9 — 21 [Die Literaturnachweise befinden sich in: Theologen im 19. und 20. Jahrhundert / Hrsg. von Martin Greschat. — Bd. 2. - Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz, 1978 (Urban-Taschenbücher; Bd. 285). - S. 420] 39. Kulturprotestantismus und Zweireichelehre. — in: Gottes Wirken in seiner Welt: Zur Diskussion um die Zweireichelehre / Hrsg. von Niels Hasselmann. — Bd. 1: Dokumentation einer Konsultation. — Hamburg, 1980 (Zur Sache - Kirchliche Aspekte heute; Bd. 19). - S. 81-92 40. Art.: Norm, Normen. — in: Evangelisches Soziallexikon / Hrsg. von Theodor Schober; Martin Honecker; Horst Dahlhaus. — Stuttgart; Berlin, 19807. - Sp. 955f 41. Art.: Pflicht, Pflichtethik. — in: Evangelisches Soziallexikon / Hrsg. von Theodor Schober; Martin Honecker; Horst Dahlhaus. — Stuttgart; Berlin, 19807. - Sp. lOOOf

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'"'42. Art.: Schleiermacher als Ethiker. — in: Evangelisches Soziallexikon / Hrsg. von Theodor Schober; Martin Honecker; Horst Dahlhaus. — Stuttgart; Berlin, 19807. - Sp. 1103 *43. [—· 132.] Einleitung. — in: Friedrich Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06) / Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hrsg. und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner. — Hamburg, 1981 (Philosophische Bibliothek; Bd. 334). - S. VII-XXVIII *44. /-» 133.] Einleitung. - in: Friedrich Schleiermacher: Ethik (1812/ 13): mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre / Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hrsg. und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner. — Hamburg, 1981 (Philosophische Bibliothek; Bd. 335). - S. VII-XXXIII Einleitung. — in: Friedrich Schleiermacher: Ethik (1812/13): mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre / Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hrsg. und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner. — Hamburg, 2. verbesserte Auflage 1990 (Philosophische Bibliothek; Bd. 335). - S. VII-XXXIII

45. Christian Wolff. — in: Gestalten der Kirchengeschichte / Hrsg. von Martin Greschat. — Bd. 8: Die Aufklärung. — Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz, 1983. - S. 187-198 *46. Schleiermacher als philosophischer Lehrer. — in: Der Beitrag ostdeutscher Philosophen zur abendländischen Philosophie / Hrsg. von Berthold Kaiser; Bernhard Stasiewski. — Köln; Wien, 1983 (Studien zum Deutschtum im Osten; Bd. 16). — S. 41 — 54 [—» 7.] Schleiermacher maestro di filosofia. — in: Hans-Joachim Birkner; Heinz Kimmerle; Giovanni Moretto: Schleiermacher Filosofo. — Neapel, 1985 (Memorie dell'Istituto Italiano per gli studi Filosofici; Bd. 14). - S. 15-35

47. Der Beitrag Emanuel Hirschs zur Debatte über das kirchliche Bekenntnis. — in: Die Lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen: Referate des Internationalen Symposiums auf der Reisenburg 1984 / Hrsg. von Wolf-Dieter Hauschild; Georg Kretschmar; Garsten Nicolaisen. — Göttingen, 1984. — S. 224—234 48. Vorwort. — in: Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube 1821/22 / Hrsg. von Hermann Peiter. — Studienausgabe Bd. 1. - Berlin; New York, 1984. - S. VII-XII *49. Friedrich Schleiermacher. — in: Gestalten der Kirchengeschichte / Hrsg. von Martin Greschat. — Bd. 9,1: Die neueste Zeit I. — Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz, 1985. - S. 87-115

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50. Art.: Lipsius, Richard Adelbert. — in: Neue Deutsche Biographie / Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. - Bd. 14. - Berlin, 1985. - S. 676 *5 . Schleiermachers „Kurze Darstellung" als theologisches Reformprogramm. — in: Schleiermacher in besonderem Hinblick auf seine Wirkungsgeschichte in Dänemark: Vorträge des Kolloquiums am 19. und 20. November 1984 / Hrsg. von Helge Hultberg; Karsten Friis Johansen; Theodor Joergensen; Friedrich Schmöe. — Kopenhagen; München, 1986 (Kopenhagener Kolloquien zur Deutschen Literatur; Bd. 13 = Text & Kontext Sonderreihe; Bd. 22). - S. 59-81 /—> 8.l La „Kurze Darstellung" di Schleiermacher come programma di riforma della teologia. — in: Hans-Joachim Birlcner; Michel Despland; Roberto Osculati; Sergio Sorrentino; Fulvio Tessitore; Giovanni Moretto: Schleiermacher e la Modernitä. — Turin, 1986 (Collana della Facolta Valdese di teologia; Bd. 15). - S. 11-26

52. Art.: Hirsch, Emanuel (1888-1972). - in: Theologische Realenzyklopädie. - Bd. XV. - Berlin; New York, 1986. - S. 390-394 *53. Glaubenslehre und Modernitätserfahrung: Ernst Troeltsch als Dogmatiker. — in: Troeltsch-Studien. — Bd. 4: Umstrittene Moderne: Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs / Hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf; Horst Renz. - Gütersloh, 1987. - S. 325-337 54. Vorwort. — in: Friedrich Schleiermacher: Theologische Enzyklopädie (1831/32): Nachschrift David Friedrich Strauß / Hrsg. von Walter Sachs. Mit einem Vorwort von Hans-Joachim Birkner. — Berlin; New York, 1987 (Schleiermacher-Archiv; Bd. 4). - S. VII-XI *55. Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern vorgestellt von Hans-Joachim Birkner. — in: New Athenaeum — Neues Athenaeum. — 1. J. — Lewiston; Queenston; Lampeter, 1989. — S. 12-49 56. (Mit Martin Honecker) Voraussetzungen für das Studium der Evangelischen Theologie. — in: Studierfähigkeit konkret: Erwartungen und Ansprüche der Universität / Hrsg. von Thomas Finkenstaedt und Werner Heldmann im Auftrag des Deutschen Hochschulverbandes. — Bad Honnef, 1989. - S. 29-35 57. Art.: Kiel, Universität. — in: Theologische Realenzyklopädie. — Bd. XVIII. - Berlin; New York, 1989. - S. 134-138 *58. Die Schleiermacher-Gesamtausgabe: Ein Editionsunternehmen der Schleiermacher-Forschungsstellen Berlin und Kiel. — in: Jahrbuch der historischen Forschung 1990. - München, 1991. - S. 21-24

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*59. Ernst Troeltschs Marginalien zu Schleiermachers „Kurze Darstellung". — in: Mitteilungen der Ernst-Troeltsch-Gesellschaft / Hrsg. von Friedrich Wilhelm Graf. - Bd. 6. - Augsburg, 1991. - S. 8-12 IV. Rezensionen 60. Emil Brunner: Dogmatik III: Die christliche Lehre von der Kirche, vom Glauben und von der Vollendung. — Zürich; Stuttgart, 1960. — in: Monatsschrift für Pastoraltheologie: Zur Vertiefung des gesamten pfarramtlichen Wirkens. - 50. J. - Göttingen, 1961. - S. 454-456 61. Reich Gottes und Wirklichkeit: Festgabe für Alfred Dedo Müller zum 70. Geburtstag. — Berlin, 1961. — in: Monatsschrift für Pastoraltheologie: Zur Vertiefung des gesamten pfarramtlichen Wirkens. — 51. J. - Göttingen, 1962. - S. 466-467 62. Johannes Stelzenberger: Das Gewissen: Besinnliches zur Klarstellung eines Begriffs. — Paderborn, 1961. — in: Theologische Literaturzeitung. - 88. J. - Berlin, 1963. - Sp. 307 63. Hans-Georg Fritzsche: Die Strukturtypen der Theologie: Eine kritische Einführung in die Theologie. — Göttingen, 1961 (Forschungen zur Systematischen Theologie und Religionsphilosophie; Bd. 6). — in: Monatsschrift für Pastoraltheologie: Zur Vertiefung des gesamten pfarramtlichen Wirkens. - 52. J. - Göttingen, 1963. - S. 319-320 64. Hayo Gerdes: Das Christusverständnis des jungen Kierkegaard: Ein Beitrag zur Erläuterung des Paradox-Gedankens. — Itzehoe, 1962. — in: Die Spur: Vierteljahrsschrift für evangelische Lehrer in Deutschland. — 4. J. - Itzehoe; Berlin, 1964. - S. 182-184 65. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode: Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. — Tübingen, 1960. — in: Monatsschrift für Pastoraltheologie. - 53. J. - Göttingen, 1964. - S. 307-308 66. Das Bekenntnis im Leben der Kirche: Studien zur Lehrgrundlage und Bekenntnisbildung in den lutherischen Kirchen / Hrsg. von Valmos Vajta; Hans Weissgerber. — in: Lutherische Monatshefte. — 4. J. — Hamburg, 1965. - Literaturheft. - S. 34 67. Holsten Fagerberg: Die Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften von 1529 — 1537. — in: Lutherische Monatshefte. — 4. J. — Hamburg, 1965. - Literaturheft. - S. 33f

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*68. Friedrich Hertel: Das theologische Denken Schleiermachers untersucht an der ersten Auflage seiner Reden ,Über die Religion'. — Zürich, 1965 (Studien zur Dogmengeschichte und Systematischen Theologie; Bd. 18). — in: Lutherische Monatshefte. — 5. J. — Hamburg, 1966. — S. 398f 69. /—» 88./ Walter Schmithals: Die Theologie Rudolf Bultmanns: Eine Einführung. — in: Lutherische Monatshefte. — 5. J. — Hamburg, 1966. - S. 406 70. Die Ernte eines Lebens: Abschluß der großen Kierkegaard-Ausgabe. — in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt: Unabhängige Wochenzeitung für Politik Wirtschaft Kultur. — 22. J. — Hamburg, Nr. 42 vom 15. Oktober 1967. — S. 21 [Rez. zu: Sören Kierkegaard: Gesammelte Werke. — Vollständige deutsche Ausgabe in 36 Abteilungen und 26 Bänden / Hrsg. und übertragen von Emanuel Hirsch; Hayo Gerdes. — Düsseldorf, 1950-1966] *71. Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers. — 2. Bd.: Schleiermachers System als Predigt und Theologie / Hrsg. von Martin Redeker. — Berlin, 1966. - in: Lutherische Monatshefte. - 7. J. - Hamburg, 1968. S. 387 72. Hans-Georg Gadamer: Kleine Schriften. — 2 Bde. — Tübingen, 1967. - in: Lutherische Monatshefte. - 7. J. - Hamburg, 1968. - S. 413f 73. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, 1966. — in: Lutherische Rundschau: Zeitschrift des lutherischen Weltbundes. — 18. J. — Stuttgart, 1968. - S. 191-192 74. Appell an die Kirchen der Welt: Dokumente der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft / Hrsg. vom Ökumenischen Rat der Kirchen. — Stuttgart; Berlin, 1967. — in: Lutherische Rundschau: Zeitschrift des lutherischen Weltbundes. - 18. J. - Stuttgart, 1968. - S. 191-192 75. Georg Schmidt: Interessant und heilig: Auf dem Weg zur integralen Religionswissenschaft. — Zürich, 1971. — in: Lutherische Rundschau: Zeitschrift des lutherischen Weltbundes. - Stuttgart, 1973. - 23. J. - S. 116 *76. Terrence N. Tice: Schleiermacher Bibliography With Brief Introduction, Annotationes and Index. — Princeton, New Jersey, 1966 (Princeton Pamphlets; Bd. 12). — in: Philosophische Rundschau: Eine Vierteljahrsschrift für Philosophische Kritik. - 20. J. - Tübingen, 1974. S. 297-299

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*77. Klaus Eberhard Welker: Die grundsätzliche Beurteilung der Religionsgeschichte durch Schleiermacher. — Leiden; Köln, 1965. — in: Philosophische Rundschau: Eine Vierteljahrsschrift für Philosophische Kritik. - 20. J. - Tübingen, 1974. - S. 299-302 78. Hans Wagenhammer: Das Wesen des Christentums: Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung. — Mainz, 1973. — in: Theologische Literaturzeitung. - 102. J. - Berlin, 1977. - Sp. 376-378 *79. Karl Barth: Die Theologie Schleiermachers: Vorlesung Göttingen Wintersemester 1923/24 / Hrsg. von Dietrich Ritschi. - Zürich, 1978 (Karl Barth Gesamtausgabe. - II. Akademische Werke 1923/24). - in: Theologische Literaturzeitung. - 106. J. - Berlin, 1981. - Sp. 59-61 *8Q. Volker Weymann: Glaube als Lebensvollzug und der Lebensbezug des Denkens: Eine Untersuchung zur Glaubenslehre Friedrich Schleiermachers. — Göttingen, 1977. — in: Theologische Literaturzeitung. — 106. J. - Berlin, 1981. - Sp. 506f *81. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Theologische Schriften / Hrsg. und eingeleitet von Kurt Nowak. — Berlin, 1983. — in: Theologische Literaturzeitung. - 109. J. - Berlin, 1984. - Sp. 747f *82. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Philosophische Schriften / Hrsg. und eingeleitet von Jan Rachold. — Berlin, 1984. — in: Theologische Literaturzeitung. - 111. J. - Berlin, 1986. - Sp. 51-53 V. Rundfunkbeiträge (Vorträge und Buchanzeigen) *83. Schlechthin abhängig von Gott: Ein Portrait Friedrich Schleiermachers (1768-1834). - Deutschlandfunk. - gesendet am 22.7.1964, 22.00-22.30 Uhr 84. Christusidee und Jesusbild: Ein Portrait David Friedrich Strauß' (1808-1874). - Deutschlandfunk. - gesendet am 9.12.1964, 22.00-22.30 Uhr 85. Rez. zu: Jürgen Moltmann: Theologie der Hoffnung: Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie. — München, 1964. — Deutschlandfunk: Das theologische Buch. - gesendet am 12.7.1965, 10.10-10.40 Uhr 86. Rez. zu: Emanuel Hirsch: Predigerfibel. — Berlin, 1964. — Deutschlandfunk: Das theologische Buch. — gesendet am 13.12.1965, 10.10-10.40 Uhr

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87. Die liberale Theologie — ihr Ruf und ihre Wirkung. — Deutschlandfunk. - gesendet am 11.5.1966, 22.10-22.35 Uhr Die liberale Theologie — ihr Ruf und ihre Wirkung. — Deutschlandfunk. — gesendet am 29.9.1971

88. [—· 69.] Rez. zu: Walter Schmithals: Die Theologie Rudolf Bultmanns: Eine Einführung. — Tübingen, 1966. — Deutschlandfunk: Das theologische Buch. - gesendet am 12.9.1966, 10.10-10.40 Uhr 89. Über Adolf Deißmann, geb. am 7. November 1866. — Deutschlandfunk: Wir erinnern. — gesendet am 7.11.1966 90. Rez. zu: Emanuel Hirsch: Ethos und Evangelium. — Berlin, 1966. — Deutschlandfunk: Das theologische Buch. — gesendet am 14.11.1966, 10.10-10.40 Uhr 91. Rez. zu: Heinz Zähmt: Die Sache mit Gott: Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert. — München, 1966; Eberhard Hübner: Evangelische Theologie in unserer Zeit: Ein Leitfaden. — Bremen, 1966; Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert: Eine Geschichte in Porträts / Hrsg. von Hans Jürgen Schultz. — Stuttgart, 1966. — Deutschlandfunk: Das theologische Buch. — gesendet am 12.12.1966, 10.10-10.30 Uhr 92. Über Theodosius Harnack, geb. am 3. Januar 1817. — Deutschlandfunk: Wir erinnern. — gesendet am 3.1.1967 93. Rez. zu Paul L. Lehmann: Ethik als Antwort: Methodik einer Koinonia-Ethik /Aus dem Amerikanischen übersetzt von Dietz Lange. — München, 1966. — Deutschlandfunk: Das theologische Buch. — gesendet am 10.7.1967, 10.10-10.30 Uhr 94. /-> 18.] Die Weihnachtsgeschichten (I). - Deutschlandfunk: Radiokolleg „Historisch-kritische Analyse biblischer Texte". — gesendet am 21.3.1967, 10.10-10.30 Uhr Die Weihnachtsgeschichten (I). - Deutschlandfunk: Radiokolleg „Historisch-kritische Analyse biblischer Texte". - gesendet am 28.7.1970, 17.30-17.50 Uhr

95. /—> 18.] Die Weihnachtsgeschichten (II). — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Historisch-kritische Analyse biblischer Texte". — gesendet am 28.3.1967, 10.10-10.30 Uhr Die Weihnachtsgeschichten (II). — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Historisch-kritische Analyse biblischer Texte". - gesendet am 4.8.1970, 17.30-17.50 Uhr

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96. /—» 18.] Die Weihnachtsgeschichten (III). - Deutschlandfunk: Radiokolleg „Historisch-kritische Analyse biblischer Texte". — gesendet am 4.4.1967, 10.10-10.30 Uhr Die Weihnachtsgeschichten (III). — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Historisch-kritische Analyse biblischer Texte". - gesendet am 11.8.1970, 17.30-17.50 Uhr

97. /-» 19.] Richard Rothe. - Deutschlandfunk: Radiokolleg „Unbefangenes Christentum: Deutsche Repräsentanten und Interpreten des Protestantismus". — Folge VIII. — gesendet am 4.10.1967 98. Luthers Thesenanschlag. gesendet am 31.10.1967

— Deutschlandfunk: Wir erinnern. —

99. Rez. zu: Urban Forell: Wunderbegriffe und logische Analyse: Logisch-philosophische Analyse von Begriffen und Begriffsbildung aus der deutschen protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts. — Göttingen, 1967 (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie; Bd. 17). — Deutschlandfunk: Das theologische Buch. — gesendet am 5.2.1968, 10.10-10.40 Uhr 100. Besprechung systematischer Studien. — Rez. zu: Gerhard Gloege: Theologische Traktate. — 1. Band: Heilsgeschehen und Welt. — Göttingen, 1965. — 2. Band: Verkündigung und Verantwortung. — Göttingen, 1967; Wolfhart Pannenberg: Grundfragen systematischer Theologie: Gesammelte Aufsätze. — Göttingen, 1967. — Deutschlandfunk: Das theologische Buch. - gesendet am 2.9.1968, 10.10-10.40 Uhr ''101. Der politische Schleiermacher: Zu seinem Geburtstag am 21.11.1968. - Deutschlandfunk. - gesendet am 19.11.1968, 20.00-21.00 Uhr 102. Über Michael Hahn, gest. am 20. Januar 1819. — Deutschlandfunk: Wir erinnern. — gesendet am 20.1.1969 103. /—» 3./ Protestantische Selbstbezeichnungen. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Deutungen des Protestantismus". — Folge I. — gesendet am 4.3.1969, 17.30-17.50 Uhr 104. [—»3.] Der Ursprung des Protestantismus — Reformation oder Revolution. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Deutungen des Protestantismus". - Folge II. - gesendet am 11.3.1969, 17.30-17.50 Uhr 105. /—» 3.] Protestantismus als kirchlich-dogmatisches System. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Deutungen des Protestantismus". — Folge III. - gesendet am 18.3.1969, 17.30-17.50 Uhr

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206. /—>· 3.] Protestantismus als individuelle Haltung. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Deutungen des Protestantismus". — Folge IV. — gesendet am 25.3.1969, 17.30-17.50 Uhr 107. /—»3.] Protestantismus als Epoche der Christentumsgeschichte. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Deutungen des Protestantismus". — Folge V. - gesendet am 1.4.1969, 17.30-17.50 Uhr 108. [—* 3.] Altprotestantismus und Neuprotestantismus. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Deutungen des Protestantismus". — Folge VI. — gesendet am 8.4.1969, 17.30-17.50 Uhr 109. /—» 3.] Imitationen des Altprotestantismus. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Deutungen des Protestantismus". — Folge VII. — gesendet am 15.4.1969, 17.30-17.50 Uhr 110. [—* 3.] Die Frage nach dem Prinzip des Protestantismus. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Deutungen des Protestantismus". — Folge VIII. - gesendet am 22.4.1969, 17.30-17.50 Uhr 121. [—* 3.] Die Zukunft des Protestantismus. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Deutungen des Protestantismus". — Folge IX. — gesendet am 29.4.1969, 17.30-17.50 Uhr 222. Beginn der Leipziger Disputation zwischen Luther und Eck am 4. Juli 1519. — Deutschlandfunk: Wir erinnern. — gesendet am 4.7.1969 223. [—*· 23.] Religiöser Sozialismus. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Protestantismus und Gesellschaft im 20. Jahrhundert". — Folge III. — gesendet am 18.11.1969, 17.30-17.50 Uhr 224. Dietrich Bonhoeffer, hingerichtet am 9. April 1945. — Deutschlandfunk: Wir erinnern. — gesendet am 9.4.1970 225. Kirche und Politik: Literatur zur politischen Ethik. — Rez. zu: Hans-Dieter Wolfinger: Der unvollendete Sozialismus: Ein vergessener Auftrag der Kirche. — Hamburg, 1970; Theodor Strohm: Kirche und demokratischer Sozialismus: Studien zur Theorie und Praxis politischer Kommunikation. — München, 1968; Darril Hudson: Oekumene und Politik / Aus dem Amerikanischen von Ulrich Bracher. — Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz, 1970; Diskussion der Theologie der Revolution: Mit einer Einleitung, einem Dokumententeil und einer Bibliographie / Hrsg. von Ernst Feil; Rudolf Weth. - München; Mainz, 1969; Christian Walther: Christenheit im Angriff: Zur Theologie der Revolution. — Güters-

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loh, 1969; Politisches Nachtgebet in Köln / Hrsg. im Auftrag des ökumenischen Arbeitskreises „Politisches Nachtgebet" von Dorothee Solle; Fulbert Steffensky. — Stuttgart; Mainz, 1969. — Deutschlandfunk. — gesendet am 5.10.1970, 10.10-10.30 Uhr 116. Die evangelische Theologie in Deutschland seit 1945. — Deutschlandfunk: 25 Jahre deutsche Forschung. — gesendet am 9.11.1970, 15.05-16.00 Uhr 117. Frömmigkeit und Theologie. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Die Kirche 25 Jahre nach dem 2. Weltkrieg". — Folge VIII. — gesendet am 22.12.1970, 17.30-17.50 Uhr 118. Rez. zu Peter L. Berger: Auf den Spuren der Engel: Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz / Aus dem Amerikanischen übersetzt von Monika Plessner. — Frankfurt am Main, 1970. - Deutschlandfunk. - gesendet am 9.8.1971, 10.10-10.30 Uhr 119. Gott in Amerika: Amerikanische Theologie seit 1960. — Rez. zu: Fritz Buri: Gott in Amerika: Amerikanische Theologie seit 1960. — Bern; Tübingen, 1970; Theologie im Umbruch: Der Beitrag Amerikas zur gegenwärtigen Theologie / Hrsg. von Dean Peerman. Aus dem Amerikanischen von Christoph und Gertrud Hahn. — München, 1968. — Deutschlandfunk. - gesendet am 13.9.1971, 10.10-10.30 Uhr 120. [—* 27.] Max Horkheimer. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Die Religion der Religionskritik". — Folge VIII. — gesendet am 5.4.1972, 17.30-17.50 Uhr Max Horkheimer. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Die Religion der Religionskritik". - Folge VIII. - gesendet am 8. 1. 1974, 17.30-17.50 Uhr

121. Das durchschnittliche Jesusbild. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Jesus in der neuzeitlichen Frömmigkeit". — gesendet am 29. 8. 1972, 17.10-17.30 Uhr 122. Kirche in der Universität? Beobachtungen zur Situation der evangelischen Theologie. — Deutschlandfunk. — gesendet am 10.1.1973, 22.15-22.40 Uhr 123. Theologische Wissenschaftstheorie. — Rez. zu: Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie. — Frankfurt am Main, 1973; Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie: Die Theologie und die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion; Materialien, Analysen, Entwürfe / Hrsg. von Gerhard Sauter in Verbindung mit Jürgen Courtin;

Bibliographie der Schriften Hans-Joachim Birkners (1959-1991)

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Hans-Wilfried Haase; Gisbert König; Wolfgang Raddatz; Gerolf Schultzky; Hans Günter Ulrich. — München, 1973. — Deutschlandfunk. — gesendet am 17.6.1974, 10.10-10.30 Uhr 124. Das Verhältnis der Kirche zur Macht. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Herrschaft in der Kirche". — gesendet am 25.6.1974, 17.30-17.50 Uhr 225. Reflektierter Glaube: Neuere dogmatische Literatur. — Rez. zu: Rolf Schäfer: Der evangelische Glaube. — Tübingen, 1973; Hans Graß: Christliche Glaubenslehre. — Teil 1. — Stuttgart; Berlin; Köln; Mainz, 1973 (Theologische Wissenschaft; Bd. 12/1); Fritz Buri; Jan Milic Lochmann; Heinrich Ott: Dogmatik im Dialog. — Band 1: Die Kirche und die letzten Dinge. — Gütersloh 1973; Heinrich Ott: Die Antwort des Glaubens: Systematische Theologie in 50 Artikeln. — Stuttgart, 19732; Horst Georg Pöhlmann: Abriß der Dogmatik: Ein Repetitorium. — Gütersloh, 1973. — Deutschlandfunk: Das theologische Buch. — gesendet am 22.7.1974, 10.10-10.30 Uhr i 26. Praxis der Kirchenmitgliedschaft. — Deutschlandfunk: Radiokolleg „Der Christ in der Statistik". - gesendet am 6.11.1974, 14.10-14.30 Uhr 327. Ein Kursbuch des Glaubens: Der neue evangelische Erwachsenenkatechismus. — Rez. zu: Evangelischer Erwachsenenkatechismus: Kursbuch des Glaubens / Im Auftrag der Katechismuskommission der VELKD hrsg. von Werner Jentsch; Hartmut Jetter; Manfred Kießig; Horst Reller. - Gütersloh, 1975. - Deutschlandfunk. - gesendet am 21.7.1975, 10.05-10.30 Uhr 128. Nachruf auf Rudolf Bultmann. — Deutschlandfunk. — gesendet am 2.8.1976, 19.10 Uhr 229. Zum Tode Rudolf Bultmanns. — Deutschlandfunk. — gesendet am 3.8.1976, 22.05 Uhr 230. Einigung und Abgrenzung in den Bekenntnisschriften der Reformation. - Deutschlandfunk. - gesendet am 16.7.1980, 14.10-14.30 Uhr VI. Editionen und Herausgebertätigkeit 232. Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe / Hrsg. von Hans-Joachim Birkner und Gerhard Ebeling; Hermann Fischer; Heinz Kimmerle; Kurt-Victor Selge. - Berlin; New York, 1980-1991

414

Bibliographie der Schriften Hans-Joachim Birkners (1959-1991)

132. /-» 43.] Friedrich Schleiermacher: Brouillon zur Ethik (1805/06) / Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hrsg. und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner. — Hamburg, 1981 (Philosophische Bibliothek; Bd. 334) 133. /—» 44.] Friedrich Schleiermacher: Ethik (1812/13): mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre / Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hrsg. und eingeleitet von HansJoachim Birkner. — Hamburg, 1981 (Philosophische Bibliothek; Bd. 335) Friedrich Schleiermacher: Ethik (1812/13): mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre / Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hrsg. und eingeleitet von Hans-Joachim Birkner. — Zweite, verbesserte Auflage Hamburg, 1990 (Philosophische Bibliothek; Bd. 335)

134. Schleiermacher-Archiv / Hrsg. von Hermann Fischer und HansJoachim Birkner; Gerhard Ebeling; Heinz Kimmerle; Kurt-Victor Selge. - Berlin; New York, 1985-1991

Namensregister (Die Namen der „Einleitung des Herausgebers" und der „Bibliographie der Schriften Hans-Joachim Birkners" am Ende des Bandes sind nicht berücksichtigt) Achelis, Hans 334 Altenstein, Karl Freiherr vom Stein zum 145; 199; 245; 267 Althaus, Paul 82 Ammon, Friedrich von 268 Anaximander 242 Anselm von Canterbury 205; 279 Apfelbacher, Karl-Ernst 71 Aristoteles 159; 211; 227; 239; 242; 254; 322 Arndt, Andreas 315; 325; 326; 327; 328; 342 Arndt, Ernst Moritz 146; 198; 267 Barth, Karl 18; 19; 20; 21; 22; 48; 49; 53; 64; 73; 139; 141; 158; 159; 167; 193; 206; 282; 290; 291; 320; 358; 363; 386; 387; 388; 389; 390; 391 Barth, Ulrich 121; 281; 282; 325; 341; 342 Bassermann, Heinrich 61 Bauch, Bruno 334 Bauer, Bruno 56 Bauer, Johannes 215; 226; 241; 281; 282; 316; 334; 366 Baumotte, Manfred 55 Baur, Ferdinand Christian 55; 59; 62 Beckmann, Klaus-Martin 351; 352; 358 Beintker, Horst 393 Bekker, Immanuel 332 Bender, Wilhelm 166 Beyschlag, Willibald 60

Biedermann, Alois Emanuel 57; 58; 59; 62 Bielcken, Johann Achatius Felix 8; 9; 10; 11 Birkner, Hans-Joachim 40; 114; 148; 206; 208; 246; 248; 281; 282; 320;327; 337;339 Bismarck, Otto von 199; 269 Blair, Hugh 256 Bleek, Friedrich 310; 311; 314; 332 Blumhardt, Johann Christoph 48 Börsch, Ekkehard 224 Bolli, Heinz 158; 363; 388; 393 Bonhoeffer, Dietrich 49 Bonneil, Eduard 310; 329 Bornkamm, Heinrich 318; 319 Brandis, Christian August 228; 246; 310; 313; 329 Braun, Otto 179; 200; 207; 214; 215; 216; 219; 222; 223; 226; 228; 229; 230; 232; 235; 236; 241; 246; 272; 281; 282; 316; 327; 332; 333; 354; 358; 366; 394 Bretschneider, Karl Gottlieb 55; 56; 57 Brinkmann, Carl Gustav von 261; 283 Brunner, Emil 18; 90; 92; 100; 141; 158; 359; 388 Bultmann, Rudolf 17; 52; 356; 388 Buttmann, Philipp 242 Calov, Abraham 7 Calvin, Johannes 31; 35; 388

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Namensregister

Clemen, Carl 188; 286 Cordes, Martin 183 Daub, Karl 167 Demokrit 242 Deutschmann, Johann 7 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht 198; 199; 267; 270; 271; 310 Diesterweg, Friedrich Adolph Wilhelm 244 Dilthey, Wilhelm 140; 141; 143; 162; 166; 167; 173; 183; 184; 185; 206; 207; 208; 209; 214; 226; 228; 239; 246; 262; 272; 282; 315; 316; 317; 325; 333; 353; 368; 369; 370; 376; 377; 378; 379; 394 Diogenes v. Apollonia 242 Doerne, Martin 42; 158; 177; 363 Dohna, Burggrafen zu 255 Dohna, Alexander von 288 Dorner, Isaak August 55 Drey, Johann Sebastian 289 Dulon, Friedrich Ludwig 224 Ebeling, Gerhard 114; 148; 158; 281; 320; 337; 339; 363; 371; 373; 390 Eberhard, Johann August 160; 194; 239; 254 Eckert, Alfred 289 Eichhorn, Johann Albert Friedrich 332 Eiert, Werner 65 Eller, Elias 251 Empedokles 242 Erdmann, Johann Eduard 9 Fawcett, Joseph 256 Feuerbach, Ludwig 18; 20; 49; 56 Fichte, Johann Gottlieb 100; 118; 126; 141; 159; 162; 173; 198; 200; 207; 210; 238; 240; 247; 262; 266; 272; 320

Fischer, Hermann 30; 114; 148; 281; 318; 320; 328; 337; 339 Fischer-Appelt, Peter 59 Foerster, Erich 60 Fort (s. le Fort) Francke, August Hermann 254 Frank, Franz Hermann Reinhold 72 Frank, Gustav 55 Frank, Manfred 247; 282 Frauenstädt, Julius 244 Frerichs, Jacob 180; 272; 313 Friedrich II. (der Große), König von Preußen 149 Friedrich-Wilhelm II., König von Preußen 148 Friedrich-Wilhelm III., König von Preußen 268 Fror, Kurt 125; 128 Gadamer, Hans-Georg 318; 363 Gaß, Joachim Christian 142; 218; 219; 220; 223; 224; 225; 226; 231; 234; 235; 240; 250; 286; 287; 288; 302 Gaß, Wilhelm 218; 219; 220; 223-226; 231; 234; 235; 286-288; 302 Gedike, Friedrich 255 George, Leopold 246; 314 Gerdes, Hayo 226; 281; 367 Gerhard, Johann 5; 67 Gerner, Berthold 206; 365 Gerrish, Brian A. 65 Gneisenau, August Graf Neithardt von 143 Gogarten, Friedrich 21; 34 Grab, Wilhelm 282 Graf, Friedrich Wilhelm 69; 73 Graß, Hans 54 Grassi, Ernesto 241 Grosche, Robert 126 Grunow, Eleonore 263 Grützmacher, Richard H. 35 Gutberiet, Constantin 67 Güttier, Carl 10 Haering, Theodor 58 Hagenbach, Karl Rudolf

290

Namensregister

Halpern, Isidor 246; 272; 316; 327;333 Hardenberg, Karl August Fürst von 145; 245 Harms, Claus 197; 261; 268 Harnack, Adolf von 17; 53; 54; 62; 70; 72; 73; 317; 334 Hase, Karl von 25; 26; 55; 60 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18; 54; 87; 100; 125; 126; 132; 134; 135; 142; 173; 185; 200; 204; 247; 248; 270; 272; 278; 320; 382 Heim, Karl 317; 335 Heinrich, Johann Baptist 67 Heinrici, C. F. Georg 220; 247 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 270 Hensel, Paul 334 Heraklit 242 Herbert von Cherbury, Edward 10; 351 Herbig, Friedrich August 313 Herder, Johann Gottfried 27; 41; 42; 349 Herms, Eilert 179; 239; 282; 369 Herrmann, Wilhelm 53; 59; 62; 74; 75 Herrmann, Wolfgang 370 Hertel, Friedrich 172; 370; 373; 374; 375 Herz, Henriette 116; 217; 256 Herz, Markus 116; 256 Hinneberg, Paul 29; 59 Hinrichs, Hermann Friedrich Wilhelm 247; 248; 278 Hirsch, Emanuel 42; 86; 126; 166; 173; 205; 206; 223; 226; 280; 281; 283; 353; 367; 368; 370 Hoffmeister, Johannes 133; 135 Hohlwein, Hans 24 Holstein, Günther 317; 334 Holtzmann, Heinrich Julius 60 Honecker, Martin 283 Hoßbach, Peter Wilhelm Heinrich 332 Hübner, Eberhard 33 Hügel, Friedrich von 71

417

Jacobi, Friedrich Heinrich 162; 164; 183; 184; 191; 238; 239; 334;392 Jaeger, Werner 317; 334 Jaeschke, Walter 343 Jetter, Werner 295 Jonas, Ludwig 126; 153; 179; 183; 184; 185; 200; 208; 211; 212; 227; 228; 246; 272; 309; 310; 311; 313; 314; 315; 327; 329; 332; 333; 368; 379; 394 Jergensen, Theodor H. 283; 351; 352; 357 Kade, Franz 283 Kahler, Martin 67 Kant, Immanuel 4; 11; 12; 14; 18; 27; 54; 58; 86; 98; 116; 118; 140; 159; 160; 162; 167; 173; 194; 207; 209; 210; 239; 240; 254; 255; 262 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 206; 283; 368 Kattenbusch, Ferdinand 59; 317; 334 Kaulbach, Friedrich 363 Kautzsch, Emil 290 Kayser, Christian Gottlob 313 Keil, Siegfried 363 Keim, Rudolf 60 Kimmerle, Heinz 114; 148; 247; 272; 281; 282; 318; 320; 327; 337; 339; 351; 352; 353; 363; 367; 370 Kirchmann, Julius Hermann von 81; 179; 214; 228; 246 Kittel, Helmuth 371 Klapwijk, Jacob 65 Klein, Friedrich August 55 Klenze, Klemens August Karl 332 Koch, Willi A. 144; 264 Köhler, Walther 65 Köpke, Rudolf 218; 250 Kotzebue, August von 146; 198; 267 Krug, Wilhelm Traugott 55

418

Namensregister

Kübel, Robert 61 Küpper, Helmut 351 Lachmann, Carl 310; 314; 329; 332 Lagarde, Paul de 44; 45; 270 Lambinet, Ludwig 126 Landshut, Siegfried 20 Lange, Dietz 20; 283; 371 Laubisch, Friedrich 320; 339 Lautner, Gerd 370 Leese, Kurt 30 le Fort, Gertrud von 63; 64; 75 Lehnerer, Thomas 282 Leibniz, Gottfried Wilhelm 9; 239 Lenz, Max 145; 146; 225; 245; 250 Leopold II., Deutscher Kaiser 148 Leuba, James Henry 40 Lhotzky, Heinrich 48; 49 Lichtenstein, Ernst 246; 363; 367 Liebert, Arthur 334 Liebing, Heinz 318 Lipsius, Richard Adelbert 57; 58; 59, 67 Litt, Theodor 335 Locke, John 11 Loewenich, Walther von 37 Lommatzsch, Carl 246; 310; 329 Lücke, Friedrich 81; 82; 84; 90; 111; 114; 164; 166; 171; 182; 183; 185; 205; 237; 247; 248; 270; 272; 278; 281; 305; 310; 313; 314; 316; 324; 329; 353; 392; 393 Ludwig XVI., König von Frankreich 148 Lülmann, Christian 99; 138 Luther, Martin 15; 16; 30; 34; 35; 37; 59; 65; 74; 123; 268 Marheineke, Philipp Konrad 128; 186; 199; 248; 270; 300 Marx, Karl 20; 49

Massow, Eberhard Julius Wilhelm Ernst von 224 Matthes, Joachim 40 Meckenstock, Günter 116; 149; 209; 281; 325; 341; 394 Meineke, Johann Albert Friedrich August 332 Meiner, Felix 332; 351 Meisner, Heinrich 137; 142; 183; 184; 185; 217; 218; 219; 220; 223; 224; 225; 226; 231; 234; 235; 240; 254; 255; 281; 283; 286; 287; 288; 289; 302; 334; 335 Melanchthon, Philipp 5; 6; 15; 16; 67; 83 Mensching, Gustav 381 Merkle, Sebastian 317; 335 Messer, August 335 Meyer, Ernst Rudolph 283 Michaelis, Johann David 349 Misch, Georg 317; 335 Moltmann, Jürgen 73 Moretto, Giovanni 226 Mulert, Hermann 60; 61; 81; 140; 164; 166; 209; 226; 227; 237; 239; 240; 281; 282; 309; 316; 317; 318; 333; 334; 335; 338; 368; 369;377 Müller, Karl 317; 335 Mursinna, Samuel 254; 287 Musaeus, Johann 5; 7 Napoleon I. Bonaparte, Kaiser der Franzosen 142; 143 Naumann, Friedrich 64; 77 Neander, August 99; 138; 205; 270 Neander, Daniel Amadeus 332 Neuenschwander, Ulrich 52 Neuner, Peter 71 Nicolovius, Georg Heinrich Ludwig 332 Nigg, Walter 60 Nippold, Friedrich 58 Nitzsch, Carl Immanuel 310; 311; 313 Nöbling, Johann August Christian 295

Namensregister

Nohl, Herman 173; 210; 215; 226; 262; 316; 317; 333; 335; 395 Nösselt, Johann August 287; 288; 291; 292; 296; 297; 298; 299; 300; 303 Novalis (Hardenberg, Friedrich Freiherr v.) 257 Nowak, Kurt 281; 392; 393 Odebrecht, Rudolf 179; 200; 246; 272; 282; 318; 327 Oettingen, Alexander von 67 Offermann, Doris 182; 283; 371 Ohst, Martin 325; 341 Oranje, Leendert 371 Ottiger, Ignatius 67 Otto, Rudolf 81; 205; 240; 261; 316; 317; 335; 366; 375; 383; 385;386 Otto, Walter Friedrich 241 Pannenberg, Wolfhart 370 Patsch, Hermann 325; 341 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 264; 349 Peiter, Hermann 121; 211; 281; 282; 325; 327; 341; 342; 367 Pfleiderer, Otto 26; 27; 28; 35; 55; 57; 58; 59 Plamböck, Gert 241 Plank, Gottlieb Jakob 285; 287; 288; 291; 292; 294; 295; 296; 297; 298; 299; 300; 303 Plato 116, 139, 159, 160, 161, 162, 165, 197, 223, 241, 242, 263, 265, 271, 317, 318,364 Platz, Carl 22; 42; 54; 94; 97; 106; 145; 178; 185; 200; 201; 207; 209; 246; 272; 274; 276; 293; 299; 303; 313; 352 Pünjer, G. Ch. Bernhard 131; 174; 205; 240; 281; 316; 333; 353; 375 Quapp, Erwin Herbert Ulrich 173;369 Quenzel, Karl 20

419

Rachold, Jan 393; 395 Rade, Martin 53; 60; 335 Ragaz, Leonhard 48 Ranke, Leopold von 269 Rathje, Johannes 53 Ratschow, Carl Heinz 206; 240; 366 Rauch, Christian Daniel 264 Reble, Albert 208; 223; 283 Redeker, Martin 143; 166; 206; 209; 239; 282; 283; 318; 319; 320; 351; 354; 367; 368; 369; 370; 376; 377 Reimer, Georg 81; 146; 152; 198; 224; 246; 267; 269; 272; 309; 313; 315;340 Reinhold, Karl Leonhard 183 Reischle, Max 290 Rendtorff, Trutz 33; 42; 173; 371 Renz, Horst 73 Reuter, Hans-Richard 142; 283 Ritschi, Albrecht 4; 14; 15; 16; 17; 18; 19; 22; 53; 54; 58; 59; 60; 62; 74; 141; 166; 290; 316 Ritschi, Dietrich 282; 291; 386; 390 Ritschi, Otto 165; 172; 359 Ritter, August Heinrich 228; 246; 310; 329 Rogge, Joachim 319 Rosenberg, Hans 55 Rosenzweig, Franz 134 Rössler, Dietrich 40 Rothe, Richard 24; 47; 62 Rothert, Hans-Joachim 206; 240; 318; 351; 352; 353; 366; 375 Ruddies, Hartmut 69 Rütenik, Karl August 314 Sachs, Walter 328 Sack, Friedrich Samuel Gottfried 256; 392 Sack, Karl Heinrich 90 Samson, Holger 351; 352; 356 Sand, Karl Ludwig 146; 198; 267 Sauter, Gerhard 49 Savigny, Friedrich Karl von 331

420

Namensregister

Scharnhorst, Gerhard Johann David von 143 Scheel, Otto 317; 335 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 89; 100; 159; 162; 164; 179; 238; 293; 320 Schelsky, Helmut 243 Schenkel, Daniel 57; 60; 283 Schiele, Friedrich Martin 68; 214; 227; 228; 229; 240; 246; 281; 316; 333; 395 Schlegel, Friedrich 116; 139; 153; 160; 195; 197; 207; 210; 219; 227; 241; 257; 262; 263; 333 Schlegel, August Wilhelm 257; 333 Schleiermacher, Anne (Nanny) Maria Louise; (verh. Arndt), Schleiermachers Halbschwester 198; 267 Schleiermacher, Carl; Schleiermachers Bruder 251 Schleiermacher, Catharina Maria; Schleiermachers Mutter 251 Schleiermacher, Charlotte; Schleiermachers Schwester 194; 251; 253 Schleiermacher, Elisabeth; Schleiermachers Tochter 266 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst passim Schleiermacher, Gertrud; Schleiermachers Tochter 266; 310 Schleiermacher, Henriette; (geb. von Mühlenfels, verw. von Willich), Schleiermachers Frau 198; 266 Schleiermacher, Hildegard; (verh. Gräfin Schwerin), Schleiermachers Tochter 266; 315 Schleiermacher, Nathanael; Schleiermachers Sohn 266 Schleyermacher, Daniel; Schleiermachers Großvater 251

Schleyermacher, Johann Gottlieb Adolph; Schleiermachers Vater 251 Schmidt, Martin 318; 363 Scholtz, Gunter 283 Scholz, Heinrich 191; 206; 281; 290; 316; 318; 333; 335; 367 Scholz, Hermann 335 Schopenhauer, Arthur 244 Schröter, Wilhelm 55 Schrofner, Erich 283 Schubert, Hans von 335 Schultz, Werner 351; 355; 363 Schulze, Theodor 283; 351; 352; 365;367 Schumann, Johann Lorenz 255 Schütte, Hans-Walter 44; 363 Schwarz, Carl 55 Schwarz, Friedrich Heinrich Christian 289: 302 Schwarz, Hermann 335 Schweitzer, Albert 59 Schweizer, Alexander 28; 179; 200; 207; 212; 213; 214; 215; 216; 219; 222; 228; 232; 246; 272; 311; 315; 329; 332; 358 Schweizer, Paul 52; 58 Seeberg, Erich 64; 317; 335 Seeberg, Reinhold 335 Seifert, Paul 172; 352; 358; 369; 373; 375 Selge, Kurt-Victor 114; 148; 281; 320; 325; 327; 337; 339 Seil, Karl 24 Semler, Johann Salomo 42; 173; 194; 254; 285; 298 Siegmund-Schultze, Friedrich Wilhelm 317; 335 Simon, Marianna 363 Söderblom, Nathan 335 Sokrates 242 Spinoza, Benedictus de (Baruch) 159; 162; 238; 239; 334 Stalder, Robert 176; 363; 371 Stange, Carl 290; 316; 333; 354 Steffens, Henrik 142; 144; 264; 269; 332

Namensregister

Stein, Karl, Reichsfreiherr vom und zum 75; 143; 150; 152; 267 Stephan, Horst 24; 335 Strauß, David Friedrich 18; 56; 57; 60; 62; 100; 101; 167; 283; 314; 328; 371 Strauß, Gerhard Friedrich Abraham 332 Stubenrauch, Samuel Ernst Timotheus 160; 193; 254; 255; 256 Stubenrauch, Timotheus Christian 251; 263 Süskind, Hermann 89; 179 Sydow, Adolf 310; 311; 315; 328; 329 Takamori, Akira 226 Thönes, Carl 354 Thurneysen, Eduard 388; 389 Tice, Terrence N. 206; 226; 280; 365; 368; 378 Tillich, Paul 37; 160; 317; 335; 381 Tindal, Matthew 11 Titius, Arthur 335 Toland, John 11 Traulsen, Hans-Friedrich 114; 325; 341; 342 Treitschke, Heinrich von 138 Trillhaas, Wolfgang 6; 8; 37; 40; 99; 157; 158; 283; 309; 363; 370 Troeltsch, Ernst 5; 8; 18; 24; 25; 28-34; 45; 53; 59; 62-78; 160; 345-348 Troeltsch, Marta 63 Twesten, August 179; 207; 214; 215; 219; 220; 228; 229; 232; 235; 246; 247; 272; 316; 327; 395 Unger, Rudolf 317; 335 Urner, Hans 367 Virmond, Wolfgang 232; 315; 325; 326; 327; 342

Volkelt, Johannes 335 Vorländer, Franz 357 Wagner, Falk 371 Walzel, Oskar 317; 335 Weber, Hans Emil 5; 21 Wehrung, Georg 335 Weinel, Heinrich 60; 335 Weiß, Bernhard 60 Weizsäcker, Hugo 335 Weizsäcker, Karl Heinrich von 60 Welker, Klaus Eberhard 381 Wendland, Johannes 335 Wendt, Hans Hinrich 58 Weniger, Erich 120; 224; 243; 246; 281; 318; 351; 352; 367 Wenzel, Heinz 318; 319 Wernle, Paul 83; 335 Wette (s. de Wette) Weymann, Volker 390 Willich, Ehrenfried von 198; 216; 223; 266 Willich, Ehrenfried von (Sohn des Vorigen) 266; 283; 310; 315 Willich, Henriette von (Schwester des Vorigen) 266 Wislicenus, Gustav Adolf 56 Wobbermin, Georg 164; 165; 335 Wolde, Georg 313 Wolf, Friedrich August 242 Wolff, Christian 8; 9; 18; 19; 194; 239; 254 Wyman jr., Walter E. 63, 65 Zabel, Friedrich 313 Zahn-Harnack, Agnes von 70 Zeller, Eduard 56 Zimmer, Friedrich 316 Zscharnack, Leopold 335 Zündel, Friedrich 48 Zwingli, Huldrich 35; 39; 373; 388

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Hans-Joachim Birkner

Schleiermachers Christliche Sittenlehre Im Zusammenhang seines philosophisch-theologischen

Systems

21,0 14,5 cm. 159 Seiten. 1964. Kartoniert ISBN 3-11-005217-2 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 8)

Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums Wolf gang Trillhaas zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Hans-Joachim Birkner und Dietrich Rössler 21,0x 14,5cm. Vin, 142 Seiten. 1968. Ganzleinen ISBN 3-11-006314-X

Schleiermacher und die wissenschaftliche Kultur des Christentums Herausgegeben von Günter Meckenstock in Verbindung mit Joachim Ringleben 21,0x14,5cm.XVI,521 Seiten. 1991.Ganzleinen ISBN3-11-012857-8 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Band 51) Preisändcrungen vorbehalten

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Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte (ZNThG) Journal for the History of Modern Theology (JHMTh) Herausgegeben von Richard E. Crouter, Friedrich Wilhelm Graf, Günter Meckenstock 1996. Band 3 2 Hefte pro Band im Gesamtumfang von ca. 320 Seiten. Bandpreis DM 168,- / öS l .311,- / sFr 161,-. Einzelheftpreis DM 92,- / öS 718,- / sFr 90,- ISSN 0943-7592 Die Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte ist eine akademische Fachzeitschrift. Sie wendet sich an Theologen, Historiker, Philosophen, Religionswissenschaftler und Vertreter anderer kulturwissenschaftlicher Disziplinen. Die Zeitschrift enthält Beiträge zur Geschichte der Theologie seit der Aufklärung. Theologiegeschichte wird in einem weiten Sinne verstanden. Es geht zunächst um die kritische Reflexion der überlieferten dogmatischen wie ethischen Lehrbestände der einzelnen Konfessionen, wie sie in Universitäten und Hochschulen der verschiedenen Religionsgemeinschaften institutionalisiert ist. Daneben werden die vielfältigen Gestalten von Glaubensbewußtsein in den Blick genommen, etwa die (impliziten und expliziten) theologischen Konzepte von Frömmigkeitsbewegungen, kirchlichen Gruppen, Verbänden etc. Neben den verschiedenen Richtungen protestantischer Theologie und Religionsphilosophie finden auch die theologischen und religionsphilosophischen Strömungen im römischen Katholizismus und im Judentum Berücksichtigung. Die Zeitschrift ist dabei nicht auf die Theologiegeschichte im deutschen Sprachraum beschränkt. Sie wird auch Beiträge zu den theologiegeschichtlichen Transformationsprozessen in anderen europäischen Ländern sowie in Nordamerika enthalten. Die Beiträge sind in deutscher oder englischer Sprache verfaßt. Eine Zusammenfassung (abstract) in der jeweils anderen Sprache ermöglicht einen raschen Überblick. Ptcisändeningen vorbehalten

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